Gleichheit und Universalität: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern 3515100679, 9783515100670

Der Tagungsband vereint die Beiträge zu den beiden Treffen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in Halle (Saale) und Luze

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German Pages 315 [322] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Auch nachts sind nicht alle Katzen grau. Zum Verhältnis von Gleichheit und Differenz
Gleichheit, Differenz und Generalisierung – was es heisst, sich nach einer generellen Norm zu richten
Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung
Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz
Egalitärer Minimalkonstitutionalismus. Gleichheit als notwendige und hinreichende Bedingung des demokratischen Verfassungsstaates
Das Prinzip der personalen Gleichheit. Eine Skizze des Rechtfertigungsmodells von Gleichbehandlungspflichten privater Akteure
Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots
Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Grundriss der Kritik
Unparteilichkeit
Universalisierung
Anspruch und Anthropologie: Unparteilichkeit und Universalismus als rechtsethische Herausforderungen
Zur Universalität von Normen
Postkategoriale‚ Gleichheit und Differenz‘: Antidiskriminierungsrecht ohne Kategorien denken!?
Die Rollentauschprobe im Strafrecht
Richterauswahl – Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit
Universelle Gleichheit in Hugo Grotius’ Lehre vom natürlichen Privatrecht
Völker im Urzustand: Zu Rawls’ Begründung seines ‚Rechts der Völker‘
Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit: Taugliche Kriterien für das Maß an Offenheit territorialer Aussengrenzen für Flüchtlinge und Immigration?
Sind Menschenrechte universalisierbar?Eine Interpretation im Licht der sprachphilosophie Wittgensteins
Das ethische Charakteristikum der Universalisierung im Zusammenhang des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte
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Gleichheit und Universalität: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern
 3515100679, 9783515100670

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Stephan Ast / Julia Hänni / Klaus Mathis / Benno Zabel (Hg.) Gleichheit und Universalität

archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 128

Stephan Ast / Julia Hänni / Klaus Mathis / Benno Zabel (Hg.)

Gleichheit und Universalität Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-10067-0 Nomos Verlag: ISBN 978-3-8329-7310-0

Inhalt Vorwort   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      7 Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      9 I  GleIchheIt  und dIfferenz (halle 2010) Franziska Martinsen Auch nachts sind nicht alle Katzen grau .   Zum Verhältnis von Gleichheit und Differenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    19 Stephan Ast Gleichheit, Differenz und Generalisierung –   Was es heißt, sich nach einer generellen Norm zu richten  . . . . . . . . . . . . . . . . .    31 Thomas Grosse-Wilde Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    45 Norbert Paulo Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz  . . . . . . . . . . .    59 Tim Wihl Egalitärer Minimalkonstitutionalismus .   Gleichheit als notwendige und hinreichende Bedingung   des demokratischen Verfassungsstaates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    77 Michael Grünberger Das Prinzip der personalen Gleichheit .   Eine Skizze des Rechtfertigungsmodells von   Gleichbehandlungspflichten privater Akteure   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    91 Tilmann Altwicker Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots  . . . . . . . . . . . . . . .  107 Pawel Polaczuk Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls . Grundriss der Kritik  . . . . . . . . . . . .  121 II  unparteIlIchkeIt  und unIversalIsIerunG (luzern 2011) Klaus Mathis Unparteilichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  133

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Inhalt

Julia Hänni Universalisierung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 Frederik von Harbou Anspruch und Anthropologie:   Unparteilichkeit und Universalismus als rechtsethische Herausforderungen  . . .  151 Sabrina Zucca-Soest Zur Universalität von Normen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  165 Tarek Naguib Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘:   Antidiskriminierungsrecht ohne Kategorien denken!?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179 Till Zimmermann Die Rollentauschprobe im Strafrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195 Luca Langensand Richterauswahl – Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit   . . . . . . . .  213 Tobias Schaffner Universelle Gleichheit in Hugo Grotius’ Lehre vom natürlichen Privatrecht  . . .  227 Magdalena Hoffmann Völker im Urzustand:   Zu Rawls’ Begründung seines ‚Rechts der Völker‘   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 Rainer Keil Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit:   Taugliche Kriterien für das Maß an Offenheit territorialer   Außengrenzen für Flüchtlinge und Immigration?   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 Tobias Zürcher Moralischer Relativismus, philosophischer Pragmatismus   und universelle Menschenrechte   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  277 Matthias Jenal Sind Menschenrechte universalisierbar?   Eine Interpretation im Licht der Sprachphilosophie Wittgensteins  . . . . . . . . . .  291 Peter G. Kirchschläger Das ethische Charakteristikum der Universalisierung   im Zusammenhang des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte  . . . . . . . .  301 Informationen zu den Autoren   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313

vorwort Der vorliegende Tagungsband vereint die Referate von zwei Jahrestagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts-  und Sozialphilosophie (IVR) . Die erste Tagung fand am 21 . und 22 . September 2010  in Halle (Saale) zum Thema „Gleichheit und Differenz“ statt, die zweite wurde am  17 . und 18 . Februar 2011 unter dem Titel „Unparteilichkeit und Universalisierung“  in Luzern veranstaltet . Unser herzlicher Dank gilt zunächst den Referentinnen und Referenten sowie  allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beider Tagungen, die für anregende Referate  und  lebendige  Diskussionen  sorgten .  Für  ihre  freundliche  Unterstützung  ist  sodann der IVR, Sektion Deutschland sowie den beiden Sprechern des JFR, Carsten  Bäcker und Sascha Ziemann, herzlich zu danken . Ein Dank gebührt auch den zahlreichen Helfern, deren Engagement eine unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen  der  Tagungen  war .  Für  die  hallische  Tagung  ist  die  ehrenamtliche  Mitarbeit  zahlreicher Studenten besonders hervorzuheben . Für die Luzerner Tagung sind vor  allem  folgende  Personen  dankend  zu  erwähnen:  Balz  Hammer,  MLaw,  Claudio  Staub, BLaw, Lynn Watkins und Miriam Dobbins, MLaw, für ihren unermüdlichen  Einsatz  bei  der  Vorbereitung  und  Durchführung  der  Tagung,  Flavia  Brülisauer,  BLaw, für die tatkräftige Unterstützung bei der Fertigstellung des Tagungsbandes .  Unser Dank gilt gleichermaßen der Forschungskommission der Universität Luzern,  dem  Schweizerischen  Nationalfonds,  der  Gemeinnützigen  Gesellschaft  der  Stadt  Luzern und der Josef Müller Stiftung Muri für die großzügige finanzielle Unterstützung sowie der Universität Luzern für die Bereitstellung der Räumlichkeiten . Schließlich möchten wir auch dem „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“  dafür danken, dass mit diesem Band die gute Tradition fortgeführt werden kann, die  auf den JFR-Tagungen gehaltenen Vorträge als ARSP-Beiheft zu veröffentlichen . Halle und Luzern, im September 2011 Stephan Ast, Julia Hänni, Klaus Mathis, Benno Zabel

eInleItunG Die erste der beiden Tagungen befasste sich vor allem mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die Gleichheit – der Rolle der Gleichheit als Gerechtigkeitsprinzip, der  Gleichheit der Rechtsanwendung als methodologischem Problem, dem Stellenwert  des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes sowie mit der Begründung von Diskriminierungsverboten . Im Mittelpunkt der Luzerner Tagung standen die Prinzipien  der Unparteilichkeit und der Universalität in Recht und Ethik . Zu den Beiträgen im Einzelnen: 1 . Das Verhältnis von Gleichheit und Differenz sowie die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Gleichheit im Diskurs über die Gerechtigkeit deckt Franziska Martinsen auf . Der Begriff der Gleichheit habe im Kern einen komparativen Sinn,  etwa bei der gleichen Verteilung . Wenn er als Allgemeinheit im Sinn der Inklusion  aller verstanden werde, sei er streng genommen redundant . Auch die Gleichsetzung  von  Gleichheit  mit  Unparteilichkeit  (als  Absehen  von  einer  Person)  sei  ungenau .  Häufig gehe es bei dieser Rede um den Aspekt der Willkürfreiheit, die durch die  Rechtfertigbarkeit ausgezeichnet sei . Dieser komme die Priorität in der Gerechtigkeitskonzeption zu, weil Gleichheit und Unparteilichkeit als Versionen dieses Prinzips verstanden werden können . Nachdem sie somit die Priorität und fundamentale  Stellung der Gleichheit in Zweifel gezogen hat, hinterfragt Martinsen die Präsumtion  der  Gleichheit,  die  auf  die  Rechtfertigung  von  Ungleichbehandlungen  zielt .  Die  Berufung auf Aristoteles gehe fehl, weil dessen Formel von der Gleichbehandlung  des  Gleichen  und  Ungleichbehandlung  des  Ungleichen  symmetrisch  angelegt  ist  und auf die Angemessenheit statt auf die Gleichheit ziele . Die Gerechtigkeitstheorie  müsse immer auch der Besonderheit von Menschen und Sachverhalten Rechnung  tragen können, ohne freilich die Idee der Glichheit zu verabschieden . Im  anschließenden  thematischen  Abschnitt  geht  es  um  die  Gleichheit  der  Rechtsanwendung unter methodologischem Gesichtspunkt – mit Bezug zuerst auf  die Konkretisierung von Voraussetzungen eines Gesetzes und anschließend von unbestimmten Rechtsfolgenanordnungen . Stephan Ast unterscheidet zunächst Auslegung und Subsumtion als Stufen der  Gesetzesanwendung durch das Kriterium, dass alle verallgemeinerungsfähigen Annahmen einer Fallentscheidung Auslegung seien und die Subsumtion nur die Tatsachenfrage  betreffe .  Nach  der  Unterscheidung  von  Arten  der  Auslegung  liegt  das  Hauptaugenmerk darauf, dass Besonderheiten (Differenzen) eines Falls, die in den  gegebenen Normen noch nicht berücksichtigt sind, in der Beurteilung für relevant  erachtet werden können . Diese Möglichkeit stellt das Subsumtionsmodell in Frage .  Sie wurde als eine besondere Eigenschaft von Normen, als deren „defeasibility“ beschrieben bzw . als eine im Wechsel der Prämissen liegende „nichtmonotone“ Ableitung der Einzelfallnorm . Ast zeigt auf, dass sich dieses Problem bis zu Aristoteles  zurück verfolgen lässt und stellt die These auf, dass dieses Ergebnis durch die Annahme einer ceteris-paribus-Klausel zu lösen sei, die sich – als Bestandteil der auszulegenden Norm selbst – auf den Gleichheitssatz zurückführen lasse, sofern dieser als  materielle Gerechtigkeitsanforderung verstanden wird . Thomas Grosse-Wilde stellt sich dem Problem der Gleichheit in der Strafzumessung . Während in der deutschen Rechtsprechung die Strafzumessung als nicht überprüfbare  Tatsachenfrage  behandelt  wird,  legt  Grosse-Wilde  dar,  dass  Unrecht  und 

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Einleitung

Schuld nicht unvergleichbare Größen seien und dass die Strafzumessungsentscheidung deshalb implizit Regeln voraussetzt, die expliziert werden können . Diese Regeln  fügen  sich  in  die  in  Bezug  genommene  Norm  dergestalt  ein,  dass  sie  deren  Voraussetzungen und zugleich deren Rechtsfolge spezifizieren – freilich nicht punktgenau und mit einer ceteris-paribus-Klausel, die eine begründete Modifikation der  Regel zulässt . Die gleiche Anwendung dieser Regeln ist dadurch zu gewährleisten,  dass sie als revisible Rechtsfragen anerkannt werden . Dass diese Regeln, die möglicherweise erst ex post facto zu bilden sind, nicht gesetzlich fixiert sind, widerspreche  nicht  dem  Gesetzlichkeitsprinzip;  es  ist  vielmehr  eine  Forderung  des  Schuldprinzips, das die Berücksichtigung des Einzelfalls einfordere . In  den  beiden  folgenden  Aufsätzen  wird  der  Inhalt  und  der  Stellenwert  des  verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes kritisch revidiert . Norbert Paulo hinterfragt das weithin akzeptierte Verständnis von Art . 3 GG als  Ausdruck der materiellen Gerechtigkeit, wie es mit der „neuen Formel“ des BVerfG  verbunden ist, welche auf die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen am Verhältnismäßigkeitsmaßstab zielt . Der Wortsinn von Art . 3 hingegen spreche in erster  Linie für eine Regelanwendungsgleichheit . Bereits die Ausdehnung auf die Rechtssetzungsgleichheit  werde  aus  ihm  nur  in  Verbindung  mit  Art . 1 III  GG  plausibel .  Der somit in Art . 3 I GG hineingelesenen Gerechtigkeitsforderung, die sich auf (vermeintlich) antike Ursprünge und die Prinzipien der Unparteilichkeit und Universalisierung berufe, setzt der Aufsatz die partikularistische Perspektive entgegen . Diese  könne zwar ein Willkürverbot rechtfertigen, nicht aber eine weitergehende Überprüfung der Gründe, die für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung angeführt werden .  Das  berechtigte  Anliegen  der  Verhältnismäßigkeitsüberprüfung  will  Paulo  eher  in  den Freiheitsgrundrechten verorten . Er plädiert für einen jedenfalls transparenteren  Umgang mit Art . 3 I GG . Tim Wihl beginnt ebenfalls beim Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, setzt  aber verfassungstheoretisch den Begriff der Gleichheit primär . In einer Strukturanalyse der Freiheitsrechte legt er dar, dass für diese die identitäre Gleichheit der Bürger  unabdingbar ist und dass weiterhin die Gleichheit im Sinn der (historisch-kontingenten) gleichen Anerkennung realer Verschiedenheit zu beachten ist . Nur ein moralisches Postulat sei hingegen die Gleichheit in Bezug auf den Rechtsinhalt (etwa  Eigentum) . Die Gleichheit wird anschließend in Bezug gesetzt zu anderen paradigmatischen  Rechten,  dem  Eigentum  und  der  Meinungsfreiheit .  Mit  Bezug  auf  die  Gleichheit  lasse  sich  auch  das  Verhältnis  von  Rechtsstaat  und  Demokratie  besser  bestimmen  als  in  der  Habermas´schen  Gleichursprünglichkeitsthese:  Der  Rechtsstaat sei als Gewährleistung von Identität in der Rechtsform die notwendige Bedingung der Demokratie, und die Demokratie sei als Durchsetzung der Anerkennung  von Differenzen zugleich eine Bedingung des Rechtsstaats . Praktische Folge einer  solchen  Konzeption  ist  ein  Minimalkonstitutionalismus:  Das  Verfassungsgericht  habe zum einen die identitäre Gleichheit zu gewährleisten, zum anderen das demokratische Verfahren zur Definition und Anwendung der Diskriminierungsregeln zu  kontrollieren . Der Frage, wie Diskriminierungsverbote in allgemeinen Grundsätzen begründet  werden können, widmen sich in Bezug auf das Privatrecht Michael Grünberger und in  Bezug auf die Rechtsprechung des EGMR Tilmann Altwicker .

Einleitung

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Michael Grünberger erläutert zunächst die Verbindung von Gleichheit und Privatautonomie im Privatrecht . Während die Gleichheit im Sinn der gleichen Rechtsfähigkeit aller als Grundbedingung der Akzeptanz von Privatautonomie anerkannt ist,  wird  die  Privatautonomie  andererseits  häufig  gegen  den  Grundsatz  der  Gleichbehandlung ins Feld geführt . Demgegenüber sei dieser gleichrangig neben der Privatautonomie anzusiedeln . Er enthalte neben den heute schon anerkannten speziellen  Diskriminierungsverboten ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot . Eine einfache  Ungleichbehandlung könne dabei durch jeden sachlichen Grund gerechtfertigt sein .  Insoweit genüge bereits die Berufung auf die Privatautonome . Bei Diskriminierungsverboten  wird  die  Rechtfertigungsanforderung  hingegen  in  eine  Verhältnismäßigkeitsprüfung gesteigert . Grünberger begründet den Anspruch auf Gleichbehandlung  zunächst als moralischen Anspruch, um anschließend auf das wichtigste Gegenargument  einzugehen:  dass  die  Annahme  einer  rechtlichen  Gleichbehandlungspflicht  unzulässig in die Privatsphäre eingreife . Er fasst demgegenüber die Idee der Privatsphäre als eine immer schon politische Konzeption auf, deren Prämissen er offen  legt . Tilmann Altwicker stellt zunächst fest, dass die subtileren Formen der Diskriminierung und das Diskriminierungsverbot in der Ethik und politischen Philosophie  kaum Beachtung fänden . Insoweit erläutert er mit der „rechtsethischen Rekonstruktion“ eine Methode, wie sich eine deskriptiv verstandene Rechtsethik dieser Thematik  annehmen  könne .  Am  Beispiel  des  Nichtdiskriminierungsrechts  der  Europäischen  Menschenrechtskonvention  will  Altwicker  aufzeigen,  dass  allein  die  beiden  Prinzipien der korrektiven und distributiven Gerechtigkeit taugliche rechtsethische  Prinzipien  sind,  die  dem  Diskriminierungsrecht  zugrunde  gelegt  werden  können .  Als diskrimierungsspezifische Gerechtigkeitskonzeption stellt er sodann die Gleichheit der „Mittel des So-Sein-Könnens“ heraus . Durch Formen der Diskriminierung  werden diese Mittel verkürzt oder ungerecht verteilt . Diese Mittel sind diejenigen  Güter, die Bedingungen für die Verwirklichung des eigenen Lebensplans sind . Der  letzte  Beitrag  zum  hallischen  Tagungsband  führt  ebenfalls  auf  das  allgemeine Thema der Gerechtigkeit zurück . Er schließt somit den Kreis und leitet zugleich zu Themen der Luzerner Tagung über . Pawel Polaczuk analysiert die Struktur  der „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls . In dieser sind Theorie und Konzeption der Gerechtigkeit zu unterscheiden, aus welcher sich Verteilungsprinzipien ableiten lassen . Polaczuk zeigt auf, dass sich Elemente der Theorie und der Konzeption  jeweils mit intuitiven Ansichten über die Gerechtigkeit untrennbar vermengen . Die  Intuitionen werden dabei in der Theorie von ihren tatsächlichen Entstehungsbedingungen abgekoppelt . Als Element der Theorie werden die grundlegenden Annahmen über die Gesellschaft und die Wahlbedingungen indes nur ganz abstrakt erfasst,  so dass eine umfassende Konzeption der Gerechtigkeit, die sich auf andere Verhältnisse als die in der Theorie hineingelegten beziehen ließe, bei Rawls nicht ergebe . 2 . Die Luzerner Tagung stand unter dem Titel „Unparteilichkeit und Universalisierung“ . In seiner Einleitung zum Thema „Unparteilichkeit“ gibt deshalb Klaus Mathis  einen  Überblick  über  die  Rolle  der  Unparteilichkeit  in  der  Ethik  und  im  Recht . Er wirft dabei unter anderem die Fragen auf, ob ein empathischer Richter  unparteilich sein kann und ob das Konzept der Unparteilichkeit mit der Tugend der  Freundschaft vereinbar ist . Julia Hänni führt anschliessend ins Thema „Universalisierung“ ein . Ausgehend von einer Reflexion darüber, in welchem Maß die Universali-

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Einleitung

sierung  als  Eigenheit  der  juristischen  Argumentationsstruktur  verstanden  werden  kann,  charakterisiert  sie  Wesensmerkmale  der  universalistischen  Denkweise .  Sie  stellt dar, welche universalistischen Tendenzen sich in der aktuellen Rechtsentwicklung in institutioneller Hinsicht zeigen und eröffnet die Diskussion darüber, welche  universalistischen Prinzipien als Geltungsgrundlage des Rechts herangezogen werden können . Frederik von Harbou geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit eine Realisierung der Gerechtigkeitspostulate der Unparteilichkeit und der Universalisierung  aus den anthropologischen Vorgegebenheiten des Rechts überhaupt möglich ist –  dies  insbesondere  angesichts  der  Tatsache,  dass  Parteilichkeit  und  Partikularismus  kulturübergreifende Phänomene sind . Gestützt auf die Erkenntnisse der Evolutionären Psychologie, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihr, analysiert von Harbou entwicklungspsychologische Vorgegebenheiten insbesondere mit Bezug auf  die  Kleingruppenmoral,  um  damit  auf  der  Grundlage  einer  naturwissenschaftlich  informierten Anthropologie auf „Fallen der Evolution“ aufmerksam zu machen, die  es gerade mit Bezug auf die Heranbildung normativer Ordnungen zu reflektieren  gilt . In  ihrem  Beitrag  „Zur  Universalität  von  Normen“  untersucht  Sabrina ZuccaSoest ob und auf welche Weise das ethische Prinzip der Universalität zur Begründung  und  Legitimation  von  (Rechts)Normen  herangezogen  werden  kann .  Dabei  stellt sie sich die Fragen nach der Grundlage der Geltungskraft des Rechts, die sie  durch die Anerkennung fundiert . Diese Anerkennungsprozesse werden meist nach  den jeweils partikularen Gemeinschaften unterschieden . Um dementgegen eine allgemeingültige normative Ordnung zu entwerfen, wird die auf den universalpragmatischen Ansatz gestützte Möglichkeit einer rationalen, intersubjektiv verfassten Universalität  von  Normen  nachgezeichnet .  Dabei  gründet  sich  die  Anerkennung  der  Normen auf der Achtung der Autonomie des jeweils anderen, sowie – umgekehrt –  die Anerkennung der eigenen Autonomie seitens des jeweils andern . Dieses prozedurale  Vernunftverfahren,  in  dem  normative  Geltungsansprüche  begründet  und  deren Anerkennung rational motiviert werden, wird anschließend anhand konkreter  sich  stellender  Probleme  diskutiert,  insbesondere  am  Beispiel  der  Frage  nach  der  universalen Geltung von Menschenrechten . Im Aufsatz „Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘: Antidiskriminierungsrecht ohne Kategorien denken!?“ unterzieht Tarek Naguib die Kategorienbildung im  Antidiskriminierungsrecht einer kritischen Analyse . Dieses markiere in gut gemeinter Absicht Kategorien wie z . B . Behinderung, Geschlecht, Ethnie, Rasse, Alter, fahrende  Lebensform,  Religion,  soziale  Stellung  oder  sexuelle  Identität  in  der  Hoffnung, dadurch Diskriminierung zu bekämpfen . Mit der Verwendung dieser Kategorien bzw . dem unbewussten Umgang mit den darin geltungshistorisch eingeschriebenen  Essentialismen  zementiere  es  jedoch  gerade  diskriminierende  Wissensbestände in den bestehenden Strukturen und Identifikationsmustern und reproduziere  die Stigmatisierungen, die es zu beseitigen suche . Naguib versucht deshalb, mit seinem  „Transformations-Konzept“  diese  Problematik  durch  einen  postkategorialen  Umgang mit ‚Gleichheit und Differenz‘ zu überwinden . Till Zimmermann  macht  sich  in  seinem  Aufsatz  „Die  Rollentauschprobe  im  Strafrecht“ den Rawls’schen „Schleier des Nichtwissens“ und den damit verbundenen Rollentausch für die Strafrechtswissenschaft zunutze . Er wendet dabei die Rol-

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lentauschprobe  auf  verschiedene  dogmatische  Fragestellungen  des  Strafrechts  an,  wie etwa den rechtfertigenden Notstand oder den Person-Status siamesischer Zwillinge .  Dabei  offenbart  dieses  Modell  gewisse  praktische  Schwierigkeiten,  die  sich  etwa durch dessen sog . Erfahrbarkeitsbedingung stellen . Danach muss der Verlust,  den jemand durch die Frustration seiner Interessen erleidet, nachvollzogen werden  können . Wie aber soll man sich in die Gefühlswelt eines Embryos oder eines KomaPatienten  versetzen?  Diese  und  weitere  Probleme  der  Rollentauschprobe  nimmt  Zimmermann als Anlass, um die Rollentauschprobe zu modifizieren und eine „korrektive Versuchsanordnung“ als Lösungsvorschlag für das Rollentauschexperiment  anzubieten . Im  Beitrag  „Richterauswahl  –  Auswirkungen  auf  die  richterliche  Unabhängigkeit“ beleuchtet Luca Langensand die Richterwahl in der Schweiz und versucht, unter  Rückgriff auf die normative Ethik Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit und  das Auswahlverfahren der Richter abzuleiten . Unabdingbare Voraussetzungen eines  Richters seien die fachliche Qualifikation, eine besondere soziale Kompetenz und  die Abwesenheit jeglicher Abhängigkeiten und Zwänge . Mit Bezug auf die Schweiz  stellt er fest, dass die Richterauswahl stark durch die großen politischen Parteien im  Land bestimmt sei . Obwohl grundsätzlich jeder Schweizer Aktivbürger als Richter  gewählt werden könne, würden de facto die meisten Richtersitze gemäss den parteipolitischen Kräfteverhältnissen unter den im Parlament vertretenen Parteien verteilt .  Hinzu  komme,  dass  es  in  der  Schweiz  keine  gesetzlichen  Anforderungen  für  die  fachliche  Qualifikation  der  Richterkandidaten  gebe .  Diese  Wahlmodalitäten  und  die  kurze  Amtszeit,  verbunden  mit  dem  Erfordernis  der  Wiederwahl,  bärgen  die  Gefahr einer Abhängigkeit der gewählten Richter von den politischen Parteien, was  letztlich zu einer Politisierung der Justiz führe . In enger Anlehnung an die naturrechtliche Perspektive Hugo Grotius’ leitet Tobias Schaffner als Ziel jeder Rechtsordnung ein universales materielles ethisches Prinzip her – das Gemeinwohl – welches er sodann konkretisiert . In kritischer Gegenposition zum Rechtspositivismus Harts wird eine Erweiterung des Aufgabenbereichs  der  Rechtsphilosophie  auf  ethische  Fragen  vorgeschlagen,  was  eine  inhaltlich  reichere  Sinn-  und  Zweckbestimmung  des  Rechts  erlaubt .  Das  Recht  bezweckt  zunächst, den Rechtsfrieden zu erhalten, und zwar als individuelles – und ebenso als  kollektives Ziel der Bevölkerung . Der so anzustrebende Rechtsfriede, der auf natürliche Handlungsziele wie den Respekt der Mitmenschen und die Vernunft zurückzuführen ist, bildet eine Vorstufe zur Erreichung des Gemeinwohls – des bonum  commune – als Endzweck jeder staatlichen Gemeinschaft und damit auch als ethisches Ziel einer jeden Rechtsordnung . Vor dem Hintergrund dieses Ziels legt Schaffner die grundlegende Bedeutung der natürlichen Gleichheit aller Menschen im Privatrecht  sowie  die  Zweckmäßigkeit  der  Einteilung  des  Rechts  in  verschiedene  Rechtsgebiete dar . Magdalena Hoffmann widmet sich im Beitrag „Völker im Urzustand: Zu Rawls’  Begründung  seines  ‚Rechts  der  Völker‘“  John  Rawls’  Werk  „The  Law  of  Peoples“ .  Dieser unterscheidet zwischen „liberalen Völkern“ und „achtbaren Völkern“ . Während die liberalen Völker aus freien und gleichen Individuen bestehen, weisen die  achtbaren Völker zwar Demokratiedefizite auf, sind aber dennoch hinreichend ‚anständig‘, um als Partner anerkannt zu werden . Rawls versucht zu zeigen, dass in den  jeweils separat konstruierten Urzuständen sowohl die liberalen als auch die achtba-

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ren Völker die gleichen acht Prinzipien gutheißen würden, nämlich die Respektierung der Freiheit und Unabhängigkeit der Völker, die Pflicht zur Einhaltung von  Verträgen,  die  Gleichstellung  der  Völker,  die  Nichteinmischung,  das  Recht  auf  Selbstverteidigung, die Achtung der Menschenrechte, Einschränkungen der Kriegsführung sowie eine Pflicht zur Assistenz . Der von beiden Völkertypen akzeptierte  Menschenrechtskatalog ist dabei allerdings auf eine Klasse „besonders dringlicher“  Menschenrechte beschränkt: die Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Gewissensfreiheit, die Sicherheit ethnischer Gruppen vor Massenmord und Genozid,  das Recht auf Leben sowie das Recht auf persönliches Eigentum und auf formale  Gleichheit . Hoffmann erachtet es als nicht überzeugend, dass sich die liberalen Völker mit dem bescheidenen Menschenrechtskatalog der achtbaren Völker zufrieden  geben sollen und diskutiert in der Folge zwei Alternativszenarien, einerseits mit einem  gemeinsamen  Urzustand  von  liberalen  und  achtbaren  Völkern,  andererseits  mit der Konstruktion des Rechts der Völker aus einer Schnittmenge der Ergebnisse  von zwei vollkommen unabhängigen Urzuständen . Der  Frage,  ob  und  inwiefern  politische  Außengrenzen  überhaupt  sinnvoll  als  Problem der Gerechtigkeit diskutiert werden können, geht Rainer Keil nach . In Auseinandersetzung mit Michael Walzers Sphärenlehre, dem Utilitarismus zur Flüchtlingspolitik bei Peter und Renata Singer und der Gerechtigkeitstheorie John Rawls’  werden dabei weniger taugliche universalisierbare Kriterien für das Maß an Offenheit territorialer Aussengrenzen für Flüchtlinge und Immigration gefunden als bei  Kant: Im Rückgriff auf Kants kosmopolitische Gedanken, d . h . gestützt auf das angeborene Recht, „die Gemeinschaft mit allen zu versuchen und zu diesem Zweck  alle Gegenden der Erde zu besuchen“, werden weltbürgerrechtliche, aber dennoch  nicht  illusionäre  Kriterien  begründet,  die  für  die  Legitimation  oder  Kritik  von  Flüchtlings- und Migrationspolitik dienen können . In Anbetracht der Feststellung, dass allen Menschenrechten, für die universelle  Geltung beansprucht wird, relativistische Einwände entgegen gehalten werden, untersucht Tobias Zürcher die Kohärenz der relativistischen Argumentation selbst . Anhand  zweier  Unterformen  des  Relativismus,  d . h .  des  „Sprecherrelativismus“  und  des „Gruppenrelativismus“, wird zunächst geprüft, in welchem Maß diese Richtungen eine universalistische Denkweise tatsächlich relativieren können, um anschließend generell danach zu fragen, inwiefern sich eine relativistische Argumentation  überhaupt kohärent formulieren ließe . Dieselbe Frage wird schließlich auch mit Bezug auf den Pragmatismus Rortys gestellt, der sich grundsätzlich gegen ein Begründungsprogramm von Normen richtet . Zürchers Untersuchung führt schließlich zu  einer „Umkehr der Beweislast“: Aufgrund der aufgezeigten Probleme der relativistischen Argumentationsformen liegt es vorab und hauptsächlich an den Moralrelativisten,  eine  kohärente  Argumentationsstruktur  gegen  den  Universalismus  vorzubringen . Die Frage nach einer universellen Geltung der Menschenrechte wird im Beitrag  von Matthias Jenal vor dem Hintergrund sprachphilosophischer Überlegungen aufgegriffen: Der juristische Diskurs über Kerngehalte universell geltender Menschenrechte ist – über völkerrechtliche Texte – primär sprachlich vermittelt, so dass die  sprachliche Sinnermittlung und Bedeutung jener Kerngehalte als Ausgangspunkt für  die  Frage  dienen  soll,  ob  universell  gültige  Normen  überhaupt  denkbar  sind .  Im  Rückgriff auf die Bedeutungsinterpretation der Sprache bei Wittgenstein wird die 

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Frage  nach  der  universalen  Bedeutung  von  Menschenrechtstexten  zur  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer  „universalen  Lebensform“:  Indem  sich  die  Bedeutung  der  Sprache gemäß der Konzeption Wittgensteins erst mit Blick auf den konkreten Gebrauch  innerhalb  eines  sozialen  Kontexts  („Lebensform“)  bestimmen  lässt,  stellt  sich die zentrale Frage, ob eine entsprechende global-sprachliche Lebensform überhaupt denkbar ist . Peter G. Kirchschläger setzt sich in seinem Beitrag mit der Herausforderung der  Universalität der Menschenrechte durch die kulturelle Differenz auseinander . Von  vielen Seiten werde die Universalität der Menschenrechte wegen ihrer angeblichen  westlichen Herkunft in Frage gestellt, beispielsweise etwa in der sogenannten „Asian  values  debate“ .  Kirchschläger  setzt  sich  mit  diesen  Argumenten  auseinander  und  überwindet in der Folge die naturrechtliche Vorstellung von den angeborenen Menschenrechten und begreift diese vielmehr als Rechte, die sich die Menschen gegenseitig  gewähren  und  gegeneinander  erheben .  Er  kommt  in  seiner  Analyse  zum  Schluss,  dass  die  Menschenrechte  die  kulturelle  Vielfalt  nicht  gefährden,  sondern  vielmehr ihrer Sicherung dienen . Es sei nämlich fraglich, wie sonst die Vielfalt geschützt werden könnte, als deren konstituierenden Elemente das Partikularinteresse  förderten . Die fundamentale Funktion der Menschenrechte für den Pluralismus bestehe deshalb darin, einen gemeinsamen Referenzrahmen zu begründen, in dem um  die Verständigung zwischen den Kulturen, Traditionen, Religionen und Weltvorstellungen  permanent gerungen  werden  könne .  Insofern  mache der Universalitätsanspruch der Menschenrechte einen respektvollen Umgang mit kultureller Differenz  erst möglich .

I  GleIchheIt  und dIfferenz Halle 2010

Franziska Martinsen* auch  nachts  sInd  nIcht  alle katzen  Grau.  zum verhältnIs  von GleIchheIt  und dIfferenz Kern der Untersuchung des Verhältnisses von Gleichheit und Ungleichheit ist die Frage, inwiefern  Gerechtigkeitstheorien der Besonderheit von Menschen und Sachverhalten Rechnung tragen können, ohne Gefahr zu laufen, die Idee der Gleichheit zu verabschieden – und umgekehrt . Zwei Desiderata  zeitgenössischer  Gerechtigkeitsansätze  sollen  dabei  erläutert  werden:  Erstens  bedürfen  die  meisten  Gerechtigkeitstheorien  (sie  seien  der  Einfachheit  halber  egalitaristische  Ansätze  genannt)  einer kritischen Reflexion ihrer metatheoretischen Begründungsparameter . Eine begriffliche Unterscheidung  der  Prinzipien  Gleichheit,  Allgemeinheit  und  Unparteilichkeit  versus  Nicht-Willkür  ist  hierbei unabdingbar . Zweitens erfordert die Annahme der so genannten Präsumtionsregel eine nähere  Beleuchtung,  da  diese  die  Aristotelische  Gerechtigkeitsformel,  gleiche  Fälle  gleich,  ungleiche  ungleich zu behandeln, in unstatthafter Weise verkürzt, was mitunter verzerrende Auswirkungen auf  die moralische und juristische Beurteilung von Differenzen zwischen Menschen und ihren soziokulturellen Lebensbedingungen zeitigen könnte .

1  dIalektIk  von dIfferenz  und GleIchheIt Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit  im  Kontext  einer  Theorie  der  Gerechtigkeit1  bildet  die  Annahme  einer  Dialektik  von  Differenz  und  Gleichheit  in  Gerechtigkeitsbelangen .  Dialektik  von  Differenz und Gleichheit – dies mag nach einer Ausflucht klingen, als sollte nicht  entschieden werden, ob der einen oder der anderen Vorrang zuzusprechen sei, wie  es  in  vielen  Gerechtigkeitsdiskursen,  allen  voran  im  Streit  zwischen  Egalitaristen  und Nonegalitaristen, erwartet wird .2 Doch dies ist nicht der Fall . Es sind vielmehr  systematische Gründe, die mich von einer Dialektik sprechen lassen . Meine Überlegungen zum Verhältnis von Gleichheit und Differenz basieren auf der grundsätzlicheren Frage, inwiefern Gerechtigkeitstheorien in normativer Hinsicht der Besonderheit von Personen und Sachverhalten Rechnung tragen können, ohne die emanzipatorische Idee der Gleichheit zu verabschieden – und umgekehrt . Was  den  Aspekt  des  Emanzipatorischen  anbetrifft,  kommt  dem  Begriff  der  Gleichheit, historisch betrachtet, spätestens seit dem 18 . Jahrhundert eine besondere  Bedeutung zu – ist er doch der zentrale Begriff der Moderne schlechthin . Gleichheit  stellt  die  Grundidee  des  modernen  Rechts  dar,  wie  sie  sich  im  Konzept  etwa  der  *  1  2 

Ich danke sowohl dem Tagungspublikum des Jahrestreffens des Jungen Forums Rechtsphilosophie in Halle als auch den Kolloquiumsteilnehmer_innen des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover (FIPh) für konstruktive Kritik und wertvolle Hinweise . Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem weiter gefassten Verständnis von Gerechtigkeit,  das  sowohl  ihre  juristisch/moralphilosophische  als  auch  ihre  politische  Dimension  umgreift . Sie beziehen sich nicht nur auf Verteilungsgerechtigkeitsprobleme in engeren Sinne . Die mitunter sehr kontroversen Debatten über den Stellenwert der Gleichheit für den Begriff  der  Gerechtigkeit  insbesondere  der  1990er  Jahre  sind  u . a .  nachvollziehbar  anhand  folgender  Darstellungen: Anderson, What is the Point of Equality?, Ethics 1999 (109:2), S . 287–337; Krebs,  Einleitung, in: Dies . (Hg .), Gleichheit oder Gerechtigkeit . Texte der neuen Egalitarismuskritik,  Frankfurt am Main 2000, S . 7–37; Ladwig, Gerechtigkeit und Gleichheit, Information Philosophie 2006 (1), S . 24–31 .

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Franziska Martinsen

Grundrechte  niederschlägt .  Das  Recht  versteht  hierbei  Gleichheit  als  normative  Maßgabe, nach der alle Menschen gleichermaßen berücksichtigt – und eben nicht  durch klassenbezogene, rassistische oder andere chauvinistische Überzeugungen benachteiligt oder gar vom Geltungsbereich des Rechts ausgeschlossen werden . Ähnlich geht auch die moderne Moral von einer starken Idee der Gleichheit aus, die in  der Auferlegung jedes Einzelnen, sich in Bezug auf die Befolgung von Pflichten jedem anderen gleichzusetzen, besteht .3 Im Zuge der Ausweitung normativer Gleichheitsansprüche auf die verschiedensten gesellschaftlichen Felder – etwa auf den Bereich der Geschlechterverhältnisse – lässt sich allerdings eine zunehmende Gleichsetzung der Termini Gleichheit und Gerechtigkeit beobachten . Gerechtigkeit wird  von vielen TheoretikerInnen der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts als Gleichheit  verstanden . Das heißt, wenn es um die normative Bestimmung von Rechten, moralischen  Pflichten,  von  Verteilungsregeln  oder  normativen  Beurteilungsmaßstäben  geht,  gilt  für  viele  Gerechtigkeitsansätze,  dass  Gleichheit  im  Sinne  von  Gleichbehandlung eine normative Vorrangstellung gegenüber anderen Prinzipien hat . In den  meisten Gerechtigkeitstheorien kommt der Gleichheit sowohl ein fundamentaler Status als auch konzeptuelle Priorität zu .4 Fundamentaler Status heißt hierbei, dass Gleichheit als formales normatives Prinzip nicht aus einem anderen normativen Prinzip  abgeleitet  wird .  Priorität  bedeutet,  dass  auch  bei  der  Definition  von  inhaltlichen  Gerechtigkeitsprinzipien, z . B . von näher bestimmten Verteilungsregeln, Gleichheit  die unumstößliche Prämisse darstellt .5 Spätestens bei den materialen Ausgestaltungen von Gerechtigkeitsvorstellungen zeigt sich aber, dass Gleichheitsansprüche mit  Forderungen einer Berücksichtigung von Besonderheiten in Konflikt geraten können, die sich nicht durch eine prinzipielle Vorrangstellung von Gleichheitsnormen  auflösen lassen . So müssen sich Gerechtigkeitskonzeptionen, die eine gleiche Verteilung begründen, gerade mit den Besonderheiten von Personen und Sachverhalten  auseinandersetzen .  Auch  im  Recht  kommt  der  Individualität  insofern  besondere  Bedeutung  zu,  als  die  Anwendung  von  Gleichheitsnormen  im  Einzelfall  geprüft  werden muss . Der Begriff der Differenz tritt, sofern er als Anspruch auf Besonderheit,  auf  das  Nicht-Gleiche  verstanden  wird,  hinsichtlich  seiner  normativen  Geltungsansprüche in Konkurrenz zur Gleichheit, ohne dass ihm kategorisch in jedem  einzelnen Fall eine nachrangige Stellung zugewiesen werden könnte . Im Folgenden möchte ich zwei Probleme des gegenwärtigen Diskurses über das  Verhältnis von Gleichheit und Differenz in Gerechtigkeitsbelangen erläutern: Erstens bedürfen die meisten zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien (nennen wir sie  der Einfachheit halber egalitaristische Ansätze) einer kritischen Reflexion ihrer Begründungsparameter . Ich werde im Folgenden zeigen, dass ein Grundproblem vieler  3  4  5 

Vgl . Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2000, S . viii sowie S . 2–3 .  Vgl . Menke (Fn . 3), S . 6 ff . So formulieren Autoren wie Ronald Dworkin, Richard Arneson oder Philippe Van Parijs, um  nur einige prominente Namen zu nennen, Prinzipien der Gleichverteilung, bei denen es um  den direkt relationalen Vergleich zwischen Personen und Sachverhalten unter der Prämisse des  Werts der Gleichheit im Sinne eines anzustrebenden Ziels geht . Vgl . Dworkin, What Is Equality?  Part 1: Equality of Resources, Philosophy and Public Affairs 1981 (10:3), S . 185–246; Dworkin,  What  Is  Equality?  Part  2:  Equality  of  Resources,  Philosophy  and  Public  Affairs  1981  (10:4),  S . 283–345; Arneson, Luck Egalitarianism and Prioritarianism“, Ethics 2000 (110:2), S . 339–349;  Van Parijs, Why Mothers Should Be Fed: The Liberal Case for an Unconditional Basic Income”,  Philosophy and Public Affairs 1991 (20:2), S . 101–131 .

Auch nachts sind nicht alle Katzen grau

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Gerechtigkeitsansätze darin besteht, dass die Begriffe Gleichheit und Allgemeinheit  bzw . Gleichheit und Unparteilichkeit im Sinne von Nicht-Willkür miteinander verwechselt werden . Diese Vertauschung überfrachtet den Begriff der Gleichheit nicht  nur mit (falschen) Bedeutungen, sondern impliziert darüber hinaus auch regelrechte  Fehlverständnisse von Gleichheit . Zweitens muss meiner Ansicht nach die Annahme  der so genannten Gleichheitspräsumtion, wie sie für einen Großteil der Gerechtigkeitstheorien konstitutiv ist, näher beleuchtet werden, da sie die Aristotelische Gerechtigkeitsformel,  gleiche  Fälle  gleich,  ungleiche  ungleich  zu  behandeln,6  in  unstatthafter Weise verkürzt und damit in wichtige und vernünftige Möglichkeiten der  Ausgestaltung von Gerechtigkeitsmaßgaben verspielt . Die Verkennung der Komplexität von Gerechtigkeitsbelangen kann somit verzerrende Auswirkungen auf die moralische und juristische Beurteilung der Besonderheiten von Menschen und ihren  Lebensbedingungen zeitigen . Mit der Erörterung dieser beiden Probleme soll, dies  sei vorangeschickt, keine Demontage des Gleichheitsbegriffs vorgenommen werden .  Im Gegenteil . Es geht mir vielmehr darum, den Status des Gleichheitsbegriffs sorgfältiger zu reflektieren als dies in vielen Gerechtigkeitsdebatten getan wird . Ein vereinseitigendes Nachdenken über Gerechtigkeit, das sich durch eine Engführung von  Gerechtigkeit mit Gleichheit ergibt, birgt die Gefahr, dass das Konzept der Gleichheit  selbst  zu  einem  Tabu  gerät  und  dadurch  gewaltförmige  Autorität  gegenüber  Formen der Besonderheit auszuüben droht . Im Grunde genommen geht es daher  auch um den Aufweis der Schutzwürdigkeit des Gleichheitsbegriffs, um die Darlegung, unter welchen Bedingungen die Idee der Gleichheit ihre wahre emanzipative  Kraft zu entfalten vermag . Emanzipation gelingt nur dort, wo ungerechtfertigte Ungleichheiten aufgezeigt und entsprechend bekämpft werden können . Das heißt jedoch  nicht,  dass  Gleichheitsforderungen  immer  und  bei  jeder  Gerechtigkeitsfrage  die normative Maßgabe sein müssen . 2  BefraGunG  der GleIchheIt Um den Begriff der Gleichheit angemessen reflektieren zu können, soll er also im  Folgenden befragt werden .7 Die Befragung der Gleichheit geschieht dabei aus einer  doppelten Perspektive, zum einen von außen, d . h . aus der Perspektive des Anderen  der  Gleichheit,  aus  dem  Blickwinkel  der  Differenz,  zum  anderen  von  innen,  im  Sinne einer Selbstbefragung . Aus der Außenperspektive, also von der Differenz her  gesehen, wird der Begriff der Gleichheit insofern in Frage gestellt, als seine Betonung des Nicht-Individuellen genauer überprüft wird . Die Differenz setzt sich somit  zur Gleichheit in ein Oppositionsverhältnis . Beide werden also zunächst als gleichrangige  normative  Orientierungsmaßstäbe  betrachtet .  Der  Begriff  der  Differenz  stellt dabei den Prüfstein für den Begriff der Gleichheit dar, d . h . er prüft, inwiefern  Gleichheit hinsichtlich eines Sachverhaltes zutreffend ist . Handelt es sich bei zwei  (oder  mehreren)  Personen  oder  Gegenständen  tatsächlich  um  gleiche,  ist  aus  der  Perspektive der Differenz zu fragen, ob es angemessen ist, das (möglicherweise) Be6  7 

Vgl . Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers . v . U . Wolf, Reinbek b . Hamburg 2006, 1131a 23– 25 und Aristoteles, Politik, übers . v . E . Rolfes, Hamburg 1995, 1280a 10–14 . Vgl . Menke (Fn . 3), S . 7 f .

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sondere an ihnen nicht in Betracht zu ziehen, sondern das ihnen beiden Gemeinsame zu betonen . In Christoph Menkes Worten bedeutet die Befragung der Gleichheit von außen, sie „im Verhältnis zu Anderem statt im Vorrang vor Anderem“8 zu  begutachten .  Die  Binnenbefragung  der  Gleichheit  ist  hingegen  als  Sich-selbst-inFrage-Stellen  der  Gleichheit  zu  verstehen .  „Denn  die  normative  Orientierung  an  Individualität von der aus die Idee der Gleichheit von außen befragt wird, tritt im  inneren Vollzug der Gleichheit selbst schon auf; wir beziehen uns auf sie, genauer:  wir übernehmen diese andere normative Orientierung gerade auch dann, wenn es  uns um Gleichheit geht .“9 Es geht hier also um die innere logische Verfassung des  Gleichheitsbegriffs selbst: „Die Orientierung an Gleichheit ist so verfasst, dass sie  bereits in sich enthält, was ihr sodann, sie befragend und begrenzend, von außen  entgegentritt .  Die  moderne  Idee  der  Gleichheit  enthält  ihren  Gegensatz  als  ihre  Voraussetzung .“10  Mit  Menke  also  lässt  sich  meiner  Meinung  nach  die  Dialektik  umreißen, die ich dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz eingangs zugesprochen habe . Aufgrund der begrifflichen Verfasstheit der Gleichheit, die den Bezugspunkt der Besonderheit bereits in sich enthält, sind Gleichheit und Differenz in ihrer Opposition auf einander verwiesen . Gleichheit lässt sich nicht denken ohne ihr  Gegenteil, die Ungleichheit .11 Doch nicht nur logisch, sondern auch inhaltlich bestimmen wir den Maßstab der Gleichheit unmittelbar anhand der Wahrnehmung  von Unterschieden . Gleichheit ist somit zunächst einmal eine komparative Kategorie . Allerdings werde ich Verlauf meiner Überlegungen zeigen, dass es bei der Frage  um  Gleichheit  oder  Differenz  nicht  immer  um  komparative  bzw .  relationale  Belange geht, sondern dass Gleichheit, verstanden als normative Forderung, oftmals  eher eine Bedingung der Einbeziehung aller in einen bestimmten Geltungsbereich  darstellt . 3  falsches verständnIs  des status  von GleIchheIt Ich komme damit zum ersten Problem des Diskurses über das Verhältnis von Gleichheit  und  Differenz .  Die  Annahmen  sowohl  der  begrifflichen  Fundamentalität  als  auch der konzeptuellen Priorität der Gleichheit innerhalb von Gerechtigkeitstheorien sind meines Erachtens insofern problematisch, als sie auf einem falschen Verständnis des Status der Gleichheit innerhalb von Gerechtigkeitskonzepten beruhen .  (i) Die Annahme der Fundamentalität der Gleichheit versteht die Verfassung der  Gleichheit insofern falsch, als sie Gleichheit mit (deskriptivem) Gleichsein bzw . (präskriptivem) Gleichmachen verwechselt, anstatt sie in der Forderung der Berücksichtigung aller Betroffenen zu verorten . Dass sie allesamt als gleich angesehen werden  8  9  10  11 

Menke (Fn . 3), S . 7 . Menke (Fn . 3), ibid . Menke (Fn . 3), ibid . Anders als Menke den Aufweis, dass Gleichheit und Differenz in einem Verhältnis des unabdingbaren internen Verweisungszusammenhangs stehen, in dem oben aufgeführten Zitat formuliert, gehe ich davon aus, dass es sich um eine wechselseitige Relation handelt: Umgekehrt  hat meines Erachtens auch die Idee der Differenz die Gleichheit zum Bezugspunkt . Damit neige  ich also durchaus zu einer ausbalancierteren Auffassung des begrifflichen Verhältnisses zwischen  Differenz und Gleichheit als sie Menke vertritt . 

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sollen, ist nicht dieselbe Forderung wie diejenige, dass keiner der Betroffenen aus  der Geltung des Rechts oder der Moralität ausgeschlossen werden soll . Es geht vielmehr genau darum, dass alle in den Bereich der Berücksichtigung durch das Recht  bzw . die Moral eingeschlossen werden . Am Beispiel der gleichen Achtung lässt sich  der  Sachverhalt  verdeutlichen .  Die  Achtung  gegenüber  einem  Menschen  ist  ein  nicht-komparativer Standard, den es um des Individuums selbst willen12 zu erfüllen  gilt und nicht in Bezug auf andere Menschen, mit denen das Individuum relational  verglichen  würde .  An  der  Gegenüberstellung  von  Gleichheit  und  Allgemeinheit  wird deutlich, dass die Rede von Gleichheit in Fällen, da ihr Begriff lediglich Allgemeinheit repräsentiert, redundant ist: „Allgemeinheit impliziert Gleichheit der Anwendung auf eine Klasse von Fällen .“13 Die Ergänzung des Attributs „gleichermaßen“  zur  Feststellung  der  Bedingungen  oder  der  Konsequenzen  eines  Gerechtigkeitsprinzips verwandele es aber noch nicht notwendigerweise in eines, in dem es  auch tatsächlich um komparative Gleichheit gehe . Der Satz, ‚Alle Menschen sollen  gleichermaßen durch das Recht berücksichtigt werden‘, verändert seine Bedeutung  nicht, wenn er lautet: ‚Alle Menschen sollen durch das Recht berücksichtig werden‘ .14  Anders gelagert ist der Fall hingegen, wenn Gleichheit tatsächlich komparativ, also  nicht-redundant gemeint ist . Wenn es beispielsweise darum geht, etwas numerisch  gleich zu verteilen, etwa bei der Aufteilung einer Menge Süßigkeiten an Kinder, oder  wenn es in bestimmten Verhandlungssituationen darum geht, dass Machtpositionen  so exakt wie möglich gleich gewichtet sind . In solchen Situationen kann der direkte  Vergleich  zwischen  den  Gerechtigkeitssubjekten  verteilungsrelevant  sein .  Dementsprechend ist bei diesen Fällen der Zusatz „gleichermaßen“ erforderlich . In vielen  Fällen, in denen wir über Gleichheit sprechen, haben wir es allerdings mit einem  Begriff der Allgemeinheit statt der Gleichheit zu tun . Die Allgemeinheit einer Forderung hat Inklusion zur Konsequenz, nicht unbedingt Gleichheit im komparativen  bzw .  relationalen  Sinne .  Für  viele  Absichten,  z . B .  im  Rahmen  einer  politischen  Sensibilisierung, kann es sinnvoll sein, zumindest in rhetorischer Hinsicht, den Terminus Gleichheit zu verwenden, um an die historischen Errungenschaften von sozialen oder politischen Kämpfen zu erinnern oder um an ein bestimmtes Format des  emanzipatorischen Engagements zu appellieren, das auf der Befragung von Privilegien beruht . Bei genauerer Betrachtung jedoch, und zumal im geschützten Forum  der  philosophischen  Auseinandersetzung,  erweist  es  sich  oftmals  gerade  nicht  als  statthaft,  unpräzise  von  Gleichheitsforderungen  zu  sprechen,  wenn  eigentlich  der  Anspruch auf Inklusion gemeint ist, der sich von einer gleichmachenden Tendenz bei  der Behandlung von Tatbeständen abhebt . Von einer richtigen Verortung normativer  Ansprüche  im  Zuständigkeitsbereich  der  Inklusion  verspreche  ich  mir  die  12  So besagt es zumindest die kantische Argumentation, jedem Menschen Wert an sich zuzusprechen . Diese deontologische Begründung ist nicht die einzig plausible und darüber hinaus nicht  nur philosophisch umstritten . Avishai Margalit beispielsweise zeigt in seiner Studie (vgl . Margalit, Politik der Würde . Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997) nicht nur sehr anschaulich  das phänomenologische Spektrum an sozialen und kulturellen Differenzierungen in der Achtungsbezeigung gegenüber Personen auf . Er thematisiert vor allem verschiedene konkurrierende  moraltheoretische Argumentationsstränge, Achtung gegenüber allen Personen zu rechtfertigen  (vgl . insb . Kap . 4–6) . 13  Vgl . Raz, Strenger und rhetorischer Egalitarismus, in: Krebs (Hg .) (Fn . 2), S . 50–80, hier: 54 . 14  Vgl . auch Krebs (Fn . 2), 18 .

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Chance, im Modus des Einbezugs aller durchaus die Möglichkeit bewahren zu können, die Differenzen zwischen und von Einzelfällen zu berücksichtigen . Wie könnte nun eine Lesart der Gleichheit als Inklusion aussehen? Um diese  Frage zu beantworten, wende ich mich zunächst einer analytischen Differenzierung  des Gleichheitsterminus zu . Der Gleichheitsbegriff hat zwei Dimensionen, sowohl  eine deskriptive – als vergleichende Tatsachenaussage über phänomenale Zustände  von Personen und Gegenständen – als auch eine präskriptive – im Sinne einer normativen Zielvorstellung .15 Gleichheit ist dabei eine dreistellige Relation – ohne Angabe des Maßstabes bliebe die Rede von Gleichheit unvollständig: „Die Feststellung  von Gleichheit erfordert einen Vergleichsmaßstab bzw . Standard, im Hinblick auf  den der Vergleich vorgenommen werden soll“ .16 Es ist wichtig, einen entscheidenden Unterschied wahrzunehmen, nämlich zwischen Gleichheitsaussagen, die immer  komparativ sind, und dem Maßstab (= der Hinsicht) der Gleichheit selbst, der sowohl  komparativ/relational  als  auch  absolut  begründet  sein  kann .17  Eine  Balkenwaage etwa versinnbildlicht den komparativen Aspekt des Maßstabs der Gleichheit:  „Ob sich beide Waagschalen auf gleicher Höhe befinden, hängt von den jeweils darin  liegenden  Gegenständen  und  ihrer  Relation  zueinander  ab .“18  Absolut  ist  der  Maßstab  der  Gleichheit  hingegen  dann,  wenn  eine  bestimmte  Kategorie  für  die  Bestimmung der Gleichheit relevant ist, in die die entsprechenden Gegenstände je  für sich fallen, und nicht der Umstand, ob Gegenstände nur in Bezug aufeinander  zu  dieser  Kategorie  gehören .  Als  Beispiel  führt  Thomas  Schramme  die  Kategorie  „Brillenträger“  an .  Ob  ein  Mensch  ein  Brillenträger  oder  eine  Brillenträgerin  ist,  macht ihn allen Brillenträgern gleich, ohne dass er ad personam mit den anderen  verglichen wird, dass heißt, ohne dass seine Besonderheit als Individuum auf dem  Spiel steht . Der Brillenträger und die Brillenträgerin sind allen anderen Brillenträgern gleich, weil er oder sie die Maßgabe „Brillenträger“ erfüllt . Das Problem vieler  Gerechtigkeitstheorien besteht darin, dass sie nicht genügend klären, von welchem  Gleichheitsmaßstab sie tatsächlich ausgehen, also, ob sie auf einen komparativ gefassten oder absoluten Maßstab rekurrieren . Während der deskriptive Gebrauch des  15  Vgl . Williams, Der Gleichheitsgedanke, in: Ders ., Probleme des Selbst . Philosophische Aufsätze  1956–1972, Stuttgart 1978, S . 363–379, hier: S . 366; vgl . auch Williams, Person, Character and  Morality, in: Ders ., Moral Luck, Cambridge 1981 . Der Maßstab der Gleichheit besagt bezüglich  der Beschaffenheit einer begrenzten oder unbegrenzten Anzahl von Personen oder Gütern, dass  diese in einer bestimmten Hinsicht weder identisch noch nur weitestgehend ähnlich, sondern  gleich sind, d . h ., das Prädikat ‚gleich’ rangiert auf einer Skala aller möglichen Graduierungen  von ‚ähnlich’ bis ‚nahezu identisch’ (vgl . Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt am Main  2004,  S . 115) .  „Identität“  im  engeren  Sinne  heiße  numerische  Identität,  d . h .  wenn  „a  und  b  der Zahl nach ein einziges Ding sind“ (Tugendhat/Wolf, Identität, in: Dies ., Logisch-semantische  Propädeutik, Stuttgart 1983, S . 168–184, hier: S . 169) . Qualitative Identität sei die Bezeichnung  für  Identität  im  weiteren  Sinne,  und  zwar,  wenn  zwei  Gegenstände,  die  der  Zahl  nach  zwei  verschiedene  sind,  in  einer  bestimmten  Eigenschaft  (oder  mehreren)  gleich  sind .  Der  Begriff  der absoluten qualitativen Gleichheit ist damit ein Grenzbegriff: Gleiche, aber numerisch verschiedene Gegenstände müssen sich mindestens in einer Hinsicht, nämlich der „raumzeitlichen  Lokalisierung“  (S . 171),  unterscheiden .  Sie  können  sich  im  Grenzfall  in  allen  Eigenschaften  unterscheiden (vgl . S . 169–172), dann sind sie nicht mehr gleich, sondern verschieden .  16  Schramme, Die Anmaßung der Gleichheitsvoraussetzung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie  2003 (51:2), S . 255–273, hier: S . 256 . 17  Vgl . Schramme (Fn . 16), S . 256 . 18  Schramme (Fn . 16), S . 256 .

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Gleichheitsterminus  im Sinne einer Äquivalenzrelation in dem hier interessierenden Kontext zunächst einmal unproblematisch sein mag, erweist sich die präskriptive  Verwendung  hingegen  als  problematischer .  Gleichheit  als  Zielvorstellung  besagt, dass der Maßstab der Gleichheit normativ gemeint ist . Die Rede von Gleichheit  im  präskriptiven  Sinne  bedeutet  dann  die  Perspektive  der  Herstellung  von  Gleichheit, wo noch  keine Gleichheit besteht . Diese Perspektive allerdings bedarf  einer eigenen Begründung, der Verweis auf den Terminus Gleichheit ist nicht selbsterklärend . Und es ist diese Begründung, die von den meisten egalitaristischen Theorien ausgespart wird, wenn Gerechtigkeit schlichtweg als Gleichheit aufgefasst wird .  Gleichheit erscheint damit als unhinterfragter Maßstab, der zur pauschalen Zielvorstellung einer Gerechtigkeitskonzeption gerät . In der Pauschalität liegt jedoch genau  das Problem . Denn Gleichheit per se ist, und dies vergessen zuweilen egalitaristisch  argumentierende  Theoretikerinnen  und  Theoretiker,  begrifflich  kein Synonym  für  Emanzipation oder Gleichberechtigung . Gleichheit kann ihre egalitäre, hierarchiekritische Kraft immer nur im jeweiligen Kontext entfalten . Gleichheit kann in zweierlei  Hinsicht  ihr  emanzipatives  Potential  verpuffen  lassen .  Zum  einen,  wenn  sie  nicht im Sinne einer Inklusionsnorm interpretiert wird, sondern unterschwellig als  relationale Kategorie fungiert . Diese Erfahrung machen häufig marginalisierte Gruppen in sozialen oder politischen Auseinandersetzungen . So hat sich die Forderung  nach Gleichheit, wie sie die Französische Revolution auf ihren Fahnen führte, aus  feministischer Perspektive als exklusiv erwiesen, da sie nur auf das männliche Geschlecht  angewendet  wurde,  und  damit  eine  bestimmte  Differenz  zwischen  Menschen zementierte . Zum anderen kann Gleichheit, wenn sie dogmatisch oder ideologisch verstanden wird, in einen Gleichheitsterror umschlagen, der zwar die egalisierende Norm ernst nehmen mag, aber u . U . wiederum Minderheiten das gleiche  Recht auf Besonderheit verwehrt . (ii) Die Annahme der Priorität von Gleichheit begreift ihre Stellung innerhalb  einer Gerechtigkeitskonzeption falsch, weil sie der Gleichheit mindestens eine Vorrangposition zumisst, meistens sie gar als einziges Prinzip der Gerechtigkeit verabsolutiert .  Damit  missversteht  sie  Gleichheit  als  monolithische  Zielvorstellung  und  vernachlässigt eine mögliche Variante der Gleichheit als Begleiterscheinung absoluter Standards, die auf Inklusion und nicht Herstellung von Gleichheit zielen (Beispiel Brillenträger) . Die Zuschreibung von Priorität hängt mit der Annahme zusammen, dass das formale Prinzip der Gleichheit deshalb für Gerechtigkeit konstitutiv  ist, weil durch seine Beachtung Willkür ausgeschlossen werden soll . In diesem Zusammenhang wird Gleichheit oftmals mit Unparteilichkeit gleichgesetzt . Wenn wir  uns genauer anschauen, wofür Gleichheit, und in ihrem Schlepptau Unparteilichkeit, in der Rede über formale Gerechtigkeit stehen, wird deutlich, dass die meisten  Theoretiker  eigentlich  ‚Willkürfreiheit’  meinen .  Es  ist  richtig,  dass  Gerechtigkeit  Nicht-Willkür verlangt . Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht ist Nicht-Willkürlichkeit jedoch nicht gleichbedeutend mit Gleichheit noch mit Unparteilichkeit . Gleichheit  und  Unparteilichkeit  sind  Versionen  des  Prinzips  der  Nicht-Willkür,  die  sich  durch  das  begründungstheoretische  Metaprinzip  der  Rechtfertigbarkeit  auszeichnet .  Was Bernd Ladwig etwa generell für die Moral formuliert, dass sie „für alle Streitfälle 

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willkürfrei gerechtfertigte Lösungen“19 verlangt, gilt im engeren Sinne für die Gerechtigkeit . Willkürfreiheit kann sich zwar – je nach Kontext – durchaus zum einen  durch  Unparteilichkeit,  zum  anderen  durch  Gleichheit  ausdrücken .  Das  Problem  besteht hierbei jedoch, dass oftmals diese beiden Begriffe synonym mit ‚Willkürfreiheit’ verwendet (bzw . untereinander verwechselt) werden, ohne dass im Einzelnen  darauf geachtet wird, welche spezifische Form der Willkürfreiheit unterschiedliche Fälle  der Gerechtigkeit jeweils verlangen . Unparteilichkeit, d . h . die Absehung von einer  Person  (oder  Sache),  kann  tatsächlich  das  Gegenteil  einer  spezifischen  Form  der  Willkür, in diesem Falle der Parteinahme für eine Person (oder eine Sache) bedeuten . Gleichheit im Sinne inklusiver Berücksichtigung aller Betroffenen kann ebenfalls das Gegenteil eines willkürlichen Ausschlusses von Personen von dieser Berücksichtigung bedeuten . Die Erfüllung von Unparteilichkeit oder Gleichheit, und das  ist trivial, muss aber nicht in jedem Falle gleichbedeutend mit ‚Gerechtigkeit’, also  mit Nicht-Willkür, sein . Es lassen sich Umstände denken, in denen die besondere  Berücksichtigung einer Person, also die Nicht-Absehung von einer Person, durchaus  gerecht sein kann . Bestimmte Maßnahmen der so genannten positiven Diskriminierung oder Quotenregelungen können, wenn sie wohl begründet sind (etwa durch  die feministische Forderung der beruflichen Gleichberechtigung von Frauen in männerdominierten  Domänen),  durchaus  als  gerecht  gelten .  Da  also  weder  Unparteilichkeit noch Gleichheit prinzipiell als formale Begründung gelten können, sondern  lediglich hinsichtlich des jeweiligen Kontextes, können sie nur als je spezifische Varianten einer formalen nicht-willkürlichen Rechtfertigung für Urteile und Handlungen gelten .  Um den begrifflichen Zusammenhang von Unparteilichkeit und Gleichheit zuzuspitzen: Unparteilichkeit kann in vielen Fällen durchaus durch das Gleichheitsgebot erfüllt werden . Von einer unparteilichen Richterinstanz wird etwa erwartet, dass  sie  beide  Seiten  gleichermaßen  berücksichtigt .  Streng  genommen  geht  es  jedoch  auch hier darum, dass das Gebot der Willkürfreiheit nicht verletzt wird, das dann  nicht gegeben wäre, würde der Richter/die Richterin nur für eine Seite Partei ergreifen und damit die eine Partei aus der Berücksichtigung in Bezug auf das Recht ausschließen . Formale Gleichheit ist als Variante des Gebots der Willkürfreiheit zu betrachten,  sie  ist  nicht  mit  ihm  identisch .  Es  kann  unter  anderen  Prinzipien,  etwa  Unparteilichkeit  oder  Allgemeinheit,  als  Rechtfertigungskriterium  herangezogen  werden, aber es trumpft sie nicht prinzipiell . Die formale Gleichheit kann somit als  inklusives Kriterium verstanden werden, ohne dabei deskriptives Gleichsein der Betroffenen  vorauszusetzen  noch  präskriptiv  deren  Gleichmachen  vorzuschreiben .20  Substantiell kann Gleichheit hingegen tatsächlich den Inhalt einer normativen Regel  bedeuten .  Gleichheit  kann  dann  konkret  eine  egalisierende  Behandlung  von  Menschen  in  vergleichender  Hinsicht  meinen .  Gleichheit  wird  somit  selbst  zum  Gehalt von Gerechtigkeit . Aber auch hier ist es erst recht fraglich, ob die Fundamentalität und Priorität der Idee der Gleichheit evident sind .

19  Ladwig, Gerechtigkeit, in: G. Göhler/M. Iser/I. Kerner (Hg .), Politische Theorie . 22 umkämpfte  Begriffe, Wiesbaden 2004, S . 119–136, hier: S . 131 . 20  Vgl . Menke (Fn . 3), S . 2 .

Auch nachts sind nicht alle Katzen grau

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4  verzerrunGen  der präsumtIonsreGel Mit diesem Zweifel an der Evidenz der Fundamentalität und Priorität der Idee der  Gleichheit komme ich zum zweiten Problem, der verzerrenden Auswirkung der Geltung der Präsumtionsregel . Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass ich von  einer Dialektik von Gleichheit und Differenz ausgehe, weil nicht nur der Begriff der  Differenz auf den der Gleichheit bezogen ist, sondern vor allem die Idee der Gleichheit begrifflich ihren Gegensatz als ihre Voraussetzung enthält . Diese Dialektik unterschlägt der Egalitarismus, wenn er die Beweislast der Rechtfertigung von Gerechtigkeitsmaßnahmen einseitig zugunsten der Gleichheit verortet .21 Die so genannte  „Präsumtion der Gleichheit“22 ist hierfür ein Beispiel . Ihr zentraler Gedanke lautet:  „Alle Betroffenen sind ungeachtet ihrer deskriptiven Unterschiede numerisch oder  strikt gleich zu behandeln, es sei denn bestimmte […] Unterschiede[…] sind in der  anstehenden  Hinsicht  relevant  und  rechtfertigen  durch  allgemein  annehmbare  Gründe erfolgreich eine ungleiche Behandlung […]“ .23 An dem Kerngedanken ist  zunächst  einmal  in  formaler  Hinsicht  plausibel,  dass  Gerechtigkeit  die  inklusive  Berücksichtigung der (moralischen oder juridischen) Rechtsansprüche Aller verlangt .  Liegen relevante Unterschiede vor, können Abweichungen der Gleichbehandlung  gerechtfertigt werden – vielmehr müssen sie gerechtfertigt werden, da sie andernfalls  als  willkürlich  einzustufen  sind  und  damit  das  formale  Erfordernis  der  Inklusion  verletzen . Problematisch an der Präsumtionsregel ist jedoch ihre Aussage bezüglich  der materialen Regeln der Behandlung von verschiedenen Personen . Dass nur für  Ungleichheit (ungleiche Behandlungen), nicht aber für Gleichheit eine Begründung  gefordert wird, stellt eine Asymmetrie dar, die sich nicht aufrechterhalten lässt . Vielmehr gerät die konstitutive Rolle der Gleichheitspräsumtion für eine Gerechtigkeitskonzeption in Misskredit . Es gibt freilich zwei Ansätze, die die ausgezeichnete Stellung der Gleichheit zu begründen versuchen . Ernst Tugendhats Version hat (wie er  später selbst zugibt24) dabei allerdings den Anschein, als handele es sich um eine  pragmatische Begründung, wenn er der Gleichbehandlung bescheinige, dass sie die  einfachste Regel sei, die Ungleichbehandlung hingegen zu viele verschiedene Regeln  verlange .25 Im Zuge einer Selbstrevision versucht Tugendhat die pragmatische Begründung durch eine konzeptuelle zu ersetzen: Nur Gleichverteilung könne gegenüber  allen  gleichermaßen  begründet  werden,  wobei  das  „gleichermaßen“  für  die  Moralbegründung generell zwingend erforderlich sei .26 Für Gosepath wiederum besteht  ein  begründungstheoretischer  Zusammenhang  zwischen  dem  Unparteilichkeitsgebot bzw . dem allgemeinen Rechtfertigungsgebot und der Gleichheitspräsumtion .27 Doch scheint das vermeintlich erforderliche ‚gleichermaßen’ in diesem Falle  21  Vgl . Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, S . 374; kritisch dazu Schramme  (Fn . 16), S . 263 . 22  Vgl . Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, S . 83, Westen, The Empty  Idea of Equality, Harvard Law Review 1982 (95:3), S . 537–596, hier: 230 ff ., Gosepath (Fn . 15),  S . 201–211 .  Zum  Begriff  der  Präsumtion  siehe  Katzner,  Presumptivist  and  Nonpresumptivist  Principles of Formal Justice, Ethics 1971 (81:3), S . 253–258 .  23  Gosepath (Fn . 15), S . 14 u . S . 202 . 24  Vgl . Tugendhat, Dialog in Laeticia, Frankfurt am Main 1997, S . 71 . 25  Vgl . Tugendhat (Fn . 21), S . 374 . 26  Vgl . Tugendhat (Fn . 24), S . 64 u .72 f . 27  Vgl . Gosepath (Fn . 15), S . 207 .

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Franziska Martinsen

einer Verwechslung mit dem Begriff der Allgemeinheit zu unterliegen . Auch vermag  der Versuch, die Gleichheitspräsumtion aus einem allgemeinen Begründungsgebot  der Unparteilichkeit zu folgern, nicht zu plausibilisieren, warum das onus probandi  nur auf Seiten der Ungleichheit liegen solle .  Entgegen  den  Vereinnahmungsversuchen,  Aristoteles  als  Gewährsmann  der  Gleichheitspräsumtion anzuführen, kann anhand der aristotelischen Gerechtigkeitsformel, gleiche Fälle gleich, ungleiche Fälle ungleich zu behandeln,28 gezeigt werden, dass die Beweislast auf beiden Seiten liegt . Da meistens nur die erste Hälfte der  Regel erwähnt wird, suggeriert die einseitige Betonung der Gleichheit, dass nur Ungleichheit eigens begründet werden muss . Die Formel ist aber bei Aristoteles symmetrisch, es gibt keinen Vorrang der Gleichheit für gleiche Fälle vor der Ungleichheit der ungleichen Fälle – was Tugendhat auch folgendermaßen eingesteht: „Aber  statt auf Gleichheit einfach zu pochen […], müßten wir klären, welchen Stellenwert  die Gleichheit in der Frage nach der Gerechtigkeit hat, ein Tatbestand, der der Ulpianschen Formel auf Anhieb nicht anzusehen ist .“29 Vielmehr geht es Aristoteles um  die Proportion der Verhältnisse, nicht um Gleichheit (oder Ungleichheit) als solche  –  und  damit  um  Angemessenheit  statt  Gleichheit .30  Ob  in  einem  Fall  eine  Gleich-  oder eine Ungleichbehandlung angemessen ist, kann nicht durch eine Präsumtion  vorab ‚entschieden‘ werden . Sowohl die gleiche als auch die ungleiche Verteilung  bedürfen  einer  willkürfreien  Begründung  anhand  von  Gerechtigkeitsprinzipien,  z . B .  dem  Unparteilichkeitsprinzip .  Dass  das  Gebot  der  Unparteilichkeit  jedoch  nicht per se mit der Gleichheitspräsumtion in eins gesetzt werden kann, zeigt sich  daran,  dass  den  Gegenbegriff  von  Unparteilichkeit  nicht  Ungleichheit,  sondern  Willkür (und zwar dann in der speziellen Version der Parteilichkeit) bildet . Unparteilichkeit heißt, keine Partei zu ergreifen, sondern ohne Ansehung der Person zu  urteilen . In das „ohne Ansehung“ selbst ist jedoch kein komparativer Maßstab, sondern ein absoluter Maßstab der Allgemeinheit eingelassen: ohne Ansehung jeglicher  (d . h . keiner einzigen) Person . Faktisch mag die Absehung von jeglicher Person (d . h .  von  allen  Personen)  eine  tatsächliche  Gleichbehandlung  bedeuten,  begrifflich  ist  dies nicht zwingend so . 5  schluss Fest steht, dass eine willkürliche Behandlung oder Verteilung in jedem Fall ungerecht ist . Eine nicht-willkürliche Behandlung ist eine anhand von vernünftigen Prin28  Vgl . Aristoteles (Fn . 6), Nikomachische Ethik, 1131a 23–25 und Aristoteles (Fn . 6), Politik, 1280a  10–14 . 29  Tugendhat (Fn . 24), S . 67–68 . Vgl . die Ulpian zugeschriebene, in Ansätzen aber schon bei Platon  durch  den  Begriff  des  pros‘hkwn  (vgl .  Platon,  Politeia,  Sämtliche  Werke,  Bd . 10,  griechisch  und deutsch, übers . v . F . Schleiermacher u . F . Susemihl, hrsg . v . K . Hülser, Frankfurt am Main/ Leipzig 1991, 331e–332c) und bei Aristoteles (Fn . 6), Nikomachische Ethik, 1134a 1–5, angelegte  Formel: „Justitia est constans et perpetua voluntas jus suum cuique tribuendi“ – „Gerechtigkeit  ist der feste und dauerhafte Wille, jedem das Seine zuzuteilen“, Ulpian, Digesten 1,1,10, zitiert  nach O. Behrens/R. Knütel/B. Kupisch/H. H. Seiler (Hg .), Corpus Juris Civilis . Digesten 1–10, Text  und Übersetzung auf der Grundlage der von Th . Mommsen und P . Krüger besorgten Textausgabe, Heidelberg 1995, S . 94 . 30  Vgl . Katzner (Fn . 22), S . 254, Feinberg, Social Philosophy, Englewood Cliffs 1973, S . 100 ff .

Auch nachts sind nicht alle Katzen grau

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zipien begründete Verteilung – je nach Sachlage eine der Gleichheit oder der Ungleichheit . Damit braucht die Berücksichtigung der Gleichheit, ebenso wie die der  Differenz, plausible Gründe, und kann nicht einfach fraglos vorausgesetzt werden .  Thomas Schramme weist mit leiser Ironie darauf hin, dass Gerechtigkeit kein statisches Gebilde ist, das das eigene Urteilsvermögen und damit den Raum, die Tugend  der Gerechtigkeit zu entfalten, ersetze: „Wie sollte Gerechtigkeit sonst eine Tugend  sein? Wenn die Handlungsanweisung immer eindeutig ist, nämlich Gleichverteilung  bei Unsicherheit über gegenteilige Gründe und Ungleichverteilung bei entsprechender Sicherheit, gibt es keinen Platz für eine Tugend der Gerechtigkeit .“31 Wenn  wir  an  dieser  Stelle  die  Bezeichnung  „Tugend“  durch  „Auseinandersetzung“  ersetzen,  lässt  sich  zumindest  im  Ansatz  aufzeigen,  wie  die  Dialektik  von  Besonderheit und Gleichheit in der (demokratischen) Praxis auszugestalten wäre . Es  liegt dann an der Qualität, d . h . am Umfang, an der Sorgsamkeit und dem Differenzierungsvermögen der sozialen, politischen, und nicht zuletzt der philosophischen  Auseinandersetzungen, die Wahrnehmung dafür zu schärfen, dass allenfalls hinter  einem Schleier des Nichtwissens Katzen grau erscheinen mögen . Bei Tageslicht hingegen lässt sich wohl nicht abstreiten, dass sie es in Wirklichkeit nicht einmal des  Nachts sind .

31  Schramme 2003, S . 263 .

stepHan ast GleIchheIt, dIfferenz  und GeneralIsIerunG –   was  es  heIsst,  sIch  nach  eIner  Generellen norm  zu  rIchten Der Beitrag untersucht die Struktur der Anwendung genereller Normen, insbesondere von Rechtsnormen, mit Bezug auf den Gleichheitssatz . Die Anwendung einer generellen Norm wird aufgefasst  als die Ableitung einer Situationsnorm . Hierbei sind Auslegung und Subsumtion zu unterscheiden .  Auslegung ist die Ableitung von konkretisierenden Normen . Die Subsumtion ist die Ableitung der  Situationsnorm, begründet durch das Urteil, dass der in der konkretisierenden Norm bezeichnete  Sachverhalt gegeben ist . Die Auslegung muss zunächst („horizontal“ oder „vertikal“) auf vorgegebene  generelle Normen Bezug nehmen, kann aber auch über sie hinausgehen, indem sie Besonderheiten  eines  Falls  für  relevant  erachtet .  Problematisch  erscheint  insbesondere  eine  Auslegung,  die  nicht  mehr als modifizierende Definition oder Exemplifikation der Normbedingung, sondern nur noch als  eine Ausnahme von der Norm dargestellt werden kann . Das scheint dem Modell der Subsumtion aus  Prämissen zu widersprechen, die aus der Norm ableitbar bzw . mit dieser vereinbar sind . Hier wird  deshalb vorgeschlagen, als weitere inhaltliche Prämisse den materiell interpretierten Gleichheitssatz  anzunehmen, die Frage, ob ein Fall eine relevante Differenz aufweist oder nicht .

1  Generelle norm  und sItuatIonsnorm Das Gebot der formalen Gerechtigkeit verlangt, die gegebenen generellen Normen  gleich anzuwenden . Wie wendet man eine generelle Norm gleich an? Diese Frage  weist über die juristische Methodenlehre hinaus und gibt ein Thema vor, das in der  allgemeinen Normentheorie zu behandeln ist .1 Man wendet eine generelle Norm  an, indem man eine Situationsnorm aus dieser generellen Norm ableitet .2 Eine  generelle  Norm  ist  dadurch  zu  definieren,  dass  sie  mehr  als  eine  Handlungssituation  oder  einen  Anwendungsfall  betrifft .  Generelle  Handlungsnormen  können meist konditioniert formuliert werden: „Wenn A der Fall ist, ist die Handlung B geboten, verboten oder erlaubt .“ Selbst scheinbar unbedingte (kategorische)  Verbote sind zumeist negativ konditioniert, etwa durch das Fehlen von rechtfertigenden Umständen . Die hier besonders interessierenden generellen Gebote, die an  einen Richter gerichtet sind, haben die Form: „Wenn A gegeben ist, soll der Richter  in der Weise B entscheiden .“3 Eine Situationsnorm ist demgegenüber eine Norm, die ein Handeln eines Handelnden in einer bestimmten Situation bezeichnet, ein „Du, jetzt (bzw . dann), dieses  (nicht)!“4 Bezeichnet die Norm einen Zeitraum, ist sie immer noch auf ein „Jetzt“  1 

2 

3  4 

Die Grenze zwischen beiden Disziplinen ist durch eine unterschiedliche Perspektive bezeichnet:  Die  Normentheorie  beschreibt  das  normative  Handeln  (einschließlich  der  Anwendung  solch  komplexer Normenzusammenhänge, wie es die Gesetze sind); die Methodenlehre schreibt darüber hinaus vor, wie der Rechtsanwender arbeiten soll . Vgl .  Engisch,  Einführung  in  das  juristische  Denken,  9 .  Auflage,  Stuttgart  (1997),  Kapitel  III,  S . 45: „Demgemäß spitzt sich das Recht, wenn es Bedeutung für unser Leben erlangen soll, auf  konkrete Sollenssätze zu .“ Ferner S . 53 zum Begriff der Ableitung . Kelsen spricht von der Erzeugung  der  individuellen  Norm  aus  der  generellen  Norm,  Reine  Rechtslehre,  2 .  Auflage,  Wien  1960, S . 239–242 . Vgl . Kelsen, Reine Rechtslehre, S . 242 . Zur Unterscheidung von genereller Norm und individueller „Pflicht“ Binding, Die Normen und 

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Stephan Ast

konkretisierbar (bei gegebenem Spielraum auf ein „Jetzt oder später“) . Für den Richter ist die Situationsnorm etwa das Gebot:„Der gegebene Fall soll in der Weise B  entschieden werden!“ Der Inhalt dieser Entscheidung ist oft wiederum die Setzung  einer generellen Norm oder einer Situationsnorm, so Kelsen: „Die Gerichte wenden die generellen Rechtsnormen in der Weise an, dass sie individuelle, in  ihrem Inhalt durch die generellen Normen bestimmte Normen setzen, in denen eine konkrete  Sanktion: zivile Zwangsvollstreckung oder Strafe, statuiert ist .“5

Die Aufgabe, eine Situationsnorm aus der generellen Norm abzuleiten, stellt sich  einerseits für den Normunterworfenen, andererseits für den Beurteiler des Handelnden . Ein Beurteiler ist jeder, der behauptet, dass ein Handeln einer Norm entspricht  oder  widerspricht .  Dem  Beurteiler  kann  die  Befugnis  zukommen,  verbindlich  zu  entscheiden, ob ein Handelnder eine generelle Norm befolgt oder verletzt hat . Der  Richter steht in beiden Positionen: Er selbst ist den Gesetzesnormen unterworfen,  die er anzuwenden hat und beurteilt zugleich, wie andere von Rechts wegen handeln sollen oder hätten handeln sollen . 2  ausleGunG  und suBsumtIon Eine generelle Norm befolgt oder missachtet man, indem man eine Situationsnorm  befolgt oder missachtet, die aus dieser generellen Norm abgeleitet ist . Die Ableitung  kann teleologisch oder logisch orientiert sein . Wenn die Norm zu erreichende oder  vermeidende „Erfolge“ (Veränderungen, Zustände) bezeichnet, ist die teleologische  Normableitung  vorrangig .  –  Das  soll  hier  nicht  behandelt  werden .6  –  Wenn  die  Norm  Handlungen  beschreibt,  wird  der  Schwerpunkt  auf  der  Situationsbeschreibung und auf dem logischen Aspekt der Normableitung liegen . Diese Art der Ableitung  wird  in  der  juristischen  Methodenlehre  als  Subsumtion  des  Falls  unter  die  Normvoraussetzungen  in  der  Form  eines  („juristischen“)  Syllogismus  dargestellt .7 

5  6 

7 

ihre Übertretung, Band 1, 2 . Auflage, Leipzig 1890, S . 96 ff ., Kaufmann, Lebendiges und Totes in  Bindings Normentheorie, Göttingen 1954, S . 138 ff ., Philipps, Der Handlungsspielraum, Frankfurt/Main 1974, S . 25 ff ., Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, Berlin 2010, S . 20 . Das  entspricht  der  Fallnorm  bei  Fikentscher,  Methoden  des  Rechts,  Band  IV,  Tübingen  1977,  S . 202 . Zu  teleologischen  Normbeziehungen  zwischen  „Verursachungsnormen“  und  „Handlungsnormen“ Ast, Normentheorie, S . 16 ff ., 23 ff . (vgl . auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, S . 97) . Dass  die  Unterscheidung  von  erfolgsorientierten  und  handlungsorientierten  Normen  für  die  Normentheorie zentral ist, zeigen ihre vielfältigen Interpretationen: als Zweck- und Konditionalprogramme bei Luhmann, als Prinzipien und Regeln bei Alexy und als Normen vom Sein-SollensTyp und Tun-Sollens-Typ bei von Wright. Vgl . Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität,  Frankfurt am Main 1973, S . 101 ff ., 257 ff ., Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main  1986, S . 71 ff ., v. Wright, Ought to be – Ought to do, Festschrift Alchourrón/Bulygin, Berlin  1997, S . 427–435 . Hierzu etwa Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3 . Auflage, Heidelberg 1963,  S . 8 ff ., Einführung, S . 52, 63, Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3 . Auflage, Berlin u . a . 1995, S . 91–98, Wróblewki, Legal Syllogism and Rationality of  Judicial Decision, Rechtstheorie 1977, S . 33–46, Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre,  München  1982,  S . 48 ff ., Alexy,  Theorie  der  juristischen  Argumentation,  Frankfurt  am  Main  1983,  S . 273 ff .,  ders.,  Die  logische  Analyse  juristischer  Entscheidungen,  in:  Recht,  Vernunft,  Diskurs,  Frankfurt/Main  1995,  S . 19–29  (auch  im  ARSP  Beiheft  14,  1980),  Klug,  Juristische 

Gleichheit, Differenz und Generalisierung

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Im Obersatz steht: „Immer wenn A, soll B folgen“, im Untersatz: „Jetzt A“ und als  Schluss: „Also soll B folgen .“ Dieser Schluss ist kein Syllogismus im Aristotelischen Sinn . Er hat die Form des  modus ponens . Beide Schlussformen unterscheiden sich dadurch, dass der Syllogismus ausschließlich allgemeine Aussagen enthält, während beim modus ponens eine  Prämisse und der Schluss singuläre Urteile sein können .8 Bereits das klassische Beispiel für einen Syllogismus betrifft genau genommen einen Schluss im modus ponens:  „Alle Menschen sind sterblich . (= Wenn x ein Mensch ist, ist x sterblich .)9 Sokrates  ist ein Mensch . Sokrates ist sterblich .“ Ein typischer syllogistischer Schluss expliziert demgegenüber das Verhältnis von  allgemeinen Begriffen oder allgemein beschriebenen Sachverhalten . Dessen Aussagen  können  auch  konditional  ausgedrückt  werden .  Ein  Beispiel,  Obersatz:  „Alle  Bäume (Mittelbegriff) haben einen Stamm (Oberbegriff) . (= Wenn x ein Baum ist,  hat x einen Stamm .)“ Untersatz: „Alle Platanen (Unterbegriff) sind Bäume . (= Wenn  x eine Platane ist, ist x ein Baum .)“ Schluss: „Alle Platanen haben einen Stamm .“(Wenn  x eine Platane ist, hat x einen Stamm .)“ Zwischen Unterbegriff, Mittelbegriff und  Oberbegriff besteht ein Art-Gattungs-Verhältnis und das klassenlogische Verhältnis  der  Implikation:  Menge  1  (Platanen)  ist  in  Menge  2  (Bäume)  und  beide  sind  in  Menge 3 (Gegenstände mit einem Stamm) komplett enthalten . Aus den Prämissen  ist der Schluss bloß explizierend . In der Gesetzesanwendung werden sowohl der modus barbara als auch der modus ponens relevant . Jeder verallgemeinerungsfähige Aspekt einer Fallentscheidung und  somit jede Rechtsfrage ist als allgemeingültiger Schluss im modus barbara darstellbar,  während  im  modus ponens  die  Tatsachenfrage  beantwortet  wird .10  Auslegung  und  Subsumtion lassen sich präzise voneinander trennen . Logik,  4 .  Auflage,  Berlin  u . a .  1982,  S . 48 ff .,  Zippelius,  Juristische  Methodenlehre,  7 .  Auflage,  München 1999, § 16 I, Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, Tübingen 1999, S . 416 ff ., Bung,  Subsumtion und Interpretation, Baden-Baden 2004, Bäcker, Der Syllogismus als Grundstruktur  des juristischen Begründens?, Rechtstheorie 2009, S . 404, Joerden, Logik im Recht, 2 . Auflage,  Berlin  Heidelberg  2010,  S . 336 ff .  Aus  der  Literatur  zur  Ethik:  Hare,  Die  Sprache  der  Moral,  Frankfurt am Main 1972, S . 45–80 . 8  Der Versuch, den modus ponens logisch zu begründen, wird allerdings zirkulär, schön aufgezeigt  von Lewis Carroll, What the Tortoise said to Achilles, Mind 1895, S . 278–280 . Die Literatur zur  Logik versucht, den singulären Schluss als Fall des modus barbara darzustellen . Arnauld/Nicole, Die Kunst des Denkens, Darmstadt 1994 (Originalausgabe Amsterdam 1685), S . 172 f ., 197 (vgl .  auch S . 177–179) mit dem Argument, dass die Einzelbegriffe als allgemeine fungieren, weil sie  „mit ihrem ganzen Umfang genommen“ werden . Zum historischen Hintergrund des Problems  Löffler, Einführung in die Logik, Stuttgart 2008, Rn . 419, 459 . Aus dem juristischen Schrifttum  nur Engisch, Logische Studien, S . 8 (mit Bezug auf Kant), Einführung, S . 63 f ., Klug, Juristische  Logik,  S . 49,  60,  Joerden, Logik  im  Recht,  S . 337  (Die  Ersetzung  von  „einige“  im  modus darii durch „ein“ spezifiziert aber immer noch nicht, wer genau) . Andererseits zu einseitig Gröschner,  Justizsyllogismus? Jurisprudenz!, in Lerch (Hrsg .), Die Sprache des Rechts, Band 2, Berlin 2005,  S . 203, 204 f . 9  Diese  konditionale  Formulierung  enthält  die  Allbeseitigungsregel,  dass  das,  was  für  alle  gilt,  auch für einen gilt . In dieser Weise entspricht der Obersatz des modus barbara dem Obersatz des  modus ponens . Vgl . Koch/Rüßmann Begründungslehre, S . 50, Alexy, Die logische Analyse, S . 22 f .,  Bäcker, Der Syllogismus, S . 406–408, 415 f . 10  Zum Begriff der species facti, dem „Bild der Tatsachen“, dem Sachverhalt, von dem der Normanwender ausgeht, Hruschka, Die species facti, in: Schröder (Hrsg .), Theorie der Interpretation vom  Humanismus bis zur Romantik, Stuttgart 2011, S . 206 f .

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Die  Auslegung  –  der  Schluss  im  modus barbara –  führt  zur  Gewinnung  einer  spezielleren, aber immer noch generellen Norm aus der generellen Norm des Gesetzes . Der Obersatz der Auslegung ist die Gesetzesprämisse . Zum Beispiel: „Alle Personen, die eine fremde bewegliche Sache wegnehmen etc . (es folgen weitere Voraussetzungen), sollen bestraft werden (= sind Personen, die bestraft werden sollen) .“ –  Der  Untersatz  enthält  die  Auslegung:  „Alle  Personen,  die  ein  Portemonnaie  wegnehmen, sind solche, die eine bewegliche Sache wegnehmen .“ (Kurz: „Portemonnaies sind bewegliche Sachen .“) Als Schluss folgt: „Jeder, der ein fremdes Portemonnaie wegnimmt etc ., soll bestraft werden .“ Die zweite Prämisse dieses Schlusses (der Untersatz) enthält zunächst eine bloße  Behauptung . Sie kann begründet werden, indem man den Mittelbegriff definiert und  den Unterbegriff als mit der Definition übereinstimmend behauptet . Das lässt sich  wiederum in der logischen Form eines Syllogismus darstellen . Die Definition ist ein  Allsatz, der als Obersatz eines syllogistischen Schlusses eingesetzt werden kann, bei  welchem  Mittelbegriff  und  Oberbegriff  bedeutungsmäßig  vollständig  äquivalent  und  deshalb  vertauschbar  sind  (also  eine  identische  Klasse  bilden),  im  Beispiel:  „Alle körperlichen Gegenstände (ggf . folgen hier weitere Merkmale) (Mittelbegriff)  sind Sachen (Oberbegriff) . – Alle Portemonnaies (Unterbegriff) sind körperliche Gegenstände  (Mittelbegriff) .  –  Alle  Portemonnaies  sind  Sachen .“  Dieser  Schlusssatz  fungiert  dann  als  Untersatz  des  übergeordneten  Syllogismus,  der  auf  diese  Weise  begründet  wird .  Eine  solche  Aneinanderreihung  von  syllogistischen  Schlüssen  nennt man Soriten, während das Enthymem dadurch gekennzeichnet ist, dass Begründungsschritte weggelassen werden, aber in syllogistischer Form expliziert werden können .11 An die Auslegung schließt die Subsumtion an . In Bezug auf einzelne Merkmale  der Norm wird die conclusio des syllogistischen Schlusses zum Ausgangspunkt eines  Schlusses  der  Form  des  modus ponens (mit  zwei  singulären  Urteilen),  im  Beispiel:  „Alle Portemonnaies sind Sachen . Was A an sich genommen hat, ist ein Portemonnaie . A hat eine Sache an sich genommen .“ Wenn der Sachverhalt unter sämtliche  Merkmale  der  (ausgelegten)  Norm  subsumiert  werden  kann,  wird  die  Situationsnorm angenommen: „Wenn jemand des Diebstahls schuldig ist, soll er bestraft werden . A ist des Diebstahls schuldig . A soll bestraft werden .“ Es wird somit nicht der  konkret beschriebene Fall unter die generelle Norm „subsumiert“, sondern immer  zumindest implizit eine allgemeingültige Auslegung der Norm behauptet, unter die  subsumiert wird .12 Die Situationsbeschreibung einer generellen Norm kann, wie zum Beispiel ein  Strafgesetz, an das Bestehen oder die Missachtung einer vorausgesetzten Norm anknüpfen .  Das  situationsbezogene  Urteil  im  Untersatz  des  modus ponens  ist  dann  nicht bloß beschreibend, sondern erfordert die Auslegung und Subsumtion unter  diese  vorausgesetzte  Norm .  Der  Zivilrichter  muss  das  Bestehen  einer  Pflicht  bejahen,13  der  Strafrichter  ein  Zurechnungsurteil  fällen,  also  annehmen,  dass  der  11  Arnauld/Nicole, Die Kunst des Denkens, S . 171, 216 ff . 12  Dieser Auslegungsakt wird häufig bereits als „Subsumtion“ aufgefasst . Das verdeckt aber, dass es  hierbei eben nicht um die Subsumtion des singulär gegebenen Falls unter die generelle Norm  geht, sondern – mit Engisch – um die Subordination einer ganzen Fallgruppe (im Beispiel die  Wegnahme von Portemonnaies) . 13  Paradigmatisch bereits die Klageformeln im alten Rom, etwa: „… quidquid Numerium Negidi-

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Angeklagte eine Verhaltensnorm missachtet hat .14 Das Erfordernis der Normwidrigkeit ist dann wesentliches Definitionsmerkmal für scheinbar rein beschreibende Begriffe . Bestraft wird nur das normwidrige „Verursachen“, „Unterlassen des Verhinderns“, die normwidrige „Wegnahme“ oder „Täuschung“ .15 Schließlich ist zu fragen, ob es zutreffend ist und was es nutzt, mittels der beiden logischen Figuren des modus barbara und des modus ponens die Normanwendung  darzustellen .16  Selbstverständlich  ist  zunächst,  dass  die  Schlussformen  nicht  zu  neuen Erkenntnissen führen . Die Fallentscheidung steckt in den Prämissen, nicht im  Schluss . Die Schlussformen garantieren sowohl in Bezug auf Aussagesätze als auch  auf Normen nur, dass die Folgerung aus den Prämissen gültig (formal korrekt) ist,  nicht auch, dass das Ergebnis sachlich zutreffend ist . Sachlich zutreffend heißt im  Fall  von  Aussagesätzen,  dass  sie  als  wahr  gelten  (anerkannt  werden),  im  Fall  von  Normen etwa, dass sie als Recht oder allgemeiner, dass sie als von einem Normgeber  gesetzt gelten .17 Die Wahrheit bzw . Geltung der Schlusssätze hängt allein von der  Wahrheit oder Geltung der Prämissen ab . In der zutreffenden Setzung der Prämissen  liegt die Schwierigkeit, wenn es heißt, eine generelle Norm anzuwenden . Die  Explikation  der  Schlussformen  ist  deshalb  von  Nutzen,  weil  sie  aufzeigt,  worauf  man  sich  festlegt,  wenn  man  die  Norm  in  der  einen  oder  anderen  Weise  versteht . Der Auslegungsschluss – der Allsatz im modus barbara – zeigt die Konsequenz auf, die der Normanwender ziehen muss . Er muss behaupten, dass die gewählte Auslegung der Norm generalisierbar ist und dass er jeden Fall, der dem gegebenen  bis  auf  die  zeitlich-örtliche,  sachliche  und  persönliche  Individualisierung  gleicht, in gleicher Weise entscheiden würde . Der Schluss im modus barbara statuiert:  „Alle Fälle mit den gegebenen allgemeinen Merkmalen sind Fälle, auf welche die  Situationsbeschreibung  der  Norm  (bzw .  das  einzelne  Merkmal  X)  zutrifft .“  Diese  Funktion  kann  man  als  die  Verallgemeinerungskonsequenz  der  Normanwendung  bezeichnen . Der Subsumtionsschluss im modus ponens bedeutet hingegen, dass sich der  Normanwender auch im gegebenen Fall an die Norm bindet: „Im Einzelfall trifft  die  Situationsbeschreibung  zu .  Somit  gilt  die  Normanordnung .“  Diese  Funktion  kann man als Einzelfallkonsequenz bezeichnen . Auf die Frage der Einzelfallkonsequenz wird das letzte Kapitel zurückkommen .  Zunächst geht es um die Berücksichtigung vorgegebener Normen bei der Auslegung  sowie um die Frage, wie die Auslegung Besonderheiten berücksichtigen kann, die  ein zu entscheidender Fall aufweist .

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um Aulo Agerio dare facere oportet ex fide bona, eius, iudex, Numerium Negidium Aulo Agerio  condemnato, si non paret, absolvito .“ Zum Begriff der Zurechnung Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, Berlin 2010, S . 55 . Vgl . Engisch, Einführung, S . 56 f . Die vielfältigen Positionen zur Frage der Anwendbarkeit der formalen Logik auf Normsätze hat  Holländer herausgearbeitet, Rechtnorm, Logik und Wahrheitswerte, Baden-Baden 1993, S . 16– 55 . Vgl . auch Engisch, Einführung, S . 50 f ., Alexy, logische Analyse, S . 21 f ., Bung, Subsumtion,  S . 100 ff . Bereits Arnauld/Nicole benutzen ohne weiteres Normenbeispiele (etwa: „Alle Könige  sind Personen, die man von Gesetzes wegen ehren soll“), Die Kunst des Denkens, S . 173, 196 f .,  218 . Dem liegt die Position zugrunde, dass eine Aussage dann wahr „ist“, wenn sie als wahr gilt (anerkannt wird), weil ein absoluter Begriff der Wahrheit nur als eine Art regulatives Prinzip fungiert,  an dem sich die Anerkennung als wahr orientiert .

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3  arten  der ausleGunG Bevor man im Weg der Subsumtion vom gegebenen Sachverhalt auf die Situationsnorm schließen kann, sind sämtliche normative Prämissen zu ermitteln, die für die  Gewinnung  der  Situationsnorm  erforderlich  sind .  Das  ist  die  Aufgabe  der  Auslegung der generellen Norm . Ergebnis der Auslegung ist eine generelle Norm, die mit  Blick  auf  den  zu  entscheidenden  Fall  so  weit  wie  möglich  inhaltlich  angereichert  und konkretisiert ist . Die Auslegung hat in einem ersten Schritt zunächst vorgegebene Normen zu  berücksichtigen, die der auszulegenden Norm zuzuordnen sind, und zwar nach zwei  Richtungen . Es gibt eine horizontale und eine vertikale Auslegung der Norm . Während  sich  die  vertikale  Auslegung  an  eine  Voraussetzung  anschließt,  welche  die  Norm  enthält, berücksichtigt die horizontale Auslegung Voraussetzungen, die in der Norm  nicht benannt sind . Normen, die einzelne Merkmale spezifizieren, sind der auszulegenden Norm unterzuordnen . Normen, die weitere Voraussetzungen und Ausnahmen statuieren, stehen mit ihr auf der gleichen Stufe . So muss man bei der Anwendung eines Strafgesetzes im Weg der horizontalen  Auslegung berücksichtigen, dass das bezeichnete Handeln rechtwidrig und schuldhaft sein muss . Für die Frage, ob ein Vindikationsanspruch nach § 985 BGB besteht,  muss man  untersuchen,  ob  nicht  ein Recht  zum  Besitz besteht (§ 986 BGB) . Die  gleichstufigen Normen, die in der horizontalen Auslegung berücksichtigt werden,  können  mit  der  auszulegenden  Norm  zusammengefügt  werden,  sodass  sich  eine  Gesamtnorm ergibt, die sämtliche positiven wie negativen Normkonditionen enthält . Insoweit wird häufig zwischen vollständigen und unvollständigen Normen unterschieden .18 Ob ein Merkmal in der einen generellen Norm enthalten ist oder in  einer anderen benannt wird, ob es also zunächst in einer horizontalen Auslegung zu  ermitteln oder nur vertikal auszulegen ist, ist veränderbar und wird pragmatisch gehandhabt . Die vertikale Auslegung schließt an ein Merkmal an, das in der generellen Norm  benannt ist . Ihr Ergebnis ist eine Exemplifikation und eventuell eine Definition dieses  Merkmals . Wie oben gezeigt, ist die Definition ein Allsatz mit äquivalenten Termen .  Die Definition substituiert das auszulegende Merkmal deshalb vollständig: „[Alle]  X  sind  Y  und  [alle]  Y  sind  X .“  Die  Exemplifikation  hingegen  benennt  eine  Fallgruppe,  die  dem  auszulegenden  Begriff  zugeordnet  wird:  „Alle  X  sind  Y  (Jedes  Portemonnaie ist eine Sache)“ – ohne dass alle Y X sind .19 Die exemplifizierende  Auslegung  führt  deshalb  im  Schluss  des  modus barbara zu  einer  Norm,  die  einen  geringeren  Generalisierungsgrad  hat  als  die  auszulegende  Norm  (die  also  weniger  umfassend ist als diese) . Während im obigen Beispiel der definierende Term „kör18  Etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, S . 78 ff ., 93, Fikentscher, a . a . O ., S . 244–247, Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtstheorie, 3 . Auflage, Köln München (2008), S . 231 f . 19  Vgl . Zippelius, Methodenlehre, § 12 I c . Hinter dieser Unterscheidung steht die Unterscheidung  von intensionaler und extensionaler Definition . Eine extensionale Definition müsste alle Anwendungsfälle  eines  Begriffs  benennen,  was  schwierig  und  unnötig  ist .  Es  interessiert  immer  nur ein Anwendungsfall . Deshalb ist hier von Exemplifikation des Begriffs die Rede . Engisch  spricht insoweit von der Subordination eines Begriffs unter den Begriff, der in der generellen  Norm verwendet wird, Einführung S . 63, Fn . 25 . Vgl . auch Lege, Rechtsbegriffe, Ihre Logik, ihre  Bedeutung, ihre Richtigkeit, GreifRecht 2006, S . 6 f .

Gleichheit, Differenz und Generalisierung

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perliche Gegenstände“ den Begriff der „Sache“ vollständig substituiert, schränkt der  exemplifizierende Term „Portemonnaie“ den Gegenstandsbereich ein . Sowohl die Definition als auch die Exemplifikation führen zur Konkretisierung  der generellen Norm, das heißt zur Ableitung von konkreteren, aber immer noch  generellen Normen .20 Die Definition konkretisiert, indem sie die Grenzen des Begriffs unter Zuhilfenahme anderer Begriffe möglichst präzise beschreibt und festlegt;  die Exemplifikation, indem sie die Norm auf den zu beurteilenden Fall hin entwickelt . Aus der großen Menge konkretisierender Normen werden im Prozess der Normanwendung nur diejenigen Normen herausgefiltert, die für den Fall relevant sind .  Hierfür  hat  Engisch  das  Bild  vom  Hin-  und  Herwandern  des  Blicks  gefunden .21  Man konkretisiert die Norm auf den Einzelfall hin . Vorgegebene Definitionen und konkretisierenden Exemplifikationen sind entweder im Gesetz selbst enthalten (z . B . die Rechtfertigungsgründe im Hinblick auf  das Erfordernis der Rechtswidrigkeit oder die Entstehungsgründe für das Eigentum  im Hinblick auf die Definition des Eigentums), oder sie haben in der Auslegungsgeschichte der Norm rechtliche Anerkennung gefunden, etwa in der Form von höchstrichterlich anerkannten Normauslegungen . In gewissem Sinn handelt es sich einerseits um eine systematische Auslegung, andererseits um eine historische Auslegung  der Norm . Wird eine Rechtsnorm ausgelegt, muss man behaupten können, dass auch die  auf den Einzelfall hin konkretisierte generelle Norm eine Rechtsnorm ist – in gleicher  Weise wie die generelle Norm, auf die sie sich bezieht, und wie die Situationsnorm,  die  das  Ergebnis  der  Subsumtion  ist .22  Die  Definitionen  und  Exemplifikationen  sind nicht beliebige Sprachverwendungsregeln, sondern sind von Rechts wegen verbindlich . Das wird deutlich, wenn ein Gericht oder Rechtsanwender die anerkannten konkretisierenden Normen nicht beachtet . Dann wird die Auslegung der Norm  nicht akzeptiert und gegebenenfalls von Obergerichten korrigiert . So resultiert aus  der Definition des Merkmals der Wegnahme im Diebstahlstatbestand für den Normanwender die „Definitionsnorm“23, dass die Wegnahme zu bejahen ist, wenn jemand den Gewahrsam an einer fremden Sache gebrochen hat, sowie die exemplifizierende  konkretisierte  Norm,  dass,  wer  das  Portemonnaie  eines  anderen  an  sich  nimmt und in die eigene Jackentasche steckt, wegen Diebstahls bestraft werden soll .

20  Alexy, Th . d . jur . Arg ., S . 276–280, Zippelius, Methodenlehre, § 12 I c, § 16 II . 21  Engisch,  Studien,  S . 15, Einführung,  Kapitel  IV,  Fn . 4,  S . 74 .  Hierzu  Alexy,  Th .  d .  jur .  Arg .,  S . 281 f ., Hruschka, Die species facti, S . 213 . Kritisch Upmeier, Fakten im Recht, Baden-Baden  2010, S . 24–71 . 22  Vgl . Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Auflage, S . 243 f . Während häufig wohl nur die Gesetzesnormen als Rechtnormen bewusst werden, tendiert Fikentscher zum anderen Extrem: Nur die Fallnormen seien geltende Rechtsnormen, Methoden, S . 244–247 . 23  Bierling  spricht  insoweit  von  begriffsentwickelnden  Rechtssätzen,  Juristische  Prinzipienlehre,  Band 1, Tübingen 1894, S . 88–90 .

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4  reaGIeren  auf dIfferenzen Die Berücksichtigung von vorgegebenen generellen Normen im Weg der horizontalen oder vertikalen Auslegung ist die erste Stufe der Anwendung einer generellen  Norm .  Je  nachdem,  ob  man  höchstrichterliche  oder  sonst  allgemein  anerkannte  Auslegungen mit einbezieht oder nicht, ist diese Auslegungsart mehr oder weniger  weitreichend . – Das Gleichheitsgebot fordert insoweit bloß, dass sämtliche gegebenen generellen Normen zu berücksichtigen sind .24 Das mag trivial erscheinen, ist  aber eine anspruchsvolle Aufgabe, gerade in einem sehr komplexen Normenzusammenhang, wie es das Recht ist . Sie erfordert, die gegebenen gleichstufigen generellen  Normen und die einschlägigen konkretisierenden Normen zu kennen oder zu ermitteln  und  sie  mit  dem  Sachverhalt  überhaupt  erst  assoziativ  in  Verbindung  zu  bringen . Andernfalls wendet man die Norm nicht richtig an .25 In einem zweiten Schritt muss die Normauslegung die generelle Norm zumindest implizit so weit wie möglich konkretisieren . Wie gesagt, bejaht oder verneint  die Subsumtion lediglich, dass der Sachverhalt gegeben ist, der in der am weitesten  konkretisierenden Norm beschrieben ist . Alle vorausgehenden Annahmen sind generalisierbar und damit Auslegung . Man behauptet zumindest implizit in jeder Subsumtion eines Sachverhalts unter eine generelle Norm eine konkretisierende (generelle) Norm als Ergebnis einer exemplifizierenden Auslegung . Das Gleichheitsgebot  bedeutet  dann,  dass  es  möglich  sein  muss,  diese  generalisierbaren  Aspekte  eines  Falls als allgemeingültige Auslegung zu behaupten und dass man sich selbst an diese  Auslegung bindet . – Der Normanwender muss die oben so genannte Verallgemeinerungskonsequenz ziehen . Jeder konkrete Fall weist im Hinblick auf den Sachverhalt, der in einer generellen Norm beschriebenen ist, Differenzen (Unterschiede, Besonderheiten) auf . Eine  konkrete  Situationsbeschreibung  ist  immer  reicher  an  potentiell  generalisierbaren  Merkmalen als die Situationsbeschreibung einer gegebenen generellen Norm . Diese  Differenzen werden in der Auslegung entweder als relevant oder als irrelevant eingestuft . So enthält bereits jeder Gattungsbegriff (im obigen Beispiel: Portemonnaie)  gegenüber dem Artbegriff (Sache) zusätzliche Merkmale . Er ist ein reicherer und in  gewissem  Sinn  umfangreicherer  Begriff  als  der  Artbegriff .  Wird  die  Art-GattungsZuordnung bejaht, wird die Differenz negiert und als irrelevant erklärt . Gelingt die  Zuordnung  nicht,  besteht  eine  relevante  Differenz .  Die  Begriffe  der  generellen  Norm und deren Definition bestimmen somit in Bezug auf diese Norm über die  Relevanz und Irrelevanz von Differenzen, die ein Fall aufweist – und damit selbstverständlich auch über die Gleichheit und Ungleichheit eines Falls bzw . eines Fallaspekts in Bezug auf Aspekte der Situationsbeschreibung der generellen Norm . Der  zweite Schritt der Auslegung kann somit verstanden werden als ein Reagieren auf  Differenzen .Bei der Rechtsanwendung ist es möglich, Differenzen, die in den vorgegebenen  Konkretisierungen  noch  nicht  beachtet  sind,  als  beachtlich  zu  erklären .  Wenn die Relevanz einer Differenz in Frage steht, ist es nötig, das Urteil über deren  Relevanz oder Irrelevanz zu begründen . Man behauptet damit ja zugleich eine neue,  24  Zum Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 2 . Auflage, Wien  1975, S . 26 f ., Alexy, Th . d . Grundrechte, S . 357 f . 25  Auf die Normanwendung beziehen sich somit Kenntnis- und Nachforschungsgebote . Hierzu  allgemein Ast, Normentheorie, S 44 ff .

Gleichheit, Differenz und Generalisierung

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konkretisierende Norm . Diese Norm gewinnt man quasi induktiv, vom Fall ausgehend .26 Auf dieser Stufe der Rechtsanwendung trifft sich die Rechtspraxis, die von  generellen Gesetzesnormen ausgeht mit einer fallrechtlichen Praxis . Während man  vom  Gesetz  ausgehend  konkretisiert,  muss  man  von  einer  Fallentscheidung  und  damit einer Situationsnorm ausgehend generalisieren .27 Auch hierbei sind Differenzen der Fälle für relevant oder irrelevant einzustufen . Dass  trotz  gegebener  Gleichheit  von  Fällen  auf  Differenzen  zu  achten  ist,  ist  nicht unbedingt eine Besonderheit des Rechtssystems . Wenn generelle Normen gegeben  sind,  ist  der  Normanwender  häufig  aufgefordert,  für  relevante  Differenzen  sensibel zu sein und die Norm nicht stur durchzuhalten . Freilich kann sich derjenige, der eine generelle Norm dem Wortlaut gemäß anwendet, immer auf den Wortlaut berufen und wird sozusagen von der Norm geschützt . Derjenige hingegen, der  darüber  hinaus  Differenzen  für  relevant  erachtet,  die  noch  nicht  in  den  Normen  oder den anerkannten Normkonkretisierungen vorgesehen sind, geht ein gewisses  Wagnis ein . Er macht vielleicht einen Fehler, macht es aber unter Umständen besonders  gut .  In  jedem  Fall  setzt  sich  eine  insoweit  ungleiche  Entscheidung  unter  ein  Rechtfertigungserfordernis . Die Berufung auf die generelle Norm selbst genügt dann  nicht mehr .28 5  dIe relevanz  eIner dIfferenz Für den Normanwender gibt es vier Möglichkeiten, eine im Fall entdeckte Differenz  einzuordnen .  Die  Differenz  kann  zunächst  entweder  („vertikal“)  einem  Merkmal  der generellen Norm untergeordnet werden oder nicht . In beiden Fällen kann die  Relevanz der Differenz bejaht oder verneint werden . Das kann das Beispiel der Auslegung des Irrtumsmerkmals im Betrugstatbestand  (§ 263 StGB) verdeutlichen . Die Norm ist insoweit zunächst durch die anerkannte  Definition zu konkretisieren, dass Irrtum jede Fehlvorstellung über Tatsachen sei .29  Im zu beurteilenden Fall wird nun die Besonderheit erkannt, dass jemand die Wahrheit der Behauptungen des Täuschenden anzweifelt, sich aber auf das Geschäft einlässt . Hier hat man zu beurteilen, ob diese Konstellation überhaupt noch als Fall  eines Irrtums erfasst werden kann und ob – so oder so – die Differenz zu den Fällen  des Irrtums relevant ist oder nicht . Es sind somit vier Positionen denkbar: Man kann  annehmen, dass der Zweifelnde sich nicht irrt, und dann entweder (1) die Anwendung der Norm aus diesem Grund ablehnen – oder (2) gleichwohl annehmen . Dann  26  Vgl ., im Anschluss an Peirce, Lege, Pragmatismus, S 416 ff ., 444 ff ., ders., Rechtsbegriffe, S . 4 . f .,  ders., Was Juristen wirklich tun, in: Rechtsphilosophie im 21 . Jahrhundert, S . 207, 213 ff . (Missverständlich bei diesem aber die Deutung von juristischen Definitionen .) Zur Abduktion bei  Peirce  auch  Schulz,  Regel  und  Fall,  in  Feldner/Forgó  (Hrsg .),  Norm  und  Entscheidung,  Wien  2000, S . 153 . 27  Vgl . etwa Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1993, S . 349–351 m . w . N . Zur  fallorientierten Methodik der römischen Juristen Benke, In sola prudentium interpretatione, in  Feldner/Forgó, Norm und Entscheidung, S . 1–85 . 28  Vgl . mit Blick auf die Verwaltung Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S . 170:  Das  konditionale  Entscheidungsprogramm  entlastet  vom  Erfordernis,  Gründe,  für  eine  Entscheidung anzugeben und wirkt einer Verselbständigung der „Untergebenen“ entgegen . 29  Schönke/Schröder/Cramer/Perron, StGB, 28 . Auflage, München 2010, § 263 Rn .33 f .

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Stephan Ast

zieht man eine Analogie zu der Norm . Demgegenüber kann man den Zweifelnden  als Irrenden ansehen und auf dem Boden dieser Meinung (3) die Differenz, dass der  Irrende zweifelt, negieren und die Normvoraussetzung bejahen oder (4) die Differenz für relevant erachten und die Normvoraussetzung verneinen . Dann würde man  eine (teleologische) Reduktion der Norm annehmen .30 Die herrschende Auslegung im Strafrecht bejaht den Irrtum und verneint die  Relevanz der Differenz (Variante 3) . – Diese Auslegung ist freilich mit der oben angeführten Definition nicht mehr zu vereinbaren . Wer zweifelt, unterliegt nicht einer  Fehlvorstellung, weil das die Überzeugung vom Gegebensein eines Sachverhalts voraussetzt . Man kann dann entweder diese Unvereinbarkeit einfach leugnen31 oder  die Definition (und damit die generelle Norm) an den neu entdeckten Fall anpassen .  Der Begriff des Irrtums könnte demnach dadurch definiert werden, dass jemand in  Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt eine Vorstellung entwickelt hat, aber über  den tatsächlichen Sachverhalt in Unkenntnis ist . Das Beispiel zeigt, dass sich die Bedeutung und Definition der Begriffe, die eine  Norm verwendet, im Lauf der Auslegungsgeschichte autonom und abweichend vom  herkömmlichen Sprachgebrauch entwickeln können und dass sie erst aus den konkretisierenden Normen ersichtlich werden, die der auszulegenden Norm zuzuordnen sind . Wegen des Gesetzlichkeitsprinzips sollte sich das Strafrecht freilich an den  konventionellen,  allgemein  verständlichen  Wortgebrauch  halten .32  Konsequent  wäre es deshalb, das Vorliegen eines Irrtums zu verneinen und eine Analogie nicht  zuzulassen .33 Weil man nur mit dem Wortsinn argumentiert, wirkt diese Auffassung  aber  formal .  Das  Verbot  der  Analogie  wird  als  ein  Gebot  der  Ungerechtigkeit  erscheinen, weil man Differenzen für relevant erklären muss, die es nach den maßgeblichen Begründungserwägungen der Norm nicht sind . Man behandelt in relevanter  Hinsicht Gleiches ungleich .34 Was sind also die Argumente, die ein Relevanzurteil und damit eine konkretisierende Norm als Ergebnis der Auslegung materiell begründen können und die somit  auch das Einzelfallurteil sozusagen extern rechtfertigen?35 In der klassischen Unterscheidung sind es Argumente aus dem Wortlaut, der Systematik, der Geschichte und  dem Zweck des Gesetzes . Im Beispielsfall ist es etwa der Gedanke, dass ein Strafbe30  Die  Reduktion  könnte  man  auch  durch  eine  (Neu-)Definition  des  Bezugsbegriffs  und  damit  als einschränkende Begriffsauslegung darstellen . Die Definition enthält dann einen negativen  Term: „x ist immer gegeben, wenn y gegeben ist, außer wenn auch z gegeben ist .“ Ein Beispiel  hierfür ist die Definition der Heimtücke (§ 211 StGB) durch das Erfordernis der „feindlichen  Willensrichtung“, welche nur dadurch definiert wird, dass sie nicht gegeben ist, wenn der Täter  zum Besten des Opfers handeln will (Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rn . 23, 25a) . 31  Arzt/Weber, Strafrecht BT, Bielefeld 2000, § 20/65, LK-Tiedemann, StGB, 11 . Auflage 2005, § 263  Rn . 86 . 32  Den  konventionellen  Gebrauch  des  Begriffs  „Irrtum“  haben  mit  empirischen  Mitteln  untersucht  Lorenz/Pietzker/Pietzker,  NStZ  2005,  S . 429–434 .  Zum  Gesetzlichkeitsprinzip  Greco,  Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009, S . 253–274 . 33  Zuletzt Amelung, Der Zweifel als Irrtum – Ein Irrtum zum verzweifeln, Festschrift für Volker  Krey, Stuttgart 2010, S . 1 ff . m . w . N . 34  Zur  Materialisierungstendenz  im  Strafrecht  Vogel,  Einflüsse  des  Nationalsozialismus  auf  das  Strafrecht, ZStW 115 (2003), S . 638, 645 ff . 35  Im  Sinn  von  Alexy,  Th .  d .  jur .  Arg .,  S . 273,  283–348,  hierzu  auch  Bäcker,  Der  Syllogismus,  S . 409–414 .  Intern  (formal)  gerechtfertigt  wird  das  Urteil  (die  Situationsnorm)  dadurch,  dass  man die konkretisierenden Normen und die Subsumtion unter diese Normen expliziert .

Gleichheit, Differenz und Generalisierung

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dürfnis nicht besteht, weil der Geschädigte sich selbst hätte schützen können, indem  er seinen Zweifeln nachgeht und weil er somit den entstandenen Schaden selbst zu  verantworten hat . Die Gegenmeinung behauptet genau das Gegenteil, dass der Geschädigte schutzwürdig bleibe und dass es ungerecht sei, wenn ihm entweder sein  größeres Misstrauen oder seine Leichtgläubigkeit zum Nachteil bzw . dem Betrüger  zum Vorteil gereichen soll .36 Hier sind es also spezifisch normative und teleologische Erwägungen, die das Urteil tragen, dass eine Differenz relevant ist oder nicht . Durch die Annahme einer Analogie oder Reduktion kann die Normanwendung  die Norm erweitern, während die Definition und Exemplifikation immer normimmanent sind . Sie substituieren das Merkmal, auf das sie sich beziehen . Analogie und  Reduktion hingegen erweitern die Norm, indem sie eine weitere positive oder negative  Normkondition  setzen .  Diese  Bedingungen  sind  in  späteren  Fällen  in  einer  horizontalen Auslegung zu berücksichtigen . Im Fall der Analogie ist das Ergebnis:  „Wenn A oder wenn C, soll B folgen .“ Eine Reduktion führt zur Annahme einer negativen Bedingung: „Wenn A außer wenn C, soll B folgen .“ Die Unterscheidung von  merkmalsimmanenter  (vertikaler)  und  normerweiternder  Auslegung  per  Analogie  oder Reduktion hängt dabei von den gegebenen konkretisierenden Definitionen ab . 6  eInzelfallkonsequenz versus defeasIBIlIty Wenn eine Analogie oder Reduktion der Norm noch nicht anerkannt ist, sondern  vom  Normanwender  eigenständig  behauptet  und  begründet  wird,  fragt  sich,  wie  diese  Möglichkeit  im  Subsumtionsmodell  darstellbar  ist .  Es  scheint  doch,  als  ob  man, von einer anerkannten konkretisierenden Norm ausgehend, gerade den Subsumtionsschluss  verneint,  im  Fall  der  Reduktion:  „Jetzt  zwar  A .  Gleichwohl  soll  nicht B folgen“, im Fall der Analogie: „Jetzt zwar nicht A, gleichwohl soll B folgen .“  Somit stellt sich die oben angesprochene Frage der Einzelfallkonsequenz und der  Anwendbarkeit des modus ponens . Diese Frage wird in der aktuellen Diskussion, die auf H .L .A . Hart zurückgeht,  unter das Schlagwort der „defeasibility“ von Normen gebracht .37 Offenbar lassen es  (Rechts-)normen  zu,  dass  Ausnahmen  zugestanden  werden .  Hare  spricht  davon,  dass man die gegebene Norm „bricht“ und eine neue (modifizierte) Norm annimmt,  aus der man dann schließt .38 Toulmin bestreitet deshalb, dass die Rechtsanwendung  in einer logisch zwingenden Folgerung der Situationsnorm aus gegebenen generellen Normen mündet: „Das ´alle´ bzw . ´jedes´ des Logikers bringt unglückliche Erwartungen mit sich, die die in der  Praxis gelegentlich enttäuscht werden . Sogar die allgemeinsten Schlussregeln innerhalb ethischer 

36  Schönke/Schröder/Cramer/Perron,  StGB,  28 .  Auflage,  München  2010,  § 263  Rn .  40,  Wessels/ Hillenkamp, Strafrecht BT II, 30 . Auflage, Heidelberg 2007, Rn . 510 . 37  Zur Übersicht über Entwicklung und Stand der Diskussion Bäcker, Der Syllogismus, S . 421–424,  ders ., Rules, Principles, and Defeasibility, in Borowski (Hrsg .): On the Nature of Legal Principles,  ARSP-Beiheft 119 (2010), S . 81–85 . Sofern als Beispiel schon anerkannte Ausnahmen genannt  werden, handelt es sich bloß um eine horizontale Auslegung der Norm . Interessant sind nur die  noch nicht anerkannten Ausnahmen . 38  Hare, Sprache der Moral, S . 71 ff ., 79 f .

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Stephan Ast Argumentationen können in ungewöhnlichen Situationen noch Ausnahmen erfahren . Sie können deshalb höchstens mutmaßliche Schlussfolgerungen erlauben .“39

Die  Frage,  wie  sich  die  strikte  Gesetzesanwendung  mit  der  Berücksichtigung  von  Besonderheiten des Einzelfalls verträgt, beschäftigt die Rechtsphilosophie und Methodenlehre seit jeher . Platon räumt den – gut ausgebildeten – Richtern eigene Entscheidungsbefugnisse ein, weil das Gesetz nicht das für alle Fälle Beste und Gerechteste erfassen könne .40 Aristoteles fragt, wie sich die „Epikeia“ (Billigkeit, Equity) mit  dem Gesetzesrecht verträgt und sieht darin bereits ein logisch-begriffliches Problem: „Einerseits loben wir das Billige … andererseits erscheint es, wenn man sich an die Logik hält,  als ungereimt, dass das Billige Lob verdienen soll und doch vom Recht verschieden sein soll …  Die Schwierigkeit rührt … daher, dass das Billige zwar ein Recht ist, aber nicht im Sinne des  gesetzlichen Rechts, sondern als eine Korrektur desselben … Wenn demnach das Gesetz allgemein spricht, aber in concreto ein Fall eintritt, der in der allgemeinen Bestimmung nicht einbegriffen ist, so ist es, insofern der Gesetzgeber diesen Fall außer acht lässt und, allgemein sprechend, gefehlt hat, richtig gehandelt, das Versäumte zu verbessern … Daher ist das Billige ein  Recht und besser als ein gewisses Recht, aber nicht besser als das Recht schlechthin, sondern als  jenes Recht, das mangelhaft ist, weil es keinen Unterschied kennt .“41

Wie  kann  die  Möglichkeit  der  Korrektur  mit  dem  Subsumtionsschluss  vereinbart  werden? Lässt sich das nur als ein Bruch des Gesetzes darstellen? Die Lösung dieses  Problems  kann  nur  darin  liegen,  die  Ausnahmemöglichkeit  in  den  Prämissen  des  Subsumtionsschlusses unterzubringen . Man muss eine bereits anerkannte Prämisse  annehmen, die es dem Rechtsanwender erlaubt, eine eigene Auslegung zu postulieren . Kelsen ging insoweit von einer Ermächtigungsnorm aus .42 Eine solche sekundäre Norm (im Sinne Harts) betrifft aber nicht den Inhalt der Entscheidung, sondern bestimmt nur die Befugnis zur Entscheidung . Sie gehört deshalb nicht in die  Prämissenklasse, die in der Auslegung einer generellen Norm zu beachten ist . Die  neue Prämisse muss auf den Inhalt der Entscheidung abzielen . Sie kann dabei aber  nur sehr unbestimmt sein, wie eine Leerstelle . 39  Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 2 . Auflage, Weinheim 1996, S . 106 f . Im Anschluss  hieran Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1986, S . 19–28; ders., Theorie der  juristischen Argumentation, in Brugger u . a ., Rechtsphilosophie im 21 . Jahrhundert, Frankfurt/ Main 2008, S . 233, 242 ff .   Im  Widerspruch  zur  syllogistischen  Rekonstruktion  der  Rechtsanwendung  sehen  sich  auch  neuere argumentationstheoretische Untersuchungen, etwa Christensen/Sokolowski, Die Krise der  Kommunikation, in: Kent, Die Sprache des Rechts, Band 2, S . 105, 127 ff ., Schlieffen, Wie Juristen  begründen, JZ 2011, S . 109, 115 . In der hier entwickelten Perspektive ist diese Entgegensetzung  unnötig . 40  Platon, Politikos, 294a–301a, Nomoi IX, 875d–876e . Hierzu und zur teleologischen Auslegung  bei Platon Michelakis, Platons Lehre von der Anwendung des Gesetzes und der Begriff der Billigkeit bei Aristoteles, München 1953, S . 5–27 . 41  Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kap . 14, 1137b (zitiert aus Hamburg 1985) . Hierzu  Stroux, Summum ius, summa iniuria, in ders., Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik, Potsdam 1949, S . 18 f ., Zahnd, The Application of Universal Laws to Particular Cases: A Defence of  Equity in Aristotelianism and Anglo-American Law, 59 Law & Contemporary Problems 1996,  S . 263–295, auch in Brooks/Murphy (Hrsg .), Aristotle and Modern Law, Aldershot/Burlington  2007, S . 57–89 . 42  Kelsen, Reine Rechtslehre, S . 249 f . Die Ermächtigung ist im Verbot der Justizverweigerung impliziert, das erfordert, gegebenenfalls auch ohne eindeutige Gesetzesprämisse zu entscheiden,  hierzu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S . 306 f ., 310 ff .

Gleichheit, Differenz und Generalisierung

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Diese Prämisse besteht einfach in der Voraussetzung, dass der Fall keine relevanten Besonderheiten aufweist . Sie erfordert als Untersatz des Subsumtionsschlusses  ein zumindest implizites Urteil darüber, ob der gegebene Fall relevante Differenzen  aufweist, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen . Dementsprechend steht  in der Subsumtion der Untersatz: „Jetzt A, die Besonderheiten des Falls sind irrelevant“ und der Schluss: „Also soll die Entscheidung B folgen .“ Im Fall einer Reduktion der generellen Norm lautet das Urteil: „Zwar ist A gegeben, es besteht aber eine  relevante  Differenz,  deshalb  soll  gleichwohl  nicht  B  folgen .“  –  und  im  Fall  einer  Analogie: „Jetzt liegt zwar A nicht vor, diese Differenz ist aber nicht relevant, es soll  trotzdem B entschieden werden .“ Man könnte auch einen Regelvorbehalt oder eine  ceteris paribus-  Klausel  in  die  generellen  Normen  hineinlesen,  einerseits:  „Wenn  A  gegeben ist, soll in der Regel B entschieden werden“ und andererseits: „In der Regel  soll  nur  wenn  A  gegeben  ist,  B  entschieden  werden .“  Der  somit  anzunehmende  Untersatz, dass relevante Differenzen (nicht) bestehen oder dass der Regelfall (nicht)  vorliegt, impliziert einen Satz von der Form: „Wenn C, besteht eine (bzw . keine)  relevante  Abweichung  vom  Regelfall“  Weil  „C“  ein  generalisierbarer  Sachverhalt  sein muss, behauptet man mit diesem Satz eine neue generelle Norm im Hinblick  auf die künftige Anwendung der Norm und muss diese Norm materiell begründen . Gegen diese Lösung könnten die Kritiker der formal-logischen Rekonstruktion  der Gesetzesanwendung einen Einwand von Brandom anführen: „Ich würde geltend machen, dass ceteris-paribus-Klauseln als expliziter Hinweis auf die Nichtmonotonizität einer Inferenz verstanden werden sollten und nicht als ein Geist aus der Maschine,  der  ihre  Nichtmonotonizität  auf  wundersame  Weise  …  entfernt .  Materiale  Richtigkeiten  des  praktischen Begründens sind, ebenso wie ihre theoretischen Genossen, nichtmonotonisch .“43

Zum Beweis dessen führt Brandom Beispiele enthymematischer Verkürzungen der  Begründung an, die einen Rückschluss von einer Handlungssituation auf eine Norm  betreffen, etwa: „Ich bin ein Bankangestellter auf dem Weg zur Arbeit, also soll ich  eine  Krawatte  tragen .“44  Wendet  man  hierauf  Brandoms  eigene  Kriterien  an,  ist  diese Folgerung jedoch monotonisch: Der Schluss vom gegebenen Sachverhalt auf  die Situationsnorm („von p auf q“) ist nur dann richtig, wenn der Schluss von beidem („p & q“) auf die generelle Norm („r“) richtig ist .45 Brandoms weitere Beweisführung  betrifft  hingegen  teleologische  Normenbeziehungen,  etwa  zwischen  dem  Verbot,  jemandem  zu  schaden  und  darauf  bezogenen  Handlungsverboten .  Diese  sind nicht Gegenstand der hiesigen Erörterung .46 Der  Widerspruch  von  Einzelfallkonsequenz  und  Defeasibility  löst  sich  somit  auf, wenn man das Gebot, Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, in die  Gesetzesprämisse hineinliest . Die Forderung, auf relevante Differenzen zu achten,  übergreift indes einzelne Normen und ist als allgemeines Gerechtigkeitsgebot for43  Brandom, Begründen und Begreifen, Frankfurt am Main 2001, S . 117 . Zur Unterscheidung formaler und materialer Inferenzen auf S . 113 f . Der Begriff der nichtmonotonen Logik bezeichnet  die  Änderung  in  der  Prämissenmenge .  Hierzu  etwa  Alchourrón/Gärdenfors/Makinson,  On  the  Logic of Theory Change, The Journal of Symbolic Logic 1985, S . 510–530 . 44  Brandom,  S . 112,  119 f .  Um  das  gegebene  Beispiel  nicht  mit  dem  Problem  der  Progonose  zu  belasten, ob man sich wirklich wo verhalten wird, („werd´ ich“), ist in der Paraphrase deutlicher  normativ formuliert . 45  Brandom, S . 115 . 46  Siehe oben, bei Fn . 6 .

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Stephan Ast

mulierbar,  relevant  Gleiches  gleich  zu  behandeln .47  Dieses  Gebot  kann  in  unterschiedlicher  Weise  akzentuiert  werden .  Es  kann  einerseits  so  verstanden  werden,  dass nur relevant Gleiches gleich (und deshalb relevant Ungleiches ungleich) zu behandeln ist . Dann zielt es auf Differenzierungen oder eine Reduktion der Norm .  Darüber hinaus (aus der Sicht der Rechtsanwendung) geht die Forderung, alles relevant Gleiche gleich zu behandeln . Diese Forderung zielt auf eine Analogie zu gegebenen Normen . Das Gleiche und Ungleiche wird dabei nicht nur durch vorgegebene  Normen  konstituiert,  sondern  muss  in  der  Rechtsanwendung  erst  entdeckt  werden .  Das  hierfür  erforderliche  Relevanzurteil  muss  der  Normanwender  selbst  begründen und als generalisierbar behaupten . Sein Urteil ist nicht beliebig, sondern  ist an die anerkannten Auslegungsmethoden gebunden . Grenzen werden ihm gesetzt, soweit Differenzierungsverbote oder ein Analogieverbot bestehen . Das materiell-inhaltliche Gebot der Gerechtigkeit ist selbst eine Rechtsnorm, die  der Rechtsanwender zu beachten hat . Es besteht somit, übereinstimmend mit Aristoteles, kein Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Recht  im Sinn des Gesetzesrechts . Die Anwendung des Gesetzes ist immer Anwendung  des Rechts, dessen Teil das Gesetz ist, dessen Teil aber auch das Gebot ist, einen zu  beurteilenden Fall im Sinn der Gerechtigkeit zu entscheiden . Bereits positivrechtlich  stehen nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Rechtsanwendung unter dem  Gleichheitssatz  des  Art . 3  GG .  Das  Bundesverfassungsgericht  fasst  Art . 3  GG  als  Gebot materieller Gerechtigkeit auf und misst die gesetzlichen Differenzierungen an  dem Zweck, der mit ihnen verfolgt werden kann . Um nicht in jeder Rechtsfrage als  oberster Richter und Gesetzgeber fungieren zu müssen, kommt es ihm freilich vor  allem auf die Dimension des Willkür- und des Differenzierungsverbots an, relevant  Gleiches ungleich zu behandeln .48 Für die Rechtsanwendung wichtig ist hingegen  vor  allem  das  Differenzierungsgebot,  Ungleiches  ungleich  zu  behandeln .  Dieses  treibt  die  Ausdifferenzierung  des  Rechts  voran .  Wie  Luhmann  bemerkt  hat,  wird  man sich bei der Anwendung dieses Gebots der Gerechtigkeit eher am Eindruck der  Ungerechtigkeit bestimmter Ergebnisse orientieren als an einer „Anwendung“ des  Gerechtigkeitsgebots .49 Dieses Gebot als Prämisse des Subsumtionsschlusses anzunehmen, ermöglicht es aber, die Gesetzesanwendung als Kombination von Auslegung und Subsumtion mittels der logischen Schlussfiguren darzustellen .

47  Dass damit gerade keine inhaltlichen Kriterien vorgegeben werden, ist oft bemerkt worden, etwa  Kelsen, Gerechtigkeit, S . 25 f . 48  Siehe etwa Alexy, Th . d . Grundrechte, S . 359–393 . 49  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S . 221 .

tHoMas Grosse-Wilde GleIchheIt  und dIfferenz  In  der strafzumessunG Die Strafzumessung mit dem schillernden Begriff der Schuld als Grundlage für die Zumessung der  Strafe scheint sich dem ehernen Grundsatz zu entziehen, dass Rechtsanwendung das Entscheiden  nach allgemeinen Regeln ist . Mag man die Schuld auch als inkommensurable Größe verstehen, so ist  es  wenigstens  ihr  wesentlicher  Bezugspunkt,  das  Unrecht,  sicherlich  nicht .  Die  deutschen  Strafgerichte weigern sich indes beharrlich, wenigstens gewisse Vorrangregeln aufzustellen, mit deren Hilfe  das Unrecht einer Tat evaluiert werden kann . Ingeborg Puppe hat bereits 1979 ein weithin unbeachtetes Strafzumessungsnormen-Modell entwickelt, mit dessen Hilfe das Ausmaß normativer Unsicherheit in der Strafzumessung reduziert werden kann . Sie verpflichtet den Richter zur Aufstellung von  Prima facie-Regeln, die zwar immer eine Ausnahmeklausel für ungewöhnliche Fälle enthalten, die  ansonsten  aber  über  die  Entscheidung  des  Einzelfalls  hinaus  Allgemeingültigkeit  beanspruchen .  Diese Vorrangregeln bewirken zwar keine absolute Bindung, aber implizieren ein Rechtfertigungsgebot für denselben Spruchkörper, will er in einem künftigen Fall die Regel verwerfen und eine andere  aufstellen . Eine gleichmäßigere Strafzumessungspraxis könnte sich dann einstellen, wenn diese Strafzumessungsnormen revisionsrechtlich als Rechtsfragen behandelt würden . Damit minimiert dieses  Modell den allerdings irreduziblen Dezisionismus einer numerischen Strafmaßentscheidung im Einzelfall .

1  eInleItunG Auf  den  ersten  Blick  vermag  eine  Spiegelung  des  Themenkomplexes  „Gleichheit  und  Differenz“  im  Strafzumessungsrecht  aus  rechtsphilosophischer  Perspektive  nicht allzu ertragreich wirken: Der Strafrichter misst in praktischer Tätigkeit unter  „Würdigung aller Umstände des Einzelfalles mit Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit“ eine gerechte Strafe zu . Diese entfaltet keine Bindungswirkung für andere  Fälle, denn es geht um die individuelle Schuld1 des Angeklagten, und insofern verböte es sogar Art . 1 GG, das Gleichbehandlungsgebot hier in Ansatz zu bringen .  Dies gilt selbst für Mittäter oder andere Beteiligte, § 29 StGB . Noch 2006 liest man  in einem Urteil des 1 . Senats zur Revision eines Mittäters: „In anderen Urteilen verhängte Strafen führen zu keiner, wie auch immer beschaffenen, rechtlichen Bindung des Gerichts bei der Strafzumessung.“2 Und die – mittlerweile im Schrifttum hoch umstrittene  – Unanwendbarkeit des Art . 3 GG auf die Rechtsprechung verschiedener Gerichte3  hat das Bundesverfassungsgericht erstmals im Hinblick auf die „Verschiedenartigkeit  der Strafpraxis verschiedener Gerichte“ festgestellt .4 BVerfG und BGH sind der Auffassung, Art . 3 GG gebe lediglich einen Anspruch auf Anwendung des gesetzlichen  1  2  3  4 

Gegebenenfalls noch unter Einbeziehung spezial- und generalpräventiver Aspekte i . S . d . Spielraumtheorie . BGH StraFo 2006, 500 = StV 2008, 295 mit Anm . Wolfgang Köberer; so auch jüngst BGH NJW  2011, 2597; vgl . aber auch BGH StV 2010, 677; siehe weiterhin zur vergleichenden Strafzumessung bei mehreren Tatbeteiligten Bruno Terhorst JR 1988, 272 ff . Vgl . dazu m . w . N . Rainer Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen  Gleichheitssatz (Art . 3 I GG), Berlin 1993 . Michael Sachs, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd . IV/2, München  2011, S . 1503 mit Verweis auf BVerfGE 1, 332 (345), wobei dort mittelbar eine (im Bundesgebiet zu vollstreckenden) Entscheidung eines Gerichts der SBZ als gleichheitswidrig angegriffen  wurde .

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Thomas Grosse-Wilde

Strafrahmens und Schutz vor willkürlicher Bestrafung, die aber grundsätzlich nicht durch einen Verweis auf die Spruchpraxis anderer oder desselben Gerichts bewiesen  werden könne .5 Aber bei näherem Hinsehen stellt sich doch ein gewisses Unbehagen ein, sollte  dies die letzte Erkenntnis in Sachen Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung  sein:  Koch/Rüßmann  lehren  uns  in  ihrem  wunderbaren  Buch  „Juristische  Begründungslehre“: „Der Jurist darf einen Fall nicht … als einzigartiges Ereignis behandeln.“6 Soll  gerade das Strafzumessungsrecht die Ausnahme von dieser Regel sein? Karl Engisch  gelangte nach einiger Reflexion zu dem Ergebnis: „Aber wir wissen, daß eine grenzenlose Individualisierung bei den Rechtsfolgen im allgemeinen doch nicht in Frage kommt .“7 2  unrecht  und schuld  als  InkommensuraBle Grössen? Der Begriff der Schuld, wie er in § 46 Abs . 1 StGB auftaucht, ist insofern – ich will  nicht  sagen  inadäquat  –  aber  verführerisch:  Er  scheint  der  Objektsprache  anzugehören,8 ist insofern isoliert steigerbar, so dass man assoziieren kann, es gehe  bei der Strafzumessung allein um den „Kampf des guten Prinzips, mit dem Bösen,  um die Herrschaft über den Menschen“, um den Titel des Zweiten Stücks von Kants Religionsschrift zu zitieren;9 ein solcher Kampf ist sicherlich inkommensurabel und  höchstpersönlich . Indes, der Versuch einer Evaluierung innerer Kämpfe eines Menschen und Überwindung von Hemmschwellen, um ein Verbrechen zu begehen, ist  für ein Strafverfahren allein schon wegen des umfassenden Schweigerechts des Beschuldigten aussichtslos und verwischt die Unterscheidung von Recht und Moral . Es  erinnert an Kadi-Justiz, die Pawlowski beschreibt als den Versuch des Kadi, „das Herz der Beteiligten anzusehen“ .10

5 

Siehe die frühen Entscheidungen BVerfGE 1, 332 (345 f .); BGHSt 1, 183 (184) . Aber auch in der  neueren Rechtsprechung lässt sich keine grundsätzliche Wende ausmachen . – Die Problematik  des Gleichbehandlungsgebots und der Normvalenz von Art . 3 I GG in der Strafzumessung ist  schon verschiedentlich behandelt worden, etwa von Walter Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, Tübingen 1960, S . 10 ff ., S . 61 ff .; Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessungsrecht, 2 . Aufl ., Köln  1974,  S . 503 ff .; Winfried Hassemer,  in:  C. Pfeiffer/M. Oswald,  Strafzumessung,  Stuttgart  1989,  S . 297 ff .; Gunther Arzt, in: W. Küper/J. Welp, Stree/Wessels-FS, Heidelberg 1993, S . 49 (55 ff .);  Lothar Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, Berlin 1997, S . 147 ff .; Matthias Maurer, Komparative Strafzumessung, Berlin 2005, S . 199 ff ., passim; neuerdings Rudolf Mellinghoff, in: U. Neumann/F. Herzog, Hassemer-FS, Heidelberg 2010,  S . 503 (515 ff .); Tatjana Hörnle, in: E. Schumann, Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat,  Berlin 2010, S . 105 (120 ff .) . Aber einer adäquaten Erfassung des Problems mangelt es meiner  Auffassung nach an der bisher fehlenden normentheoretischen Rekonstruktion der Strafzumessungsentscheidung,  siehe  dazu  skizzenhaft  unten  2 .  und  3 .  sowie  bereits  Grosse-Wilde  HRRS  2009, 363 . 6  Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S . 234 . 7  Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2 . Aufl .  Heidelberg 1968, S . 218 . 8  Vgl . Ingeborg Puppe, in: U. Kindhäuser/U. Neumann/H.-U. Paeffgen, Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 3 . Aufl, Baden-Baden 2010, vor § 13 Rn .7 . 9  Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) . 10  Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3 . Aufl ., Heidelberg 1999, Rn . 45 .

Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung

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Ersetzt man den Begriff der „Schuld“ durch den bis vor wenigen Jahrzehnten  ebenso  gebräuchlichen  der  „Zurechenbarkeit“  (so  sprach  die  Vorgängernorm  des  § 20,  § 51  a . F .,  noch  von  „Zurechnungsfähigkeit“)  oder  auch  „Vorwerfbarkeit“11/ Verantwortlichkeit,12  die  der  Metasprache  angehören  und  nicht  isoliert  steigerbar  sind (mehr als „zurechenbar“ bzw . „vorwerfbar“ gibt es nicht13), so klärt sich eher,  worum es in der Strafzumessung geht, denn diese Begriffe verweisen auf das, was  zugerechnet bzw . was einer Person vorgeworfen wird: das Unrecht einer Tat, so gebietet es jedenfalls das Tatschuldprinzip .14 So verstanden ist das verschuldete Unrecht die  Grundlage der Zumessung der Strafe i . S . d . § 46 Abs . 1 Satz 1 StGB15 und Schuld  wird  streng  als  Relationsbegriff  verstanden  und  nicht  etwa  selbstreferentiell  zum  Vorwurf gemacht („Jemand wird Schuld vorgeworfen“/„Jemand hat Schuld an seiner  Schuld“) . Demgegenüber spielt die Imponderabilie „Täterpersönlichkeit“, zu deren „Vermessung“  generell-abstrakte  Normsätze  sicherlich  inadäquat  erscheinen,  auf  dem  Boden  der  herrschenden  Meinung  und  Rechtsprechung  (Stichwort:  Spielraum-/ Schuldrahmentheorie) eine geringere Rolle: Der in Betracht kommende „Schuldrahmen“ wird von der Tat-Schuld bestimmt, nicht von einer wie auch immer gearteten  Charakter-/Lebensführungsschuld . Spezialpräventive Aspekte spielen nur innerhalb  dieses Rahmens eine Rolle . Wenn aber Tatschuld wesentlich Tatunrecht ist, so lässt  sich fragen, ob dieses nicht wenigstens vergleichbar ist . Dagegen könnte sprechen, ebenso gut wie man die Schuld einer Tat als höchstpersönliche und inkommensurable des Individuums X verstehen könne, so könne  man das Unrecht einer Tat als das höchstpersönlich erlittene des jeweiligen Opfers  Y verstehen . Aber eine solche Perspektive, die zudem nur auf Individualdelikte anwendbar ist, konfundiert das individuelle Leid eines Opfers mit dem Unrecht einer  Tat, das einen Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstellt und damit eine gesellschaftliche Dimension aufweist .16 Dieses Unrecht steht sicherlich mehr als in der Strafbe-

11  So etwa Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11 . Aufl ., Berlin 1969, S . 138 f .; Kristian Kühl, in:  K. Lackner/derselbe, Strafgesetzbuch, 27 . Aufl ., München 2011, vor § 13 Rn . 23 . 12  Vgl . Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd . 1, 4 . Aufl ., München 2006, § 19 Rn . 1 ff . 13  Siehe Puppe (Fn . 8), vor § 13 Rn . 16 a .E . 14  Kritisch (freilich im Kontext der Strafbegründungsschuld) aber Rainer Zaczyk, Schuld als Rechtsbegriff,  ARSP  Beiheft  Nr .  74  (2000),  103  (106):  „der  Schuldvorwurf  wird  so  zu  einer  bloßen  Wiederholung des Unrechts, wie es in dem Ausdruck ‚Vorwerfbarkeit‘ auch anklingt .“ – Aber ein  streng verstandenes Tatschuldprinzip hat gerade zum Credo, dass es eben das Unrecht ist und  nicht ein ganz anderer Sachverhalt, der bei gegebener Schuld zum Vorwurf gemacht wird . 15  So grundsätzlich auch Eckard Horn, in: H.-J. Rudolphi/J. Wolter, Systematischer Kommentar zum  Strafgesetzbuch,  7 . Aufl .,  München  2001,  § 46  Rn .  41 f .,  freilich  mit  einem  bestimmten,  hier  nicht geteilten Unrechtsbegriff; vgl . auch Hörnle JZ 1999, 1080 (1087 f .) . 16  Vgl .  Georg Wilhelm Friedrich Hegel,  Grundlinien  der  Philosophie  des  Rechts  § 218:  „Indem  Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit  haben,  so  ist  das  Verbrechen  nicht  mehr  nur  Verletzung  eines  subjektiv-Unendlichen,  sondern  der  allgemeinen  Sache,  die  eine  in  sich  feste  und  starke  Existenz  hat .“  Sowie  Anm .  § 218: „Daß in Einem Mitgliede der Gesellschaft die anderen Alle verletzt sind, verändert die  Natur des Verbrechens nicht nach seinem Begriffe, sondern nach der Seite der äußern Existenz,  der Verletzung, die nun die Vorstellung und das Bewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft, nicht  nur das Dasein des unmittelbar Verletzten trifft .“ 

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Thomas Grosse-Wilde

gründung einer Individualisierung offen17 (weil die Strafbegründungsnorm sich im  Kontext der Strafzumessung verändert, s . u .), die aber nicht grenzenlos sein kann . Schon die Eigenlogik des StGB deutet auf eine Vergleichbarkeit von Unrecht  hin, denn die Abwägung des § 34 StGB lässt sich in gewissen Fällen so umformulieren, dass einem Strafrichter geboten ist, das („Prima-facie“-)Unrecht der einen (dem  Erhaltungsgut dienenden) Handlung A abzuwägen gegen dasjenige einer Handlung  B, die voraussichtlich geschehen würde, würde A unterlassen .18 Andererseits könnte man hiergegen wiederum einwenden, dass es in der Strafzumessungsdogmatik  nicht  um  die  grobschlächtige  Unterscheidung  verschiedener  Deliktsarten geht, für deren Gewichtung zueinander die unterschiedlichen gesetzlichen Strafrahmen ein Indiz bilden, sondern um den Vergleich von Tat-Individuen,  die denselben Tatbestand erfüllen, also um einen nuancierteren Vergleich, als ihn § 34  StGB regelmäßig verlangt: Etwa – enthält das Strafmaß für eine Sachbeschädigung,  begangen zur Zeit X an Ort Y durch Z, irgendeine normative Bindung für die Bestimmung des Strafmaßes einer anderen Sachbeschädigung? Dafür spricht, dass das  Proprium von Rechtsanwendung das Entscheiden nach Regeln ist; um mit Günther  Jakobs zu sprechen: „Eine noch so sehr um Einzelfallgerechtigkeit bemühte Rechtsprechung kommt nicht darum  herum, die Maximen zu nennen, nach denen der Einzelfall entschieden werden soll . Geschieht  dies, so erfolgt nicht etwa die Gewichtung des Einzelfalls pauschal, sondern die Gewichtungsgrundsätze werden offen und generell, wie es sich rechtsstaatlich gehört . Allein dem Einzelfall  kann man die Entscheidungskriterien nur dann ablauschen, wenn man diesen zuvor vom bloßen Fall zur konkreten Ordnung stilisiert .“19

17  Im Kontext der Strafbegründung und auch Strafrahmenänderung kritisch sub specie § 226 Paeffgen/Grosse-Wilde, Über die Individualisierung tatbestandsmäßiger Erfolge – „Persönlicher Schadenseinschlag“ bei den Körperverletzungsdelikten, HRRS 2007, 363 . 18  Etwa: C sperrt den schlafenden Haustyrannen (Stichwort: Dauergefahr) ein (§ 239 StGB), um  eine drohende gefährliche oder schwere Körperverletzung der Ehefrau zu verhindern . Das „Prima-facie“-Unrecht der Freiheitsberaubung wiegt wesentlich weniger als dasjenige der Körperverletzung, deshalb ist erstere erlaubt . – Die Parallele zu § 34 StGB deutet auch schon Axel Montenbruck, Abwägung und Umwertung, Berlin 1989, S . 74, an . Man könnte dagegen einwenden, dass  § 34 StGB für die Vergleichbarkeit von Unrecht kein gutes Beispiel sei, weil er von Gefahren und  Interessen spreche und doch erst am Ende der Interessen-Abwägungsprüfung feststehe, welche  Handlung nun Recht und welche Unrecht ist . Aber dieses Argument ist zu positivistisch: Die  philosophische Diskussion um die Legitimation des aus dem „übergesetzlichen“ Notstand entstandenen § 34 StGB zeigt, dass gerade Grundproblem dieses Instituts ist, dass Unrecht gegen  Unrecht abgewogen wird, siehe etwa Wilfried Küper JZ 2005, 105 ff .; bereits bei Hegel heißt es  (Vorlesungsnachschrift  Hotho  1822/23,  abgedruckt  in:  K.-H. Ilting,  Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831 . Band III, Stuttgart 1974, S . 403): „Es  steht hier ein zwiefaches Unrecht gegenüber, und die Frage ist, welches als das größere anzusehn . Das geringere ist gegen das höhere ein Unrecht .“  19  Jakobs JZ 1986, 1063 (1064); vgl . auch Hans-Ullrich Paeffgen, in: K. Geiß/K. Nehm/et al., BGH-FS  IV,  Köln  2000,  S . 695,  703  in  Fn . 43:  „Rechtsanwendung  heißt:  Entscheiden  nach  Grundsätzen“ . Siehe aus der englischsprachigen Rechtsphilosophie etwa John Gardner, Current Legal Problems 53 (2000), 149 (165) mit Verweis auf H.L.A. Hart: „Probably the most one can say of the  form of laws, as such, is that all of them take the form of rules . (…) It is in the nature of all laws  to be rules – in other words, to hold themselves out as settling what is to be done on more than  one occasion – and it is therefore in the nature of legal systems, as Hart memorably explained,  to be systems of rules .“

Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung

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Dazu gibt es im modernen Recht eigentlich keine Alternative . Zugegebenermaßen  gibt es auch in der zeitgenössischen Ethik vereinzelt Positionen, die als sog . „Situationsethik“ meinen, jedes moralische Urteil beruhe auf Einzelfallintuition .20 Aber  eine  solche  Entscheidungspraxis  entspricht  nicht  unserem  Bild  des  Rechtsstaates  i . S . v . Art . 20 Abs . 3 GG, in dem jede juridische Entscheidung unter dem Universalierbarkeitspostulat steht,21 mag auch die Strafzumessung der klassische Fall rechtlichen Entscheidens unter „normativer Unsicherheit“ sein .22 Das Entscheiden nach  allgemeinen  Regeln  enthält  bereits  einen  „Keim  von  Gerechtigkeit“,  um  eine  berühmte Formulierung H.L.A. Harts zu zitieren .23 Man sieht also, es geht gar nicht darum, eine Tat in ihrer Totalität mit einer anderen  zu  vergleichen,24  sondern  Regeln,  nach  denen  man  das  Unrecht  und  die  Schuld einer Tat bestimmt hat, miteinander zu vergleichen .25 Aber welche Regeln  sind das bei der Strafzumessung? 3  PuPPes strafzumessunGsnormen-modell  und reGelverGleIch Puppe hat dazu in ihrer Habilitation 1979 ein interessantes Modell entwickelt, das  leider bis heute im Schrifttum praktisch ignoriert worden ist:26  20  Aber vielleicht nicht zufälligerweise entstammen diese meist der evangelischen Theologie, siehe  überblicksweise Dieter Birnbacher,  Analytische  Einführung  in  die  Ethik,  Berlin  2003,  S . 107 f .  Neuerdings en vogue, aber auch kontrovers diskutiert werden verschiedene Spielarten eines ethischen Partikularismus, der wenigstens in seiner extremen Form nicht nur universelle Prinzipien,  sondern jegliche Verallgemeinerung für unerheblich für das moralische Urteilen hält . Siehe etwa  zum amerikanischen Moralphilosophen Jonathan Dancy in diesem Sammelband noch ausführlich Norbert Paulo, Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz . 21  Siehe dazu Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a . M . 1983, S . 92 f .;  274; Koch/Rüßmann (Fn . 6), S . 113 f . Vgl . auch Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1994, S . 139 f . 22  Matthias Klatt/Johannes Schmidt, Spielräume im Öffentlichen Recht, Tübingen 2010, S . 48 . 23  Hart, The Concept of Law, 2 . Aufl ., Oxford 1994, S . 206; siehe zu einer Interpretation dieser  tiefgründige Formulierung Leslie Green, The Germ of Justice, Legal Research Series, Paper No  60/2010, abrufbar unter:   http://papers .ssrn .com/sol3/papers .cfm?abstract_id=1703008 24  Dies macht im übrigen auch nicht das anglo-amerikanische Präjudizienrecht, siehe dazu etwa  Aleksander Peczenik, in: N. MacCormick/R. S. Summers, Interpreting Precedents, Aldershot 1997,  S . 474: „An important point in this context is that the force and rationale of a precedent is the  force of analogy between the cases . (…) One can logically reconstruct the principle of analogy  between cases as demanding the creation of a precedent-based norm (a rule or a principle) . (…)  For, surely, one cannot make sense of the idea that (a) two cases (the precedent case and the  subsequent case) are analogous to each other, although (b) no norm can be discovered, or at  least created, which tells us what makes these cases analogous . Analogy between cases requires a  link between them, and this link cannot be anything other than a norm under which the cases  can be subsumed .“ 25  In diese Richtung auch Larry Alexander/Kimberly Kessler Ferzan, Crime and Culpability, Cambridge 2009, S . 10, Schuld („desert“) sei selbst inkommensurabel, aber die Regeln, die die Schuld  mitdeterminieren, seien kommensurabel . 26  Ingeborg Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen, Berlin 1979 . – Selbst Arbeiten, die die  neuere verwaltungsrechtliche Literatur mit den Parallelarbeiten von Koch (siehe dazu zugleich)  verwerten, übersehen leider Puppes bahnbrechende Strafzumessungsrekonstruktion, etwa Erick Gatgens, Ermessen und Willkür im Straf- und Strafverfahrensrecht, Frankfurt a . M . 2007 .

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Sie unterscheidet drei Phasen der Anwendung eines Strafgesetzes auf einen Einzelfall . Erstens die Feststellung der Anwendbarkeit eines Strafgesetzes auf einen Einzelfall  (die  Frage  der  Strafbarkeit),  zweitens  die  Konkretisierung  der  Norm  dieses  Strafgesetzes im Hinblick auf den Unrechts- und Schuldgehalt der betreffenden Tat  als Verwirklichung des Strafgesetzes und drittens die Anwendung der so konkretisierten Norm auf den in Rede stehenden Einzelfall .27 Während Schritt 1 und Schritt 3  in der Sache vertraut wirken (sie sind nichts als eine andere Form der Darstellung  von Subsumtionsvorgängen), liegt das Revolutionäre in der zweiten Phase, in der  der Tatbestand nicht als eine Norm, die Einzelfälle regelt, sondern als eine Normbzw. Satzfunktion erscheint, die Leerstellen für weitere Strafzumessungstatsachen enthält . „Die zweite Phase, die die richterliche Schuldbestimmung und die Strafzumessung umfasst, soweit sie an die Tatschuld und damit an das einzelne Strafgesetz gebunden ist, hat die Aufstellung  einer im Vergleich zum Strafgesetz inhaltsreicheren und ihrer Rechtsfolge hinreichend bestimmten Norm zum Ziele . Hier geht es darum, weitere Bedingungen der Rechtsfolge in den Kontext  der Strafnorm selbst einzuführen . (…) Das Ergebnis dieser Phase ist eine abstrakte Norm, die  ihrer Form nach Allgemeingültigkeit beansprucht, obwohl sie auf den Einzelfall hin konzipiert  ist . (…) Auf der Tatbestandsseite enthält diese Norm Beschreibungen von Klassen von Tatbestandsverwirklichungen, die sich in Unrecht und Schuld vollständig gleichen .“28

Dieser normentheoretische Entwurf der richterlichen Strafzumessungsentscheidung  hat nun frappierende Ähnlichkeit mit einem Vorschlag zur Normstruktur des Verwaltungsermessens von H.-J. Koch, der freilich anders als Puppes Ideen mehr Beachtung in der verwaltungsrechtlichen Literatur gefunden hat: „Für Ermessensnormen ist charakteristisch, daß sie zur Ergänzung des gesetzlichen Tatbestandes  ermächtigen . In den Tatbestand, der die Bedingungen enthält, bei deren Erfüllung die Rechtsfolge gilt, gehören auch diejenigen Bedingungen, die eine Behörde in Wahrnehmung einer Ermessensermächtigung und in Bindung an den Zweck der Ermessensermächtigung selbst entwickelt . Die Berechtigung zur Wahl einer Rechtsfolge (…) ist lediglich eine Funktion der Ermächtigung zur Tatbestandsergänzung .“29

Puppe  wie  Koch  bevorzugen  es  also,  Normen  mit  nicht  hinreichend  bestimmter  Rechtsfolge  als  Einräumung  einer  Tatbestandsergänzungsbefugnis  verbunden  mit  einer bestimmten Rechtsfolge zu interpretieren . Dabei unterscheiden sich Verwaltungsermessen und richterliche Strafzumessung u . a . darin, dass die Tatbestandsergänzungsaufgabe im Verwaltungsrecht an die jeweilige(n) allgemeine(n) Normzwecke gebunden ist (die häufig nicht näher gesetzlich fixiert sind), während § 46 Abs . 2  StGB bereits die entscheidenden Aspekte (wenn auch nicht erschöpfend) dem Strafrichter vorgibt . Allerdings halte ich es für illusorisch, eine Strafzumessungsnorm formulieren zu  wollen, die die hinreichende Bedingung enthält, um auf der Rechtsfolgenseite eine  numerische  Strafgröße  in  Jahren  und  Monaten  oder  Tagessätzen  zu  erhalten;  die  Endstrafe soll ja auch, wenigstens nach dem Modell der Spielraumtheorie, erst nach  Einbeziehung spezial- und gegebenenfalls generalpräventiver Aspekte ermittelt wer-

27  Puppe (Fn . 26), S . 68 ff . 28  Puppe (Fn . 26) S . 61 ff . 29  So prägnant Koch (Fn . 6), S . 88 f .; in der Sache genauso schon in derselbe, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, Frankfurt a . M . 1979, S . 126 ff .

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den .  Aber  eine  Strafzumessungsnorm  könnte  beispielsweise  einen  Tatschuldrahmen, eine Schuldober- und/oder Untergrenze als Rechtsfolge enthalten . Nimmt man freilich die Strafzumessungsentscheidung noch etwas genauer unter die Lupe, so hat man die vom Richter zu bildenden Strafzumessungsnorm noch  nicht adäquat erfasst, wenn man sie als ein bloßes „Zusammenlesen“ des BT-Tatbestandes mit den Merkmalen des § 46 Abs . 2 StGB versteht, etwa: „Wer eine andere  Person  aus verwerflicher Gesinnung  körperlich  misshandelt  oder  an  der  Gesundheit  schädigt, wird mit einer Mindeststrafe von X bestraft“;30 denn bei den Begriffen des  § 46 Abs . 2 handelt es sich ausnahmslos um unbestimmte Rechtsbegriffe, die jeweils  weiterer Konkretisierung bedürfen, um „subsumtionsfähig“ zu werden, etwa derart:  „Wer eine andere Person aus Rassenhass körperlich misshandelt, …“ . Nimmt man weiterhin normtheoretisch an, dass die in der zweiten Phase gebildete, konkretisierte Norm eine unbestimmte Anzahl von Variablen/Leerstellen enthält oder – um es anschaulicher auszudrücken – immer eine „Angstklausel“/Ceteris paribus-Bedingung  vorsieht,  so  verbleibt  dem  Strafrichter  hinreichend  Spielraum,  allen Besonderheiten des Einzelfalles voll Rechnung zu tragen .31 In der Sache sind  solche Prima facie-Regeln im Strafzumessungsrecht auch schon längst bekannt, allerdings nur bei der Strafrahmenänderung, nämlich in Gestalt der benannten RegelBeispiele . Jede Prima facie-Regel hat aber einen erheblich höheren Informationsgehalt und eine erheblich größere Steuerungswirkung als der diffuse Verweis auf die  umfassende Würdigung aller Umstände, denn will der Richter von der Ausnahmeklausel  Gebrauch  machen  und  damit  von  der  Prima facie-Regel  abweichen  (etwa:  trotz Erfüllung eines benannten Regelbeispiels nicht zu einer Strafrahmenänderung  zu gelangen), bürdet man ihm eine entsprechende Argumentationslast auf .32 30  Dies wäre ein Zusammenlesen des Merkmals der Gesinnung aus § 46 Abs . 2 und § 223 Abs . 1  StGB – ob es sich dabei um eine sachgerechte Strafzumessungserwägung handelt, sei hier dahingestellt, der Wortlaut des § 46 Abs . 2 ließe sie jedenfalls zu . 31  Folglich  erübrigt  sich  auch  ein  beliebter  Einwand,  ein  solches  Strafzumessungsmodell  würde  dem  „Taxenwesen“  wieder  Vorschub  leisten .  Eine  regelgeleitete  Strafzumessung  leistet  der  Normvalenz von Art . 20 Abs . 3 und Art . 3 I GG Vorschub und zwingt vor allem den Richter,  eine Regel, also seine universalisierbare Entscheidungsmaxime oder eine Ausnahme davon zu  formulieren, nach der er Tatunrecht bzw . Tatschuld evaluiert .  32  Insofern sind diese Strafzumessungsnormen keine strikten Konditionalprogramme mit einem  Ja/Nein-Schema, sondern bloße Argumentationslastregeln . – Dazu ein Beispiel: Bis heute ist  es richterrechtlich ungeklärt, ob die verschiedenen Vorsatzformen einen unterschiedlichen Unrechts- und Schuldgehalt aufweisen, zur absolut diffusen Rechtsprechung (die tlw . auch noch  mit einem Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot § 46 Abs . 3 hantiert, so etwa BGH NStZ  2008, 624) siehe die Nw . bei Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, Berlin 1999, S . 260 f .;  vgl .  auch  das  niederschmetternde  Resümee  von  Franke,  in:  W. Joecks/K. Miebach,  Münchener  Kommentar zum Strafgesetzbuch, München 2003, § 46 Rn . 31: „Die Divergenzen und Nuancen  bestehen  fort .  Der  Tatrichter  bleibt  darauf  verwiesen,  sich  bei  der  Strafzumessung  nicht  von  formaler,  schematischer  Betrachtungsweise  leiten  zu  lassen,  sondern  die  Umstände  des  Einzelfalles zu würdigen .“ Welches sollen aber die Kriterien sein, wenn die Rechtsprechung nicht  willens und fähig ist, diese anzugeben? Es muss für diese Rechtsfrage, wenn nicht reine Kadijustiz  herrschen soll, eine abstrakte Antwort der Form geben: Entweder die Vorsatzform ist belanglos  (so etwa mit der Lehre von der Vorsatzgefahr Puppe [Fn . 8], § 15 Rn . 114, vgl . aber auch Rn . 80,  106; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2 . Aufl ., Berlin 1991, 8/8), oder sie ist es nicht (so bspw .  für dolus directus 1. sowie 2. Grades einerseits, dolus eventualis andererseits Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung S . 263), sie ist es im Regelfall, oder sie ist es im Regelfall nicht; diese vier  abstrakten Antworten können allgemeine Regeln für alle Delikte darstellen oder können für jede 

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In der Strafzumessung verändern die Normen also ihr Wesen . Sie werden aber  nicht einfach zur Sanktionsnorm . Sie mutieren zu einer Art Satzfunktion, zu einer  offenen Maßstabsnorm, Tatbestandsmerkmale werden zu komparativen Begriffen,  neue Tatbestandsmerkmal dürfen und müssen eingefügt werden; die jeweilige Norm  des Besonderen Teil sowie § 46 StGB ermächtigen den Richter dazu . Dazu nochmals  Puppe: „Es geht um die Präzisierung des Norminhalts selbst, der bei der klassischen Darstellung der  Subsumtion in Form des modus ponens als Obersatz des Schlusses erscheint . Diesen Teil der  Normbestimmung hat der Gesetzgeber für die Strafgesetze selbst dadurch (an) den Richter delegiert, daß er in seinen Strafgesetzen Rechtsfolgen angeordnet hat, die er selbst in §§ 38 ff . für  nicht  vollständig  bestimmt  erklärt .  Das  Ergebnis  dieser  Konkretisierung  ist  nicht  wie  das  der  Subsumtion eine konkrete, nur für den Einzelfall gültige Norm, sondern ein abstrakter Rechtssatz, der ebenso Allgemeingültigkeit beansprucht wie das Strafgesetz selbst .“33

In einem dritten Schritt treten spezialpräventive Aspekte (siehe § 46 I 2 StGB),34 die  meiner  Ansicht  nach  größtenteils  nicht  deduktiv-normentheoretisch  abbildbar  sind .35 Am Ende steht dann ein Urteil mit dem genauen Strafmaß, das aber – entgegen Kelsen, der ein Urteil als „individuelle Norm“ bezeichnet36 – keine individuelle  Norm darstellt (die Urteilsgründe sind keine individuelle Norm, sie enthalten individualisierte Normen),37 dessen Urteilstenor man jedoch als Befehl, und wenn man  jeden Sollenssatz als Norm bezeichnen will, als Norm an den Rechtsstab verstehen  kann, die Sanktion zu vollstrecken . Die konkrete Endstrafe ist es demnach regelmäßig nicht, die mit einer anderen  verglichen werden könnte,38 sondern gewisse, inferentiell aus den Strafzumessungserwägungen des Gerichts gezogene prima-facie Regeln39, die Unrecht und Schuld einer Tat determinieren . 4  reGelGeleItete strafzumessunG  und art. 3 I GG Damit erweist sich die Bestimmung der Tatschuld als zugleich regelerzeugend wie regelgeleitet. Denn richtigerweise gelten diese Regeln, die ein Spruchkörper aufstellt, für 

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einzelne Deliktsart, also BT-abhängig formuliert werden – aber sie müssen formuliert werden (siehe zur inhaltlichen Frage auch die instruktive, rechtsvergleichende Übersicht bei Carl-Friedrich  Stuckenberg, Vorstudien zur Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, Berlin 2007, S . 435 ff .) . Puppe (Fn . 26), S . 63 . Und nach der Rechtsprechung ggf . auch generalpräventive . Die  Spezialprävention  spielt  indes  bei  Strafmaßbestimmung  keine  große  Rolle,  wie  Wolfgang Frisch zutreffend herausgestellt hat (derselbe, in: H.-J. Albrecht/F. Dünkel/et al., Günther Kaiser-FS  Bd . I, Berlin 1998, S . 765 [784 f .]) weil außer bei einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe über  zwei Jahren durch Strafart und Vollzug regelmäßig desozialisierende Wirkungen vermieden werden können . Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Aufl ., Wien 1960, S . 242 ff . Kritisch auch Eugenio Bulygin, in: A. Aarnio/S. L. Paulson/et al., Krawietz-FS, Berlin 1993, 317  (320) . Dies sei gegen Gunther Arzt gewendet, der sich fragt „Wie kann man Strafen vergleichen, wenn  nicht nach ihrer Höhe?“, siehe derselbe (Fn . 5), S . 49 (57) . Dies setzt freilich voraus, dass die Gerichte ihre Strafzumessungsentscheidungen nicht mit Leerformeln wie der „Gesamtwürdigung aller Umstände“ oder der „kriminellen Energie“ des Täters  begründen . 

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ihn auch für den nächsten zur Entscheidung stehenden Fall, sonst wären sie keine  Regeln . Aber eine solche Selbstbindung, die man aus Art . 3 I GG und/oder aus dem  Rechtsstaatsprinzip ableiten kann, bewirkt keine absolute Bindung, sondern stellt  nur  ein  Rechtfertigungsgebot  auf,40  falls  man  eine  Regel  ändern  oder  verwerfen  will .41 Eine Bindung für andere Gerichte (ggf . auch andere Spruchkörper desselben  Gerichts) besteht indes nicht und muss auch nicht bestehen, wenn man prozessual  diese  Regeln  als  das  behandeln  würde,  was  sie  tatsächlich  sind,  nämlich  revisible Rechtsfragen . Dann würde sich nämlich mittelfristig durch Revisionen und Vorlagepflichten der OLGe gemäß § 121 Abs . 2 GVG eine einheitliche Rechtspraxis einstellen . Leider hat der 4 . Strafsenat des BGH in einer neueren Entscheidung genau dies  nicht getan, als das OLG Naumburg ihm eine entsprechende Strafzumessungsnorm  vorlegte und sah darin eine nicht vorlagefähige Tatfrage .42 Dadurch perpetuiert sich  Rechtsungleichheit vor allem qua Rechtsunsicherheit mit diffusen Verweisen auf die  Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls . Zum vergleichbaren Problem der  unterschiedlichen  Auslegung  unbestimmter Rechtsbegriffe  durch  verschiedene  Gerichte43 wird im öffentlich-rechtlichen Schrifttum aus dem Gleichheitssatz und dem  Rechtsstaatsprinzip das Gebot gefolgert, dass immerhin Rechtseinheit durch höchstrichterliche  Rechtsprechung  langfristig  hergestellt  wird,44  was  selbstredend  nicht  möglich ist, wenn die von den Untergerichten selbst aufgestellten Regeln als Tatfragen umklassifiziert werden . Dass das Bundesverfassungsgericht demgegenüber Art . 3 I GG nur ein Willkürverbot entnehmen will, ist der berechtigten funktionellrechtlich bedingten Zurückhaltung  der  Verfassungsgerichtsbarkeit  gegenüber  den  Fachgerichten  geschuldet,  damit  nicht  jede  Nichtbeachtung  einer  richterlichen  Strafzumessungsnorm  einen  Art . 3 GG-Verstoß zur Folge hat und dadurch eine Verfassungsbeschwerde eröffnet .  Dazu Scholz im Maunz/Dürig-Kommentar zum GG: „Es ist grob verfehlt, wenn man aus dieser Zurückhaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber  den Gerichtsbarkeiten folgert, die Bedeutung des Art . 3 I für die Rechtspflege sei identisch mit  dem Willkürverbot und erschöpfe sich darin .“45 

Mit diesem normentheoretischen Modell werden zugleich die Grenzen aufgezeigt,  die Art . 3 I GG bzw . eine regelgeleitete Strafzumessung hat: Eine Vergleichbarkeit  der Strafmaßentscheidungen verschiedener Deliktsarten ist nicht gegeben und illusorisch .  Eine  Taxonomie  von  Strafen  für  Beleidigungen,  Hausfriedensbrüche  und  Diebstähle gibt es nicht und soll es auch nicht geben, weil es sich nicht um „wesent40  Siehe Riggert (Fn . 3), S . 86 . 41  Alexy (Fn . 21), S . 335, spricht im Zusammenhang mit der Änderung von Präjudizien von einer  Argumentationslastregel . 42  BGHSt  52,  84  mit  zustimmender  Anmerkung  Jahn,  JuS  2008,  371;  ablehnend  Grosse-Wilde,  HRRS 2009, 363 . – Hörnle (Fn . 5), 105 (122) hat sich sub specie Revisionsrecht zu dieser (Nicht-) Entscheidung des 4 . Senats neuerdings eher neutral geäußert und an die heillose Überforderung  der Rechtsmittelgerichte erinnert, wäre die Rechtsfolgenentscheidung vollumfänglich revisibel .  – Indes, um eine vollumfängliche Revisibilität geht es nicht, sondern nur um solche Aspekte der  Strafzumessungsentscheidung, die sich im Sinne einer prima-facie-Regel universalisieren lassen . 43  Vgl . dazu Sachs (Fn . 4) S . 1503 f .  44  Albert Bleckmann, JZ 1995, 685 (686 in Fn . 8) . 45  Rupert Scholz, in: R. Herzog/M. Herdegen/et al., Maunz/Dürig GG Kommentar Bd . 1, 60 . Aufl .,  München 2010, Art . 3 Rn . 397 .

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lich Gleiches“ und nicht um dieselben Strafzumessungsnormen handelt .46 Für die  Praxis wäre auch viel wichtiger, eine gleichmäßigere Bestrafung hinsichtlich derselben  Deliktsart zu erreichen . Damit wird auch deutlich, dass der allgemeine Gleichheitssatz uns zwar gebietet, Gleiches gleich zu behandeln, uns aber nicht verbietet, auch Ungleiches gleich  zu behandeln . Die Gründe nämlich, aus denen gegen verschiedene Personen genau  die gleiche Rechtsfolge eintritt, z . B . eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 200 Euro,  können recht verschieden sein .47 5   strafzumessunGsnormen  als  ex Post facto-normen –  schuldprInzIp  versus BestImmtheItsGeBot Diese eigentümlichen Strafzumessungsnormen stellen zugleich etwas dar, was man  im Strafrecht prima vista für unmöglich halten würde: Es handelt sich um ex post facto- Normen, um Sollenssätze, die ggf . erst anhand der Tatsachen des zur Entscheidung stehenden Falles gebildet worden sind und auf diese Tatsachen geradezu angewiesen sind!  Denn  ein  anderer,  eminent  wichtiger  Sollenssatz,  nämlich  das  Schuldprinzip  gebietet geradezu, diese Sollenssätze aus einem Sein zu schöpfen, weil das Schuldprinzip verbietet, dass die genaue Strafe ex ante ohne Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten des Falles, also Tatsachen, feststeht .  Dies hat das BVerfG in der Vermögensstrafe-Entscheidung klar ausgedrückt: „Im Blick auf die Besonderheiten des Einzelfalls kann nämlich regelmäßig erst der Richter die  Angemessenheit  der  konkret  bemessenen  Strafe  beurteilen .  (…)  Absolute  Strafandrohungen  begründen die Gefahr eines Konflikts mit dem verfassungsrechtlich gesicherten Schuldprinzip,  weil  sie  dem  Strafrichter  eine  Abmessung  der  Strafe  an  den  Einzelheiten  von  Unrecht  und  Schuld nicht eröffnen; sie müssen gegebenenfalls verfassungskonform ausgelegt werden, damit 

46  Das sei auch gegen Lehren von der tatproportionalen Strafzumessung gerichtet, die meinen, alle Individualdelikte durch eine (tlw . in fünf Kategorien unterteilte) Tatschwerebeurteilung anhand  des Einschnitts in die Lebensqualität des Opfers vornehmen zu können (bzgl . des Erfolgsunrechts) (siehe Hörnle [Fn . 32], S . 226 ff . mit Verweis auf Andrew von Hirsch/Nils Jareborg, Oxford  Journal of Legal Studies 1991, 1 ff .; zurückhaltender aber nun dieselbe [Fn . 5], S . 105 [112]) . Ich  halte eine Ordinalskala für alle Delikte oder auch nur für Individualdelikte für überambitioniert . 47  Puppe, Vom Umgang mit Definitionen in der Jurisprudenz, in: dieselbe, Strafrechtsdogmatische  Analysen, Göttingen 2006, S . 79 (85); ebenso Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt 1994,  S . 361 in Fn . 21: „Deutet man den Satz ‚Gleiches ist gleich, Ungleiches ist ungleich zu behandeln‘ im Sinne eines Postulats universalistischer Entscheidungspraxis, so bereitet der zweite Teil  dieses Satzes Probleme . Immer dann, wenn sowohl a als auch b einen Betrug begangen haben,  sind a und b nach § 263 Abs . 1 StGB (…) insofern gleich zu behandeln, als beide mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen sind . In diesem Sinne gilt, daß Gleiches gleich zu behandeln ist . (…) Es gilt aber nicht, daß b stets dann, wenn er anders als a keinen  Betrug begangen hat, also gegenüber a in Bezug auf § 263 Abs .1 StGB ungleich ist, anders als  a zu behandeln ist . B kann zwar keinen Betrug, wohl aber eine Hehlerei begangen haben, und  diese  ist  ebenso  wie  ein  Betrug  mit  Freiheitsstrafe  bis  zu  fünf  Jahren  oder  mit  Geldstrafe  zu  bestrafen . Bezogen auf Normen, die hinreichende, nicht aber notwendige Bedingungen für eine  Rechtsfolge formulieren, gilt in der Interpretation als Postulat einer universalistischen Entscheidungspraxis also zwar der Satz ‚Gleiches ist gleich zu behandeln‘, nicht aber der Satz ‚Ungleiches  ist ungleich zu behandeln‘ .“

Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung

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sichergestellt ist, dass auch in Grenzfällen keine unverhältnismäßigen, dem Unrecht und der  Schuld nicht angemessenen, Strafen verhängt werden .“48

Dies  bedeutet,  nach  einem  System  zu  streben,  das  für  jeden  denkbaren  oder  undenkbaren  Fall  eine  bestimmte  Strafe  vorab  bestimmt,  ist  nicht  nur  widersinnig,  sondern nach unserem Schuldverständnis kein anstrebenswertes Ideal . Und selbst  das ALR mit seinen 1577 Paragraphen zum materiellen Strafrecht enthielt bei aller  Kasuistik  doch  für  bestimmte  Delikte  Strafrahmen  und  allgemeine  Strafzumessungsnormen . Die Strafzumessungsnormen illustrieren aber nicht nur, dass die Annahme einer  strikten Trennung einer Welt des Sollens von einer Welt des Seins übertrieben ist; sie  verändern auch das Bild von dem, was wir ein Verbrechen nennen; dazu John Gardner: „Crime, some will say, is a purely legal category, and a crime is none other than action or activity which meets the conditions set by law for criminal conviction . (…) In fact, the problem is  much more complicated than this . It is true that crimes are, in one (‚institutional‘) sense, just  activities which meet the conditions for criminal conviction . But crime conviction is an all-ornothing business . (…) Where the rule of law is properly observed, criminal offences are defined  as to facilitate exactly this kind of all-or-nothing decision-making . (…) The point is that, where  the rule of law is observed, individual criminal offences are not defined in law so as to retain the  topography of gravity for the sentencing stage, but rather so as to flatten that topography, so far  as possible, for the all-or-nothing purposes of conviction or acquittal .“49

D . h ., dass es gar nicht der Sinn des gesetzgeberischen Handelns bei der Definition  einer Straftat ist, das gesamte Unrecht einer möglichen Straftat anzugeben, sondern  bloß  seine  Minimalbedingungen  (das  gleiche  gilt  für  die  strafrechtlichen  Definitionen)50 . Man kann sich also bildlich den Unterschied von Strafbarkeit und  Strafzumessung als die Veränderung eines zweidimensionalen Koordinatensystems  in  ein  dreidimensionales  vorstellen .  Und  Art . 103  Abs . 2  GG  verhindert  gerade  nicht,  dass  wir  uns  dieses  dreidimensionale  Bild  einer  Straftat  machen,  also  etwa  neue Tatbestandsmerkmale in die Strafzumessungsnorm einfügen, weil sich Art . 103  Abs . 2 GG primär auf eine andere Norm mit einem anderen telos bezieht, nämlich  diejenige, die der Gesetzgeber für die Frage der Strafbarkeit entwickelt hat .51 6  dIe strafzumessunG  als resIduum  der wIllkür  Im recht Auch wenn diese normentheoretische Rekonstruktion der Strafzumessungsentscheidung  über  kurz  oder  lang  zu  einer  gleichmäßigeren  Strafenpraxis  führen  würde,  48  BVerfGE 105, 135 (154) . 49  Vgl . John Gardner, Crime: In Proportion and in Perspective, in derselbe: Offences and Defences,  Oxford 2007, S . 213 (222 f .) . 50  „Deshalb denkt man bei der Definition der Körperverletzung vor allen Dingen an das Bespritzen mit Tripperwasser und das Abschneiden von Haaren“, Puppe, Juristische Methodenlehre für  die Strafrechtshausarbeit, in: dieselbe (Fn . 47) S . 27 (33) . 51  Dass Art . 103 Abs . 2 GG daneben auch eine gewisse Normvalenz für die Strafzumessungsnorm  enthält, sei zugestanden, diese erschöpft sich aber vor allem darin, dass der vorgegebene Strafrahmen  nicht  verlassen  wird .  Zur  Normvalenz  des  Art . 103  Abs . 2  GG  darüber  hinaus  siehe  die  Vermögensstrafe-Entscheidung  BVerfGE  105,  135  (156 f .)  vgl .  aber  auch  die  abweichende  Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff .

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sorgt sie etwa auch dafür, dass der Willküraspekt vollständig aus der Strafzumessung  eskamotiert würde? Meiner Auffassung nach: Nein . Zwar  geben  die  richterrechtlich  entwickelten  Strafzumessungsnormen  weitaus  engere Schuldrahmen oder Schuldobergrenzen vor, als es die gesetzlichen Strafrahmen tun, aber numerische Strafmaße enthalten sie gewöhnlich nicht . Diesen haftet  insofern ein inhärentes Maß an Willkür, an Dezisionismus an . – Wie sollte ein Richter reagieren, wenn er vom Verurteilten gefragt würde, warum er ihn zu 30 Tagessätzen und nicht 29 oder 2 Jahren und 4 Monaten und nicht 2 Jahre und 3 Monaten  verurteilt habe?52  Hegel hat den Kernaspekt in § 214 seiner Rechtsphilosophie angesprochen:53 „Es lässt sich nicht vernünftig bestimmen noch durch die Anwendung einer aus dem Begriffe  herkommenden Bestimmtheit entscheiden, ob für ein Vergehen eine Leibesstrafe von vierzig  Streichen oder von vierzig weniger eins, noch ob eine Geldstrafe von fünf Talern oder aber vier  Talern und dreiundzwanzig usf . Groschen, noch ob eine Gefängnisstrafe von einem Jahre oder  von dreihundertundvierundsechzig usf . oder von einem Jahre und einem, zwei oder drei Tagen  das  Gerechte  sei .  Und  doch  ist  schon  Ein  Streich  zuviel,  Ein  Taler  oder  Ein  Groschen,  Eine  Woche,  Ein  Tag  Gefängnis  zuviel  oder  zuwenig  eine  Ungerechtigkeit .  –  Die  Vernunft  ist  es  selbst,  welche  anerkennt,  daß  die  Zufälligkeit,  der  Widerspruch  und  Schein  ihre  –  aber  beschränkte – Sphäre und Recht hat, und sich nicht bemüht, dergleichen Widersprüche ins Gleiche und Gerechte zu bringen; hier ist allein noch das Interesse der Verwirklichung, daß überhaupt bestimmt und entschieden sei, es sei, auf welche Weise es (innerhalb einer Grenze) wolle,  vorhanden .“

Ich stimme dem bis auf eine Formulierung zu, nämlich derjenigen, dass schon ein  Streich  zuviel  eine  Ungerechtigkeit  sei .  Dies  stimmt  natürlich  für  Vergleichsfälle,  etwa die nur minimal voneinander abweichenden Strafen zweier Mittäter mit gleichen Tatanteilen, ohne dass spezialpräventive Unterschiede oder Vorstrafen ein unterschiedliches Strafmaß erklären könnten, Art . 3 I GG . Aber diese Wendung suggeriert, es gebe i . S . e . kardinalen Proportionalität, wenn  schon keinen rechtlichen, so einen außerrechtlichen moralischen Maßstab, der bestimmen könnte, dass 29 und nicht 30 Tagessätze die gerechte Strafe seien, also die  Idee  einer  Punktstrafe .  Ich  würde  dem  entgegnen,  dass  dies  gar  keine  moralische  Frage ist: Tony Honoré hat diesen Gedanken in einem Aufsatztitel mit der provozierenden Inversion ausgedrückt als „The Dependence of Morality on Law“ .54  Welche Moral man sich auch vorstellen kann, sie ist eine unvollständige Sollensordnung, denn sie schweigt bspw ., ob es besser ist, ein Links- oder Rechtsfahrgebot  im Straßenverkehr zu implementieren, ob ein Hochhaus in der Nähe vom Kölner  52  Vgl .  dazu  schon  Carl Schmitt,  Gesetz  und  Urteil,  Berlin  1912,  S . 109:  „Den  Richter,  der  wissen  will,  warum  er  ein  Jahr  Gefängnis  und  nicht  ein  Jahr  und  einen  Tag  als  Strafe  festsetzt,  auf die Grundsätze der General- und Spezialprävention verweisen, heißt einfach ihn zum besten halten .“ – Bei manchen Strafmaßen wird er eine rationale Antwort geben können, wenn  numerische Grenzen zugleich rechtliche Folgen haben, wie die Eintragung in das polizeiliche  Führungszeugnis ab 91 Tagessätzen, die fehlende Aussetzbarkeit einer Strafe zur Bewährung bei  Strafen von mehr als 2 Jahren Freiheitsstrafe etc . Aber dies ist die Ausnahme, dann bleibt nur  die Vorliebe für Dezimalzahlen . 53  Vgl . zu dieser für ihn so wichtigen Hegel-Stelle bereits Carl Schmitt (Fn . 52), S . 49 f . 54  Tony Honoré,  Oxford  Journal  of  Legal  Studies,  1993  (Vol .  13),  S . 1;  zustimmend  John  Gardner, Ethics and Law, in: J. Skorupski, The Routledge Companion to Ethics, London 2010, 419  (422 f .) .

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Dom 100 m oder 120 m hoch errichtet werden darf, und ob die Einkommenssteuer  42 oder 43 % betragen soll . „Morality on its own is incomplete and cannot provide a viable guide to what  we are required to do in particular situations . (…) Taxation affords a good example .  (…) Members of a community have in principle a moral obligation to pay taxes . But  this obligation is incomplete or, if one prefers, inchoate, apart from law . It has no  real content until the amount or rate of tax is fixed by an institutional decision, by  law .“55 Nichts anderes gilt für die konkreten, numerischen Strafen in einem von Menschen gemachten Strafensystem .56

55  Honoré (Fn . 54), S . 1 (2 ff .) . 56  In diesem Sinne auch Ulfrid Neumann, in: H. Jung/derselbe, Festschrift für Ellscheid, Baden-Baden 1999, 118 (119), der insofern für die Strafzumessung seine ansonsten präferierte „regulative  Idee“  der  einzig  richtigen  Entscheidung  (vgl .  etwa  derselbe,  Wahrheit  im  Recht,  Baden-Baden  2004,  S . 37 ff .;  derselbe,  in:  derselbe/F. Herzog,  Hassemer-FS,  Heidelberg  2010,  143  [149 f .])  ablehnt .

norbert paulo eIne  partIkularIstIsche sIcht  auf  den  allGemeInen   GleIchheItssatz Der  Beitrag  hinterfragt  das  weithin  akzeptierte  Verständnis  des  allgemeinen  Gleichheitssatzes  als  Ausdruck der Gerechtigkeit, wenn auch nur der formalen Gerechtigkeit . Er zeigt auf, welche Unstimmigkeiten dieses Verständnis und die Prüfung einer Verletzung der so verstandenen Norm beinhalten .  Dabei  werden  klassische  Kritikpunkte  an  der  Deutung  des  allgemeinen  Gleichheitssatzes  als  Rechtssetzungsgleichheit durch Überlegungen aus der aktuellen philosophischen Diskussion um das  Prinzip der Universalisierbarkeit und den ethischen Partikularismus ergänzt . Der Beitrag zeigt, dass  die zwischen (vermeintlichen) antiken Formulierungen von Gerechtigkeitsforderungen und modernen politischen Vorstellungen mäandernden Argumentationsgänge nicht überzeugend sind und fordert im Ergebnis einen ehrlichen und transparenten Umgang mit Art . 3 I GG . Schließlich sagt der  allgemeine Gleichheitssatz über die Regelanwendungsgleichheit hinaus nichts aus, wobei auch diese  Aussage wichtig und in ihrer Umsetzung nicht trivial ist .

1  der  allGemeIne GleIchheItssatz Der Kern der Gerechtigkeit wird verbreitet im Gleichheitsprinzip gesehen, welches  rechtlich vor allem im allgemeinen Gleichheitssatz, in Deutschland in Art . 3 I GG,  verortet wird . In der die ehrbaren historischen Vorläufer in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Fassung von 1793 (Art . 3), der Paulskirchenverfassung  von  1849  (§ 137  III)  und  in  der  Weimarer  Reichsverfassung  von  1919 (Art . 109 I) aufnehmenden schlichten Feststellung alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich wird teilweise auch eine Mindestforderung der Gerechtigkeit, der sog .  formalen Gerechtigkeit  im  Sinne  Chaïm  Perelmans,  vermutet .  Auffällig  im  Umgang  mit Art . 3 I GG ist, dass kaum mehr auf den Normsatz1 selbst Bezug genommen,  sondern unvermittelt auf nicht weiter erläuterte Gerechtigkeitsprinzipien zurückgegriffen wird .2 Es verwundert kaum, dass dieses Vorgehen zu vielen Unstimmigkeiten  führt . Um diese aufzuzeigen, werde ich mich zunächst ausschließlich auf den Normsatz – Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – konzentrieren . Über die Kritik Hans  Kelsens an dem Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Rechtssetzungsgleichheit werde ich zu Überlegungen zum Prinzip der Universalisierbarkeit und zu  Implikationen der aktuellen Debatte in der Philosophie um den ethischen Partiku1 

2 

Im  Sinne  der  Theorie  vom  semantischen  Normbegriff  wird  der  Wortlaut  einer  positivierten  Norm als Normsatz bezeichnet . Die darin enthaltene normative Aussage hingegen wird Norm  genannt . Siehe zu dieser Theorie statt vieler Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt  a . M . 1986, S . 42 ff . Vgl . bspw . Lerke Osterloh, in: Sachs (Hrsg .), Grundgesetz – Kommentar, 4 . Aufl ., München 2007,  Art . 3 Rn . 1 ff ., die in einem einzigen Satz unter Verweis auf Art . 1 III GG klarstellt, dass man  sich mit dem Normsatz gar nicht auseinandersetzen müsse, um sodann auf die Idee der Gerechtigkeit als Gleichheit einzugehen . Nach Günter Dürig und Rupert Scholz, in: Herzog/Scholz/ Herdegen/Klein  (Hrsg .),  Maunz/Dürig,  Grundgesetz  –  Kommentar,  60 .  Lieferung,  München  2010, Art . 3 I Rn . 4 „enthält die Aussage: „Alle Menschen sind … gleich“ [selbstverständlich]  einen Rechtssatz, der wie jeder Rechtssatz zwischen Wert und Unwert“ unterscheide . Diese Feststellung bleibt in der ganzen Kommentierung zu Art . 3 GG die einzige Bezugnahme auf den  Normsatz .

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Norbert Paulo

larismus  für  das  Verständnis  des  Gleichheitssatzes  kommen .  Diese  Überlegungen  führen zum einen zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung des BVerfG und die  weit überwiegende Literatur sich auf viele verschiedene Normen beziehen, die sich  fast alle weit vom Wortlaut, dem Normsatz, entfernt haben; zum anderen kann man  im Ergebnis aber trotzdem aus partikularistischer Sicht dem vom BVerfG entwickelten Willkürverbot zustimmen, nicht hingegen der Neuen Formel . 1.1 Vor vs. in deM Gesetz: ForMale GerecHtiGkeit Was  bedeutet  nun  aber  die  Formulierung  alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich?  Festzuhalten ist zunächst, dass der Normsatz keine egalitäre Gleichheitsnorm beinhaltet . Schließlich heißt es nicht alle Menschen sind gleich, sondern alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich . Warum heißt es aber vor und nicht in dem Gesetz? Einen Vergleich des allgemeinen Gleichheitssatzes zu einem möglichen Alternativnormsatz alle Menschen sind in dem Gesetz gleich hat bereits Hans Kelsen unternommen .3 Zu Recht stellt er zunächst klar, dass der Normsatz bereits ein bestehendes Gesetz voraussetzt . Art . 3 I GG kann damit begrifflich schon kein Ausschlusskriterium  sein  für  Gesetze,  in  denen  Menschen  nach  tatbestandlich  festgesetzten  Kriterien  unterschiedlich  behandelt  werden .  Vor  diesem  Gesetz  sind  Menschen  trotzdem  gleich, nur eben nicht in diesem Gesetz . „Gleichheit vor dem Gesetz kann bestehen,  wenn auch keinerlei Gleichheit im Gesetz besteht, das heißt: wenn das Gesetz keine  gleiche Behandlung vorschreibt . Wenn das Gesetz nur Männern, aber nicht Frauen  ein Wahlrecht gewährt, also in dieser Beziehung keine Gleichheit im Gesetz besteht,  kann doch das Prinzip der Gleichheit vor diesem Gesetz gewahrt werden .“4  Art . 3 I GG drückt eigentlich eine Selbstverständlichkeit aus, die man Regelanwendungsgleichheit  nennen  kann:  Normen  müssen  gleich  angewendet  werden .  Wenn dies nicht der Fall ist, werden sie falsch bzw . gar nicht angewendet . Anknüpfend an ein weit verbreitetes Verständnis kann man jedenfalls sagen, dass Normen  und Regeln allgemeine Imperative („Jeder tue immer X, wenn Y!“) im Gegensatz zu  singulären Imperativen („Tue jetzt X!“) sind .5 Nichts anderes meint Kelsen, wenn er  sagt, jede Norm schreibe vor, „dass bestimmte Individuen unter bestimmten Umständen in bestimmter Weise behandelt werden sollen .“6 Im Anschluss v . a . an Chaïm Perelman wird dieser Zusammenhang auch als Idee der formalen Gerechtigkeit bezeichnet .7 Perelman hatte sechs verschiedene Gerechtig3 

4  5  6  7 

Er  bezieht  sich  zwar  nicht  auf  eine  bestimmte  positiv-rechtliche  Norm,  spricht  aber  von  der  „’Gleichheit’, die man im juristischen Sprachgebrauch als Gleichheit vor dem Gesetz bezeichnet“, siehe Hans Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit – Anhang zu: Reine Rechtslehre, 2 . Aufl .,  Wien 1960, S . 396 . Kelsen (Fn . 3), S . 396 (Hervorhebung im Original) . Siehe statt vieler nur Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin/New York 1984,  S . 9 ff .  Kelsen (Fn . 3), S . 146, 393 . Chaïm Perelman, Eine Studie über die Gerechtigkeit, in: ders ., Über die Gerechtigkeit, München  1967, S . 9–84 . Vgl . dazu Jörg Schroth, Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, Paderborn  2001, S . 201 ff . m . w . N . Ich folge Schroth in grundsätzlichen Punkten zur formalen Gerechtigkeit und zur Universalisierbarkeit .

Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz 

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keitskonzeptionen  untersucht8  und  aus  diesen die formale Gerechtigkeit  als ein Element,  das  alle  Konzeptionen  teilen,  als  notwendige  Bedingung  für  Gerechtigkeit  destilliert .9 Die formale Gerechtigkeit einer Handlung setzt nach Perelman eine Regel voraus und ist relativ zu dieser Regel . Sie besteht in der richtigen Regelanwendung in Form eines logischen Syllogismus, unabhängig davon, ob die Regel selbst  gerecht oder ungerecht ist .10 Weiter gehört dazu, dass die Regel auf alle Menschen,  die  von  ihrem  Wortlaut  erfasst  sind,  angewendet  wird .  Formal  ungerecht  wäre  es  demnach  aber,  eine  Handlung  gar  nicht  aus  einer  Regel  abzuleiten  oder  eine  gerechte Regel zu verletzen . Kelsen erkennt – anders als Perelman – hierin keine Gerechtigkeitselemente,  sondern  wieder  die  Regelanwendungsgleichheit:  „Was  Perelman als ‚justice formelle’ bezeichnet, ist die so genannte ‚Gleichheit’ vor dem Gesetz, das ist die logisch korrekte Anwendung einer generellen Norm . […] Wenn, wie  Perelman  hier  behauptet,  das  Prinzip  der  gleichen  Behandlung  der  zu  derselben  Kategorie Gehörigen eine Forderung der Logik ist, ist es kein Prinzip der Gerechtigkeit, auch nicht einer formalen Gerechtigkeit .“11 Perelmans Kriterien formaler Gerechtigkeit treffen also auch auf die Gleichheit  vor  dem  Gesetz,  mithin  auch  auf  Art . 3  I  GG  zu .12  Dies  erkennt  auch  Perelman  selbst, wenn er sagt, die formale Gerechtigkeit sei ein „Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt  werden müssen .“13 Eine Gemeinsamkeit bedarf besonderer Erwähnung: Art . 3 I GG sagt nichts aus  über Sachverhalte, die nicht von einem Gesetz, einer Norm erfasst sind; dies wären  Fragen der Gleichheit in dem Gesetz . Auch Perelmans formale Gerechtigkeit bezieht  sich – was er zwar nicht ausdrücklich sagt, sich aber aus seiner Untersuchung indirekt ergibt – nur auf solche Situationen, in denen eine anwendbare Regel tatsächlich  besteht . Die formale Gerechtigkeit sagt also nichts über Handlungen, die nicht aus  einer Regel abgeleitet sind, weil es keine anwendbare Regel gibt . Da es aber auch  gerechte Handlungen geben kann, die nicht aus einer anwendbaren Regel abgeleitet  sind, handelt es sich bei der formalen Gerechtigkeit ersichtlich nicht um eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit .14 Die formale Gerechtigkeit nach Perelman deckt sich also weitgehend mit dem  Regelbegriff und damit der Regelanwendungsgleichheit: Regeln sind auf alle gleich  anzuwenden, nämlich nur nach ihren jeweiligen Regelmerkmalen . Da Art . 3 I GG  8  9  10  11  12  13  14 

Perelman (Fn . 7), S . 16 ff .: Jedem das Gleiche; Jedem gemäß seinen Verdiensten; Jedem gemäß  seinen Werken; Jedem gemäß seinen Bedürfnissen; Jedem gemäß seinem Rang; Jedem gemäß  dem ihm durch Gesetz Zugeteilten . Zusammenfassend Perelman (Fn . 7), S . 84 . Vgl . Perelman (Fn . 7), S . 64; dazu Schroth (Fn . 7), S . 204 f . Kelsen (Fn . 3), S . 398 (dort Fn . 38, Hervorhebung im Original) . Zur faktischen Gleichsetzung von Art . 3 I GG mit einem allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken  vgl . nur BVerfGE 3, 58 (135) .  Perelman (Fn . 7), S . 28 . Dies ist unabhängig davon richtig, ob man die formale Gerechtigkeit als  Element der Gerechtigkeit versteht (wie Perelman) oder nicht (wie Kelsen) . Schroth (Fn . 7), S . 209 differenziert innerhalb Perelmans System deshalb: eine Handlung sei nicht gerecht, wenn sie nicht aus einer Regel folgt, ungerecht dagegen, wenn sie eine bestehende Regel  verletzt; er kommt zu dem Ergebnis, dass Perelmans Behauptung, „formale Gerechtigkeit sei  eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit entweder inkonsistent,  unplausibel oder trivial, d . h . ohne jede Relevanz, ist“, Schroth (Fn . 7), S . 211 .

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so gesehen aus theoretischer Sicht nichts Neues sagt, kann man die erste Norm, die  der Normsatz des allgemeinen Gleichheitssatzes ausdrückt, so fassen: Regeln müssen angewendet werden .  Dies  klingt  nüchterner,  als  es  ist .  Schließlich  ist  diese  formale  Gerechtigkeit, die Regelanwendungsgleichheit, ein wichtiges Element gesellschaftlicher Gerechtigkeit, dessen Festschreibung in einer Verfassung sinnvoll ist .15 Und es  klingt auch trivialer, als es ist, beginnen doch gerade an diesem Punkt erst die Probleme der Auslegung und Anwendung von Regeln und Rechtsnormen, also die Debatten der Methodenlehre . Beides hat erhebliche Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit . 1.2 das Weite verständnis des allGeMeinen GleicHHeitssatzes Die bisherigen Überlegungen zur Frage, welche Norm der Normsatz des Art . 3 I GG  ausdrückt, waren strikt auf den Wortlaut beschränkt . Art . 3 I GG hatte und hat aber  eine nicht zu unterschätzende und über die bloße Regelanwendungsgleichheit weit  hinausgehende politische und praktische Bedeutung, die sich auch in der allmählichen Ausdifferenzierung der speziellen Gleichheitssätze ausdrückt . Dies liegt an einem anderen, weiteren Verständnis von Art . 3 I GG, wie es in Rechtswissenschaft  und Rechtspraxis vorherrschend ist . Dieses Verständnis könnte eine Folge der verbreiteten Überzeugung sein, dass  alle Menschen vom Recht oder den Institutionen des Rechts – in Gestalt der Legislative, Judikative und Exekutive – unparteiisch zu behandeln sind . Diese Überzeugung bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich zu behandeln wären . Es handelt sich  um ein rein negatives Kriterium – schließlich ist nur gefordert, dass keine Parteilichkeit  vorliegen  darf  –,  welches  noch  mit  positivem  Gehalt  gefüllt  werden  müsste .  Man kann unparteiisch handeln, ohne dabei Gesetze anzuwenden .16 Zwar mag die  Unparteilichkeitsforderung durchaus mit Gerechtigkeit zu tun haben . Ein Zusammenhang mit Art . 3 I GG ist aber kaum ersichtlich . Die in der ersten Norm zum  Ausdruck  kommende  Regelanwendungsgleichheit  erfordert  natürlich  auch  eine  schwache Form von Unparteilichkeit . Die darüber hinausgehende (stärkere) Forderung der Unparteilichkeit ergibt sich aber nicht aus Art . 3 I GG . Möglich wäre auch eine ganz andere Herangehensweise, die evtl . auch die weitergehende Forderung der Unparteilichkeit plausibilisiert: Wenn man den allgemeinen Gleichheitssatz weniger wörtlich als umgangssprachlich verstehen möchte, kann  man Gesetz auch – wesentlich weiter – im Sinne von Recht verstehen, also wenigstens  als Summe aller positiv-rechtlichen Regelungen . Vergleichen kann man dies mit einer Aussage wie „Der Blauwal ist ein großes Tier“ . In einer solchen Aussage kann  Blauwal  neben  der  Bezeichnung  eines  bestimmten  Tieres  auch  eine  Gruppenbezeichnung sein, etwa wie in „Blauwale sind große Tiere“ . In diesem Sinne könnte  Gesetz also auch als Gruppenbezeichnung, als (alle) Gesetze oder eben als Recht verstanden  werden .  Darüber  hinaus  ist  sogar  auch  ein  Verständnis  als  über-positives  15  Dies  hat  etwa  John  Rawls,  Eine  Theorie  der  Gerechtigkeit,  Frankfurt  a . M .  1979,  S . 78,  265 ff .  treffend bemerkt . Zu in diesen Bereich fallenden Ungleichheiten aus soziologischer und historischer Sicht siehe die Beiträge in Schlögl (Hrsg .), Ungleichheiten vor Gericht, Göttingen 2009 . 16  Siehe hierzu David Lyons, On Formal Justice, in: ders ., Moral aspects of legal theory, Cambridge  1993, S . 13–40, S . 34 ff .

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Naturrecht möglich . Letzteres scheint den meisten Abhandlungen zum allgemeinen  Gleichheitssatz zugrunde zu liegen . Weniger umgangssprachlich, sondern eher kulturhistorisch kann man das Verständnis der Feststellung alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich als Verweis auf das  Urteil Salomons nennen . In dieser biblischen Geschichte, die nicht erst seit Nicolas  Poussins  Verbildlichung  zum  abendländischen  Kulturgut  gehört,  wenden  sich  die  beiden Frauen, die sich darum streiten, welche von beiden die Mutter eines Kindes  ist, an den König Salomon und stehen in Poussins Bild vor ihm . Salomon verkörpert als König das Gesetz bzw . das Recht und verkündet später sein sprichwörtliches,  weises Urteil . Diese bildhafte Vorstellung der Menschen vor dem Gesetz lässt sich  auch nachvollziehen bis zu Franz Kafkas Erzählung mit dem Titel Vor dem Gesetz:  „Vor  dem  Gesetz  steht  ein  Türhüter .  Zu  diesem  Türhüter  kommt  ein  Mann  vom  Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz …“ Der Eintritt wird dem Mann mal um  mal verwährt, bis er schließlich kurz vor seinem Tod erfährt, dass dieser Eingang nur  für ihn bestimmt war und nun geschlossen wird . Möglich erscheint auch, das Wort vor gar nicht so ernst zu nehmen und in den  Normsatz statt einer Regelanwendungsgleichheit eine Regelsetzungsgleichheit bzw .  eine  Rechtssetzungsgleichheit  an  die  also  auch  die  Legislative  gebunden  ist,  hineinzulesen,17 was der weit verstandenen umgangssprachlichen Umdeutung von  Gesetz in Recht wohl entspricht . Dies war hinsichtlich der entsprechenden Fassungen  in  der  Paulskirchenverfassung  und  der  Weimarer  Reichsverfassung  durchaus  noch  umstritten;  bei  den  Beratungen  zum  Grundgesetz  wurde  die  Frage  der  Rechtssetzungsgleichheit  wegen  Art . 1  III  GG  aber  als  entschieden  angesehen .18  Art . 1  III  GG, der schließlich alle drei Staatsgewalten an die nachfolgenden Grundrechte binde,  erfasse auch die Legislative und Art . 3 I GG . Daher nimmt man eine Rechtssetzungsgleichheit an .19 Dieses Argument wird bis heute vorgebracht und um die Überlegung ergänzt, dass dies auch gut ins Gesamtbild des Grundgesetzes passe, welches  eher  Misstrauen  gegenüber  der  Legislative  zum  Ausdruck  bringe .20  Teilweise  wird  diese  Ansicht  auch  mit  einer  Art  „Zusammenschau“  von  Artt .  3  I  und  1  III  GG  17  Dies macht von Anfang an das BVerfG, vgl . BVerfGE 1, 14 (52) . Diese Linie wurde in Rechtsprechung  und  Literatur  „schlicht  akzeptiert“  (Alexy  (Fn . 1),  S . 359),  vgl .  auch  Stefan Huster,  Rechte und Ziele, Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, Berlin 1993, S . 18 . Zu dem  Problem der Abgrenzung von Art . 3 I GG in dieser Lesart zu Art . 19 I 1 GG (Allgemeinheit des  Gesetzes, Verbot des Einzelfallgesetzes) siehe Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes,  Tübingen 2009, S . 232 ff . 18  Siehe etwa Ekkehart Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg .), Alternativkommentar-GG, 3 . Aufl ., Neuwied 2001, Art . 3 I Rn . 8–10; Christian Starck, in: v . Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg .), Bonner GG-Kommentar, 4 . Aufl ., München 1999, Art . 3 I Rn . 2 . 19  Statt vieler Reinhold Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S . 7–36, 10 ff . und Jost Pietzcker,  Rechtsvergleichende  Aspekte  des  allgemeinen  Gleichheitssatzes,  in:  Hendler/Ibler/ Martinez Soria (Hrsg .), „Für Sicherheit, für Europa“, Festschrift für Volkmar Götz zum 70 . Geburtstag, Göttingen 2005, S . 301–321, 302 ff . 20  So Alexy (Fn . 1), S . 358, 360 ff ., der dies für „schlagende Argumente“ hält und mit einer knappen  Erwähnung von Platon und Aristoteles, nach denen gelte Gleiches ist gleich, Ungleiches ist ungleich zu behandeln,  ohne  merklichen  Bruch  vom  Wortlaut  des  Art . 3  I  GG  zur  Interpretation  des  (vermeintlichen) platonischen und aristotelischen Grundsatzes übergeht und sich im Folgenden  um den eigentlichen Normsatz gar nicht mehr bemüht . Dieses Vorgehen ist umso kritischer zu  sehen, wenn man liest, auf welche Äußerungen Platons und Aristoteles‘ Alexy verweist, siehe  unten .

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begründet,21 die den Normsatz natürlich erheblich verschiebt . Die zweite mögliche  Norm, die der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur, kann man etwa so  fassen:  Regeln müssen angewendet werden; alle Menschen sind von allen Staatsgewalten gleich zu behandeln. In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass neben der  Regelanwendungs- auch die Rechtssetzungsgleichheit gemeint ist . Die  Betrachtungsweise  der  Rechtsprechung  und  der  überwiegenden  Literatur  entbehrt zwar nicht einer gewissen Plausibilität . Und auch aus politischer Sicht mag  man sich kaum dagegen wenden . Jedoch bringt sie auch Probleme mit sich . Mir ist  jedenfalls bei der kulturhistorischen Betrachtung nicht klar, wie man noch von einer  Anwendung von Art . 3 I GG sprechen kann, oder was man unter einer Anwendung  dann noch versteht . Schließlich ist auch im Verständnis der Rechtsprechung und der  überwiegenden Literatur sein Inhalt, seine Bedeutung, die eigentliche Norm nicht  aus  dem  Normsatz  heraus  verständlich .  Woraus  aber  dann?  Wie  legt  man  einen  Normsatz aus, über dessen Wortlaut man sich hinwegsetzten muss, um seinen Inhalt, seine Norm richtig zu ermitteln? Legt man den Normsatz aus, oder doch irgendein den jeweiligen Bedürfnissen angepasstes Gerechtigkeitsprinzip? Auch wenn  der Wortlaut nicht das alleinige Kriterium der Auslegung und Anwendung ist, erfordern doch moralische wie rechtsstaatliche Erwägungen die Transparenz und Nachvollziehbarkeit normativer Überlegungen . Dies wiederum erfordert eine ernsthafte  Auseinandersetzung mit dem Normsatz . Ob der Normsatz die absolute Grenze der  Auslegung sein soll und wie man ihn überhaupt verlässlich ermittelt, sind andere,  schwierige,  aber  nachgeordnete  Fragen .22  Wegen  der  benannten  Schwierigkeiten  und dem mangelnden Ehrgeiz der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur, sich überhaupt mit dem Normsatz des Art . 3 I GG zu beschäftigen, blende ich  für meine Zwecke die umgangssprachliche wie die kulturhistorische Betrachtungsweise zunächst aus und bleibe bei der Wortbedeutung von Art . 3 I GG, beim Verständnis  als  Regelanwendungsgleichheit .  Dabei  bin  ich  mir  dessen  bewusst,  dass  dieser  Zweck  ein  begrenzter  ist .  Auf  das  weite  Verständnis  der  Rechtswissenschaft  und Rechtspraxis komme ich zurück . 2  Ist GleIches  GleIch  und unGleIches  unGleIch  zu  Behandeln? Schon früh hat sich in der Anwendung von Art . 3 I GG die Auffassung durchgesetzt,  gleiche Fälle seien gleich zu behandeln .23 Dieser formale Überzeugungskern hat sich  bis heute im Willkürverbot und der Neuen Formel des BVerfG, auf die ich unten näher  eingehe,  erhalten .  Die  damit  ausgedrückte  dritte  mögliche  Norm  könnte  man,  in  Verbindung mit der Rechtssetzungsgleichheit und der entsprechenden Ungleichbehandlungsforderung24, etwa so fassen: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten Gleiches gleich und Ungleiches ungleich (zu behandeln). 21  Diese Sicht vertreten Dürig/Scholz (Fn . 2), Art . 3 Rn . 3 ff . 22  Zur Theorie der Wortlautgrenze umfassend Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, BadenBaden  2004;  zusammenfassend  ders .,  Die  Wortlautgrenze,  in:  Lerch  (Hrsg .),  Die  Sprache  des  Rechts, Band 2, Berlin 2005, S . 343–368 . 23  So ausdrücklich bspw . in BVerfGE 3, 58 (135) .  24  Siehe nur Kelsen (Fn . 3), S . 392 und H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1 Aufl ., Oxford 1961,  S . 155 .  Tatsächlich  formulierte  auch  das  BVerfG  schon  früh,  dass  weder  wesentlich  Gleiches 

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Für die Forderung Gleiches sei gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln,  wird verbreitet auf die antike Philosophie verwiesen . Dies sei hier nur exemplarisch  und kursorisch an Robert Alexys Bezugnahme auf Platon und Aristoteles25 kritisiert: „Es  gibt  nämlich  zwei  Gleichheiten  […]  Die  eine  von  ihnen  vermag  bei  den  Ehrungen  jede  Stadt und jeder Gesetzgeber einzuführen, nämlich die nach Maß, Gewicht und Zahl gleiche,  indem er sie mittels des Loses bei den Verteilungen herstellt . Die wahrste und beste Gleichheit  aber ist nicht mehr so leicht für jeden einsichtig; denn sie beruht auf dem Urteil des Zeus, und  den Menschen bietet sie nur geringe Hilfe; doch alles, was sie den Städten oder auch Privatleuten  an  Hilfe  gewährt,  das  bewirkt  lauter  Gutes .  Dem  Größeren  teilt  sie  nämlich  mehr,  dem  Kleineren weniger zu und gibt so beiden das, was ihrer Natur angemessen ist“ .26 

Von einem einfachen Gerechtigkeitsprinzip wie Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln ist bei Platon so keine Rede . Die Sache ist auch dort schon schwieriger .  Bei  Aristoteles  hingegen  kann  man  tatsächlich  etwas  ähnliches  wie  die  stipulierte  Forderung sehen, jedoch in einer deutlich anderen Formulierung, die auch anderen  Interpretationen zugänglich ist und auch bei Aristoteles ziemlich unvermittelt erwähnt wird:  „[A]lle halten zwar an einem bestimmten Rechtsprinzip fest, jedoch gelangen sie nur bis zu  einem gewissen Punkte und bringen nicht eine Rechtsbegründung im eigentlichen Sinne und  von allgemeiner Gültigkeit vor . So gibt es die Auffassung, Gerechtigkeit bestehe in Gleichheit,  und  sie  besteht  tatsächlich  in  Gleichheit,  jedoch  nicht  für  jedermann,  sondern  (nur)  für  die  Gleichen . Und nach einer gewissen Auffassung ist Ungleichheit gerecht, und sie ist tatsächlich  gerecht, aber nicht für alle, sondern (nur) für die Ungleichen .“27

Alexy  verweist  auch  auf  eine  Stelle  in  Aristoteles‘  Nikomachischer  Ethik .28  Zwar  geht es dort um Gerechtigkeit, Gleichheit, Angemessenheit und Proportion, nicht  jedoch um ein Gerechtigkeitsprinzip wie Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln . Es findet sich also bei Alexys drei Verweisen lediglich ein vager, argumentativ  nicht untermauerter Hinweis auf die in Anspruch genommene Forderung . Darauf  die  weitere  „Auslegung“  des  allgemeinen  Gleichheitssatzes  zu  stützen,  ist  wenig  überzeugend . 2.1 universalisierbarkeit Nicht nur das BVerfG sieht zwischen dieser Gleichbehandlungsforderung und der  Regelanwendungsgleichheit  keinen Unterschied .29  In der  Tat haben beide Gleichheitsforderungen auch eine Gemeinsamkeit: Sie sind selbstverständlich und entziehen sich insofern auch jeder Kritik . Dass Regeln gleich angewendet werden müssen,  steckt im Begriff der Regel als allgemeiner Imperativ . Zur Forderung, gleiche Fälle 

25  26  27  28  29 

willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandelt werden dürfe, vgl .  BVerfGE 4, 144 (155); 78, 104 (121) . Die Merkmale der wesentlichen Gleichheit und der Willkür  blende ich hier noch aus . Alexy (Fn . 1), S . 360 (dort Fn . 15) . Gleiches könnte man auch bei anderen Autoren zeigen; Alexy  verweist aber als einer der wenigsten überhaupt auf konkrete Textstellen . Platon, Gesetze, Buch VI, Band IX 2 der Werkausgabe, Göttingen 2003, 757 . Aristoteles, Politik, Buch III, Band 9 der Werkausgabe, Darmstadt 1991, Kapitel 9, 1280a . Auf Buch V, Kapitel 6, 1131a . Siehe  etwa  auch Richard M. Hare,  Moralisches  Denken,  Frankfurt  a . M .  1992,  S . 221, Hart  (Fn . 24), S . 156 und Peter Koller, Theorien des Rechts, Wien/Köln/Weimar 1992, S . 280 .

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gleich zu behandeln, muss man etwas mehr sagen: Sie ist äquivalent zum Prinzip der Universalisierbarkeit,  wonach,  wenn eine Handlung rechtlich richtig ist, auch jede andere Handlung, die der ersten in allen rechtlich relevanten Hinsichten gleicht, rechtlich richtig ist .30  Hierbei handelt sich um einen analytisch wahren Satz . Es ist nämlich ein Widerspruch, zu behaupten, zwei Handlungen hätten zwar die gleichen rechtlich relevanten  Eigenschaften,  seien  aber  rechtlich  unterschiedlich  zu  beurteilen .  Wenn  sie  rechtlich unterschiedlich zu beurteilen wären, müsste jedenfalls eine Handlung eine  rechtlich relevante Eigenschaft haben, die die andere Handlung nicht hat . Alle Eigenschaften,  die  die  rechtliche  Beurteilung  beeinflussen  können,  sind  schließlich  rechtlich relevant . Die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, dehnt die Gleichheit nicht aus  auf  Fälle,  die  ähnlich,  vergleichbar,  wesentlich  gleich/ungleich  usw .  sind .  Auch  nimmt sie nicht Bezug auf Eigenschaften, aufgrund derer eine Handlung richtig ist .  In der hier behandelten Formulierung sind gleiche Fälle tatsächlich nur solche, die  sich in allen für eine Beurteilung relevanten, wenn nicht in allen Eigenschaften gleichen .  Für die Formulierung, dass ungleiche Fälle ungleich zu behandeln sind, trifft die  Äquivalenz zur Universalisierbarkeit auf andere Weise und nur bedingt zu . Zur Verdeutlichung könnte man etwa so formulieren: wenn eine Handlung rechtlich richtig  ist, ist jede andere Handlung, die der ersten in wenigstens einer rechtlich relevanten  Hinsicht  nicht  gleicht,  nicht  rechtlich  richtig .  Mit  rechtlich richtig  ist  hier  nicht  gemeint,  dass  etwas  erlaubt,  also  nicht  verboten  ist,  sondern  dass  exakt  die  gleiche  rechtliche Beurteilung vorliegt . Hierbei handelt es sich um ein negatives, abgrenzendes Kriterium . Wenn zwei Fälle vorliegen, die sich in wenigstens einer rechtlich relevanten  Eigenschaft  unterscheiden,  sagt  das  Judiz  über  einen  Fall  –  aus  logischer  Sicht  –  fast  nichts  über  den  anderen .  Es  ist  nur  eine  Möglichkeit  ausgeschlossen,  nämlich dass beide Fälle exakt gleich zu beurteilen sind . Sie können nicht gleich zu  beurteilen sein, weil sie nicht alle relevanten Eigenschaften teilen . Alle relevanten  Eigenschaften müssen aber in den Gründen für ihre Beurteilung eine Rolle spielen .  Anderenfalls haben nicht alle relevanten Gründe Eingang in den Beurteilungsprozess gefunden .31 Hinzuweisen  ist  hier  noch  auf  ein  anderes  (vermeintliches)  Universalisierbarkeitsprinzip, das leicht mit dem dargestellten verwechselt werden könnte, nämlich  ein Prinzip, nach dem die Eigenschaften, die in einem Fall dessen rechtliche Qualität bestimmen, auch die rechtliche Qualität jedes anderen Falls, der dem ersten in relevanten Hinsichten ähnelt, bestimmen .  Dieses  vermeintliche  Universalisierbarkeitsprinzip  entspringt  ei30  Für  eine  ähnliche  Formulierung  –  bezogen  auf  die  Moral  –  siehe  Schroth  (Fn . 7),  S . 22  und  ders ., Universalisierbarkeit und Partikularismus, in: Beckermann/Nimtz (Hrsg .), Argument und  Analyse, Ausgewählte Sektionsvorträge des 4 . internationalen Kongresses der GAP, Paderborn  2002, S . 608–617, S . 610 . Aus Gründen der besseren sprachlichen Verständlichkeit habe ich die  Universalisierung vereinfacht und rede einerseits von „gleich zu behandeln“ und andererseits  von „rechtlich richtig“ . Dass der Zusammenhang trotzdem richtig ist, hat Schroth (Fn . 7), S . 227  gezeigt . 31  Siehe hierzu auch Hare (Fn . 29), S . 221, der davon ausgeht, dass, wenn zwei Fälle ungleich sind,  die Ungleichbehandlungsforderung nicht sage, dass beide Fälle nicht gleich behandelt werden  dürfen .  Schließlich  könnten  die  Unterschiede  (moralisch)  irrelevant  sein .  Diese  Möglichkeit  ist in meiner Formulierung durch die Einbeziehung „rechtlich relevanter“ Unterschiede ausgeschlossen .

Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz 

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nem Argumentationsfehler32: Man geht zunächst davon aus, dass, wenn eine Handlung rechtlich richtig ist, auch jede andere Handlung, die der ersten in rechtlich relevanten  Hinsichten  gleicht,  rechtlich  richtig  ist .  Weiter  meint  man,  die  rechtlich  relevanten Hinsichten seien diejenigen Eigenschaften, auf Grund deren die Handlung  rechtlich  richtig  ist .  Also  seien  alle  Handlungen,  welche  die  gleichen  Eigenschaften  haben,  auf  Grund  deren  die  erste  Handlung  rechtlich  richtig  war,  auch  rechtlich  richtig .  Der  Fehler  liegt  in  der  übergangenen  Prämisse,  dass,  wenn  eine  Handlung die gleichen nicht-rechtlichen Eigenschaften hat, auf Grund deren eine  andere Handlung rechtlich richtig ist, sich dann beide Handlungen in rechtlicher  Hinsicht gleichen . Diese Prämisse ist falsch, weil die Handlung neben den Eigenschaften, die sie mit der anderen Handlung gemein hat, noch weitere (rechtlich relevante) Eigenschaften haben kann, die eine andere Bewertung erfordern . Dieses Prinzip ist also falsch . Es handelt sich um keine „echte“ Universalisierung . Insgesamt  verdeutlicht  die  Äquivalenz  zum  Prinzip  der  Universalisierbarkeit  also nochmals, dass die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, einen nur sehr  begrenzten Anwendungsbereich hat . Außerdem zeigen die beiden Exkurse zur Formulierung des Prinzips für die Ungleichbehandlung sowie zur vermeintlichen Universalisierung, dass bei der Formulierung von Gleichheitsforderungen Vorsicht geboten ist . 2.2 zusaMMenHanG? Obschon also die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, äquivalent zum logisch geltenden Prinzip der Universalisierbarkeit ist und auch die Regelanwendungsgleichheit nicht bestritten wird, gibt es dennoch ein Problem: Universalisierbarkeit  und Regelanwendungsgleichheit bedeuten weder das gleiche33, noch kann die eine  durch die andere ausgelegt werden, wie es das BVerfG tut . Man kann schließlich alle  gleichen Fälle gleich behandeln, ohne dabei überhaupt Regeln anzuwenden, sei es,  dass es gar keine Regeln gibt, dass man sie nicht kennt oder dass man einfach nicht  an  sie  denkt  und  sich  eher  zufällig  regelkonform  verhält .  Ebenso  kann  man  alle  gleichen Fälle gleich behandeln und dabei bewusst bestehende Regeln außer Acht  lassen, sie also gerade nicht anwenden, wie es die Regelanwendungsgleichheit verlangt, bspw . wenn sich Beamte in gleichen Situationen nach dem gleichen Muster  bestechen lassen, auch wenn das Gesetz genau dies verbietet . Auch jede erstmalige  Anwendung einer Regel fällt nicht unmittelbar unter den Satz, gleiche Fälle seien  gleich zu behandeln . Schließlich gibt es bei der erstmaligen Anwendung noch kein  32  Ich  folge  hier  Schroth  (Fn . 30),  S . 612 ff .  (zum  moralischen  Universalisierbarkeitsprinzip  bei  Hare) . Schroth zeigt dort auch, dass sich der Partikularist Dancy genau gegen solche Universalisierbarkeitsprinzipien  wendet,  nicht  etwa  gegen  das  oben  behandelte  Prinzip,  siehe  auch Jonathan Dancy, Moral Reasons, Oxford 1993, S . 57, 88 ff . 33  So auch Lyons (Fn . 16), S . 28 ff . und Schroth (Fn . 7), S . 229 . Alexy (Fn . 1), S . 361 erkennt zwar,  dass die Forderung, Gleiches sei gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln, dem Universalisierbarkeitsprinzip  entspricht  (was,  wie  gezeigt,  nur  teilweise  zutrifft),  dehnt  diese  Entsprechung  aber zu weit aus, wenn er meint, sie beinhalte auch die formale Gerechtigkeit Perelmans und die  Rechtsanwendungsgleichheit . Auch Hart (Fn . 24), S . 156 sieht keinen Unterschied zwischen der  richtigen Anwendung einer Regel und der Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln .

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Vergleichspaar .34  Jedenfalls  ist  zwischen  Universalisierbarkeit  und  Regelanwendungsgleichheit kein Zusammenhang ersichtlich, der es rechtfertigt, die eine durch  die andere auszulegen oder gar beide gleichzusetzen .35 2.3 partikularisMus Eine weitere Herausforderung für die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln,  ist der in der aktuellen philosophischen Ethik viel diskutierte und am prominentesten von Jonathan Dancy vertretene ethische Partikularismus,36 der stark auf die Umstände jedes Einzelfalls, in dem eine ethische Entscheidung zu treffen ist, abstellt  und meint, dass Ethik ganz ohne Prinzipien, ohne allgemeine Formulierungen und  Universalisierungen37 auskommen muss und dies auch kann .38 Ob es sich bei einer  partikularistischen  Ethik  überhaupt  noch  um  eine  Ethik  handelt,  hängt  natürlich  davon  ab,  ob  man  Verallgemeinerung  und  Universalisierung  für  notwendige  Bestandteile von Ethik hält oder nicht .39 Die Partikularisten tun dies nicht . Programmatisch  heißt  es  bei  Dancy,  die  „Möglichkeit  moralischen  Denkens  und Urteilens hängt nicht von der Existenz moralischer Prinzipien ab .“40 Wesentlich  für diese Ansicht ist der sog . Holismus in der Theorie der Gründe: „Etwas, das in  einem Fall einen Grund darstellt, kann in einem anderen Fall gar kein Grund sein  oder sogar ein Grund für das Gegenteil .“41 Dieser Holismus ist dem sog . Atomismus  entgegengesetzt: „Etwas, das in einem Fall einen Grund darstellt, muss auch in jedem anderen Fall einen Grund darstellen und seine Polarität bewahren .“42 

34  Lyons (Fn . 16), S . 30 f . Zum gleichen Problem bei der Frage der Formulierung von Gerechtigkeitsprinzipien siehe Kelsen (Fn . 3), S . 393 . 35  Andere Interpretationsmöglichkeiten ergeben sich freilich, wenn man Art . 3 I GG nicht mit dem  Wortlaut  als  Regelanwendungsprinzip,  sondern  kulturhistorisch  versteht .  In  diesem  Fall  wäre  man allerdings mit den oben genannten Fragen konfrontiert . 36  Ich kann hier nur eine Idee davon vermitteln, was Partikularismus bedeutet und wie Partikularisten argumentativ vorgehen . Einen leicht zugänglichen Überblick zum Partikularismus bietet  Jonathan Dancy, Moral Particularism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand des Eintrags: 14 .01 .2009 . Natürlich gibt es verschiedene Ausprägungen des Partikularismus bei verschiedenen Autoren . Ich beziehe mich hier nur auf Dancy, dessen Spielart die bei weitem elaborierteste  ist .  Für  einen  Überblick  über  die  Auseinandersetzung  siehe  die  Beiträge  in  Lance/Potrč/ Strahovnik (Hrsg .), Challenging Moral Particularism, New York 2008 und Hooker/Little (Hrsg .),  Moral Particularism, Oxford 2000 sowie aus der deutschsprachigen Literatur etwa Matthias Kiesselbach, Zwischen Partikularismus und Generalismus: Ethische Probleme als grammatische Spannungen,  AZP  2010,  S . 45  und  Guido Löhrer,  Moralische  Gründe  und  Intuitionen  –  Worüber  streiten ethische Generalisten und Partikularisten, AZP 2010, S . 67 . 37  Zur Unterscheidung Bernward Gesang, Kritik des Partikularismus, Paderborn 2000, S . 9 . 38  Kritisch hierzu bspw . Gesang (Fn . 37) . 39  Dazu  überblicksartig  Dieter Birnbacher,  Analytische  Einführung  in  die  Ethik,  2 . Aufl .,  Berlin/ New  York  2006,  S . 24 ff .  Interessant  ist  in  diesem  Zusammenhang  der  Hinweis  bei  Gesang  (Fn . 37), S . 26 ff ., dass in der Entwicklung des Begriffs Ethik/Moral meist nur bestimmte Gruppen einbezogen und andere ausgeschlossen wurden und erst nach und nach der Anwendungsbereich erweitert, also Verallgemeinerungen vorgenommen wurden . 40  Jonathan Dancy, Ethics without Principles, Oxford 2004, S 7 . 41  Dancy (Fn . 40), S . 7 und 71 ff . 42  Dancy (Fn . 40), S . 7 .

Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz 

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Vielleicht verdeutlichen Beispiele die Idee, die hinter dem Holismus steckt: Der  Eindruck, dass vor mir etwas rot ist, ist normalerweise ein Grund anzunehmen, dass  vor mir etwas Rotes ist . Wenn ich nun aber ebenfalls denke, eine Droge genommen  zu haben, deren Wirkung darin besteht, dass alles Rote blau aussieht und alles Blaue  rot, dann habe ich nun, wenn ich etwas Rotes vor mir sehe, Grund anzunehmen,  dass vor mir etwas Blaues ist . Es ist vor allem nicht so, dass es einen Grund gibt,  anzunehmen, dass vor mir etwas Rotes ist, der aber überwogen wird von einem anderen Grund . Mein farblicher Eindruck ist gar kein Grund mehr, anzunehmen, dass  vor  mir  etwas  Rotes  ist .  Dieses  Beispiel43  aus  der  Erkenntnistheorie  (aus  welcher  heraus  Dancy  den  Partikularismus  entwickelt  hat)  soll  zeigen,  dass  auch  Gründe  kontextabhängig sind .  Das gleiche Ziel verfolgt ein moralphilosophisches Beispiel44: Smith und Jones  erben beide große Vermögen, wenn ihre jeweiligen Cousins sterben . Smith geht also  ins Bad und ertränkt seinen hilflosen Cousin . Jones hat den gleichen Plan . Er geht  ins Bad, um seinen Cousin zu töten . Als er ins Bad kommt, sieht er, dass sein Cousin offenbar in der Badewanne ausgerutscht ist, sich dabei den Kopf angeschlagen  hat und nun zu ertrinken droht . Er könnte ihm helfen . Stattdessen lässt er ihn aber  ertrinken, um an die Erbschaft zu kommen . Viele dürften keinen Unterschied in der  moralischen Beurteilung von Smith und Jones sehen und beide gleichermaßen verurteilen, obschon Smith seinen Cousin getötet hat, während Jones den seinen sterben ließ . Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen45 scheint daher moralisch irrelevant zu sein . Dancy zielt mit dem Beispiel freilich darauf, zu zeigen, dass  diese Argumentation falsch ist . Um das zu zeigen, genügt ein Gegenbeispiel: Wenn  Smith in einer Situation ist, in der er nur ein Kind töten oder zwei Kinder sterben  lassen kann, sollte er, so Dancy, lieber das eine Kind retten und die beiden anderen  sterben  lassen,  als  anders  herum .46  Schließlich  mache  es  einen  Unterschied,  ob  Smith aktiv, wenn auch widerwillig, tötet, oder „nur“ einen schon begonnenen Sterbeprozess nicht aufhält, obwohl er dies zu gerne täte . In diesem Gegenbeispiel gibt  es also einen moralisch relevanten Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen,  ja die moralische Beurteilung hängt gerade von diesem Unterschied ab . Die gleiche  Argumentationsweise führte also zu gegensätzlichen Ergebnissen . Dancy meint, damit zeigen zu können, dass man so gar nicht argumentieren sollte . Der Hintergrund  ist auch hier, dass Eigenschaften je nach Kontext ihre „Polarität“ ändern, also je nach  Kontext in verschiedene Richtungen weisen können . Soviel zum Holismus in der  Theorie der Gründe . Der  Zusammenhang  mit  der  Diskussion  um  die  Gleichheitsforderungen  lässt  sich  unschwer  erkennen:  Forderungen  wie  die,  gleiche  Fälle  gleich  zu  behandeln,  folgen – wenn sie nicht, wie bisher, rein formal verstanden werden – dem atomistischen Modell und sind immer dem Risiko ausgesetzt, dem oben angesprochenen  43  Es ist u . a . in Dancy (Fn . 36), S . 4 f . (zitiert nach der Seitenzahl der Druckansicht) zu finden . 44  Siehe Dancy (Fn . 32), S . 88 ff . 45  Zur philosophischen Debatte siehe nur die Beiträge in Steinbock/Norcross (Hrsg .), Killing and  letting die, 2 . Aufl ., Fortham 1994 . 46  Zur  Frage  der  Abwägung  von  Leben  aus  philosophischer  Sicht  John Broome,  Weighing  Lives,  Oxford 2004 . Natürlich muss man Dancy in dieser Einschätzung nicht folgen; gerade Konsequentialisten könnten die Sache anders beurteilen . Dancys Punkt ließe sich allerdings auch an  anderen Beispielen zeigen .

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vermeintlichen  Universalisierbarkeitsprinzip  nachzugehen .  Schließlich  ist  es  der  Atomismus, der nahe legt, anhand der Eigenschaften, die in einem Fall dessen rechtliche Qualität bestimmen, auch die rechtliche Qualität anderer Fälle zu beurteilen . 2.4 Materielle GleicHHeitsForderunG Bisher wurde die Gleichheitsforderung, einer häufig gebrauchten Formulierung folgend, formal verstanden . Möglich ist aber auch ein materielles Verständnis, das die  Forderung in gewisser Weise qualifiziert . Verbreitet ist ein Verständnis, das ich als  vierte Norm so formulieren möchte: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln) .47  Bei  dieser  materiellen  Gleichheitsforderung  handelt  es  sich  offensichtlich  nicht  um  die  formale  Gerechtigkeit,  sondern  um  ein  Gerechtigkeitsprinzip .  Festzustellen  ist  schon  hier,  dass  sich  diese  Formulierung  nicht  mehr  in  Einklang  bringen  lässt  mit  dem  vorgeschlagenen formalen Verständnis von Art . 3 I GG als Regelanwendungsgleichheitsforderung, und weiter, dass die eigentlich interessante Frage, was die wesentliche Gleichheit oder Ungleichheit auszeichnet, durch diese Formeln nicht beantwortet wird . Interessant ist in diesem Zusammenhang zu sehen, wohin die Abkehr vom  Wortlaut zu Gunsten einer teleologischen Interpretation führt: So wird angenommen,  die  vom  BVerfG  aufgestellten  Forderungen,  „Gleiches  gleich“,  „wesentlich  Gleiches  ungleich“  und  „wesentlich  Gleiches  willkürlich  ungleich“  zu  behandeln,  bedeuten genau dasselbe .48 Hinsichtlich der Ungleichbehandlungsforderung sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass sie sehr schwach ist . Sie sagt nur, dass wesentlich Ungleiches ungleich  zu behandeln ist . Diese durch „wesentlich“ qualifizierte Form geht zwar weiter als  die oben diskutierte Formulierung, ist aber dennoch in ihrer Wirkung sehr begrenzt .  Ausgeschlossen ist nämlich auch bei wesentlich ungleichen Sachverhalten nur eine  absolute Gleichbehandlung . Der Nachsatz ist nicht qualifiziert . Man darf also wesentlich Ungleiches fast identisch behandeln . 3  prüfunG  der verletzunG  von art. 3 I GG Der allgemeine Gleichheitssatz in Art . 3 I GG lautet: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich . Seit 1980 heißt es beim BVerfG mit der sog . Neuen Formel, dass Art . 3 I GG  „dann verletzt [ist], wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen  Normadressaten  anders  behandelt  wird,  obwohl  zwischen  beiden  Gruppen  keine  Unterschiede  von  solcher  Art  und  solchem  Gewicht  bestehen,  dass  sie  die  ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“49 . Inzwischen spricht das BVerfG sogar von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung .50 

47  Auf das hier außer Acht gelassene Element der Willkür komme ich zurück . 48  Siehe nur Alexy (Fn . 1), S . 365 ff ., 369 . 49  BVerfGE 55, 72 (88) . Es ist aber zu beachten, dass beide Senate des BVerfG unterschiedlich mit  dieser Formel und dem Willkürverbot umgehen . 50  BVerfGE 118, 79 (100 f .) . Die Erwägungen innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen 

Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz 

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Umstritten ist, welche Funktion neben der Neuen Formel noch dem ursprünglichen Kriterium zukommt, dem sog . Willkürverbot, wonach der Gleichheitssatz erst  verletzt ist, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender  oder  sonstwie  sachlich  einleuchtender  Grund  für  die  gesetzliche  Differenzierung  oder Gleichbehandlung nicht finden lässt .“51 Vertreten wird bspw ., dass beide Formeln  nebeneinander  bestehen  bleiben  und  zusammen  einen  einheitlichen  Prüfungsmaßstab mit abgestuften Anforderungen darstellen .52 Ein strengerer Maßstab  gelte  etwa  bei  einer  Verschiedenbehandlung,  die  an  persönlichen  Merkmalen  anknüpft, auf die man selbst keinen Einfluss hat, bei Maßnahmen, die sich auf die  Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken, sowie bei Ungleichbehandlungen, die den in Art . 3 III GG genannten Diskriminierungsmerkmalen nahe  sind .  Bei  der  Unterscheidung  des  Prüfungsmaßstabes  behauptet  das  BVerfG,  sich  neben dem „Sinn“ ausdrücklich auch am Wortlaut des Art . 3 I GG zu orientieren .53  Dies findet in der „Subsumtion“ dann aber tatsächlich nicht statt . Die rechtliche Auseinandersetzung mit Art . 3 I GG findet in zwei Konstellationen statt: Entweder wird jemand behandelt wie wenigstens ein anderer, obwohl er  anders behandelt werden möchte . Oder jemand möchte wie wenigstens ein anderer  behandelt werden, ohne dass dies schon der Fall wäre . Im ersten Fall will der Betroffene eine noch nicht bestehende Ungleichbehandlung, im zweiten Fall eine noch  nicht bestehende Gleichbehandlung . In beiden Fällen will der Betroffene, dass er  selbst anders behandelt wird .  Die Prüfung einer Verletzung von Art . 3 I GG durchläuft zwei Stufen54: Auf der  ersten Stufe wird gefragt, ob zwei Sachverhalte ungleich behandelt werden, obwohl  sie  wesentlich  gleich  sind .  Hier  werden  Vergleichgruppen  gebildet .  Als  wesentlich  gleich werden bspw . Fahrrad- und Motorradfahrer verstanden, weil beide auf zwei  Rädern  mit  nicht  unerheblicher  Geschwindigkeit  am  Straßenverkehr  teilnehmen .  Ungleich behandelt werden sie, weil nur die Motorradfahrer einen Schutzhelm tragen müssen .55 Auf der zweiten Stufe stellt sich dann die Frage, ob die festgestellte  Ungleichbehandlung trotz Vergleichbarkeit der Sachverhalte gerechtfertigt werden  kann .56 Erst auf der zweiten Stufe kommen die Neue Formel und das Willkürverbot  zum Einsatz . Als Eingang in die Prüfung kommt aber auch der ersten Stufe eine  große Bedeutung zu . Das BVerfG neigt dazu, wesentliche Gleichheiten innerhalb  von  Sachverhalts-  und  Regelungskomplexen  großzügig  anzunehmen,  ist  dagegen  restriktiv, Gleichheiten, die solche Komplexe überschreiten, als wesentlich anzuerkennen . Schon auf der ersten Stufe neigt das BVerfG also zu Vereinfachungen .57 

51  52  53  54  55  56  57 

dann den Besonderheiten von Art . 3 I GG angepasst werden, vgl . Marion Albers, Gleichheit und  Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S . 946, 947 f . BVerfGE 1, 14 (52) . So Albers (Fn . 50), S . 949; für die generelle Anwendung der Neuen Formel hingegen etwa Roman Herzog,  in:  ders ./Scholz/Herdegen/Klein  (Hrsg .),  Maunz/Dürig,  Grundgesetz  –  Kommentar,  60 . Lieferung, München 2010, Anhang zu Art . 3 Rn . 10 . Etwa BVerfGE 88, 87 (96 f .) . Ich stelle die Stufen hier exemplarisch nur für den Wunsch des Betroffenen nach Gleichbehandlung dar . Für den Wunsch nach Ungleichbehandlung gilt entsprechendes . BVerfGE 59, 275 . Zur Rechtfertigungsebene siehe Uwe Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S . 174–211, 193 ff . Vgl . Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, Tübingen 2008, S . 148 f ., Oster-

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Norbert Paulo

Eine Orientierung dieser ersten Prüfungsstufe am Wortlaut des Art . 3 I GG ist  überdies nicht erkennbar . Sie stellt aber eine Folge des materiellen Verständnisses  des Normsatzes dar . Um das nochmals zu verdeutlichen, könnte man die Neue Formel fiktiv als analytisch wahre Aussage verstehen, und zwar dann, wenn Art . 3 I GG  wie folgt lautete: Ungleichbehandlung ist nur rechtmäßig, wenn sie gerechtfertigt ist. Ein so  gefasster Art . 3 I GG wäre in der Tat „dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl  zwischen  beiden  Gruppen  keine  Unterschiede  von  solcher  Art  und  solchem  Gewicht  bestehen,  dass  sie  die  ungleiche  Behandlung  rechtfertigen  könnten“58 .  Von  einem solchen Rechtfertigungsvorbehalt ist in Art . 3 I GG aber nicht die Rede . Er ist  Folge der Auslegung der überwiegenden Rechtswissenschaft und Rechtspraxis und  führt dazu, dass der allgemeine Gleichheitssatz im Sinne einer Argumentationslastregel genutzt wird .59 Auf der zweiten Prüfungsstufe wird davon ausgegangen, dass die Mitglieder der  Vergleichsgruppen  die  für  eine  rechtliche  Beurteilung  relevanten  Eigenschaften  grundsätzlich  teilen;  schließlich  hat  man  sie  bereits  auf  der  ersten  Stufe  für  vergleichbar befunden . Eine Ungleichbehandlung will man nur dann zulassen, wenn  sich Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht finden lassen, welche die  ungleiche  Behandlung  rechtfertigen  können,  bzw .  wenn  sich  irgendein  nachvollziehbarer, sachlicher Differenzierungsgrund finden lässt . Im Hintergrund steht hier  ersichtlich nicht mehr die (starke) Forderung, dass gleiche Fälle gleich zu behandeln  sind, sondern die (schwächere) Forderung, dass wesentlich gleiche Fälle (nur) grundsätzlich gleich zu behandeln sind . Art . 3 I GG wird in dem Sinne, dass man von der  Gebotenheit einer Gleichbehandlung ausgeht, als Argumentationslastregel zu Gunsten  der  Gleichbehandlung  verstanden .60  Nach  dem  Gesagten  kann  man  als  fünfte Norm etwa formulieren: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln), wenn etwas anderes nicht gerechtfertigt ist . Hierin kommt nicht mehr der oben kritisierte Atomismus zur Anwendung, wie  es in der dritten und vierten Norm der Fall ist . Schließlich ermöglicht es der Rechtfertigungsvorbehalt gerade, von der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung abzusehen . Gleichwohl handelt es sich noch nicht um eine holistische Position . Dies  wird  besonders  deutlich,  wenn  man  sich  den  Unterschied  zwischen  Willkürverbot  und Neuer Formel vor Augen führt . Nach dem Willkürverbot ist die Gleichheitsfordeloh (Fn . 2), Art . 3 Rn . 27 (zum Ersten Senat des BVerfG) und 35 ff . (zum Zweiten Senat) und Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S . 778, 782, alle m . w . N . 58  BVerfGE 55, 72 (88) . 59  Hierzu  eingehend  Klaus Stern,  Das  Gebot  zur  Ungleichbehandlung,  in:  Maurer  (Hrsg .),  Das  akzeptierte  Grundgesetz,  Festschrift  für  Günter  Dürig  zum  70 .  Geburtstag,  München  1990,  S . 207–219, 212 ff . sowie – unterteilend in Differenzierungsverbote, -gebote und -erlaubnisse –  Christian Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, in: Link (Hrsg .), Der Gleichheitssatz im  modernen Verfassungsstaat, Baden-Baden 1982, S . 51–73, 64 ff . 60  So ausdrücklich bspw . von Alexy (Fn . 1), S . 370, 372 m . w . N .; die Argumentationslastregel zu  Gunsten der Gleichbehandlung sei im Übrigen ein allgemeines Rationalitätspostulat, siehe Alexy,  Theorie  der  juristischen  Argumentation,  Frankfurt  a . M .  1983,  S . 242 f .  und  ders .  (Fn . 1),  S . 371, jeweils m . w . N . Adalbert Podlech, Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, S . 267 ff . weist auf die logischen Probleme der Argumentationslastregel hin und versteht sie selbst als Vermutung des Vorliegens tatsächlicher Gleichheit .

Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz 

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rung relativ schwach, da jeder vernünftige, sich aus der Natur der Sache ergebender  oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund als Rechtfertigung für eine Gleichbehandlung bzw . Ungleichbehandlung genügt . Es müssen also Gründe vorliegen . An  deren Qualität werden aber keine hohen Anforderungen gestellt . Dieses Verständnis  von Art . 3 I GG liegt zwar nicht nahe am Wortlaut von Art . 3 I GG, wohl aber an  der  Position  des  Partikularismus:  „Der  Generalist  kommt  zu  der  Forderung,  zwei  [vergleichbare] Fälle gleich zu beurteilen, solange man kein Prinzip nennen kann,  nach dem beide unterschieden werden können . Der Partikularist hingegen wird nur  fordern, die Fälle gleich zu beurteilen, wenn gar kein Grund vorliegt, dies nicht zu  tun .“61  Die  im  ersten  Satz  angesprochene  generalistische  Position  kommt  in  der  Neuen Formel  zum  Ausdruck,  wird  darin  doch  die  Gleichheit  gegenüber  der  Ungleichheit deutlich in den Vordergrund gestellt . Gefordert wird die Rechtfertigung  jeder Ungleichbehandlung nach Art und Gewicht der Unterschiede zwischen den  Normadressaten . Von einer Forderung, eine Gleichbehandlung ebenso zu rechtfertigen, ist keine Rede . Dieses Verhältnis zwischen Gleichbehandlung- und Ungleichbehandlungsforderung drückt sich auch bei Robert Alexy aus: „Wenn es keinen zureichenden  Grund  für  die  Erlaubtheit  der  Unleichbehandlung  gibt,  dann  ist  eine  Gleichbehandlung geboten .“62 Und: „Wenn es einen zureichenden Grund für die  Gebotenheit  einer  Ungleichbehandlung  gibt,  dann  ist  eine  Ungleichbehandlung  geboten .“63 Man kann es auch anders sagen: Eine Ungleichbehandlung ist nur erlaubt, wenn ein zureichender Grund für eine Ungleichbehandlung vorliegt . In allen  anderen Fällen ist eine Gleichbehandlung geboten . Dieser Umgang mit Art . 3 I GG  ist sehr konservativ und bietet einen entsprechend hohen Schutz vor Diskriminierungen . Das ist aus politischer Sicht auch zu begrüßen . Es darf aber nicht vergessen  werden, dass die rechtliche Auseinandersetzung mit Art . 3 I GG – wenn man ihm  auch die Funktion der Rechtssetzungsgleichheit zuspricht – in zwei Konstellationen  stattfindet:  Die  eine  ist  die  unerwünschte  Diskriminierung .  Die  andere  aber  die  Gleichbehandlung mit wenigstens einem anderen, obwohl man anders behandelt  werden möchte; also gerade die erwünschte Diskriminierung . Diese Dimension tritt  mit der Neuen Formel in den Hintergrund .  Auch die Genese des Verständnisses von Art . 3 I GG als Argumentationslastregel zu Gunsten der Gleichbehandlung, das eine große Nähe zu den Normen zwei,  drei,  vier  und  fünf  aufweist,  ist  schwer  nachvollziehbar .  Woher  es  kommt,  bleibt  offen, zumal es selbst der Grundlage, auf der es beruhen soll, nämlich der klassischen Forderung, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, nicht gerecht wird . Diese klassische Forderung gibt nämlich der Gleichheit kein Vorrecht vor  der Ungleichheit . Diese Lesart von Art . 3 I GG ergibt sich auch nicht aus dessen  Wortlaut . Positiv kann aber gesagt werden, dass im Normsatz von Ungleichbehandlung gar keine Rede ist, was einen gewissen Vorrang der Gleichbehandlung durchaus  nahe legen könnte . Dies erkennend wird vorgeschlagen das Ungleichbehandlungsgebot gänzlich fallen zu lassen . Schließlich dürfe Art . 3 I GG nicht darauf hinaus  laufen, dass begründet werden müsse, warum „die rechtliche Regelung so und nicht

61  Dancy (Fn . 36), S . 13 (zitiert nach der Seitenzahl der Druckansicht) . 62  Alexy (Fn . 1), S . 370 . 63  Alexy (Fn . 1), S . 372 .

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anders lauten muß .“64 Der Gleichheitssatz würde sonst zu einer „schlichten Forderung nach der Begründung von Normen werden .“65 4  erGeBnIs Die Diskussion um den allgemeinen Gleichheitssatz ist unüberschaubar, weswegen  diese kurze, eklektische Untersuchung vieles nur andeuten konnte und bewusst – als  kleines  Gegengewicht  zum  überwiegenden  Vorgehen  in  Rechtswissenschaft  und  Rechtspraxis – einen kritischen Ausgangspunkt genommen und zunächst kaum konstruktive Vorschläge gemacht hat . Die Untersuchung hat sich am Normsatz des allgemeinen Gleichheitssatzes orientiert: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich . Dieser wurde gedeutet als Ausdruck  einer Selbstverständlichkeit, nämlich der Regelanwendungsgleichheit und der (richtig verstandenen) formalen Gerechtigkeit, was in einer ersten Norm formuliert wurde:  Regeln müssen angewendet werden . Davon ausgehend kamen die alternativen Deutungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in den Blick, die als umgangssprachlich und  kulturhistorisch bezeichnet wurden, und welche neben der Regelanwendungsgleichheit die Rechtssetzungsgleichheit einbeziehen . Dies führte zur zweiten Norm: Regeln müssen angewendet werden; alle Menschen sind von allen Staatsgewalten gleich zu behandeln. Ein weiterer Schritt führte zur immer wieder auftauchenden Forderung, gleiche Fälle  gleich zu behandeln, ausgedrückt in der dritten Norm: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten Gleiches gleich und Ungleiches ungleich (zu behandeln), deren  antike  Herkunft so deutlich nicht ist, wie es oft behauptet oder vermutet wird . Es wurde die  Äquivalenz  dieser  Forderung  zum  Prinzip  der  Universalisierbarkeit  dargelegt,  um  daran einen häufigen Fehler aufzuzeigen, nämlich der Gleichsetzung dieser Forderung  mit  der  Regelanwendungsgleichheit .  Weiter  wurde  gezeigt,  wie  beschränkt  diese (formale) Gleichbehandlungsforderung ist und welche Schwierigkeiten bei der  Formulierung einer entsprechenden Ungleichbehandlungsforderung auftreten . Die  bis  dahin  vorgebrachte  Kritik  an  der  Gleichbehandlungsforderung  wurde  dann  durch die skizzenhafte Einführung des ethischen Partikularismus und des Holismus  weiter plausibilisiert . Anschließend wurde auf materielle Gleichbehandlungsforderungen Bezug genommen, die in der vierten Norm: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln),  ausgedrückt wurden . Diese Norm wurde als ein Gerechtigkeitsprinzip (im Gegensatz  zur formalen Gerechtigkeit) eingestuft und einige Probleme daran aufgezeigt . Zuletzt wurden anhand der Prüfung der Verletzung von Art . 3 I GG das Willkürverbot  und die Neue Formel in ihrer Deutung als Argumentationslastregeln behandelt, was  in der fünften Norm formuliert wurde: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln), wenn etwas anderes nicht gerechtfertigt ist . Es zeigten sich schließlich große Unterschiede zwischen  Willkürverbot und Neuer Formel, wobei nur das (schwächere) Willkürverbot durch den  Partikularismus gestützt wurde .

64  Podlech (Fn . 60), S . 57 (Hervorhebung im Original) . 65  Alexy (Fn . 1), S . 372 .

Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz 

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Den konstruktiven Teil der Untersuchung kann man als Mahnung verstehen:  Rechtswissenschaft und Rechtspraxis sollten deutlich machen, auf welch tönernen  Füßen die weit verbreitete Auslegung und Anwendung von Art . 3 I GG steht . Nicht  überzeugend sind die überwiegend zwischen (vermeintlichen) antiken Formulierungen von Gerechtigkeitsforderungen und modernen politischen Vorstellungen mäandernden Argumentationswege . Die Argumentationssprünge sind oft gewaltig . Überzeugender wäre es, zuzugestehen, dass Art . 3 I GG als Norm über die Regelanwendungsgleichheit  hinaus  nichts  aussagt,  und  anzuerkennen,  dass  auch  formale  Gerechtigkeit wichtig und in ihrer Umsetzung nicht trivial ist . Bestrebungen, den in  Art . 3 I GG verorteten Schutzgehalt in anderen Freiheitsrechten zu suchen, sind zu  begrüßen .  Wenn  man  eine  weitere  Auslegung  befürwortet,  sollte  man  jedenfalls  transparent machen, mit welchen Annahmen und Überzeugungen man tatsächlich  arbeitet, um den Normsatz auszulegen . Das sollte in einem Rechtsstaat eigentlich  selbstverständlich sein .

tiM WiHl* eGalItärer mInImalkonstItutIonalIsmus.   GleIchheIt  als  notwendIGe  und  hInreIchende   BedInGunG  des  demokratIschen verfassunGsstaates Der hier skizzierte Konstitutionalismus ist egalitär, weil er auf der Gleichheit als analytischer Zentralkategorie aufbaut . Er ist minimal, weil er sich mit der Gleichheit bescheidet . Und er ist ein Konstitutionalismus, weil er die Grenze zwischen Recht und Politik problematisiert . Zunächst werden drei  interne Typen der Gleichheit unterschieden, die jedes Menschenrecht strukturell kennzeichnen . Im  äußeren Zusammenhang erweist sich die derart zergliederte Gleichheit als drittes von drei menschenrechtlichen Paradigmata neben dem Eigentum und der Meinungsfreiheit . Außer der inneren Strukturanalyse der Rechte und dem Versuch ihrer äußeren Hintergrundtypologisierung wird eine Zuordnung der strukturkonformen Kritikformen zu den Prinzipien des Rechtsstaates, der Demokratie und  des Sozialstaates unternommen . Dieses Modell ermöglicht eine angepasste Positionsbestimmung der  Verfassungsgerichtsbarkeit in einem idealen System des egalitären Minimalkonstitutionalismus, das  die  politisch  gestaltbare  Zukunft  in  den  Mittelpunkt  rückt .  Die  Gleichheit  erweist  sich  intern  als  notwendige und extern als hinreichende Bedingung eines politischen Konstitutionalismus .

Jede gegenwärtige Verfassungstheorie, die in Rousseaus und Kants Schatten steht –  und das sind die weitaus meisten –, nimmt ihren Ausgang beim Konzept der gleichen Freiheit . Den Primat in dieser eigentümlichen Kombination von Prinzipien,  die andere Autoren auch schon in durchaus spannungsreichem Verhältnis gesehen  haben (Alexis de Tocqueville1 oder Friedrich Julius Stahl zum Beispiel2), hat regelmäßig die Freiheit, sei es normativ3, sei es „nur“ begriffsanalytisch . Gleichheit erscheint als Verteilungsprinzip der Freiheit . Niemand käme auf der anderen Seite auf  den Gedanken, Gleichheit nach dem Prinzip der Freiheit zu verteilen – zumindest  vorderhand . Was sollte damit auch gemeint sein?4 Die prima facie Unmöglichkeit der Begriffsumkehrung lässt sich wohl auf die  relative Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs zurückführen, der erst demokratisch  oder  autoritär-rationalistisch  inhaltlich  angereichert  werden  muss,  um  überhaupt  verfassungstheoretischen Sinn zu ergeben . Das adjektivische Verteilungsprinzip hingegen muss fast schon aus syntaktischen Gründen qualitativ bestimmter sein . Freiheit ist offen und unbestimmt, Gleichheit ist geschlossen und hinreichend  bestimmbar . So scheint es . Doch wie es scheint, so ist es nicht . Dass vielmehr die  Gleichheit als gleichzeitig notwendiger, das heißt auch in gewissem Umfang defini*  1 

2  3  4 

Herzlichen Dank an Markus Sehl, ohne den der Text nicht zustande gekommen wäre . Ihm ist es um die égalité des conditions zu tun, vgl . Tocqueville, De la démocratie en Amérique,  Paris 1835/40 . Stahl,  Die  Philosophie  des  Rechts,  Berlin  1830 ff .  Die  Konstruktion  eines  Widerspruchs  zwischen  Freiheit  und  Gleichheit  ist  das  Distinktionsmerkmal  liberaler  und  konservativer  Fortschrittskritik schlechthin; vgl . für die Gegenwart Bobbio, Rechts und Links, Berlin 2006 .  So schon bei Rousseau: „la liberté ne peut subsister sans (l´égalité)“, Du contrat social, Paris 1762,  II, 11 . Vgl .  aber  die  beinahe  Identität  von  Freiheit  und  Gleichheit  in  der  griechischen  Polis,  in  Gestalt der isonomia, Arendt, On revolution, New York 1963, S . 20 f . Dazu auch Dann, Gleichheit  und Gleichberechtigung, Berlin 1980, S . 31 ff .; Nippel, Antike oder moderne Freiheit, Frankfurt  2008 .

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Tim Wihl

ter, und hinreichender, das heißt aber niemals völlig bestimmter, Zentralbegriff der  Theorie demokratischer Verfassungen dienen sollte, möchte ich hier tentativ plausibel machen . Die Freiheit erscheint dann als Sekundärbegriff einer Verfassungstheorie, die sich im Prinzipiellen auf die Gleichheit konzentriert, um die Bestimmung  der Freiheit in programmatischer Bescheidenheit weitgehend dem demokratischen  Zufall zu überlassen . Dabei  gehe  ich  in  einem  (gewiss  ebenso  programmatischen  wie  rhetorischen)  Dreischritt vor . Zuerst werde ich einige Worte über die begriffsontologische Struktur demokratischer Freiheitsrechte verlieren (1 .) . Diese Strukturanalyse soll einen dreifach auf die  Gleichheit bezogenen inneren Aufbau offenbaren und damit zu einer Positionsbestimmung der Gleichheit in einer Typologie der Rechte überleiten (2 .) . Drittens suche ich den Bogen zum Konstitutionalismusproblem zu schlagen, indem ich vorschlage, dessen Kernfrage nach dem Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten mit Bezug auf die dann skizzierte Gleichheitsvorstellung zu beantworten . Damit  möchte ich eine Lösung des so genannten Problems der Gleichursprünglichkeit, wie  es kanonisch von Habermas formuliert worden ist, nahe legen, die auf einer Temporalisierung der Kantischen Begrifflichkeit von transzendentalen und transzendenten  Aussagen5  in  Hegelianischer  Absicht  beruht  (3 .) .  In  einem  Ausblick  können  zum  einen einige erste institutionelle Implikationen benannt werden, die von der „reinen“  Rechtsphilosophie  zur  Verfassungstheorie  sensu  stricto  überleiten .  Andererseits eröffnet sich vor dem Horizont der Temporalisierung eine neue Möglichkeit,  den gegenwärtigen Sinn von Verfassungstheorie überhaupt zu bestimmen, nämlich  im Dreieck der berühmten drei kantischen Fragen nach Wissenkönnen, Tunsollen  und Hoffendürfen (4 .) . Ein wichtiger Referenzpunkt wird Habermas´ Rechtstheorie sein, über die man  heute zwar in bestimmter Negation hinausgehen, hinter die man aber ohne konservative Absicht nicht zurück kann . 1   dIe GleIchheIt  der freIheIt –   das  dreIfach  eGalItäre  demokratIsche freIheItsrecht Liberale Rechte6 wie das Eigentum, die Meinungsfreiheit oder das Recht auf Privatsphäre sind in dreifacher Hinsicht egalitär strukturiert7: Erstens sind sie begrifflich-formal Rechte und keine Privilegien . Sie kommen jedem Menschen ohne eine irgend geartete weitere Qualifikation zu, im Sinne einer  rein arithmetischen Personen-Gleichheit bei Aristoteles8 . Inwiefern nur Menschen  5  6  7 

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2 . Aufl ., Akademie-Ausgabe Bd . III, Berlin 1787, S . 235 f . Rechte betrachte ich hier vereinfachend als objektive Rechtsnormen, die sich politisch-soziologisch anders funktionalisieren lassen, aber keine spezifizierende rechtstheoretische Beschreibung  jenseits einer gradualisierten Vagheitsdiagnose erfordern . Die im Folgenden vorgeschlagene Analyse entspricht nicht der Erläuterung der sog . Formbestimmungen  des  Rechts  durch  Habermas,  vgl .  ders.,  Faktizität  und  Geltung,  Frankfurt  1992,  S . 143 ff ., die Kants Legalitätsbegriff durch sozialpsychologische Überlegungen zur postkonventionell-vernunftmoralischen Entlastungsfunktion des Rechts anreichert . Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b–1132b .

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Rechtsträger sein können oder ob ein Fall von Speziesismus vorliegt, tut hier nichts  zur Sache; denn bezogen auf die epistemische Gattung sind die Rechte universal,  zumindest im klassischen moralischen Verständnis politisch positivierter Rechte des  Liberalismus, von dem ich hier ausgehe . Nach Montesquieu9, Rousseau10 und der  Französischen Erklärung der Menschenrechte ist uns ein anderes Verständnis von  liberalen  Rechten  schlechthin  versagt .  Die  hier  implizierte  Gleichheit  ist  in  den  Rang  einer  konstitutiven  Bedingung  der  Rechtsform  überhaupt  erhoben  worden .  Sie ist eine Bedingung der Möglichkeit subjektiver Rechte geworden und damit in  Kantischer Begrifflichkeit ein transzendentales Apriori der Freiheitsrechte . Abstrahiert  wird  namentlich  von  jeder  bedeutungsvollen  Differenzierung  menschlicher  Identitäten . Ohne diese transzendentale Gleichheit der Identität aller Bürger oder  Menschen11 existiert keine subjektive Freiheit im modernen Sinne . Ich werde von  der notwendigen identitären Gleichheit als Transzendentalbedingung des demokratischen  Freiheitsrechts sprechen . Diese verortet Rechte im deonto-logischen Vor-Raum symbolischer Formen und macht sie damit zu einer Instanz des philosophischen Sehens  gemäß platonischer Rationalität . Zweitens existieren Rechte aber auch in der Zeit . Sie sind deshalb nicht schon  dann hinreichend egalitär, wenn sie in einem idealen Sollensreich jedermann zustehen . Die richtige Grundintuition der Verfassungstheorie von Jürgen Habermas besteht gerade darin, dass liberale Rechte ohne republikanisch-demokratische Vermittlung, das heißt vorpolitisch überhaupt nicht existieren .12 Hier hat Hegels Wort von  der „Ohnmacht des Sollens“ einmal mehr seinen guten Sinn . Es gilt nämlich insbesondere auch für ein moralistisches Fehlverständnis schon positivierter Rechte, nicht  bloß für sittlich letzthin unfundierte moralische Postulate .  Wenn sie in der Zeit existieren sollen, müssen Rechte gerade auch mit der Tatsache umgehen können, dass Menschen verschieden sind . Was Habermas erstmals in  der Diskussion um Multikulturalismus und eine Politik der Anerkennung einräumt,  dass im Begriff der staatsbürgerlichen Gleichheit sorgfältiger zwischen der Dimension der Diskriminierung als Exklusion aus einer Gemeinschaft (verwehrte Mitgliedschaft) und der sozialen Gerechtigkeit zu unterscheiden sei, verdient zugleich anders, höher und tiefer gehängt zu werden .13  Erstens muss schon zwischen der rechtstranszendentalen Gleichheit der Identität und der Gleichheit in der realen Verschiedenheit der Identitäten deutlich unterschieden werden .14 Die fehlende Äquivokation von Nichtprivilegierung und Nicht9  Montesquieu, De l´esprit des lois, Paris 1748, 8,3 . 10  Égalité  morale,  civile,  légitime;  vgl .  dazu  Dann,  Gleichheit,  in:  Koselleck  u . a .,  Geschichtliche  Grundbegriffe, Bd . 2, Stuttgart 1975, S . 1015 f . 11  Moderne Verfassungen tragen unabhängig von ihrer republikanischen Verankerung in einer Bürgergemeinschaft stets eine Universalisierungstendenz in sich, ohne dass damit gleich kosmopolitische Ansprüche einklagbar würden . 12  Das  gilt  völlig  unbeschadet  der  Tatsache,  dass  der  „deliberative“  demokratische  Prozess  des  prozeduralistischen Rechtsparadigmas als Vermittlungsglied der liberalen und republikanischen  Theorie epistemisch überoptimistisch ist und gerade durch die kognitiven Erwartungen an ihn  zu expertokratischen Missverständnissen, wie sie Habermas selbst beklagt, hinreichend Anlass  gibt . Siehe unten 3, 4 . 13  Habermas, Kulturelle Gleichbehandlung – und die Grenzen des Postmodernen Liberalismus, in:  ders ., Philosophische Texte, Bd . 4, Frankfurt 2009, S . 236 f . 14  Hier  mag  auch  die  Hegelsche  Dialektik  vom  Abstrakt-Universalen  und  Konkret-Partikularen 

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diskriminierung durch Recht mag kontraintuitiv sein . Doch nicht jede Nichtprivilegierung wirkt auch nicht diskriminierend . Auch nach der Etablierung der modernen  Rechtsform kann ein Recht inhärent ungleich sein, und zwar nicht allein in seiner  Verteilungswirkung, sondern schon, um mit Habermas zu sprechen, in seiner Inklusionswirkung – oder, entsprechend der klassischen Trias nach Proudhon15, hinsichtlich der égalité civique et politique im Gegensatz zur erfüllten égalité des personnes  einerseits, der unbeachteten égalité des conditions et des fortunes andererseits . Einen bereits vorderhand verdächtigen Kandidaten stellt in diesem Zusammenhang  der Ehe- und Familienartikel des Grundgesetzes dar, der sogar explizit-intentional  Identitäten  diskriminiert .  Andere  Verfassungsartikel  diskriminieren  eher  implizitintentional wie das Berufsgrundrecht (andere als Erwerbsarbeit, insbesondere durch  Frauen)  oder  implizit-nichtintentional  wie  das  Recht  auf  Religionsfreiheit  (in  der  faktischen Privilegierung hergekommener Glaubensrichtungen) oder die Meinungsfreiheit (durch die faktische Verstärkung bestehender Ungleichheiten in der Artikulationschance  zum  Beispiel  ethnischer  Minderheiten) .  Weitere  Beispiele  für  die  durch  Rechte  (kausal16)  verwehrte  Anerkennung  von  Identitäten  ließen  sich  unschwer nennen . Zweitens betrifft die Gleichheit in der Differenz nicht nur den Mitgliedschaftsstatus als Staatsbürger . Die In- und Exklusionsrhetorik führt hier wie auch sonst in  die Irre: Betroffen ist nicht ein Interesse an Kollektivität, sondern an Individualität .  Es geht um nichts weniger als das instantiell Anerkennung heischende Authentizitätsideal der Moderne, das sich dank der Dialektik von Individualisierung und egalitärer Solidarisierung zunehmend im Wege nichtdiskriminierender Freiheitsrechte  Geltung verschafft .17  Drittens  ist  aber  auf  der  anderen  Seite  zu  konstatieren,  dass  immer  nur  eine  begrenzte, wenn auch tendenziell zunehmende Zahl von Identitäten rechtliche Anerkennung einfordern kann . Umverteilung, also soziale Gleichheit mag solche Anerkennungskonflikte  oft  begrenzen,  was  jedoch  den  analytischen  Sinn  der  Unterscheidung nicht mindert .18  Wer also jeweils gemeint ist, wenn im Rechtstext von „jedem“ die Rede ist, ist  alles andere als vorentschieden . Wer Eigentümer sein darf, wer seine Meinung frei  äußern kann und wer sich ungestört ins Private zurückziehen möchte, ist von vielerlei faktischen Umständen abhängig, die nur teilweise autonom steuerbar sind . Wenn  Rechte aber tatsächlich bestehen sollen, müssen sie auch auf die Gleichheit in der  Differenz Acht geben . Statt um die Rechtsform geht es jetzt um das Rechtskriterium . Zu  beachten ist, dass ich an dieser Stelle nichts über die reale oder wünschbare Verteilung von Freiheiten aussage . Mit dem Ausdruck „Kriterium“ wird an den etymolo-

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Anwendung finden . Allerdings wäre die zuletzt genannte transzendente Gleichheit ein Fall des  „Konkret-Universalen“, dessen logische Widersprüchlichkeit hier gerade temporal aufgehoben  wird . Die Anregung verdanke ich Upendra Baxi; s . auch ders., The Future of Human Rights,  Oxford 2008, S . 167 ff . Vgl . Dann (Fn . 10), S . 1033 . Nicht in jedem Fall „zurechenbar“ . Der Stellenwert der Zurechenbarkeit für eine begriffsontologische Beschreibung der Rechte ist mir noch unklar . Vgl . auch Brunkhorst, Demokratie und Differenz, Frankfurt 1994 . Zu solchen Fragen Fraser/Honneth, Umverteilung oder Anerkennung?, Frankfurt 2003 .

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gischen Ursprung angeknüpft: krinein bedeutet „trennen“, im Gegensatz zur „Form“  als „Geformtsein“ ein Prozessbegriff . Dass Rechte diskriminierungsfrei jedem zustehen, lässt sich zum Teil sogar nur  durch unterschiedliche Behandlung erreichen . Die Privatsphäre des Mannes kann  ein  Ort  öffentlich  zu  thematisierenden  Leidens  der  Frau  sein,  um  ein  klassisches  Fallbeispiel aufzugreifen . Statt als durch Abwägung aufzulösender Konflikt zweier  Freiheitsrechte  lässt  sich  die  Situation  auch  als  Missachtung  der  rechtskriterialen  Dimension eines Freiheitsrechtes deuten . Die demokratische Gesetzgebung, die das  Recht auf Privatsphäre ausgestaltet und ihm damit jenseits der polemischen Emanzipationsfunktion erst zur wahren Existenz verhilft, kann nämlich diskriminierend  wirken oder eben nicht .  Die Beachtung der von mir so genannten differentiellen Gleichheit stellt die zweite  Egalitätsbedingung der Freiheitsrechte dar . Statt um eine irgendwie metaphysischnoumenal gegebene Gleichheit wie auf der ersten Stufe geht es hier um eine Befreiung zur Gleichheit als historisch-phainomenalen Prozess . Die differentielle Gleichheit der Antidiskriminierung, die theoretisch auf beliebige Freiheitsrechte einwirken  kann, besteht, um die Chance zum Anderssein offen zu halten . Sie trifft aber keine  Vorentscheidung über die Verteilung der Freiheit . Insoweit ist sie ganz unbestimmt . Das gilt noch in anderer Hinsicht: Welche Kriterien eine in der Struktur subjektiver Rechte zu achtende Differenz begründen, ist historisch wandelbar .19 Das kann  der  Status  als  Jude  oder  Muslimin  sein,  als  Frau  oder  als  alter  Mensch .  Da  diese  historische Unbestimmtheit des Rechtskriteriums die abstrakte Rechtsform immer  wieder neu transzendiert, werde ich von der differentiellen Gleichheit als Transzendenzbedingung des subjektiven Rechtes sprechen .20 Wichtig ist zu sehen, dass diese  wandelbare kriteriale Differenzierung der Rechte tatsächlich ihrer internen Struktur  eignet und nicht einfach extern neben dem Recht stehende historische Kontingenzen  bezeichnet .  Kontingenz  muss  gemäß  dieser  Rechtskonzeption  schon  in  die  Strukturbeschreibung des Rechts Eingang finden . Dieser immanenten Transzendenz  der  Rechte  liegt  zwar  für  mich  ein  begriffsrealistisches  Verständnis  von  Rechten21  zugrunde; doch ist es unschädlich, von dieser konzeptionellen Vorentscheidung zu  abstrahieren . Entscheidend ist bloß, dass der demokratische Prozess hier nicht konstitutionalistisch super-, sondern nur prä-determiniert ist: Die Demokratie kann sich  einmal als Erkenntnisverfahren im besten alt-pragmatistischen Sinne bewähren22 –  oder  versagen  (s . u .  zu  den  institutionellen  Folgerungen) .  Jedenfalls  begründet  es  schon die egalitäre Struktur der Rechte der liberalen Demokratie, dass sich jemand  finden  muss,  der  ermittelt,  welche  Diskriminierungen  rechtskriterial  wirksam  sein  müssen, damit die Freiheitsrechte nicht versteinern . Rechtspetrifizierung hat anti19  Zum umgekehrten Fall der Temporalität der Exklusionskriterien vom Wahlrecht s . auch Brandom, Towards reconciling two heroes: Habermas and Hegel, Manuskript 2009, Part two . 20  Dieser Ausdruck entspricht zudem mit seinem krypto-religiösen Beiklang der unter 4 . thematisierten Hoffnungsdimension der Rechte . 21  Lose inspiriert von Bruno Latours Konzept des „troisième“, vgl . ders ., Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt 2008, und ergänzt um die Einsicht, dass Rechte erst im begrifflich und historisch  dialektischen Zusammenhang mit der Gesetzgebung „wahr“, d . h . existent werden .  22  Gemäß der umstrittenen Annahme einer politischen Implikation der pragmatistischen Erkenntnismethode;  s .  einerseits  Hilary  Putnam,  andererseits  Richard  Rorty,  dazu  Westbrook,  Liberal  Democracy, in: Shook/Margolis, A Companion to Pragmatism, Chichester 2009, S . 290 .

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egalitäre Konsequenzen und untergräbt das Fundament der Demokratie selbst . Umgekehrt: Demokratie ermöglicht erst die Einlösung des Gleichheitsversprechens der  liberalen Rechte in der Zeit . Die Demokratie ist der verzeitlichte Rechtsstaat (modern-egalitären Zuschnitts) . Während  die  formal-apriorische  Präsumtion  der  identitären  Gleichheit  allerhöchstens  die  Anerkennung  als  biologischer  Mensch  (dessen  nähere  Definition  doch besonders kontrovers bleibt) und die historisch-aposteriorische Antidiskriminierung der differentiellen Gleichheit die Anerkennung als im Anderssein gleicher  Bürger mit sich bringt, ist die Anerkennung als (im weitesten Sinn) anders habender  Bürger damit noch nicht gesichert . Der Zuweisungsgehalt der Freiheiten, also der  Rechtsinhalt im Kontrast zu Rechtsform und Rechtskriterium, steht wiederum, drittens,  unter  einem  strukturverschiedenen  egalitären  Postulat .  Im  egalitaristischen  Kontinuum sind wir jetzt von der analytischen Notwendigkeit, der Seinsbedingung,  über die historische Daseinsbedingung zur schwächsten Voraussetzung, dem moralischen  Postulat,  fortgeschritten .  Die  Bewegung  ist  zugleich  eine  vom  reinen  Sein23  über die Vermittlung von Sein und Sollen zum reinen Sollen . Es ist eben nicht mehr als (umstrittenerweise) moralisch geboten, dass Rechtsinhalte, vor allem das Eigentum, gleich verteilt werden . Hier ist offensichtlich der demokratische Prozess gefordert, den freilich niemand daran hindern kann noch sollte,  sich eine „Verfassungsidentität“ zuzulegen, die es ihm jedenfalls gebietet, jeder Bürgerin  die  Subsistenz  zu  sichern,  wie  dies  die  Menschenwürde  des  Grundgesetzes  leistet .  Aber  internes  Strukturmoment  der  demokratischen  Freiheitsrechte  ist  die  soziale Gleichheit, also die Verteilungsfrage nicht . Wie ein Verfassungsstaat mit dem  Eigentum und anderen Freiheiten als Verteilungsmassen umgeht, ist der Freiraum  der demokratischen Politik . Die materialistische Ideologiekritik von Marx am gleichen bürgerlichen Freiheitsrecht24 wird eben traditionell allein von der politischen  Linken geteilt, und auch das nur in unterschiedlicher Konsequenz . Nach allem wird deutlich, dass die in der juristischen Diskussion überkommene  Differenzierung zwischen formaler und materialer Gleichheit mangels Trennschärfe  wenig taugt . Denn sie vermischt in verunklarender Weise die verschiedenen Stufen  miteinander .  Manchmal  bedeutet  formale  Gleichbehandlung  Nichtprivilegierung,  manchmal  auch  Nichtdiskriminierung .  „Materiale  Gleichheit“  kann  ebenfalls  sowohl Nichtdiskriminierung als auch nur soziale Gleichheit bezeichnen . Die dreifache Teilung des Gleichheitsbegriffs in Orientierung an der Struktur demokratischer  subjektiver  Rechte  ist  dagegen  vorzuziehen,  auch  gegenüber  einer  marxistischen  Rechtskritik, die sich zu Recht gegen versteinernde Essentialisierung und unpolitische Ökonomieblindheit wendet, ohne allerdings das Befreiungsmoment der permanenten Gleichheitsrevolution hinreichend zu würdigen, die sich nichts anderem  als der Verschränkung von identitärer und differentieller Gleichheit in der Form des  subjektiven Rechts verdankt25 .

23  Unter der begriffsrealistischen Prämisse . 24  Vgl . z . B . Marx, Zur Judenfrage, Paris 1844 . 25  Diese Missachtung der Emanzipation durch „Rechte gegen Recht“ erstaunt vor allem, weil der  Marxismus  eindeutig  keine  Gleichheits-,  sondern  eine  Freiheitsphilosophie  ist;  vgl .  dazu  nur  Marx, Kritik des Gothaer Programms, 1875 .

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2  dIe posItIon  der GleIchheIt  Im system  der rechte Bisher wurde lediglich gezeigt, wie die Gleichheit dreifach in der Struktur der liberalen  Rechte  zum  Tragen  kommt:  transzendental,  transzendent  und  (extern)  moralisch .  Jedem  dieser  begriffsontologischen  Elemente  entspricht  indes  auch  eine  bestimmte Form der verfassungstheoretischen Kritik:  Wer  die  identitäre  Rechtspersonengleichheit  einklagt,  argumentiert  intern .  Er  weist auf einen evident (zeitlos) bestehenden Widerspruch zwischen der sogar verschriftlichten Selbstbeschreibung eines Verfassungssystems und dessen tatsächlicher  Gestalt hin . Wer die differentielle Anerkennungsgleichheit einfordert, folgt der Methode der  immanenten Kritik, das heißt, er reflektiert auf die (abstrakt-universalen) egalitären  Versprechen der Verfassung und sieht sie im zunehmenden Konflikt mit einer veränderten  (konkret-partikularen)  Wirklichkeit,  deren  neuen  (konkret-universalen)  Ansprüchen auf Anerkennung ehedem „untadelige“ Verfassungs- und Rechtssätze nicht  mehr genügen .26  Dagegen kritisiert extern, wer von der Warte einer egalitaristischen Philosophie  aus spricht .27 Als Vertreterin irgendeiner Spielart der Gleichverteilung (of what? Limited by what?) ergreift die Philosophin mit guten Gründen Position im politischen  Prozess . Damit bewegt sie sich aber außerhalb der Sphäre dessen, was die Verfassung  determinieren sollte . Hier gilt der von Rorty beschworene „Vorrang der Demokratie  vor der Philosophie“ .28 Wenn so der Rahmen abgesteckt ist, in dem eine egalitäre Verfassungstheorie  legitimerweise  einen  Begründungsanspruch  erheben  kann,  wird  gleichzeitig  deutlich, wohin dieser nicht ausgreifen sollte . Als  Zentrum  einer  Verfassungstheorie  verschlingt  die  Gleichheit  die  Rechtsinhalte der liberalen Freiheitsrechte des modernen Konstitutionalismus . Sie stabilisiert  zwar uneingeschränkt deren Rechtsform und fordert die Freiheitsrechte mit der nötigen, demokratisch-epistemologisch begründeten Bescheidenheit samt der zu ihrer  „Ausgestaltung“  ergangenen  Gesetzgebung  zur  permanenten  Rechtfertigung  im  Hinblick  auf  die  Differenzsensibilität  ihrer  mannigfaltigen  Rechtskriterien  heraus .  Aber was die Freiheitsrechte tatsächlich verbürgen sollen, wie sie Freiheit und Unfreiheit jenseits verbotener Ungleichbehandlung zu verteilen haben, dazu schweigt  eine solche Verfassungstheorie beharrlich . Dies lässt sich auch mit der Stellung der Gleichheit im System der Rechte einer  solchen Verfassungstheorie des egalitären Minimalkonstitutionalismus erklären . Dieses System ist konsequent verzeitlicht (temporalisiert): Es wählt drei paradigmatische Grundrechte aus, die ihm für die drei Zeitstufen der Vergangenheit, der  Gegenwart und der Zukunft repräsentativ erscheinen . Sie unterstellt dem Eigentum  als Substanzrecht einen immanenten Vergangenheitsbezug, der Meinungsfreiheit als  Recht der Bestreitung einen Gegenwartsbezug und der Gleichheit als hoffnungsvol26  So im begrifflichen Ansatz auch Brandom (Fn . 19) . 27  Die Differenzierung der drei Formen der Kritik übernehme ich dankbar von Rahel Jaeggi, Kritik  der Lebensformen, bisher unveröff . Manuskript, 2010 . 28  Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders., Solidarität oder Objektivität?,  Stuttgart 1988 .

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lem  Telos-Recht  eine  Zukunftsorientierung . Plakativer physiko-politisch  ließe  sich  das so ausdrücken: Das Eigentum ist statisch-konservativ, die Meinungsfreiheit labilliberal  und  die  Gleichheit  dynamisch-progressiv .  Damit  ist  indessen  nicht  gesagt,  dass diese Rechte nicht ihrerseits die verschiedenen temporalen Dimensionen aufweisen . Eher hat die Assoziation der Zeitstufen mit konkreten Rechten eine heuristische Funktion .29 Die  Substantialität  des  Eigentums  zeigt  aber  zumindest  regulativ  auf,  dass  Rechte  zunächst  einen  unverfügbaren  Kern  haben  sollten .  Hiermit  ist  wiederum  nichts über den Inhalt eines Rechts ausgesagt, sondern nur über dessen Struktur . Es  ist gut möglich, dass sich analog zu dem vorhin dargestellten dreifachen Gleichheitsbezug  der  Freiheitsrechte  ein  solcher  differenzierter  Eigentumsbezug  ausweisen  lässt .  Im  Sinne  des  angedeuteten  hegel-pragmatistischen  Kontinuumsgedankens  wäre dann ein transzendentaler Substanzkern, ein transzendenter Substanzhof und  ein moralisch-politischer Kontingenzinhalt zu unterscheiden . So könnte man zum  Beispiel für die Religionsfreiheit die überkommene Unterscheidung zwischen forum  internum und forum externum präziser ausdifferenzieren, ohne weiter inhaltlich zu  dieser Stellung zu nehmen . Ein ähnlicher Befund ergibt sich für die Meinungsfreiheit als Paradigma . Auch  die Bestreitbarkeit kann als Aspekt verschiedenster Rechte begriffen werden . Das liberale  Paradigma  würde  vor  allem  die  strukturelle  kommunikative  Offenheit  der  Rechte hervorheben . Die Privatsphäre mag als Exempel dienen: Über einen unkommunikativen,  solipsistischen  Kern  hinaus  wird  sie  immer  poröser;  das  nicht  aufgrund einer Abwägung mit konfligierenden Rechten, sondern schon in der zunehmenden Intersubjektivität ihrer eigenen Struktur . Die Sphärentheorie ist vielleicht  Ausdruck dieses Gedankens . Inwiefern die drei paradigmatischen Beschreibungen eines Rechts sich komplementär zueinander verhalten, wird sich erweisen müssen . Orthogonalität ist möglich30, Widersprüchlichkeit desgleichen . Widersprüche liefen zwar dem modernen Anspruch an systematisches Philosophieren zuwider; sie wären dennoch leicht demokratisch auflösbar . Denn die Gleichheit hat in der Konzeption einfach deshalb die Gesamtprärogative, weil die Zukunft  immer  Recht  hat .  „Alles  Ständische  und  Stehende  verdampft,  alles  Heilige  wird  entweiht .“31 3  dIe verfassunG  der GleIchheIt –  eGalItärer konstItutIonalIsmus Eine Verfassung, welche die Gleichheit ins Zentrum rückt, ergreift weder Partei für  die Demokratie noch für den Rechtsstaat . Lange hat man geglaubt, die Demokratie  sei  irgendwie  gleichheitsaffiner,  der  Rechtsstaat  irgendwie  freiheitsgeneigter .  Das  trifft nicht zu .

29  Unabhängig  von  der  Temporalisierung  findet  sich  die  Idee  der  Gleichheit  als  eines  „grundrechtsrangigen  Aspekts  eines  jeden  subjektiven  Rechts“  schon  bei  Luhmann,  Grundrechte  als  Institution, Berlin 2009, S . 167 . 30  Dank an Daniel Halberstam für die hilfreiche mathematische Metapher . 31  Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848, Teil I .

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Es hat gute Gründe, dass die Demokratie selten ohne Attribut daherkommt . Am  beliebtesten ist wohl die „liberale Demokratie“ . Sie fängt in treffender Diktion die  Gegenintuition  zu  Carl  Schmitts  notorischer  These  des  Inkompatibilismus  von  Rechtsstaat und Demokratie32 ein .  Wenn  man  die  extremen  Positionen  einer  Verabsolutierung  des  Rechtsstaates  wie etwa bei Hayek33 oder der Verabsolutierung der Demokratie wie bei Jefferson34  einmal beiseite lässt, ergeben sich immer noch unterschiedliche Möglichkeiten, das  Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten synthetisch zu bestimmen .  Den wahrscheinlich am weitesten rezipierten Vorschlag zur Lösung dieses Zentralproblems  des  modernen  Konstitutionalismus,  dessen  ursprüngliche  Frage  nach  der gleichzeitigen Ermöglichung und Zähmung von Politik durch Recht35 so demokratisch reformuliert wurde, stellt die Gleichursprünglichkeitsthese von Jürgen Habermas dar .36 Allerdings finden sich bei Habermas zwei recht unterschiedliche Versionen dieser These: einerseits wird die Praxis der demokratischen Selbstbestimmung  als eine Exhaustion37 der Idee der Rechtsstaatlichkeit begriffen . Andererseits spricht  Habermas von „Ressourcen“, die Rechtsstaat und Demokratie füreinander darstellen, womit auch und gerade das materielle Ergebnis des Prozesses als Voraussetzung  in den Blick genommen wird . Man könnte also die beiden Erzählungen einer materialen und einer materiellen Implikation voneinander unterscheiden .38 Nach beiden  lässt sich der Scheinwiderspruch von Demokratie und Rechtsstaat vermeintlich so  auflösen, dass den zwei Elementen jeweils eine spezifische Form von Autonomie  zugeordnet wird, die diese derart zur Geltung bringen sollen, dass beide einander  „ermöglichen“ . Außer der schon historisch, jedenfalls philosophisch zweifelhaften  modernistischen Ableitung aus einem komplementären Ergänzungsverhältnis von  Recht und Moral („Entlastungsfunktion“ unter Inkaufnahme des Zusammenbruchs  der Identität von Adressaten- und Autorenstatus) ergibt sich aber ein weiteres Kardinalproblem:  Was  heißt  „private“  Autonomie,  was  ist  „öffentliche“  Autonomie  eigentlich? Warum sind gerade private Rechte nötig, um die deliberative Rechtserzeugung zu ermöglichen? Und vor allem: welche? Was privat und was öffentlich sein  soll, wird doch seinerseits vom demokratischen oder konstitutionalisierenden Prozess festgelegt . Es handelt sich hierbei sogar um das Zentralproblem liberaler Demokratien,  das  nur  politisch-ideologisch,  in  der  Zeit,  immer  wieder  vorläufig  gelöst  werden kann . Deshalb verdiente auch die zur Begründung angegebene zentrale Be32  Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1926 . 33  Hayek, Law, Legislation, and Liberty, Chicago 1978 . 34  Vgl . z . B . „the law of the majority is the natural law of every society of men“, Dumbauld, The  Political Writings of Thomas Jefferson, New York 1955, S . 83 . 35  Möllers, Verfassung – Verfassunggebung – Konstitutionalisierung . Begriffe der Verfassung in Europa, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2 . A ., Berlin 2009, S . 227 ff . 36  Habermas  (Fn . 7),  S . 112 ff .,  472 ff .;  ders.,  Über  den  internen  Zusammenhang  von  Rechtsstaat  und Demokratie, in: Philosophische Texte, Bd . 4, Frankfurt 2009, S . 140 ff .; am ausgefeiltesten:  ders., Rechtsstaat und Demokratie – Eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?,  a . a . O ., S . 152 ff . 37  Zu diesem Exhaustionsprinzip s . Reinhardt, Der Überschuss der Gerechtigkeit, Weilerswist 2009 .  Im deutschen Verfassungsrecht, das sich von der Prinzipientheorie Dworkins und Alexys beeinflussen lässt, wird häufig implizit oder explizit mit einem „Optimierungsgebot“ gearbeitet, das  allerdings liberal vereinseitigt und konfliktignorant daherkommt . 38  Vgl . einerseits Habermas, Rechtsstaat (Fn . 36), S . 173, andererseits S . 175 .

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hauptung, dass die eine Autonomie ohne die andere jeweils nicht existieren könne,  einen  größeren  Erklärungsaufwand .  Es  ist  durchaus  bezeichnend,  dass  Habermas  wiederholt  das  Beispiel  feministischer  Gleichstellungspolitiken  heranzieht .  Denn  bei der Ausgestaltung der Gleichheitsrechte ist es klar, dass man sich zunächst über  den Gegenstand einigen muss: In welcher Hinsicht verdienen Frauen Gleich- oder  gerade Ungleichbehandlung? Das ist aber anscheinend bei den Freiheitsrechten anders:  Die  Art  und  das  Maß  der  Einräumung  eines  Abwehr-,  Teilhabe-  oder  Leistungsrechts gegen den Staat ist gewiss öffentlich bestimmbar, ohne dass den Bürgern  ein solches Recht „überhaupt“ schon privat zustünde . Den indischen Bauern kann  man  sich  lebhaft  vorstellen,  der  kaum  über  private  Autonomie  in  einem  bedeutungsvollen  Sinne  verfügt  und  all  seine  Hoffnungen  in  die  demokratische  Politik  legt – oder auch sich von dieser gerade zurückzieht . Es wird nicht deutlich, worin  hier der „interne“ im Sinne von analytische Zusammenhang bestehen sollte; jenseits  von interessanten empirischen Fragen, die von Habermas aber gerade nicht beantwortet werden . Wollte Habermas hingegen nur auf den doppelt objektiven Rechtscharakter von Rechten hinaus, wäre dieser Zusammenhang zwar intern, aber trivial . Die interne Verbindung von Rechtsstaat und Demokratie im philosophischen  Sinne, vor aller empirischen Sozialpsychologie und Soziologie, wird man nicht in  dem gutartigen Zirkel zweier aus guten demokratischen Gründen unbestimmter Autonomiebegriffe, sondern im Gleichheitsbegriff suchen müssen . Dies aber nicht in  der  Weise,  wie  Habermas  es  bei  der  Entfaltung  seines  Autonomiearguments  vollführt: Er vermischt äußerst folgenreich die identitäre Gleichheit der Rechtsform („Es  gibt kein Recht ohne die private Autonomie von Rechtspersonen überhaupt .“ einerseits) und die soziale Gleichheit („Darin spricht sich die Intuition aus, dass einerseits  die Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie nur dann einen angemessenen  Gebrauch machen können, wenn sie aufgrund einer gleichmäßig gesicherten privaten Autonomie hinreichend unabhängig sind“ andererseits) miteinander, ohne der  differentiellen Gleichheit hinreichende Beachtung zu schenken .39 Er spielt das liberale und das sozialstaatliche Rechtsparadigma gegeneinander aus, indem er ihnen  jeweils unterschiedliche Freiheitsbegriffe zuschreibt . Damit sind wir dann aber auf  der  Ebene  der  demokratisch-politischen  Auseinandersetzung,  vielleicht  ganz  im  Sinne von Habermas´ stets nur rhetorisch verhohlener Neigung zum Republikanismus . Das relativiert im Vorbeigehen immerhin ganz zutreffend die Unterscheidung  zwischen objektivem Recht und subjektiven Rechten, indem die Durchsetzung der  privaten Freiheit auf die gleiche Ebene gehoben wird wie die Praxis der öffentlichen  Freiheit . Trotzdem wäre es sinnvoll, die Transzendentalbedingung des demokratischen Freiheitsrechts als solche zum Ausgangspunkt zu nehmen . Die  Transzendentalbedingung  der  identitären  Gleichheit  ist  uneingeschränkt  universalistisch . Ihre Universalisierung läuft als einzige tatsächlich auf einen strikten  Universalismus der Rechte hinaus . In diesem Sinne füllt sie vollkommen klassischmodern einen komplementären logischen Raum, in dem sogar die approximative  Verwirklichung  von  Unmöglichem  gedacht  werden  kann .  Freilich  ist  damit  noch  nicht zu viel gewonnen; bezieht sich dieser Universalismus doch nur auf die Rechtsform als solche . Immerhin ermöglicht er aber, die restlose Verwirklichung von Moral 

39  Habermas (Fn . 36), Zusammenhang, S . 149 .

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in rechtlicher Sittlichkeit als reale Chance zu denken, weil jene als ein alternatives  Sein ganz im Sinne des moralischen Konstruktivismus fingiert werden kann . Die Transzendentalbedingung ist wiederum scharf von der Transzendenzbedingung der Rechte zu trennen . Die Verwirklichung von Gleichberechtigung in der Zeit  ist nie abschließbar und daher auch nicht tauglich als realisierbare regulative Idee in  postkantianischem Verständnis .40 Eher verständlich wird sie in einem neohegelianischen Vokabular der Vermittlung von Sein und Sollen in demokratischer Sittlichkeit . Anders als die vollkommene soziale Gleichheit ist diese Gleichberechtigung indessen der Auftrag der Demokratie . Nicht der Rechtsstaat kann die Berücksichtigung  der individuellen Differenzen sichern, sondern nur der demokratische Prozess . Man  kann sagen: Wenn der Rechtsstaat wesentlich von der Identität lebt, dann besteht  Demokratie  hauptsächlich  aus  der  Aufgabe  der  Unterscheidung .  „Draw  a  distinction“ (G . S . Brown) wird das demokratische Motto schlechthin . Wenn das sinnvollerweise mit einer postmodernen Wendung in der politischen Theorie gemeint sein  sollte – then be it . Post-postmodern ist diese Wendung in formaler Hinsicht, weil sie  das  „Paradox“  der  Universalisierung  durch  Differenzierung  mittels  Temporalisierung aufhebt .41 Der Rechtsstaat ist als Gewährleistung von Identität in der Rechtsform die Transzendentalbedingung der Demokratie . Ohne die Abschaffung von Privilegien kann Demokratie  nicht sein . Die Demokratie ist als Durchsetzung der Anerkennung von Differenz die Transzendenzbedingung des Rechtsstaates .  Die  formalen  Gleichheitsgarantien  des Rechtsstaates  erhalten ihre Bedeutung nur durch ihre kontinuierliche demokratische Revision in der  Zeit . Die transzendente Universalisierung ist allein ein demokratisches Projekt, wenn  auch auf epistemischer Grundlage . Sie wird in unterschiedlichen Gesellschaften verschiedene  Ergebnisse  zeitigen .  Kontingenz  ist  Bestandteil  ihres  Codes,  der  zukunftsoffen bleibt und die pluralistische Dimension der Demokratie einlöst, während  der Monismus der Rechtsform die Bedingung der Möglichkeit der Demokratie bleibt . Durch diese Klarstellung wird es auch möglich, zwei weit verbreitete Missverständnisse der Gleichheit in der Verfassungstheorie aufzulösen: Wenn  Identität  als  Transzendenzbedingung  der  Demokratie  missverstanden  wird, dann wird sie approximativ mit Homogenität gleichgesetzt, und es kommt zu  dem  so  wirkmächtigen  kategorial  verfehlten,  essentialistischen,  anti-republikanischen Identitäts-/Homogenitätsdiskurs .42 Umgekehrt kann Gleichberechtigung als Transzendentalbedingung missdeutet  werden, was zu ihrer Reduzierung auf die Sinnvariante der Gleichheit in der Rechtsform („Gleich-Berechtigung“) führt . Eine weitere Konsequenz des ausgebreiteten Ansatzes ist die klarere Differenzierung zwischen Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat . Wenn man sich jeweils auf  40  Vgl . zur Verwirklichung gleicher Freiheit Wellmer, Freiheitsmodelle in der modernen Welt, in:  ders., Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt 1993, S . 52; Reinhardt, Kontrafaktische  Annahmen, in: Bung/Valerius/Ziemann, Normativität und Rechtskritik, Stuttgart 2007, S . 226 ff . 41  Vielleicht ist das mit der Idee eines reiterative universalism gemeint, wie sie Michael Walzer formuliert hat, vgl . ders ., Nation and Universe, in: Thinking politically, New Haven 2009, S . 183 ff . 42  Unter anderem gegen Teile der Schmitt-Schule zu Recht Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, Berlin 2008 .

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die in Rede stehende Variante des Gleichheitsbegriffs besinnt, lassen sich die hybriden  Konzepte  der  materialen  Gleichheit,  der  substantiellen  Demokratie  oder  des  materiellen  Rechtsstaates  verabschieden .  Überlegungen  zur  sozialen  Gerechtigkeit  werden in die Moralphilosophie und den demokratischen Prozess verwiesen .43 4   ausBlIck: dIe verfassunGstheorIe  der GleIchheIt –   eGalItärer mInImalkonstItutIonalIsmus Die Verfassungstheorie schlägt die Brücke zwischen politischer Philosophie und Verfassungsrecht .44 Das erlaubt ihr, politisch relativ naive rechtliche Vorschläge zu unterbreiten, die einer bestimmten philosophischen Konzeption der Verfassung entsprechen könnten . Die theoretische Idee eines egalitären Konstitutionalismus in der präsentierten  Gestalt hat in der Verfassungspraxis minimalkonstitutionalistische Folgen . Was ist  damit gemeint? Wenn  der  Rechtsstaat  im  wesentlichen  die  Rechtsform  zu  wahren  hat,  dann  sollte es die primäre Aufgabe eines Verfassungsgerichts sein, genau das zu kontrollieren . Die Kontrolle des Privilegierungsverbots ist dabei aber kaum identisch mit der  Exekution des Willkürverbots des Artikels 3 I Grundgesetz, der zum Lieblingsgrundrecht der Steuerrechtler verkommen zu sein scheint .45 Dessen Gehalt, der nach Luhmann heute in einem umfassenden Rationalitätsvorbehalt der Gesetzgebung liegt46,  lässt sich wohl ohne größere Verluste auf das Einzelfallgesetzverbot einerseits, das  Verbot der Diskriminierung anhand verdächtiger Kriterien (Artikel 3 III GG) andererseits reduzieren . Der zweite Punkt betrifft dann aber schon wieder die Rechtskriterien, die zuerst der demokratische Prozess definieren muss . Da es zumindest hier  darum geht, einen „vernünftigen Konsens“ (Rawls) herzustellen, also die epistemische Dimension der Demokratie gefragt ist, sollte auf der zweiten Stufe mindestens  eine  Verfahrenskontrolle  stattfinden .  Es  kann  geschehen,  dass  der  demokratische  Prozess bei der Anwendung oder gar schon der Definition der Diskriminierungskriterien versagt . Dies darf dann im Rahmen der Normenkontrolle richterlich korrigiert werden . Anders als in der prominenten Theorie von John Hart Ely wird hier  also  nicht  umfassend  die  Repräsentativität  des  demokratischen  Verfahrens  verstärkt47, sondern (nur) die Anerkennung aller Bürger als gleich in ihrem Anderssein  gewährleistet . Dagegen fällt die Definition der Rechtsinhalte der Freiheitsrechte aus der Kompetenz  des  Verfassungsgerichts  heraus .  Hier  ist  bloß  die  Dimension  der  sozialen  Gleichheit oder Gerechtigkeit betroffen, über die kein vernünftiger Konsens herzu43  Vielleicht sollte man auch wieder einmal „unbelastet von Weimar“, unbelastet vom „sozialen  Rechtsstaat“ des verirrten Demokraten Hermann Heller neu beginnen . Vgl . Heller, Staatslehre,  Leiden 1934 . 44  S . dazu ausführlich Möllers, Die drei Gewalten, Weilerswist 2009, Einleitung . 45  Vgl . nur die plausible Kritik von Lepsius am BVerfG-Urteil zur Pendlerpauschale, JZ 2009, S . 260 .  Eine dezidiert andere Bewertung von Art . 3 I GG als sinnvolles Gebot normativer Gleichbehandlung individueller Interessen bei Huster, Rechte und Ziele, Berlin 1993 . 46  I . S . einer Begründungskontrolle der Staatsentscheidungen, in: Luhmann (Fn . 29), S . 162 ff . 47  Ely, Democracy and Distrust, Cambridge (MA) 1980 .

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stellen ist, sondern nur ein vernünftiger Dissens herrschen kann . Vernünftig nicht  nur  wegen  der  „Tatsache  des  Pluralismus“  der  Gerechtigkeitsüberzeugungen,  sondern auch, weil die ständige Aushandlung dieser Fragen das Elixier der Demokratie  bildet . In der verfassungspolitischen Stoßrichtung befindet sich meine Konzeption damit im Einklang mit Ideen eines „political constitutionalism“ wie bei Richard Bellamy48 oder überhaupt einem aufgeklärten Political Turn der Verfassungstheorie49,  der  mit  einer  Tendenzwende  zum  „Politischen“  in  Schmitts  Sinne  wenig  gemein  hat .50 Allerdings ist sie einerseits gleichheitszentrierter, andererseits auch durchaus  offen  für  die  Definition  von  kollektiven  Identitäten  in  der  Verfassung .  Zwar  sind  diese in der Moderne eher suspekt; aber es ist nachvollziehbar, dass eine Gesellschaft  im Hinblick auf einen Kernbereich von Freiheitsrechten nach der Gewissheit einer  „Verfassungsidentität“ strebt . Das kann unter dem Grundgesetz der Menschenwürdekern der Freiheitsrechte sein, unter den EU-Verträgen der antidiskriminatorische  Kern der Grundfreiheiten . Sobald wir über einen „relativen Wesensgehalt“ oder Abwägung zu sprechen beginnen, wird es allerdings heikel, ein wenig demokratisches  Gremium zu befassen, auch aus Gründen der Wissensverteilung . Die Verfassungstheorie erhält unter der Prämisse des egalitären Minimalkonstitutionalismus eine neue Ausrichtung: Statt die ewigen kantischen Fragen „Was kann  ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ miteinander zu verbinden, wie Jürgen Habermas es in seinem diskursethischen Programm versucht, verschiebt sich der Akzent  zur Frage „Was darf ich hoffen?“ – gemäß dem Schlachtruf Richard Rortys: „Hoffnung statt Erkenntnis“51 . Diese Hoffnung muss anders als bei Adorno, Benjamin oder Derrida52 eine bestimmte Hoffnung sein – eine Hoffnung in die demokratische Politik . Die demokratische  Utopie  ist  dann  nicht  länger  die  Anarchie,53  sondern  eine  Lebensform  von  Gleichen .54

48  Bellamy, Political Constitutionalism: A republican defence of the constitutionality of democracy, Cambridge 2007 . 49  Programmatisch z . B . Waldron, Law and disagreement, Oxford 1999, S . 3 ff . 50  Wie  überhaupt  der  „Linksschmittianismus“  etwa  einer  Chantal  Mouffe  am  Ende  wenig  mit  Schmitt gemeinsam hat . 51  Rorty, Philosophy and Social Hope, London 2000 . 52  Dort  eine  messianische  Hoffnung  auf  Versöhnung  mit  dem  Nicht-Identischen,  vgl .  Menke,  Spiegelungen der Gleichheit, Frankfurt 2004; Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt  2000; Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt 1991 etc . 53  Dafür  in  einer  langen  Traditionslinie  etwa  Kaufmann,  in:  Pauer-Studer/Nagl-Docekal,  Freiheit,  Gleichheit und Autonomie, Wien 2003, S . 274 ff . 54  Damit ist nicht die vorpolitische, nur ethische Polis-Lebensform des antiken Republikanismus  angesprochen, gegen die sich Habermas zu Recht verwahrt, sondern ein anderes Tertium als sein  rationalistisch aufgeladener Prozeduralismus; s . nur Habermas, Rechtsstaat (Fn . 36), S . 161 f .

MicHael GrünberGer* das prInzIp  der  personalen GleIchheIt.   eIne skIzze  des rechtfertIGunGsmodells  von   GleIchBehandlunGspflIchten  prIvater akteure. Das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht im AGG bietet Anlass, über einen Perspektivenwechsel im  Verhältnis von Privatautonomie und Gleichbehandlung nachzudenken . Nach der hier vertretenen  These ist Gleichbehandlung der Grundsatz und Ungleichbehandlung die rechtfertigungsbedürftige,  aber auch rechtfertigungsfähige Ausnahme . Die Präsumtion der Gleichheit führt dazu, dass alle Ungleichbehandlungen privater Akteure begründungspflichtig sind . Das macht es notwendig, ein Rechtfertigungsmodell zu entwickeln, in dem der Ausübung von Privatautonomie besondere Bedeutung  zukommt . Dieses Modell ist gegen die Kritik aus der „Privatrechtsgesellschaft“ zu verteidigen .

1  eIn perspektIvenwechsel 1.1 die GleicHe recHtsFäHiGkeit aller Das  Privatrecht  teilt  mit  dem  Grundsatz  der  gleichen  Rechtsfähigkeit  jedes  Menschen das Grundpostulat der Gleichheitsidee . Noch im späten 18 . Jahrhundert war  der  „status“  der  zentrale  Begriff  des  Personenrechts .1  Damit  wurde  die  rechtliche  Stellung beschrieben, die ein Mensch in einer Gesellschaft aufgrund seiner Zugehörigkeit  zu  einer  Gruppe  innehatte .2  Die  allgemeine  Rechtsfähigkeit  löste  ihn  als  Grundbegriff des Personenrechts ab3: „Jeder Mensch ist rechtsfähig .”4 und: „Jeder  Mensch  hat  angeborne,  schon  durch  die  Vernunft  einleuchtende  Rechte,  und  ist  daher als eine Person zu betrachten . Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung  einer  sich  darauf  beziehenden  Macht,  wird  […]  nicht  gestattet .”5  Was  im  Sächsischen  BGB  von  1863  noch  ausgesprochen  und  im  österreichischen  ABGB  * 

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Der Beitrag markiert eine Momentaufnahme des von der DFG geförderten Projekts „Personale  Gleichheit . Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Privatrecht“ . Seitdem sind die hier skizzierten Gesichtspunkte weiter entwickelt und ausgebaut worden und in die Habilitationsschrift  des Verfassers (Köln, 2011) eingeflossen . Ein  zeitgenössisches  Beispiel  ist  Puchta,  Lehrbuch  für  Institutionen–Vorlesungen,  München  1829, S . 19–24; zum Römischen Recht vgl . Hausmaninger/Selb, Römisches Privatrecht, 3 . Aufl .,  Wien 1985, S . 113; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 18 . Aufl ., München 2005, § 13 Rn . 1–3 .  Aus der zeitgenössischen Literatur kritisch zum Begriff des status: Savigny, System des heutigen  Römischen Rechts, Bd . II, Berlin 1840, S . 443–515; Feuerbach, Civilistische Versuche, Bd . I, Gießen 1803, S . 173–90 . Siehe Mehrhoff, Stichwort „Status“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg .), Handwörterbuch der Deutschen  Rechtsgeschichte, Bd . IV, Berlin 1990, S . 61 . Coing, Europäisches Privatrecht, Bd . II, München 1989, S . 285; Rückert in: Historisch–kritischer  Kommentar  zum  BGB,  Schmoeckel/Rückert/Zimmermann (Hrsg .),  Bd . I,  Tübingen  2003  (zit .:  HKK–BGB), Vor § 1 Rn . 39; Duve in: HKK BGB, Bd . I, 2003, §§ 1–14, Rn . 8 . § 30 Sächsisches BGB, GVBl . f . d . Königreich Sachsen, 1863, S . 1 . Allgemeines  Bürgerliches  Gesetzbuch,  Patent  vom  1 .6 .1811,  Justizgesetzessammlung  1804– 1816, Nr . 946 . S . 275 . In der Rechtswirklichkeit blieb die Ständeordnung jedoch bestehen, vgl .  Grimm, Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller, in: Grimm (Hrsg .), Recht  und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a . M . 1987, S . 222–24 .

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noch  begründet  werden  musste,  wird  in  § 1  BGB  als  selbstverständlich  vorausgesetzt . Danach ist jedes Rechtssubjekt, die „Person”, Träger von allen in einer Rechtsordnung möglichen Rechten und Pflichten . Darin lag ein emanzipatorischer, revolutionärer Akt, der die politische Natur des Privatrechts – jedenfalls in Deutschland  bis zur Mitte des 19 . Jahrhunderts6 – verdeutlicht . Das  bürgerliche  Recht  ist  also  diskriminierungsfeindlich  angelegt7,  weil  alle  Menschen rechtsfähig sind und „Person” sein können8, ungeachtet ihres Geschlechts,  ihrer Abstammung, Heimat und Herkunft, ihrer „Rasse“, Sprache, religiösen oder  politischen Anschauungen, ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten .9 Erst der Grundsatz der formellen Gleichheit aller Menschen kann eine Privatrechtsordnung rechtfertigen, deren zentrale Säule das Konzept der Privatautonomie ist . Nur wenn im  Prinzip jeder eine „Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft“10 lösen kann, überzeugt  es,  dass  die  Privatautonomie  „das  grundlegende  Ordnungsprinzip  des  Privatrechts“11 ist . Die Rechtsgleichheit aller beteiligten Akteure soll zusammen mit  der Vertragsfreiheit  die  individuelle  Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft  gewährleisten . Pointiert: Alle sind frei und gleich – denn alle haben gleiche Rechte,  und  diese  Rechte  können  nur  durch  freie  und  gewillkürte  Handlungen  verändert  werden .12 Die gleiche rechtliche Freiheit aller ist ein Leitprinzip des BGB13; sie baut  auf die Privatautonomie als Freiheit zur individuellen Selbstbestimmung und auf  die formale Rechtsgleichheit als Gleichheit in dieser Freiheit14 . Nach  den  modelltheoretischen  Konzeptionen15  des  bürgerlichen  Sozialmodells16  oder  der  „Privatrechtsgesellschaft“17  beschränkt  sich  die  Bedeutung  des  6 

7  8  9  10  11  12  13  14  15 

16  17 

Vgl . dazu Grimm, Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung, in: Grimm  (Fn . 5), S . 192 ff .; ders., Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: Grimm (Hrsg .), Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a . M . 1991, S . 67 ff .; Klippel,  Das „natürliche Privatrecht“ im 19 . Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg .), Naturrecht im 19 . Jahrhundert, Goldbach 1997 . Grimm, Bürgerlichkeit im Recht, in: Grimm (Fn . 5) S . 32; Knieper, Gesetz und Geschichte, Baden–Baden 1996, S . 69 . Nachdrücklich Zeiller, Das natürliche Privat–Recht, 3 . Aufl ., Wien 1819, S . 65–69, 80–81 . So schon Zeiller, (Fn . 8) S . 65–69, 80–81 . Aus der modernen Literatur vgl . statt vieler Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2 . Aufl ., Tübingen 2006, Rn . 154 . Paulus, Ein Plädoyer für unscheinbare Normen, JuS 1994, 367 . Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9 . Aufl ., München 2004, § 1 Rn . 2 . Coing, Zur Geschichte des Begriffs „subjektives Recht“, in: Coing/Lawson/Grönfors (Hrsg .), Das  subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, 1959, Frankfurt a . M ., S . 18; G. Hueck,  Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, München 1958, S . 103 . Rückert  in:  HKK  BGB  (Fn . 3),  Vor  § 1  Rn .  38,  47;  Coester,  Diskriminierungsschutz  im  Privatrechtssystem, in: Heldrich/Prölss/Koller, FS Canaris, Bd . I, München 2007, S . 120 . Grimm, Zukunft der Verfassung, in: Grimm (Hrsg .), Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a . M .  1991, S . 70–72 . Das rechtshistorische Fundament dieser Aussagen ist in den letzten Jahren zunehmend zweifelhaft geworden, vgl . dazu Rückert in: HKK BGB, (Fn . 3) Vor § 1 Rn . 93–115 (grundlegend); Hofer,  Freiheit  ohne  Grenzen?,  Tübingen  2001;  Haferkamp  in:  HKK  BGB  (Fn . 3),  Bd . II,  Tübingen  2007, § 242 Rn . 26–87 . Der Begriff wurde geprägt von Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher  und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: Wieacker (Hrsg .), Industriegesellschaft und  Privatrechtsordnung, Frankfurt a . M . 1974 . Der Begriff stammt von Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO (17) 1966,  75; dazu in jüngerer Zeit Canaris, Verfassungs– und europarechtliche Aspekte der Vertragsfrei-

Das Prinzip der personalen Gleichheit

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Gleichheitssatzes im Zivilrecht auf die formelle Gleichheit aller Privatrechtssubjekte .  Innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Schranken18 ist die Privatautonomie das grundlegende Ordnungsprinzip im Verhältnis der Individuen untereinander .19 Eine wesentliche Erscheinungsform der Privatautonomie ist die Vertragsfreiheit, die in erster Linie Abschlussfreiheit ist .20 Diese umfasst auch die Freiheit der  Partnerwahl und damit die Entscheidung, mit jemandem einen Vertrag abzuschließen oder ihn mit dieser Person gerade nicht abzuschließen .21 Die getroffene Entscheidung ist nach herkömmlichem Verständnis nicht begründungsbedürftig,22 weil  sie von der Person getroffen wird in einem „Gebiet worin ihr Wille herrscht”23 . Die Rechtsgleichheit war für bestimmte Personengruppen jedoch eine „gebrochene Gleichheit”24, weil das Recht „Enklaven ungleichen Rechts”25 tolerierte oder  selbst  herstellte26 .  Einerseits  nämlich  verschwindet  im  Laufe  des  19 .  Jahrhunderts  „der Mensch” langsam hinter den Begriffen der „Person” und des „Rechtssubjekts“ .27  Das Privatrecht abstrahiert von der Individualität des Menschen, fasst ihn nur mehr  als entstofflichtes Rechtssubjekt auf und schreibt diesem Subjekt dann gleiche Freiheit zu .28 Mit der Identifikation von Person und Mensch wurde die politische Absicht verfolgt, Standesunterschiede einzuebnen .29 Andererseits wird dieses „Rechtssubjekt“ im Privatrecht doch wieder als ein Mensch gesehen, der anders, meistens  schlechter, behandelt wird, wenn es sich bei ihm – gesellschaftspolitisch gesprochen  – um einen „Außenseiter”30 handelt: einen „negro […] of the African race”31 in den  U .S .A . oder einen Juden32 oder eine Frau33 im Deutschland des 19 . Jahrhunderts . 

18  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29  30  31  32  33 

heit in der Privatrechtsgesellschaft in: FS Lerche, München 1993, S . 874–78; und die Beiträge  von Riesenhuber, Grundmann und Picker in: Riesenhuber (Hrsg .), Privatrechtsgesellschaft, Tübingen, 2009 . Statt vieler: Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd . 2, 3 . Aufl ., Berlin 1979, S . 7–17 .  Dazu, dass die Vertragsfreiheit in Deutschland auch im 19 . Jahrhundert nicht als schrankenlos  verstanden wurde, siehe Rückert in: HKK BGB (Fn . 3), Vor § 1 Rn . 94–98 . Larenz/Wolf, (Fn . 11) § 1 Rn . 2 . Larenz/Wolf, (Fn . 11) § 34 Rn . 22; Bork, (Fn . 9) Rn . 661 . Bork,  (Fn . 9)  Rn .  661;  Busche,  Privatautonomie  und  Kontrahierungszwang,  Tübingen  1999,  S . 67–69 . Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, 7 . Aufl ., Heidelberg 2003, Rn . 147a . Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd . I, Berlin 1840, S . 7 . Schwab, Frauenrechte und Naturrecht, in: Klippel, (Fn . 6), S . 83 . Grimm, (Fn . 7) S . 33 . Vgl . dazu auch Nickel, Gleichheit und Differenz, Baden–Baden 1999, S . 36–46 . Vgl . Hattenhauer, „Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs, JuS 1982, 405, 407–408 . Siehe Puchta, (Fn . 1), S . 19; vgl . zu Abstraktion und Entstofflichung auch Caroni, Privatrecht,  Frankfurt a . M . 1988, S . 64–68 . Kritisch Otto, Personale Freiheit, München 1978, S . 8 („Reduzierung des Menschen“); Knieper, (Fn . 7), S . 58–61 (zum ideologisch geprägten Hintergrund) . Knieper, (Fn . 7), S . 56 . Dazu  grundlegend  aus  literaturwissenschaftlicher  Sicht:  Mayer,  Außenseiter,  Frankfurt  a . M .  1981 . Scott  v .  Sandford,  60  U .S . 393  403  (1857)  (Nachfahren  von  Sklaven  afrikanischer  Herkunft  sind zwar Personen, aber nicht Bürger [citizen] der U .S .A .); aufgehoben durch das U .S . Const .  amend . XIV, § 1 (1868) . Vgl . Savigny, System, Bd . II, Berlin 1840, S . 233–34 (zum Eheverbot zwischen Juden und Christen) . Vgl .  dazu  Schwab,  (Fn . 24),  S . 77 ff .;  Vogel,  Gleichheit  und  Ungleichheit  in  der  ehelichen  Vertragsgesellschaft – Widersprüche der Aufklärung, in: Gerhard (Hrsg .), Frauen in der Geschichte 

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Diese Differenzierungen waren in den Augen der Zeitgenossen zulässig, weil darin  „die natürliche Verschiedenheit des Geschlechts”34, der Religion oder der „Rassen”35  zum Ausdruck kam . Aus heutiger Perspektive weiß man, dass mit solchen, vermeintlich „natürlichen” Unterschieden der eigentliche soziale Bezug dieser Differenzierungen im Zivilrecht verdeckt wird .36 1.2 der sieGeszuG des nicHtdiskriMinierunGsGrundsatzes Die traditionelle Konzeption von Rechtsgleichheit als ausschließlich formale Gleichheit der Privatrechtssubjekte wird mittlerweile durch den „Grundsatz der Gleichbehandlung” überlagert . Ziel dieses Grundsatzes ist es, „Schutz vor Benachteiligung  im Zivilrechtsverkehr”37 zu bieten . Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist in seiner Ausprägung als Diskriminierungsverbot mittlerweile ein fest verankertes Pinzip  des Unionssrechts:38 „Nichtdiskriminierung ist ein Grundprinzip der Europäischen  Union”, formuliert der Beschluss, mit dem das Jahr 2007 als das Europäische Jahr  der Chancengleichheit für alle bestimmt wurde .39 Das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit in Art . 18 AEUV und die speziellen Diskriminierungsverbote  zur  Sicherung  der  Grundfreiheiten,  das  in  Art . 157  AUEV  niedergelegte  Gebot  der  Entgeltgleichheit  unabhängig  vom  Geschlecht  und  die  bahnbrechende  Richtlinie  76/207/EWG  zur  Verwirklichung  des  Grundsatzes  der  Gleichbehandlung  von  Männern  und  Frauen40  verdeutlichen,  dass  Diskriminierungsschutz  zu  den  traditionellen  Regelungsmaterien  der  EU  gehört .41  Auf  der  Kompetenzgrundlage des Art . 19 Abs . 1 AEUV bzw . des Art . 157 Abs . 4 AEUV sind  in  den  letzten  Jahren  insgesamt  sechs  Richtlinien42  ergangen,  die  zusammen  das 

34  35  36  37  38 

39  40  41  42 

des Rechts, München 1997, S . 265 ff .; Dölemeyer, Frau und Familie im Privatrecht des 19 . Jahrhunderts, in: Gerhard (Hrsg .), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997 . Planck, Die rechtliche Stellung der Frau nach dem bürgerlichen Gesetzbuche, 2 . Aufl ., Göttingen  1899, S . 5 . Vgl . Plessy v . Ferguson, 163 U .S . 537, 543 (1896) . Vgl . Pawlowski, (Fn . 22), Rn . 143 . Überschrift zu Abschnitt 3 des AGG . Grundlegend  dazu  EuGH,  Urt .  v .  22 .11 .2005,  Rs .  C–144/04  –  Mangold  v .  Helm,  Slg .  2005,  I–9981, Rn . 74 f .; allgemein dazu Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, 1; Mahlmann, Gleichheitsschutz im Europäischen Rechtskreis, in:  Mahlmann/Rudolf (Hrsg .), Gleichbehandlungsrecht, 2007, § 3 Rn . 1 ff . ABl . Nr . L 146 v . 31 .5 .2006, S . 1 . ABl . L 39 v . 14 .2 .1976, S . 40; tiefgreifend geändert durch Richtlinie 2002/73/EG, ABl . L 269 v .  5 .10 .2002, S . 15 . Bell, Anti–discrimination Law in Transition: the European Union and Racism, in: Kälin (Hrsg .),  Das  Verbot  ethnisch–kultureller  Diskriminierung,  Basel  1999,  S . 28–31;  Plötscher,  Begriff  der  Diskriminierung, Berlin 2003, S . 268–94 . Richtlinie 2000/43/EG v . 29 .6 .2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne  Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl . EG Nr . L 180 v . 19 .7 .2000, S . 22;  Richtlinie  2000/78/EG  v .  27 .11 .2000  zur  Festlegung  eines  allgemeinen  Rahmens  für  die  Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl . EG Nr . L 303 v . 2 .12 .2000,  S . 16; Richtlinie 2004/113/EG v . 13 .12 .2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und  Dienstleistungen, ABl . EG Nr . L 373 v . 21 .12 .2004, S . 37; Richtlinie 2002/73/EG v . 23 .9 .2002  zur  Änderung  der  Richtlinie  76/207/EWG,  aufgehoben  und  ersetzt  durch  die  Richtlinie 

Das Prinzip der personalen Gleichheit

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spezielle unionsrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht bilden . Der allen Richtlinien  gemeinsame „Grundsatz der Gleichbehandlung” verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen, (sexuelle) Belästigungen, Anweisungen zu Diskriminierungen und nachteilige Behandlungen in Bezug auf eine erfolgte Diskriminierung . Die  Richtlinien unterscheiden sich nach den jeweils erfassten Diskriminierungsmerkmalen (Rasse und ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung,  Alter, sexuelle Ausrichtung, Geschlecht) und in ihrem sachlichen Anwendungsbereich .  Das  Allgemeine  Gleichbehandlungsgesetz  (AGG)43  setzt  diese  Richtlinien  in  deutsches Recht um . Das AGG enthält in § 19 erstmals ein zivilrechtliches44 Benachteiligungsverbot: Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen  Herkunft,  wegen  des  Geschlechts,  der  Religion45,  einer  Behinderung,  des  Alters oder der sexuellen Identität ist bei der „Begründung, Durchführung und Beendigung bestimmter zivilrechtlicher Schuldverhältnisse” (§ 19 Abs . 1 AGG) unzulässig, wenn nicht ein sachlicher und verhältnismäßiger Grund die Differenzierung  rechtfertigt (vgl . § 20 AGG) . Für „Massengeschäfte” (§ 19 Abs . 1 Nr . 1 Alt . 1 AGG),  „massengeschäftsähnliche Rechtsgeschäfte” (§ 19 Abs . 1 Nr . 1 Alt . 2 AGG), privatrechtliche Versicherungen und, wenn es sich um eine Benachteiligung wegen Rasse  und ethnischer Herkunft handelt, bei „sonstigen zivilrechtlichen Schuldverhältnissen” (§ 19 Abs . 2 AGG) ist der Grundsatz der Gleichbehandlung in seiner Ausgestaltung  als  Diskriminierungsverbot  zu  einem  zentralen  Bestandteil  zivilrechtlicher  Dogmatik geworden . Der Grundsatz der Gleichbehandlung markiert in seiner Ausprägung als Diskriminierungsverbot im AGG und im speziellen europäischen Nichtdiskriminierungsrecht  einen  Paradigmenwechsel  im  deutschen  und  europäischen  Privatrecht .  Man  kann  jetzt  Privatrecht  nicht  mehr  ausschließlich  als  Kombination  von  formaler  Rechtsgleichheit  der  Privatrechtssubjekte  und  einer  Privatautonomie  konzipieren,  die Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen grundsätzlich erlaubt . Die Ausübung von Freiheit ist mittlerweile begründungsbedürftig, wenn sie aufgrund von  Merkmalen getroffen wird, die grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine  Differenzierung  herangezogen  werden  dürfen .  Die  Freiheit  eines  Privatrechtssubjekts  vom  Vertragsschluss  mit  dem  „Anderen“  wird  zugunsten  der  Freiheit  dieses 

2006/54/EG v . 5 .7 .2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, ABl . EG Nr . L 204  v . 26 .7 .2006, S . 23 . Die Richtlinien 75/117/EWG, 76/207/EWG (in der durch RL 2002/73EG  geänderten Fassung), 86/378/EWG und 97/80/EG wurden gem . Art . 34 Abs . 1 dieser Richtlinie  mit Wirkung vom 15 . August 2009 aufgehoben . Zuletzt erging die Richtlinie 2010/41/EU zur  Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, ABl . EU Nr . L 180 v . 15 .7 .2010, S . 1 . 43  Art . 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v . 14 .8 .2006, BGBl . I v . 17 .8 .2006, S . 1897, in Kraft seit 18 .8 .2006 (vgl .  Art . 4 des Gesetzes) . 44  Im  Unterschied  zum  beschäftigungsrechtlichen  Benachteiligungsverbot,  das  in  den  §§ 6–18  AGG erfasst wird . 45  Nicht jedoch der Weltanschauung . Anders als beim Benachteiligungsverbot für Beschäftigte, § 7  AGG, wurde beim zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot in § 19 Abs . 1 AGG bewusst darauf  verzichtet, die ‚Weltanschauung‘ in den Katalog mit aufzunehmen, vgl . BT–Drs . 16/2022, S . 13 .

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„Anderen“ zum Vertragsschluss eingeschränkt .46 Zugleich verschiebt der Grundsatz  der Gleichbehandlung die traditionelle Grenze zwischen den Sphären des Öffentlichen und des Privaten, weil er den Bereich der von staatlichen Eingriffen freizuhaltenden Privatsphäre enger zieht . Das macht es notwendig, eine politische Konzeption von Öffentlichkeit und Privatsphäre zu entwickeln, nach der die Geltung des  Gleichbehandlungsanspruchs  keine  systemwidrige  Intervention,  sondern  Funktionsvoraussetzung eines modernen Privatrechts ist . Das basiert auf einem Verständnis, nach dem Privatrecht und seine Grundbegriffe nicht ein für alle Mal feststehen,  sondern offen gegenüber Interventionen des politischen Systems und dort wurzelnder Gleichheitsforderungen sind . Das neuzeitliche Projekt, die Freiheit und Gleichheit aller Personen zu gewährleisten,47 ist nicht abgeschlossen und verlangt von uns  eine fortlaufende Neudefinition individueller Freiheitsräume . 1.3 das prinzip personaler GleicHHeit Das  „Prinzip  personaler  Gleichheit“  ist  ein  Modell,  mit  dem  der  Grundsatz  der  Gleichbehandlung in koheränter und rational begründbarer Weise auf alle gleichbehandlungsrelevanten Sachverhalte im Privatrecht angewendet werden kann . Es geht  über das im AGG enthaltene Konzept hinaus . Voraussetzung dafür ist ein methodischer  Perspektivenwechsel:  Nicht  mehr  die  Gleichbehandlung  ist  begründungsbedürftig, sondern  die  Ungleichbehandlung .48  Ausschlaggebend dafür  ist  der außerrechtlich  begründete  und  über  das  Unions-  und  Verfassungsrecht  ins  Privatrecht  transformierte Anspruch jeder Person auf gleiche Behandlung . Aus dieser Präsumtion personaler Gleichheit folgt, dass jede Ungleichbehandlung eines Privatrechtssubjekts grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig ist . Ausgangspunkt ist der Gedanke,  dass sich der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht nicht auf Diskriminierungsverbote  beschränkt .  Ausgehend  von  der  spezifisch  unions-  und  verfassungsrechtlichen Prägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, gibt es auch im Zivilrecht  einen  systematischen  Zusammenhang  von  allgemeinem  Gleichbehandlungsanspruch  und  speziellen  Diskriminierungsverboten .  Das  Gleichbehandlungsrecht  muss auch im Zivilrecht vom allgemeinen Gleichheitssatz her rekonstruiert werden,  um  eine  plausible  Gesamtstruktur  zu  bilden .49  Ganz  rudimentär  stellt  auch  der  Draft Common Frame of Reference diesen Zusammenhang her, wenn die Diskriminierungsverbote als „most obvious manifestation“ des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes  („treating  like  alike“)  aufgefasst  werden .50  Darauf  baut  meine  Hauptthese auf: Das geltende deutsche und europäische Zivilrecht enthalten einen  Gleichbehandlungsgrundsatz,  nach  dem  ein  Privatrechtssubjekt  die  Ungleichbehandlung einer anderen Person grundsätzlich mit sachlichen Gründen zu rechtferti46  Schiek in: Schiek (Hrsg .), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), München 2007, Vorbem .  zu § 19 ff . Rn . 12; vgl . auch von Bar/Clive (Hrsg .), Draft Common Frame of Reference, Bd . I,  München 2009, 41 . 47  Dazu im Überblick Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, Berlin, 1980 . 48  Vgl .  dazu  den  zutreffenden  Ansatz  bei  Bachmann,  Der  Grundsatz  der  Gleichbehandlung  im  Kapitalmarktrecht, ZHR (170) 2006, 144, 159 . 49  Vgl . Mahlmann in: Mahlmann/Rudolf, Gleichbehandlungsrecht, Baden-Baden 2007, § 3 Rn 17 . 50  von Bar/Clive, (Fn . 46), S . 53 .

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gen hat (allgemeines Gleichbehandlungsgebot) und in dem bestimmte Gründe eine  Ungleichbehandlung grundsätzlich nicht zur rechtfertigen vermögen (Diskriminierungsverbot) . Damit wird auch der gemeinsame materielle Gerechtigkeitsgehalt beider Elemente des Gleichbehandlungsgrundsatzes deutlich gemacht: der (moralische)  Anspruch auf Gleichbehandlung, der Ungleichbehandlungen nicht verbietet, aber  für rechtfertigungsbedürftig erklärt . Auf der Tatbestandsebene differenziert das Modell zwischen zwei Formen der  Ungleichbehandlung: 1 . Diskriminierung: eine ungleiche Behandlung, die unmittelbar oder mittelbar an bestimmte persönlichkeitsrelevante Merkmale (Diskriminierungsmerkmale) anknüpft, und 2 ., die sonstige ungleiche Behandlung: die Ungleichbehandlung  knüpft  nicht  an  ein  Diskriminierungsmerkmal  an .  Diese  Differenzierung wirkt sich auf die Anforderungen einer Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen  aus:  Eine  sonstige  Ungleichbehandlung  kann  bei  sachverhaltsbezogenen  Ungleichbehandlungen mit jedem sachlichen Grund gerechtfertigt werden . Bei personenbezogenen  Ungleichbehandlungen  steigen  die  Rechtfertigungsanforderungen: es müssen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht sein, die eine  solche Differenzierung zu rechtfertigen vermögen . Bei Diskriminierungen wird dagegen  an  Merkmale  angeknüpft,  die  grundsätzlich  nicht  als  Rechtfertigungsgrund  für Differenzierungen herangezogen werden dürfen . Eine Rechtfertigung ist hier nur  ausnahmsweise und mit strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips möglich .  Auf der Rechtfertigungsebene sind die gegenläufigen Prinzipien zu berücksichtigen . Dazu zählen insbesondere die Freiheitsrechte des Diskriminierenden und damit die seine Willensfreiheit schützende Privatautonomie . Das Modell erlaubt es,  diese Freiheiten – ihrer jeweiligen generellen und konkreten Bedeutung gemäß – bei  der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu berücksichtigen . Ihre Wahrnehmung  ist prinzipiell ein legitimes Ziel . Innerhalb der durchzuführenden Rechtfertigungsprüfung kommt den Freiheitsrechten – und damit der Privatautonomie – ein tendenziell entscheidendes Gewicht bei der Rechtfertigung von sonstigen, sachverhaltsbezogenen Ungleichbehandlungen zu, während sie Diskriminierungen nur rechtfertigen  können,  wenn  sie  geeignet,  erforderlich  und  angemessen  (verhältnismäßig)  sind . Das Modell kann damit die tradierte Behauptung entkräften, Gleichbehandlungspflichten führten zum Ende der Privatautonomie . Es geht nicht um die Frage,  ob der Gleichbehandlungsgrundsatz als solcher überhaupt anwendbar ist51, sondern  immer um die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen . Es ist also falsch, zu sagen, dass „ein Vertragsschluss auch aus unsachlichen Gründen abgelehnt werden”  könne52 . Indem eine potentielle Partei von ihrer grundrechtlich gesicherten Privatautonomie  Gebrauch  macht,  liegt  darin  ein  möglicher  sachlicher  Grund  für  eine  Ungleichbehandlung . Den Staat trifft ein Willkürverbot; für den Privaten ist willkürliches Handeln grundsätzlich eine Ausübung von Freiheitsrechten und kommt damit als Rechtfertigungsgrund einer Ungleichbehandlung in Betracht . Weil es aber  darum gehen muss, die Freiheit aller Beteiligten unter dem Gesichtspunkt ihrer persönlichen Gleichheit zu schützen, kann die Willkür des Einzelnen nicht jede Un51  So aber Bachmann, (Fn . 48), S . 144, 159 f ., der diese Fragen nicht scharf genug trennt . 52  So Wackerbarth, Die Vermeidung einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme aus dem AGG (zivilrechtlicher Teil), ZIP 2007, S . 453, 455 .

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gleichbehandlung rechtfertigen . Es muss daher eine Rechtfertigungskonzeption entwickelt  werden,  die  auf  dem  Grundgedanken  von  allgemeinen  und  reziproken  Gründen basiert . 2  GerechtIGkeItsanforderunGen  an  prIvates verhalten Die Diskussion über den Gleichbehandlungsgrundsatz im Privatrecht ist auch „ein  Streit  um  kontroverse  Gerechtigkeitsanforderungen  an  privates  Verhalten”53 .  Der  jeweilige  Standpunkt  zu  dieser  moralphilosophischen54  Frage  bestimmt  Vorverständnis  und  Methodenwahl  der  dogmatischen  Auseinandersetzung  über  den  Gleichbehandlungsanspruch .  Eine  moralische  Begründung  von  Gleichbehandlungsansprüchen  ist  deshalb  in  einer  rechtswissenschaftlichen  Argumentation  notwendig,55 um die grundsätzliche Kritik am Gleichbehandlungsrecht rational56 zu  entkräften und um die vorpositiven Ordnungsvorstellungen offenzulegen,57 an denen sich die Anwendung und Fortentwicklung des geltenden Rechts orientieren sollen58 . Diese Begründung soll unter Rückgriff59 auf Fragestellungen erfolgen, die in  der politischen Philosophie über Gerechtigkeit und Gleichheit diskutiert werden .60  Dem  dort  genannten  Ziel,  die  „tieferen  Grundlagen  einer  möglichen  Übereinstimmung”61 in moralisch kontroversen Fragen herzustellen, kommt bei einem  so  umstrittenen  Projekt  wie  dem  Gleichbehandlungsgrundsatz  im  Zivilrecht  besondere  Bedeutung  zu:62  Es  gilt,  eine  konsensfähige  Gleichheitskonzeption  zu 

53  Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL (64) 2005, S . 355, 360 . 54  Terminologisch folge ich einer Unterscheidung von Ethik und Moral, wie sie in Teilen der modernen politischen Philosophie vertreten wird: Ethik betrifft die Fragen des „guten Lebens“ und  ist in pluralistischen Gesellschaften nur für das jeweilige Individuum gültig, das sich damit identifiziert; zur Moral zählen dagegen die Normen, die universale Gültigkeit beanspruchen; vgl .  Forst, Ethik und Moral in: Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt a . M . 2007, 100–127;  anders etwa Patzig, Ethik ohne Metaphysik, 2 . Aufl ., Göttingen 1983, S . 7, 10, der mit „Moral“  die bloß faktische Sozialmoral und mit „Ethik“ normative Gerechtigkeitskonzeptionen bezeichnet;  sowie  Mahlmann,  Ethik,  in:  Mahlmann/Rudolf  (Hrsg .),  Gleichbehandlungsrecht,  BadenBaden 2007, § 1 Rn . 6 ff . 55  Zutreffend der Diskussionsbeitrag von Steiger, VVDStRL 64 (2005), 407 f . gegen Britz, (Fn . 53)  S . 355, 396–98 . 56  Der  Begriff  wird  hier  mit  Esser  „im  Sinne  von  Ermöglichung  von  Konsens  über  Fragen  der  Gerechtigkeit innerhalb positiv vorgegebener gesellschaftlicher und gesetzlicher Institutionen“  verstanden, Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2 . Aufl ., Frankfurt  a . M . 1972, S . 15 . 57  Zu dieser Voraussetzung juristischer Tätigkeit mit Nachdruck auch Müller/Christensen, Juristische  Methodik, Bd . I, 9 . Aufl ., Berlin 2004, S . 246–47 . 58  Vgl . zur Bedeutung normativer Gerechtigkeitsgehalte für die Rechtsanwendung Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, Baden-Baden 2000, S . 32–38; dazu auch Dworkin, Law‘s  Empire, Cambridge, Mass . 1986, S . 166 . 59  Zum  methodischen  Ansatz  vgl .  Alexy,  The  Nature  of  Legal  Philosophy,  17  Ratio  Juris  156,  160–61 . 60  Grundlegend: Rawls, A Theory of Justice, Revised Ed ., Cambridge, Mass . 1999; aus neuerer Zeit  Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 2004 . 61  Gosepath, (Fn . 60) S . 19 . Vgl . auch Rawls, Justice as Fairness, Cambridge, Mass . 2001, S . 2 . 62  Zur Bedeutung der politischen Philosophie für die juristische Dogmatik des Gleichheitssatzes 

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formulieren, in der die Antinomie von Freiheit und Gleichheit der Person ausgeglichen werden kann .63 2.1 der MoraliscHe ansprucH auF GleicHbeHandlunG Ausgangspunkt  der  Überlegungen  ist  der  Versuch  einer  rechtsphilosophischen  Rechtfertigung  von  Gleichbehandlungspflichten  im  Privatrecht .  Die  Behauptung,  dass Nichtdiskriminierungsrecht schon grundsätzlich nicht auf Gleichheit beruhen  kann,64  kann  schon  im  Ausgangspunkt  nicht  überzeugen .65  Mit  ihr  konkurrieren  überlegene  Ansätze:66  liberale  Rechtfertigungsversuche  mit  dem  Gedanken  der  Nachteilszufügung oder der verteilenden Gerechtigkeit,67 der Gedanke der sozialen  Inklusion,68 der partizipativen Demokratie,69 des Modells des „social citizenship”70,  der  Kategorie  der  Identität71  oder  der  ökonomischen  Analyse  des  Rechts72 .  Diese  Ansätze enthalten jeweils einen zutreffenden Kern . Weil sie aber auf Nichtdiskriminierungsrecht fokussiert sind, können sie den notwendigen Versuch einer allgemeinen Gleichbehandlungspflicht nicht plausibel erklären . Deshalb schlage ich vor, im  „moralischen  Gleichbehandlungsanspruch”  eine  Legitimationsgrundlage  für  den  Gleichbehandlungsgrundsatz als Rechtsprinzip zu sehen . Nach  dem  moralischen  Gleichbehandlungsanspruch73  verletzt  jede  nicht  gerechtfertigte Ungleichbehandlung den moralischen Anspruch einer Person, von der  politisch verfassten Gemeinschaft als solcher („Staat”) oder von jeder anderen Personen im sozialen Verkehr („Gesellschaft”),74 als freie und gleiche Person behandelt zu 

63  64  65  66  67  68  69 

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siehe auch Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, Berlin 2006, S . 467–509 . Siehe zum möglichen Programm einer solchen Gleichheitskonzeption Mahlmann, (Fn . 54), § 1  Rn . 10 ff . Holmes, Anti-Discrimination Rights Without Equality, 68 Mod . L . Rev . 175 (2005) . Vgl . dazu Britz, (Fn . 53) 355, 389–393 (Diskriminierungsverbot als eigenständiges Gleichheitsrecht) . Vgl . dazu Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 18 ff .; Schiek, (Fn . 46), Einl . Rn . 41–58 . Vgl . dazu Gardner, Liberals and Unlawful Discrimination, 9 Oxford J . L . Stud . 1–21 (1989) und  ders., Discrimination as Injustice, 16 Oxford J . Legal Studies 353–367 (1996) . Collins, Discrimination, Equality and Social Inclusion, 66 Mod . L . Rev . 16–43 (2003) . Siehe  dazu  grundlegend  für  die  U .S .–amerikanische  Verfassungstheorie  Ely,  Democracy  and  Distrust, Cambridge, Mass . 1980, S . 73–104, 135–180, Bezug nehmend auf U .S . vs . Carolene  Products Co ., 304 U .S . 144, 152 (1938), Footnote 4 (dazu Powell, Carolene Products Revisited,  82 Colum . L . Rev . 1087 (1982)) . Bell, Anti–Discrimination, Oxford 2002, S . 6–31; Nickel, (Fn . 26) S . 51–66, beide in Anlehnung  an Marshall, Citizenship and social class, in: Pierson/Castles (Hrsg .), The Welfare State, Oxford  2001, S . 32 . Dazu kritisch Schiek, (Fn . 46), Einl . Rn . 47–48 . So Engert, Allied by Surprise? The Economical Case For an Anti-Discrimination Statute, 4 German L .J . 685 (2003); siehe auch Kirchner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz: ein ökonomischer Ansatz, in: Leible/Schlachter (Hrsg .), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, München  2006, S . 37; ganz ablehnend dagegen: Epstein, Forbidden Grounds: The Case Against Employment Discrimination Laws, Cambridge, Mass . 1992 . Vgl . dazu allgemein Gosepath, (Fn . 60) S . 128–131, 171–173 . Sehr kritisch dazu Ladeur, Der Staat  gegen die Gesellschaft, Tübingen 2006, S . 36–37 . Zur Problematik der beiden Komplementärbegriffe „Staat–Gesellschaft“ vgl . statt aller Zumban-

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werden („right to treatment as an equal“75) . Aus der allgemein akzeptierten Prämisse  von der „Wertgleichheit der Menschen”76 als freie und gleiche Personen77 folgt ein  moralischer Anspruch auf gleiche Behandlung . Gleiche Behandlung bedeutet, dass  alle Personen, die sich deskriptiv voneinander unterscheiden mögen, vom Normadressaten als Gleiche in Bezug auf eine bestimmte Handlung zu behandeln sind .78  Wenn eine Person eine Entscheidung gegenüber einer anderen Person trifft, kann  diese  aufgrund  ihres  moralischen  Gleichbehandlungsanspruchs  eine  Begründung  dafür verlangen . Damit wird die Rechtfertigung zur zentralen Kategorie des Gleichbehandlungsanspruchs: Gleichbehandlung ist also ein „Recht auf Rechtfertigung”79 .  Die  Rechtfertigung  der  ungleichen  Behandlung  kann  sich  in  einer  pluralistischen  Gesellschaft80 nur auf allgemeine und reziproke Gründe stützen (Prinzip der gegenseitigen  Rechtfertigung)81 .  Reziprok  sind  die  Gründe,  wenn  eine  Person  von  der  anderen nicht mehr verlangt, als sie selbst zuzugestehen bereit ist, und allgemein  sind sie, wenn sie von allen davon Betroffenen akzeptiert werden können .82 Mit dem moralischen Anspruch auf Gleichbehandlung lassen sich Maßnahmen  gegen die „präferenzbedingte“ Diskriminierung83 aufgrund bestimmter persönlicher  Merkmale begründen . Solche Diskriminierungen basieren auf dem Gedanken „der  Ab- und Ausgrenzung, der Gegenüberstellung von einem ‘Wir’ und dem ‘Anderen’”84 .  In der gewollten Ungleichbehandlung des „Anderen” findet sich implizit die Annahme eines Wertunterschiedes zwischen den Personen .85 Diese Differenzierung ist  nicht rechtfertigungsfähig, weil sie sich nicht auf allgemeine und reziproke Gründe  stützen  lässt .  Das  zeigt  sich  deutlich,  wenn  man  mit  dem  Rawl’schen  „Gedankenexperiment”86 einen hypothetischen Zustand entwirft, in dem alle Perso-

sen, Ordnungsmuster im modernen Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden 2000, S . 127–44 . 75  Dworkin,  Reverse  Discrimination,  in:  Dworkin  (Hrsg .),  Taking  Rights  Seriously,  Cambridge,  Mass .  1978,  S . 227;  Dworkin,  What  Rights  Do  We  Have?,  in:  Dworkin  (Hrsg .),  Taking  Rights  Seriously, 1978, S . 273, allerdings beschränkt auf das Verhältnis zum Staat, vgl . Dworkin, The  Roots of Justice, in: Wesche/Zanetti (Hrsg .), Dworkin in der Diskussion/Dworkin – un débat/ Dworkin – Debating Dworkin, Paderborn 1999, S . 50, 89–90 . Zur Bedeutung für die Dogmatik  zum allgemeinen Gleichheitssatz siehe Huster, Rechte und Ziele, Berlin 1993, S . 41–44 . 76  Geteilt von Befürwortern – Mahlmann, (Fn . 54) § 1 Rn . 11 – wie Gegnern des Nichtdiskriminierungsrechts  –  vgl .  nur  Repgen,  Antidiskriminierung,  in:  Isensee  (Hrsg .),  Vertragsfreiheit  und  Diskriminierung, Berlin 2007, S . 29–31 . 77  Zum moralphilosophischen Personenbegriff vgl . Rawls, (Fn . 60), S . 441–49; Gosepath, (Fn . 60),  S . 131–44; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1994, S . 48–54, 349–354, 395–401 . 78  Gosepath, (Fn . 60), S . 129–34 . 79  Der Begriff stammt von Forst, vgl . nur Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt a . M . 2007 . 80  Zum Zusammenhang zwischen pluralistischen Gesellschaftsformen und Antidiskriminierungsrecht schon Nickel, (Fn . 26), S . 16–26 und Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 56 ff . 81  Zu verschiedenen Konzeptionen des Rechtfertigungsgedankens vgl . Forst, (Fn . 77), S . 133–36,  266–306; ders., (Fn . 79), S . 9 ff . und Gosepath, (Fn . 60), S . 13–14, 144–158 . 82  Forst, (Fn . 77), S . 68; ders., (Fn . 79), S . 15 . 83  Grundlegend  zur  Unterscheidung  Becker,  The  Economics  of  Discrimination,  2nd  ed .,  Chicago 1971; zu den verschiedenen Arten und Gründen solcher Diskriminierung näher Alexander,  What Makes Wrongful Discrimination Wrong? Biases, Preferences, Stereotypes and Proxies, 141  U . Pa . L . Rev 149, 157–67 (1992) . 84  Fishan, Diskriminierung zwischen Mythos und Moderne, Rechtstheorie (37) 2006, 67, 68 . 85  Gosepath, (Fn . 60), S . 168–71 . 86  Rawls, (Fn . 61), S . 17 .

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nen  mit  einem  „Schleier  des  Nichtwissens”  versehen  und  gleich  situiert87  sind .88  Dieser Schleier verbirgt ihnen alle Informationen über die persönlichen Merkmale  der Personen, die sie vertreten, und sorgt dafür, dass sie nicht wissen, zu welcher  Gruppe jene gehören werden . In diesem Zustand wird eine rational89 agierende Person einer Ungleichbehandlung, die auf persönlichen Merkmalen beruht, nicht zustimmen können, weil sie am Ende dazu führen kann, dass die von ihnen vertretenen Personen diskriminiert werden90 . Zweifelhaft ist aber, ob dieser Ansatz auch Maßnahmen gegen die „instrumentale“  Diskriminierung91  oder  die  Zulässigkeit  „positiver  Maßnahmen“  (affirmative action oder reverse discrimination)92 rechtfertigen kann .93 Eine instrumentale Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung nicht auf persönlichen (herabsetzenden)  Präferenzen  oder  Wertungen  beruht,  der  Handelnde  diese  vielmehr  –  wie in Fällen der statistischen Diskriminierung94 – als „proxy trait“ verwendet, um  ein – nicht notwendig nur aus seiner Sicht – rationales Fernziel zu erreichen .95 Positive Maßnahmen führen dazu, dass der Anspruch auf diskriminierungsfreie (gleiche)  Behandlung einer Person hinter der Herstellung faktischer Gleichheit einer in der  Vergangenheit diskriminierten Gruppe zurücktreten muss .96 Vom Handelnden bzw .  von der dritten Person wird im Ergebnis ein „Sonderopfer” verlangt,97 das im Konflikt  mit  dem  Grundsatz  der  reziproken  Rechtfertigung  steht .  Das  „Prinzip  der  Verantwortung”98 könnte hier einen möglichen Erklärungsansatz bieten . Die zu diskutierenden  Maßnahmen  reagieren  auf  Folgeerscheinungen  sozio-ökonomischer  Ungleichheiten, für die die Gesellschaft subsidiär verantwortlich ist, weil sich – anders als bei der präferenzbedingten Diskriminierung – kein unmittelbar Verantwort87  Rawls verwendet dafür den passenden Begriff „symmetrically situated“, vgl nur Rawls, Political  Liberalism, New York 2005, S . 79 . 88  Zu diesem Gedankenexperiment grundlegend Rawls, (Fn . 60), S . 118–23; Rawls, (Fn . 61), S . 15– 16; Rawls, (Fn . 87), S . 24–25 . Zur Kritik vgl . statt vieler Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, S . 68–171; Steinvorth, Gleiche Freiheit, Berlin 1999, S . 84–114 . Das Modell  wird hier in einer stark vereinfachten Form verwendet; es kommt hier zum einen weder auf die  „original position“ im Rawl’schen Sinn an, noch auf die von ihm vorgenommenen Differenzierungen auf den nachfolgenden Ebenen, vgl . dazu Rawls, (Fn . 60), S . 171–76 . 89  Dazu  näher  Rawls,  (Fn . 60),  S . 123–26 .  Der  Begriff  wird  hier  verstanden  i . S . v .  ‚rational‘  und  nicht von ‚reasonable‘ (vernünftig), vgl . zur Differenzierung Rawls, (Fn . 61), S . 6–7 . 90  I . E . auch Huster in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Stand: 31 . Ergänzungslieferung, Bd . I, 2011, Art . 3 Rn . 126 . 91  In der Begrifflichkeit folge ich hier Dammann, Grenzen zulässiger Diskriminierung, Berlin 2005,  S . 95–107 . Die Unterscheidung verläuft teilweise parallel zur Unterscheidung von unmittelbarer  und mittelbarer Benachteiligung, ist aber damit nicht identisch; vgl . dazu Somek, Rechtliches  Wissen, Frankfurt a . M . 2006, S . 217–227 . 92  Vgl . den kurzen Problemüberblick bei Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 46 ff . 93  Diese Bedenken werden deutlich sichtbar etwa bei Coester, (Fn . 13), S . 127–28 . 94  Dazu grundlegend Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs . Generalisierung, Tübingen 2008, S . 15 ff . 95  Vgl . Dammann, (Fn . 91), S . 102; Alexander (Fn . 83), S . 167–173 . 96  Schiek (Fn . 46), § 5 Rn . 1 . 97  Vgl . Pfeiffer, Antinomien im Gleichbehandlungsrecht in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg .) FS Canaris, Bd . I, München 2007, S . 983–84; Lobinger, Vertragsfreiheit, in: Isensee (Hrsg .), Vertragsfreiheit  und Diskriminierung, Berlin 2007, S . 154–58 . 98  Zum  Folgenden  Gosepath,  (Fn . 60),  S . 54–62,  366–381;  grundlegend  Rawls,  (Fn . 87),  S . 189  („social division of responsibility“); zur Anwendung im Nichtdiskriminierungsrecht vgl . Somek,  Equality and Constitutional Indeterminacy, 7 ELJ 171, 179–180 (2001) .

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licher benennen lässt . Wird ein Einzelner zur Beseitigung dieser Folgen in Anspruch  genommen, ist diese ungleiche Behandlung mit der mittelbaren (politischen, nicht  persönlichen) Verantwortung zu rechtfertigen, die er als Mitglied der Gesellschaft99  für die Veränderung von veränderbaren Zuständen hat . Bei instrumentalen Diskriminierungen  ist  diese  Verantwortlichkeit  graduell  höher,  weil  der  Handelnde  mit  seinem  Verhalten  zur  Perpetuierung  eines  Zustandes  beiträgt,  der  aufgrund  einer  getroffenen  politischen  Entscheidung  geändert  werden  soll .  Anders  sind  dagegen  „positive Maßnahmen” in privatrechtlichen Beziehungen zu rechtfertigen . Wie im  Verhältnis Staat-Bürger streitet für sie das Argument, dass vor dem Hintergrund der  historisch  entstandenen,  sozio-ökonomischen  Rahmenbedingungen  einer  Gesellschaft „equal treatment” zu einer Perpetuierung bestehender Zustände100, zum „Paradoxon der Gleichheit“101 führt .102 Zusätzlich lassen sie sich im Privatrecht auch  mit der privatautonom getroffenen Entscheidung des Handelnden rechtfertigen, die  zusammen mit ihrer gleichheitsfördernden Wirkung die ungleiche Behandlung des  davon Betroffenen zu rechtfertigen vermag . 2.2 GleicHHeitsansprücHe und der scHutz der privatspHäre Lässt sich der Gleichbehandlungsanspruch als moralisches Prinzip begründen, stellt  sich für den Juristen die entscheidende Frage, ob sich daraus auch eine Rechtspflicht  zur  Gleichbehandlung  konstruieren  lässt .  Die  Gegenposition  beruft  sich  auf  zwei  Argumente:  Eine  Pflicht  zur  Gleichbehandlung  im  Privatrecht  unterlaufe  (1 .)  die  Trennung von Recht und Moral sowie (2 .) von Öffentlichkeit und Privatsphäre und  sei deshalb freiheitszerstörend .  Das „Trennungsargument” hat wenig Überzeugungskraft . Ihm liegt eine „regionale Aufteilung der Zuständigkeiten von Moral und Recht nach privaten und öffentlichen  Handlungsbereichen”103  zugrunde,  die  weder  moralphilosophisch104  noch  rechtstheoretisch begründet werden kann . Der Verweis auf die positivistische Trennungsthese von Recht und Gerechtigkeit105 stützt das Argument nicht . Nach positivistischer Auffassung106 ist es durchaus möglich, dass moralische Prinzipien durch 

99  Ablehnend zur Verantwortungszurechnung an die Gesellschaft Ladeur, (Fn . 73), S . 80 . 100  Vgl . dazu Dworkin, (Fn . 75); Dworkin, Law‘s Empire, 1986, S . 381–97 . 101  Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a . M . 1994, S . 378–80 . 102  Der Satz: „The way to stop discrimination on the basis of race is to stop discriminating on the  basis of race .“ (Parents Involved In Community Schools v . Seattle School District No 1, 551  U .S . 701, 748 (2007)(Roberts, C .J .)) ist falsch, weil er die historische Komplexität des Problems  negiert;  vgl .  dagegen  die  ausführliche  Analyse  der  historischen  Fakten  im  Minderheitsvotum  Parents Involved In Community Schools v . Seattle School District No 1, 551 U .S . at 803 (Breyer, J ., diss .) . 103  Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a . M . 1994, S . 141 . 104  Vgl . dazu Habermas, a . a . O .; Gosepath, (Fn . 60), S . 171–75 . 105  Vgl . dazu Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 4 . Aufl ., Freiburg/München 2004, 15 ff .; zuletzt ausführlich zum Problemkreis Auer, Normativer Positivismus – Positivistisches Naturrecht  in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg .), FS Canaris, Bd . II, München 2007, 931–62; Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, Tübingen S . 10–29 . 106  Zur Vieldeutigkeit dieses Begriffs Auer, (Fn . 105), S . 935–38, 949–54 .

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Normen des positiven Rechts in das Recht inkorporiert werden können .107 Der Einwand  fungiert  eigentlich  als  Platzhalter  für  andere  Bedenken .108  Es  geht  um  den  Stellenwert,  den  man  der  moralischen  Pflicht  zur  Gleichbehandlung  zumisst .109  Moralnormen werden in komplexen Gesellschaften nämlich erst dann zu effektiven  Steuerungsinstrumenten,  wenn  sie  in  die  Form  von  Rechtsnormen  gegossen  werden .110  Gewichtiger ist der zweite Aspekt der Kritik: der Verlust von Freiheit, der mit  einem Gleichbehandlungsregime einhergeht, das die Trennung von Staat und Gesellschaft verwischt111 und damit in die „Privatsphäre” der Person eindringt .112 Diesem Einwand liegt ein normativer Privatheitsbegriff zugrunde .113 Wie die geschichtliche Erfahrung mit Nichtdiskriminierungsrecht lehrt und die feministische Kritik114  deutlich macht, dient „Privatheit” vielfach dazu, die Neuverteilung von Handlungsmöglichkeiten  dem  politischen  Diskurs  zu  entziehen  und  die  existierende  Verteilung unter besonderen verfassungsrechtlichen Schutz zu stellen . Was zur öffentlichen und was zur privaten Sphäre zählt, ist selbst eine politische Entscheidung .115  Die  Privatsphäre  ist  deshalb  ein  taugliches  Argumentationsmodell  zur  Beschränkung des Gleichbehandlungsanspruchs nur dann, wenn sie als politische Konzeption begriffen wird und der von ihr erfasste Bereich reziprok und allgemein gerechtfertigt werden kann . Dieser politischen Konzeption der Privatsphäre geht es darum,  die Gleichheitsansprüche aller Personen mit der (negativen) Freiheit116 des Individuums zu vereinbaren .117 Diese Konzeption muss erkennen, dass das Recht zwei Aspekte der Privatrechtsperson schützt:118 Einerseits haben wir als „Rechtspersonen”119 einen Anspruch, als  freie und gleiche Personen behandelt zu werden, der gerade auch gegenüber gesellschaftlichen Organisationseinheiten (Vertragsbeziehungen, Vereinigungen, Familie)  107  Vgl . Hart, The Concept of Law, 2nd ed ., Oxford 1994, S . 185–86; Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2 . Aufl, Baden-Baden 1990, S . 160; Colemann,  The Practice of Principle, Oxford 2001, S . 103 ff . 108  So die Vermutung bei Britz, (Fn . 53), S . 355, 396–97 . Vgl . auch Somek, (Fn . 91), S . 213–214: „Jede  gesellschaftliche Grundstruktur enthält begrifflich eine Entscheidung darüber, welche Art von  Diskriminierung als zulässig erachtet wird und welche nicht .“ 109  Deutlich artikuliert etwa von Picker, Antidiskriminierungsgesetz? – Der Anfang vom Ende der  Privatautonomie,  JZ  2002,  880;  ders.,  Antidiskriminierung  als  Zivilrechtsprogramm,  JZ  2003,  540 f . 110  Habermas, (Fn . 103), S . 141 . 111  Statt aller Säcker, „Vernunft statt Freiheit“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, ZRP 2002,  286, 287; Lobinger, (Fn . 97), S . 113–19 . 112  Statt  aller  Säcker,  Fundamente  der  Privatrechtsgesellschaft  nach  dem  Antidiskriminierungsgesetz, ZG 2005, 154, 157 . 113  Vgl . dazu aus verfassungsrechtlicher Perspektive Britz, (Fn . 53), 355, 370–76 . 114  Instruktiv Olsen, Constitutional Law: Feminist Critiques of the Public/Private Distinction, 10  Const . Comm . 319 (1993); Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt a . M . 2001, S . 41 ff . 115  Frankenberg, Die Verfassung der Republik, Frankfur a . M . 1997, S . 42–44; Britz, (Fn . 53), S . 355,  371–73 . 116  Dazu grundlegend Berlin, Two Concepts of Liberty, in: Hardy (Hrsg .), Liberty, 2002, S . 166 . 117  Vgl . dazu Rössler, (Fn . 114), S . 144 ff . 118  Ich folge hier Rawls, (Fn . 87) S . 466–74 (im Anschluss an feministische Kritik, vgl . Okin, Justice,  Gender, and the Family, New York 1989) und Forst, (Fn . 77), S . 349–62 . 119  Dazu Forst, (Fn . 77), S . 35–54 . Rawls, (Fn . 87), S . 29–35 spricht von der ‚politischen Konzeption‘  der Person .

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besteht . Andererseits sind wir auch „ethische Person”120 und benötigen für die Herausbildung unserer Identität einen notwendigen Freiraum innerhalb dieser Institutionen, um unseren eigenen und unterschiedlichen ethischen Auffassungen nachgehen  zu  können .  Da  sich  demokratische  Gesellschaften  durch  eine  große  Anzahl  unterschiedlicher philosophischer, ethischer, religiöser und politischer Anschauungen auszeichnen (Pluralismus)121, und es daher unterschiedliche ethische Konzeptionen des Guten122 gibt, braucht es einen Bereich, dessen Zugang nur die jeweilige  Person nach ihren selbstbestimmten und nicht rechtfertigungsbedürftigen Maßstäben kontrolliert .123 Diese Aufgabe übernimmt der Begriff der „Privatsphäre” . Es sind  deshalb angemessene Kriterien zu entwickeln, die den unterschiedlichen „Kontexten der Gleichheit”124 im Spannungsfeld zwischen öffentlichem und privatem Handeln Rechnung tragen . 2.3 die politiscHe natur des privatrecHts Die grundsätzliche Kritik am Nichtdiskriminierungsrecht beruht letztlich auf einer  – wenn auch entgegengesetzten – moralischen Position, der Ansicht nämlich, dass  private  Diskriminierung  als  Freiheitsgebrauch  grundsätzlich  zulässig  sei .  Gleiches  gilt für den Einwand, es handle sich bei Maßnahmen gegen instrumentale Diskriminierungen um eine Gesellschaftsveränderung mittels Zivilrecht, mithin also um eine  politische Inanspruchnahme des Privatrechts .125 Dahinter steht möglicherweise ein  modelltheorethisches Verständnis der „Privatrechtsgesellschaft“ mit folgender Charakterisierung: vorpolitische Grundordnung; strenge Dichotomie zwischen öffentlichem  Recht  und  Privatrecht,  wobei  das  erstere  interventionistisch,  fremdbestimmend und umverteilend sei, während das Privatrecht für Freiheit und Selbstbestimmung stehe und seinerseits gesellschaftspolitisch neutral sei126 . Ob eine solche, hier  vereinfacht  dargestellte  Konzeption  überzeugen  kann,  ist  zweifelhaft .127  Sie  muss  sich  dem  gewichtigen  Einwand  stellen,  dass  die  gesellschaftspolitische  Neutralität  des Privatrechts – zugespitzt formuliert – ein Mythos128 und diese Konzeption des120  Forst, (Fn . 77), S . 35–54; Rawls spricht plastisch von den ‚nonpolitical attachments and commitments‘, Rawls, (Fn . 87), S . 31 . 121  Grundlegend Rawls, (Fn . 87), S . 3–4, 36 . Zum Begriff des „ethischen Pluralismus“ vgl . Huster,  Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002, S . 5–10 . 122  Vgl . zur Erläuterung dieser Begriffe Forst, (Fn . 77), S . 52–54 . 123  Vgl . zum Begriff der Zugangskontrolle Rössler, (Fn . 114), S . 23 ff . 124  Der Begriff ist an Forst, (Fn . 77), angelehnt . 125  Pfeiffer, (Fn . 97), S . 983–84 . Sehr kritisch auch Lobinger, (Fn . 97), S . 122–24, 164–67 . 126  Aus neuester Zeit Herresthal, Die Folgen der Europäischen Integration für die Privatrechtsgesellschaft in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg .), FS Canaris, Bd . II, München 2007, S . 1108–12; Lobinger, (Fn . 97), S . 151–53; Picker, Die Privatrechtsgesellschaft und ihr Privatrecht, in: Riesenhuber,  a . a . O ., S . 207 ff ., 255 ff . Ein ähnliches, in seiner Stoßrichtigung aber über die Diskriminierungsthematik weit hinausreichendes Verständnis der ‚Mißachtung der Eigenrationalität des Privaten‘  (S . 80) findet sich bei Ladeur, (Fn . 73), S . 76–84 und passim . 127  Siehe auch die gleichheitsfreundliche Konzeption der „Privatrechtsgesellschaft“ bei Grundmann,  Europa-  und  wirtschaftsrechtliche  Grundlagen  der  Privatrechtsgesellschaft,  in:  Riesenhuber, a . a . O ., S . 105, 120 ff .; Coester, (Fn . 13), S . 115, 121 ff .  128  So Caruso, The Missing View of the Cathedral: The Private Law Paradigm of Europan Legal  Integraton, 3 ELJ 3 (1997); vgl . auch Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der 

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halb eine verschleierte gesellschaftspolitische Theorie sei129 . Der Rekurs auf die – vor  allem historisch zu erklärende130 – Dichotomie zwischen den Rechtsgebieten birgt  die Gefahr, die Offenheit des Privatrechts für den demokratischen Prozess131 und  die Bedeutung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte gerade auch für das Privatrecht zu vernachlässigen . Es ist ein wiederkehrendes Phänomen, die „Privatrechtsgesellschaft” gegen Reformtendenzen im Zivilrecht in Stellung zu bringen .132 Weil  dem Privatrecht eine politische Rolle zukommen kann,133 muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass beide Positionen – Intervention oder Nicht-Intervention bei  Ungleichbehandlungen  in  privatrechtlich  organisierten  Beziehungen  –  politischer  Natur  sind .134  Hat  man  diesen  Aspekt  offen  gelegt,  muss  sich  die  hier  kritisierte  Konzeption  der  „Privatrechtsgesellschaft”  inhaltlichen  Einwänden  stellen:135  Zum  einen wird die Rationalität für ein gesellschaftliches Subsystem – den Markt – auf  alle anderen Teilsysteme als maßgeblich übertragen, was seinerseits rechtfertigungsbedürftig ist136 . Zum anderen werden dabei zwei Funktionen des Privatrechts nicht  ausreichend getrennt137: (1 .) Privatrecht stellt das Instrumentarium zur Verfügung,  die Rechtsbeziehungen der Privatrechtssubjekte untereinander zu regeln (Privatrecht  als  Recht  der  Gesellschaft);  (2 .)  es  dient  der  Ausgestaltung  und  dem  rechtlichen  Schutz der Privatsphäre . Die Differenzierungen im sachlichen Anwendungsbereich  des  geltenden  Nichtdiskriminierungsrechts  verdeutlichen  diese  Differenzierung:  „Massengeschäfte”  gehören  danach  zur  öffentlichen  Sphäre,  anhand  „Schuldverhältnisse, bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis […] begründet  wird” (§ 19 Abs . 5 AGG) soll dagegen die Privatsphäre dem Zugriff des Diskriminie-

Entstehung des modernen Staates, in: Hoffmann–Riem u . a . (Hrsg .), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, Baden-Baden 1996, S . 54–59 . 129  Damm, Risikosteuerung im Zivilrecht, in: Hoffmann–Riem, a . a . O ., S . 139 . Vgl . auch Kramer, Die  „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens, München 1974, S . 35–37 . 130  Dazu Bullinger, Öffentliches Recht, Stuttgart 1968; Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland in: Grimm (Hrsg .), Recht und Staat  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  1987,  S . 84 ff .;  Caroni,  (Fn . 28),  S . 101–25;  Schröder,  Privatrecht  und öffentliches Recht in: FS Gernhuber, Tübingen 1993, 962–74; Stolleis, Öffentliches Recht  und Privatrecht, in: Hoffmann–Riem, a . a . O . 131  Vgl . dazu die Kritik bei Stolleis, Auferstanden aus der Wende: Die bürgerliche Gesellschaft und  ihr Recht?, RJ (11) 1992, 500 . 132  Vgl . Damm, Privatautonomie und Verbraucherschutz – Legalstruktur und Realstruktur von Autonomiekonzepten, VersR 1999, 129 . 133  Zur politischen Funktion des Privatrechts siehe auch Raiser, Grundgesetz und Privatrechtsordnung (1966), in: Raiser (Hrsg .), Die Aufgabe des Privatrechts, Frankfurt a . M . 1977, S . 164 . Nachdrücklich  auch  Wiethölter,  Rechtswissenschaft,  (Nachdruck  der  Originalausgabe  1968),  1986,  S . 179–81 und passim; zur kritischen Einordnung dieses Ansatzes und zur Zeitbedingtheit Laudenklos/Rohls/Wolf, Resümee, in: Rückert (Hrsg .), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des  Zivilrechts seit Savigny, Baden-Baden 1997, S . 330–31 . 134  Vgl . Köndgen, Selbstbindung, Tübingen 1981, S . 134 . 135  Kritisch auch Britz, (Fn . 53), S . 355, 374–75 . 136  So die Kritik von Teubner, Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Kübler  (Hrsg .), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, Frankfurt a . M . 1985,  S . 333; kritisch auch schon Raiser, Die Zukunft des Privatrechts (1971), in: Raiser (Hrsg .), Die  Aufgabe des Privatrechts, Frankfurt a . M . 1977, S . 221 f . 137  Grundlegend zur Idee der ‚Funktionsbereiche‘ im Privatrecht Raiser, (Fn . 136), S . 224–29, der  allerdings eine andere Einteilung vorschlägt .

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Michael Grünberger

rungsverbots entzogen werden138 . Notwendig ist also eine liberale Konzeption des  Privatrechts,139  nach  der  die  Geltung  des  Gleichbehandlungsanspruchs  nicht  eine  systemwidrige Intervention, sondern grundlegende Voraussetzung eines funktionsfähigen Privatrechts ist .

138  Vgl . Erwägungsgrund 4, RL 2000/43/EG und Erwägungsgrund 3, RL 2004/113/EG . 139  Dazu  Gerstenberg,  Gesellschaftliche  und  private  Autonomiesphären  und  Regulierung  durch  Privatrecht:  Von  der  Privatautonomie  zur  deliberativen  Autonomie,  in:  Seehafer/Köck/Grundmannn/Krebs (Hrsg .), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1993, Stuttgart 1994, 25 ff .

tilMann altWicker rechtsethIsche rekonstruktIon  des dIskrImInIerunGsverBots Das  Problem  der  Diskriminierung  wird  bislang  zu  selten  zum  Gegenstand  einer  philosophischen  Untersuchung gemacht . Gerade die neuen, subtileren Formen der Diskriminierung, die das Nichtdiskriminierungsrecht  besonders  beschäftigen,  finden  kaum  Beachtung  in  der  Ethik  bzw .  politischen  Philosophie . Zugleich greifen aber juristische Ansätze oft zu unmethodisch auf ethische Prinzipien  wie  Menschenwürde,  Inklusion  oder  Gerechtigkeit  zurück,  um  den  Zweck  des  Nichtdiskriminierungsrechts  zu  bestimmen .  In  diesem  Beitrag  wird  mit  der  „rechtsethischen  Rekonstruktion“  ein  methodischer  Vorschlag  gemacht,  wie  eine  deskriptive  Rechtsethik  sich  des  Diskriminierungsproblems annehmen könnte . Dabei werden die grundlegenden Urteile einer Letztentscheidungsinstanz  auf ihr rechtsethisches Prinzip hin untersucht . Rekonstruiert man die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts  am  Beispiel  der  Europäischen  Menschenrechtskonvention  (EMRK),  so  erweisen  sich  letztlich nur Gerechtigkeitsprinzipien als taugliche rechtsethische Prinzipien . Im Ergebnis wird festgehalten, dass bei Diskriminierungen Mittel des So-Sein-Könnens verkürzt bzw . ungerecht verteilt  werden .

1  eInleItunG Das  Problem  der  „Diskriminierung“  steht  in  unmittelbarer  Beziehung  zum  Themenkomplex  von  „Gleichheit  und  Differenz“ .  Das  Modell  des  Nichtdiskriminierungsrechts ist – neben dem des allgemeinen Gleichheitsrechts – ein dogmatischer  Behandlungsmodus,  mit  welchem  menschenrechtliche  Gleichheitsprobleme  im  Recht gelöst werden .1 Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Beobachtung, dass das Problem der Diskriminierung (zu) selten zum Gegenstand philosophischer Rückfrage gemacht wird . Es  gibt mit anderen Worten keine umfassende Philosophie der Nichtdiskriminierung .2  Insbesondere hat die philosophische Durchdringung des Diskriminierungsproblems  mit der rechtlichen bislang nicht schritthalten können . Dabei hat das Modell der  Nichtdiskriminierung  im  letzten  Jahrzehnt  sowohl  im  nationalen  Recht  (z . B .  im  Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz), aber auch im Europarecht (z . B . Richtlinien  zur Gleichbehandlung)3 und im Völkerrecht (z . B . Art . 14 EMRK und Art . 1 Prot . 12  EMRK)  beständig  an  Praxisbedeutung  gewonnen .  Der  politische  Stellenwert  des  1  2 

3 

Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten beider Modelle sowie zu deren jeweiligen Vorzügen  vgl . Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, Berlin [u . a .] 2011, S . 49 ff . Eine Ausnahme bildet Hellman, When Is Discrimination Wrong?, Cambridge/Mass . 2008 . Einzelne Aspekte werden behandelt bei Arneson, What Is Wrongful Discrimination?, San Diego  Law  Review  2006  (43),  S . 775–807;  Heinrichs,  What  is  discrimination  and  when  is  it  morally  wrong?, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2007 (12), S . 97–114; Horta,  Discrimination in  Terms  of  Moral  Exclusion,  Theoria  2010  (76),  S . 314–332;  Lippert-Rasmussen,  Discrimination  and  the  Aim  of  Proportional  Representation,  Politics,  Philosophy  and  Economics  2008  (7),  S . 159–182; Moreau, What is Discrimination?, Philosophy and Public Affairs, 2010 (38), S . 143– 179 . S . z . B . RL 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl . 2000 L 180/22; RL 2000/78/EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl . 2000 L 303/16; RL 2004/113/ EG zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung  mit Gütern und Dienstleistungen, ABl . 2004 L 373/37 . 

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Tilmann Altwicker

Nichtdiskriminierungsthemas steht angesichts der gegenwärtigen Debatten zur Integration von Migranten, Menschen mit Behinderungen, Andersgläubigen, um nur  einige zu nennen, außer Frage . Die Sensibilisierung für Probleme der Diskriminierung scheint in unseren Gesellschaften zuzunehmen . Mit diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die Kluft zwischen  dem  Nichtdiskriminierungsrecht  und  dessen  ethischer  Durchdringung  zu  verringern . Ziel ist es, einige Schlüsselfragen einer Philosophie der Nichtdiskriminierung  zu formulieren und einen Lösungsansatz vorzuschlagen . Dabei soll wie folgt vorgegangen werden: Die deutliche Ausdifferenzierung des Modells der Nichtdiskriminierung in den letzten Jahren führt zu Praxisungewissheiten, die eine ethische Aufklärung nahelegen (2 .) . Die intendierte Vermittlung von Recht und Ethik ist Sache  einer Rechtsethik . Diese bedarf einer Methode, die hier als „rechtsethische Rekonstruktion“  vorgestellt  werden  soll  (3 .) .  In  der  rechtsethischen  Rekonstruktion  der  Nichtdiskriminierung  stellen  sich  einige  Schlüsselfragen,  auf  die  im  letzten  Abschnitt eingegangen wird . Dazu gehören u . a . die Probleme, worin das ethische Prinzip  der  Nichtdiskriminierung  besteht,  und  wie  Diskriminierung  durch  Private  ethisch analysiert werden kann (4 .) . 2   praxIsunGewIssheIten  und fehlen  eIner phIlosophIe  der   nIchtdIskrImInIerunG Diskriminierung ist kein neues Phänomen . Zu jeder Zeit und in jeder Epoche gab es  Menschen, die wegen eines personenbezogenen Differenzierungsgrunds, z . B . dem  des Geschlechts, der ethnischen Herkunft oder der Religion, schlechter als andere  behandelt wurden und werden . Neu – jedenfalls im Vergleich mit den meisten Freiheitsrechten – ist das menschenrechtliche Diskriminierungsverbot . Die ersten Diskriminierungsverbote tauchten in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts zunächst  in der U .S .-amerikanischen Gesetzgebung und Rechtsprechung auf . Heute finden  sich  Diskriminierungsverbote  in  nahezu  jedem  Grund-  und  Menschenrechtskatalog .4 Manche Diskriminierungen, deren Zeuge wir werden, lösen heftige Gefühle moralischer  Empörung  aus:  Man  denke  beispielsweise  an  den  bekannt  gewordenen  Runderlass des französischen Innenministeriums, in dem die Präfekten aufgefordert  werden, „systematisch“ unzulässige Lager (von Einwanderern) in Frankreich zu „zerstören“, und zwar „zuerst die der Roma“ .5 Im Grundsatz besteht international Einigkeit  darüber,  dass  solche  Diskriminierungen  die  Verletzung  eines  elementaren  Menschenrechts darstellen . Dies kann nicht verwundern: Unter den Bedingungen  der heutigen politisch-sozialen Vernunft können Ungleichbehandlungen nicht mehr  mit Wertunterschieden zwischen Personen begründet werden . Man spricht insofern  von einer „Moral der gleichen Achtung“ .6 Verstöße dagegen, etwa wenn die RomaEigenschaft einer Person als Anknüpfungspunkt für eine Schlechterbehandlung genommen wird, stellen in einer gebräuchlichen Terminologie sogenannte „primäre  4  5  6 

Zur Geschichte des Rechtsbegriffs der Diskriminierung näher Altwicker (Fn . 1), S . 103 ff .  „EU erwägt Strafverfahren gegen Frankreich“, FAZ-Online v . 14 .10 .2010,   http://www .faz .net/-01hu90 (letzter Aufruf: 6 .3 .2011) .  Vgl . Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 2004, S . 154 ff .

Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots

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Diskriminierungen“ (Ernst Tugendhat) dar .7 Um eine „primäre Diskriminierung“ handelte es sich etwa auch in dem berüchtigten Fall des U .S . Supreme Court, Plessy v. Ferguson (1896)8, in dem es um das Verbot für Afro-Amerikaner ging, in Eisenbahnabteilen für Weiße zu sitzen . Das Modell der Nichtdiskriminierung hat in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Ausdifferenzierungen erfahren . Neben den verpönten, direkten Diskriminierungen  sind  nunmehr  auch  subtilere  Arten  der  Diskriminierung  anerkannt:  Etwa  wenn  in  einem  Fitnesstest  für  Feuerwehrleute  ein  Mindestniveau  vorgeschrieben  wird, das in der Praxis nur von Männern, nicht aber von Frauen erreicht wird .9 Bisweilen beschweren sich aber auch die Männer: Etwa wenn aufgrund einer behördlichen Auswahlpraxis regelmäßig mehr Männer als Frauen zum Schöffendienst herangezogen werden .10 Eine andere Form subtiler Diskriminierung liegt vor, wenn die  Diskriminierung nicht vom Staat, sondern von Privaten ausgeht, und sich der Staat  in dieser Situation nicht schützend vor den Einzelnen stellt . So lag es beispielsweise  in folgendem Fall: In einem Testament bestimmte eine Erblasserin, dass ihr künftiger Erbe selbst wiederum nur an ein Kind oder Enkel weitervererben dürfte, der aus  einer „gesetzlich anerkannten und kirchlich geschlossenen Eheverbindung“ hervorgegangen  sei .11  Hier  wollte  man  also  in  gutbürgerlicher  Manier  den  antizipierten  künftigen Fehltritten der eigenen Kinder vorbeugen . Darf der Staat ein solches Testament  als  wirksam  behandeln  oder  liegt  eine  Diskriminierung  gegen  uneheliche  Kinder vor?  Zu Recht wird man in den erwähnten Fallen bemerken, dass sich unsere moralische Empörung hier in Grenzen hält . Es handelt sich – wiederum in der Terminologie Tugendhats – um sog . „sekundäre Diskriminationen“, bei denen der Staat gerade  keinen vorausliegenden Wertunterschied zwischen Personen macht .12 Es sind diese  „sekundären Diskriminationen“, die in der gegenwärtigen Dogmatik des nationalen  und internationalen Menschenrechtsschutzes besonders umstritten sind . Gerade im  Bereich  der  „sekundären  Diskriminationen“  bestehen  große  Praxisunsicherheiten .  So taucht immer wieder die Frage auf, ob – außer der Ungleichheit als Resultat eines  Verhaltens  –  auch  noch  ein  Diskriminierungsbewusstsein  zu  fordern  sei .  Um  im  Beispiel zu bleiben: Muss die weibliche Feuerwehranwärterin nachweisen, dass den  Verantwortlichen die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen bewusst war,  oder  genügt  es,  dass  sie  lediglich  das  Resultat  der  Tests,  dass  nämlich  wesentlich  weniger Frauen als Männer eingestellt werden, darlegt? Ein andere Praxisungewissheit besteht darin, dass die Reichweite des Diskriminierungsverbots unklar ist: Sollen auch Diskriminierungen durch Private unterbunden werden? Im obigen Beispiel  ist zu fragen, ob der Erblasser uneheliche Kinder seines Erben von der gewillkürten  Erbfolge ausschließen durfte bzw . ob der Staat diese Verfügung als unwirksam behandeln musste . 

Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1994, S . 375 . U .S . Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U .S . 537 (1896) .  Canadian  Supreme  Court,  British Columbia (Public Service Employee Relations Commission) v. BCGSEU, [1999] 3 S .C .R . 3 .  10  EGMR, 20 .6 .2006, Zarb Adami, Nr . 17209/02 . 11  EGMR, 13 .07 .2004, Pla und Puncernau, Nr . 69498/01 = NJW 2005, S . 875 ff . 12  Tugendhat, (Fn . 7), S . 378 .  7  8  9 

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Tilmann Altwicker

Hier geht es um Fragen, auf die die Praxis immer wieder Antworten geben muss,  ohne dass der Normtext der Diskriminierungsverbote besonders hilfreich wäre . Oft  heißt es dort nur lapidar: Der Genuss bestimmter Rechte ist ohne Diskriminierung  aufgrund bestimmter „verdächtiger“ Differenzierungsgründe (wie z . B . Herkunft, Religion, Geschlecht) zu gewährleisten .13 Gerade bei Gleichheitsgrundrechten ist die  dogmatische Anleitung durch den Normtext also meistens sehr gering . Zudem trifft  man  bei der Anwendung  des  Diskriminierungsverbots sehr  schnell auf  Probleme,  die über die Dogmatik und ihre Möglichkeiten hinausweisen, etwa, wenn man sich  die Frage stellt, worin das Gemeinsame der „verdächtigen“ Differenzierungsgründe  besteht .  Mit dieser Frage, was „hinter“ dem Diskriminierungsverbot „steckt“, wird eine  Frage gestellt, die in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie fällt . Wie eingangs  bereits erwähnt, gibt es gegenwärtig keine umfassende Philosophie der Nichtdiskriminierung . Das muss einigermaßen überraschen, denn an philosophischen Konzeptionen zum verwandten Problem der Gleichheit mangelt es bekanntlich nicht . Der  Egalitarismus ist nach wie vor eine stark präsente Strömung der politischen Philosophie der Gegenwart . Hier sei nur auf John Rawls‘ Grundgüterkonzeption verwiesen,  auf  Ronald  Dworkins  Ressourcengleichheit  oder  Amartya  Sens  Fähigkeitengleichheit .  Bislang  wird  die  Nichtdiskriminierung,  wenn  die  Philosophie  diese  –  neben  dem Gleichheitsproblem – überhaupt als ein eigenständiges Problem wahrnimmt,  bloß  themenspezifisch  behandelt:  So  gibt  es  Ansätze  zu  einer  Philosophie  der  Nichtdiskriminierung von Seiten der Philosophie des Feminismus oder der philosophischen  Behandlung  von  Minderheitenfragen .14  Neben  der  thematischen  Beschränkung  besteht  in  der  Philosophie  die  Tendenz,  den  Diskriminierungsbegriff  auf die Erscheinungsform der „primären“ Diskriminierung zu konzentrieren, d . h .  auf  Fälle,  in  denen  eine  Schlechterbehandlung  Ausdruck  eines  Wertunterschiedes  zwischen Personen ist .15 Die Beschränkung der philosophischen Konzeptionen auf  „primäre Diskriminierungen“ hat zur Folge, dass sich das Problem gerechtfertigter,  personenbezogener Ungleichbehandlung oft gar nicht stellt . Zugleich sind es aber  gerade die personenbezogenen Ungleichbehandlungen, die keinen Wertunterschied  zwischen Personen machen, die im Recht besondere Schwierigkeiten bereiten . Überspitzt formuliert: Erst wenn die Philosophie die Möglichkeit gerechtfertigter Ungleichbehandlung aufgrund eines personenbezogenen Differenzierungsgrunds konzeptionell berücksichtigen kann, wird sie für das Recht interessant . Die thematisch-begriffliche Selbstbeschränkung der Ethik macht einer Rechtswissenschaft,  die  von  der  Philosophie  ethische  Aufklärung  erwartet,  das  Leben  schwer: Als Dialogpartnerin drängt sich die Philosophie offenkundig gerade in dem  juristisch  besonders  umstrittenen  und  wenig  klaren  Bereich  der  subtilen  „sekundären Diskrimination“ nicht auf . Dennoch muss man hier nicht haltmachen, sondern man kann sich fragen, wie  Recht und Philosophie beim Problem der Diskriminierung miteinander in Verbindung treten können . Mit anderen Worten: Eine gewinnbringende Vermittlung zwi13  Vgl . etwa Art . 14 EMRK, Art . 2 Abs . 1 IPbpR .  14  Vgl . Shrage, Equal opportunity, in: A.M. Jaggar/I.M. Young, A Companion to Feminist Philosophy, Oxford 2000, S . 559 ff .; Stone, An Introduction to Feminist Philosophy, Cambridge 2007;  Kymlicka, Multicultural Citizenship, Oxford 1995 .  15  Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990, S . 196 .

Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots

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schen Recht und Philosophie bedarf hinsichtlich des Diskriminierungsproblems einer methodischen Vorbereitung, die im folgenden Abschnitt skizziert werden soll . 3  rekonstruktIon  als  rechtsethIsche methode Der Entwurf einer Philosophie der Nichtdiskriminierung ist Sache der Philosophie,  genauer  der  Rechtsethik .  Es  lassen  sich  grob  zwei  Ansätze  zur  Rechtsethik  unterscheiden:16 Erstens kann Rechtsethik „normativ“ betrieben werden . Eine normative  Rechtsethik  trifft  Aussagen  über  das  Sein-Sollen  des  Rechts,  gestützt  auf  moralische Normen oder Prinzipien . Zweitens kann Rechtsethik aber auch, wie hier,  deskriptiv verstanden werden . In diesem Verständnis handelt es sich um denjenigen  Teil der Rechtsphilosophie, der Aussagen über die ethische Verfasstheit des Rechts  trifft und dabei systematisierend und klärend wirkt . Ziel eines deskriptiven Ansatzes  ist die Aufklärung des Rechts über seinen ethischen Gehalt und die in ihm wirkenden ethischen Prinzipien, nicht aber, Aussagen über den moralisch gesollten Inhalt  zu treffen . Ein deskriptiver Ansatz der Rechtsethik geht davon aus, dass zu den Aufgaben  des  Rechtsphilosophen  die  Verbesserung  der  Rechtspraxis  durch  philosophische  Orientierung gehört . Dabei werden die Autonomie des Rechts und die grundsätzliche Trennung von Recht und Moral anerkannt: Wir sollten keine Rechtsurteile mit  dem Rawlsschen Maximin-Prinzip begründen oder UN-Sicherheitsratsmaßnahmen  gegen  Nordkorea  auf  § 60  der  Kantischen  Rechtslehre  stützen,  in  welchem  vom  Recht gegen den „ungerechten Feind“ die Rede ist . Vielmehr geht es um ein ethisches Aufklärungsprojekt: Ein Recht, das um seine rechtsethischen Prinzipien weiß  und sich zu diesen Grundlagen verhält, ist ein „verbessertes“ Recht .  Wie sieht das Vorgehen einer deskriptiven Rechtsethik aus? Hierfür soll die Methode  der  rechtsethischen  Rekonstruktion  vorgeschlagen  und  deren  methodische  Prämissen kurz vorgestellt werden:  (1) Erstens handelt es sich um eine Methode der Philosophie . Manchmal hat  man  den  Eindruck,  dass  die  Philosophie  gleichsam  als  „Steinbruch“  der  Jurisprudenz gebraucht wird . So werden gerade in der Debatte um Gleichheit und Nichtdiskriminierung  mehr  oder  weniger  kontrolliert  Prinzipien  der  Menschenwürde,  der  Inklusion oder der Gerechtigkeit als rechtsethische Prinzipien behauptet . Bisweilen  sollte man sich aber nicht nur über die Autonomie des Rechts, sondern auch über  das Eigenrecht des philosophischen Gedankens im Klaren sein: Eine philosophische  Aufklärung des Rechts ohne eine Kontext- und Herkunftsbetrachtung der angenommenen  Prinzipien  bleibt  unvollständig,  ja  sie  wäre  dem  Verdacht  der  subjektiven  Selektion und der bloßen Autoritätsleihe ausgesetzt . Eine rechtsethische Rekonstruktion muss daher zunächst den ideen- und begriffsgeschichtlichen Kontext eines  Prinzips wie dem der Menschenwürde oder der Gerechtigkeit beleuchten und auf  dieser Basis den konsensfähigen Minimalgehalt des Prinzips herausarbeiten .  Bei der rechtsethischen Rekonstruktion handelt es sich anders gesagt nicht um  eine Methode des Rechts . Ihr Gegenstand ist – anders als bei der juristischen Ausle16  Vgl .  zu  dieser  Unterscheidung  Kirste,  Einführung  in  die  Rechtsphilosophie,  Darmstadt  2010,  S . 109 f .

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Tilmann Altwicker

gung – nicht eine Rechtsnorm als solche, sondern die interpretierte Norm, die als  eine  bestimmte  soziale  Praxis  aufgefasst  wird,  nämlich  als  die  soziale  Praxis  des  Rechts . Die soziale Praxis des Rechts, nicht die Norm, wird rechtsethisch rekonstruiert . Die Methode verfährt rekonstruktiv, indem sie auf ethische Grundsätze reflektiert, die in dieser sozialen Praxis vorhanden, wirksam sind .  Worin besteht die rechtsethisch zu rekonstruierende Rechtspraxis? Nicht jedes  Verhalten, welches von Rechtsanwendern im Hinblick auf eine geltende Norm vorgenommen wird, kann als Teil der relevanten Rechtspraxis angesehen werden . Das  wäre eine empirische Absurdität und würde zur argumentativen Zirkularität führen .  Die relevante Rechtspraxis besteht vielmehr in erster Linie in den grundlegenden,  für  verbindlich  gehaltenen  Interpretationen  der  Norm  durch  eine  Letztentscheidungsinstanz, die im Falle des Rechts also in den grundlegenden Entscheidungen  („Leiturteilen“ oder englisch leading cases/landmark decisions) bestehen . Man könnte  auch  an  ein  quantitatives  Kriterium  denken:  Eine  grundlegende  Entscheidung  ist  eine solche, die die Letztentscheidungsinstanz selbst am häufigsten zitiert bzw . der  Argumentation zu einem bestimmten Rechtsproblem regelmäßig zugrunde legt . (2) Zweitens muss sich eine deskriptive Rechtstheorie, deren Ziel die Verbesserung von Rechtspraxis ist, nicht nur des ideen- und begriffsgeschichtlichen Kontextes des ethischen Prinzips vergewissern . Erforderlich ist weiterhin auch ein Überblick  über die rechtlichen Phänomene der beobachteten Praxis selbst . Nicht selten besteht  das Problem nicht nur in einer Untertheoretisierung der Praxis, sondern auch in einer Praxisvergessenheit der Theorie . Um erfolgreich Aufklärung leisten zu können,  bedarf es eines Durchgangs der Praxis selbst, bevor zu ethischen Prinzipien dieser  Praxis gelangt werden kann . In diesem Sinne verfährt die rechtsethische Rekonstruktion „induktiv“ .  (3) Drittens folgen aus dem Zweck der Rekonstruktionsmethode, der ethischen  Aufklärung  der  Rechtspraxis,  Anforderungen  an  rechtsethische  Prinzipien,  denen  diese genügen müssen, damit sie als taugliche Prinzipien dieser Praxis infrage kommen . So ist eine Rekonstruktion nur dann erfolgreich, wenn es dem rechtsethischen  Prinzip gelingt, den Zweck („das Worumwillen“) der beobachteten sozialen Praxis  anzugeben  (Kriterium der Adäquanz) .  Die  Rekonstruktion  der  grundlegenden  Entscheidungen  einer  Letztentscheidungsinstanz  führt  sodann  im  besten  Falle  zu  einem rechtsethischen Prinzip, unter welchem sich die soziale Praxis in einem einheitlichen Verstehenszusammenhang beschreiben lässt (Kriterium der Kohärenz) . Schließlich darf von einem rechtsethischen Prinzip erwartet werden, dass in seinem Licht  gewisse Merkmale dieser Praxis als wesentlich, andere als bloß zufällig gekennzeichnet werden können (Kriterium der konzeptionellen Orientierung) .  (4) Viertens ist der Status der so angenommenen rechtsethischen Prinzipien zu  klären . Die Rekonstruktionsmethode betrachtet eine bestimmte soziale Praxis, die  hier  in  den  grundlegenden  Entscheidungen  zum  Nichtdiskriminierungsrecht  erblickt  wird,  aus  der  Perspektive  der  Rechtsethik .  Bei  einem  solchen  Vorgehen  ist  Vollständigkeit und Universalisierung weder möglich noch intendiert: Die Rekonstruktionsmethode führt zu schwach-normativen rechtsethischen Prinzipien . Sie kann  formulieren, welches unter mehreren möglichen rechtsethischen Prinzipien für eine  bestimmte Praxis der Nichtdiskriminierung, etwa die des Europäischen Gerichtshofs  für  Menschenrechte  (EGMR),  zu  einem  bestimmten  Stand  der  Entwicklung  vorzugswürdig ist . Dies hängt nämlich davon ab, ob sich das Prinzip unter den Krite-

Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots

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rien der Adäquanz, Kohärenz und der konzeptionellen Orientierung als taugliches  Prinzip erweist . Sie macht keine Universalaussage über eine gute Nichtdiskriminierungspraxis „an sich“ . Die Rekonstruktionsmethode geht davon aus, dass sich die  beobachtete  Praxis  verändern  kann .  Dies  hat  Folgen  für  das  zugrunde  liegende  rechtsethische  Prinzip .  Dennoch  weist  die  Methode  Kritikpotenzial  auf:  Mit  der  Rekonstruktionsmethode lassen sich einzelne Urteile kritisieren, die nicht im Einklang mit dem rechtsethischen Prinzip stehen, das den grundlegenden Entscheidungen innewohnt . Sie kann insbesondere Wertungswidersprüche aufdecken .  (5) Fünftens sind die vielfältigen theoretischen Anleihen, die die rechtsethische  Rekonstruktionsmethode  macht,  aufzudecken .  Die  vorgeschlagene  Methode  fügt  sich in eine common law-Philosophie ein, die induktiv vorgeht und auf der Suche  nach dem Prinzipiellen in der Besonderheit ist . Auch besteht eine gewisse Nähe zur  Methode  der  „konzeptionellen  Analyse“  des  U .S .-amerikanischen  Rechtsphilosophen  Jules  Coleman .17  Wie  in  Colemans  Theorie  geht  es  um  eine  kohärente  Beschreibung der Rechtspraxis und nicht um deren moralische Rechtfertigung . Schließlich stützt sich die Rekonstruktionsmethode auch auf das Theorie-Praxis-Verständnis  bei  Aristoteles:  Die  grundlegenden  Entscheidungen  einer  Letztentscheidungsinstanz werden hier in Analogie zu den aristotelischen endoxa, den bewährten Meinungen über eine wohlausgerichtete Praxis, verstanden .18 Wie in Aristoteles‘ Ethik handelt es sich bei der rechtsethischen Rekonstruktion um eine Theorie über eine schon  bestehende, funktionierende soziale Praxis . Auch ist ihr Ziel nicht der Entwurf eines  idealen Nichtdiskriminierungsrechts, sondern die Sichtbarmachung der – noch verbesserbaren und stets anfälligen – Vernünftigkeit einer bestehenden Rechtspraxis . 4   schlüsselfraGen  eIner rechtsethIschen rekonstruktIon  des   dIskrImInIerunGsverBots Welches ist das einer bestimmten Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts innewohnende  rechtsethische  Prinzip?  Welche  Schlussfolgerungen  lassen  sich  daraus  für  drängende Fragen der Praxis ziehen? Diesen Problemen soll im abschließenden vierten Teil nachgegangen werden . Vorausgeschickt werden muss, dass die Anwendung  der  Methode  der  rechtsethischen  Rekonstruktion  nahelegt,  sich  auf  eine  Letztentscheidungsinstanz zu beschränken . Nur die soziale Praxis einer Letztentscheidungsinstanz stellt an sich selbst einen Kohärenzanspruch, der für diese Methode wesentlich ist . Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts des EGMR . 4.1 GerecHtiGkeit oder MenscHenWürde? Die entscheidende Frage einer Rechtsethik der Nichtdiskriminierung lautet: Unter  welchem  Prinzip  ist  die  konventionsrechtliche  Praxis  der  Nichtdiskriminierung  rechtsethisch am besten rekonstruierbar? 17  Coleman, The Practice of Principle, Oxford 2001 . 18  Aristoteles, Nikomachische Ethik, VII 1, 1145b 2 ff .

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In Bezug auf die Nichtdiskriminierung werden als rechtsethische Prinzipien vor  allem das der Menschenwürde, der Inklusion oder der Gerechtigkeit vorgeschlagen .  Ein Vorgehen nach der Rekonstruktionsmethode verlangt dabei zunächst die Herausarbeitung  eines  konsensfähigen  Minimalgehalts  des  jeweiligen  rechtsethischen  Prinzips . Wegen einer Wechselwirkung zwischen rechtsethischem Prinzip und beobachteter Praxis muss dieser Minimalgehalt aber modifiziert und dem Sachproblem  angepasst werden . Theorie und Praxis treten an dieser Stelle gleichsam in einen Dialog, der beide beeinflussen kann . Nimmt man zum Beispiel an, die Menschenwürde stelle das rechtsethische Prinzip des Diskriminierungsverbots dar, ist Folgendenes zur Tauglichkeit dieses Prinzips zu sagen: Viele Urteile gegen Staaten wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot der EMRK kann man als eine Reaktion auf eine Menschenwürdeverletzung rekonstruieren, etwa wenn jemandem wegen seiner tschetschenischen Abstammung das ihm eigentlich zustehende Freizügigkeits- bzw . Aufenthaltsrecht verwehrt  wird .19 Das Menschenwürdeprinzip bietet eine adäquate Zweckbestimmung an für  große Teile der relevanten Rechtspraxis, der grundlegenden Entscheidungen der betrachteten Letztentscheidungsinstanz . Die Menschenwürde besitzt hier eine intuitive Überzeugungskraft: Die Fälle demütigender Ungleichbehandlung, etwa wenn  Menschen einer anderen „Kaste“ zugerechnet werden und dann keine Möglichkeit  haben,  auch  nur  elementare  Grundbedürfnisse  wie  Nahrung,  Bildung  und  Wohnung zu befriedigen, sind sicherlich als Menschenwürdeverletzungen rekonstruierbar . Aber das Unternehmen einer rechtsethischen Rekonstruktion verlangt mehr als  nur intuitive Plausibilität . Problematisch wird es, wenn man die subtilen Formen der  Diskriminierung berücksichtigt: Kann man die Höherbelastung von Männern mit  Schöffendiensten  als  ein  Menschenwürdeproblem  rekonstruieren?  Das  erscheint  fraglich . Woran liegt das? Mit der Methode der rechtsethischen Rekonstruktion ist  zu fragen, ob das rechtsethische Prinzip der Menschenwürde den Kriterien der Adäquanz,  der  Kohärenzstiftung  und  der  konzeptionellen  Orientierung  genügt .  Für  das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot muss das verneint werden . Das  Menschenwürdeprinzip ist nicht ausreichend in der Lage, die subtileren Formen der  Diskriminierung rechtsethisch zu erfassen . Dies hängt vor allem damit zusammen,  dass  bei  den  subtileren  Erscheinungsformen  der  Diskriminierung  eine  output-Betrachtung, also eine Betrachtung von den Ergebnissen eines Verhaltens her, erforderlich ist . Auf ein Diskriminierungsbewusstsein soll es in diesen Fällen zu Recht nicht  ankommen: Dann aber bestände das Problem, nicht-intentionale Menschenwürdeverletzungen  annehmen  zu  müssen,  was  sich  zumindest  mit  einem  Minimalverständnis von Menschenwürdeverletzungen nicht verträgt .20 Auch ist die Menschenwürde ein absoluter Begriff, der in sich keine relationale Struktur abbilden kann . Die  Menschenwürde setzt einen absoluten Referenzpunkt, während der Nichtdiskriminierungsbegriff eine relationale Struktur vorgibt: A wird im Vergleich zu B (wegen eines personenbezogenen Merkmals X in Bezug auf das Gut Y) schlechter behandelt .  In Fragen der Nichtdiskriminierung ist damit nach einem rechtsethischen Prinzip zu suchen, das sowohl nicht-intentionale Verletzungen berücksichtigen als auch  19  EGMR, 13 .12 .2005, Timishev, Nr . 55762/00, Rn . 50 ff . 20  Zu einem Minimalverständnis von Menschenwürde vgl . McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, EJIL 2008 (19), S . 655–724, S . 675 ff . 

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in  sich  eine  relationale  Struktur  abbilden  kann .  Eine  dritte  Anforderung  kommt  hinzu, die hier nur angedeutet werden kann: Das rechtsethische Prinzip muss sowohl die Individual- wie auch die Gruppenbezogenheit von Diskriminierung erfassen können . Diese letzte Anforderung führt letztlich zur Untauglichkeit des Inklusionsprinzips als rechtsethischem Prinzip der Nichtdiskriminierung .  Nach  hier  vertretener  Ansicht  erfüllen  allein  Prinzipien  der  Gerechtigkeit  die  oben  dargelegten  Anforderungen,  die  die  Rekonstruktionsmethode  an  ein  rechtsethisches Prinzip der Nichtdiskriminierung stellt . Auch in Bezug auf die Gerechtigkeit bedürfte es der vorgängigen Klärung des Minimalgehalts, was den Rahmen dieses Beitrags allerdings sprengen würde .21 Wichtig ist, dass sich aus einem Grundverständnis des Gerechtigkeitsbegriffs zwei rechtsethische Prinzipien, das der korrektiven und das der distributiven Gerechtigkeit, destillieren lassen, die eine Bewertung  von Güterzuständen auch nach nicht-intentionalen Verletzungen ermöglichen, eine  relationale Struktur22 aufweisen und die Individual- und Gruppenbezogenheit der  Diskriminierung  erfassen  können .  Angewandt  auf  den  Kontext  des  Rechts  ergibt  sich, dass das Prinzip der korrektiven Gerechtigkeit Verhaltens- und Rechtspflichten  als Nichtschädigungspflichten betrachtet: Wenn ich durch mein zurechenbares Verhalten dem anderen etwas von seinen Gütern genommen habe, bin ich unter der  Bedingung strikter arithmetischer Gleichheit verpflichtet, den Güterzustand vor der  Wegnahme wiederherzustellen . Hier spielen Kategorien wie Absicht, Unrecht, Zurechnung und Verschulden eine Rolle .23 Die Verletzung des arithmetischen Gleichheitsverhältnisses des korrektiven Gerechtigkeitsprinzips ist ein ungerechtes „Verkürzen“ von etwas . Das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit betrifft demgegenüber  das Verteilen von Gütern und Lasten . Hier sind Kategorien wie Verteilungsgegenstand,  Verteilungsverpflichteter,  Verteilungssphären,  Selbstverantwortung  und  gerechtfertigte Ungleichheiten einschlägig . Die Verletzung des geometrischen Gleichheitsverhältnisses des distributiven Gerechtigkeitsprinzips kann als ungerechtes „Verteilen“ von etwas bezeichnet werden . Das gesuchte rechtsethische Prinzip der Nichtdiskriminierung ist also in Prinzipien der korrektiven und distributiven Gerechtigkeit formulierbar . 4.2 GerecHtiGkeit und so-sein-können Bei Diskriminierungen handelt es sich um „gestörte“ Gleichheitsverhältnisse . Struktur und Gehalt dieser Gleichheitsverhältnisse ergeben sich aus Gerechtigkeitsprinzipien,  wie  oben  dargelegt  wurde .  Die  rechtsethische  Rekonstruktionsmethode  will  die den rechtsethischen Prinzipien der Gerechtigkeit eigentümliche Vernünftigkeit  für  ein  Verständnis  des  Diskriminierungsproblems  nutzbar  machen .  Somit  ist  zu  prüfen, was sich ergibt, wenn man die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts unter  den beiden Gerechtigkeitsprinzipien rekonstruiert . 

21  Zur Gerechtigkeit vgl . ausführlich Altwicker (Fn . 1), S . 458 ff . 22  Zur  Relationalität  des  Gerechtigkeitsbegriffs  vgl .  schon  Aristoteles,  Nikomachische  Ethik  V  3,  1130a 1: „Gerechtigkeit ist ‚des anderen Gut‘“ .  23  Vgl .  Jules Coleman,  The  Practice  of  Principle:  In  Defence  of  a  Pragmatist  Approach  to  Legal  Theory, Oxford 2001, p . 9 f .

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Dafür müssen die beiden Gerechtigkeitsprinzipien und die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts in einen engeren Dialog gebracht werden, der beide beeinflusst .  Auf Seiten der Rechtsethik wird die Ebene der Prinzipien der Gerechtigkeit verlassen  zugunsten einer spezifischen, anwendungsbezogenen Gerechtigkeitskonzeption . In  Frage  steht,  was  der  Zweck  der  Nichtdiskriminierungspraxis  ist,  sofern  man  diese  unter Gerechtigkeitsprinzipien rekonstruiert: Was ist das, was im Fall der Diskriminierung ungerecht „verkürzt“ bzw . „verteilt“ wird?  In  der  hier  vorgeschlagenen  diskriminierungsspezifischen  Gerechtigkeitskonzeption bezieht sich die Gerechtigkeit auf die (formale) Gleichheit der Mittel des  So-Sein-Könnens von Personen . Unter den „Mitteln des So-Sein-Könnens“ werden  diejenigen (materiellen und immateriellen) Güter verstanden, die Bedingung für die  Verwirklichung des eigenen Lebensplans sind .24 Der Begriff des Mittels unterstreicht  den  wichtigen  Aspekt  der  Selbstverantwortung  für  das  eigene  So-Sein25  und  den  Aspekt der Befähigung (empowerment), die diese Güter verleihen . Diese anwendungsbezogene  Gerechtigkeitskonzeption  geht  davon  aus,  dass  formale  Gleichheit  hinsichtlich  der  Mittel  des  So-Sein-Könnens  „gerecht“  ist,  d . h .  Ungleichheiten  hinsichtlich  dieser  Mittel,  die  durch  Verkürzung  oder  Änderungen  in  der  Verteilung  zustande kommen, rechtfertigungsbedürftig sind . Wichtig ist, dass diese diskriminierungsspezifische  Gerechtigkeitskonzeption  zunächst  nur  auf  Diskriminierungen  durch Hoheitsträger Anwendung finden kann .26 Worin bestehen diese Mittel des So-Sein-Könnens? Im Ausgangspunkt ist klar,  dass es – in Ermangelung einer objektiven, allgemein anerkannten Theorie des SoSeins  von  Personen  –  eine  abschließende  Liste  diesbezüglicher  Mittel  nicht  gibt,  noch jemals geben kann . Unbestritten ist aber ebenso, dass dem Recht im Zusammenhang mit dem So-Sein-Können von Personen Bedeutung zukommt: Das Recht  und seine Anwendung haben So-Sein-Könnens-Relevanz . Indem Gerichte wie der  EGMR über gerechtfertigte Ungleichheiten entscheiden, befinden sie immer auch  über die (gerechte) Verkürzung und Verteilung von Mittel des So-Sein-Könnens .  Was So-Sein in einem rechtlichen Anwendungskontext bedeuten kann, ist näher auszudifferenzieren . Hier kann das nur angedeutet werden . Zu unterscheiden  sind  drei  Gruppen  von  Mitteln  des  So-Sein-Könnens:  Erstens sind  alle  (Grund-) Rechte und sonstigen subjektiven Rechte, die menschliche Freiheit sichern, wie die  Freiheit  der  Kommunikation,  des  Eigentums  oder  der  Familiengründung,  erfasst .  All diese Rechte dienen der Möglichkeit der Selbstbestimmung in lebensplanrelevanten Kontexten .  Mittel des So-Sein-Könnens ist zweitens auch das Interesse an der nachteillosen  Belassung im eigenen So-Sein, also die Freiheit, so zu sein, wie ich bin und wie ich  sein will .27 So hat man beispielsweise ein legitimes Interesse daran, seine Religion  24  Zu den „Mitteln des So-Sein-Könnens“ vgl . näher Altwicker (Fn . 1), S . 466 ff .  25  Die  Verantwortung  für  das  So-Sein-Können  des  Einzelnen  obliegt  weder  primär  noch  allein  dem Staat, sondern in erster Linie dem Einzelnen selbst, vgl . Axer, Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung?, VVDStRL 2009 (68), S . 177–218, S . 185) . 26  Der  Grund  ist,  dass  nur  in  öffentlich-rechtlichen  Rechtsbeziehungen  der  Ausgangspunkt  bei  einer formalen Gleichheit von Mitteln des So-Sein-Könnens gemacht werden kann . Zum Problem der Gleichheit von Mitteln des So-Sein-Könnens in Privatbeziehungen s . unten 4 .3 . 27  Dies knüpft an Überlegungen von Alexander Somek an (vgl . ders., Rationalität und Diskriminierung . Zur Bindung der Gesetzgebung an das Gleichheitsrecht, Wien [u . a .] 2001, S . 382 ff .) . 

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wegen veränderter Arbeitszeiten nicht aufgeben zu müssen . Die Nichtanknüpfung  von Nachteilen an „verdächtige“ Differenzierungsgründe wie Rasse, ethnische Herkunft oder Geschlecht ist selbst als ein Mittel des So-Sein-Könnens anzusehen . Schließlich gehören, drittens, auch weitere individuelle Interessen und faktische  Begünstigungen  des  Einzelnen  zu  den  Mitteln  des  So-Sein-Könnens .  Diese  sind  zwar nicht Gegenstand subjektiver Rechte, liegen aber im weiteren Sinne im Bereich  staatlicher Verantwortung bzw . Beeinflussbarkeit und stellen wichtige Reflexbegünstigungen für den Einzelnen dar, wie z . B . das individuelle Interesse an der Gewährleistung einer stabilen Sicherheitslage in einem Staat . Hierbei handelt es sich um  „sonstige“ Mittel des So-Sein-Könnens . Eine diskriminierungsspezifische Gerechtigkeitskonzeption  ist  z . B .  sensibel  für  Beeinträchtigungen  durch  menschlich  veranlasste Umweltveränderungen (z . B . Trinkwasserverschmutzung), die sich nur zulasten bestimmter sozialer Gruppen auswirken, während andere verschont bleiben .28  Sonstige Mittel des So-Sein-Könnens sind daher z . B . Maßnahmen zur Herbeiführung, der Ermöglichung oder der Erleichterung des So-Sein-Könnens, wie etwa die  Verstärkung der Polizeipräsenz auf öffentlichen Straßen, die Einrichtung von CheckPoints und gesicherter Zonen, Umweltschutzmaßnahmen, Wohnungsbeschaffungsmaßnahmen und ggf . staatliche Kompensation . Bei den sonstigen Mitteln des SoSein-Könnens spielen soziale Anschauungen, Veränderungen der Technik und der  Fortschritt  der  Wissenschaften  allgemein  eine  wichtige  Rolle .  Von  Bedeutung  ist,  dass  dieser  Bereich  rechtsethisch  erschlossen  wird,  dass  es  hier  zu  relevanten  Ungleichheiten kommen kann, für die das Diskriminierungsverbot die richtige rechtliche Antwort ist . Dieser Bereich ist letztlich unabgeschlossen . Er wird fortentwickelt  durch die Letztentscheidungsinstanz, die sich – um einem Essentialismus zu entgehen – wiederum auf eine rechtsvergleichende Argumentation stützen kann: Wenn  etwa viele bedeutende Höchstgerichte in dem Interesse an einer sauberen Umwelt  ein Mittel des So-Sein-Könnens erblicken, dann ist dessen Annahme im konkreten  Fall nicht ein bloßer Essentialismus . Die Rede von den Mitteln des So-Sein-Könnens greift Aspekte des „Fähigkeitenansatzes“ („capability approach“) von Amartya Sen und Martha Nussbaum auf .29  Auch die Mittel des So-Sein-Könnens haben Bedeutung für die Freiheit einer Person .  Allerdings  handelt  es  sich  –  neben  Rechten  wie  z . B .  der  Meinungsfreiheit  –  durchaus auch um (zumindest teilweise quantifizierbare) Güter, wie z . B . den Anspruch auf Elterngeld . Zudem sind „Mittel“ konkreter als „Fähigkeiten“ . Schließlich  kann im Rechtskontext der Mittelbegriff eine größere Plausibilität in Anspruch nehmen als der der Fähigkeiten . Die Mittel des So-Sein-Könnens haben zweifellos auch  einen Bezug zum kantischen Würdebegriff, indem sie freiheitsermöglichend wirken .  Allerdings ist der Begriff der Mittel des So-Sein-Könnens weiter, indem er nicht nur  die Selbstbestimmung des Subjekts im Ethischen, sondern ein umfassendes, individuelles Selbst-Sein-Können vor Augen hat, z . B . auch in ästhetischer, sozialer und  emotionaler Hinsicht .  Jetzt kann der Gedankengang abgeschlossen werden mit folgender Bestimmung  des Zwecks der konventionsrechtlichen Praxis der Nichtdiskriminierung: Diskrimi28  Vgl . Taillant, Environmental Discrimination, Yearbook of Human Rights & Environment 2008  (8), S . 239–251 . 29  Vgl . näher Altwicker (Fn . 24), S . 472 und S . 21 ff .

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nierungen sind Gerechtigkeitsverletzungen, indem hier (auf ethisch nicht gerechtfertigte Weise)30 Mittel des So-Sein-Könnens verkürzt bzw . ungerecht verteilt werden .  In rechtsethischer Betrachtung bezweckt die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts  unter der EMRK, den Einzelnen vor der ungerechten (ethisch nicht gerechtfertigten) Verkürzung bzw . der ungerechten (ethisch nicht gerechtfertigten) Verteilung der  Mittel des So-Sein-Könnens zu schützen . 4.3 Grenzen der diskriMinierunGsspeziFiscHen GerecHtiGkeitskonzeption Im letzten Abschnitt soll auf eine entscheidende Grenze der hier vorgeschlagenen  diskriminierungsspezifischen Gerechtigkeitskonzeption eingegangen werden . Diese  Grenze wird offenbar, wenn man das Problem der Diskriminierung durch Private  rechtsethisch rekonstruiert . Die Diskriminierung durch Private stellt gegenwärtig eines der am meisten diskutierten, aber auch schwierigsten Probleme des Nichtdiskriminierungsrechts dar . Die rechtsethische Rekonstruktionsmethode nimmt den Ausgang  bei  der  beobachtbaren  Praxis,  hier  den  grundlegenden  Entscheidungen  des  EGMR, die Diskriminierungen durch Private zum Gegenstand haben . Da vor dem  EGMR  nur  Staaten  Grundrechtsverpflichtete  sind,  nicht  aber  Private,  muss  die  Frage lauten: Wie lässt sich die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts, nach der die  Vertragsstaaten verpflichtet sind, Private vor der Diskriminierung durch andere Private zu schützen, rechtsethisch rekonstruieren? Wenn man – wie hier – davon ausgeht, dass diese Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts  am  besten  unter  Gerechtigkeitsprinzipien  rechtsethisch  rekonstruiert  werden kann, stellt sich zunächst die Frage, unter welchem der beiden Gerechtigkeitsprinzipien sich dieser Ausschnitt des Nichtdiskriminierungsrechts erfassen lässt .  Hier liegt ein distributives Gerechtigkeitsprinzip nahe: Es geht bei dem Unterlassen  von Schutz vor Diskriminierung durch andere Private nicht um eigene, staatliche  Nichtschädigungspflichten  (wie  bei  dem  korrektiven  Gerechtigkeitsprinzip),  sondern um die mangelhafte Gewährleistung einer diskriminierungsfreien Umgebung .  Das staatliche Hinwirken auf eine diskriminierungsfreie Umgebung ist als ein (sonstiges)  Mittel  des  So-Sein-Könnens  anzusehen .  Die  Gleichheit  der  Mittel  des  SoSein-Könnens – der Gegenstand der diskriminierungsspezifischen Konzeption der  Gerechtigkeit  –  verlangt  ein  proaktives  Eintreten  des  Staates  dort,  wo  zivilgesellschaftliche Kräfte regelmäßig versagen oder unzureichend sind . Sicher ist, dass Private die Mittel des So-Sein-Könnens eines anderen Privaten  zumindest  in  ungerechter  Weise  verkürzen  können,  etwa  indem  der  Vermieter  in  einer Anzeige ausdrücklich darauf hinweist, nur an Heterosexuelle zu vermieten . An  dieser Stelle wird die angesprochene Grenze der diskriminierungsspezifischen Gerechtigkeitskonzeption deutlich: Konflikte zwischen ungleichartigen Mitteln des So30  Worin die ethische Nichtrechtfertigung besteht, interessiert eine rechtsethische Rekonstruktion  nicht  primär .  Es  handelt  sich  um  eine  ethische  (im  Unterschied  zu  einer  rechtsethischen  Frage) .  In  der  Ethik  wird  zur  Nichtrechtfertigung  Folgendes  diskutiert:  Die  Ungerechtigkeit  von  Diskriminierung  besteht  entweder  in  dem  erwähnten  Verstoß  gegen  eine  Moral  der  gleichen  Achtung oder darin, dass die Ungleichbehandlung nicht auf den ethisch akzeptablen Gründen  des Bedürfnisses, des Verdienstes oder des erworbenen Rechts beruht (vgl . dazu näher Altwicker [Fn . 24], S . 473 f .) .

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Sein-Könnens, d . h . hier die Belassung im So-Sein des einen (im Beispiel: Homosexualität des Mieters) und das Freiheitsinteresse des anderen (im Beispiel: Privatautonomie des Vermieters), sind mit dieser Konzeption nicht auflösbar . Eine Gewichtung  der  unterschiedlichen  Mittel  des  So-Sein-Könnens  kann  diese  Konzeption  nicht anbieten . Diese Begrenzung ist kein Makel: Eine deskriptive Rechtsethik kann und will  der Rechtsdogmatik das Geschäft der Abwägung und Argumentation nicht abnehmen . Es geht ihr vielmehr darum, eine komplexitätsangemessene ethische Sprache  und Darstellung für die juristischen Probleme der Diskriminierung anzubieten und  auf diese Weise klärend zu wirken .

paWel polaczuk theorIe  der GerechtIGkeIt  von John rawls.   GrundrIss  der krItIk Das Ziel meiner Ausführungen ist es, einen meist übersehenen Aspekt der Konstruktion der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls kritisch zu analysieren . Die Konstruktion knüpft an einen Zusammenhang intuitiver Ansichten über Gerechtigkeit mit der Idee des Gesellschaftsvertrages an . In seinen  Erläuterungen zur Letztausgabe der „Theorie der Gerechtigkeit“ wird die Anfangssituation, der Kern  von Rawls´ Gerechtigkeitstheorie, indes zu einem Beweis degradiert . Das stärkt die Bedeutung der  grundlegenden  Struktur  der  Theorie .  Die  Folgen  dieser  Theoriekonstruktion  sind  zum  einen  die  formale Selbstbezogenheit der Theorie und zum anderen deren materielle Geschlossenheit . Sie ist  nicht offen für Probleme, die unter verschiedenen sozialen Umständen ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit erwecken .

1  eInleItunG Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls gehört anscheinend zu den bedeutendsten  Errungenschaften  der  gegenwärtigen  Rechtsphilosophie,  denn  das  Interesse an ihr ist ungebrochen . Zahlreiche Perspektiven, aus denen sie beleuchtet werden kann, tragen dazu bei . Die Qualität von Justice as Fairness erweckte allerdings  schon nach der Erstausgabe dieses Werkes zahlreiche Zweifel .1 Man betonte, dass  das  Theoriegebäude  von  Rawls  lediglich  eine  Doktrin  sei,  die  auf  eine  politische  Praxis hin ausgerichtet bleibe . Denn sofern der Begriff „Theorie“ mit der ihr zustehenden Achtung ausgelegt werde, bedeute er „eine Sammlung von geordneten Behauptungen über ein Fragment der Wirklichkeit . Eine so  verstandene  Theorie  formuliert  das  Hauptwerk  (von  Rawls)  nicht .  Es  formuliert  weder  eine  Theorie  von  gesellschaftlichen  Erscheinungen,  die  sich  unter  dem  auf  Mitglieder  der  Gesellschaft  wirkenden  Einfluss  eines  Musters  von  gerechten  zwischenmenschlichen  Beziehungen  gestaltet, noch eine geordnete psychologische Theorie, die sich auf die mit den Mustern eines  gerechten Handelns verbundenen Erlebnisse bezieht .“2 

Rawls ist es bis zur letzten Ausgabe seines Hauptwerkes nicht gelungen, eine Theorie  einer der erwähnten Arten zu formulieren . Er nimmt keine „semiotische Analyse“  der Begriffsapparatur aus dem untersuchten Bereich vor und stellt „oft Behauptungen einer nicht im geringsten analytischen Natur“ auf, die zur Grundlage weiterer  Argumente  für  das  von  ihm  propagierte  Gerechtigkeitskonzept  werden .3  Dies  ist  darauf  zurückzuführen,  dass  in  einer  rein  theoretisch  angelegten  Argumentation  hinsichtlich der Gerechtigkeit kaum ein Anspruch auf politische und institutionelle  Umsetzung erhoben werden könnte . Mit dem Wort „Gerechtigkeit“ sind meistens  starke Intuitionen verbunden . Demnach sei „das Propagieren einer gewissen Auffassungsweise des Begriffes ‚Gerechtigkeit‘ keine Aufgabe semiotischer Natur“, sondern  der Parteinahme, im gegebenen Fall „zugunsten der Erfassung von Gerechtigkeit als 

1  2  3 

Vgl . Ziembiñski, Allgemeine Gerechtigkeitstheorie von Rawls, ETYKA 1974 (13), S . 237–240 . Ziembinski (Fn . 1), S . 237 . Ziembinski (Fn . 1), S . 237 f .

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eines allgemein abgestimmten oder akzeptierten Konzeptes, nach dem gesellschaftliche Beziehungen geordnet werden .“4  Die Argumentationsmethode von Rawls wurzelt in der vorstehend skizzierten  Überlegung .5 Ausgangspunkt seiner Ausführungen sind Überzeugungen intuitiver  Art .  Deren  Rang  kommt  auch  in  Vorbehalten  hinsichtlich  der  Bedeutung  von  Grundbegriffen zum Ausdruck . In der Theorie von Rawls spielen sie „keine besondere Rolle“ . Sie sind nur Hilfswerkzeuge, die ermöglichen, die Grundstruktur der  Theorie und Wechselbeziehungen zwischen ihren Elementen zu erklären .6 Intuitive  Ansichten über Gerechtigkeit  sind somit ein wesentlicher Bestandteil der Theorie  und markieren gedankliche Übergänge in der Argumentation von Rawls . Allerdings  versucht er in der Letztausgabe seines Hauptwerkes, theoretische Elemente durch  vorgenommene Änderungen sowie Erläuterungen zu stärken, die der Argumentationsstruktur einen stringenteren Charakter verleihen .7 Sein Augenmerk richtet sich  dort mit verstärkter Intensität auf eine theoretische Begründung, wodurch der Bereich der Parteinahme überschritten wird . Im vorliegenden Aufsatz wird diese Denkbewegung samt der dazugehörenden Methode einer Kritik unterzogen und als eine  Entwicklung gewertet, die zur Selbstbezogenheit der Gerechtigkeitstheorie führt .  Nachdem  Hintergrund  und  Ziel  meiner  Analyse  abgesteckt  sind,  soll  das  ihr  zugrunde liegende Verständnis der Begriffe „Theorie“ sowie „Konzeption“ der Gerechtigkeit  geklärt  und  vorläufig  begründet  werden .  Ich  nehme  an,  dass  eine  auf  Grundsätze  gestützte  Gerechtigkeitskonzeption  ein  Ergebnis  der  „Theorie“  ist .  Die  Theorie hat ihren Ursprung in intuitiven Ansichten und geht über das allgemeine  Verstehen der Gerechtigkeit hinaus .8 In der so konzipierten Beziehung ist die Theorie – in welcher intuitive Ansichten ineinander greifen – breiter aufgefasst als die  Konzeption der Gerechtigkeit . Das lässt sich durch einige Passagen aus den Schlussbemerkungen in der Theorie der Gerechtigkeit belegen . Rawls bezieht sich dort auf die  Gliederung seiner  Ausführungen und legt  dar, dass seine  Argumentation sich aus  drei Teilen zusammensetze . Im ersten Teil seien wesentliche Elemente der theoretischen  Struktur  enthalten .9  Ich  werde  hierauf  zur  Entfaltung  und  Auswertung  der  Argumentationsstruktur  von  Rawls  eingehen .  Meine  weiteren  Argumente  stellen  hingegen eine Begründung dessen dar, was ich im Lichte der zitierten Aussage von  Rawls für möglich halte . Im  Schrifttum  wird  Rawls’  Anliegen  über  die  Bedingungen  der  Anfangssituation,  den  Schleier  des  Nichtwissens,  erläutert,  von  welchen  ausgehend  Prinzipien  der Gerechtigkeit bestimmt und inhaltlich erwogen werden . Ein solch profiliertes  Bild  betrifft  die  Konzeption  der  Gerechtigkeit .  Denn  es  bedarf  keiner  Verdeutlichung der Struktur der Theorie, die im Lichte meiner Analyse als deren Voraussetzung anzusehen ist . Ein weiterer Beleg ist mit einem Gedankengang von Rawls verbunden, in dem  er  auf  Bedingungen  der  Anfangssituation  Bezug  nimmt .  –  Rawls´  Ausführungen  integrieren verschiedene Theorieelemente dermaßen flexibel, dass ihre gegenseitige  4  5  6  7  8  9 

Ziembinski (Fn . 1), S . 237 . Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 2 Aufl ., Warschau 2009, S . 20 ff . Rawls (Fn . 5), S . 94 ff . Vgl . Rawls (Fn . 5), S . 19, 25 ff ., S . 811, 824 ff . Rawls (Fn . 5), S . 38 ff . Rawls (Fn . 5), S . 813, 814 ff .

Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls

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Verwiesenheit verschleiert wird . Es ist hinzuzufügen, dass die Konzeption und die  Theorie schlussendlich ineinander fließen . Das ist die Folge der theoretischen Begründung der Konzeption, in der Rawls auf den Gerechtigkeitssinn abstellt . 2  arGumentatIon Ich fange mit der so genannten richtigen Rolle der Konzeption der Gerechtigkeit an .  Sie ist – hinsichtlich der Konstruktionsmethode – ein charakteristisches Element der  Theorie . In der richtigen Rolle der Konzeption fallen intuitive Ansichten über Gerechtigkeit mit den Grundbegriffen zusammen – genauer gesagt mit einer Annahme  der  Theorie  der  Gerechtigkeit,  die  zugleich  ein  Argument  für  die  Hauptidee  der  Theorie ist . Diese verwickelte Beziehung ermöglicht, den Konstruktionsmechanismus einzelner Elemente der Theorie vor Augen zu führen . Denn der oben angedeutete Zusammenhang fördert die Richtung des von Rawls angenommenen Gedankengangs zu Tage . Rawls bezeichnet die Gerechtigkeit als die erste Tugend öffentlicher Institutionen und hält fest, dass sie eine kompromisslose Tugend menschlichen Handelns sei .  Diese Feststellung drückt einfachste Vorahnungen aus, die wir der Gerechtigkeit gegenüber empfinden und die bestimmte Faktoren als moralisch bedeutsam hervorheben .10 Ihnen zu Folge wollen wir etwa nicht, dass die durch Gerechtigkeit garantierten Rechte zum Gegenstand eines politischen Feilschens oder einer Interessenschätzung werden . Rawls setzt weiterhin voraus, dass die Gesellschaft eine Vereinigung von Menschen  ist,  deren  gegenseitige  Beziehungen  Gegenstand  gewisser  Verhaltensregeln  sind, die man als bindend anerkennt . Diese Regeln ermöglichen ein gemeinsames  Kooperationssystem . Das Hauptproblem liegt darin, dass in der Gesellschaft sowohl  eine  Gemeinsamkeit  der  Interessen  vorliegen  kann,  wenn  eine  Kooperation  allen  ein besseres Leben ermöglicht, als auch Interessenkonflikte auftreten können, weil  es den Gesellschaftsmitgliedern nicht gleichgültig ist, wie die Vorteile verteilt werden, die aus ihrer Zusammenarbeit erwachsen . Die Kooperationsteilnehmer können  somit sowohl nach übereinstimmenden, als auch nach auseinanderstrebenden Interessen handeln .11 Diese kommen in konkurrierenden Ansprüchen zum Ausdruck,  jene entspringen aus potentiellen Vorteilen der Kooperation .12 Rawls  argumentiert  daher  für  die  Annahme  bestimmter  Gerechtigkeitsprinzipien, die Gegenstand einer Vereinbarung über angemessene Anteile bei der Verteilung werden und so das Wohl der Kooperationsteilnehmer fördern sollen . Die Vereinbarung scheint möglich zu sein, da jeder versteht, dass das Vorhandensein von  Grundsätzen  nötig  ist  und  deshalb  bereit  ist,  sie  anzunehmen .  Davon  zeugt  die  Tatsache, dass Vorahnungen über Gerechtigkeit allgemein sind . Intuitive Ansichten  sind demnach offen für eine Deutung und lassen sich in eine Konzeption der Gerechtigkeit integrieren, die unterschiedliche Überzeugungen in einem Bestand von  zusammenhängenden Grundsätzen in Einklang bringt . 10  Rawls (Fn . 5), S . 97 ff . 11  Rawls (Fn . 5), S . 46, 47 ff ., S . 201, 202 ff . 12  Rawls (Fn . 5), S . 195 ff .

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Die obige Charakteristik hat gezeigt, dass Rawls intuitive Überzeugungen von  Gerechtigkeit mit der Annahme verbindet, dass die Gesellschaft eine Vereinigung  von Menschen ist, die im Rahmen eines Kooperationssystems funktioniert . Die Implikationen dieser Konstruktionsmethode erlauben, die richtige Rolle der Konzeption der Gerechtigkeit zu klären . Rawls behauptet, dass die richtige Rolle der Konzeption der Gerechtigkeit auf der Bestimmung von Verteilungsanteilen beruht . Er  knüpft allerdings an die Hauptidee der Gerechtigkeitstheorie an, nämlich die Idee  des  Gesellschaftsvertrages . Die  Konzeption  hat  daher  ebenfalls  eine  Vereinbarung  angemessener Anteile bei der Verteilung gedanklich möglich zu machen . Denn das  Bestehen intuitiver Ansichten über Gerechtigkeit ist kein zureichender Grund für  die  Geltung  eines  gemeinsamen  Bestandes  von  Gerechtigkeitsprinzipien,  in  welchem solche Ansichten in Übereinstimmung gebracht werden . Auf diesen Aspekt  macht Rawls in seinen späteren Erläuterungen aufmerksam . Die Bedeutung der Anfangssituation, in der Gerechtigkeitsprinzipien angeblich vereinbarungsgemäß Geltung erlangen, wird dort zu einem Beweis verkürzt, den Rawls nur unter gewissen  Voraussetzungen  zur  Begründung  von  Prinzipien  zulässt .13  Die  Bestimmung  und  Begründung dieser Voraussetzungen samt der Begründung dazugehörender Wahlbedingungen erfolgt innerhalb der theoretischen Grundstruktur .  Die  Konstruktion  der  richtigen  Rolle  der  Konzeption  offenbart  die  Richtung  des Gedankengangs von Rawls innerhalb der Theorie . Man sieht, dass auf ihr die  Begründung  der  Konzeption  lastet .  Ich  habe  allerdings  auch  behauptet,  dass  die  Konstruktion  dieses  Theorieelements  einen  grundlegenden  Mechanismus  veranschaulicht, nach dem die Struktur der Theorie kreiert ist . Ihre Elemente werden in  zumindest  ähnlicher  Weise  konstruiert .  Rawls  integriert  intuitive  Ansichten  bzw .  Bedingungen, in denen diese Ansichten entstehen, auf der Ebene der Theorie . Einige Elemente der Theorie sind dabei „reine Elemente“, in welche intuitive Ansichten bzw . die erwähnten Bedingungen mittelbar transponiert werden . Sie bilden den  Kern der Theorie . Ich habe hier die sog . Anfangssituation im Sinn, die einen Bezug  auf intuitive Ansichten bzw . Bedingungen ihrer Entstehung (welche in anderen Elementen der Theorie integriert sind) mittelbar aufrechterhält .  Diese Anmerkungen lassen sich auch auf folgende Argumente stützen . Die richtige Rolle der Konzeption wird von Rawls bereits ganz zu Beginn erörtert und als  einleitende Frage behandelt . Der Umstand, dass sie nur eine einleitende Frage (für  die Grundstruktur der Theorie) ist, hat seinen Grund in der intuitiven und allgemeinen Überzeugung  von  dem Vorrang  der Gerechtigkeit .  Wenn  wir  der  Tugend  der  Gerechtigkeit  einen  Vorrang  einräumen,  ist  aber  noch  nicht  entschieden,  welche  Konzeption  der  Gerechtigkeit  wir  vorziehen .  In  der  Theorie  hängen  die  entsprechenden Präferenzen von vielen Faktoren ab . Außer formalen Gründen geht es in  einer Theorie, die von intuitiven Ansichten ausgeht und zugleich auf der Idee der  rationalen Wahl basiert, um materielle Faktoren, dank deren eine Konzeption als  gut befunden werden kann . Bei solchen Theorien geht es schlicht um die Absorption  vielfältiger  Probleme,  die  in  der  Gesellschaftsordnung  auftreten .  Sie  sollen  möglichst breit in die Theorie integriert werden . Das resultiert in der von mir bereits  vorausgesetzten Folge, dass intuitive Ansichten in Theorieelemente ineinander grei-

13  Vgl . Rawls (Fn . 5), S . 815, 817 ff .

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fen und meist zu einem unabwendbaren Schritt führen – zum Einbeziehen jener  Bedingungen, in denen sich die intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit gestalten .  Damit der Sinn dieser Anmerkung klarer wird, kann man feststellen, dass tatsächliche und nicht ganz offen gelegte Bedingungen von der Ebene ihres Zusammenhangs mit den intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit in eine (theoretisch verfasste) Sphäre verschoben werden, in der die Prinzipien bestimmt werden sollen .14  In dieser Sphäre werden zugleich die Bedingungen der Anfangssituation, d . h . die  Wahlbedingungen der Rawls’schen Gerechtigkeitsgrundsätze begründet . Auf Grund  der Feststellungen, die die Struktur der Theorie betreffen, bedeutet das aber nicht  nur, dass diese durch jene Elemente mitgestaltet wird, die zum Zweck der Begründung von Wahlbedingungen und Prinzipien eingeführt werden . Vielmehr kann man  diese Feststellung in eine allgemeinere Form fassen, die der vorstehend erwähnten  Eigenschaft von Theorien wie dieser Rechnung trägt, indem man behauptet, dass  sich die Theorie aus den Elementen zusammensetzt, welche die Konzeption begründen und auf ihre Wahl richtungsweisend wirken . Hinter dieser an und für sich nicht  bedenklichen Behauptung steckt die von Rawls letztendlich offen gelegte Überlegung, dass die tatsächliche Wahl der Prinzipien in einer der Begründung der Konzeption zugeordneten, theoretisch gefassten Wirklichkeit erfolgt . Das meint Rawls  wahrscheinlich, wenn er festhält, dass die Theorie der Gerechtigkeit ihre Unterstützung selbst generieren soll .15  Folge dessen ist eine formale Geschlossenheit der Gerechtigkeitstheorie . Sie löst  lediglich diejenigen Probleme, die die Theorie erblickt hat . Ein gutes Beispiel dafür  (für das Ineinandergreifen intuitiver Ansichten in die Theorie sowie für dessen Konsequenzen) ist die gesellschaftliche Grundstruktur, die als Begründung der Wahlbedingungen  konzipiert  wird .  Rawls  geht  hier  davon  aus,  dass  die  Konzeption  der  Gerechtigkeit kein Bewertungsinstrument für die Organisation der gesamten Gesellschaftsordnung zu sein braucht . Er beruft sich auf eine intuitive Ansicht, dass das  Vorliegen eines bestimmten Maßes an Übereinstimmung darüber, ob etwas gerecht  oder  ungerecht  sei,  von  Bedeutung  für  den  Bestand  der  Gesellschaft  miteinander  vereinigter Menschen ist . Das veranlasst ihn zur alleinigen Berücksichtigung jenes  Teiles  der  sozialen  Wirklichkeit,  dessen  gerechte  Organisation  der  Gemeinschaft  Dauer verleihen soll . Folge  ist  eine  quantitative Reduktion der  relevanten Gesellschaftsstrukturen, und zwar bis auf denjenigen Teil des Kooperationssystems, in welchem Ausgangspositionen aller bestimmt werden .16 Die Gründe, aus denen Rawls  die Regeln und Tätigkeit von Privatgesellschaften oder engeren Gesellschaftsgruppen usw . aus der Grundstruktur ausschließt, sind allerdings nicht intuitiv . Einer von  ihnen ist ein Derivat der Hauptidee der Theorie, nämlich der Idee einer öffentlichen  Wahl,  der  die  erwähnten  Tätigkeiten,  Regeln  oder  Umgangsformen  von  engeren  Gruppen  nicht  unterliegen .  Die  sogenannte  Grundstruktur  umfasst  demnach  nur  grundlegende und strukturelle Lebensbedingungen . Nur diese sind Gegenstand der  Gerechtigkeitsgrundsätze, die das Erreichen des Wohls im ganzen System der Zusammenarbeit ermöglichen sollen . Das hat Rawls im Sinn, wenn er feststellt, dass  die Konzeption der Gerechtigkeit die Deutung der Rolle ist, welche Gerechtigkeits14  Rawls (Fn . 5), S . 157, 158 ff . 15  Rawls (Fn . 5), S . 201 ff . 16  Rawls (Fn . 5), S . 34 ff .

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prinzipien innerhalb der gesellschaftlichen Grundstruktur haben, und dass Folgen  der Grundstruktur tief greifend (richtiger – weit reichend) sind . Wir wissen allerdings  nicht, und wegen der formalen Sebstbezogenheit der Theorie werden wir nie erfahren,  ob  in der Grundstruktur die  Vorteile aus dem  gesamten Kooperationssystem  oder nur aus dem öffentlichen und institutionellen Teil verteilt werden, was für die  Präferenz zugunsten der angebotenen Konzeption nicht ohne Bedeutung ist .  Eine weitere Frage, die sich im Lichte dieser Überlegungen aufdrängt, bezieht  sich auf die Qualität dessen, was ich als theoretisch gefasste Sphäre bezeichnet habe .  Hier lassen sich Folgen des skizzierten Konstruktionsmechanismus´ aufzeigen, der  zwischen intuitiven Ansichten und der Hauptidee der Theorie ausgedehnt ist . Die  Antwort auf die gestellte Frage bedarf eines Qualitätsmaßstabes . In diesem Zusammenhang ist erneut darauf aufmerksam zu machen, dass Rawls einfachsten Vorahnungen den Vorrang vor anderen Tugenden sowie einen allgemeinen Charakter zuschreibt . Die Hauptidee der Theorie hat er hingegen argumentativ in der Annahme  verankert, dass die Gesellschaft eine Vereinigung von Menschen sei, deren Organisation auf Institutionen (schlicht: Regeln) basiert .17 Zu bemerken ist, dass intuitive  Ansichten eine Verallgemeinerung der Konzeption erzwingen . Die Grundsätze der  Gerechtigkeit müssen Hauptbedingungen der Vereinigung von Menschen sein, da  die Gerechtigkeit nach unseren Vorahnungen eine kompromisslose Tugend ist . Wie  sich Grundsätze als Hauptbedingungen bewähren sollen, ergibt sich aus der Hauptidee der Gerechtigkeitstheorie . Erstens sollen sie alle weiteren Vereinbarungen regulieren, d . h . alle Formen der möglichen Zusammenarbeit bestimmen . Zweitens haben sie eine Kritik und eine Reform der Institutionen aus der Sicht der Gerechtigkeit  anzuleiten .18 Der erste Punkt weist deutlich auf das von mir nicht in Frage gestellte  Erfordernis der Allgemeinheit von Prinzipien, der zweite aber führt zur Steigerung  der Abstraktheit der in der Anfangssituation zustande gekommenen Vereinbarung . Rawls stellt nämlich fest, dass die Bewertung von Institutionen einer Analyse  bedarf . Die Bewertung beruht auf einer Reihe von hypothetischen Vereinbarungen,  die  die  Quelle  von  Regeln  sind .  Der  Anfang  der  Rekonstruktion  dieser  Vereinbarungsreihe  ist  der  Vertrag,  der  in  der  Anfangssituation  abgeschlossen  wurde .  Die  Wahlbedingungen, unter denen der Vertrag zustande kommt, haben demnach sehr  abstrakt zu sein, damit die gegenständliche Rekonstruktion möglich ist . Das Typische an dieser aus den Vertragstheorien bekannten Maßgabe, das der mit einer gewissen Kontinuität der Beziehungen aufgeladene Begriff des natürlichen Zustandes  ausdrückt, wird von Rawls aufgegeben . Es geht um die Beziehungen zwischen moralischen Subjekten und Gegebenheiten dieser Beziehungen, die samt der Charakteristik rationaler Personen in den traditionellen Vertragstheorien in der Kategorie des  rationalen Handelns erfasst werden . Das Hauptproblem dabei ist nicht, dass eine rationale Wahl in solch allgemeinen Bedingungen der Anfangssituation nicht rational sein kann, sondern vielmehr,  dass  in  der  Anfangssituation,  in  der  Wahlbedingungen  in  die  Charakteristik  von  dort  verorteten  Subjekten  eingehen,  nicht  viel  davon  übrigbleibt,  was  den  Beziehungen zwischen moralischen Subjekten entspricht, obwohl eine Charakteristik dieser Beziehungen im Lichte des Nichtwissens der Parteien über sich selbst und über  17  Rawls (Fn . 5), S . 46 f ., S . 201, 202 ff . 18  Rawls (Fn . 5), S . 40, 42 ff .

Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls

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ihre Lage denknotwendig erscheint . Dass eine solche Charakteristik unausweichlich  ist, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass Rawls von intuitiven Ansichten samt den  mit ihnen verhafteten Bedingungen ausgeht, unter denen zwischenmenschliche Beziehungen entstehen . Deren Charakteristik wird aber aus der Konzeption durch eine  weitgehende Verallgemeinerung der Wahlbedingungen eliminiert .19  Diesem Vorwurf trat Rawls mit dem Argument entgegen, dass die Konzeption  lediglich eine Beweisfunktion habe . Demzufolge wäre die erforderliche qualitative  Charakteristik in Elementen der Theorie zu suchen . Wenn das angeführte Argument  von Rawls entfaltet wird, stellt sich heraus, dass die grundlegenden und strukturellen  Gegebenheiten  in  zweierlei  Hinsicht  zu  lesen  sind:  sowohl  als  Charakteristik  der  Bedingungen, in denen sich intuitive Ansichten gestalten, als auch als Charakteristik  von Beziehungen zwischen Menschen, die ausschließlich kooperieren und die Gerechtigkeit nicht mehr als persönliche Tugend betrachten . Es ist demnach schwer zu  erklären, wie die einfachsten Vorahnungen, die gegenüber der Gerechtigkeit empfunden werden, irgendwelche Faktoren als moralisch bedeutsam hervorbringen können, mit denen man auf nicht-kooperative Beziehungen Bezug nehmen könnte . Man  sieht  dies  deutlicher  in  den  sog .  Gegebenheiten  der  Gerechtigkeit .  Vom  Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Grundstruktur her, welche objektivierte Bedingungen umfasst, kann man die Gegebenheiten der Gerechtigkeit für einen gewissen  Ersatz für detaillierte Bedingungen halten, die mit der Vorahnung verbunden sind .  Sie sind Bedingungen, die einer Gerechtigkeitserfahrung näher sind als diejenigen,  die in der Konstruktion der gesellschaftlichen Grundstruktur aufgefasst sind . Rawls  nennt sie daher Hintergrundbedingungen, die die Rolle der Gerechtigkeit definieren, und er betont, dass sie mit keiner konkreten moralischen Theorie verbunden  sind, zugleich aber als Hinweis für die Vorahnung wirken .20  Im Lichte dieser Bedingungen manifestiert sich eine zwischenmenschliche Kooperation als möglich und zugleich notwendig . Rawls weist hier auf eine körperliche  und  geistige  Ähnlichkeit  der  Mitglieder  einer  Kooperation  hin,  die  bewirkt,  dass  keines von ihnen über den Rest dominieren kann, und ferner auf die Bedingung  eines  mäßigen  Mangels .  Die  natürlichen  Ressourcen  und  die  Ressourcen  anderer  Art genügen nicht, damit die Kooperationssysteme überflüssig werden . Andererseits  sind die Umstände nicht dermaßen unzulänglich, dass die Kooperation zum Scheitern verurteilt wäre, auch wenn sie die Befriedigung aller Bedürfnisse nicht möglich  machen .21 Die Gegebenheiten der Gerechtigkeit werden des Weiteren durch Interessen und Bedürfnisse gekennzeichnet . Sie sind sich ungefähr ähnlich, was eine gegenseitige Kooperation ermöglicht, die für die Beteiligten vorteilhaft ist . Es soll hinzugefügt werden, dass sich diese Interessen direkt auf Einzelwesen beziehen, was Rawls  als ein Interesse an sich selbst auslegt . Eine Gegebenheit der Gerechtigkeit ist auch,  dass jeder seinen eigenen Lebensplan besitzt, der als der Verwirklichung würdig angesehen wird, obwohl diese Verwirklichung zum Streit um die natürlichen und gesellschaftlichen  Ressourcen  führt .  Die  Gegebenheiten  der  Gerechtigkeit  umfassen  auch Umstände, die in eine Annahme hinsichtlich des Wissens, Denkens und der  Meinung aufgenommen wurden . Die Kooperationssubjekte sind durch Mängel in  19  Rawls (Fn . 5), S . 157, 158 ff . 20  Rawls (Fn . 5), S . 199 ff ., S . 212 ff . 21  Rawls (Fn . 5), S . 211, 214 ff .

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Pawel Polaczuk

dem Sinn belastet, dass deren Wissen unvollständig bleibt, ihr Denkvermögen beschränkt ist und ihre Meinungen Ängsten, Vorurteilen und einem starken Engagement für die eigenen Angelegenheiten ausgesetzt sind . Manche dieser Mängel, so  Rawls, würden aus moralischen Unzulänglichkeiten, Selbstsucht oder Vernachlässigungen herrühren . Doch können sie größerenteils als ein Bestandteil des menschlichen Daseins gelten .22 Die Qualität der erwogenen Elemente bezeugt, dass sie das Vorhaben widerspiegeln, die Charakteristik der wirklichen Beziehungen und Gegebenheiten, in denen  sich  intuitive  Ansichten  gestalten,  durch  Ausschluss  bestimmter  Beziehungen  zu  reduzieren .  Die  Reduktion  erfolgt  aber  auch  durch  weitgehende  Objektivierung .  Um  das  Maß  der  Objektivierung  der  erwogenen  Gegebenheiten  zu  veranschaulichen, kann man sich auf jenen Teil der Ausführungen von Rawls berufen, in dem  sich  das  Vorhaben  offenbart,  das  der  Konstruktion  aller  Bedingungen  zugrunde  liegt . Rawls bezieht die Entscheidung über den Vorzug auf eine zufällig gewählte  Person . Wenn sie – nach einer angemessenen Überlegung – eine gewisse Konzeption  der Gerechtigkeit gegenüber einer anderen vorzieht, dann werden es alle tun, und  man kann eine einmütige Übereinstimmung erreichen .23 Es stellt sich also heraus,  dass Rawls die Beziehungen zwischen Teilnehmern der Zusammenarbeit infolge der  Umdeutung der sozialen Wirklichkeit minimalisiert .  Eine analoge Anmerkung könnte man in Bezug auf andere Elemente formulieren . – Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Denkbewegung einen intuitiven  Anfang  nimmt .  Die  geschilderte  Objektivierung  ist  an  die  Allgemeinheit  der  Wahlbedingungen gekoppelt, diese hingegen wird durch intuitive Ansichten über  Gerechtigkeit erzwungen . Wir bekommen einen im hohen Grade abstrakten Vertrag  unter Preisgabe einer materiell umgreifenden Charakteristik von zwischenmenschlichen Beziehungen sowie von Gegebenheiten, die die Erfahrung der Gerechtigkeit  gestalten . Aus dieser Erfahrung aber entspringen die intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit .  Selbst  wenn  der  intuitive  Charakter  der  Ansichten  über  Gerechtigkeit  diesen Zusammenhang gewissermaßen lockert, werden seine Glieder jedoch durch  den angelegten theoretischen Maßstab (Vereinbarung) gänzlich voneinander abgekoppelt . Die Charakteristik von zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Gegebenheiten wird in die Theorie gerückt . 3  schlussBemerkunGen Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Aussagen von Rawls verweisen . Er begann  mit den intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit, da diese auf wesentliche moralische Aspekte hinweisen . Nach Rawls sei auch das mit den intuitiven Ansichten eng  verbundene Vertrauen am größten . Ich führe diese Äußerungen aus zweierlei Gründen an . Erstens, um den Schwierigkeitsgrad zu veranschaulichen, dem die gelieferte  Begründung gerecht werden sollte . Damit ist meine Kritik zugleich gemildert . Ein  zweiter Grund ist mit der Denkrichtung verbunden, in der Rawls versucht, intuitive  Ansichten  über  die  Gerechtigkeit  in  eine  hypothetische  Situation  zu  überführen .  22  Rawls (Fn . 5), S . 184, 195, 197 ff . 23  Rawls (Fn . 5), S . 212 ff .

Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls

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Wenn man dieses Vorhaben nur aus dem Blickwinkel der Ursprungslage einschätzen  würde, die der Anfangssituation vorangestellt wird, also auf eine der traditionellen  Theorie des Vertrags nahe Weise, könnte man Zweifel hegen . Denn Bedingungen  der Gerechtigkeitserfahrung sind komplex, sogar dann, wenn wir Gerechtigkeit nur  auf Institutionen beziehen . Rawls konzentriert sich dagegen auf Einschränkungen  und  positive  Determinanten .  Er  wandelt  jene  Bedingungen,  die  unser  Bedürfnis  nach Gerechtigkeit erwecken oder die für die Gerechtigkeit hinderlich sind, in solche  um,  die  uns  positiv  determinieren .  Seine  Wahlbedingungen  dürfen  demzufolge  nicht dieselben sein wie Gegebenheiten unserer Erfahrung . Wir werden sie also tatsächlich nicht so leicht akzeptieren und den unter ihnen vereinbarten Grundsätzen  Vertrauen schenken wie vergleichsweise unsere intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit . Rawls ist sich dessen bewusst, indem er für viele Aspekte der Konzeption gewisse (sie) fördernde Argumente einführt .24 Er kommt auf dieses Problem auch in  solch seltsamen Bemerkungen zu sprechen, wie der, dass die Anfangssituation ein  intuitiver Begriff sei . Intuition sei – was immer das auch bedeuten mag – ein Mittel,  das erlaubt, den zu verfolgenden Zweck aus der Distanz zu betrachten .25

24  Vgl . Rawls (Fn . 5), S . 54 ff . 25  Rawls (Fn . 5), S . 54 ff .

II  unparteIlIchkeIt  und unIversalIsIerunG luzern 2011

klaus MatHis unparteIlIchkeIt 1  eInleItunG Das Gebot der Unparteilichkeit spielt sowohl in der Ethik als auch im Recht eine  bedeutende  Rolle .  In  der  Ethik  gilt  Unparteilichkeit  neben  Universalisierung  als  Charakteristikum  des  idealen  übergeordneten  Standpunktes  der  Moral,  von  dem  aus die handelnde Person von ihren Interessen, Absichten und Urteilen zu abstrahieren  vermag .1  Im  Recht  bedeutet  Unparteilichkeit  die  Unvoreingenommenheit  der  Gerichte  bzw .  die  Neutralität  der  Rechtsprechung .  Mittels  Unvereinbarkeiten  von  Ämtern  und  Ausstandsregelungen  oder  Grundsätzen  wie  „audiatur  et  altera  pars“ wird im Rechtsstaat dem Prinzip der Unparteilichkeit Nachachtung verschafft . Im  Folgenden  soll  die  Rolle  der  Unparteilichkeit  in  der  Ethik  und  im  Recht  näher erörtert werden, wobei zum einen die Frage aufgeworfen wird, wie sich im  alltäglichen  Leben  Unparteilichkeit  mit  Freundschaft  vereinbaren  lässt,  und  zum  anderen, ob ein empathischer Richter unparteilich sein kann . 2  unparteIlIchkeIt  In  der ethIk In der Ethik hat sich Unparteilichkeit historisch in drei Überlegungsschritten als ein  Grundbegriff etabliert: Erstens über die Vorstellung, dass es eines Standpunktes der  Interesselosigkeit bedarf, damit die Verallgemeinerung von subjektiven moralischen  Urteilen gelingt (Hume), zweitens über die Bestimmung dieses interesselosen Standpunktes  als  die  Perspektive  des  wohlwollenden,  wohl  informierten  und  unparteiischen Beobachters (Smith), und schliesslich über die Vorstellung der moralischen  Rechtfertigung, wobei sich eine deontologische (Kant) und eine utilitaristische Tradition (Bentham) unterscheiden lassen .2 David Hume weist in „An Inquiry concerning the Principles of Morals“ auf den  Unterschied zwischen dem bloss subjektiven Standpunkt und der unpersönlichen,  intersubjektiven Sichtweise hin . Wenn ich jemanden meinen Feind nenne, ist das  etwas anderes, als wenn ich ihn als böse bezeichne . Durch den Übergang vom persönlichen zum öffentlichen Standpunkt drückt man aus, wie die bescholtene Person  ganz allgemein von der Gesellschaft wahrgenommen wird:3 „When a man denominates another his enemy, his rival, his antagonist, his adversary, he is understood  to  speak  the  language  of  self-love,  and  to  express  sentiments,  peculiar  to  himself,  and  arising from his particular circumstances and situation . But when he bestows on any man the  epithets of vicious or odious or depraved, he then speaks another language, and expresses sentiments, in which, he expects, all his audience are to concur with him . He must here, therefore,  1  2  3 

Elif Özmen, Unparteilichkeit, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg .), Handbuch  der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd . 2, Berlin 2008, S . 1376–1380, S . 1376 . Özmen (Fn . 1), S . 1376 . David Wiggins, Universalizability, Impartiality, Truth,  in:  ders .,  Needs,  Values,  Truth,  3 . Aufl .,  Oxford 1998, S . 59–86, S . 60 .

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Klaus Mathis depart from his private and particular situation, and must choose a point of view, common to  him  with others: He must move  some universal  principle of the  human frame, and touch a  string, to which all mankind have an accord and symphony .“4

In Adam Smiths Ethik dient das Prinzip des unparteiischen Beobachters („impartial  spectator“) der moralischen Qualifikation des eigenen Verhaltens wie auch des Verhaltens anderer . Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sympathie („sympathy“, „fellow-feeling“)  im  Sinne  von  Mitgefühl .  In  der  Sympathie  sieht  Smith  die  Wurzel  derjenigen  Prinzipien,  die  den  Menschen  dazu  bestimmen,  am  Schicksal  anderer  Anteil zu nehmen . Es sei die Fähigkeit, Gefühle und Gedanken anderer mit Hilfe  der Vorstellungskraft im eigenen Inneren mitzuempfinden: „By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the  same torments, we enter as it were into his body, and we become in some measure the same  person with him […] .“5

Nimmt man am Schicksal des anderen teil, tritt man wie ein aussenstehender Beobachter auf, der in der Lage ist, das Verhalten des anderen zu beurteilen, indem man  sich vorstellt, was man selbst in einer ähnlichen Lage empfinden würde . Anhand der  gleichen Grundsätze bildet man sich auch eine Meinung über das eigene Verhalten .6  Die Fähigkeit des Mitfühlens ist nach Smith die Voraussetzung jeder moralischen  Wertung und Beurteilung .7 Mit Sympathie meint er jedoch weder eine inhaltliche  Tugend noch irgendeine Form von Altruismus, sondern das rein formale Vermögen,  sich wechselseitig ineinander einzufühlen bzw . einen Rollentausch vorzunehmen .8  Dank dieser allgemeinmenschlichen Neigung zur Unparteilichkeit sorgt der unparteiische Beobachter in uns für die Einhaltung der grundlegenden sozialen Spielregeln, tritt als entscheidende Instanz bei der Beurteilung des eigenen Verhaltens auf  und ist Hauptakteur bei der Herausbildung der allgemeinen Regeln der Moral .9 Der Kategorische Imperativ von Kant – so etwa in der meist verwendeten Formulierung  „Handle  nur  nach  derjenigen  Maxime,  durch  die  du  zugleich  wollen  kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde .“10 – erfordert einen Standpunkt der  reinen praktischen Vernunft, von dem aus die formale, d . h . von den Interessen und  Absichten als auch von den Wirkungen der Handlungen absehende Übereinstimmung der Handlungsmaxime mit dem allgemeinen Gesetz geprüft werden kann .11  David Hume,  An  Inquiry  concerning  the  Principles  of  Morals,  hrsg .  von  Tom L. Beauchamp,  Oxford 1998, Kapitel 9 Teil 1 Abs . 6 . 5  Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, hrsg . von Knud Haakonssen, Cambridge 2002,  Teil I Abschnitt i Kapitel I Abs . 2 . 6  Horst Claus Recktenwald, Über Adam Smiths „The Theory of Moral Sentiments“: Vademecum zu  einem frühen Klassiker, Düsseldorf 1986, S . 22 f . 7  Walther Eckstein,  Zur  wissenschaftlichen  Bewertung  der  „Theorie  der  ethischen  Gefühle“,  in:  Horst Claus Recktenwald (Hrsg .), Ethik, Wirtschaft und Staat: Adam Smiths politische Ökonomie  heute, Darmstadt 1985, S . 127 . 8  Heinz-Dieter Kittsteiner, Ethik und Theologie: Das Problem der „unsichtbaren Hand“ bei Adam  Smith, in: Franz-Xaver Kaufmann/Hans-Günter Krüsselberg (Hrsg .), Markt, Staat und Solidarität  bei Adam Smith, Frankfurt a . M . 1984, S . 41–73, S . 45 . 9  Georg Johannes Andree, Sympathie und Unparteilichkeit: Adam Smiths System der natürlichen  Moralität, Paderborn 2003, S . 113 f . 10  Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants Werke, Akademie-Textausgabe,  Bd . IV, Berlin 1968, S . 421 . 11  Özmen (Fn . 1), S . 1376 . 4 

Unparteilichkeit

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Kant erklärt den Kategorischen Imperativ anhand verschiedener Beispiele, so etwa  mithilfe des falschen Versprechens: Die Maxime „[W]enn ich mich in Geldnot zu  sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich  weiß, es werde niemals geschehen .“ erweist sich als nicht universalisierbar, als hierdurch ein Widerspruch entstünde, „[d]enn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß  jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit  dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man  damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß  ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde .“12 Massgeblich ist demnach allein der bei der Universalisierung entstehende Widerspruch, wobei die mit den entsprechenden Handlungen einhergehenden negativen empirischen Folgen unbeachtlich bleiben . Ganz anders gestaltet sich die utilitaristische Ethik, bei der sich der Gratifikationswert  einer  Handlung  aus  der  Differenz  aus  Freude  („pleasure“)  und  Schmerz  oder Leid („pain“) aller Betroffenen ergibt .13 Jeremy Bentham definiert in seinem  Hauptwerk „An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ das Utilitätsprinzip deshalb wie folgt: „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action  whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the  happiness of the party whose interest is in question: or, what is the same thing in other words,  to promote or to oppose that happiness . I say of every action whatsoever; and therefore not  only of every action of a private individual, but of every measure of government .“14

Der  utilitaristische  Nutzenkalkül  verlangt  in  unparteilicher  Weise,  dass  das  Glück  und Unglück jeder einzelnen – einschliesslich der eigenen – Person in gleicher Weise  berücksichtigt wird .15 Nach der utilitaristischen Ethik lassen sich moralisch verbindliche Handlungsanweisungen jedoch – im Gegensatz zum Kategorischen Imperativ  – nicht rein deduktiv gewinnen . In erster Linie sind empirische Kenntnisse erforderlich, nämlich Kenntnisse über die Folgen einer Handlung und die Bedeutung dieser  Folgen für die Wohlfahrt der Gesellschaft .16 Die Richtigkeit des Utilitätsprinzips ist  für Bentham evident, weil es dem Menschen von Natur aus eingegeben sei . Es zu  beweisen, sei zwar unmöglich, aber auch unnötig . Doch könne es in keinem Fall  widerlegt werden .17 In den modernen Gerechtigkeitstheorien spielt die Unparteilichkeit namentlich  bei John Rawls eine wichtige Rolle . In „A Theory of Justice“ werden die Parteien im  Urzustand mit dem Kunstgriff des Schleiers des Nichtwissens („veil of ignorance“)  gezwungen,  einen  unparteilichen  Standpunkt  einzunehmen,  um  sich  für  eine  gerechte Gesellschaftsordnung zu entscheiden:

12  Kant (Fn . 10), S . 422 . 13  Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of  Morals  and  Legislation,  hrsg . von J. H. Burns/H. L. A. Hart, Oxford 1996, Kapitel I Abs . 1 . 14  Bentham (Fn . 13), Kapitel I Abs . 2 . 15  Özmen (Fn . 1), S . 1376 . 16  Otfried Höffe,  Einführung  in  die  utilitaristische  Ethik:  Klassische  und  zeitgenössische  Texte,  2 . Aufl ., Tübingen 1992, S . 12 . 17  Bentham (Fn . 13), Kapitel I, Abs . 11 f .

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Klaus Mathis „[T]he parties do not know certain kinds of particular facts . First of all, no one knows his place  in society, his class position or social status; nor does he know his fortune in the distribution of  natural assets and abilities, his intelligence and strength, and the like .“18

Damit  also  die  Entscheidung  nicht  zum  Vorteil  der  eigenen  Person  oder  Gruppe  gefällt wird, verfügen die Parteien im Urzustand zwar über ein allgemeines Wissen  –  etwa  über  wirtschaftliche,  soziale,  politische  oder  psychologische  Zusammenhänge, d . h . über sozialwissenschaftliches Wissen –, aber sie kennen weder ihre wirtschaftliche oder gesellschaftliche Lage noch ihre natürlichen Talente und Fähigkeiten . Indem derartige Sonderbedingungen als Entscheidungsgrund ausfallen, gibt der  Schleier  des  Nichtwissens  dem  Kern  der  Gerechtigkeit,  der  Unparteilichkeit,  eine  operationale Bestimmung .19 Kritische Einwände gegen die Unparteilichkeit als konstitutives Element einer  Gerechtigkeitstheorie werden etwa aus kommunitaristischer Perspektive vorgebracht .  Für den Kommunitarismus ist ein abstrakter Standpunkt der Unparteilichkeit, der  sich den lebensweltlichen, durch Traditionen, Gewohnheiten und kulturellen Identitäten geprägten Milieus verschliesst, eine Unmöglichkeit . Nicht die Rechtfertigung  von  Unparteilichkeit  als  gerechtigkeitskonstitutierendes  Prinzip,  sondern  das  Verständnis der anthropologischen, historischen und kulturellen Grundlagen von gesellschaftlich etablierten Vorstellungen von Gerechtigkeit müssten am Anfang der  Theoriebildung stehen (so etwa Alasdair MacIntyre, Michael Sandel oder Michael  Walzer) .20 Auch Seyla Benhabib bezweifelt, dass der konturlose Mensch hinter dem  Schleier des Nichtwissens überhaupt fähig ist, den Standpunkt des Anderen einzunehmen . Es bestehe ja gar kein Unterschied zwischen dem Selbst und dem Anderen .  Sie ersetzt deshalb den verallgemeinerten Anderen durch den konkreten Anderen:  Will man den Anderen verstehen, muss man mehr – nicht weniger – über ihn wissen . Man könne, so Benhabib, moralisch relevante Situationen nicht unabhängig  vom Wissen über die Geschichte, Charakterzüge, Wünsche und Verhaltensweisen  der Handelnden beurteilen .21 Es wird jedoch noch grundsätzlichere Kritik gegen Ethiken vorgebracht, die auf  der Idee der Unparteilichkeit basieren . John Cottingham etwa moniert, dass mit einer  Moral  etwas  nicht  stimmen  könne,  die  es  gebiete,  persönliche  Eigenschaften  und besondere Nähe wie Verwandtschaft oder Freundschaft für moralisch irrelevant  zu erklären .22 Auch Derek Parfit glaubt, dass im persönlichen Leben die spezielle  Beziehung zu bestimmten Personen moralisch berücksichtigt werden dürfe . So sei es  zunächst  sicherlich  erlaubt,  seinen  eigenen  Interessen  besonderes  Gewicht  beizumessen . Auch könne man nicht verlangen, dass man anderen helfen müsse, wenn  dies ein zu grosses Opfer erfordere . Es müsse auch zulässig sein, den Interessen nahestehender  Personen  –  wie  etwa  Eltern  oder  Kindern  –  Priorität  einzuräumen .23  18  John Rawls, A Theory of Justice, 2 . Aufl ., Cambridge 1999, S . 118 . 19  Otfried Höffe, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg .), John Rawls: Eine  Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 1998, S . 3–26, S . 20 . 20  Özmen (Fn . 1), S . 1379 . 21  Seyla Benhabib, Selbst im Kontext: Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus,  Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt a . M . 1995, S . 180 ff . 22  Siehe John Cottingham, Ethics and Impartiality, Philosophical Studies: An International Journal  for Philosophy in the Analytic Tradition 1983 (43), S . 83–99, S . 88 . 23  Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984, S . 485 .

Unparteilichkeit

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John Hardwig hält die traditionellen Ethiken nicht nur für unvollständig, sondern  für  grundsätzlich  falsch  konzipiert,  da  sie  im  Kontext  persönlicher  Beziehungen  nicht sinnvoll anwendbar seien .24 Die Kantische Ethik beispielsweise entpersonalisiere alle persönlichen Beziehungen . Sie gehe von der falschen Dichotomie aus, dass  man entweder seine eigenen Ziele verfolge und andere als Mittel zum Zweck reduziere, oder dass man andere mit ihren eigenen Zwecken respektiere . Zusätzlich zu  eigenen Zwecken und Zwecken anderer sei es jedoch auch möglich, dass eine ganz  bestimmte Person einer meiner Zwecke sei . Der Utilitarismus andererseits betrachte  persönliche  Beziehungen,  wenn  er  sie  überhaupt  als  eigenes  Gut  berücksichtige,  bloss als ein Mittel, um das höchste Gut, die Glückseligkeit, zu befördern . Beide  Ethiken seien daher ungeeignet, persönliche Beziehungen adäquat zu berücksichtigen und in diesem Kontext befriedigende Antworten zu geben .25 Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Unparteilichkeit mit Blick auf die anthropologischen Vorgegebenheiten eine schwierige Voraussetzung sei, da niemand  aus seiner Haut heraus könne und daher zumindest unbewusst immer zuerst Partei  für sich selbst ergreife . Es wird in diesem Zusammenhang auch an ein altes somalisches Sprichwort erinnert: „Ich und Somalia gegen die Welt; ich und mein Clan gegen Somalia; ich und meine Familie  gegen den Clan; ich und mein Bruder gegen die Familie; ich gegen meinen Bruder .“26

Diese damit zum Ausdruck gebrachte abgestufte Sympathie lässt sich auch wie folgt  formulieren:  Zuerst  komme  ich,  dann  kommt  mein  Bruder  und  meine  Familie,  dann unsere Sippe und danach erst unser Volk – und zusammen treten wir gegen  den Rest der Welt an .27 Es fragt sich deshalb, ob eine Ethik, die in allen Bereichen  des Lebens stets vollkommene Unparteilichkeit verlangt, nicht realitätsfremd ist und  die Menschen hoffnungslos überfordert . Die Kontroverse zwischen Befürwortern und Kritikern einer Ethik der Unparteilichkeit lässt sich erheblich entschärfen, wenn man Unparteilichkeit auf einer ersten  und einer zweiten Stufe unterscheidet . Die Befürworter verteidigen in der Regel die  Unparteilichkeit  der  zweiten  Stufe:  Sie  stellt  hier  einen  Test  für  moralische  und  rechtliche Regeln einer gerechten Gesellschaft dar . Die Kritiker beziehen sich hingegen meistens auf die Unparteilichkeit der ersten Stufe: Unparteilichkeit als Verhaltensmaxime im alltäglichen Leben .28 Diese zweistufige Konstruktion lässt sich sehr  schön in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit veranschaulichen: Der Schleier des Nichtwissens blendet zwar persönliche Eigenschaften wie Rasse oder Geschlecht aus, aber  die Parteien im Urzustand könnten ohne weiteres die persönliche Maxime haben, 

24  John Hardwig, In Search of an Ethics of Personal Relationships, in: George Graham/Hugh Lafollette  (Hrsg .), Person to Person, Philadelphia 1989, S . 63–81, S . 64 . 25  Hardwig (Fn . 24), S . 70 f . 26  Max Baumann, Recht und Ethik: Dimensionen einer kommunikativen Rechtstheorie, in: Sandra Hotz/Klaus Mathis (Hrsg .), Recht, Moral und Faktizität: Festschrift für Walter Ott, Zürich/ St . Gallen 2008, S . 121–132, S . 127 . 27  Franz M. Wuketits, Bioethik, München 2006, S . 35 . 28  Brian Barry, Justice as Impartiality, Oxford 1995, S . 11, S . 77 und S . 194 . Zu dieser Unterscheidung siehe auch Susan Mendus, Impartiality in Moral and Political Philosophy, Oxford 2002,  S . 55 ff .

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Klaus Mathis

dass  jedes  Individuum  seinen  eigenen  Wünschen  und  Interessen  ein  besonderes  Gewicht beimessen darf .29 Die Quintessenz dieser Überlegungen ist, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit  und damit auch der Unparteilichkeit, die für die Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft geschaffen worden sind, nicht unbedingt auf moralische Fragen des persönlichen Lebens anwendbar sind .30 Der unparteiliche Standpunkt ist sicherlich erforderlich für die Gestaltung einer gerechten gesellschaftlichen Grundordnung, er ist  aber nicht unbedingt notwendig, um ein gutes Leben zu definieren, wie dieses in  persönlichen  Beziehungen,  der  Nächstenliebe,  der  Familie  oder  der  Freundschaft  zum  Ausdruck  kommt .31  Nach  Aristoteles  ist  die  Freundschaft  („philia“)  für  das  Leben das Notwendigste32 und deshalb noch wichtiger als die vollkommenste aller  Tugenden, die Gerechtigkeit („dikaiosyne“)33, und damit auch als die Unparteilichkeit . Wie für jede Tugend gilt auch für sie, dass sie durch wiederholtes Handeln zur  Gewohnheit  werden  muss .34  Wie  gezeigt  wurde,  lässt  sich  Freundschaft  mit  einer  differenzierten Konzeption der Unparteilichkeit durchaus vereinbaren .35 3  unparteIlIchkeIt  Im recht Die  Idee  der  Unparteilichkeit  spielt  auch  im  modernen  Rechtsstaat  eine  wichtige  Rolle . So sah etwa Max Weber in seiner Analyse der Bürokratie im Gebot der Unparteilichkeit  eine  der  primären  Tugenden  des  Staatsbeamten .  Bürokratische  und  damit rationale Herrschaft charakterisiert sich nach Weber u . a . durch „die Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit: sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft,  daher  ohne  ‚Liebe‘  und  ‚Enthusiasmus‘,  unter  dem  Druck  schlichter  Pflichtbegriffe;  ‚ohne Ansehen der Person‘, formal gleich für ‚jedermann‘, d . h . jeden in gleicher faktischer Lage  befindlichen Interessenten, waltet der ideale Beamte seines Amtes .“36

Gustav Radbruch hat diese Auffassung für den Richter mit Blick auf die Rechtssicherheit und die gleichförmige Anwendung der Gesetze noch auf die Spitze getrieben: 29  Cottingham (Fn . 22), S . 84 . 30  Zum Umgang mit diesem Spannungsverhältnis siehe auch die Studie von Elif Özmen, Moral,  Rationalität und gelungenes Leben, Paderborn 2005 . Zur gesamten Thematik siehe ferner die  Beiträge in Brian Feltham/John Cottingham (Hrsg .), Partiality and Impartiality: Morality, Special  Relationships, and the Wider World, Oxford/New York 2010 . 31  Thomas E. Hill,  Dignity  and  Practical  Reason  in  Kant’s  Moral  Theory,  Ithaca/London  1992,  S . 238 f . 32  Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg . von Günther Bien, 4 . Aufl ., Hamburg 1985, 8 . Buch 1 . Kapitel 1155a . 33  Aristoteles (Fn . 32), 5 . Buch 3 . Kapitel 1129b . 34  Aristoteles (Fn . 32), 2 . Buch 1 . Kapitel 1103a . 35  Für eine eingehendere Darstellung der Moralphilosophie von Adam Smith, von Jeremy Benthams  Utilitarismus und der Theorie der Gerechtigkeit von  John  Rawls siehe  die  Kapitel 5, 6  und 7 in Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen  Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, 3 . Aufl ., Berlin 2009; bzw . ders., Efficiency  Instead of Justice? Searching for the Philosophical Foundations of the Economic Analysis of  Law, New York 2009 . 36  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5 . Aufl ., Tübingen 1980, S . 129 .

Unparteilichkeit

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„Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter,  der  sich  durch  sein  widerstrebendes  Rechtsgefühl  in  seiner  Gesetzestreue  nicht  beirren  lässt  […] .“37

Eine  richterliche  Entscheidung  erfüllt  die  Unparteilichkeitsforderung  einerseits  durch Einhaltung der positivrechtlich normierten Verfahrensstandards und der Auswahl und Anwendung der sachlich gerechtfertigten materiellen Regeln sowie andererseits durch die Berücksichtigung der relevanten sachlichen Gesichtspunkte einer  Anwendungssituation . Absolute Objektivität kann dabei jedoch nicht gefordert werden, da der Richter seine eigene Persönlichkeit nicht ausblenden kann . Könnte in  der Bestimmung des Richtigen das Moment der persönlichen Entscheidung eliminiert  werden,  wäre  also  das  Richtige  in  einem  absoluten  Sinne  objektiv  gegeben,  wäre die Forderung nach Unparteilichkeit sinnlos .38 Ein  Urteil  erhält  das  Prädikat  der  Unparteilichkeit,  wenn  es  gegenüber  allen  betroffenen Parteien sachlich gerechtfertigt werden kann . Nicht mehr rechtfertigen  lässt  es  sich  dann,  wenn  es  die  Interessen  einer  Partei  zum  Nachteil  der  anderen  Partei ungleich stärker gewichtet, ohne dass dafür sachliche Gründe angeführt werden können .39 „Empathetic  Judging“,  wie  vom  damaligen  Präsidentschaftskandidaten  Barack  Obama im Wahlkampf proklamiert, löste in der amerikanischen Juristenwelt heftige  Diskussionen aus . Obama sagte, er wünsche sich im obersten Gericht der Vereinigten Staaten Personen mit Herz und Empathie, die in der Lage seien, sich in sozial  schwächer Gestellte einzufühlen: „[W]e  need  somebody  who’s  got  the  heart,  the  empathy,  to  recognize  what  it’s  like  to  be  a  young teenage mom [… and] to understand what it’s like to be poor, or African-American, or  gay, or disabled, or old .“40

Es fragt sich natürlich, ob ein solcher Richter noch unparteilich urteilen kann . Hat  er nicht einfach nüchtern das Recht anzuwenden, ohne sich in die betroffenen Parteien einzufühlen? In diese Richtung weist etwa die Stellungnahme von Jessica Weisner: „Lady Justice doesn’t have empathy for anyone . She rules strictly based upon the law and that’s  really the only way that our system can function properly under the Constitution .“41

Um das Verhältnis von Empathie und Unparteilichkeit genauer zu reflektieren, ist  zunächst zu klären, was unter „Empathie“ zu verstehen ist . In der heutigen Psychologie  bezeichnet  sie  die  Kompetenz,  sich  in  andere  hineinzuversetzen .  Im  Englischen spricht man auch von „conceptual perspective taking“ . Damit meint man die  Fähigkeit, andere als Personen mit eigenen Zielen, Interessen und Fähigkeiten wahrzunehmen .42 Es kann dabei ein emotionaler von einem kognitiven Aspekt der Em37  Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, 2 . Aufl ., Heidelberg 2003, S . 84 . 38  Georg Lohmann,  Unparteilichkeit  der  Moral,  in:  Lutz Wingert/Klaus Günther  (Hrsg .),  Die  Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas,  Frankfurt a . M . 2001, S . 434–455, S . 447 f . 39  Lohmann (Fn . 38), S . 454 . 40  Senator Barack Obama, zit . nach Bandes (Fn . 44), S . 135 . 41  Jessica Weisner, zit . nach Bandes (Fn . 44), S . 138 . 42  Lynne N. Henderson,  Legality  and  Empathy,  Michigan  Law  Review  1987  (85),  S . 1574–1654,  S . 1581 .

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Klaus Mathis

pathie unterschieden werden: Emotionale Empathie lässt uns fühlen, was ein anderer fühlt, kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt .43 Susan A . Bandes findet es irreführend, darüber zu diskutieren, ob Richter Empathie haben sollen oder nicht . Es sei eine Tatsache, dass sie mit eigenen Gefühlen  auf die Gefühle der Parteien reagieren würden . Entscheidend sei vielmehr, dass sich  Richter über die eigene Fähigkeit zur Empathie, deren Grenzen und allfällige „blinde  Flecken“  Rechenschaft  ablegen  würden .44  Ähnlich  argumentiert  auch  Lynne  N .  Henderson . Sie weist dabei auf die Problematik hin, dass man für Personen aus der  gleichen gesellschaftlichen Gruppe eher Empathie entwickle .45 Man spricht in diesem Zusammenhang von Urteilsverzerrungen, sog . „biases“ .  Martin L . Hoffmann erwähnt den „familiarity bias“ und den „here-and-now bias“ .  Einerseits ist man empathischer gegenüber Personen, die einem vertrauter sind, andererseits ist die Empathie zu Personen besonders stark, die räumlich und zeitlich in  unmittelbarer Nähe sind . Der „familiarity bias“ lässt sich noch in „in-group-bias“,  „friendship bias“ und „similarity bias“ unterteilen: Man ist empathischer gegenüber  Gruppenmitgliedern (z . B . Angehörigen der gleichen Ethnie) sowie Freunden und  Personen, die einem hinsichtlich bestimmter Merkmale ähnlich sind (z . B . gleiches  Geschlecht) .46 Empathie kann daher in der Tat eine Gefahr für die Unparteilichkeit  richterlicher Urteile darstellen, vor allem dann, wenn der Richter die eigenen Gefühle nicht kritisch reflektiert . Noch gefährlicher ist jedoch ein Leugnen der Empathie, da man auf diese Weise deren Gefahren ausblendet und von seinem eigenen,  engstirnigen Standpunkt ausgeht, den man irrigerweise für den allgemeinen hält .47 Die  bewusste  Auseinandersetzung  mit  den  Absichten  und  Interessen  der  Parteien sowie den eigenen Vorurteilen ist nämlich einerseits eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Urteil seine ihm zugedachte Funktion wahrnehmen kann,  nämlich einen Ausgleich zwischen den sich widerstreitenden Interessen der Verfahrensbeteiligten  zu  schaffen .48  Andererseits  legt  der  empathische  Richter  auch  Rechenschaft  darüber  ab,  wie  sich  dieser  Vorgang  auf  seine  eigene  Gefühlswelt  auswirkt .  Empathie  in  der  Rechtsanwendung  bedeutet  daher  nicht,  dass  der  Richter  private  Absichten,  Interessen  oder  Vorurteile  direkt  in  sein  Urteil  einfliessen  lässt  oder gar als solche zum Urteil erhebt .49 Empathie, verstanden als kognitive Kompetenz, kann ihm im Gegenteil helfen, die nötige abgeklärte Distanz zu den Interessen  und  Zielen  der  Parteien  und  zu  seinen  eigenen  Gefühlen  zu  entwickeln  und  zu  wahren .50 43  Paul Ekman, Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, 2 . Aufl .,  Heidelberg 2010, S . 249 . 44  Susan A. Bandes, Empathetic Judging and the Rule of Law, Cardozo Law Review De Novo 2009  (133), S . 133–148, S . 135 . 45  Henderson (Fn . 42), S . 1584 . 46  Martin L. Hoffmann, Empathy and Moral Development: Implications for Caring and Justice,  Cambridge 2000, S . 206 ff . 47  Kim McLane Wardlaw, Umpires, Empathy, and Activism: Lessons from Judge Cardozo, Notre  Dame Law Review 2010 (85), S . 1629–1662, S . 119 f . 48  Catherine O’Grady, Empathy and Perspective in Judging: The Honorable William C . Canby, Jr .,  Arizona State Law Journal 2001 (33), S . 4–33, S . 9 ff . 49  McLane Wardlaw (Fn . 47), S . 117 f . 50  Zu dieser und einer verwandten Thematik siehe Klaus Mathis/Fabian Diriwächter, Is the Rationality of Judicial Judgements Jeopardized by Cognitive Biases and Empathy?, in: Klaus Mathis  (Hrsg .), Efficiency, Sustainability, and Justice to Future Generations, New York 2011, S . 55–73 .

Julia Hänni unIversalIsIerunG 1  eInführunG Der Ausdruck universal, ein Begriff, der sowohl lateinisch (universalis) als auch griechisch (καθολικός, katholikós) überliefert ist, bezieht sich auf eine Gesamtheit, d . h .  auf  ein  Ganzes:  Eine  über  die  Vielheit  der  Erlebnis-  und  Erfahrungsperspektiven  hinausgehende Bezugnahme auf die Einheit oder eine einheitliche Weise von Legitimation ethischer Prinzipien bildet die Grundlage der Moral .  Für die universalistische Denkweise kommt demnach allgemeingültigen ethischen Prinzipien eine stärkere Legitimationskraft zu als partikularen Moralbegründungen;  damit verbunden ist die Annahme, dass erst die Bezugnahme auf ein Einheitsprinzip gerechte Lösungen für ethische, aber auch rechtliche Grundfragen herbeiführen  kann: Universal gültige ethische Prinzipien sind gerecht, gleich – oder nach weiteren  Kriterien der Vernunft – auf konkrete Rechtsfälle anzuwenden sowie für die Bildung  normativer Ordnungen heranzuziehen . Die Notwendigkeit einer universalen, inklusivistischen Ethik wird im 20 . Jahrhundert wieder in eine deutliche Aktualität gebracht durch die Erfahrungen von Faschismus und Rassismus sowie die menschheitsbedrohenden Nebenwirkungen technischer  Entwicklungen  (z . B .  die  ökologische  Krise) .1  Aber  auch  die  zunehmende  internationale Verflechtung (Globalisierung) erfordert die Herausbildung universaler  Gerechtigkeitskriterien  und  steht  –  eine  eigene  historische  Selbstgerechtigkeit  überwindend2 – vor der Herausforderung, relativistische Vorwürfe wie die einer eurozentristischen oder kulturimperialistischen Haltung entkräften zu müssen .3 Die Diskussion darüber, ob es Allgemeinbegriffe bzw . allgemeine ethische Prinzipien gibt, die aller Partikularität übergeordnet sind, reicht zurück bis in die Antike .4 Seit der Spätantike wurden unter dem Begriff Universalien Gattungsbegriffe gesucht,  die  erst  das  Hervorgehen  von  Einzeldingen  und  Partikularitäten  erklären  konnten .5 Als entsprechende Gattungsbegriffe galten im Lauf der Auseinandersetzungen sehr unterschiedliche ontologische Prinzipien oder ethische Normen: Neben den Ideen im Sinne Platons waren dies vor allem Regeln, Tugenden oder Werte . 1  2  3 

4 

5 

Horst Gronke,  Universalismus,  in:  Peter  Prechtl/Franz-Peter  Burkard  (Hrsg .),  Metzler  Philosophie Lexikon, 2 . Aufl ., Stuttgart 1999, S . 618 . Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 2010, § 29 Rz . 4 . In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass gerade auch kulturrelativistische Argumente von Regimes dazu verwendet werden, die eigene repressive Ordnung durchzusetzen,  die  „in  einem  tiefen  Sinn  eine  spezifische  Kultur  verkörpere“  und  daher  nicht  aus  menschenrechtlicher Sicht kritisiert werden könne; vgl . dazu Mahlmann (Fn . 2), § 29 Rz . 8, und  auch die geforderte „Beweislastumkehr“ bei Tobias Zürcher, in diesem Band . Grundlage der Diskussion um die Universalien im Mittelalter ist die von Boethius ins Latein  übersetzte  „Isagoge“  des  Porphyrios,  in  der  eine  schematische  Darstellung  der  Ordnung  von  Begriffen nach dem Grad ihrer Allgemeinheit (erstmals) vorgenommen wird; Porphyre, Isagoge,  trad . par J . Tricot, Paris 1947 . Vgl . dazu die Übersicht bei Alain de Libera, Der Universalienstreit . Von Platon bis zum Ende des  Mittelalters, übers . v . Konrad Honsel, München 2005 . 

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Durch das Postulat der Allgemeingültigkeit jener Kategorien stand und steht der  Universalismus einem allgemeinen Relativismus und Subjektivismus entgegen, indem  er für den Nachweis der moralischen Richtigkeit von Handlungsanweisungen auf  ein überindividuelles und transkulturelles, insofern universal gültiges Prinzip rekurriert .6 Staatsphilosophisch zugewendet hat die universalistische Betrachtungsweise als  Zweck des Handelns eine Gesamtheit oder Gemeinschaft (Volk, Staat, Menschheit) im  Blick, ohne dass dabei die Bedeutung des Einzelnen notwendigerweise vermindert  würde: Die universalistische Denkweise erfordert vielmehr, die einzelnen Subjekte,  aber auch das zerstreute Einzelwissen über die Dinge zu einem Ganzen, zu einem  System zusammenzuführen; das Wahre ist im Sinne Hegels „das Ganze“ .7 Die universalistische Betrachtungsweise steht dem Relativismus auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht entgegen . Gerade mit Blick auf die international zunehmende  institutionelle  Verflechtung  und  die  damit  einhergehende  Tendenz  der   Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsordnungen wird die Kompetenz erforderlich, universale Grundlagen für die Ausbildung normativer Ordnungen neu zu  reflektieren .  Die  universalistische  Denkweise  geht  daher  –  die  epistemologischen  Grenzen der Erkenntnis berücksichtigend – davon aus, dass gestützt auf die normative Erkenntniskraft des Menschen Kriterien von praktischer Einsicht existieren, die  universalistische Theorien und moralische Urteile als überzeugend oder eben nicht  überzeugend zu qualifizieren vermögen .8 Vor diesem Hintergrund soll in dieser kurzen Einleitung insbesondere thematisiert werden, welche strukturellen Eigenheiten der universalistischen Argumentationsweise zugrunde liegen und in welchem Mass die Universalisierung als Eigenheit der  juristischen  Denkweise  verstanden  werden  kann .  Im  Weiteren  soll  danach  gefragt  werden, welche universalistischen Prinzipien als Geltungsgrundlage des Rechts herangezogen werden können, um so universalistische Tendenzen, die sich in der aktuellen Rechtsentwicklung auch in institutioneller Hinsicht zeigen, zu erklären . 2  unIversalIsIerunG  als eIGenheIt  der  JurIstIschen arGumentatIon Die Frage, ob die Universalisierung als eine Grundlage der juristischen Argumentation verstanden werden kann, ist bereits auf einen ersten Blick grundsätzlich zu bejahen:  Das  Gerechtigkeitspostulat  der  Universalisierung  zeigt  sich  gewissermassen  als Einheitsprinzip in der Rechtsanwendung, indem alle rechtsanwendenden Behörden gehalten sind, gleich gelagerte Fälle in gleicher Weise zu beurteilen . Es ist demnach ein Grundgebot der Rechtsfindung, eine konkrete Situation nach einem Mass-

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8 

Gronke (Fn . 1), S . 618 . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg . v . Johann Schulze, 2 . Aufl ., Berlin 1841, Vorrede, S . 15 . Hegel vertrat in seiner praktischen Philosophie eine dezidiert universalistische Position (ohne auf den Begriff des Universalismus Bezug zu nehmen), wohingegen  er hinsichtlich der Moralphilosophie eine universalistische Begründung ablehnte; dazu Gerhard Schweppenhäuser, Die Antinomie des Universalismus . Zum moralphilosophischen Diskurs der  Moderne, Würzburg 2005, S . 22 .  Vgl . Mahlmann (Fn . 2), § 29 Rz . 13 .

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stab der Einheitlichkeit zu beurteilen, der auf all jene Sachverhalte angewendet werden  soll, für die es keine Rechtfertigung des Abweichens gibt .  Wenn z . B . das Schweizerische Bundesgericht in Anwendung des Gleichheitsgebots nach Art . 8 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) festhält, dass Gleiches  nach Massgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln ist,9 so nimmt es für die Subsumtion unter den Gleichheitsartikel einen universalisierenden Bezug: Alle Personen, die sich in einer gleichen oder juristisch als analog zu beurteilenden Situation  befinden, sind gleich zu behandeln .  Das Bundesgericht ist durch das Gleichheitsgebot an den Massstab der Einheitlichkeit  gebunden;  bei  jeder  Differenzierung  in  vergleichbaren  Situationen  –  und  ebenso  bei  jeder  Gleichbehandlung  in  unterschiedlichen  Sachverhalten  –  ist  ihm  eine spezielle Begründungspflicht auferlegt . Die Gerichte haben mit Bezug auf das  Gleichheitsgebot jegliche Abweichung von der Generalisierung oder Universalisierung des Anspruchs für alle Rechtsunterworfenen im konkreten Fall spezifisch zu  begründen . 3  dreI charakterIstIka  der unIversalIsIerBarkeIt Bereits  am  Beispiel  der  Rechtsprechung  zum  Gleichheitsgebot  nach  Art . 8  der  schweizerischen Bundesverfassung lassen sich wesentliche Elemente, aber auch wesentliche Probleme der Argumentationsstruktur der Universalisierbarkeit erkennen .  Als Charakteristika für die Argumentationsfigur erweisen sich zunächst drei Elemente  als wesentlich:  Erstens  ist  die  Universalisierbarkeit  ein  grundlegendes  Instrument  zur  Verfolgung des Ziels, Menschen im Sinne von Kant nicht als Mittel, sondern als Zweck zu  behandeln,  indem  allen  Menschen  alle  Rechte  oder  Grundrechte  gleichermassen  zustehen  sollen .  Von  einem  generalisierten  Anspruch  auf  Gleichbehandlung  wird  ausgegangen, denn „alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ .10 Zum Ausdruck  gebracht  wird  damit  eine  Kompetenz  zur  Mitbetroffenheit,  also  die  Fähigkeit,  Handlungen und Zustände von anderen Personen repräsentativ ernst zu nehmen .  Die  Universalisierbarkeit  verfolgt  in  diesem  Sinne  eine  Anerkennung  aller  Menschen als gleichberechtigte Rechtssubjekte und beinhaltet damit ein Bekenntnis zum  Menschen im Sinne der humanitas .  Gleichermassen – und dies ist ein zweites Charakteristikum – zeigt sich de facto,  dass die Argumentationsform der Universalisierung, gerade durch ihre einheitlichumfassende  Bezugnahme,  auf  Verschiedenartigkeit, Polarität oder Partikularität  stösst,  die eine gewisse Antinomik dieser Argumentationsform selbst zutage bringt .11 Denn  gerade  wenn  eine  herrschende  soziale  Anschauung  durch  Generalisierung  (ohne  Differenzierung) durchgesetzt werden sollte, hat sie sich wiederholt als Gefährdung  von Menschenrechten erwiesen .  Ein Beispiel hierzu ist die bis 1972 praktizierte Wegnahme von Kindern Fahrender durch eine vom Bund unterstützte Organisation, mit dem Zweck der Förderung  9  Zum Beispiel BGE 105 V 280, 281; 117 Ia 257, 259; 123 II 9, 11 . 10  Art . 8 Abs . 1 BV .  11  Dazu Schweppenhäuser (Fn . 7), insb . S . 93 ff .

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des Kindeswohls durch eine Anpassung der Erziehung an die damals vorherrschende  mehrheitsgesellschaftliche  Lebensweise .  Die  intendierte  Erziehung  der  Kinder  erwies sich in der Folge als Verstoss gegen das Recht und der Bund hatte Entschädigungen zu leisten .12 Das Beispiel zeigt, dass Differenzierungsgebote oder -möglichkeiten,  die  sich  auf  unterschiedliche  Lebensverhältnisse  und  Besonderheiten  von  Situationen beziehen, als Teil des Universalisierungsgrundsatzes oder als Öffnungsklausel hierzu verstanden werden müssen; diese Polarität oder Antinomik erscheint  als eine Eigenheit des Gerechtigkeitspostulats selbst . Genau an diesem Punkt zeigt sich auch ein drittes Kriterium, nämlich das Kriterium der Bewertung durch die Rechtsanwender: Die Gewichtung und Entscheidung,  welche Norm wann generalisiert und auf weitere Sachverhalte angewendet werden  soll, erfordert Abwägung und Bewertung . Die Bewertung, ob ein sachlicher Grund vorliegt, der eine Differenzierung gebietet,  stützt  das  Schweizerische  Bundesgericht  auf  die  „anerkannten  Grundsätze  der geltenden Rechts- und Staatsordnung“ oder auf die „herrschenden Anschauungen und Zeitverhältnisse“ ab .13 Dass das letztere Kriterium problematisch ist und  rechtsphilosophischer  Reflexion  bedarf,  hat  das  oben  genannte  Beispiel  zur  Wegnahme von Kindern Fahrender gezeigt . 4  unIversalIstIsche theorIen  der rechtsphIlosophIe Um einen Geltungsanspruch zu erheben, der sowohl eine partikularistische Gewährung von Grundrechten überwindet als auch über kontingente Rechtssysteme hinausgeht,  sind  universalistische  Moralprinzipien  typischerweise  so  zu  formulieren,  dass sie vom konkreten Inhalt des moralischen Handelns absehen . Dem Handeln ist  demnach eine Verfahrensregel zugrunde zu legen, die inhaltsneutral ist, um Normen  zu überprüfen, die selbst bereits einen Inhaltsbezug aufweisen .14 Der Universalismus in der politischen Philosophie der Gegenwart ist stark im  rationalen Naturrechtsdenken der Aufklärung verwurzelt; und obwohl die kantische Ethik den Begriff des Universalismus noch nicht kennt, kann sie als Paradigma der  universalistischen Moralbegründung bezeichnet werden .15 Der Grundsatz der Universalisierung findet sich bei Kant in der Form des kategorischen Imperativs . Die Formel „[…] handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“16 wird als  das geeignete Instrument vorgeschlagen, um die Übereinstimmung von subjektiven  12  Vgl .  dazu  Walter Leimgruber/Thomas Meier/Roger Sablonier,  Das  Hilfswerk  für  die  Kinder  der  Landstrasse .  Historische  Studie  aufgrund  der  Akten  der  Stiftung  Pro  Juventute  im  Schweizerischen Bundesarchiv, erstellt durch die BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte im Auftrag  des Eidgenössischen Departements des Innern, hrsg . vom Schweizerischen Bundesarchiv, Bern  1998, S . 11 ff . 13  BGE 122 I 349 E . 4b und BGE 114 Ia 1 E . 3, E . 8 .  14  Typischerweise sind solche Moralprinzipien rational, normativ und deontologisch, d . h . nicht  konsequentialistisch; vgl . Schweppenhäuser (Fn . 7), S . 26 f . 15  Schweppenhäuser (Fn . 7), S . 22 . 16  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (MdS), Werke in sechs Bänden, Bd . 4, hrsg . v . Wilhelm Weischedel, 6 . Aufl ., Darmstadt 2005, BA 52, S . 51; oder auch – die Formulierungen des  kategorischen Imperativs sind bekanntlich gleichwertig –: „Handle so, dass du die Menschheit, 

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Willens-Maximen  mit  einer  uneingeschränkten  Allgemeingültigkeit  herzustellen  und an der Idee eines allgemeinen Gesetzes zu überprüfen . Das Moralprinzip Kants wird der Selbstanforderung der universalistischen Ethik  gerecht,  sich  ein  inhaltsneutrales  (aber  nicht  inhaltsloses!)  allgemeines  Verfahrensprinzip  zugrunde  zu  legen,  indem  Kant  durch  die  genannte  Formel  auf  ein  Prinzip der Universalisierung stösst, das er als die Arbeitsweise unserer praktischen  Vernunft selbst erkennt .17 Eine Universalisierung erfolgt auch mit Rückgriff auf die analytische Sprachphilosophie und den Pragmatismus,  etwa  bei  Karl-Otto  Apel  oder  bei  Jürgen  Habermas’  Diskursethik, bei der eine Universalisierung aufgrund der idealen Sprechsituation,  des herrschaftsfreien Diskurses, erfolgen soll .18 Indem sich eine Norm als argumentativ konsenswürdig erweist, soll der allgemeine moralische Konsens definiert werden .19 Auch Systemtheoretiker definieren das Moralprinzip im Sinne der Universalität  des Geltungsanspruchs . Nach Luhmann wird der Geltungsanspruch einer Aussage  durch das Verbot, sich selbst vom Geltungsanspruch auszunehmen, universal . Das  Subjekt kann sich nicht selbst von der Verbindlichkeit einer Handlungsmaxime befreien, die es im Allgemeinen als richtig anerkennt . Luhmann statuiert demnach das  Verbot der Selbstexemtion als das heimliche Grundprinzip der Moral .20  Diese Forderung nach Universalisierbarkeit bzw . nach Generalisierung (generalization) wird insbesondere auch von der angelsächsischen Ethik im Sinne eines Fairnessgebots erhoben . Diese Idee spiegelt sich etwa in der Theorie der Gerechtigkeit  von John Rawls, in der die Parteien schon im fiktiven vorgesellschaftlichen Urzustand mit dem Kunstgriff des Schleiers des Nichtwissens gezwungen werden, einen  unparteilichen Standpunkt einzunehmen, um über Gerechtigkeitsprinzipien zu entscheiden, die der realen Gesellschaftsordnung zugrunde gelegt werden sollen .21

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sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck,  niemals bloss als Mittel brauchest“; MdS, BA 67, S . 61 . Vgl . Arno Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 2003, S . 63 . Zur inhaltlichen Bestimmtheit des kategorischen Imperativs Julia Hänni, Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung,  Diss ., Berlin 2011, S . 39 ff ., 157 ff . Habermas  geht  aus  von  der  Universalisierung  idealer  Geltungsansprüche,  die  aus  der  Konsensorientierung methodologisch rekonstruiert werden sollen; Red., Universalismus, in: Joachim  Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg .), Historisches Wörterbuch der Philosophie,  Bd . 11, Basel 2001, S . 204 ff ., 206 . Das von Habermas vorgeschlagene Universalisierungsprinzip  U stellt für ihn das diskursethische Moralprinzip dar . Der Universalisierungsgrundsatz nach Habermas besagt, dass „eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und  Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos  akzeptiert werden können“; Jürgen Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven  Gehalt der Moral, in: ders ., Die Einbeziehung des Anderen . Studien zur politischen Theorie,  Frankfurt  a . M .  1996,  S . 11 ff .,  60;  dazu  Boris Rähme,  Konsens,  in:  Marcus  Düwell/Christoph  Hübenthal/Micha H . Werner (Hrsg .), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S . 404 ff ., 405 .  Diskursethiker  argumentieren  entsprechend,  dass  das  Moralprinzip  nicht  nur  die  Intuitionen  einer bestimmten Kultur ausdrückt, sondern allgemein gilt; Jürgen Habermas, Erläuterungen zur  Diskursethik, Frankfurt a . M . 1991, S . 12 .  Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik . Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd . 4, Frankfurt a . M . 1980, S . 29 .  John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, 10 . Aufl ., Frankfurt 

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In materieller Hinsicht finden sich Hinweise auf universelle Gerechtigkeitspostulate  im  Sinne  von  interkultureller  Übereinstimmung,  etwa  nach  Kriterien  der  Tauschgerechtigkeit nach der goldenen Regel . Entsprechende Elemente finden sich  sowohl im Hinduismus22, im Konfuzianismus, im Alten23 und Neuen Testament24  und schliesslich auch im Koran .25 Festzustellen sind auch allgemein geteilte Bedürfnisse, beispielsweise nach materiellen oder immateriellen Gütern wie Nahrung, physischer und psychischer Unverletztheit, Freiheit oder Achtung, die kulturübergreifend wirksam sind .26 Als universelle Gerechtigkeitspostulate gelten auch Elemente  der  Unparteilichkeit,  indem  es  in  sämtlichen  Kulturen  als  ungerecht  empfunden  wird, eine Person für eine Tat zu verurteilen, die sie nicht begangen hat .27 5   unIversalIsIerunG  rechtsstaatlIcher elemente:   konzept  oder faktIzItät? Eine  aktuelle  Forderung  des  universalistischen  Rechtsverständnisses  besteht  auch  hinsichtlich der Ausgestaltung rechtsstaatlicher Elemente . Dazu gehört beispielweise die Diskussion über ein nicht entsprechend der nationalstaatlichen  Sichtweise  konzipiertes  Demokratieverständnis .28  Im  Rahmen  der  EU stützt sich dieses Verständnis etwa auf eine Ebenen übergreifende Parlamentarisierung in Form der Unionsbürgerschaft ab, sodass nicht der Staat als Voraussetzung  für Demokratie, sondern Demokratie (allmählich) als Grundbedingung für die Entwicklung überstaatlicher,  supranationaler Organisationen zu verstehen ist .29 Auch  hier zeigt sich eine Form von Universalisierung, indem ein staatspolitischer Begriff  wie Demokratie durch die Erweiterung ihres Eigenverständnisses in die überstaatliche Ebene, in supranationale Strukturen, hineinwächst und dort zu einem wichtigen  Legitimationskriterium wird .30 

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a . M . 1998, S . 159 ff .  Mahabharata XIII, Vers 5571 . Tob 4,16 . Mt 7,12; Lk 6,31 . Daniela Kühne, Recht und Kultur in Konflikt? Normativität und kulturelle Philosophie in der  Frage  der  Menschenrechte,  in:  Edward  Schramm/Wibke  Frey/Lorenz  Kähler/Sabine  MüllerMall/Friederike Wapler (Hrsg .), Konflikte im Recht – Recht der Konflikte . Tagungen des Jungen  Forums Rechtsphilosophie in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Tübingen und Göttingen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP Beiheft Nr .  125, Stuttgart 2010, S . 97 ff ., 107 . Dazu Mahlmann (Fn . 2), § 29 Rz . 7 . Bzw . bei einer Sippenhaft: wenn die betreffende Person mit der Tat nicht in Beziehung gebracht  werden kann . Vgl . dazu die weiteren Beispiele bei Walter Ott, Grundriss-Skriptum Rechtsphilosophie, 6 . Aufl ., Zürich 2007, S . 65 ff . Dazu  Seyla Benhabib,  Kosmopolitismus  und  Demokratie .  Eine  Debatte  mit  Jeremy  Waldron,  Bonnie  Honig  und  Will  Kymlicka,  hrsg .  v .  Robert  Post,  übersetzt  von  Thomas  Atzert,  insb .  S . 43 ff .  Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass sich die Unionsbürgerschaft juristisch aus der Staatszugehörigkeit  eines  Mitgliedstaates  und  insofern  aus  nationalstaatlichen  Elementen  ableitet;  Art . 20 Abs . 1 AEUV; ABl EU 2008 C 115, S . 56 ff .  Dazu Jan Hauke Plassmann, Demokratie und Staat im Konflikt? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts  zum  Vertrag  von  Lissabon  aus  interdisziplinärer  Perspektive,  Ancilla  Iuris,  er-

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In  diesem  Zusammenhang  ist  auch  auf  einen  Aspekt  hinzuweisen,  den  man  „Unvermeidbarkeit  von  Universalismus“  nennen  könnte .  Die  Frage  danach,  ob  Universalismus sein soll, kann seit längerer Zeit das Problem der Universalisierbarkeit und das Erfordernis für Juristinnen und Juristen, sich mit dieser auseinanderzusetzen, selbst nicht mehr ausreichend erfassen . Denn die Frage nach Universalisierbarkeit kann sich nicht darauf beschränken, ob universale Gerechtigkeitsprinzipien  oder  Handlungsanweisungen  sein  sollen  –  sondern  ist  zu  einem  beträchtlichen  Masse auch eine retrospektive Betrachtung über das Ausmass beispielsweise der bereits erfolgten Ausbreitung des rationalen Weltverständnisses der westlichen Kultur  geworden .  Die  retrospektive  Betrachtung  ist  paradoxerweise  gerade  bei  politischen  Entscheidungen des Gesetzgebers keine Seltenheit, da faktische Gegebenheiten die Verbreitung einer Norm in vielen Fällen bereits bewirken können . Etwa ein Beschluss  im Rahmen der Vereinten Nationen für smart sanctions beliess dem schweizerischen  Gesetzgeber  de  facto  auch  schon  vor  dem  UNO-Beitritt  keinen  Raum  der  Reflexion,  ob  gegen  Personen  gerichtete  Wirtschaftssanktionen  im  Allgemeinen  überhaupt  sinnvoll  seien,  und  de  facto  konnte  der  schweizerische  Gesetzgeber  auch  nicht darüber entscheiden, welche Personen durch die Sanktionen konkret betroffen  sein sollten .31 Zum  Universalisierungsgrundsatz  gehört  demnach  auch  die  anachronistische  Betrachtungsweise einer Dichotomie zwischen Faktizität und Konzept . 6  fazIt  und ausBlIck Zum  Abschluss  dieser  Einleitung  möchte  ich  zurückzukommen  auf  die  Frage,  in  welchen Formen sich die Universalisierbarkeit als Eigenheit der juristischen Denkweise zu verstehen gibt und welche Anforderungen aus ihr, aber auch durch sie erwachsen . Indem eine Entscheidung im Einzelfall vertretbar und immer auch in dem Mass  universalisierbar  sein  muss,  dass  alle  im  Wesentlichen  gleich  gelagerten  Fälle  mit  erfasst werden können, erweist sich das Kriterium der Universalisierbarkeit als Wesensmerkmal des Rechts, und zwar mit Bezug auf die Rechtssicherheit, aber auch  darüber hinaus: Durch die Universalisierbarkeit von Ansprüchen soll die Einheit der Rechtsordnung gewahrt werden . Der Grundsatz der Universalisierbarkeit des Rechts wird mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit noch verdeutlicht, da damit das Gebot umfasst wird, dass staatliche Organe sich nicht selbst vom Recht ausnehmen können; es steht im Widerspruch zur  scheint  2011;  Jörn Reinhardt,  Reiterativer  Universalismus,  in:  Carsten  Bäcker/Matthias  Klatt/ Sabrina Zucca-Soest (Hrsg .), Recht, Sprache, Gesellschaft, Akademiekonferenz im Rahmen des  Forums Junge Wissenschaft, 14 .–16 . Juli 2011 Hamburg, Tübingen 2011 (im Erscheinen) . 31  Mit dem UNO-Beitritt 2002 ist die Umsetzung der vom Sicherheitsrat erlassenen nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen für die Schweiz völkerrechtlich verbindlich geworden . In der Praxis  ergaben  sich  daraus  nur  wenige  Änderungen,  da  die  Schweiz  solche  Massnahmen  schon  seit  Beginn der 90-er Jahre in autonomer Weise nachvollzog: vgl . dazu die Übersicht des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) http://www .seco .admin .ch/themen/00513/00620/ index .html; zuletzt besucht am 31 .7 .2011 .

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Universalität  von  Normen,  wenn  eigene  Handlungsweisen  willkürlich  vom  sonst  eingeforderten rechtsstaatlichen Verhalten ausgenommen werden .  Als  Moralprinzip  im  Recht  ist  der  Universalismus  Ausdruck  einer  Form  von  Mitbetroffenheit, die eine Verbindung oder eine Fähigkeit beinhaltet, Handlungen  und Zustände anderer Personen repräsentativ ernst zu nehmen und in eine Beziehung zu Gut oder Schlecht zu setzen .32 Die universalistische Denkweise hat demnach zum Ziel, die grundlegende Bedingung, dass „alle Menschen unter einem gewissen, distanzierten Blickwinkel ‚gleich‘ sind“, festzuhalten .33 Gleichermassen impliziert dieses  Moralprinzip,  dass  es  allgemeine  Verfahrensprinzipien  gibt,  so  den  kategorischen  Imperativ Kants oder den Kunstgriff des Schleiers des Nichtwissens bei Rawls, um  eine universalistische Moral zu begründen und um „allgemeingültige Massstäbe für  die Richtigkeit einer Gesellschaftsverfassung“ festzuhalten .34  Andererseits erweist sich die Universalisierung gerade in gesellschaftspolitischen  Debatten nicht nur als Instrument der Egalisierung, sondern auch der Nivellierung,  wie das Beispiel der Wegnahme von Kindern Fahrender gezeigt hat .35 Das rechtliche  Festhalten der generell herrschenden positiven Sozialmoral führt oftmals zu einer  gleichförmigen  Mehrheitsmeinung  und  statuiert  eine political correctness,  die  ihrerseits das Grundrecht der freien Meinungsäusserung massiv bedrohen kann . Bereits  von Savigny sprach von der „unbeschreiblichen Gewalt, welche die blosse Idee der  Gleichförmigkeit nach allen Richtungen nun schon so lange in Europa ausübt“,36  und trat diesem Universalismus mit einem dezidierten Partikularismus entgegen . Die Tendenz, dass sich Rechtssysteme gerade im europäischen Kontext als offen  erweisen und sich stark vereinheitlichten, überholt ein Stück weit die Frage, ob Universalisierung überhaupt sein soll . Im Vordergrund stehen verschiedene Arten flankierender  Massnahmen,  die  beschreiben,  wie  die  bereits  weit  fortgeschrittene   Harmonisierung von Rechtsbestimmungen ausgestaltet werden kann, um die Partikularität der einzelnen Gesellschaften und Kulturen zu wahren .  Gerade  in  diesem  Zusammenhang  ist  auch  abzuwägen,  in  welchem  Mass  die  westliche Rechtskultur nivellierend gegenüber anderen Rechtskulturen wirkt oder ob  sie Errungenschaften für Menschen, etwa ein „Recht, Rechte zu haben“,37 an andere  Rechtskulturen weitergeben kann .  Und genau hier stellt sich die zentrale Frage, wie dem Problem eines universalen, aber unabhängigen, neutralen Moralprinzips begegnet werden kann . Trotz der  Schwierigkeit, wie überhaupt ein rechtlich-universelles Moralprinzip zu definieren  32  Matthias Kettner,  Moral,  in:  Marcus  Düwell/Christoph  Hübenthal/Micha  H .  Werner  (Hrsg .),  Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S . 410 ff ., 412 . 33  Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus: Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen  1997, S . 15 f . 34  Tönnies (Fn . 33), S . 15 f . 35  Oben, S . 143 f . 36  Friedrich Carl von Savigny,  Vom  Beruf  unserer  Zeit  für  Gesetzgebung und  Rechtswissenschaft,  Heidelberg 1814, S . 41 .  37  „Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit,  in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen  beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses  Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande  sind, es wiederzugewinnen“; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft . Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 9 . Aufl ., München 2003, S . 641 . 

Universalisierung

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sei, ohne eine bestimmte Moral vorauszusetzen und damit unzulässig zu privilegieren, sollte daraus kein denkerischer Stillstand resultieren .  Vielmehr besteht das Erfordernis der Transparenz: Vorgeschlagene universalistische Moralprinzipien sind als das zu verstehen, was kompetente Sprecher als Moralprinzip  entdecken .  Diese  induktive  Moralbeschreibung  bleibt  erfahrungsoffen, revidierbar, modifizierbar .  Die  Rechtfertigungsfrage  und  die  Beurteilung  von  Handlungsprinzipien können nur wiederum durch ein ethisches Urteilsvermögen erfolgen,  das  sich  seinerseits  kritisch-offen  hinterfragen  lässt  und  sich  darum  bemüht,  seine Handlungsaxiome transparent zu machen . Auch vor dem Hintergrund der universalistischen Denkweise zeigt sich die Ausbildung moralischer Sensibilität und moralischen Urteilsvermögens als unverzichtbares Korrelat rechtlicher Theoriebildung .38

38  Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner,  Einleitung,  in:  dies .  (Hrsg .),  Handbuch  Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S . 15 .

Frederik von Harbou* anspruch  und anthropoloGIe:   unparteIlIchkeIt  und unIversalIsmus  als  rechtsethIsche   herausforderunGen Unparteilichkeit und Universalismus werden hier im Sinne einer kosmopolitischen Ethik verstanden, deren Geltung nicht problematisiert wird . Vielmehr wird der Frage nachgegangen, wie es um die  Realisierung des kosmopolitischen Anspruchs bestellt ist . Es zeigt sich, dass Tendenzen zu Parteilichkeit und Partikularismus kulturübergreifend zu beobachtende Phänomene sind . Eine Erklärung hierfür bietet die Altruismusforschung der Evolutionären Psychologie . Die Erkenntnisse dieser Disziplin,  die eine entwicklungsgeschichtliche Deutung von Dispositionen der menschlichen Psyche versucht,  sind aufgrund methodologischer Defizite stets kritisch zu hinterfragen; ihre Aussagen hinsichtlich  des vorliegenden Gegenstands sind aber letztlich hinreichend plausibel . Aus den (empirischen) Erkenntnissen der Evolutionären Psychologie folgen jedoch unmittelbar keine (normativen) Aussagen  zur Geltung oder Nicht-Geltung einer kosmopolitischen Ethik, andernfalls handelte es sich um einen  naturalistischen Fehlschluss . Das Wissen einer naturwissenschaftlich informierten Anthropologie ist  damit aber nicht wertlos für Ethik und Rechtsphilosophie: Neben einer instrumentellen Nutzung  dieser Erkenntnisse, können sie auch eine kritische Perspektive auf bestimmte moralische Intuitionen  eröffnen .

1  eInleItunG Unparteilichkeit und Universalismus stellen zumindest seit der Aufklärung zentrale  Elemente einer jeden mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit auftretenden  Ethik sowie hierauf basierender Rechtssysteme dar . Doch was genau ist hierunter zu  verstehen? Der Begriff der Unparteilichkeit bildet einen Gegenbegriff zur Voreingenommenheit zu (Un)Gunsten einzelner Individuen oder ganzer Gruppen und kann  als  neutraler Standpunkt  definiert  werden,  wie  er  insbesondere  vom  Richter  in  der  juristischen Entscheidungssituation gefordert wird .1 Universalität bezeichnet als Gegenbegriff zu Partikularität die Allgemeingültigkeit von Normen . Beide Begriffe konvergieren  in  der  Forderung  nach  einer  unterschiedslosen  Anwendung  moralischer  (und,  zumindest  im  Fall  der  Menschenrechte,  rechtlicher)  Massstäbe,  wie  sie  von  Immanuel Kant mit dem Kategorischen Imperativ formuliert wurde .2 Der abstrakte Anspruch auf Allgemeingültigkeit bleibt dabei allerdings interpretationsbedürftig: Schliesslich – dies zeigen historische Erfahrungen, etwa der Ausschluss afroamerikanischer Sklaven von den Freiheitsgarantien der amerikanischen  Verfassung – bleibt offen, auf welche Personengesamtheit sich die unterschiedslos zu  behandelnde  „Allgemeinheit“  bezieht .  Dieser  problematische  Aspekt  der  Begriffe  der Unparteilichkeit und Universalität soll hier jedoch nicht vertieft behandelt werden .  Vielmehr  wollen  wir  zur  Konkretisierung  dieser  Normen  ein  kosmopolitisches

*  1  2 

Meinen Kollegen Peter Gailhofer und Marlis Henze danke ich herzlich für ihre hilfreichen Anmerkungen im Vorfeld der Luzerner Tagung . Vgl . auch die Beschreibung der utilitaristischen Konzeption des „unparteiischen mitfühlenden  Beobachters“ bei John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1979, S . 213 f . Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 17 . Aufl ., Frankfurt a . M . 2005, BA 52 .

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Frederik von Harbou

Verständnis  zugrunde  legen:3  Für  die  Geltung  ethischer  und  menschenrechtlicher  Normen wird danach allein an das Menschsein ohne weitere Qualifikationen, wie  insbesondere  Herkunft  oder  Nationalität  (aber  auch  Geschlecht,  politische,  religiöse,  sexuelle  Orientierung  usw .),  angeknüpft .  Die  normative  Berechtigung  einer  solchen kosmopolitischen Ethik soll dabei vorausgesetzt und nicht weiter problematisiert  werden .  Es  ergäbe  sich  somit  auf  Grundlage  dieses  kosmopolitischen  Verständnisses  der  Begriffe  Unparteilichkeit  und  Universalität  die  normative  Forderung,  moralische  und  rechtliche  Massstäbe  gleichermassen  auf  alle  Mitglieder  der  menschlichen Gattung ohne Berücksichtigung ihrer besonderen Merkmale, wie etwa  Herkunft oder Nationalität, anzuwenden . Soweit ist der „Anspruch“ formuliert, den wir an ethische Normensysteme mit  den Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität stellen . Wie aber ist es um  die empirisch beobachtbaren Fähigkeiten des Menschen bestellt, diese normativen  Ansprüche einzulösen? Die Beantwortung dieser Frage soll im folgenden Teil 2 mit  einer kritischen Darstellung insbesondere evolutionswissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Hypothesen zum Phänomen der Anwendung verschiedener moralischer Standards anhand von Gruppenzugehörigkeiten (sog . „Kleingruppenmoral“)  versucht werden . Es wird sich dabei zeigen, dass die Annahme der Existenz „evolutionärer  Fallen“4  auf  dem  Weg  zur  Durchsetzung  einer  kosmopolitischen  Ethik  durchaus berechtigt erscheint . Was aber folgt hieraus für unser Verständnis der normativen Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität? Diese Frage soll im  Teil 3 beantwortet werden . Zunächst wird der Frage nachzugehen sein, ob sich geltungstheoretische Konsequenzen ergeben, sodann sollen mögliche praktische Implikationen der empirischen Erkenntnisse für eine kosmopolitische Ethik angedeutet  werden . 2   kleInGruppenmoral: phänomen  und  evolutIonspsycholoGIsche   erklärunGsversuche Aussagen  über  „den  Menschen“  zu  formulieren,  ist  philosophisch  in  mehrfacher  Hinsicht gefährlich . Es gilt dabei nicht nur, den schmalen Grat zwischen metaphysischer Überhöhung und naturalistischem Reduktionismus behutsam abzuschreiten .  Es droht auch immer eine essentialistische Festschreibung des menschlichen „Wesens“, welche die historische und kulturelle Wandlungsfähigkeit des Menschen verkennt und damit im schlechtesten Fall blossen Vorurteilen das Wort redet . Paradoxerweise machen aber gerade auch die Kritiker einer jeden philosophischen Anthropologie, welche den Menschen z . B . mit Richard Rorty als das „flexible, proteische,  sich  selbst gestaltende Tier“5  betrachten,  deutlich,  dass ein (zumindest implizites)  3 

4  5 

Für eine frühe kosmopolitische Konzeption vgl . Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 1995, S . 21 ff ., der das Weltbürgerrecht allerdings noch auf die  Regeln  der  Gastfreundschaft  einschränkte;  für  eine  aktuelle  kosmopolitische  Ethik  vgl .  etwa  Kwame Anthony Appiah, Der Kosmopolit, München 2009 . Gerhard Vollmer, Gibt es einen sozialen Mesokosmos?, in: Volker Gerhardt/Julian Nida-Rümelin,  Evolution in Natur und Kultur, Berlin/New York 2010, S . 241–260, S . 251 . Richard Rorty, Human Rights, Rationality and Sentimentality, in: Stephen Shute/Susan Hurley, On  Human Rights, New York 1993, S . 111–134, S . 115 (Übers .: FvH) .

Anspruch und Anthropologie

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Verständnis  von  der  Natur  des  Menschen  –  und  sei  es  als  das  instinktarme  und  wandlungsfähige  „Mängelwesen“6  –  zur  „Selbstverständigung“  und  als  „Orientierungswissen“ unhintergehbar ist .7 Im Folgenden soll nicht versucht werden, ein umfassendes Bild des Menschen  zu zeichnen, sondern vielmehr ein einzelnes Phänomen, nämlich die Tendenz zur  Bildung einer Kleingruppenmoral, zu explizieren . Im Sinne einer zeitgemässen, biologisch  informierten,  Anthropologie  sollen  evolutionswissenschaftliche  Erkenntnisse über den Menschen aufgenommen werden, ohne dabei einem, die Eigenständigkeit der kulturgeschichtlichen Dimension sowie der rationalen Kompetenz des  Menschen leugnenden, reduktiven Naturalismus zu verfallen . 2.1 erscHeinunGsForMen der kleinGruppenMoral Wenn  wir  nach  Akzeptanz  und  Verwirklichung  der  in  der  Einleitung  skizzierten  Ideale einer kosmopolitischen Ethik in unseren gegenwärtigen Rechts- und Moralsystemen  fragen,  so  lässt  sich  zunächst  konstatieren,  dass  es  heute  weltweit  eine  Vielzahl von Regelungen gibt, welche – häufig bereits auf der Ebene der Verfassung  – Gleichheit, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Menschen, zumeist als  Bürger eines Staates, einfordern .8 Konkretisiert werden diese Forderungen nach sozialer Inklusion in zunehmendem Masse durch Antidiskriminierungsgesetze .9 Daneben existiert eine bedeutende Zahl nationaler und internationaler Institutionen  und Organisationen, welche sich die Bekämpfung von ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen zum Ziel gesetzt haben, so etwa der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) . Der Grad der Verwirklichung der Gleichheits-  und  Nichtdiskriminierungsnormen  in  der  sozialen  Realität  mag  äusserst  schwer zu bestimmen sein .10 Angesichts der Vielzahl staatlicher und nicht-staatlicher  Bemühungen auf diesem Gebiet können wir aber von der Tendenz zu einem Abbau  von  Diskriminierungen  ausgehen,  ohne  dass  dies  eine  unsere  Argumentation  tragende Annahme darstellen würde . Auf der anderen Seite aber gibt es nach wie vor unzählige Fälle ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen von Menschen . Die Diskriminierung anhand der ZugeArnold Gehlen, Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 14 . Aufl ., Wiebelsheim  2004, S . 20, S . 56; vgl . auch Christian Illies, Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter: Zur Konvergenz von Moral und Natur, Frankfurt a . M . 2006, S . 19 f . 7  Christian Thies, Einführung in die Philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, S . 21 . 8  Für die internationale Konstellation sei hier allein auf Art . 1 und 2 der Allgemeinen Erklärung  der Menschenrechte von 1948 verwiesen . 9  Z . B . die EG-Richtlinie 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, welche, neben drei weiteren Richtlinien, dem  deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zugrunde liegt . 10  Auch die Jahresberichte des CERD erlauben keine Aussagen über quantitative Veränderungen,  da sie sich jeweils auf die Situation in anderen Ländern als im Vorjahr beziehen . Die Berichte  sind abrufbar unter:   http://tb .ohchr .org/default .aspx?ConvType=17&docType=36  (Zugriff:  20 .06 .2011) .  Für  die  Zukunft  wären  Langzeitstudien  wünschenswert,  möglicherweise  aufbauend  auf  der  kürzlich  erschienenen  Untersuchung  von  Hubert Rottleuthner/Matthias Mahlmann,  Diskriminierung  in  Deutschland: Vermutungen und Fakten, Baden-Baden 2011 . 6 

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Frederik von Harbou

hörigkeit bzw . Nichtzugehörigkeit zu bestimmten Gruppen – welche häufig mit den  Begriffen Ethnozentrismus und Xenophobie beschrieben wird – scheint dabei sowohl ein überzeitliches als auch ein in lokaler Hinsicht universelles Phänomen darzustellen . In historischer Perspektive lassen sich z . B . bereits dem Alten Testament Passagen entnehmen, welche ausdrücklich zwischen der (erlaubten) Versklavung von Mitgliedern fremder Gruppen und der (verbotenen) Versklavung von Mitgliedern der  eigenen Gruppe unterscheiden . So heisst es in Levitikus:11 „Wenn ein Bruder bei dir verarmt und sich dir verkauft, darfst du ihm keine Sklavenarbeit auferlegen; er soll dir wie ein Lohnarbeiter oder ein Halbbürger gelten und bei dir bis zum Jubeljahr  arbeiten .  Dann  soll  er  von  dir  frei  weggehen,  er  und  seine  Kinder,  […]  sie  sollen  nicht  verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird . Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen .  […] Die Sklaven und Sklavinnen, die euch gehören sollen, kauft von den Völkern, die rings um  euch wohnen; von ihnen könnt ihr Sklaven und Sklavinnen erwerben . […] Sie sollen euer Eigentum sein und ihr dürft sie euren Söhnen vererben, damit diese sie als dauerndes Eigentum  besitzen; ihr sollt sie als Sklaven haben . Aber was eure Brüder, die Israeliten, angeht, so soll  keiner über den andern mit Gewalt herrschen .“

Ähnliche Gebote lassen sich auch den zentralen religiösen Texten anderer Religion en  entnehmen .12 Neben der Religionszugehörigkeit tauchen als abgrenzende Kriterien  in der Geschichte zudem immer wieder (vermeintliche) Ethnie, Sprache und  – mit  dem Aufkommen des modernen Staats – Nationalität auf . Der Nationalismus stellt  sich dabei als ideologische Untermauerung und Zuspitzung der Identifikation mit  der eigenen Gruppe der „Landsmänner“ und „-frauen“ unter gleichzeitiger Abwertung Angehöriger fremder Nationen dar . Seine extremsten Ausprägungen dürfte die  Praxis der Ab- und Ausgrenzung aber in der Ideologie des Rassismus gefunden haben, welche u . a . zur Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus, der Sklaverei  in  Nordamerika,  der  Begehung  von  Verbrechen  an  Juden,  Sinti  und  Roma  sowie  weiteren Minderheiten durch das NS-Regime in Deutschland und des Apartheidregimes in Südafrika diente . Doch  auch  heute  sind  Diskriminierungen,  insbesondere  aufgrund  ethnischer  oder  religiöser  Merkmale,  auf  der  ganzen  Welt  verbreitet .  Es  liesse  sich  hier  eine  schier endlose Liste angeben, welche bei der Ausweisung von Angehörigen der Sinti  und Roma aus Frankreich 201013 und der Anzahl der jährlich begangenen fremdenfeindlich motivierten Delikte in Deutschland anfängt14 und bis hin zu innerafrikanischen Konflikten reicht, etwa die seit 2003 andauernde Krise in der sudanesischen  Region Darfur . Deutliche Tendenzen zur Diskriminierung aufgrund der Herkunft  und  Religion  lassen  sich  aber  auch  im  heutigen  politischen  Diskurs  der  Schweiz  11  3 . Buch Mose, S . 25, S . 39–46, zit . nach der Einheitsübersetzung . 12  Vgl . etwa Sure 3:118–120 des Koran . 13  Vgl .  die  Stellungnahme  von  Viviane Reding,  Vizepräsidentin  der  Europäischen  Kommission,  vom  14 .9 .2010:  „I  personally  have  been  appalled  by  a  situation  which  gave  the  impression  that people are being removed from a Member State of the European Union just because they  belong to a certain ethnic minority .“, European Commission, Justice, Newsroom, Sept . 2010,  http://ec .europa .eu/justice/news/intro/news_201009_en .htm (Zugriff: 06 .02 .2011) . 14  Im deutschen Verfassungsschutzbericht sind für das Jahr 2009 18 .750 rechtsextremistische Straftaten, darunter 351 fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten, registriert, vgl . Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009, S . 38, S . 40, abrufbar unter:   http://www .verfassungsschutz .de/de/publikationen/(Zugriff: 06 .02 .2011) .

Anspruch und Anthropologie

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verzeichnen . Auffällig sind hier die z . T . unmittelbar auf Abgrenzung zielenden Werbungen für bestimmte Volksinitiativen, insbesondere die beiden Initiativen „gegen  den Bau von Minaretten“ (2007–2009) und „für die Ausschaffung krimineller Ausländer“  (2007–2010) .  Gruppenspezifische  Differenzierungen  schlagen  sich  dabei,  wie im Beispiel der beiden vorgenannten (letztlich erfolgreichen) Initiativen, zuweilen auch im positiven Recht nieder .15 Die Tendenz zu Parteilichkeit und zur selektiven Anwendung moralischer und  rechtlicher Normen scheint damit ein (zeitlich und örtlich) universelles Phänomen  zu  sein .  Die  verschiedenen  erwähnten  Erscheinungsformen  können  dabei  unter  dem  Topos  der  „Kleingruppen-“  oder  „Nahbereichsmoral“  zusammengefasst  werden . Es scheint einen doppelten moralischen Standard zur Beurteilung von Mitgliedern der Eigengruppe (in-group) bzw . der Fremdgruppe (out-group) zu geben: Normen, welche zu Vertrauen, Hilfsbereitschaft und Kooperation anhalten, gelten dabei  zunächst nur im Verhältnis der Gruppenmitglieder untereinander, gegenüber Fremden kehren sich die Beziehungen häufig gar zu Misstrauen und Feindseligkeit um .16  So kommen auch zahlreiche sozialpsychologische Untersuchungen zu dem Befund:  „[P]eople in all cultures are more likely to help someone they define as a member  of their in-group, the group with which an individual indentifies . People everywhere  are less likely to help someone they perceive to be a member of an out-group, a group  with which they do not identify“ .17 2.2 erklärunGsversucHe: das proGraMM der evolutionären psycHoloGie Soweit wir einmal die Existenz von Tendenzen zu Parteilichkeit und selektiver Anwendung moralischer Standards anhand der Gruppenzugehörigkeit konstatiert haben, lässt sich weiter fragen: Warum kann dieses Phänomen zeit- und kulturübergreifend beobachtet werden? Antworten auf diese Frage versucht die Evolutionäre Psychologie  im  Rahmen  der  Auseinandersetzung  mit  der  Entstehung  altruistischer  Verhaltensweisen zu geben . Bevor  wir  uns  aber  der  Herangehensweise  der  Evolutionären  Psychologie  zuwenden, sollte ein kurzer Blick auf die beiden Vorläufer dieser Strömung geworfen  werden: Ethologie und Soziobiologie . Dass sich das Prinzip der natürlichen Selektion nicht nur auf die Erklärung anatomischer und physiologischer Eigenschaften von Lebewesen, sondern auch auf erbliches Verhalten anwenden lässt, wurde bereits von Charles Darwin formuliert .18 Im  20 .  Jahrhundert  wurde  das  Projekt  einer  evolutionswissenschaftlichen  Verhaltenslehre  dann  zunächst  durch  Konrad  Lorenz  und  Nikolaas  Tinbergen,  später  auch  durch Irenäus Eibl-Eibesfeldt, unter den Namen Verhaltensbiologie und Ethologie  15  So heißt es etwa in Art . 72 Abs . 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft  nunmehr: „Der Bau von Minaretten ist verboten .“ 16  Vgl .  auch  Eckart Voland,  Soziobiologie:  Die  Evolution  von  Kooperation  und  Konkurrenz,  3 . Aufl ., Heidelberg 2009, S . 93; Gerhard Vollmer, Der Turm von Hanoi: Evolutionäre Ethik, in:  Franz J. Wetz, Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, Stuttgart 2008, S . 124–151, S . 140 . 17  Elliot Aronson/Timothy Wilson/Robin Akert, Social Psychology, 7 . Aufl ., Boston u . a . 2010, S . 365 . 18  Vgl . etwa das 5 . Kapitel von Charles Darwin, The Descent of Man and Selection in Relation to  Sex, New York/London 2006, S . 867 ff .

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fortgeführt . Ziel war dabei zunächst die Beschreibung von Instinkthandlungen als  genetisch fixierte Verhaltensprogramme . Nach der klassischen Ethologie würden solche Verhaltensweisen positiv selektioniert, die einen stammesgeschichtlichen Anpassungsvorteil der Art mit sich bringen .19 Aus der klassischen Ethologie ging durch eine Reihe von Entwicklungen in den  1960er  und  70er  Jahren  die  Soziobiologie  hervor .  Eine  scharfe  Abgrenzung  von  Ethologie und Soziobiologie erscheint zwar kaum möglich, doch zeichnet sich letztere  durch  eine  Konzentration  auf  tierisches  und  menschliches  Sozialverhalten  –  insbesondere  Kooperation  und  Konkurrenzverhalten  –  unter  dem  Paradigma  der  natürlichen Selektion anhand der sog . Gesamtfitness aus . Der Begriff der Gesamtfitness (inclusive fitness) geht auf William D . Hamilton  zurück .  Dieser  konnte  1964  zeigen,  dass  die  klassische  Auffassung  der  (direkten)  evolutionären Fitness  – möglichst viele eigene Nachkommen zu besitzen, die das  fortpflanzungsfähige Alter erreichen – zu eng ist und um das Konzept der indirekten  Fitness mittels Verwandtenselektion (kin selection), die Erhöhung der Fortpflanzungschancen  eines  Verwandten,  erweitert  werden  muss:  Der  genetische  Gesamterfolg  berechnet sich demnach aus der Summe der Gene, die durch eigene Nachkommen  übermittelt und der eigenen Gene, die durch Verwandte an die nächste Generation  weitergegeben werden .20 Die besondere Bedeutung der Arbeit Hamiltons’ liegt darin, den Blick weg von der Art oder Gruppe und hin zu den Genen als Replikatoren  und damit Einheiten der Selektion gelenkt zu haben .21 Auf Hamiltons Werk aufbauend, formulierte der Biologe George C . Williams in seinem Buch Adaptation and Natural Selection 1966 dann auch eine umfassende Zurückweisung der vormals herrschenden Theorie der Gruppenselektion: Ein Verhalten setzt sich nicht (primär) deshalb durch, weil es der Arterhaltung, sondern weil es dem Individuum dient . Eine  Selbstaufopferung  zugunsten  der  Gruppe  müsste  nämlich  zunächst  innerhalb  der  Gruppe gegenüber alternativen Verhaltensweisen bestehen können – dies aber erscheint unplausibel, denn es würden ja gerade die Gene derjenigen Mitglieder weitergetragen, die sich nicht aufopfern .22 Obgleich  das  1975  publizierte  Werk  von  Edward  O .  Wilson,  Sociobiology: The New Synthesis keine fundamental neuen Erkenntnisse enthielt und eher eine Zusammenfassung  der  bisherigen  Ergebnisse  darstellte,  wurde  es  nicht  nur  für  die  Strömung  der  Soziobiologie  namensgebend,  sondern  löste  auch  heftige  akademische  und  öffentliche  Kontroversen  aus,  die  wohl  in  erster  Linie  auf  den  Widerspruch  zwischen dem von Wilson formulierten umfassenden Erklärungsanspruch und dem  weitgehenden Mangel an empirischen Belegen zurückgeführt werden kann .23  19  Illies (Fn . 6), S . 95 . 20  S . William Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour: I & II, Journal of Theoretical  Biology 1964 (7), S . 1–16, S . 17–52; vgl . zur Übersicht David Buss, Evolutionary Psychology:  The New Science of the Mind, 3 . Aufl ., Boston u . a . 2008, S . 13 . 21  Popularisiert  wurde  diese  Vorstellung  vom  „egoistischen  Gen“  1976  durch  das  gleichnamige  Buch von Dawkins, der den einzelnen Organismus nunmehr als „Vehikel“ zur Reproduktion  der Gene begreift, s . Richard Dawkins, The Selfish Gene, 30th anniversary ed ., Oxford/New York  2006, S . 254 . 22  S . aber zur gegenwärtigen Renaissance der Theorie der Gruppenselektion Fn . 26 . 23  Insbesondere das letzte Kapitel von Sociobiology, in welchem Wilson ankündigt, die neue Disziplin werde Psychologie und Soziologie ersetzen sowie zu einer mechanistischen Erklärung des  Menschen führen, bleibt hoch umstritten . Vgl . Buss (Fn . 20), S . 17; Illies (Fn . 6), S . 99 .

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Im Laufe der 1980er Jahre ging die Soziobiologie dann zu einem grossen Teil in  die  Evolutionäre  Psychologie  über .  Während  die  Soziobiologie  auf  die  Erklärung  von beobachtbaren Verhaltensweisen gerichtet ist, werden im Rahmen der Evolutionären Psychologie die Fragestellungen der Evolutionstheorie auf die psychischen  Prozesse, welche diesen Verhaltensweisen zugrunde liegen, angewendet .24 Ein wichtiger Unterschied zur Soziobiologie besteht daher in der Art der Erklärung: „Eine  soziobiologische Erklärung einer Verhaltensweise versucht zu zeigen, warum sie im  gegenwärtigen Fitnessinteresse der Beteiligten ist; eine evolutionspsychologische Erklärung strebt nach der Identifikation von evolutionär selektionierten psychischen  Dispositionen, in einer bestimmten Weise zu handeln, auch wenn diese gegenwärtig  keine Selektionsvorteile mehr mit sich bringen .“25 Kennzeichnend für die Evolutionäre Psychologie gegenüber der Soziobiologie ist zudem die Konzentration auf den  Menschen als Forschungsgegenstand, wenn auch zuweilen Erkenntnisse über Tiere,  insbesondere  Primaten,  zur  Erklärung  der  Entwicklung  der  menschlichen  Psyche  herangezogen werden . Wie nun aber erklärt die Evolutionäre Psychologie die beschriebenen menschlichen Tendenzen zur Bildung einer Kleingruppenmoral?  Diese Frage verweist zunächst auf die Erklärung moralischer – im biologischen  Kontext  (notwendig  verkürzend):  altruistischer  –  Verhaltensweisen  allgemein .  Die  Erklärung von Altruismus als Ergebnis der Entwicklungsgeschichte stellt dabei ein  zentrales Thema und eine der grössten Herausforderungen der Evolutionären Psychologie dar . Schliesslich scheint selbstloses Verhalten als Verschwendung von Ressourcen auf den ersten Blick der grundlegenden Hypothese des „survival of the fittest“ zu widersprechen . Aus evolutionstheoretischer Perspektive kann altruistisches  Verhalten nur dann erklärt werden, wenn es gleichwohl (einst) einen Selektionsvorteil darstellt(e) . Zur Lösung des über einen langen Zeitraum für die Evolutionsbiologie scheinbar unerklärlichen „Problems“ des Altruismus sind heute insbesondere  zwei Modelle weithin anerkannt: Das bereits angesprochene Prinzip der Verwandtenselektion sowie die Theorie des „reziproken Altruismus“ .26 Das Prinzip der Verwandtenselektion liefert eine plausible und darüber hinaus  empirisch wohlfundierte Theorie, wie und warum die natürliche Selektion Organismen bevorzugt, die sich ihren Familienmitgliedern gegenüber uneigennützig verhalten .27  Zur  Erklärung  altruistischen  Verhaltens  gegenüber  Nichtverwandten  bedarf  dieses Modell aber einer Ergänzung .

24  Richard Joyce, The Evolution of Morality, Cambridge 2007, S . 5 . 25  Illies (Fn . 6), S . 100 (Hervorhebung hinzugefügt) . 26  In den vergangenen Jahren ist es daneben zu einer Renaissance der Theorie der Gruppenselektion im Rahmen einer „multilevel selection theory“ gekommen, vgl . insbesondere David Wilson,  Evolution,  Morality  and  Human  Potential,  in:  Steven J. Scher/Frederick Rauscher,  Evolutionary  Psychology: Alernative Approaches, Boston u . a . 2003, S . 55–70, S . 60 ff . Es handelt sich dabei  zwar um einen vielversprechenden Ansatz, doch erkennen auch die Vertreter der Theorie der  Multilevel-Selektion  das  Primat  der  Verwandtenselektion  an .  Vgl .  für  eine  Kritik  der  Theorie  der Gruppenselektion Voland (Fn . 16), S . 7–9 . Für zwei weitere Ansätze zur Erklärung der Entstehung  altruistischen  Verhaltens  vgl .  Detlef Fetchenhauer/Hans-Werner Bierhoff,  Altruismus  aus  evolutionstheoretischer Perspektive, Zeitschrift für Sozialpsychologie 2004, S . 131–141 . 27  Buss (Fn . 20), S . 235 ff .; Joyce (Fn . 24), S . 21 .

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Nach der Theorie des reziproken Altruismus, die vor allem auf die Arbeiten von  Robert Trivers in den frühen 1970er Jahren zurückgeht,28 können Adaptionen für  helfendes Verhalten gegenüber Nichtverwandten dann entstehen, wenn die Erwartung besteht, dass diese Zuwendungen in der Zukunft erwidert werden .29 Auf die  volle  Ausschöpfung  der  persönlichen  Ressourcen  wird  also  kurzfristig  verzichtet,  wobei dieser Verzicht durch ein Revanchieren der Gegenseite bei anderer Gelegenheit ausgeglichen wird .30 Das Entstehen reziprok altruistischer Verhaltensweisen soll  dabei insbesondere von drei Voraussetzungen abhängen: (1) ein günstiges KostenNutzen-Verhältnis, d . h . geringe Kosten für den Helfer und hoher Nutzen für den  Hilfeempfänger; (2) eine hohe zeitliche Beständigkeit von Interaktionsbeziehungen,  wie sie insbesondere in kleinen und stabilen Gruppen vorliegt; (3) die Fähigkeit zur  Identifikation  von  nichtkooperativen  Gruppenmitgliedern  („Betrügern“) .31  Reziprok altruistisches Verhalten konnte unter verschiedenen Tierarten beobachtet werden .32 Allgemein anerkannt ist jedenfalls das Vorliegen reziproken Altruismus unter  Menschenaffen  –  insbesondere  bei  Fellpflege  und  Nahrungsteilung:  Vorangegangene  Leistungen  werden  hier  oft  erst  zu  einem  späteren  Zeitpunkt  ausgeglichen;  Folge unterlassener Kooperationsbereitschaft sind nicht selten „moralische Aggression“ und Bestrafung .33 Als  Prinzipien,  welche  einen  evolutionären  Selektionsvorteil  darstellen,  erscheint  die  Annahme  plausibel,  dass  Verwandtenselektion  und  reziproker  Altruismus  auch  für  die  Entwicklung  menschlicher  altruistischer  Verhaltensweisen  ausschlaggebend waren . Wieso aber hat sich auf dieser Grundlage anscheinend (noch)  keine  allgemeine  Tendenz  zu  universalistischer  moralischer  Inklusion,  stattdessen  aber die beschriebene Disposition zu einer Kleingruppenmoral, entwickelt? Eine Erklärung hierfür kann in den Lebensumständen der Mitglieder der Gattung Homo zur Zeit der genetischen Prägung ihres Sozialverhaltens gefunden werden . Aufgrund von Fossilienfunden wird allgemein angenommen, dass sich die genetische Ausstattung des Menschen zumindest seit dem Auftreten des Cro-MagnonMenschen vor 40 .000 Jahren nicht mehr wesentlich verändert hat . Damit kann also  von einer stammesgeschichtlichen Prägung des Menschen auf ein soziales Gefüge  (einen „sozialen Mesokosmos“), wie es während der Steinzeit bestand, ausgegangen  werden .34 Wie aber sah dieses soziale Gefüge aus? Für fast 2 Millionen Jahre lebten  unsere Vorfahren in Jäger- und Sammlergemeinschaften und waren durch ihre nomadische Lebensform und das Fehlen von Landwirtschaft auf eine bescheidene Anzahl  von  Mitgliedern  begrenzt .  Erst  mit  der  neolithischen  Revolution,  dem  Auf-

28  Robert Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 1971 (1),  S . 35–57; vgl . auch Buss (Fn . 20), S . 17 . 29  Es handelt sich demnach im weiteren Sinn um eine Form der Kooperation oder des Tauschs,  wobei die Gegenleistung nicht zeitgleich erfolgt . Vgl . Buss (Fn . 20), S . 265 . Zur Abgrenzung von  anderen Formen kooperativen Verhaltens vgl . Voland (Fn . 16), S . 69 ff . 30  Voland (Fn . 16), S . 70 . 31  Fetchenhauer/Bierhoff (Fn . 26), S . 134 . 32  Ob es sich bei den ursprünglich (und auch heute noch häufig) angeführten Fällen – z . B . das  Verhältnis von Putzerfisch und Wirt – tatsächlich um Fälle reziproken Altruismus handelt, ist  jedoch umstritten . 33  Voland (Fn . 16), S . 77 ff . 34  Vollmer (Fn . 4), S . 242 .

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kommen von Ackerbau und Viehzucht, um 10 .000 v . Chr . wurden die Menschen  sesshaft, bildeten erste Dorfgemeinschaften und Städte .35 Ein  wichtiges  Merkmal  des  sozialen  Mesokosmos  ist  damit  die  Anzahl  der  Gruppenmitglieder . Nach Schätzungen lag diese bei etwa 80 bis 150, jedenfalls aber  maximal  wenigen  hundert  persönlich  bekannten,  zu  einem  erheblichen  Teil  verwandten, Individuen .36 Damit erfüllten die sozialen Gefüge der Jäger- und Sammlergemeinschaften die Bedingungen für altruistisches Verhalten nach den Theorien  der  kin selection  und  des  reziproken  Altruismus .  Selbst  Kritiker  der  gegenwärtigen  Ausrichtung der Evolutionären Psychologie auf das „egoistische Gen“, wie etwa David Sloan Wilson, erkennen an: „There is little doubt that we are psychologically  adapted as a species to interact in small face-to-face groups of no more than a few  hundred individuals .“37 Inwieweit es über die erwähnten Prinzipien der kin selection und des reziproken  Altruismus weitere genetische Faktoren für die Entwicklung einer Kleingruppenorientierung gibt, soll hier offen gelassen werden . Verschiedene Theorien wurden formuliert, die eine Tendenz zu „ethnischem Nepotismus“ aufgrund genetischer Ähnlichkeiten zwischen Gruppenmitgliedern annehmen .38 Diese bleiben jedoch umstritten .  Da eine Identifizierung der Gruppenzugehörigkeit sehr häufig anhand anderer Kriterien als der gemeinsamen Ethnie vorgenommen wird – z . B . eine geteilte Religions- oder Altersgruppenzugehörigkeit – spricht vieles dafür, dass hier in erster Linie  kulturelle Faktoren eine Rolle spielen . 2.3 kritik der evolutionären psycHoloGie Obgleich die fundamentalen Kontroversen um die evolutionswissenschaftliche Beschreibung menschlichen Verhaltens bereits in den 1970er Jahren stattfanden und  die Evolutionäre Psychologie seither vermehrt wissenschaftliche Anerkennung findet,  bleiben  verschiedene  grundlegende  Aspekte  dieses  Forschungszweigs  umstritten . Hier sollen drei zentrale Einwände angesprochen werden: der Vorwurf der methodologischen  Schwäche,  die  Kritik  am  Adaptionismus  sowie  der  Vorwurf  eines  genetischen Determinismus . Zuweilen wird der Einwand erhoben, dass bereits die Methoden der Evolutionären Psychologie defizitär seien und damit den „Nachweis für genetische Anlagen  der menschlichen Verhaltensweisen […] schuldig [bleiben]“ .39 Den experimentellen  Naturwissenschaften  vergleichbare  Beweismethoden  (im  Sinne  der  Wiederholbarkeit und Vorhersagbarkeit) können historische Erklärungen tatsächlich nicht bieten  35  Thomas Junker, Die Evolution des Menschen, München 2006, S . 107 ff . 36  Vollmer (Fn . 16), S . 140; vgl . auch den Eintrag in der Encyclopedia Britannica Online „social behaviour, animal“, bearb . von Janis Dickinson/Walter Koenig (Zugriff: 09 .02 .2011) . 37  Wilson (Fn . 26), S . 67 . An dieser Stelle sei Prof . Dr . Werner Egli (Luzern) für seinen freundlichen  Hinweis auf alternative Ansätze gedankt, konkret auf Jürg Helbling, Theorie der Wildbeutergesellschaft: Eine ethnosoziologische Studie, Frankfurt a . M . 1987 . 38  Vgl . zur Übersicht Kevin McDonald, An Integrative Evolutionary Perspective on Ethnicity: Politics and the Life Sciences, Long Beach 2001, S . 67–79 . 39  Matthias Mahlmann, Rationalismus in der praktischen Theorie: Normentheorie und praktische  Kompetenz, 2 . Aufl ., Baden-Baden 2009, S . 256 .

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– dies gilt allerdings für die gesamten Evolutions-, wie auch die Geschichtswissenschaften . Tatsächlich sind evolutionspsychologische Hypothesen gegenüber evolutionären Erklärungen anatomischer Entwicklungen insofern schwächer, als sie sich auf  Verhaltensweisen beziehen und diese selbst naturgemäss keine Fossilien hinterlassen . Zur Kompensation dieses Mangels können aber z . B . archäologische Funde herangezogen  werden,  welche  Anhaltspunkte  für  bestimmte  Verhaltensweisen  und  damit indirekt für psychische Dispositionen bieten .40 Eine der wichtigsten Erkenntnisquellen – und häufig der Ausgangspunkt für evolutionspsychologische Hypothesen  –  ist  aber  die  Beobachtung  kulturübergreifender  Verhaltensuniversalien  beim  Menschen .41 Allerdings ist zu beachten, dass „der Rückgriff auf kulturelle Universalien kein Schlüssel zur menschlichen Natur [ist]“ .42 Denn selbstverständlich können  sich gewisse Verhaltensweisen aus rein praktischen Erfordernissen oder auch bloss  zufällig auf kultureller (statt auf genetischer) Ebene parallel in verschiedenen Gesellschaften ausbilden . Der kulturelle Einfluss auf die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen lässt sich jedoch durch Mensch-Tier-Homologien weitgehend isolieren .  Da die Evolution keine „Sprünge“ kennt, können Vergleiche mit anderen Tierarten  herangezogen werden, insbesondere mit Primaten .43 Wichtig ist insgesamt zu beachten, dass die Methoden der Evolutionären Psychologie nicht in isolierter Anwendung, sondern erst im Zusammenspiel hinreichend verlässliche Aussagen erlauben .  Wenn ein menschliches Verhalten etwa sowohl über Kulturgrenzen hinweg als Universalie beobachtet werden kann, zudem bei bestimmten Primaten vorliegt und mit  archäologischen  Erkenntnissen  über  die  Lebensbedingungen  zur  Zeit  der  genetischen Prägung des Menschen übereinstimmt, liegt der Schluss auf eine genetische  Disposition zu einer solchen Verhaltensweise sehr nahe .  Als besonders einflussreich erwies sich darüber hinaus die 1979 von Stephen J .  Gould  und  Richard  Lewontin  formulierte  Kritik  am  adaptionistischen  Programm  der Evolutionswissenschaften .44 Dass neben der Anpassung auch andere Faktoren  im Prozess der Evolution eine Rolle spielen, wurde bereits von Darwin bemerkt,45  seither jedoch, so die Kritik von Gould und Lewontin, weitgehend vernachlässigt .  Drei Kategorien von Evolutionsfaktoren – Adaptionen, Nebenprodukte von Adaptionen sowie blosser Zufall (z . B . Gendrift) – sind heute allgemein anerkannt . Hypothesen über die Evolution bestimmter Merkmale als Adaptionen sind vor diesem  Hintergrund immer kritisch zu hinterfragen . Allerdings lassen sich auch plausible  40  41  42  43 

Für einen allgemeinen Überblick über die Methoden vgl . Buss (Fn . 20), S . 59 ff . Vgl . etwa Joyce (Fn . 24), S . 5; Vollmer (Fn . 4), S . 242 . Mahlmann (Fn . 39), S . 257 . Es gilt dabei jedoch zu beachten, dass sich die Entwicklungslinien des modernen Menschen und  unseres nächsten lebenden Verwandten, des Schimpansen, bereits vor 5–8 Mio . Jahren getrennt  haben . Daher sind entsprechende Daten mit Vorsicht zu interpretieren . Gleichwohl legen Verhaltensmuster, die sowohl kulturübergreifend beim Menschen als auch bei Primaten beobachtet  werden,  einen  gemeinsamen  evolutionären  Ursprung  sehr  nahe:  Ein  analoger  Einwand  wäre  schließlich bezüglich der Entwicklungsgeschichte anatomischer Eigenschaften, z . B . zwei Augen  und zwei Hände mit je fünf Fingern zu besitzen, verstörend . 44  Stephen Gould/Richard Lewontin,  The  Spandrels  of  San  Marco  and  the  Panglossian  Paradigm:  A Critique Of The Adaptationist Programme: Proceedings Of The Royal Society of London,  London 1979, S . 581–598 . 45  Charles Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection, 6 . Aufl ., New York 1909,  S . 519; vgl . auch Gould/Lewontin (Fn . 44), S . 589 .

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Kriterien für die jeweilige Zuordnung zu einer der genannten Kategorien angeben,  insbesondere  die  Funktionalität  zur  Lösung  elementarer  Überlebens-  und  Reproduktionsprobleme .46  Adaptionen  können  zudem,  aufgrund  der  sehr  langen  Entwicklungszeiträume und der selektiven Vorteile, die sie gewähren, weiterhin als die  primären Evolutionsfaktoren betrachtet werden .47 Ein dritter Einwand gegen die Evolutionäre Psychologie betrifft die Frage, inwieweit diese das Bild einer Determination des Menschen durch dessen genetische  Anlagen zeichnet und damit sowohl die Möglichkeit individueller Entscheidungsfreiheit als auch die Bedeutung kultureller Entwicklungen ausblendet .48 Tatsächlich  scheint  einem  Forschungsprogramm,  welches  nach  kausalen,  entwicklungshistorischen Erklärungen für psychische Dispositionen des Menschen sucht, die Gefahr,  einem genetischen Determinismus das Wort zu reden, inhärent . Gleichwohl werden  kulturelle  und  rationale  Faktoren  kaum  je  von  Evolutionspsychologen  geleugnet .  Inwieweit entwicklungsgeschichtliche Anlagen gegenüber kulturellen Lernprozessen  und  individuellen  Entscheidungen  wirksam  sind,  ist  ja  gerade  die  zentrale  –  und  ergebnisoffene  –  Forschungsfrage  der  Evolutionären  Psychologie .  Die  Kritik  ist  gleichwohl nützlich, da sie noch einmal verdeutlicht, dass es sich bei den beschriebenen  Phänomenen  keineswegs  um  unausweichliche  Determinationen  handelt,  sondern Menschen aufgrund ihrer kulturellen Errungenschaften und rationalen Fähigkeiten immer auch zur Transzendenz bestimmter Muster in der Lage sind . Statt  von genetischen Determinationen sollte daher konsequent nur von Dispositionen  oder Potentialen die Rede sein .49 Je nach äusseren Umständen und dem Mass einer  rationalen Korrektur können sich Potentiale dann zu aktuellen Einstellungen und  Verhaltensweisen verdichten – oder auch nicht . Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Kritik der Evolutionären Psychologie aufgrund der genannten Defizite zwar keine Verwerfung des gesamten Forschungsprogramms,  wohl  aber  eine  kritische  Hinterfragung  ihrer  einzelnen  Forschungsresultate erforderlich macht . Hinsichtlich der hier behandelten Ausbildung  altruistischer Verhaltensweisen erscheinen die evolutionspsychologischen Erklärungen  einer  überlebensfunktionalen  menschlichen  Verhaltensuniversalie,  welche  im  Einklang mit den Lebensbedingungen zur Zeit der genetischen Prägung des Menschen steht und sich darüber hinaus in ähnlicher Form auch bei Tieren beobachten  lässt, aber als hinreichend plausibel .

46  Ein Beispiel stellen Nabelschnur und Bauchnabel dar: Während die Nabelschnur aufgrund ihrer überlebenswichtigen Funktion als Adaption betrachtet werden kann, ist der Bauchnabel als  notwendiges Nebenprodukt dieser Anpassungsleistung (aber nicht als eigenständige Adaption)  und die spezifische Form eines individuellen Bauchnabels wiederum als reines Zufallsprodukt  anzusehen . S . Buss (Fn . 20), S . 39 ff . 47  Buss (Fn . 20), S . 42 . 48  Mahlmann (Fn . 39), S . 264 . 49  So auch, mit einer weiterführenden Diskussion: Wilson (Fn . 26), S . 64 ff .

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3   ImplIkatIonen  für  unser verständnIs  von unparteIlIchkeIt  und   unIversalItät Was folgt nun in normativer Hinsicht aus der Annahme genetischer Dispositionen  zu einer Kleingruppenmoral? Sollten wir unsere kosmopolitische Ethik und die mit  ihr verknüpften Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität aufgeben, da  sie anscheinend unseren Anlagen nicht optimal entsprechen? Dass eine solche Verknüpfung der Evolutionstheorie mit der Ethik, wie sie insbesondere von der sog .  (normativen) Evolutionären Ethik vorgenommen wurde, einen gravierenden „Kurzschluss“ darstellen würde und daher völlig zu Recht einen denkbar schlechten Ruf  geniesst,50 hat sowohl historische als auch theoretische Gründe . Das  Erheben  (vermeintlicher!)  evolutionärer  Selektionsprinzipien  –  wie  das  Streben nach „Arterhaltung“ – zu Normen der Ethik sowie gesellschaftlicher Organisation findet sich in den Werken zahlreicher Philosophen und Biologen des 19 .  und  20 .  Jahrhunderts,  wie  etwa  Herbert  Spencer,  Thomas  Henry  Huxley,  Ernst  Haeckel und z . T . auch Konrad Lorenz . In ihrer Umsetzung zeitigten diese Vorstellungen in der Form einer von der Ideologie des Sozialdarwinismus geleiteten Politik  im  20 .  Jahrhundert  katastrophale  Konsequenzen .  Sie  dienten  der  Rechtfertigung  einer rassistischen Ideologie, rücksichtsloser Expansionsbestrebungen sowie grausamer Verbrechen, wie etwa der Euthanasie im Nationalsozialismus .51 Doch wurde das Programm der Evolutionären Ethik nicht nur durch diese historischen  Auswüchse  diskreditiert,  sondern  zuvor  bereits  durch  George  Edward  Moores Principia Ethica (1903) auch in theoretischer Hinsicht eindrucksvoll widerlegt . Moore reformulierte dabei die bereits in David Humes Frühwerk, dem Treatise of Human Nature (1739–40),  enthaltene  Einsicht  der  logischen  Unmöglichkeit  der  Ableitung eines Sollens aus einem Sein .52 Moore hüllte nun „Humes Gesetz“ in ein  neues, begriffsanalytisches, Gewand: Danach liesse sich die Bedeutung des Wortes  „gut“  (im  absoluten,  nicht  im  instrumentellen  Sinn  verstanden)  unmöglich  ohne  Verlust auf einen anderen Begriff reduzieren . Jede in der Geschichte der Ethik vorgenommene Identifikation des „Guten“ mit einem bestimmten (deskriptiven) Kriterium, z . B . dem Glück (oder auch der Nützlichkeit) im Utilitarismus, begehe unweigerlich einen „naturalistischen Fehlschluss“ .53 Moore begründet dies mit dem sog .  Open Question-Argument: Wäre eine Identifikation des „Guten“ mit einem anderen  Begriff möglich, so wäre die Frage, ob dieses Kriterium (z . B . das Glück) „gut“ sei,  tautologisch, zumindest aber trivial . Dies aber ist nicht der Fall: Die Frage, ob (das  Erstreben  von)  Glück  gut  ist,  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  der  Frage,  ob  Glück  Glück ist . Es lässt sich also, gleich welcher Massstab an das „Gute“ angelegt wird,  immer wieder fragen, ob dieses Kriterium seinerseits „gut“ ist . Jeder Versuch, „gut“ 

50  Besonders prägnant formuliert hat dies Michael Ruse, Evolutionary Naturalism, London 1995,  S . 233: „Evolutionary ethics is one of those subjects with a bad philosophical smell . Everybody  knows (or ‘knows’) that it has been the excuse for some of the worst kinds of fallacious arguments in the philosophical workbook .“ 51  Für einen kritischen Überblick s . Paul Farber, Temptations of Evolutionary Ethics, Berkeley u . a .  1994; für eine weitere historische Diskussion vgl . Ruse (Fn . 50), S . 223 ff . 52  David Hume, A Treatise of Human Nature, Oxford 2008, SB 469 . 53  George Edward Moore, Principia Ethica, Cambridge 2002, S . 62 .

Anspruch und Anthropologie

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abschliessend zu definieren, ist damit nach  Moore als naturalistischer Fehlschluss  zum Scheitern verurteilt .54  Beim Argument des naturalistischen Fehlschlusses handelt es sich um einen (der  wenigen)  sehr  weit  anerkannten  Lehrsätze  innerhalb  der  Philosophie;  selbst  der  wohl bedeutendste Angriff auf ihn, John Searles sprachphilosophische Kritik, mit  der  er  den  „naturalistic  fallacy“  in  einen  „naturalistic  fallacy  fallacy“  zu  wenden  versuchte,55 vermag nicht zu überzeugen; richtet sich aber auch bereits nur gegen die  besondere  Situation  des  „Versprechens“  (in  der  nicht-reflexiven  Verbform) .  Es  ist  daher festzuhalten, dass aus Erkenntnissen über die evolutionären Grundlagen der  Moral keinesfalls unmittelbar ethische Gehalte abgeleitet werden sollten . Es bleibt  damit  also  die  Kluft  zwischen  unseren  genetischen  Dispositionen  und  dem  Anspruch an eine kosmopolitische Ethik zu konstatieren . Wenn  nun  aber  kein  direkter  Zusammenhang  zwischen  genetischen  Anlagen  und der Geltung einer Ethik besteht, können evolutionswissenschaftliche Erkenntnisse dann überhaupt einen Wert für Ethik und Rechtsphilosophie, im Besonderen  für die normativen Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität, besitzen?  Zwei mögliche Anknüpfungspunkte kommen hier in Betracht: Ein instrumenteller Nutzen der Erkenntnisse sowie die Eröffnung einer kritischen Perspektive .  Zunächst kann zwischen einer prinzipiellen und einer instrumentellen Dimension  der  Ethik  unterschieden  werden .  Eine  in  diesem  Sinn  prinzipielle  Seite  der  Ethik  formuliert  kategorische  Imperative,  sie  stellt  Normen  auf  ohne  besondere  Rücksicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten . Hier haben wir eine kosmopolitische Ethik zugrunde gelegt . Wir haben bereits gesehen, dass sich deren kategorische  Imperative – wie diejenigen einer jeden anderen Ethik – nicht aus empirischen Erkenntnissen ableiten (oder durch diese widerlegen) lassen . Was aber gilt für die instrumentelle Seite der Ethik? Hierunter sind hypothetische Imperative zu verstehen,  die bereits auf der Akzeptanz grundlegender Normen aufbauen und nur die Bedingungen einer optimalen Erfüllung dieser Normen angeben .  In unserem Fall stellt sich also die Frage, wie wir eine optimale Realisierung der  Normen  der  Unparteilichkeit  und  Universalität  erreichen  können .  Hierfür  aber  scheinen die Erkenntnisse über genetische Dispositionen zur Bildung einer Kleingruppenmoral  durchaus  gewinnbringend .  Hier  sollen  nur  zwei  Beispiele  für  eine  solche instrumentelle Nutzung des Wissens genannt werden . Zunächst lässt sich etwa annehmen, dass zur Beförderung der Menschenrechte  gerade auf Mechanismen der Identifikation und Gruppenzugehörigkeit Wert gelegt  werden sollte . Wenn das fundamentale Problem der Durchsetzung der Menschenrechte weniger in der prinzipiellen Anerkennung der Berechtigung der Menschenrechte als solcher, als vielmehr in deren Reichweite, d . h . der Frage, für wen sie gelten  sollen, liegt, dann sollte eine Strategie zur Förderung dieser Rechte in erster Linie  auf eine Inklusion ausgegrenzter Minderheiten setzen . Als weitere instrumentelle Anpassung kommt auch eine verstärkte Anwendung  des  Prinzips  der  Subsidiarität  in  Betracht:  Wenn  sich  nämlich  Interaktions-  und  Vertrauensverhältnisse  primär  innerhalb  von  Kleingruppen  konstituieren,  dann  scheint es im Sinne der Effizienz auch sinnvoll zu sein – ohne Abstriche hinsichtlich  54  Vgl . zum Open-Question-Argument Moore (Fn . 53), S . 68 . 55  John Searle, How to Derive “Ought” from “Is”, The Philosophical Review 1964, S . 43–58 .

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der erstrebten normativen Ziele zu machen –, möglichst viele Gestaltungskompetenzen auf lokaler Ebene zu belassen anstatt sie zu zentralisieren . Zuletzt besteht eine weitere Funktion evolutionswissenschaftlicher Erkenntnisse  für Ethik und Rechtsphilosophie in ihrem kritischen Potential .56 Diese Erkenntnisse  können  uns  nämlich  dazu  bringen,  die  gegenwärtige  normative  Berechtigung  bestimmter  ethischer  Intuitionen  als  Produkte  der  menschlichen  Entwicklungsgeschichte  zu  hinterfragen .  Sie  ermöglichen  somit  auch  eine  rationale  Transzendierung moralischer Intuitionen und die Bildung eines kohärenten und konsistenten  Normensystems . Auf diesem Weg können sie – ganz im Gegensatz zum Determinismusvorwurf, der gegen die Evolutionäre Psychologie erhoben wird – gerade zu einer  Loslösung von bislang unhinterfragten Einstellungen führen . Erst das Wissen um  die „Fallen der Evolution“ mag uns davon abhalten, in sie hinein zu laufen .

56  Dies gilt allerdings nur, soweit bereits eine entsprechende grundsätzliche Orientierung an einer  kosmopolitischen Ethik vorliegt; andernfalls besteht die Gefahr, dass evolutionswissenschaftliche Erkenntnisse im Gegenteil apologetisch, etwa zur Rechtfertigung bestehender Ungleichbehandlungen, missbraucht werden .

sabrina zucca-soest zur unIversalItät  von normen Die Universalität von Normen formuliert ein höchst voraussetzungsvolles Prinzip . Umstritten ist, ob  Universalität als ethisches Prinzip zur Begründung und Legitimation von Recht gesetzt werden kann  und/oder soll . Denn faktisches Recht wirkt als funktionale Umsetzung von normativen Werten und  Normen sozialer Gemeinschaften . Es erlangt dann Geltungskraft, wenn es von mindestens einem  Teil der Gemeinschaft anerkannt wird . Während diese Normen sich in ihrer historischen Kontingenz  und bezüglich der kulturellen Gegebenheiten von partikularen Gemeinschaften unterscheiden, müssen  universelle  Normen  dagegen  in  allen  Kulturen  Geltungskraft  begründen  können .  Um  dieser  Problematik begegnen zu können, wird der metatheoretisch gesetzte normativ-faktische Zugang im  Gegensatz  zum  sprachphilosophisch  begründeten,  normativ-universalistischen  konzeptualisiert .  Nach ersterem führt die komplexe Interaktion der Gemeinschaftsmitglieder zu Recht als einem kontingenten sozialem Ergebnis, das so Stetigkeit und dadurch eine Zunahme an Geltungskraft erfährt .  Nach letzterem ist die normative Kraft von Werten und Normen rational begründbar und von daher  in  ihrer  Entstehung  nachkonstruierbar  wie  auch  erneuerbar .  Anhand  des  universalpragmatischen  Ansatzes  wird  eine  Möglichkeit  der  rationalen,  normativen  und  intersubjektiv  verfassten  Begründung der Universalität von Normen nachgezeichnet .

1  BeGründBarkeIt  von  unIversellen normen Die Universalität bzw . Universalisierung von Normen formuliert einen höchst voraussetzungsvollen  Anspruch .  Bereits  die  Begründung  bzw .  Rechtfertigung  der  Rechtsnorm einer konkreten Rechtsordnung erweist sich als komplex . Umso voraussetzungsvoller ist es, wenn eine Norm1 universelle Geltung2 beanspruchen können  soll .  Universelle  Normen,  als  allgemeinere  moralische  Handlungsorientierungen,  stehen in einem vielschichtigen Verhältnis zu faktischen Rechtsnormen partikularer  Rechtsordnungen . Denn faktisches Recht wirkt als funktionale Umsetzung moralischer Normen,3 die wiederum in einem engen Verhältnis zu der mit ihnen verbundenen Rechtsgemeinschaft stehen . Normen im Sinne allgemeiner Handlungsorientierungen können deskriptiv und präskriptiv4 begründet werden . Während ersteres eingelebte, faktisch konstatierbare Handlungsregeln5 fokussiert, umfasst letzteres solche  Handlungsorientierungen, und zwar als reale Möglichkeit des Sollens, für die ein  1  2 

3 

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5 

Zum hier verwendeten Normbegriff siehe Kapitel 1 .3 Normen und Werte . Vgl . Günter Nooke, Universalität der Menschenrechte – Zur Rettung einer Idee, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal?, Freiburg 2008,  S . 16–46; vgl . auch Georg Lohmann, Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal?,  Freiburg 2008, S . 47–60 . Bezogen auf das Völkerrecht vgl . u . a . Thomas Cottier, Das Völkerrecht im Spannungsfeld von  Nationalstaatlichkeit  und  Universalität,  ZfP  2010,  S . 156–169,  S . 156;  vgl .  auch  Rolf Zimmermann, Zur Begründung der Universalität von Menschenrechten, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, Berlin 2008, S . 17–31 . Vgl . Friedrich Kambartel, Norm, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004; Wilhelm Vossenkuhl, Normativ Deskriptiv, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007 . Vgl . das Konzept der „normativen Kraft des Faktischen“ bei Max Weber und Georg Jellinek .

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moralischer Rechtfertigungsanspruch6 erhoben wird . Die konkrete Rechtsnorm eines Rechtssystems wie auch die allgemeine moralische Norm als Handlungsorientierung erlangt dann Geltungskraft, wenn sie von mindestens einem Teil der Gemeinschaft, die diesem Normensystem unterworfen ist, anerkannt wird . Bereits  an  dieser  Stelle  sieht  man  sich  mit  einer  Reihe  fundamentaler  Fragen  konfrontiert: Widersprechen universelle Normen nicht dem Eigenrecht der Kulturen? Oder sind universelle Normen etwas, das jeder Kultur eigen ist? Und wenn ja,  was ist es, dass allen Kulturen eigen ist und aus dem sich universelle Normen als  Grundlage für konkrete Rechtsnormen speisen sollen? Diese fundamentalen Problemzusammenhänge erfordern eine Konkretisierung des Zugangs auf ebenso grundlegender methodologischer Ebene . Um der umrissenen Problematik von der Begründung universeller Normen begegnen zu können, muss daher zunächst in der hier gebotenen Kürze darauf eingegangen werden, in welchem Sinne die Begriffe Begründung,  Universalität und Normen in diesem Beitrag Verwendung finden . 1.1 zur beGründbarkeit Der Begriff Begründung ist ein häufig synonym mit Rechtfertigung verwendeter Terminus .7 In der praktischen Philosophie wird der Begriff Rechtfertigung für die Begründung  von  praktischen Orientierungen,  insbesondere  Zwecksetzungen  und  (moralischen) Handlungsregeln verwendet .8 Auf das Problem, ob sich Sätze dieser Art überhaupt in einem rationalen Sinne rechtfertigen lassen,9 kann hier nur verwiesen werden . Festzuhalten bleibt, dass im Positivismusstreit die Position vertreten wird, dass  bei einer Argumentation für oder gegen praktische Orientierungen letztendlich auf  Dezisionen oder subjektive Werthaltungen10 als letzte Voraussetzungen zurückgegriffen  werden muss . Hingegen sind Bemühungen um Verfahren und Bedingungen einer  transsubjektiven  und  eben  universellen  Begründung  von  Handlungsorientierungen  davon strikt zu scheiden .11 Ob partikular oder universell, es muss eine zustimmungsfähige  (rationale)  Begründung  bzw .  Rechtfertigung  der  Normen  vorliegen,  denn  diese gewinnen nur durch die Anerkennung der Normunterworfenen an Geltungskraft .  Dementsprechend  gilt  eine  theoretische  Behauptung  (Aussage)  oder  praktische (normative) Orientierung genau dann als begründet, wenn sie gegenüber allen  vernünftig argumentierenden Gesprächspartnern zur Zustimmung gebracht werden  kann .12 Die Einsicht, dass ein begründeter (theoretischer oder praktischer) Satz vorliegt, wird durch Ausarbeitung eines Argumentationsverfahrens für beliebige rationale Dialoge, der so genannten Begründung, gewonnen .13 Begründungen lassen sich  6  7  8  9  10  11  12  13 

Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . Friedrich Kambartel, Rechtfertigung, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und  Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 510 . Kambartel (Fn . 8), S . 510 . Vgl .  Max Weber,  Wirtschaft  und  Gesellschaft,  Frankfurt  a . M .  2005;  Georg Jellinek,  Allgemeine  Staatslehre, 3 . Aufl ., Kronberg 1976 . Kambartel (Fn . 8), S . 510 . Friedrich Kambartel,  Begründung,  in:  Jürgen  Mittelstraß (Hrsg.),  Enzyklopädie  Philosophie  und  Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar, S . 272 . Kambartel (Fn . 12), S . 272 .

Zur Universalität von Normen

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demnach als rationale Argumentationsverfahren beschreiben . Eine solche Konzeptualisierung von Begründung bzw . Rechtfertigung enthält drei zu nennende Kriterien vernünftiger Argumentation, die die Rede von Begründung erst ermöglichen:14 (1)  Ein rationaler Dialog ist unvoreingenommen, d . h ., jeder Teilnehmer ist bereit, die  von ihm explizit vorgeschlagenen oder stillschweigend vorausgesetzten Orientierungen zurückzustellen, soweit sie nicht gemeinsam erarbeiteter Zustimmung  fähig sind .  (2)  Ein rationaler Dialog ist zwanglos, d . h ., in ihm treten keine Zustimmungs- oder  Ablehnungsakte auf, die lediglich auf damit verbundene offene oder verschleierte Zwänge (Sanktionserwartungen) zurückzuführen sind . (3)  Ein rationaler Dialog ist nicht persuasiv, d . h ., in ihm wird Gemeinsamkeit nicht  auf Grund der Argumentationsschwächen einiger Teilnehmer zugunsten anderer Teilnehmer erschlichen . Die Begründbarkeit von Normen umschließt in ihrer Art und Weise also bestimmte  (Argumentations)Logiken,  die  bereits  die  Grenzen  der  Geltungskraft  beschreiben .  Normen müssen begründet sein, wenn sie anerkannt sein sollen . Das bedeutet nicht,  dass Normen nicht auch durch Sozialisation und alltägliche Anwendung Geltungskraft erlangen können .15 Wird diese Norm strittig, müssen Begründungen im Diskurs angeführt werden . Werden universelle Normen begründet, müssen die Bedingungen des rationalen Begründungsprozesses alle Teilnehmer umfassen können, damit die Norm an Verallgemeinerbarkeit gegenüber allen Teilnehmern wie auch durch  alle Teilnehmer gewinnen kann . Dies kann jedoch in unterschiedlicher Weise konzeptualisiert werden . 1.2 MoraliscHe universalisierunG und etHiscHe universalität Dem  Begriff  der  Universalität  bzw .  Universalisierung  könnte  ein  eigener  Beitrag  gewidmet  werden,  so  umfangreich  gestalten  sich  die  verschiedenen  theoretischen  Konzeptionen .  Hier  soll  im  Folgenden  lediglich  aufgezeigt  werden,  inwiefern  die  Universalisierung bzw. Universalität von Normen, verstanden als normativ-moralische  Handlungsorientierungen,  diesem  Beitrag  zu  Grunde  gelegt  wird .  Der  Begriff  der  Universalisierung fußt auf einer langen Historie und findet insbesondere in der Anknüpfung an die Moralphilosophie von Immanuel Kant seinen Niederschlag, dessen kategorischer Imperativ in seinen unterschiedlichen Rezeptionen häufig als paradigmatisch  für  Formen  der  ethischen  Universalisierung  angesehen  wird .16  Dies  lässt sich auch dann konstatieren, wenn die verschiedenen Anknüpfungen an den  kategorischen Imperativ äußerst verschieden ausfallen und nach wie vor Gegenpositionen17 zu universalistischen Moralbegriffen bestehen .

14  Kambartel (Fn . 12), S . 272 . 15  Vgl . u . a . Julian Nida-Rümelin, Ethische Begründung, in: Stephan Sellmaier/Erasmus Mayr (Hrsg.),  Normativität, Geltung und Verpflichtung, Stuttgart 2011, S . 35–56 . 16  Vgl .  Reiner Wimmer,  Universalisierung,  in:  Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 200 . 17  Vgl . exemplarisch als aktuelle Gegenposition Alasair MacIntyre/Stanley Hauerwas, Changing Perspectives in Moral Philosophy, Notre Dame/London 1983 .

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In den moralphilosophischen und metaethischen Debatten seit etwa 1960 treten neben „Universalisierung“ und „Universalisierbarkeit“ Begriffe wie „Verallgemeinerung“,  „Verallgemeinerbarkeit“  oder  „Verallgemeinerungsfähigkeit“  moralischer  Ausdrücke und Urteile .18 Während Universalisierung ein Terminus für Verfahren der  Verallgemeinerung  von  Handlungsorientierungen19  darstellt,  wird  der  Terminus  Universalität in seinem ethischen Gebrauch zur Kennzeichnung von Begriffen praktischer Geltung gebraucht .20 Die deskriptive Lesart von Moral beschreibt faktische  handlungsanleitende Regeln, während die normative Lesart den Fokus auf das Warum jener moralischen Orientierungen legt, die als gerechtfertigt beurteilt, eben als  vernünftig begründet anerkannt werden können .21 Eine ethische Universalität22 zielt  demnach  auf  die  praktische  Geltung  von  Moral  als  handlungsanleitender  Institution23 .  „Während die angelsächsische Diskussion um die Universalisierung sich in metaethischer Perspektive der begrifflichen Logik moralischer Ausdrücke und Urteile zuwendet und Universalisierung als Herstellen von Konsistenz versteht und in normativ-ethischer Perspektive nach materialen Normen und Prinzipien Ausschau hält, die der Forderung nach inhaltlicher Universalisierung entsprechen, widmet sich die moralphilosophische Debatte im deutschsprachigen Raum  darüber hinaus der Grundlegungsproblematik der Ethik, und hier vor allem der Frage nach der  Art der Rationalität […] des moralischen und des ethischen Diskurses .“24

In diesem Sinne gewinnen moralische Argumente dem universalistischen Moralverständnis nach ihre Geltung also nicht durch Ableitung aus Wertungen, die auf bestimmte Personen, Kulturen oder Traditionen beschränkten sind; vielmehr sollen sie  auf  einer  allgemeiner  angelegten,  einsichtigen  Grundlage  stehen .25  Insbesondere  lässt sich dies anhand der richtungsweisenden metaethischen Position von Richard  Mervyn Hare und der hieran anknüpfenden aber darüber hinaus gehenden diskursethischen Position von Habermas nachzeichnen . Denn gerade diese allgemein einsichtige Grundlage macht Hare zur Voraussetzung moralischen Begründens schlechthin: „Es gibt im Grunde nur zwei Regeln für das moralische Begründen; sie entsprechen den zwei  Merkmalen moralischer Urteile, […] nämlich der Präskriptivität und der Universalisierbarkeit .  Wenn wir in einem konkreten Fall in der Frage, was wir tun sollten, zu entscheiden versuchen,  dann halten wir dabei […] nach einer Handlung Ausschau, auf die wir uns selbst festlegen können (Präskriptivität), von der wir aber auch zugleich bereit sind, sie als Beispiel für einen Handlungsgrundsatz zu akzeptieren, der auch für andere in ähnlichen Umständen als Vorschrift zu  18  Vgl . Wimmer (Fn . 16), S . 200 . 19  Friedrich Kambartel,  Universalisierung,  in:  Jürgen  Mittelstraß (Hrsg.),  Enzyklopädie  Philosophie  und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 413 . 20  Friedrich Kambartel,  Universalität,  in:  Jürgen  Mittelstraß (Hrsg.),  Enzyklopädie  Philosophie  und  Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 414 . 21  Vgl . Friedrich Kambartel, Moral, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 932 f . 22  Vgl . Friedrich Kambartel, Ethik, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 592 ff . 23  Bei dem hier zu Grunde gelegten Institutionenbegriff handelt es sich um einen weitgefassten,  nachdem  Institutionen  als  verfestigte  gesellschaftliche  Strukturen  verstanden  werden .  Vgl .  hierzu  James G. March/Johan P. Olson,  The Logic  of  Appropriateness,  in:  Michael Moran/Martin Rein/Robert E. Goodin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Public Policy, Oxford 2006, S . 689–708 . 24  Vgl . Wimmer (Fn . 16), S . 200 . 25  Kambartel (Fn . 20), S . 414 .

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gelten hat (Universalisierbarkeit) . Wenn wir uns irgendeinen Handlungsvorschlag ansehen und  finden, dass seine Universalisierung Vorschriften ergibt, die wir nicht akzeptieren können, weisen wir diese Handlung als eine Lösung für unser moralisches Problem zurück – wenn wir die  Vorschrift nicht universalisieren können, kann sie kein sollte werden .“26

Ebenso fordert Habermas nur solche Normen moralisch zu nennen, die im strikten  Sinne  universalisierbar  sind,  also  nicht  über  soziale  Räume  und  historische  Zeiten  variieren .27  Dieser  moraltheoretische  Sprachgebrauch  deckt  sich  dabei  nicht  mit  dem deskriptiven Sprachgebrauch des Soziologen oder des Historikers, der auch die  epochen-  und  kulturspezifischen  Regeln  als  moralische  Regeln  beschreibt,  welche  für Angehörige als solche gelten .28 Moralische, also universelle Normen können sich  hiernach  nicht  dadurch  konstituieren,  dass  eine  partikulare  Gemeinschaft  sie  für  handlungsorientierend hält . „Universalistisch nennen wir eine Ethik [als praktische Geltung moralischer Handlungsorientierung], die behauptet, dass dieses (oder ein ähnliches) Moralprinzip nicht nur die Intuitionen  einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrückt, sondern allgemein gilt . Nur  eine Begründung des Moralprinzips, die ja nicht schon durch den Hinweis auf ein Faktum der  Vernunft  geleistet  wird,  kann  den  Verdacht  auf  einen  ethnozentristischen  Fehlschluss  entkräften .“29

Die Universalität ethischer Handlungsorientierungen und ihre praktische Geltung  kann also an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft werden . Gemein ist universalistischen Normen der Anspruch, unabhängig von der Partikularität einzelner  Gemeinschaften Geltungskraft erlangen zu können . Ein moraltheoretisches Sollen, also  eine ethisch-universalistische Norm, kann nur durch die Universalisierbarkeit, also der  Verallgemeinerbarkeit  auch  der  möglichen  Folgen  der  normativen  Vorschrift,  begründet werden . 1.3 norMen und Werte Die  zahlreichen  definitorischen  Varianten30  und  Überschneidungen  der  Begriffe  Norm  und  Wert  erzeugen  im  Diskurs  immer  wieder  Unübersichtlichkeiten .  Die  Vieldeutigkeit  dieser  Grundbegriffe  ergibt  sich  u . a .  bereits  aus  den  unterschiedlichen historischen Verwendungsweisen .31 Orientierend lässt sich eine empirisch-deskriptive  von  einer  normativ-moralischen  Lesart  unterscheiden,  die  jeweils  wiederum  in  verschiedene  Konzeptionen  zu  unterteilen  ist .  Als  quantitatives  Ergebnis  von Wertungen lassen sich Werte deskriptiv erforschen . Der Fokus liegt hier auf den 

Richard Mervyn Hare, Freiheit und Vernunft, Frankfurt a . M . 1973, S . 108 f . Jürgen Habermas, Diskursethik, Frankfurt a . M . 2009, S . 60 . Habermas (Fn . 27), S . 60 .  Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1992, S . 12 . Vgl . Kurt Seelmann, Werte: Zu Ursprung und Verwendung eines in der Ethik beliebten Begriffs,  in: Michael Fischer/Kurt Seelmann (Hrsg.), Ethik im transdisziplinären Sprachgebrauch, Frankfurt  a . M . 2008, S . 111 . 31  Norbert Anwander, Werte, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der  politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2008, S . 1472 ff . 26  27  28  29  30 

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Vorstellungen,  die  Individuen  oder  Gruppen  in  ihrem  Urteilen  und  Handeln  leiten32 und die deshalb für diese Aktoren kennzeichnend sind .33  Diese Ergebnisse von Wertungen – nämlich die bevorzugte Handlung – wird  insofern zum Thema (moral)philosophischer Überlegungen, als die faktischen Wertungen  im  Rahmen  einiger  werttheoretischer  Konzeptionen  auch  die  Gründe  für  weitere Wertungen liefern; z . B . als allgemein übliche Wertungen in einer bestimmten Situation .34 In diesem Sinne können Werte als Gegenkonzept zur Kantischen  Pflichtethik gelten, denn Pflichten ergeben sich nur aus Vernunftüberlegungen und  gelten  für  sich,  d . h .  vor  derartigen  Überlegungen .35  Über  die  Vieldeutigkeit  des  Wertbegriffs  hinaus  scheinen  Werte,  insbesondere  als  quantitatives  Ergebnis  von  Wertungen eine besondere Nähe zu den Wertenden bzw . Wertkonstituierenden zu  haben, die sich durch die Begrenztheit der partikularen Wertgemeinschaft auszeichnet . Um als Norm gelten zu können, muss zu den wie auch immer konstituierten  Werten eine Handlungsaufforderung bzw . ein –verbot hinzutreten . Auch wenn einige definitorische Überschneidungen zwischen Wert- und Normbegriff bestehen,  macht eine moraltheoretische Lesart von Normen, eine (Rechtfertigungs-)Argumentation notwendig; so werden Normen synonym mit moralischen Werturteilen verwandt,  die  häufig  wiederum  unter  Einschränkung  auf  den  Fall  prinzipieller  oder  allgemeiner Orientierungen genutzt werden .36 Normen beschreiben hiernach nicht  beliebige Regeln oder etablierte Handlungsweisen, sondern lediglich solche Orientierungen,  für  die  ein  moralischer Rechtfertigungsanspruch  erhoben  wird .37  Verschärft  wird der Anspruch einer moralischen Rechtfertigung durch den Universalitätsaspekt  von Normen, denn eine universalistische Begründung kann sich nicht auf die starke  kulturell gebundene Ethik einer partikularen Gemeinschaft stützen .  Für Habermas besteht der Unterschied zwischen Werten und Normen in eben  diesem Anspruch der Universalität . Die Nichtunterscheidung von Werten und Normen  gefährdet  nach  Habermas  die  universalistische  Auffassung  von  Moral,  denn  diese Unterscheidung macht es erst möglich, universelle Normen zu ermitteln, die  nicht von einer bestimmten Kultur abhängig sind – wohingegen gemeinschaftliche  Wertvorstellungen  und  Traditionen,  wie  Keuschheit  oder  bestimmte  Zeremonien  nicht  als  universelle  Normen  tauglich  sind .38  Den  kulturellen  Werten  stehen  also  universelle  Normen  gegenüber .39  Habermas  unterscheidet  anhand  von  vier  Zuschreibungen zwischen Werten und Normen: „Normen und Werte unterscheiden sich [also] erstens durch ihre Bezüge zu obligatorischem,  bzw . teleologischem Handeln; zweitens durch die binäre bzw . graduelle Kodierung ihres Geltungsanspruchs; drittens durch ihre absolute bzw . relative Verbindlichkeit und viertens durch  32  Anwander (Fn . 31), S . 1472 ff . 33  Vgl . auch Clyde Kluckhohn, Values and Value – Orientations in the Theory of Action, in: Talcott Parsons/Edward Shils (Hrsg.), Toward a Generals Theory of Action, Cambridge 1952 . 34  Oswald Schwemmer,  Wert  (moralisch),  in:  Jürgen  Mittelstraß (Hrsg.),  Enzyklopädie  Philosophie  und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 662 . 35  Schwemmer (Fn . 34), S . 662 . 36  Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . 37  Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . 38  Jürgen Habermas, Werte und Normen: Ein Kommentar zu Hilary Putnams Kantischem Pragmatismus, in: Marie-Luise Raters/Markus Willaschek (Hrsg.), Hilary Putnam und die Tradition des  Pragmatismus, Frankfurt a . M . 2002, S . 280–305, S . 299 . 39  Habermas (Fn . 38), S . 296 .

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die Kriterien, denen der Zusammenhang von Norm- bzw . Wertsystemen genügen muss . Weil  sich Normen und Werte in diesen logischen Eigenschaften unterscheiden, ergeben sich folgenreiche Differenzen auch für ihre Anwendung . Ob ich im Einzelfall mein Handeln durch Normen oder durch Werte bestimmen lasse, hat eine jeweils andere Art von Handlungsorientierung  zur Folge . […] Im Lichte von Normen lässt sich entscheiden, was zu tun geboten ist, im Horizont von Werten, welches Verhalten sich empfiehlt .“40

Universelle Normen müssen demnach eine Materie im gleichmäßigen Interesse Aller regeln – Werte hingegen bilden in der Konfiguration mit anderen Werten eine  symbolische  Ordnung,  in  der  sich  Identität  und  Lebensform  einer  partikularen  Rechtsgemeinschaft  ausdrücken .41  Die  Universalität  von  Normen  hängt  hier  also  davon  ab,  ob  sie  die  Anerkennung  der  ihnen  Unterworfenen  erlangen  kann,  was  wiederum durch eine Berücksichtigung der gleichmäßigen Interessen Aller konstituiert werden soll . Auf diesem Wege können Normen ihre Sollgeltung erlangen . 2  zweI BeGründunGskateGorIen Die Materie von universellen Normen scheint sich unlösbar auf zwei antipodische  Positionen zu verteilen . Denn die Frage nach der Universalität von Normen spitzt  den grundsätzlichen Dissens der sich gegenüberstehenden Zugänge42 relativistischer  (normativ-faktischer)  und  universeller  (normativ-universalistischer)  Art  zu .  Die  Frage nach der Universalität von Normen befindet sich im „Widerstreit zwischen universalistischen und relativistischen Konzeptionen der Ethik . […] In  einer schwachen Fassung behaupten sie, für ihre Normen universalistische Gründe anführen zu  können, d . h . solche, welche bei Vertretern aller Kulturen und Zeiten Anerkennung verdienen .  […]  Die  anderen  vertreten  einen  relativistischen  Standpunkt .  Sie  bestreiten  die  Möglichkeit,  universale Normen begründen [zu können], und anerkennen nur kulturbedingte, wandelbare  Werte . Für sie können Normen weder universell gültig sein noch für konkrete Situationen universalistisch begründet werden . Alles Normative ist kulturell und situativ .“43

Beide Zugänge lassen sich mit einem kurzen Blick auf ihre jeweilige metaethische  Verortung veranschaulichen . Metaebene ist hier diejenige Ebene, auf der das Kriterium gewonnen wird, wann etwas sich als von allgemeiner Verbindlichkeit – somit als  Sollgeltung überhaupt – erweist . In Bezug auf die Begründbarkeit von moralischen  Urteilen  gewinnt  die  Systematik  der  metaethischen  Ebene  besondere  Bedeutung .  Denn  die  Aufgabe  der  Metaethik44  in  all  ihren  facettenreichen  Optionen  besteht  darin, Erklärungsmodelle für die Analyse moralischer Urteile an die Hand zu geben .45 Insofern sie diese Aufgabe erfüllt, gewinnt sie für unsere moralische Praxis an  40  Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1992, S . 311 f . 41  Habermas (Fn . 40), S . 312 . 42  Eine ausführliche Diskussion beider metatheoretischer Kategorien kann in der noch erfolgenden Publikation der Dissertation der Autorin nachvollzogen werden . 43  Philippe Mastronardi,  Universalisierung:  Ein  Prozess  interrationaler  Verständigung,  ZfP  2010,  S . 187–206, S . 187 . 44  Vgl . auch Max Baumann, Recht und Ethik – Dimensionen einer kommunikativen Rechtstheorie, in: Sandra Hotz/Klaus Mathis (Hrsg.), Recht, Moral und Faktizität, Zürich/St . Gallen 2008,  S . 126 ff . 45  Günther Grewendorf/Georg Meggle,  Zur  Struktur  des  metaethischen  Diskurses,  Frankfurt  a . M .  1974, S . 9 .

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Relevanz .46  Die  sprachphilosophisch  orientierte  Metaethik  fragt  nicht  nach  den  Prinzipien moralischen Handelns etwa wie bei Kant, in Bezug auf ein intelligibles  Ich, sondern versucht durch eine Analyse der Sprache der Moral, Auskunft über moralische Begriffe und Kategorien zu erhalten, indem sie Bedeutung und Funktion von  in moralischer Absicht verwendeten Wörtern, Urteilen und Argumentationen untersucht .47 Ethik ist in diesem Sinne die logische Untersuchung der Moralsprache .48  Die Funktion moralischer  Grundsätze  liegt darin, Verhalten zu bestimmen .49 Die  verschiedenen metaethischen Theorien stimmen darin überein, dass sie eine vom  Standpunkt des neutralen Beobachters aus mögliche Beschreibung der Sprache der  Moral postulieren .50 In diesem Sinne soll die Metaethik auch auf dem Boden pluralistischer Moralphilosophien eine wissenschaftliche (intersubjektive) Beschäftigung  mit Fragen der Ethik ermöglichen .51 Im Fokus liegt also die Sprache der Moral, die  durch unterschiedliche Herangehensweisen analysiert wird . Die Ergebnisse der sprachanalytischen  Untersuchungen  differieren  dabei  insbesondere  in  Bezug  auf  den  kategorialen Status, der moralischen Wörtern und Urteilen zugeschrieben wird .52  In Bezug auf die Universalität von Normen im Spannungsfeld von Relativismus  und Universalismus scheint sich die Problematik im Bereich der Metaethik im Verhältnis  der  kognitivistischen  und  nonkognitivistischen  Ansätze  widerzuspiegeln .  Denn während die „Kognitivisten“ unter den Metaethikern behaupten, die Sprache  der Moral bringe eine rationale Tätigkeit des Menschen zum Ausdruck, vertreten die  „Nonkognitivisten“  die  These,  moralisches  Sprechen  signalisiere  ein  irrationales,  ausschließlich  durch  Gefühle  gesteuertes  Verhalten  des  Menschen .53  Die  Behauptung der sich in der Sprache der Moral zum Ausdruck bringenden Rationalität wird  von  den  Metaethikern  unterschiedlich  begründet .54  Ohne  sich  in  die  Vielfalt  der  Ansätze  der  Vertreter  dieser  beiden  Positionen  vertiefen  zu  wollen,  können  doch  beide Grundkategorien hinsichtlich ihrer Gegensätzlichkeit umrissen werden . 2.1 norMativ-FaktiscHe ansätze einer nonkoGnitivistiscHen perspektive Die nonkognitivistische Perspektive legt ihren Fokus auf den Bericht darüber, welche  Antworten von jemandem auf moralische Fragen gegeben werden .55 Moralische Urteile werden aus der Beobachterperspektive beschrieben und befinden sich hier in  deskriptiven  Kontext-Bedingungen  und  ihr  Geltungskriterium  ist  demnach  sehr 

46  Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 9 . 47  Vgl . Hasso Hofmann, Legalität, Legitimität, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 161 . 48  Richard Mervyn Hare, Die Sprache der Moral, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1997, S . 13 . 49  Hare (Fn . 48), S . 19 . 50  Vgl . Annemarie Pieper, Metatheorie, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.),  Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 1168 . 51  Friedrich Kambartel, Metaethik, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 864 . 52  Vgl . Pieper (Fn . 50), S . 1168 . 53  Vgl . Pieper (Fn . 50), S . 1168 . 54  Vgl . Pieper (Fn . 50), S . 1169 . 55  Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 .

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wohl falsifizierbar .56 Ob Sätze moralischer Art „wahr“57 sind, hängt hier davon ab,  welche  moralischen  Ansichten  tatsächlich  vertreten  werden .58  Das  Berichten  von  tatsächlich vorliegenden moralischen Ansichten kann aus dieser deskriptiven Perspektive heraus keine moralische Verpflichtung begründen .59 Spiegelt man die Materie universeller Normen auf die metaethische Ebene, so  lässt  sich  der  normativ-universalistische  Zugang  augenscheinlich  der  präskriptiven Perspektive und der normativ-faktische Zugang der deskriptiven Ebene zuordnen . Im  Bereich der Metaethik60 lassen sich deskriptive und präskriptive Perspektiven in Bezug  auf  Moralurteile  nachzeichnen,  die  jeweils  ihren  eigenen  Erkenntnishorizont  und ihre eigenen logischen Ableitungen mit sich bringen . Innerhalb beider Zugänge  bestehen, wie auch Mastronardi61 konstatiert, stärkere und schwächere Positionen .  Um universelle Normen einem normativ-partikularen Verständnis nach begründen  zu können, müsste eine globale kulturelle Gemeinschaft bestehen, auf die sich die  Rechtfertigungsanforderungen beziehen . Da dies weder real noch anstrebbar scheint,  verneinen  Vertreter  dieser  Perspektive  die  Möglichkeit  universalistischer  Normen .  Auch die Ansätze, die an das Konzept der normativen Kraft des Faktischen anschliessen,  müssen  dem  partikularen  Geltungsanspruch  von  Normen  verhaftet  bleiben .  Denn  auch  wenn  die  innere  verpflichtende  Kraft,  die  die  Überzeugung  von  dem  Faktischen zu etwas Normativem führt, und in diesem Sinne als sittliche Norm62  verstanden wird, so ist der Grund der normativen Kraft des Faktischen nicht in einer  bewussten oder unbewussten Vernünftigkeit zu suchen . Vielmehr wird der Grund  aus  dem  Wirken  der  menschlichen  Natur  einer  kulturell  verfestigten  partikularen  Gemeinschaft63 gewonnen . 2.2 norMativ-universalistiscHe ansätze einer koGnitivistiscHen perspektive Die kognitivistische Perspektive legt ihren Fokus auf das, was wir meinen, wenn wir  moralische Fragen stellen bzw . beantworten .64 Angenommen wird hier eine Intentionalität  der  Sprache  und  damit  zugleich  ein  möglicher  Rationalitätsanspruch  der  Sprachverwendung .  Es  geht  um  die  Bedeutung  von  inhaltlichen  moralischen  Schlussfolgerungen, die nicht falsifizierbar sind, sondern deren Geltungskriterium  als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt eingesehen werden kann .65 Es handelt sich  also um einen normativen Bedeutungskontext66, dem die „präskriptive“ metaethische Position zu Grunde liegt . Mit „präskriptiv“ wird eine vorschreibende oder emp-

56  57  58  59  60  61  62  63  64  65  66 

Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 f . Vgl . auch Manfred Harth, Werte und Wahrheit, Paderborn, 2008, S . 9 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Vgl .  Ansätze  aus  den  Bereichen  des  Emotivismus,  Intuitionismus,  Subjektivismus,  Naturalismus, Kontraktualismus . Vgl . Mastronardi (Fn . 43), S . 187 ff . Jellinek (Fn . 10), S . 338 f . Jellinek (Fn . 10), S . 343; ebenso Weber (Fn . 10), S . 157, S . 564 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 .

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fehlende Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken (z . B . „gut“, „richtig“) benannt .67  Die Bedeutung der wertenden Ausdrücke lässt sich, dem präskriptiven Ansatz nach,  auch nicht von wahren Beschreibungen von Gegenständen oder Handlungen ableiten .68 In diesem Sinn können auch moralische Urteile als Tatsachenfeststellungen  oder  einer  Begründung  fähig  und  in  diesem  Sinne  als  Erkenntnis  (Good  Reason  Approach) verstanden werden .69 Ob moralische Urteile als „wahr“ gelten, hängt davon  ab,  welche  Bedeutung  bestimmte  Wörter  und  Äußerungen  haben .70  Eine  Verbindlichkeit im moralischen Sinn entsteht hier also, wenn ihr Gehalt mit einem Kriterium der Normativität (z . B . kategorischer Imperativ) legitimierbar ist .71 Nach dem normativ-universalistischen Ansatz, als Basis der Diskursethik, ist die  normative Geltungskraft von Normen rational begründbar . Denn dieser Kategorie  liegt die Vorstellung einer „Vernunft“ zu Grunde, die unabdingbar auf „Wahrheitsansprüche“ bezogen ist, die unter Bedingungen moderner Gesellschaften rational begründbar sein müssen . Diese Grundannahmen bilden die Basis für eine universelle  Geltungskraft  von  Normen  (Prinzip  der  allgemeinen  Sollgeltung) .  Die  Positionen  der Diskursethik, die von einer universal geltenden Verständigungsrationalität ausgeht, trifft eine besondere Begründungslast .72 Denn die große Frage, die zu beantworten bleibt, ist die, ob es gelingt, diesen Vernunftbegriff aus den metaphysischen  Verstrickungen zu lösen, dennoch einen Ort zu benennen, an dem sich Sprecher  und Hörer begegnen und zugleich diese Prozesse in der sozialen Realität zu verankern . 3  dIe unIversalpraGmatIsche BeGründunG  von normen Die  Universalpragmatik  von  Habermas  skizziert  ein  ebensolches  prozedurales  Vernunftverfahren,73  in  dem  normative  Geltungsansprüche  begründet  und  deren  Anerkennung rational motiviert werden können soll . Hier soll der universalpragmatische Ansatz von Habermas nicht in Gänze rekonstruiert, aber auf die Geltung und  Begründung universeller Normen zugespitzt werden . Nach Habermas gilt das Diskursmodell als Inbegriff der sozialkognitiven Voraussetzungen für einen universalen, alle bloß lokalen Umstände und traditionellen Ordnungen überschreitenden  Diskurs .74 Denn die Transformation von Fragen des guten und richtigen Lebens in  Fragen der Gerechtigkeit setzt die Traditionsgeltung des jeweiligen lebensweltlichen  Kontextes  außer  Kraft .75  Die  Hintergrundgewissheiten  der  faktisch  eingewöhnten  Lebensformen und Lebensentwürfe dürfen nicht mehr als fraglos gültiger Kontext  67  Vgl . Wilhelm Vossenkuhl, Präskriptiv, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.),  Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 1265 . 68  Vgl . Vossenkuhl (Fn . 67), S . 1265 . 69  Kambartel (Fn . 51), S . 864 f . 70  Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . 71  Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 f . 72  Mastronardi (Fn . 43), S . 187 . 73  Herbert Ganslandt, Legalität, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 562 ff . 74  Habermas (Fn . 29), S . 60 . 75  Habermas (Fn . 29), S . 33 .

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vorausgesetzt werden .76 Nur so kann die Begrenztheit partikularer Geltungsansprüche überwunden werden . Die Universalpragmatik hat die Aufgabe, so Habermas, universale Bedingungen  möglicher Verständigung zu identifizieren und nachzukonstruieren .77 Dieser zunächst  intuitiv metatheoretische Zugang zu Verständigung gewinnt erst im Gesamtzusammenhang  einer  Gesellschaftstheorie  die  mit  ihm  zugleich  gesetzte  umfassende  Struktur . Denn Universalpragmatik stützt sich auf ein normativ gehaltvolles Konzept von Verständigung,  operiert  mit  diskursiv einlösbaren Geltungsansprüchen  und  formalpragmatischen Weltunterstellungen  und  bezieht  das  Verständnis  von  Sprechakten  auf  die Bedingungen ihrer rationalen Akzeptabilität .78 Vor diesem Hintergrund muss jede  formalistische Ethik, so Habermas, ein Prinzip angeben können, das grundsätzlich  erlaubt,  über  strittige  moralisch-praktische  Fragen  ein  rational  motiviertes  Einverständnis herbeizuführen .79 Er bietet hierfür den Universalisierungsgrundsatz (U) an,  der  als  Argumentationsregel  verstanden  werden  soll:  Jede  gültige  Norm  muss  der  Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können .80 Hinzu  tritt der diskursethische  Grundsatz (D), nach  dem jede gültige Norm die  Zustimmung  aller  Betroffenen  finden  können  müsste,  wenn  diese  nur  an  einem  praktischen Diskurs teilnehmen würden .81 Hiernach kann eine Moral also nur dann universalistisch genannt werden, wenn  sie nur solche Normen gelten lässt, die jeweils die wohlerwogene und ungezwungene Zustimmung aller Betroffenen finden könnten .82 Gemäß den grundsätzlichen  Kriterien von Begründungen83 kann diese zwanglose Zustimmung nur über das Vehikel guter Gründe erreicht werden . Eben dies macht den reflexiven Charakter des  Diskurses aus – er darf nicht nur als ein alle potentiell Betroffenen umspannendes  Netz kommunikativen Handelns vorgestellt werden, sondern als Reflexionsform kommunikativen Handelns – eben als Argumentation .84 In jeder tatsächlich durchgeführten Argumentation kommen die Teilnehmer selbst nicht umhin, als eine auch virtuelle Teilnehmer mit einbeziehende Projektion vorzunehmen .85 In Argumentationen  müssen die Teilnehmer pragmatisch voraussetzen, dass im Prinzip alle Betroffenen  als  Freie  und  Gleiche  an  einer  kooperativen  Wahrheitssuche  teilnehmen,  bei  der  einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt .86  Diskurse sind durch formalpragmatisch bestimmte Kommunikations-voraussetzungen strukturiert . Die normativ anspruchsvollen und nicht hintergehbaren Kommunikationsvoraussetzungen  der  Argumentationspraxis  haben  den  Sinn  einer  76  Habermas (Fn . 29), S . 33 . 77  Jürgen  Habermas,  Was  heisst  Universalpragmatik?,  in:  ders .,  Vorstudien  und  Ergänzungen  zur  Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a . M . 1995, S . 353 . 78  Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a . M . 2004, S . 7 . 79  Habermas (Fn . 29), S . 31 . 80  Habermas (Fn . 29), S . 31 f . 81  Habermas (Fn . 29), S . 32 . 82  Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a . M . 1985, S . 50 . 83  Vgl . 1 .1 zur Begründbarkeit . 84  Habermas (Fn . 29), S . 60 f . 85  Habermas (Fn . 29), S . 61 . 86  Habermas (Fn . 29), S . 61 .

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strukturellen Nötigung zu unparteilicher Urteilsbildung .87 Denn die Argumentation  bleibt das einzige verfügbare Medium der Wahrheitsvergewisserung, weil sich anders  problematisch gewordene Wahrheitsansprüche nicht prüfen lassen .88 Der Übergang von Moral zu Recht verlangt deshalb einen entsprechenden Wechsel von den symmetrisch verschränkten Perspektiven der Achtung und Wertschätzung der Autonomie  des jeweils Anderen zu den Ansprüchen auf Anerkennung und Wertschätzung der jeweils eigenen Autonomie vonseiten des Anderen . So wird der geforderte intersubjektiv  zu  veranschlagende  Perspektivenwechsel  vorgenommen,  der  notwendig  vorausgesetzt wird, um zu einer unparteilichen Urteilsbildung zu kommen . Normative Geltungsansprüche sind demnach auf die intersubjektive Anerkennung durch Sprecher  und Hörer angelegt und können nur mit Gründen – also diskursiv – eingelöst werden .89 Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass jede gültige Norm der Bedingung  genügen muss, die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen  Befolgung  für  die  Befriedigung  der  Interessen  eines  jeden  Einzelnen  (voraussichtlich)  ergeben,  von  allen  Betroffenen  akzeptiert  (und  den  Auswirkungen  der  bekannten  alternativen  Regelungsmöglichkeiten  vorgezogen)  werden  können  muss .90 Nach Habermas bildet die Universalpragmatik den Rahmen für die Erzeugung von rational begründbarem und intersubjektiv anerkanntem – also legitimen  Recht .  Dieses  Konzept  der  Universalpragmatik  gilt  dabei  in  allen  Kulturen  und  Sprachen gleichermaßen – eben universal . 4  unIverselle normen –  eIne utopIe? Die Begründung von universellen Normen erfordert wie aufgezeigt fundamentale  und damit auch methodologische Positionierungen . Ob der Fokus auf universellen  Normen  als  allgemeine  moralische  Handlungsorientierungen  oder  auf  konkreten  Rechtsnormen wie den Menschenrechten liegt – die größte Kritik scheint die Realität selbst zu schreiben . Denn ungeachtet der plausibelsten theoretischen Herleitungen, der Höhenunterschied zwischen universellen Normen wie den Menschenrechten und der Realität ihrer Durchsetzung stellt uns immer wieder schmerzhaft auf  den Boden der Tatsachen . Es stellt sich die Frage, ob angesichts der großen Voraussetzungen und der Schwierigkeit der realen Umsetzung, universelle Normen als negative Utopie, als unerreichbare Vision festgehalten werden müssen?  Die Kennzeichnung Utopie ist seit Thomas Morus zum einschlägigen Begriff für  den Schauplatz eines visionären idealen Gemeinwesens91 geworden . Und auch im  weiteren Verlauf blieb utopisches Denken in den explizit normativen und revolutionären Schriften92 zu finden . Gleichzeitig fanden viele revolutionäre Ideen mit ei87  Habermas (Fn . 29), S . 51 . 88  Habermas (Fn . 29), S . 51 . 89  Jürgen Habermas, Zwecktätigkeit und Verständigung: Ein pragmatischer Begriff der Rationalität,  in: Herbert Stachowiak (Hrsg.), Pragmatik: Handbuch pragmatischen Denkens: Bd . III: Allgemeine philosophische Pragmatik, Hamburg 1989, S . 32–59, S . 47 . 90  Habermas (Fn . 27), S . 60 . 91  Ulrich  Dierse,  Utopie,  in:  Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.),  Historisches  Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 510 . 92  Herbert R. Ganslandt, Utopie, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wis-

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ner zeitlichen Verschiebung ihren Niederschlag in den nachfolgenden Gesellschaften . Utopien scheinen also nicht zwangsläufig dem Wünschenswerten verschrieben  zu bleiben . Inwiefern kann also die Utopie von der Universalität von Normen auf  unsere  soziale  Wirklichkeit  einwirken?  Die  große  Schwierigkeit  von  universalistischen  Positionen93  bildet,  wie  gesehen,  die  Abstraktion  von  der  partikularen  Gemeinschaft . Gerade dies versucht der universalpragmatische Ansatz durch den Perspektivenwechsel  und  den  Standpunkt  der  Unparteilichkeit  im  kommunikativen  Handeln  zu  konstituieren .  Die  U-topia  als  der  „noch  nicht  Ort“  von  universalen  Normen  wird  mit  der  möglichen  Wirklichkeit  des  Aushandelns  von  Gründen  als  reale Möglichkeit des Sollens festgehalten . „Nur  unter  den  Kommunikationsvoraussetzungen  eines  universell  erweiterten  Diskurses,  an  dem alle möglicherweise Betroffenen teilnehmen und in dem sie in hypothetischer Einstellung  zu den jeweils problematisch gewordenen Geltungsansprüchen von Normen und Handlungsweisen mit Argumenten Stellung nehmen könnten, konstituiert sich die höher stufige Intersubjektivität  einer  Verschränkung  der  Perspektive  eines  jeden  mit  den  Perspektiven  aller .  Dieser  Standpunkt der Unparteilichkeit sprengt die Subjektivität der je eigenen Teilnehmerperspektive,  ohne den Anschluss an die performative Einstellung der Teilnehmer zu verlieren .“94

Dies ist insbesondere auch im Hinblick auf die Konstituierung konkreter Rechtsnormen zu verstehen . Denn im sozialen Raum besteht natürlich überall und immer ein  Gefälle zwischen Normen und tatsächlichem Verhalten .95 Die problematisch gewordenen  Normen  finden  in  ihrem  permanenten  Diskurs  aber  auf  vielfältige  Weise  Einzug  in  die  faktischen  Rechtsordnungen .  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Menschenwürde als moralischer Quelle und kodifizierten Menschrechten als faktischer  Niederschlag . Mit der Positivierung des ersten Menschenrechts ist eine Rechtspflicht zur Realisierung überschießender moralischer Gehalte erzeugt worden, die sich in  das Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat .96 Unabhängig von der faktischen  Umsetzung werden wir mit ihren Inhalten konfrontiert . So zieht mit dieser überschießenden Idee der Gerechtigkeit auch eine problematische Spannung in die politische und gesellschaftliche Realität ein .97 Dies zeigt sich an der Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen: der Widerspruch zwischen der Verbreitung der Menschenrechtsrhetorik auf der einen, ihrem Missbrauch als Legitimationshilfe für die  übliche Machtpolitik auf der anderen Seite .98 Und dennoch bilden die Menschenrechte insofern eine realistische Utopie, als sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten  Bilder  eines  kollektiven  Glücks  vorgaukeln,  sondern  das  ideale  Ziel  einer  senschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 463 . 93  Vgl . Beat Sitter-Liver, Universale moralische Prinzipien und Normen: Ein naiver Traum?, ZfP  2010, S . 141–155 . 94  Habermas (Fn . 29), S . 113 . 95  Jürgen Habermas, Das utopische Gefälle: Das Konzept der Menschenwürde und die realistische  Utopie  der  Menschenrechte,  Blätter  für  deutsche  und  internationale  Politik  2010,  S . 43–53,  S . 51;  vgl .  auch  Heiner Bielefeldt,  Menschenrechtlicher  Universalismus  ohne  eurozentristische  Verkürzung, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte  universal?,  Freiburg  2008,  S . 98–141;  vgl .  ebenso  Georg Lohmann,  Menschenrechte  zwischen  Moral und Recht, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte,  Frankfurt a . M . 1998, S . 62–95 . 96  Habermas (Fn . 95), S . 52 . 97  Habermas (Fn . 95), S . 52 . 98  Habermas (Fn . 95), S . 52 .

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gerechten  Gesellschaft  in  den  Institutionen  der  Verfassungsstaaten  selber  verankern .99 Die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die mit der Positivierung der  Menschenrechte in die Wirklichkeit selbst einbricht, konfrontiert uns heute mit der  Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten .100 In diesem Sinne haben Utopien sehr wohl eine praktische Funktion, nämlich insoweit sie in sozialen Bewegungen als Orientierungen eingehen .101  Man stelle sich nur die Frage, inwiefern die Vorstellung eines geeinten Europas im  Sinne der Europäischen Union noch vor 60 Jahren als utopisch galt . Auch wenn  man einer „realistischen Utopie“ die fehlende Durchschlagskraft vorhalten kann, so  verliert der Anspruch von Habermas, nämlich die Ausbuchstabierung eines Begründungskonzeptes, eines Maßstabes zur Gewinnung und damit Beurteilung von universellen Normen eine notwendige und immanent wichtige Grundlage für die Anerkennung von Menschenrechten102 und anderer Konkretisierungen von universellen Normen nicht an Gewicht . Dieser Fundamentalanspruch bleibt auch bei dem  kritischen Hinweis von Mastronardi, dass auch die allgemeine Begründungspflicht  und  Überzeugungslast  für  Argumente  im  Diskurs  auch  für  Kriterien  der  Ethik  gelte,103 bestehen . Auch wenn das kommunikative – eben in Diskursen je neu reflexiv gewordene  – Handeln bezüglich der Durchsetzung von Menschenrechten nur selten zum Tragen kommt, so ist es dennoch dem permanenten Diskurs ethnozentristischer Interventionen vorzuziehen . Und auch wenn die Idee der Durchsetzung der Menschenrechte, als eine Konkretisierung universeller Normen, eine – nur als Möglichkeit kommunikativen Handelns aufgezeigte – Utopie ist, so ist dies vielleicht der Ansporn,  diese Möglichkeit auch konkret werden zu lassen und tatsächlich einen Topos zu  finden .

99  Habermas (Fn . 95), S . 52 . 100  Habermas (Fn . 95), S . 53 . 101  Habermas (Fn . 82), S . 74 . 102  Habermas (Fn . 95), S . 53 . 103  Mastronardi (Fn . 43), S . 203 .

tarek naGuib* postkateGorIale ‚GleIchheIt  und dIfferenz‘:   antIdIskrImInIerunGsrecht  ohne kateGorIen  denken!? Das geltende Antidiskriminierungsrecht hat kaum bestreitbar bedeutende Fortschritte im Kampf gegen soziale Ungleichheiten bewirkt . Andererseits trägt es in seiner gegenwärtigen Aufstellung dazu  bei – und das mag absurd klingen – Stigmata und Ausgrenzung zu zementieren . Grund: Es operiert  konzeptionell in Normalisierungs-Kategorien und nährt dadurch die kraftvolle Tendenz dominanter  Gruppen, Gleichheit und Differenz aus der Perspektive der herrschenden Verhältnisse zu bewerten .  Kategorien wie z . B . Behinderung, Geschlecht, Ethnie, Rasse, Alter, fahrende Lebensform, Religion,  soziale Stellung und sexuelle Orientierung werden nicht konsequent als verwobene, in asymmetrischen Machtstrukturen eingebettete soziale Konstruktionen begriffen, sondern nicht selten – bewusst  oder unbewusst – (re-)naturalisiert . Weil dem so ist, benötigt der kategorisierungs- und identifizierungsmächtige Rechtsstaat – will er denn diskriminierungsschutzrechtlich glaubwürdig sein – einen  wirkmächtigen Reflexions- und Korrekturmechanismus . Hierfür schlage ich das theoretische „Transformations-Konzept“ der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ vor .

1   proBlemstellunG: üBerwIndunG  von  essentIalIsmen  Im  Geltenden   antIdIskrImInIerunGsrecht Der differenzierte Umgang mit ‚Gleichheit und Differenz‘ gehört theoretisch zur Kernkompetenz des Antidiskriminierungsrechts, ist aber praktisch dessen grösste Herausforderung . Beispiele aus der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung zeigen, dass  immer wieder (quasi-)essentialistische Fehlschlüsse (re-)formuliert werden .1 Naturalisierungen und Kulturalisierungen sind latent in verfassungs- und gesetzesrechtlichen Diskriminierungskategorien eingeschrieben und fliessen auch deshalb in Prämissen und Argumentationsmuster von Gerichtsurteilen und rechtspolitische Antidiskriminierungspostulaten ein, dies oft kaschiert hinter stereotypen und mit Vorurteilen  behafteten  Tatsachenbehauptungen  und  Alltagstheorien .2  Dabei  unterliegt  sowohl die Bewertung von Differenz als auch diejenige von Gleichheit diskriminierenden Kategorisierungen . Diese manifestieren sich in der Regel zwar subtil, graben  sich aber gerade deswegen – verstärkt durch die beachtliche symbolische Gewalt des  Staates3 – wirkmächtig noch tiefer in das mit Stigmata und Ausgrenzungen besetzte  * 

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Ich bedanke mich herzlich bei Doris Liebscher für ihre höchst bereichernden und zahlreichen  kritischen  Anmerkungen .  Doris  Liebscher  ist  Mitbegründerin  des  Antidiskriminierungsbüros  Sachsen, promoviert zu Ambivalenzen des Begriffs „Rasse“ im deutschen Recht an der Humboldt Universität Berlin und publiziert regelmässig zu Antidiskriminierungsrecht und -pädagogik, zu Extremismus und Demokratietheorien . Beispiele dazu werden weiter hinten diskutiert (vgl . Abschnitte 3 .1 und 3 .2) . Zu einer Untersuchung deutscher Gerichtsurteile zum Antidiskriminierungsrecht siehe Alexander Klose, Stereotypen, Vorurteile, Diskriminierungen: Tatsachenbehauptungen in Urteilen zum  Gleichbehandlungsrecht (voraussichtliche Publikation im 2011) . Zur symbolischen Gewalt des Staates siehe Pierre Bourdieu, Language and Symbolic Power, Cambridge 1991; vgl . weiter Michel Foucault, Die „Gouvernementalität“ (Vortrag), in: Daniel Defert/ François Ewald, Schriften in vier Bänden = Dits et écrits . Bd . 3, Frankfurt a . M . 2003, S . 796–823;  James C. Scott,  Seeing  like  a  State:  How  Certain  Schemes  to  Improve  the  Human  Condition  Have failed, New Haven 1998, S . 76 ff .

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Tarek Naguib

interdependente  und  verwobene  Geflecht  gesellschaftlicher  Strukturen,  Diskurse  und Identifizierungsmuster .4 Die übergeordnete Ursache dieses wirkmächtigen „antidiskriminierungsrechtlichen“ essentialistischen Fehlschlusses ist in den Wissens- und Machtstrukturen zu verorten . Sie  zeigen sich namentlich darin, dass „wir“ – d . h . diejenigen, die den Schutz vor Diskriminierung definieren – vor problematischen Kategorisierungen der „anderen“ –  d . h . die vor Diskriminierung zu schützenden – deshalb nicht gefeit sind, weil „wir“  die „anderen“ in der Regel aus der Perspektive blinder Flecken weisser5 oder anderweitig  herrschender  Dominanz  beurteilen .  Daher  benötigen  „wir“  Vorkehrungen,  die  uns  helfen,  Antidiskriminierungsrecht  so  zu  konzipieren,  dass  es  auch  in  der  Rechtswirklichkeit seinen Namen verdient . Die zentralen Ziele sind: rechtsbegriffliche Essentialisierungsrisiken tief zu halten, die Dominanz in der Praxis des Rechtsstabes offenzulegen und in der Anwendung des Rechts so gut als möglich zu verhindern  –  dies  zwecks  Machtverlust  des  „Wir“  zugunsten  des  „Anderen“  für  ein  „Gemeinsames“ .6 Eine  potentielle  Hilfestellung,  die  uns  nachhaltig  die  Richtung  weisen  kann,  bietet der theoretische Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ . Der von  der  auf  Antidiskriminierungs-  und  Gleichheitsrecht  spezialisierten  Juristin  und  Rechtsoziologin Susanne Baer erstmals in den deutschsprachigen Rechtswissenschaften im Zusammenhang mit dem Antidiskriminierungsrecht formulierte Begriff7 der  Postkategorialität zielt darauf ab, Antidiskriminierungsrecht als Recht gegen Stigmatisierung, Ausgrenzung und „Ismen“ zu begreifen, ein Recht also, das nicht bei den  Diskriminierungsbetroffenen  (als  „Opfer“)  ansetzt,  sondern  sich  an  gesellschaftlichen Hierarchisierungen („Strukturen“ und „Täter“) und an individuellen Fähigkeiten  bzw .  Einschränkungen  orientiert .  Postkategoriale  ‚Gleichheit  und  Differenz‘  verpflichtet den Gesetzgeber und die rechtsanwendenden Behörden, Antidiskriminierungsrecht ohne stereotype Differenz- und Gleichheitskategorien zu denken . Im  Sinne von Judith Butler versteht sich der Ansatz als eine sprachpolitische Verdichtung  von anti-essentialistischem (bzw . anti-hierarchischem) Wissen durch subversive und  interventionistische  Resignifizierung8  des  geltenden  kategorialen  in  ein  künftiges  4  5 

6 

7  8 

Zur Wechselwirkung von Differenzkategorien auf der Strukturebene, der diskursiven Repräsentationsebene und der Ebene der Identifikation siehe Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, insb . S . 79–97 . Weiss bzw . nichtweiss oder Schwarz bezeichnet nicht zwingend die Hautfarbe, sondern auch eine  kulturalisierte Rassifizierung . Gemeint sind Menschen, die von Rassismus und weisser hegemonialer Macht (negativ) betroffen sind . Um diese sichtbar zu machen, werden die Begriffe weiss  und schwarz in diesem Text als Worte kursiv geschrieben . Hingegen wird weiss im Gegensatz zu  Schwarz klein  geschrieben,  weil  zwar  auch  diese  Kategorie  eine  soziale  Konstruktion  ist,  aber  klein um eine Abgrenzung zu Schwarz zu vollziehen, das von grossen Teilen der ‚Schwarzen‘  bzw . People of Colour als politisch-emanzipatorische Selbstzuschreibung verwendet wird . Vgl .  hierzu auch Nora Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im  Recht,  KJ  2009,  S . 353–363,  S . 353;  Maureen Maisha Eggers,  Mythen,  Masken  und  Subjekte:  Kritische Weissseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S . 13 . Vgl . hierzu auch die Vorschläge in Susanne Baer, Chancen und Risiken positiver Massnahmen:  Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts und drei Orientierungen für die Zukunft, Dossier Positive Massnahmen: Von Antidiskriminierung zu Diversity, Online-Publikation: http:// migration-boell .de/web/diversity/48_2635 .asp, Juli 2010 (Zugriff: 27 . April 2011) . Baer (Fn . 6) . Subversive und interventionistische Resignifizierung meint nach Judith Butler in Anlehnung an 

Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘

181

anti- bzw . postkategoriales Antidiskriminierungsrecht – es ist also ein Konzept, das  nach erfolgter Mission seine Bedeutung verliert (Transformationskonzept) .  Der vorliegende Beitrag entwickelt den Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit  und Differenz‘ (2 . Theorie: Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘) . Auf dieser  Grundlage werden Beispiele essentialistischer Fehlschlüsse im geltenden schweizerischen Antidiskriminierungsrecht identifiziert und dekonstruiert9 (3 . Praxis: Beispiele  essentialistischer Fehlschlüsse) . Als rechtspolitischer Ausblick formuliert der Beitrag  ein Fazit mit – aus in Thesen formulierten empirischen Erkenntnissen resultierenden – Vorschlägen für eine theoretisch fundierte antidiskriminierungsrechtliche Praxis und Politik (4 . Fazit und Ausblick in Thesen) . 2  theorIe:  postkateGorIale ‚GleIchheIt  und dIfferenz‘ „Wie gelingt es, Menschen ‚positiv‘ zu adressieren, ohne das Negative damit immer  wieder festzuschreiben?“, so die zentrale Frage von Susanne Baer in ihrem kritischen  Beitrag  zu  positiven  Massnahmen  zur  Beseitigung  von  strukturellen  Diskriminierungen über die Förderung spezifischer Gruppen .10 Gruppenrechte – so ihre Ausgangsposition – „essentialisieren Differenz und Ungleichheiten . Wer Menschen in  Gruppen einteilt, reduziert sie auf ein Merkmal oder eine Eigenschaft, homogenisiert also Menschen, die einiges, aber nie alles gemeinsam haben . Wer sich an Gruppen orientiert, tendiert dazu, kollektive Identitätskonzepte als Identitätspolitiken zu  verfestigen“ .11 Baer schlägt daher vor, weniger in Opferkategorien zu denken, sondern  Antidiskriminierungsmassnahmen  „postkategorial“  zu  begreifen  und  ebenso  Täter_innen12 und Struktur ins Visier zu nehmen . John L . Austin die bewusste und politisch intendierte Umschreibung wirkmächtiger Einschreibungen von Konventionen in Begriffen . Vgl . hierzu Judith Butler, Hass spricht: Zur Politik des  Performativen, Berlin 1998, etwa S . 218 . 9  Dies im Sinne der Tradition der Critical Legal Studies etc ., die in Anlehnung an Jacques Derridas  Konzept  der  Dekonstruktion  der  Gerechtigkeit  mittels  Feinanalyse  der  herrschenden  Dogmatik die im Recht eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen . Vgl . hierzu  etwa Thomas-Michael Seibert, Dekonstruktion der Gerechtigkeit: Nietzsche und Derrida, in: Sonja  Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano,  Neue  Theorien  des  Rechts,  Stuttgart  2006,  S . 29–55, insb . S . 43–48; Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies  etc ., in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S . 97–116 . Mit dem die „Theorie“ der „Critical Legal Studies“ ergänzenden „etc .“ soll  die Heterogenität der rechtspolitischen und -kritischen Bewegung dargestellt werden, die sich  mit Ausnahme der machtkritischen Intention kaum auf einen klaren theoretischen und methodischen Nenner bringen lässt . 10  Baer (Fn . 6) . 11  Baer (Fn . 6) . 12  Ich benutze den Unterstrich _ in Anlehnung an Steffen Kitty Hermanns Vorschlag, dass mit  dem  _  all  jene  Menschen  erneut  in  die  Sprache  eingeschrieben  werden  sollen,  die  entweder  von der zweigeschlechtlichen Ordnung (Frau – Mann) ausgeschlossen werden oder aber nicht  Teil von ihr sein wollen: „Mit Hilfe des _ sollen all jene Subjekte wieder in die Sprache eingeschrieben werden, die gewaltsam von ihr verleugnet werden .“ (Steffen Kitty Herrmann, „Queer(e)  Gestalten: Praktiken der Derealisierung von Geschlecht“, in: Haschemin Yekani/Beatrice Michaelis,  Quer  durch  die  Geisteswissenschaften:  Perspektive  der  Queer  Theory,  Berlin  2005,  S . 53–72,  insb . S . 64)

182

Tarek Naguib

Nun aber von vorne: Was bedeutet Gleichheit und Differenz im Antidiskriminierungsrecht?  Sowohl  die  herrschende  Rechtsdogmatik  als  auch  die  kritische  Rechtssoziologie haben hierzu relevante Meinungen . Und wie lässt sich daraus der  Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ entwickeln? Dies mit dem  Ziel, das Antidiskriminierungsrecht richtig (d . h . gerecht, wirksam und konstruktiv)  aufzustellen . 2.1 ‚GleicHHeit und diFFerenz‘ in der doGMatik des antidiskriMinierunGsrecHts „Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe  seiner  Ungleichheit  ungleich“  zu  behandeln,  so  der  rechtsgleichheitsdogmatische  Meta-Grundsatz .13  Abweichungen  davon  sind  rechtlich  nur  dann  zulässig,  wenn  sachliche Gründe vorliegen . Daran anschliessend unterstellen Diskriminierungsverbote als „besonders strenge Gleichheitssätze“ Benachteiligungen von Menschen aufgrund spezifischer Dimensionen14 vergleichsweise strengeren Rechtfertigungsmassstäben .15 Die besondere Rechtfertigungsstrenge legitimiert sich aufgrund der historischen  bzw .  gegenwärtigen  Stigmatisierung  und  Ausgrenzung  bestimmter  sozialer  „Gruppen“, die von Gleichheitsverstössen besonders hart getroffen werden .16 Ausgehend vom Prinzip der Gleichheit aller Menschen verlangt der Nichtdiskriminierungsgrundsatz  eine  differenzierte Betrachtung der Gleichheit und der Differenz  –  dies vor dem Hintergrund der sozial konstruierten Differenz-„Realitäten“ . Unzulässig ist demnach neben der direkten auch die indirekte Diskriminierung, d . h . neutrales Verhalten wonach faktisch Ungleiches mit nachteiliger Wirkung gleichbehandelt  wird .17 Dies bedeutet: Diskriminierungsverbote betrachten Menschen als gleich in  ihrem  individuellen  Da-  und  Sosein,18  und  zugleich  berücksichtigen  sie  allfällige  biologische und sozial konstruierte Differenzen mit dem Ziel, diese vernünftig zu  beurteilen .19

13  Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz: Im Rahmen der Bundesverfassung,  der  EMRK  und  der  UNO-Pakte,  4 . Aufl .,  Bern  2008,  S . 645 .  Aus  der  Rechtsprechung  siehe  unter vielen BGE 132 II 485 E . 6 .3 .1, S . 503 f . 14  Analytisch  unpräzise  auch  Gründe  oder  Merkmale  genannt  (vgl .  hierzu  die  Erklärung  in  Tarek Naguib,  Antidiskriminierungsrecht  im  Vergleich:  Schweiz  –  Europäische  Union,  Jusletter  21 .  März 2011, Fn . 8) . 15  Walter Kälin/Martina Caroni, Das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen der  ethnisch-kulturellen  Herkunft,  in:  Walter  Kälin,  Das  Verbot  ethnisch-kultureller  Diskriminierung: Verfassungs- und menschenrechtliche Aspekte, ZSR-Beiheft 1999 (29), S . 67–97, S . 78 . 16  Anne Peters,  Diskriminierungsverbote,  in:  Detlef Merten/Hans J. Papier,  Handbuch  der  Grundrechte: Grundrechte in der Schweiz und Liechtenstein, Zürich 2007, S . 255–299, Rz . 7 . Aus der  Rechtsprechung siehe unter vielen BGE 130 I 352 E . 6 .1 .1, S . 357 . 17  Zu den Unterschieden der direkten und indirekten Diskriminierung siehe Andreas Rieder, Form  oder  Effekt?  Art . 8  Abs . 2  BV  und  die  ungleichen  Auswirkungen  staatlichen  Handelns,  Bern  2008, S . 210 ff . 18  Übernommen von Regina Aebi-Müller, Die „Persönlichkeit“ im Sinne von Art . 28 ZGB, in: Thomas Geiser/Thomas Koller/Ruth Reusser/Hans P. Walter/Wolfgang Wiegand, Festschrift Heinz Hausheer, Bern 2002, S . 99–116, S . 113 ff . 19  Wobei  auch  die  scheinbar  biologischen  Differenzen  letztlich  massgeblich  sozial  konstruierte 

Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘

183

Hier  lässt  sich  etwa  das  Beispiel  des  Anspruchs  auf  Grundschulunterricht20  eines  gehörlosen  Kindes anfügen . Demnach bedeutet der formal gleiche Anspruch auf Grundschulunterricht gerade nicht, dass dieser auch tatsächlich gleich wie bei einem hörenden Kind realisiert werden kann .  Denn die Differenz des individuellen Da- und Soseins eines nicht hörenden Kindes – die sich  einerseits in der biologischen und funktionalen „Gehörlosigkeit“ zeigt, und sich andererseits in  der  sozial  konstruierten  Kommunikationsbehinderung  wegen  strukturellen  Defiziten  an  der  Schule manifestiert21 – verlangt eine differenzierte Berücksichtigung . Konkret resultiert daraus  ein Anspruch des nicht hörenden Kindes auf eine Gebärdendolmetschung .

Daran anschliessend wird in der rechtsdogmatischen Debatte kontrovers diskutiert,  ob Diskriminierungsverbote auf einem symmetrischen oder einem asymmetrischen  Diskriminierungsverständnis beruhen .22 Demnach werden Diskriminierungsverbote  entweder  als  Anknüpfungs-  oder  als  Benachteiligungsverbote  begriffen .23  Konkret  geht  es  um  die  Frage,  inwiefern  neben  den  strukturell  benachteiligten  Menschen  (wie z . B . Frauen, Trans*personen, Menschen mit Behinderung, Fahrende, Zwitter,  Muslime,  Homosexuelle)  auch  nicht  oder  weniger  benachteiligte  Menschen  (wie  z . B .  Männer,  Menschen  ohne  Behinderung,  Sesshafte,  Christen,  Heterosexuelle)  davon erfasst werden – bzw . ob diese gleichheitsrechtlich gleich oder eben different  zu beurteilen sind .  Sowohl das Anknüpfungs- als auch das Benachteiligungsverbot haben Vor- und  Nachteile .24 Problematisch an beiden Schutzrichtungen ist, dass sie sich zu stark auf  die „Opfer“ fokussieren und dadurch die Strukturen bzw . die Diskriminatoren vernachlässigen . Daher sind sie – so absurd dies klingen mag – mitverantwortlich für  die Zementierung diskriminierender Strukturen, auch wenn sie einiges zum Guten  gewendet haben .25 Folgerichtig plädieren Susanne Baer, Susan Emmenegger und Ute Sacksofsky in Anlehnung an Catharine MacKinnon dafür, Antidiskriminierungsrecht  als Recht gegen asymmetrische Machtverhältnisse zu betrachten und dabei aus einer  anti-hierarchischen Perspektive zu denken, um den Blick auf die Ungleichheiten als  Verhältnisse zu richten .26 Beispielsweise  berücksichtigen  Hierarchisierungsverbote  im  Gegensatz  zu  den  Anknüpfungs-  und Benachteiligungsverboten die Realität von Hierarchien im Rechtsverfahren . Konkret beachtet das Hierarchisierungsverbot im Rahmen eines Zivilprozesses wegen sexueller Belästigung die 

20  21  22  23  24  25  26 

sind (Vgl . hierzu Judith Butler, Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt a . M . 2009, insb .  S . 281 ff .) . Zum Anspruch auf Grundschulunterricht siehe Müller/Schefer (Fn . 13), S . 781–800, insb . S . 790 f . Wobei nach vorliegender Auffassung die biologisch-funktionale Behinderung letztlich Resultat  der behinderten (bzw . behindernden) strukturellen Beschaffenheit der Gesellschaft ist (vgl . hierzu Abschnitt 3 .2) . Zum Stand der Diskussion in der Schweiz siehe Alexandra Dengg, Symmetrisches oder asymmetrisches Diskriminierungsverständnis: Gefahr der Stereotypisierung benachteiligter Gruppen,  Jusletter 17 . Mai 2010 . Müller/Schefer (Fn . 13), S . 687 ff . Vgl . hierzu Müller/Schefer (Fn . 13), S . 687 ff . Baer (Fn . 6) . Susanne Baer,  Würde  oder  Gleichheit?:  Zur  angemessenen  grundrechtlichen  Konzeption  von  Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik  Deutschland  und  den  USA,  Baden-Baden  1995;  Ute Sacksofsky,  Das  Grundrecht  auf  Gleichberechtigung: Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2 . Aufl ., Baden-Baden 1996; Susan Emmenegger, Feministische Kritik des Vertragsrechts:  Eine Untersuchung zum schweizerischen Schuldvertrags- und Eherecht, Fribourg 1999 .

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Tarek Naguib Schwierigkeiten der belästigten Klägerin ihre Betroffenheit zu artikulieren und sich dagegen zu  wehren  indem  es  in  einem  Verfahren  eine  Herabsetzung  des  Beweismasses  auf  ein  blosses  Glaubhaftmachen verlangt .27

2.2 ‚GleicHHeit und diFFerenz‘ in der kritiscHen recHtssozioloGie 2 .2 .1  Gleichheits-/Differenz-Ansätze Die kritische Debatte zu ‚Gleichheit und Differenz‘ hat ihren Ursprung in der feministischen Rechtskritik und ihrem Nachdenken über das Verständnis von Geschlecht  und Geschlechterdifferenz .28 Das anfängliche Ziel feministischer Rechtskritik war es,  rechtlich zementierte Ungleichheiten der Frauen über formale Gleichheitsgebote im  Sinne eines Gleichheitsverständnisses nach Aristoteles29 auszugleichen bzw . die individuellen Möglichkeiten der Frauen an diejenigen der Männer anzugleichen . Wobei als „Massstab der für die Bestimmung von Gleichheit erforderlichen Vergleichbarkeit (…) die (rechtliche und gesellschaftliche) Stellung von Männern herangezogen“  wird .30  Gleichheit  bedeutet  demnach  gleiche  Möglichkeiten  im  Berufs-  und  Privatleben  –  so  etwa  beispielhaft  und  konkret:  gleiche  Rechte  beim  Zugang  zur  (aktuell männlich konstruierten und strukturierten) Karriere . Dieses Streben nach Angleichung findet aber auch innerhalb gleichheitstheoretischer Positionen Kritik . So erklärt etwa Ute Gerhard in ihrem Ansatz „Gleichheit  ohne  Angleichung“,  dass  der  Gleichheitsbegriff  selbst  impliziere,  dass  Gleichbehandlung nicht zur Angleichung führen dürfe, sondern weibliche Differenzen – biologische  und  gesellschaftliche  –  berücksichtigen  müsse .31  Diese  differenztheoretische Perspektive begreift die Stellung der Frau als ökonomisch und sozial ungleich  und verwirft die in der gleichheitstheoretischen Perspektive übernommene patriarchale Abwertung des Weiblichen . Gleichheit bedeutet demnach im Gegensatz zur  gleichheitstheoretischen  Perspektive  Gleichwertigkeit  in  den  Möglichkeiten  des  Berufs- und Privatlebens – so etwa beispielhaft und konkret: eine gleichwertige Berücksichtigung  der  „weiblichen“  (als  aktuell  weiblich  konstruierte)  Solidarität  und  der  „männlichen“ (als aktuell männlich konstruierte) Effizienz im Rahmen von Beförderungen . Diese feministisch formulierte Kritik rund um ‚Gleichheit und Differenz‘- Diskurse  lässt  sich  auch  auf  andere  Diskriminierungsdimensionen  übertragen .  Weitet  frau die Perspektive des kritischen Blickes aus, lässt sich ‚Gleichheit und Differenz‘  als  eine  alle  Dimensionen  übergreifende  strukturelle  Fragestellung  thematisieren .  27  Emmenegger (Fn . 26), S . 183 . 28  Für einen Überblick zu den Anfängen der Debatte und ihrer Entwicklung siehe Andrea Maihofer, Gleichheit und/oder Differenz? Zum Verlauf einer Debatte, in: Eva Kreisky/Birgit Sauer,  Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, Opladen 1998, S . 155–176 . 29  Aristoteles,  Nikomachische  Ethik  (übersetzt  von  Eugen  Rolfes,  Leipzig  1911),  Fünftes  Buch,  1130b, 1131a . 30  Sarah Elsuni,  Feministische  Rechtstheorie,  in:  Sonja  Buckel/Ralph Christensen/Andreas FischerLescano, Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S . 157–178, S . 160 . 31  Differenzfeministinnen argumentieren, dass die „typisch weiblichen“ Eigenschaften und Fähigkeiten ebenso Anerkennung verdienten wie die typisch männlichen . Manche vertreten darüber  hinaus die Auffassung, nur an den „weiblichen Eigenschafen“ könnte die Welt genesen, die an  der Vorherrschaft krankt .

Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘

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Dies gilt etwa rund um die Frage der ‚Gleichheit und Differenz‘ von Menschen unterschiedlicher  Herkunft,  unterschiedlichen  Alters,  unterschiedlicher  Religionen  und Lebensformen und solchen Menschen mit Behinderung im Vergleich zu solchen ohne Behinderung, solchen in der binären Geschlechterdichotomie scheinbar  originär  eindeutigen  und  solchen  nicht  eindeutigen  Geschlechts .  Gleich  sind  die  betroffenen Menschen insofern, als eine stereotype Unterscheidung nicht zulässig  ist .  Die  jeweilige  Dimensionen  spezifische  Differenz  wiederum  zeigt  sich  in  den  unterschiedlichen  biologischen  und  sozialen  Wirklichkeiten,  wobei  erstere  durch  letztere massgeblich mitgeprägt sind . Ältere Menschen sind nicht etwa weniger leistungsfähig, ebensowenig wie Menschen mit und  im Vergleich zu solchen ohne Behinderung . Auch junge Menschen sind nicht einfach weniger  erfahren als ältere . Weiter ist es falsch, hinsichtlich der Fähigkeit, ein Kind zu seinem Wohle zu  erziehen,  zwischen  gleich-  oder  unterschiedlich  geschlechtlichen  Eltern  zu  unterscheiden .  Ebenso unsinnig ist die Differenzierung geschlechtsspezifischer Aufgaben oder die Verbindung  frauendiskriminierender  Praktiken  mit  spezifischen  ethnisierten  „Zugehörigkeiten“ .  Dennoch  ist es eine (überwiegend sozial hergestellte und nicht etwa natürliche) Realität, dass gehörlose  Menschen beeinträchtigt sind im „Hören“, fahrende Menschen kein Interesse an der derzeitigen  herrschenden Lebensform haben, Menschen aus verschiedenen Kulturen unterschiedliche Kommunikationskodices und Vorstellungen von Zusammenleben erlernten und Frauen statistisch  betrachtet über weniger Flexibilität verfügen, weil sie stärker Sorge-/Pflege-Verantwortung übernehmen (müssen) .

‚Gleichheits- und Differenz‘- theoretisch differenziertes Denken verlangt daher ein  gleichwertiges Berücksichtigen von Differenzen, dies obwohl – oder gerade weil –  diese Differenzen nach vorliegender Auffassung letztlich ausschliesslich konstruiert  sind  –  d . h .  im  Verhältnis  zu  bestehenden  gesellschaftlichen  (Sub-)Strukturen  im  aktuell herrschenden Raum und zur momentan herrschenden Zeit vergleichsweise  vor- oder nachteilig dastehen, dies entgegen einer vermeintlichen Natur der Menschenkategorien  (die  mehr  oder  weniger  als  menschlich  gelten) .  Denn  historisch  besteht immer die Möglichkeit, diese strukturellen Relationen zu verändern – d . h .  Differenz- in Gleichheitsbeziehungen zu transformieren –, vorausgesetzt es besteht  ein Wille und die Ressourcen werden angemessen verteilt .32 2 .2 .2  Kritik an Gleichheits-/Differenz-Ansätzen Problematisch an Gleichheits-/Differenz-Ansätzen ist – so zunächst aus feministischer Perspektive betrachtet –, „dass sie in ihrer Struktur in den gesellschaftlich und  auch  rechtlich  vorherrschenden  binären  Geschlechterverhältnissen  verbleiben“ .33  Differenz sei auch in diesen feministischen Ansätzen nur als „das Andere des Einen  und damit die Zweiheit nur über die Einheit und nie ohne hierarchische Abwertung“34  gedacht . Mann und Frau werden als Dichotomie begriffen, so bleiben sie einerseits  unter  sich  hierarchisierend  und  andererseits  in  sich  natürlich  ausschliesslich,  d . h .  ausgrenzend für weitere Geschlechtermodelle (Trans*personen35) . Judith Butler geht  in ihrer m . E . zutreffenden Analyse gar soweit, anstatt das soziale vom biologischen  32  33  34  35 

Vgl . hierzu die Beispiele hinten, Abschnitte 3 .1 und 3 .2 . Elsuni (Fn . 30), S . 168 . Elsuni (Fn . 30), S . 168 . Vgl .  zum  Begriff  Trans*personen  und  zur  Diskriminierung  von  Trans*gender  und  zwischengeschlechtlichen Menschen und deren rechtlicher Situation Jannik Franzen/Arn Sauer, Diskriminie-

186

Tarek Naguib

Geschlecht abzuheben, das biologische Geschlecht (inkl . der Zweigeschlechtlichkeit)  als Effekt des sozialen zu sehen .36  Die problematische Essentialisierung von geschlechtsbezogenen Gleichheits-/Differenzkategorien und die Abwertung des Einen im Vergleich zum Andern manifestiert  sich auch in der asymmetrischen Dichotomie weiterer Diskriminierungsdimensionen wie etwa behindert/nichtbehindert, richtiges Alter/zu hohes bzw . zu niedriges  Alter, Mehrheitsreligion(en)/Minderheitsreligion(en), sesshaft/fahrend, hetero-/homosexuell, autochthone Ethnie/allochthone Ethnie . So wird statisches Kategoriendenken etwa in der Tradition der verschiedenen Richtungen und Fortentwicklungen  der Critical Legal Studies etc . – insbesondere in der Debatte über Intersektionalität  der Critical Race Theory – immer wieder von neuem und an unterschiedlichsten  sozialen Kategorien dekonstruiert .37 Auch Susanne Baer kritisiert, dass Kategorien als  etwas biologisch oder kulturell fixiertes betrachtet werden: „Unheilvolle Verknüpfung phänotypischer Merkmale mit sozialen Deutungen ist jedenfalls für  den Rassismus und Antisemitismus mit Blick auf die ihn fundierenden naturalisierenden Rassenlehren anerkannt . Auch sexuelle Orientierung oder Identität ist lange naturalisiert und als  Krankheit pathologisiert worden . Desgleichen lässt sich die Tendenz zur Naturalisierung beim  Alter beobachten, obwohl die Alternsforschung deutlich zeigt, wie unterschiedlich sich ebendies  auf  Menschen  auswirkt .  Schliesslich  lässt  sich  am  Begriff  der  Behinderung  gut  erkennen,  wie  problematisch  Naturalisierungen  sind,  wenn  sie  ‚Behinderung‘  pauschal  pathologisieren  und  fixieren, soweit dem medizinischen Modell gefolgt wird, anstatt auf Behinderungen von Menschen unterschiedlicher Befähigung abzuheben .“38

Die historische Falle der Gleichheits-/Differenz-Debatte liegt also in der Essentialisierung von Kategorien durch den Fokus auf Differenz und Gleichheit, obwohl es  weder Differenz noch Gleichheit eindeutig gibt . So wird etwa diskursiv – also vermittelt über Sprache – von zwei oder mehreren natürlichen, homogenen und unüberbrückbaren  Identitäten,  Kulturen,  Klassen,  Körper  etc .  mit  gegensätzlichen  Qualitäten ausgegangen . Diese in die Begriffe eingeschriebenen Konventionen verfestigen sich wirkmächtig in den Strukturen – also in konkreten rechtlichen und gesellschaftlichen Ungleichheitsbeziehungen – als auch in der „Identitätsbildung“ der  betroffenen  Kategorienzugehörigen  (gemeint  sind  Analysekategorien) .  Und  auch  umgekehrt zwingen essentialistische Strukturen die Sprache zur Reproduktion derselben .39  Strukturell  und  grundsätzlich  betrachtet,  wirken  hier  Essentialismen  in 

    36  37 

38  39 

rung von Trans*personen, insbesondere im Arbeitsleben, hrsg . von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Berlin 2010, http://www .antidiskriminierungsstelle .de/RedaktionBMFSFJ/RedationADS/PDF-Anlagen/  20101214_transExpertise,property=pdf,bereich=ads,sprache=de,rwb=true .pdf . (Zugriff: 07 .03 .2011) . Judith Butler,  Das  Unbehagen  der  Geschlechter  (Titel  der  Originalausgabe:  Gender  Trouble),  Frankfurt a . M . 1991 (im Original: 1990), insb . S . 32 ff . Vgl . hierzu etwa Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black  Feminist  Critique  of  Anti-Discrimination  Doctrine,  Feminist  Theory  and  Antiracist  Politics,  S . 139, University of Chicago Legal Forum, Chicago 1989, S . 139–167; Dies ., Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, Stanford Law  Review 1991, S . 1241–1299 . Susanne Baer, Ungleichheit der Gleichheiten? Zur Hierarchisierung von Diskriminierungsverboten, in: Eckart Klein/Christoph Menke, Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, Berlin 2008, S . 421–450, S . 439 . So etwa indem das Personenstandsrecht die Zweigeschlechtlichkeit vorschreibt .

Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘

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Strukturen, Diskursen und Identifikationen auf Diskriminierung bzw . Ungleichheit  zementierende, unheilvolle Art und Weise zusammen .40 „Kategorien“ als Praxiskategorie sind also keine biologisch-genetische Gegebenheit  oder  kulturell  fixierte  Einheit,  sondern  wirkmächtiges  Resultat  geschichtlich  sozialer  Konstruktion,  die  Personen  als  das  „Andere“  rassifiziert  und  anderweitig  sozial klassifiziert . Menschen werden anhand von Bedeutungsträgerinnen, d . h . bestimmten  kulturellen,  körperlichen,  geistigen,  sozialen  Merkmalen  oder  anderen  persönlichen Eigenschaften als differenten, hierarchisierten Gruppen zugehörig festgeschrieben . Formuliert man den Ansatz in Anlehnung an Judith Butler kann gesagt  werden, dass jede biologische und kulturelle Differenz stets ein Effekt sozialer Konstruktion darstellt . Ein gehörloser Mensch ist nicht einfach nicht hörend und damit anders, vielmehr manifestiert  sich die Behinderung in den behinderten Strukturen, die nicht auf gehörlose Menschen ausgerichtet  sind .  Auch  zeigt  sich  das  Historische  an  einer  Behinderung  bei  sehbehinderten  Menschen, die vor Erfindung der Brille in ihrem Blick behindert waren, seither jedoch „problemlos“  sehen  können;  so  ist  es  denn  auch  kein  Zufall,  dass  Brillenträger_innen  sich  selbst  kaum  als  behindert bezeichnen . Schliesslich lässt sich hier auch das Beispiel der Erfindung des Flugzeuges  anbringen,  das  den  Grad  der  Mobilitätsbehinderung  aller  Menschen  für  einen  beachtlichen  Anteil  der  Menschheit  –  diejenigen,  die  sich  das  Fliegen  leisten  können  –  massgeblich  reduzierte .

2.3 postkateGoriale ‚GleicHHeit und diFFerenz‘ An diese Kritik der Gleichheits-/Differenz-Ansätze schliesst das Konzept der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ an . Postkategorial meint die Markierung von Prozessen,  die  Differenz  konstruieren  und  zugleich  existierende  konstruierte  Differenz ignorieren .  Daher  kann  postkategoriales  Recht  auch  nicht  gänzlich  auf  Differenz  implizierende  Analysekategorien  verzichten .  Hingegen  vermeidet  ‚Gleichheit  und  Differenz‘ im postkategorialen Sinne – so gut es eben geht – sowohl die Schwächen  des Gleichheits- als auch diejenigen des Differenzkonzeptes . Eine postkategorial gedachte ‚Gleichheit und Differenz‘ anerkennt den Menschen im differenten individuellen „Da- und Sosein“ als gleichwertig different, und allesamt unter gleichzeitiger Berücksichtigung der historischen spezifischen Differenz der tatsächlichen kulturellen und natürlichen – aber ebenso konstruierten – Differenzen . Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘ unterläuft ebenso wie das sprachphilosophische Konzept der différance et Iteration von Jacques Derrida41 und das Konzept der Performativität von John L. Austin und Judith Butler42 die Stillegung und Vereindeutigung  von  Differenz .  Dieser  „neue“  Blick  ist  naiv  und  kritisch  hinterfragend40  Winker/Degele (Fn . 4), S . 68 ff . 41  Jacques Derrida, „Die différance“, in: Ders ., Die différance: Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004,  S . 110–149,  S . 139;  Ders .,  Positionen:  Gespräche  mit  Henri  Ronse,  Julia  Kristeva,  Jean-Louis  Houdebine, Guy Scarpettea, in: Peter Engelmann, Positionen: Gespräche mit Henri Ronse, Julia  Kristeva,  Jean-Louis  Houdebine,  Wien  1986;  zusammenfassend  siehe  Franziska  Rauchut,  Wie  queer  ist  Queer?:  Sprachphilosophie  Reflexionen  zur  deutschsprachigen  akademischen  „Queer“-Debatte, Königstein im Taunus 2008, S . 33–37 . 42  John L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962, S . 38; Judith Butler, Körper von  Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S . 309 .

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differenziert  zugleich .  Naiv  im  Sinne  von  einer  Stillegung  von  Differenz  unter  gleichzeitiger Offenheit gegenüber (potentiellen) tatsächlichen – bzw . konstruierten  – Differenzen, ohne diese zu bewerten . Ein postkategoriales Verständnis von Gleichheit und Differenz verabschiedet ex ante ein Denken in Differenzkategorien ex post,  berücksichtig jedoch zugleich den sozial realen Prozess der Kategorisierung von Differenzen . Beispielsweise unterscheidet sich der aus einem postkategorialen Blickwinkel betrachtete Mensch  mit  Behinderung  nicht  vom  Menschen  ohne  Behinderung  (Stillegung  von  Differenz) .  Doch  zugleich  weiss  das  postkategoriale  Auge,  dass  ein  Mensch  mit  Behinderung  möglicherweise  nicht in derselben Situation ist wie ein Mensch ohne Behinderung (Offenheit gegenüber Differenz) . Dies wiederum bedeutet aber nicht, dass der postkategoriale Betrachter diese Differenzen  insofern bewertet, als er sie zum Massstab seines Handelns definiert (Nichtbewertung der Differenz) . Zum Massstab des Handelns werden sie erst dann, wenn sie glaubhaft – d . h . sozialwissenschaftlich plausibel – Diskriminierung beseitigen .

Nun, möglicherweise scheint das Konzept der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘  auf  den  ersten  Blick  weder  neu  noch  besonders  hilfreich  zu  sein .  Begreift  man das Konzept jedoch als einen fiktiven und zugleich realen kritischen Reflexionsraum,  der  die  subjektive  Beurteilung  von  Ungleichheitssachverhalten  –  etwa  durch eine Richterin – ex ante – d . h . im Zeitpunkt der Beurteilung – rückblickend  – also im Zeitpunkt der eingetretenen Ergebnisse des Urteils – einer nochmaligen  Betrachtung unterzieht . Und geht man dabei davon aus, dass nicht die Kategorie für  die Beurteilung relevant sein darf, sondern die reale Hierarchisierung . Dann erlebt  man den Ansatz möglicherweise als hilfreichen Resonanzraum der kritischen Hinterfragung der eigenen antidiskriminierungsrechtlichen aber dennoch dominanten  Perspektive: Postkategoriales Recht denkt ex ante vom Ergebnis (ex post) aus, indem es von der formalen Gleichheit ausgeht, materielle Gleichheit anstrebt und zugleich den Prozess dazwischen angemessen markiert . In den Worten von Susanne Baer43 fragt der postkategoriale Blick nicht nach Opferkategorien, die es zu unterstützen gilt, sondern danach, wo, bei wem und wie es ansetzen soll, damit es auch wirkt, ohne zu Differenzen zu fantasieren und zugleich konstruierte – aber deshalb nicht weniger reale – Differenzen und Kategorisierungen zu ignorieren. Es kritisiert die  eigenen weissen Flecken, verhindert Gruppismus44 und Dominanzverhalten . Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘ führt daher konsequent zu einer Politik der  Ermächtigung, der Gestaltung von Entscheidungen und der Gestaltung von Verhältnissen .45 Es denkt alles gemeinsam mit und gestaltet Gemeinsames daraus . Individuelle Fähigkeiten werden gefördert, soziale Einschränkungen attackiert .

43  Baer (Fn . 6) . 44  Der  in  der  sozialwissenschaftlichen  Literatur  häufig  anzutreffende  „Gruppismus“  (groupism)  bezeichnet nach Rogers Brubaker „die Tendenz, abgegrenzte Gruppen als fundamentale Analyseeinheiten (und grundlegende Konstituenten der gesellschaftlichen Welt) zu benutzen“ (Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen [Originalausgabe: „Ethnicity without Groups“], in: Ders .,  Ethniziät ohne Gruppen, Hamburg 2007 [Originalausgabe: Cambridge, Mass ./London 2004],  S . 11 und insb . S . 16–45) . Zu den problematischen Auswirkungen des „Gruppismus“ im Antidiskriminierungsrecht siehe Baer (Fn . 6) . 45  Zum Konzept siehe Baer (Fn . 6) .

Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘

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3  praxIs: BeIspIele  essentIalIstIscher fehlschlüsse Die folgenden Beispiele veranschaulichen: Das geltende Antidiskriminierungsrecht  verfügt  noch  über  problematische  Essentialismen .  Zwar  verpflichten  Völker-  und  Verfassungsrecht  (Menschenrechte  und  Grundrechte)  die  Staatsgewalt  zu  einem  postkategorialen Blick auf Gleichheit und Differenz . Dies verhindert jedoch de facto  nicht, dass sowohl in Rechtserlassen als auch in Gerichtsurteilen harte und weiche  Essentialismen fortgeschrieben werden . 3.1 GrundprobleM: praxis-kateGorien in recHtserlassen Essentialismen  in  Rechtserlassen  zeigen  sich  –  wenn  auch  mit  graduellen  Unterschieden – in zweierlei typischer Ausführung: Einerseits gibt es den diskriminierenden Rechtserlass  (harter  gesetzgeberischer  Essentialismus) .46  Andererseits  –  und  dies  ist  hier von Interesse – manifestiert sich der gesetzgeberische Essentialismus auch auf  weiche Art und Weise, konkret durch die Benennung der Diskriminierungskategorie ohne oder nur mit mangelhafter Markierung des Prozesses und des Status der Kategorisierung .  Weich ist er deshalb, weil er keine offene Diskriminierung darstellt, sondern – im  Gegenteil – diskriminierungsschutzrechtlich intendiert ist . Essentialistisch ist er, weil  durch die begrifflich-kategoriale Reproduktion ein in den jeweiligen Kategorien –  fälschlicherweise – natürlich Wesenhaftes und dadurch die gesellschaftlichen Stigmatisierungen, „Ismen“ und Ausgrenzung in der Rechtswirklichkeit weitergeschrieben werden . Zu den bedeutenden weichen gesetzgeberischen Essentialismen des schweizerischen  Rechts  etwa  gehören  die  verfassungsrechtlichen  Diskriminierungsverbote  (Art . 8 Abs . 2 BV47), das strafrechtliche Verbot der Rassendiskriminierung (Art . 261bis  StGB, 171c MStG) und (weniger problematisch) das gleichstellungsrechtliche Diskriminierungsverbot im Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann  (Art . 3 GlG48) . So darf gemäss Art . 8 Abs . 2 BV niemand diskriminiert werden, „namentlich nicht wegen der  Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen,  geistigen  oder  psychischen  Behinderung“ .  Weiter  stellen  Art . 261bis  StGB49  bzw .  171c  MStG50 verschiedene Handlungen „wegen der Rasse, der Ethnie und der Religion“ unter Strafe .  Schliesslich dürfen gemäss Art . 3 Abs . 1 GlG Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht wegen ihres Geschlechts direkt oder indirekt benachteiligt werden .

46  Z . B . sind Personen, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben, weder zur Adoption noch zu  fortpflanzungsmedizinischen Verfahren zugelassen . Die Schweizer Landesregierung begründet  dies im Wesentlichen damit „dass jedes Kind einen Vater und eine Mutter hat, die für die Entwicklung des Kindes ihre spezifische Bedeutung haben“ (BBl 02 .090 1320) . Gleichgeschlechtliche Eltern sind also gemäss Gesetzgeber dem Wohle des Kindes widernatürlich . 47  SR 101 . 48  SR 151 .1 . 49  SR 311 .0 . 50  SR 321 .0 .

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Die  Benennung  der  Kategorien  in  Rechtserlassen  gibt  in  der  rechtswissenschaftlichen Literatur und Praxis noch kaum zu denken . Im Gegenteil: sie ist gewünscht,  denn mit der Explizierung von Kategorien werde ja gerade bezweckt, die Stigmatisierung  zu  bekämpfen  bzw .  überhaupt  ein  Einfallstor  für  das  spezifisch  strenge  Gleichheitsgebot zu haben, so der Tenor .51 Aus der Perspektive des Diskriminierungsschutzes ist diese Auffassung zu überdenken,  um  so  mehr  als  man  bis  anhin  auch  keinen  Bedarf  rechtssoziologischer  empirischer  Daten  formuliert  hat,  die  aufzeigen,  dass  die  Benennung  für  die  Bekämpfung von Diskriminierung tatsächlich auch notwendig ist . Demgegenüber lässt  sich die Diskriminierung zementierende Wirkmächtigkeit dieser rechtswissenschaftlichen Konvention durchaus anhand von Beispielen illustrieren . Besonders deutlich  wird dies an einem Entscheid der Staatsanwaltschaft Solothurn, die zu beurteilen  hatte, ob ein Diskobetreiber, der zwei jungen Männern aus dem Kosovo mit den  Worten  „Im  Moment  werden  keine  Personen  aus  dem  Balkan  reingelassen“  den  Einlass in den Club verwehrte, eine Diskriminierung begangen hatte . Sie verneinte  dies – und dieser Schluss ist das Groteske – im Grunde trotz „präziser“ Analyse: „Offensichtlich  können  die  Balkanvölker  nicht  einer  Religionsgemeinschaft  oder  einer  rassischen Gruppe zugeordnet werden, sodann fallen sie auch nicht unter den Begriff der Ethnie .  Ethnische Gruppen definierten sich über gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames System von  Einstellungen und Verhaltensnormen (Sprache, Tradition, Brauchtum) . Gerade diese Voraussetzungen seien bei den Balkanvölkern offenkundig nicht erfüllt .“

Eine solche Fehlentscheidung lässt sich nicht einfach mit dem Argument bagatellisieren, dass Fehlentscheidungen letztlich ein Faktum der Jurisprudenz sind . Zwar ist  dem so, doch gerade im Antidiskriminierungsrecht sind solch fehlerhafte Beurteilungen besonders problematisch und müssten aus der Perspektive der Pflicht eines  wirksamen  Schutzes  heraus  besondere  Beachtung  finden  –  so  wäre  insbesondere  nach den dem Diskriminierungsschutz immanenten homogenisierenden Ursachen  zu forschen . Und diese sind vorhanden! So zeigt sich auch weiter hinten, dass Urteile letztlich auf unterschiedliche Art und Weisen Stigmata zementieren können .  Denn Fakt ist,52 dass in der herrschenden Auffassung innerhalb der Gesellschaft die  Kategorien Rasse, Geschlecht, Alter, soziale Stellung, Ethnie, Religion etc . mit zahlreichen Stereotypen und Vorurteilen behaftet sind, deren potentielle Wirkmächtigkeit auch auf die Jurisprudenz (gerade deswegen!) in den Rechtswissenschaften nicht  einfach ignoriert werden darf . Zwar zeigt sich in der allgemein gültigen Formel des Bundesgerichts zum Diskriminierungsbegriff ein durchaus differenzierter Umgang mit der Problematik der Kategorisierung . Doch stellt sich das Problem der Essentialisierung grundsätzlich und  immer wieder neu . So stehen nach Doris Liebscher Gerichte beispielsweise „vor der  Herausforderung, ‚Rasse‘ als soziale Konstruktion sichtbar zu machen, um rassistischen  Kategorisierungen  und  Hierarchisierungen  die  Legitimationsgrundlage  zu  entnehmen“ . Dadurch bestehe aber die Gefahr, dass tradierte rassistische Wissensbestände im Rechtsdiskurs wirkmächtig bleiben und Recht, das mit der Intention ge-

51  Müller/Schefer (Fn . 13), S . 710 ff . 52  Siehe auch Abschnitt 2 .2 .2 .

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setzt wurde, rassistische Diskriminierung zu verhindern, selbst rassistische Kategorisierungen stabilisiere .53  Die wirkmächtige Einschreibung von Konventionen in Begriffe, wie dies von  John L. Austin und Judith Butler spezifisch herausgearbeitet wurde, lässt sich gerade  auch in deren Umschreibung54 verdeutlichen . Begriffe sind lebendige Wesen, vermitteln Wissen, transportieren dieses in die gesellschaftlichen Strukturen und wirken auf die Selbstidentifikation von Menschen . Gerade bei Diskriminierungen sind  Begriffe daher nicht zu unterschätzen, weil deren Bedeutung letztlich über Ein- oder  Ausschluss  entscheiden .  Die  konkrete  Relevanz  dieser  Umschreibung  für  verfassungsrechtliche und gesetzliche Diskriminierungskategorien lässt sich etwa anhand  einer historischen Betrachtung der Diskriminierungsdimension der „Behinderung“  im schweizerischen Recht darstellen .  So wohnt im Begriff der „körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung“ in Artikel 8  Abs . 2 BV, der im Jahr 2000 in Kraft getreten ist, noch die historische Last der einseitigen Einschreibung der Konvention inne, Behinderung als eine biologische und funktionale Störung zu  betrachten – sie zu naturalisieren . Bereits 2004 erweiterte dann das Behindertengleichstellungsgesetz den Behindertenbegriff um die soziale Komponente, indem es einen Mensch mit Behinderung als eine Person definiert, „der es eine voraussichtlich dauernde körperliche, geistige oder  psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben“ (Art . 2 Abs . 1 BehiG) . Mit einer allfälligen Unterzeichnung und Ratifizierung der UNO-Behindertenkonvention (aus dem Jahr 2006) durch den schweizerischen  Gesetzgeber müsste der Fokus der Behindertengleichstellung gar noch stärker auf den Abbau  beeinträchtigender gesellschaftlicher Strukturen gelegt werden55 (Behinderung als soziale Konstruktion) .

Die beispielhafte gesetzgeberische Entwicklung ist Teil einer subversiven (bzw . interventionistischen) Resignifizierung56 des Begriffes der Behinderung . Sie illustriert –  und  das  meint  historische  Konstruiertheit  von  „Identitätskategorien“  –  die  Umschreibung  einer  Begriffsbedeutung  durch  deren  Destabilisierung  von  begrifflich  eingeschriebenen herrschenden Konventionen . Aktueller Inhalt dieses performativen Aktes ist die Wandlung weg von den Behinderten als konstruierte Problemkategorie, die es zu behandeln gilt (Objekte), hin zu gleichberechtigten Akteuren (Subjekte), die keineswegs eine natürliche Kategorie darstellen, sondern letztlich aus Individuen besteht, die ein Stigma tragen . Auch das folgende Beispiel aus der Gerichtspraxis macht deutlich, dass Diskriminierungs-Opfer-Kategorien  die  schlechtere  Lösung  sind,  um  Diskriminierung  sichtbar zu machen und zu bekämpfen . Sie verlangen nach einer für jede Diskriminierungskategorie spezifische historische Dekonstruktion .

53  Doris Liebscher, „Race does not exist . But it kills people“: Ambivalenzen des Begriffs „Rasse“ im  Deutschen Antidiskriminierungsrecht: Referat im Rahmen der Werkstattgespräche des Law &  Society Institute Berlin, Humboldt-Universität Berlin, 22 . Juni 2010 . 54  Zum Begriff der subversiven Resignifizierung siehe Fn . 8 in Abschnitt 1 . 55  Walter Kälin/Jörg Künzli/Judith Wyttenbach/Annina Schneider/Sabiha Akagündüz,  Mögliche  Konsequenzen einer Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz: Gutachten zuhanden des Generalsekretariats GS-EDI, Bern 2008,  insb . S . 14 . 56  Zum Begriff siehe Fn . 8 in Abschnitt 1 .

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3.2 Fallbeispiel: naturalistiscHe kateGorie ‚beHinderunG‘ (bGe 130 i 352) In einem Urteil aus dem Jahr 2004 hatte das Bundesgericht darüber zu entscheiden,  ob die Einschulung eines Kindes mit Behinderung in die Sonderschule einen Verstoss gegen das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung darstellt . Die  beiden zuständigen Schulräte lehnten es ab, den Knaben in die Einführungsklasse  einer Regelschule einzuschulen . In letzter Instanz hielt das Bundesgericht in seiner  Urteilsbegründung  fest,  dass  das  Diskriminierungsverbot  und  das  Behindertengleichstellungsgesetz  als  allgemein  gehaltene  Bestimmungen  nicht  dazu  führen  könnten, dass der Beschwerdeführer – entgegen seinen Interessen und seinem Wohl  – in die Einführungsklasse eingeschult werde .57 Die Argumentation erscheint auf den ersten Blick vernünftig, erst in einer detaillierten Dekonstruktion der Begründung werden deren problematische Züge ersichtlich . So geht das Bundesgericht meines Erachtens von einem essentialistischen Begriff der Behinderung aus, indem es im Grundsatz die Nichtintegration als Möglichkeit zum Wohle des Kindes zu weit offen lässt . Zwar ist die Bezugnahme auf das  Wohl des Kindes sinnvoll und erscheint auch menschenrechtlich fundiert, ebenso  muss es vor dem Hintergrund des effektiv Möglichen aufgrund der defizitären schulischen Strukturen beurteilt werden . Fehlgeleitet bleibt die Argumentation aber, weil  hier implizit eine essentialistische Trennung zwischen dem Wohl des behinderten  Kindes und dem Wohl des nicht behinderten Kindes vermittelt wird . Postkategorial gedacht wäre es demgegenüber angemessen, die formelhafte Unterscheidung  der  zwei  Kindeswohlkategorien  „behindertes  Kind“  einerseits  und  „nicht behindertes Kind“ andererseits als stereotyp und empirisch widerlegt zu bezeichnen . Eine scheinbare Dichotomie zwischen dem behinderten und dem nicht  behinderten Kind fusst in eine naturalistische Konstruktion . Abnormal ist also nicht  das Kind mit Behinderung, sondern die behindernden Bedingungen an der Schule  bzw . in der Gesellschaft . Eine solche Betrachtung hätte eine Verschiebung in der juristischen Argumentation zur Folge: Konkret würde dies nämlich bedeuten, dass die Nichtintegration eines Kindes mit Behinderung vermutungsweise gegen das (de iure) Wohl dieses Kindes verstösst . Im Anschluss daran wäre dann zu prüfen, ob zur de facto Gewährleistung des Kindeswohl in concreto – aufgrund strukturell benachteiligender Aufstellung der konkreten schulischen Strukturen – ein unverhältnismässiger Aufwand betrieben werden müsste bzw . Drittinteressen auf unverhältnismässige Art und Weise  beeinträchtigt sind und damit eine Ungleichbehandlung – nota bene: zulasten des  Wohles des Kindes – ausnahmsweise als gerechtfertigt erscheint – zumindest nach  geltendem Recht . Eine derartige Argumentation ist keineswegs nur theoretisch, dies auch wenn sie  möglicherweise zum selben Ergebnis führt . So wird dadurch Behinderung/Nichtbehinderung nicht mehr stereotyp als Dichotomie normal/abnormal gedacht, sondern  vielmehr wird der inklusive Charakter der Gesellschaft betont, nämlich dass auf der  Basis des faktischen individuellen Da- und Soseins die Gesellschaft gemeinsam gestaltet wird . Dies führt langfristig zu einem Umdenken im Recht gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderung bzw . dadurch – und umgekehrt – zu einer  57  Siehe insb . Erw . 6 .1 .2 .

Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘

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Umgestaltung in den gesellschaftlichen Diskursen, Strukturen und Identifizierungsprozessen . 4  fazIt  und ausBlIck  In thesen Das geltende Antidiskriminierungsrecht markiert Kategorien, in der Hoffnung, dadurch essentialistische Diskriminierung wirksam zu bekämpfen . Nun kann aber aufgrund der vorliegenden skizzenhaften theoretischen und angetippten empirischen  Untersuchung glaubwürdig die These vertreten werden, dass Kategorien im Antidiskriminierungsrecht  auf  problematische  Weise  wirkmächtig  sind .  Sie  zementieren  diskriminierende Wissensbestände in den geltenden Strukturen und Identifikationsmustern  durch  sprachliche  Repräsentation  eben  solcher  in  die  Kategorien  eingeschriebene naturalistische und kulturalistische Stereotypen . Dies gilt auch – und das  ist besonders bedenkenswert – für den Diskurs des positiven Antidiskriminierungsrechts, der vorwiegend aus der Perspektive der weissen, heteronormativen, männlichen, nichtbehinderten, alterslosen, christlich geprägten, sesshaften etc. Dominanz  geführt  wird .  Plakativ als Problem-These formuliert: Die geltende Antidiskriminierungspraxis reproduziert die Essentialismen, die sie zu beseitigen sucht . Weil dem so ist, bedarf es dringend eines bewussten Umgangs mit den Essentialisierungs-Fallen . Und dies wird mit dem sprachpolitischen Ansatz der postkategorialen  ‚Gleichheit  und  Differenz‘  vorgeschlagen .  Er  weist  drei  Stossrichtungen  auf:  Erstes  bezweckt  er  eine  Grundsatzkritik  an  der  defizitären  Wirkung,  Wirksamkeit  und  Gerechtigkeit  des  geltenden  positiven  Antidiskriminierungsrechts .  Zweitens  dient der Ansatz als Instrument der Rechtsetzung und Rechtsanwendung, mit Differenz- und Gleichheitskategorien kritischer, d . h . gesellschaftlich tiefgründiger umzugehen,  Essentialismen  zu  erkennen,  zu  benennen  und  nicht  zu  reproduzieren .  Drittens ist er ein sprachpolitisches Transformations-Projekt mit dem Ziel, stigmatisierende Konventionen in den Kategorien historisch umzudeuten (z . B . Rassismus  statt Rassen) . Somit lässt sich aus problemanalytischer Perspektive das Fazit formulieren: Antidiskriminierungsrecht ist ohne essentialistische Kategorien zu denken! Rechtspolitisch konkret führt diese Schlussfolgerung zwar zweifellos in ein ambitioniertes Unterfangen, wie auch Doris Liebscher festhält,58 die in Bezug auf das Merkmal „Rasse“  im  deutschen  Allgemeinen  Gleichbehandlungsgesetz  (AGG)  und  in  Art . 3  Abs . 2  Grundgesetz die Ersetzung durch die Termini „rassistisch“, „rassistische Diskriminierung“ oder „aus rassistischen Gründen“ diskutiert . Rechtspraktisch operationalisierbar gedacht, schlage ich daher mit Einführung  der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ ein Essentialisierungsverbot und ein  Verbot des Essentialisierungsrisikos vor . Die zwei Verbote nehmen sowohl den Gesetzgeber als auch den Rechtsanwender in die Pflicht . Konkret heisst dies: Der Gesetzgeber  unterlässt  es,  Diskriminierungsdimensionen  wie  Alter,  Behinderung,  Rasse,  Geschlecht,  sexuelle  Identität,  Lebensform,  soziale  Stellung  etc .  unreflektiert  in  58  Doris Liebscher, Neue Horizonte: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz und europäische Antidiskriminierungsrichtlinien“,  in:  Lena Foljanty/Ulrike Lembke  (Hrsg .),  Feministische  Rechtswissenschaft: Ein Studienbuch, 2 . Aufl ., Nomos 2011 .

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Rechtstexten zu verankern . Statt dessen markiert er Kategorien als Stigmatisierungs-  und  Hierarchisierungsprozesse .  Dies  realisiert  der  Gesetzgeber  primär,  indem  er  nicht von „Diskriminierung wegen (…)“, sondern von stigmatisierender oder sozialer  Diskriminierung  wie  etwa  „rassistischer,  sexistischer,  klassistischer,  abilistischer  oder ageistischer Diskriminierung“ spricht . Wo eine Benennung des Stigmatisierungs- bzw . Hierarchisierungsprozesses über  eine Begrifflichkeit praktisch nicht eindeutig möglich ist – bzw . sie in der gegenwärtigen  historischen  Realität  allenfalls  falsch  oder  missverstanden  werden  –,  nimmt  der Gesetzgeber eine Definition des Diskriminierungsprozesses vor, wie sie etwa im  Zusammenhang mit der Diskriminierungsdimension „Behinderung“ in der UNOBehindertenkonvention  vorgenommen  wurde .  Auf  dieser  Grundlage  kann  etwa  Art . 8 Abs . 2 BV folgendermaßen umformuliert werden: Aktuelle Version: Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft,  der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der  religiösen,  weltanschaulichen  oder  politischen  Überzeugung  oder  wegen  einer  körperlichen,  geistigen oder psychischen Behinderung . Vorschlag: Jede soziale Diskriminierung ist untersagt . Dazu gehören etwa rassistische Diskriminierung,  sexistische  Diskriminierung,  heteronormative  Diskriminierung,  ageistische  Diskriminierung, klassistische Diskriminierung oder abilistische Diskriminierung . Vorschlag für eine ergänzende Definition am Beispiel der abilistischen Diskriminierung: Eine  abilistische Diskriminierung bezeichnet jede Benachteiligung einer Person, verursacht durch das  Zusammenspiel von Umweltbarrieren und Eigenschaften der Person, welche die Überwindung  der Barrieren nachhaltig erschweren oder unmöglich machen .

Eine solche Lösung erlaubt eine flexible Ausrichtung der Antidiskriminierungsrechtspraxis auf gesellschaftliche Prozesse und auf komplexe Diskriminierungskonstellationen  (z . B .  mehrdimensionale  Diskriminierungen) .  Beispielsweise,  so  Liebscher,  könnten Frauen einer bestimmten Generation, die in der DDR aufgewachsen sind  und  Diskriminierungen  auf  dem  Arbeitsmarkt  ausgesetzt  sind,  das  Recht  nutzen,  ohne sich als „Ossi-Ethnie“ konstruieren zu müssen . Oder Menschen, die an Bahnhöfen  in  Gruppen  Alkohol  konsumieren,  könnten  sich  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit erfolgreich vor Gericht vor diskriminierenden Rayonverboten – die  massgeblich  Ergebnis  und  Teil  komplexer  gesellschaftlicher  Stigmatisierungsprozesse sind – schützen, ohne sich als Personen gemeinsamer Lebensform – mit tatsächlich nicht vorhandenen, die Kategorie „Lebensform“ determinierenden Merkmalen – konstruieren bzw . „beweisen“ zu müssen .59

59  Vgl . hierzu BGE 132 I 49 .

till ziMMerMann dIe rollentauschproBe  Im strafrecht Der Aufsatz behandelt die Frage, wie das ethische Gedankenexperiment eines fiktiven Rollentauschs  durchgeführt werden muss und welchen Nutzen die Strafrechtswissenschaft hieraus zu ziehen vermag . Anhand eines vertragstheoretischen Begründungsmodells wird zunächst gezeigt, dass das SichHineinversetzen in die Interessenlage eines anderen die zentrale Überlegung bei der Erzeugung universalisierbarer  (strafrechtlicher)  Normen  bildet .  Am  Beispiel  des  „klassischen“  Rollentauschproblems der Erfahrbarkeitsbedingung beim Tötungsdelikt wird sodann die These begründet, dass es bei  der Rollentauschprobe auf die Zukunftsperspektive einer 1 . Person Singular ankommt . Die entscheidenden  Fragen  bei  der  rechtlichen  Auflösung  von  Interessenkonflikten  lauten  demnach  „Könnte  auch Ich eines Tages in eine solche Position geraten?“ und, falls ja, „Was wünschte Ich mir, von meinem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet, wenn Ich tatsächlich in diese Lage geriete?“ . Mithilfe  dieser Überlegung werden schließlich Fundamentalprobleme des Strafrechts – der Zweck des Strafens  sowie die Grenzen des Schutzes menschlichen Lebens – neu auszuleuchten versucht .

1  eInleItunG 1.1 „das straFrecHt Muss seine traGenden Grundsätze auF das FundaMent der etHik stellen“1 Der  Strafrechtswissenschaftler  muss  sich  mit  der  ethischen  Richtigkeit  des  Rechts  befassen . Dies möglicherweise bereits deshalb, weil er der Auffassung anhängt, dass  extrem ungerechte  Regeln  ihren Charakter  als Rechtsnormen  verlieren  und  daher  nicht angewendet werden dürfen .2 Doch auch als Anhänger einer rechtspositivistischen Gegenauffassung stellt sich ihm bei der Gesetzesanwendung die Frage nach  der gerechtesten Auslegungsmöglichkeit .3 In jeden Fall aber muss er Farbe bekennen, wenn er im politischen Diskurs über das Recht der Zukunft als Experte zum  „richtigen Recht“ Stellung beziehen soll .4 Ohne irgendeine Gerechtigkeitstheorie in  der Hinterhand geht es also nicht . 1.2 die rollentauscHprobe in raWls’ kontraktualisMus Welcher Gerechtigkeitstheorie der Strafrechtler sich bedient, ist offen . Als Gewährsmänner trifft man in Deutschland am häufigsten auf Immanuel Kant5 und Georg  1  2  3  4  5 

Reinhard Merkel, Zaungäste?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M., Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt a . M . 1995, S . 171–196, S . 174 . Gustav Radbruch,  Gesetzliches  Unrecht  und  übergesetzliches  Recht,  SJZ  1946,  S . 105–108,  S . 107;  Karl  Larenz,  Richtiges  Recht:  Grundzüge  einer  Rechtsethik,  München  1978,  S . 20 f .;  BGH NJW 1995, S . 2728–2732, S . 2730 f . Herbert L.A.  Hart,  Positivism  and  the  Separation  of  Law  and  Morals,  Harvard  Law  Review  1957/58, S . 593–629, S . 608; Norbert Hoerster, Was ist Recht?, München 2006, S . 128 . Vgl . Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 2 . Aufl ., Berlin 1992, S . 177 f . Kristian Kühl, Strafrecht und Moral in Bewegung, in: Hans-Ullrich Paeffgen et al., Strafrechtswissenschaft als Analyse und Rekonstruktion: Festschrift für Ingeborg Puppe, Berlin 2010, S . 653– 667; Joachim Hruschka, Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts, in: Hans Kudlich/Franz

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Wilhelm  Friedrich  Hegel6 .  Zunehmender  Popularität  erfreut  sich  jedoch  auch  die  Gerechtigkeitstheorie von John Rawls .7 Diesem zufolge sind die Grundstrukturen  einer Gesellschaftsordnung dann gerecht, wenn sie sich analytisch als Grundsätze  rekonstruieren lassen, auf die sich rationale bzw . vernünftige Personen unter fairen  Verhandlungsbedingungen einigen würden .8 Zentraler Baustein in Rawls’ vertragstheoretischer  Gerechtigkeitstheorie  ist  ein  innovatives  Instrument  zur  Erzeugung  jener fairen Verhandlungsbedingungen, die als Garant für die Erzeugung universalisierbarer Normen unverzichtbar sind – der „Schleier des Nichtwissens“ .9 Dieser bewirkt, dass keine der Verhandlungsparteien über ihre zukünftige Stellung in der Gesellschaft Kenntnis hat, sodass die Entscheidungen über das gesellschaftsvertragliche  Regelwerk  unter  Ungewissheit  getroffen  werden  müssen .  Mit  diesem  Kunstgriff  zwingt Rawls die Kontrahenten zur Teilnahme an einem fiktiven doppelten Rollentausch; zur Lösung potentieller Interessenskonflikte muss jede Seite des Konflikts  sozusagen  probehalber  eingenommen,  gedanklich  durchgespielt  und  sodann  mit  der eigenen Interessenlage abgeglichen werden . Weil die Parteien nicht wissen, ob sie schwach oder stark sein werden, vereinbaren sie ein allgemeines Tötungsverbot (denn die Aussicht, als Schwacher getötet zu  werden, ist bedrohlicher als die Beschränkung, als Starker auf das gelegentliche Töten anderer verzichten zu müssen) .10 Und weil die Parteien nicht wissen, ob sie arm  oder reich sein werden, verabreden sie ein Diebstahlsverbot,11 verbunden mit konzedierenden Regelungen über ein staatlich garantiertes Existenzminimum (denn die  Aussicht, als Besitzender tagtäglich Hab und Gut verteidigen zu müssen, ist jedenfalls dann unangenehmer als die Aussicht, als Habenichts auf den Zugriff fremden  Eigentums verzichten zu müssen, sofern zumindest das nackte Überleben in jedem  Fall gewährleistet wird) .12 Und so weiter .13 Jeder einzelne Vertragspartner muss also 

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Streng, Strafrechtspraxis und Reform: Festschrift für Heinz Stöckel, Berlin 2010, S . 77–92; Katrin  Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, Berlin 2005 . Siehe auch Fn . 35 . Wilfried Küper, Von Kant zu Hegel: Das Legitimationsproblem des rechtfertigenden Notstandes  und  die  freiheitsphilosophischen  Notrechtslehren,  JZ  2005,  S . 105–115;  Michael  Pawlik,  Der  rechtfertigende Notstand, Berlin u . a . 2001; Wolfgang Schild, „Das Recht erhält die Bestimmung,  ein erweisbares sein zu müssen .“ Zu Hegels Theorie der Strafrechtsinstitution, in: Paeffgen et al.  (Fn . 5), S . 77–90 . Siehe etwa Henning Radtke, Überlegungen zum Verhältnis vom „zivilen Ungehorsam“ zur „Gewissenstat“, GA 2000, S . 19–39; Tatjana Hörnle, Menschenwürde und Lebensschutz, ARSP 2003  (89),  S . 318–338,  S . 323 ff .;  Sven Thomas,  Das  allgemeine  Schädigungsverbot  des  § 266  Abs . 1  StGB, in: Regina Michalke et al., Festschrift für Rainer Hamm, Berlin 2008, S . 767–782, S . 772 ff . John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1979; ders., Gerechtigkeit als Fairness:  Ein Neuentwurf, Frankfurt a . M . 2006 . Dazu Christian Schmid, Der Schleier des Nichtwissens, in: Carsten Bäcker/Stefan Baufeld, Objektivität und Flexibilität im Recht, ARSP-Beiheft 2005 (103), S . 51–59 . Rawls (Fn . 8), TdG, S . 82 spricht lediglich von der „Unverletzlichkeit der Person“ . Eine detaillierte  kontraktualistische  Lebensrechtsbegründung  findet  sich  bei  Norbert Hoerster,  Ethik  und  Interesse, Stuttgart 2003, S . 163–167 . Krit . dazu Vuko Andrić, Eine Kritik an Norbert Hoersters  Theorie der Normenvertretung, ZphF 2010 (64), S . 62–83, S . 69 ff . Dazu etwa Hoerster (Fn . 3), S . 98 f . Rawls (Fn . 8), TdG, S . 309 f . Siehe auch Norbert Hoerster, Rechtsethik ohne Metaphysik, JZ 1982,  S . 265–272, S . 271 . Freilich wird hier nicht übersehen, dass Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als Anleitung für die Schaffung  gesellschaftlicher  Institutionen  konzipiert  ist;  ob  sie  darüber  hinaus  im  Sinne  einer  all-

Die Rollentauschprobe im Strafrecht

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vor seiner Unterschrift Sonderinteressen schleifen und einen Interessenkompromiss  mit sich selber aushandeln (intrapersonale Interessenabwägung) .14 Freilich ist hierbei  infolge  möglicher  Selbstbetroffenheit  die  Vereinbarung  von  solchen  Normen  ausgeschlossen, die eine individuelle Unzumutbarkeit für den Betroffenen zur Folge  hätten .15 1.3 die rollentauscHprobe in anderen etHikModellen Selbstverständlich  ist  das  Rollentauschverfahren  keine  exklusiv  rawlsianische  Domäne . Nahezu alle Ethikmodelle die mit menschlichen Bedürfnissen und Interessen  argumentieren, laufen auf vergleichbare Gedankenexperimente hinaus – bspw . die  skeptizistische Universalisierungstheorie Mackies,16 die hypothetisch kontraktualistischen  Interessentheorien,17  der  Präferenzutilitarismus,18  eine  diskurstheoretische  Herangehensweise19 oder die Anwendung der Goldenen Regel .20 Die nachfolgenden Ausführungen behandeln daher modellübergreifend relevante Fragestellungen .  Dass  hier  gleichwohl  anhand  eines  neo-kontraktualistischen  Grundmodells  à  la  Rawls  zu  veranschaulichen  versucht  wird,  hat  vor  allem  zwei  Gründe .  Erstens  ist  gerade das Vertragsmodell bei den Strafrechtlern auf besonders fruchtbaren Boden  gefallen;  vermutlich  hängt  dies  damit  zusammen,  dass  einerseits  die  Vertragsfigur 

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gemeinen  Moralphilosophie  auch  zur  Lösung  (rechts-)ethischer  Detailfragen  tauglich  ist,  hat  Rawls ausdrücklich offen gelassen hat (in Justice as Fairness: Political not Metaphysical, Philosophy & Public Affairs 1985 [14], S . 223–252, S . 225) . Die strafrechtliche Rezeption bejaht diese  Frage indes stillschweigend . Zum  Kompromiss-Charakter  der  auf  rationalem  Eigeninteresse  basierenden  Normen  siehe  Hoerster (Fn . 10), S . 179; John Mackie, Ethik: Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen,  Stuttgart  1983,  S . 118;  Peter  Stemmer,  Moralischer  Kontraktualismus,  ZphF  2002  (56),  S . 1–21, S . 3; Richard M. Hare, Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz,  Frankfurt a . M . 1992, S . 169 f . Vgl . Rawls (Fn . 8), TdG, S . 202 . Dies verkennend Günther Jakobs, Kaschierte Ausnahme, in: Knut  Amelung/Hans-Ludwig Günther/Hans-Heiner Kühne, Festschrift für Volker Krey, Stuttgart 2010,  S . 207–220, S . 216 Fn . 26; Mackie (Fn . 14), S . 120 f . Mackie (Fn . 14) spricht bzgl . seines Modells von einem Rollentausch (S . 114) und betont, dass  „[d]ie  Grundidee  von  John  Rawls’  Theorie  der  ‚Gerechtigkeit  als  Fairness‘  [nur]  eine  andere  Weise dar[stellt], zu etwa demselben Ergebnis zu gelangen“ . Etwa Norbert Hoerster, Moralbegründung ohne Metaphysik, Erkenntnis 1983 (19), S . 225–238;  ders .  (Fn . 3),  S . 162 ff .;  Peter Stemmer,  Handeln  zugunsten  anderer,  Berlin/New  York  2000,  S . 80 ff .; ders . (Fn . 14), S . 1 ff . Siehe auch Armin Engländer, Rechtsbegründung durch aufgeklärtes  Eigeninteresse, JuS 2002, S . 535–540 . Deutlich Hare (Fn . 14), S . 145: „Es ist erforderlich, dass wir uns vergewissern, dass wir die universelle Anwendung [einer] Vorschrift akzeptieren können . Und dies schließt ein, dass wir sie auch  dann anwenden würden, wenn wir in der Lage des anderen wären .“ Hierzu etwa Jan-R. Sieckmann, Abwägung von Rechten, ARSP 1995 (81), S . 164–184, S . 181 mit  Fn . 74 . Vgl . Hans Reiner, Die „Goldene Regel“, ZphF 1948 (3), S . 74–105, S . 83 („Ausgehend von den  eigenen Gefühlen oder Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen […] sollen wir  uns in den anderen ‚einfühlen‘, d . h . uns an seine Stelle versetzen .“) . Siehe auch Günter Spendel,  Die Goldene Regel als Rechtsprinzip, in: Josef Esser/Hans Thieme, Festschrift für Fritz von Hippel, Tübingen 1967, S . 491–516; Neil Duxbury, Golden Rule Reasoning, Moral Judgment and  Law, Notre Dame Law Review 2009 (84), S . 1529–1605 .

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den Juristen besonders vertraut ist, und dass andererseits der Schleier des Nichtwissens bzw . der Vertrag über ein gesellschaftliches Regelwerk keine allzu hohen Abstraktionen von dem realen „Schatten der Zukunft“21 bzw . der demokratischen Gesetzgebung darstellen .22 Und zum zweiten sind die für einen Rechtsethiker bedeutsamen  Fragen  der  Praxistauglichkeit  eines  rollentauschbasierenden  Normbegründungsmodells – hiervon wird später noch zu handeln sein – insbesondere auf der  Basis der interessentheoretischen Kontrakttheorie Hoersters23 erforscht worden, sodass dessen Modell sich hier in besonderem Maße zur Exemplifizierung eignet .24 Im  Folgenden  seien  zunächst  einige  strafrechtliche  Anwendungsbeispiele  der  Rollentauschprobe vorgestellt . Sodann werden spezifische Probleme aufgezeigt, die  im  Anschluss  an  die  Auseinandersetzung  mit  kontraktualismuskritischen  Einwänden einen Lösungsvorschlag erfahren . 2  dIe rollentauschproBe  Im strafrecht 2.1 der recHtFertiGende notstand Mithilfe der Rollentauschprobe lässt sich nachweisen, dass und warum es, entgegen  Kant,25 einer Regel über den rechtfertigenden Notstand bedarf – also einer notlagebedingten Ausnahme bestehender Verbote .26 Sollte die Rechtsordnung ausnahmsweise den Diebstahl eines Brotes erlauben, wenn nur so der unverschuldete Hungertod eines Menschen abgewendet werden kann? Die Antwort nach erfolgter Rollentauschprobe fällt bejahend aus . Denn infolge des Hineinversetzens in die Interessenlagen von „Brotbesitzer“ und „Verhungerndem“ ergibt sich folgende Überlegung:  „Lieber esse und damit vernichte ich meinen Sachwert Brotlaib, als dass mich der  Hungertod das Leben kostet .“27 Ergo heiligt hier der Zweck die Mittel, sodass die  Rechtsordnung eine Ausnahmeerlaubnis vorsehen sollte . 21  Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, 6 . Aufl ., München 2005, S . 11 . 22  Dies zeigt sich deutlich an der BVerfG-Entscheidung zum Länderfinanzausgleich (NJW 2000,  S . 1097–1104, S . 1098): „Auch wenn sich nicht ein allgemeiner ‚Schleier des Nichtwissens‘ über  die Entscheidungen der Abgeordneten breiten lässt, kann die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes  eine institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten, die einen Maßstab entwickelt, ohne  dabei  den  konkreten  Anwendungsfall  schon  voraussehen  zu  können .“  Dazu  krit .  Josef Franz  Lindner,  Das  BVerfG,  der  Länderfinanzausgleich  und  der  „Schleier  des  Nichtwissens“,  NJW  2000, S . 3757–3760 . 23  Hoerster  selbst  bezeichnet  sein  Modell  als  vertragstheoretisch  ([Fn . 10],  S . 183 f .);  ihm  ist  der  Vertrag Metapher für die Intersubjektivität eigeninteressebasierender Normen . 24  Zur Kompatibilität des interessentheoretischen Ansatzes mit dem Rawlsschen Urzustands-Gedankenexperiment  siehe  Lothar Fritze,  Die  Tötung  Unschuldiger:  Ein  Dogma  auf  dem  Prüfstand, Berlin/New York 2004, S . 31 ff .; Till Zimmermann, Rettungstötungen, Baden-Baden 2009,  S . 80 . 25  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1990, S . 74 . 26  Rekonstruktionen des rechtfertigenden Notstands als Rechtsinstitut unter Verweis auf Rawls finden sich z . B . bei Merkel (Fn . 1), S . 183 ff .; Frank Meyer, Die Problematik des Nötigungsnotstands  auf der Grundlage eines Solidaritätsprinzips, GA 2004, S . 356–369, S . 366 Fn . 81; ähnlich Armin Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, Tübingen 2008, S . 92–95; krit . Pawlik (Fn . 6),  S . 69 ff . 27  Zimmermann (Fn . 24), S . 55 f .; Hoerster (Fn . 10), S . 207 .

Die Rollentauschprobe im Strafrecht

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Freilich rekonstruiert dieses Gedankenexperiment aus deutscher und schweizerischer Sicht lediglich die seit 1975 bzw . 2007 geltende Gesetzeslage; in diesen Ländern  gewähren  an  Interessenabwägungen  geknüpfte  Vorschriften  ausdrücklich  ein  Not-Recht .28 Anders verhält es sich in Österreich, wo eine solche Regel nicht existiert  und man sich stattdessen mit einem genuin ethisch begründeten übergesetzlichen  Notstand  behilft29  –  im  Gegensatz  wiederum  zum  anglo-amerikanischen  Rechtsraum, wo der rechtfertigende Notstand als eine angeblich subtile Form von Kommunismus teilweise radikal abgelehnt wird .30 2.2 die recHtlicHe beHandlunG der GeFaHrGeMeinscHaFt Auch lässt sich mithilfe des Rollentausch-Gedankenexperiments eine Lösung entwickeln  für  die  Notsituation  eines  vom  Untergang  bedrohten  überfüllten  Rettungsboots .31  In  dieser  Gefahrgemeinschaft  lautet  die  Überlegung  der  Vertragspartner  hinter dem Schleier des Nichtwissens, die sich gedankenexperimentell in das Boot  begeben: Müssen wir alle ohnehin bald sterben, dann wäre es klug, Lose zu ziehen  und wenigstens einige von uns zu retten, indem andere von uns geopfert, sprich:  über  Bord  geworfen  werden .32  Die  solchermaßen  begründete  Erlaubnis  zur  Vornahme einer Rettungstötung lässt sich verallgemeinern33 – und bspw . in einer nach  wie  vor  aktuellen  Debatte  zur  Rechtfertigung  einer  Norm  anführen,  die  den  Abschuss  eines  von  Selbstmord-Terroristen  entführten  Passagierflugzeugs  erlaubt .34  (Während in Deutschland das BVerfG mit seinem kantianisch begründeten obiter  dictum zur in § 14 III Luftsicherheitsgesetz geregelten Abschussbefugnis35 immerhin einen vorläufigen Schlusspunkt gesetzt hat,36 ist die Diskussion um die entspre28  In Deutschland § 34 StGB, in der Schweiz Art . 17 StGB . 29  Dazu  Peter  Lewisch,  in:  Franz  Höpfel/Eckart Ratz,  Wiener  Kommentar  zum  [österreichischen]  Strafgesetzbuch, 2 . Aufl ., Wien 2003, Nachbem . § 3 Rn . 19, 23 . 30  Siehe  z . B .  George  Christie,  The  Defense  of  Necessity  Considered  From  the  Legal  and  Moral  Points of View, Duke Law Review 1999 (48), S . 985–1042, S . 1006 ff . 31  Das historische Vorbild dieses Szenarios ist die Entscheidung U .S . vs . Holmes (1842), Wallace  Junior 1, 26 Fed . Cas ., S . 360–369 . 32  Weyma Lübbe, Lebensnotstand – Ende der Normativität?, in: Thomas Buchheim/Rolf Schönberger/ Walter Schweidler, Die Normativität des Wirklichen: Über die Grenze zwischen Sein und Sollen: Robert Spaemann zum 75 . Geburtstag, Stuttgart 2002, S . 312–333, S . 327 f .; Zimmermann  (Fn . 24), S . 410 ff .; ferner auch Bernhard Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes,  Berlin 2002, S . 11 f . mit Fn . 23 . Zum Losen als Auswahlmethode Klaus Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, Köln u . a . 1989, S . 342 ff . 33  Ausführlich Zimmermann (Fn . 24), S . 375 ff . 34  Für eine Abschusserlaubnis auf rawlsianischer Basis Tatjana Hörnle, Töten, um viele Leben zu  retten: Schwierige Notstandsfälle aus moralphilosophischer und strafrechtlicher Sicht, in: Holm  Putzke et al., Strafrecht zwischen System und Telos: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S . 564–570, S . 555; Stefan Huster, Zählen Zahlen?, Merkur 2004 (58), S . 1047–1050,  S . 1047; Zimmermann (Fn . 24), S . 401 . Mit einem Sozialkontrakt Rousseauscher Provenienz argumentierend Janina Gauder, Das abverlangte Lebensopfer, Baden-Baden 2010, S . 222 ff . 35  BVerfG NJW 2006, S . 751–761, S . 758 . 36  Seither haben sich für die (strafrechtliche) Erlaubtheit des Abschusses de lege lata (!) ausgesprochen OVG Münster NZWehrr 2009, S . 39–41, S . 40 f .; Manuel Ladiges, Die notstandsbedingte  Tötung  von  Unbeteiligten  im  Fall  des  § 14  Abs . 3  LuftSiG,  ZIS  2008,  S . 129–140,  S . 135 ff .;  Klaus Rogall, Ist der Abschuss gekaperter Flugzeuge widerrechtlich?, NStZ 2008, S . 1–5, S . 2 ff .; 

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Till Zimmermann

chende  Regelung  im  schweizerischen  Recht  [Art . 9  III,  14  I  Verordnung  über  die  Wahrung der Lufthoheit] gerade erst im Entstehen begriffen .37) . 2.3 der entscHuldiGende notstand Ferner  ist  auch  der  entschuldigende  Notstand38  mithilfe  der  Rollentauschprobe  als  eine Art gesellschaftsvertragliche Ausstiegsklausel rekonstruiert worden .39 In Fällen,  in denen dem Einzelnen aufgrund unglücklicher Fügung die Beeinträchtigung fundamentaler  Interessen  droht,  wird  niemand  ihm  einen  Schuldvorwurf  dafür  machen, dieser Gefahr auf Kosten seiner Mitmenschen entronnen zu sein: Bricht im  Kino  ein  Feuer  aus  und  lässt  die  Menschen  panisch  zum  Ausgang  flüchten,  darf  selbstverständlich  niemand  auf  dem  rettenden  Weg  nach  draußen  seine  Mitmenschen zu Tode trampeln . Aber wer es dennoch tut, dem wird die Gesellschaft verzeihen; man wird Verständnis dafür aufbringen, dass jemand sich in dieser Ausnahmesituation für kurze Zeit „durch die Hintertür in den gesellschaftlichen Urzustand“40  – den Krieg aller gegen alle – verabschiedet hat, um seine eigene Haut um (fast) jeden Preis zu retten .41 Der Grund für diese Nachsicht ist einleuchtend: Wer sich gedankenexperimentell in akute Todesgefahr begibt, kann nicht behaupten, er hätte an  Stelle des Gefährdeten anders gehandelt .42 Die Tat kann also ausnahmsweise „aus  der Notsituation und am Täter vorbei erklärt werden .“43

37 

38  39 

40  41  42  43 

Hans Joachim Hirsch, Defensiver Notstand gegenüber ohnehin Verlorenen, in: Michael Hettinger et al., Festschrift für Wilfried Küper, Heidelberg 2007, S . 149–172, S . 171; Jakobs (Fn . 15), S . 217 .  Dagegen  Hans-Ludwig  Günther,  Defensivnotstand  und  Tötungsrecht,  in:  Martin  Böse/Detlev Sternberg-Lieben, Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts: Festschrift für Knut Amelung,  Berlin  2009,  S . 147–157,  S . 153;  Franz Streng,  Gerechtfertigte  Aufopferung  Unbeteiligter?,  in:  Kudlich/Streng (Fn . 5), S . 135–157, S . 155 f .; Claus Roxin, Der Abschuss gekaperter Flugzeuge zur  Rettung von Menschenleben, ZIS 2011, S . 552–563, S . 561 . Siehe  einerseits  Helen Keller/Lucy Keller,  Der  Abschuss  ziviler  Flugzeuge  ist  unzulässig,  NZZ  21 .1 .2007, S . 9; andererseits Roland Müller, Darf die Schweizer Luftwaffe Zivilflugzeuge abschiessen?, plädoyer 24 (2006), Heft 3, S . 29; Stefan Vogel, Zulässigkeit des Abschusses entführter Zivilflugzeuge zum Schutz von Drittpersonen, Sicherheit & Recht 2009, S . 96–105, S . 103 . Geregelt in § 35 dStGB, Art . 18 schweizStGB, § 10 I öStGB . Zu einem darüber hinausgehenden  übergesetzlichen entschuldigenden Notstand Zimmermann (Fn . 24), S . 263 ff . Bernsmann (Fn . 32), S . 254 ff .; Joachim Renzikowski, Entschuldigung im Notstand, Jahrbuch für  Recht  und  Ethik  2003  (11),  S . 269–285,  S . 276 ff .;  Carsten Momsen,  in:  Bernd  von HeintschelHeinegg,  Strafgesetzbuch:  Kommentar,  München  2010,  § 35  Rn .  6 f .;  ders .,  Die  Zumutbarkeit  als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, Baden-Baden 2006, S . 168 ff .; Zimmermann (Fn . 24),  S . 227 ff .; krit . Klaus Rogall, in: Hans-Joachim Rudolphi/Eckard Horn/Erich Samson, Systematischer  Kommentar zum StGB, 7 ./8 . Aufl ., Köln 2010, § 35 Rn . 7, 9 . Renzikowski (Fn . 39), S . 280 . Ähnlich Weyma Lübbe, Einleitung, in: dies ., Tödliche Entscheidung,  Paderborn 2004, S . 7–28, S . 22 . Umstritten ist lediglich, ob die Entschuldigung auch in Fällen eines krassen quantitativen Missverhältnisses gilt (etwa: Tötung von 50 Menschen, um dadurch sich selbst zu retten) . Näher  dazu Zimmermann (Fn . 24), S . 251 mit Fn . 950 . Vgl . auch § 10 I öStGB, der eine Entschuldigung an die Voraussetzung knüpft, dass „in der Lage  des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war .“ Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2 . Aufl ., Berlin 1991, 20 . Abschn . Rn . 41 .

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2.4 der person-status siaMesiscHer zWillinGe Ethisch und rechtlich wenig geklärt ist die Frage, ob es einem Chirurgen erlaubt ist,  siamesische Zwillinge mit einseitig tödlicher Wirkung zu trennen, wenn anderenfalls  beide Zwillinge sterben müssten .44 Manche bestreiten, dass es sich beim tödlichen  Abtrennen  des  einen  Zwillings  überhaupt  um  die  strafrechtlich  relevante  Tötung  einer Person handelt; vielmehr würden lediglich einer „Gesamtperson“ überzählige  Körperteile  amputiert .45  Dass  das  nicht  richtig  ist,  erweist  die  Rollentauschprobe:  Verfügt der fusionierte „Gesamtkörper“ über zwei separate Gehirne, dann lässt es  sich probehalber in jede einzelne dieser zwei getrennten Bewusstseinssphären hineinversetzen; es handelt sich also um den Interessenkonflikt zweier Personen .46 Dass  dieser Konflikt sich möglicherweise nach den Grundsätzen der Situation des überfüllten Rettungsboots lösen lässt, liegt auf der Hand .47 So viel zu einigen Anwendungsmöglichkeiten der Rollentauschprobe . 3  anwendunGsschwIerIGkeIten 3.1 die erFaHrbarkeitsbedinGunG Probleme bei der Durchführung des Gedankenexperiments ergeben sich bei näherer  Betrachtung der Versuchsanordnung . Wie – so eine bis hierher ausgesparte Frage –  hat man sich den Rollentausch im Detail vorzustellen? Was genau bedeutet es, sich  hierfür in die Position einer Konfliktpartei „hineinversetzen“ zu müssen? Schwierigkeiten bereitet insbesondere die sog . Erfahrbarkeitsbedingung .48 Gemeint ist damit  die Nachvollziehbarkeit des Verlusts, den jemand erleidet, falls seine Interessen frustriert werden .49 3.2 die diskontinuität von beWussteinszuständen Es mag ohne weiteres Gegenstand unserer Vorstellung sein, was es bedeutet, einen  Sachwert zu verlieren oder wie es sich anfühlt, Opfer einer Körperverletzung oder  Freiheitsberaubung zu werden . Wie aber verhält es sich in folgendem Fall: Ein Un44  Siehe hierzu den realen Fall Re A, Court of Appeal Civil Division All England Law Reports  4/2000, S . 961–1070 . Näher dazu Reinhard Merkel, Die chirurgische Trennung so genannter siamesischer Zwillinge, in: Claus Roxin/Ulrich Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 4 . Aufl .,  Stuttgart u . a . 2010, S . 603–639; George J. Annas, The Limits of Law at the Limits of Life, Connecticut Law Review 2001 (33), S . 1275–1296 . 45  Vgl . Spiegel online-Meldung 20 .02 .2005, „Ärzte entfernen Kleinkind zweiten Kopf “ . 46  Jan C. Joerden, Menschenleben, Stuttgart 2003, S . 123 f . (auf der Basis der Goldenen Regel) . I . E .  Ebenso Merkel (Fn . 44), S . 607 f .; Arnd Koch, Strafbarkeit der Trennung siamesischer Zwillinge?,  GA 2011, S . 129–144, S . 129 f . 47  Ausführlich Zimmermann (Fn . 24), S . 471 ff . 48  Der Begriff stammt von Anton Leist, Eine Frage des Lebens: Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung, Frankfurt a . M ./New York 1990, S . 79 . 49  Für das Recht hat bereits 1956 Heinrich Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155,  S . 85–134, S . 134 auf das Erfordernis der Erfahrbarkeit hingewiesen .

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Till Zimmermann

fallopfer wird in ein künstliches Koma versetzt, aus dem es Wochen später in genesenem Zustand wieder erwachen wird . Sollte es nun bei Strafandrohung verboten  sein,  den  Komapatienten  unterdessen  zu  töten,  obwohl  sich  dadurch  erhebliche  Kosten  im  Gesundheitswesen  einsparen  ließen?  Intuitiv  –  bzw .  nach  geltender  Rechtslage – würde eine solche Tötung als strafwürdiges Unrecht qualifiziert .50 Ob  das Rollentauschexperiment zu demselben Ergebnis gelangt, ist weniger eindeutig .  Untauglich gestaltete sich zunächst der Versuch, das dem Getöteten widerfahrene  Unrecht qua Sich-Hineinversetzen in die tote Person nachzuvollziehen;51 der Tote  ist wie jeder leblose Gegenstand bar eigener Interessen und darum nicht im Sinne  einer subjektiven Interessensfrustration beschwert .52 Aber auch die rollentauschmäßige „Befragung“ der Interessenslage des Komatösen im Zeitpunkt unmittelbar vor  der Tötung ist wenig ergiebig . Der Versuch, sich in einen Komapatienten hineinzuversetzen,  um  dessen  Interessenlage  auszuloten,  gestaltet  sich  äußerst  diffizil;  er  dürfte mit der Feststellung enden, dass der Komatöse in seinem Zustand zumindest  über keine aktuell gehabten Interessen verfügt .53 Dieser Befund, der übrigens auch  auf  lediglich  schlafende  Personen  zutrifft,  stellt  Rollentauschtheoretiker  vor  ein  handfestes Problem . Um sub specie Tötungsverbot ein abwegiges Ergebnis zu vermeiden – scil . Straflosigkeit mangels Interessenverletzung! –, wird deshalb auf eine  ad hoc-Modifikation des Gedankenexperiments zurückgegriffen: Dem Komapatienten (bzw . Schlafenden) wird im Zeitpunkt der Tötung ein Interesse an seinem Weiterleben schlicht unterstellt – und zwar unter Berufung entweder auf seinen zukunftsgerichteten Lebenswillen vor dem Bewusstseinsverlust54 oder seinen mutmaßlichen retrospektiven Willen nach seinem Wiedererwachen .55 In jedem Fall muss aber auf die  Erfahrbarkeitsbedingung verzichtet werden;56 in der moral- und rechtsphilosophischen Debatte wird dieser scheinbare innere Bruch mit der eigenen Prämisse als be-

50  Statt  vieler  Roland Kipke,  Mensch  und  Person,  Berlin  2001,  S . 37;  Eberhard Schockenhoff,  Pro  Speziesargument,  in:  Gregor Damschen/Dieter Schönecker,  Der  moralische  Status  menschlicher  Embryonen, Berlin/New York 2003, S . 11–33, S . 18 . 51  Reinhard Merkel, Früheuthanasie, Baden-Baden 2001, S . 198 . 52  Näher zu dem sog . Problem des Subjekts Thomas Nagel, Death, Noûs 1970 (4), S . 73–80; Anthony Brueckner/John M. Fischer, Why is Death Bad?, Philosophical Studies 1986 (50), S . 213–221;  Jeff  McMahan,  Death  and  the  Value  of  Life,  Ethics  1988  (99),  S . 32–61;  Fred  Feldman,  Some  Puzzles About the Evil of Death, Philosophical Review 1991 (2), S . 205–227; Harry Silverstein,  The Evil of Death, Journal of Philosophy 1980 (77), S . 401–424; Julius Schälike, Der Wert des  Lebens und die Ethik des Tötens, ZphF 2010 (64), S . 357–377 . Kurzüberblick bei Ralph Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, Köln u . a . 2004, S . 55 ff . 53  Ähnlich Nagel (Fn . 52), S . 75 . 54  So Nagel (Fn . 52), S . 74 f .; Norbert Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, 2 . Aufl ., Frankfurt  a . M .  1995,  S . 76 ff .;  ders .,  Hat  der  Nasciturus  ein  Interesse  am  Überleben?,  ARSP  1990  (76),  S . 255–257, S . 256; Merkel (Fn . 51), S . 455; Michael Tooley, Abortion and Infanticide, Philosophy  & Public Affairs 1972 (2), S . 37–65, S . 48 f .; Jeff McMahan, The Ethics of Killing, New York 2002,  S . 67 .  Aus  utilitaristischer  Perspektive  ebenso  Peter Singer,  Praktische  Ethik,  2 . Aufl .,  Stuttgart  1994, S . 133; Dieter Birnbacher, Das Dilemma des Personenbegriffs, in: Peter Strasser/Edgar Starz,  Personsein aus bioethischer Sicht, ARSP-Beiheft 1997 (73), S . 9–25, S . 20 . 55  Gregor Damschen/Dieter Schönecker, In dubio pro embryone: Neue Argumente zum moralischen  Status menschlicher Embryonen, in: dies . (Fn . 50), S . 187–267, S . 232 f . 56  Merkel (Fn . 51), S . 449 mit Fn . 120 .

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sonders  starkes  Argument  gegen  jede  Art  von  interessebasierenden  Normbegründungsmodellen betrachtet .57 3.3 das probleM potentieller interessen Noch  problematischer  verhält  es  sich  mit  dem  medizinisch  nicht-indizierten  Schwangerschaftsabbruch . Wiewohl das Strafrecht in Deutschland,58 in der Schweiz59  und in Österreich60 einen frühzeitigen Abbruch nach vorhergehender Beratung für  straflos erklärt, bleibt die Rechtsfolge unklar; der Gesetzeswortlaut lässt im Ergebnis  jeweils offen, ob die Abtreibung erlaubt ist61 – und damit Ungeborenen das Lebensrecht abgesprochen wird – oder aber, ob der Eingriff verboten und lediglich aus Rücksicht auf die Zwangslage der Schwangeren straflos gestellt ist .62 Wer es unternimmt,  diese in vielerlei Hinsicht relevante Frage (Stichworte: zivilrechtliche Wirksamkeit  ärztlicher Honorarvereinbarungen?;63 Befugnis zur Notrechtsausübung?;64 normative  Präjudizierung  hinsichtlich  der  Erlaubtheit  von  embryonenverbrauchender  Präimplantationsdiagnostik?65) mithilfe der Rollentauschprobe zu beantworten, der  57  Kipke  (Fn . 50),  S . 39 f .;  Ralf  Müller-Terpitz,  Der  Schutz  des  pränatalen  Lebens,  Tübingen  2007,  S . 62 ff .;  ders .,  Der  Embryo  ist  Rechtsperson,  nicht  Sache,  ZfL  2006,  S . 34–42,  S . 35;  Ingelfinger (Fn . 52), S . 78 ff .; Jörg Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, Berlin 2004,  S . 154 Fn . 414; Michael Pawlik, Fürs Töten reicht es nicht: Rezension zu Merkel: Früheuthanasie,  FAZ  31 .05 .2001,  S . 60;  Robert  Spaemann,  Sterbehilfe  ist  nur  ein  anderes  Wort  für  Töten,  ZfL  2005, S . 119–121, S . 120; Herbert Tröndle, Zum Begriff des Menschseins, NJW 1991, S . 2542– 2543, S . 2542 . 58  § 218a I StGB: der Tatbestand ist „nicht verwirklicht“ . 59  Art . 119 II StGB: die Tat „ist straflos“ . 60  § 97 I Nr . 1 StGB: die Tat ist „nicht strafbar“ . 61  So  Jakobs,  Lebensschutz  durch  Pflichtberatung?,  Schriftenreihe  der  Juristen-Vereinigung  Lebensrecht  e . V .  zu  Köln  2000  (17),  S . 17–38,  S . 34 ff .;  Reinhard Merkel,  in:  Urs  Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen,  Nomos  Kommentar  zum  Strafgesetzbuch  Bd . 2,  3 . Aufl .,  Baden-Baden 2010, § 218a Rn . 63; Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 58 . Aufl .,  München 2011, § 218a Rn . 5 . Aus österreichischer Perspektive Diethelm Kienapfel/Valentin Schroll,  Studienbuch  Strafrecht:  Besonderer  Teil  Bd . I,  2 . Aufl .,  Wien  2008,  § 97;  aus  schweizerischer  Sicht Thomas Fingerhuth, in: Stefan Trechsel et al., Schweizerisches StGB: Praxiskommentar, Zürich/St . Gallen 2008, Art . 119 Rn . 6 . 62  In diesem Sinne Helmut Satzger, Der Schwangerschaftsabbruch, Jura 2008, S . 424–434, S . 430;  Walter  Gropp,  in:  Bernd  von Heintschel-Heinegg,  Münchener  Kommentar  zum  Strafgesetzbuch  Bd . 1, München 2003, § 218a Rn . 10 f .; ebenso für das österreichische Recht Maria Eder-Rieder,  in: Höpfel/Ratz (Fn . 29), 23 . Lfg ., § 97 Rn . 3; Kurt Schmoller, in: Otto Triffterer/Christian Rosbaud/ Hubert Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1 . Lfg ., Wien 1992, § 97 Rn . 20 . 63  Dazu Bernd-Rüdiger Kern, in: Adolf Laufs/Bernd-Rüdiger Kern, Handbuch des Arztrechts, 4 . Aufl .,  München 2010, § 38 Rn . 37 Fn . 6; Schmoller (Fn . 62), § 97 Rn . 21 . 64  Gegen Notrechtsbefugnis Helmut Satzger, Der Schutz ungeborenen Lebens durch Rettungshandlungen Dritter, JuS 1997, S . 800–805, S . 803; Thomas Hillenkamp, Zum Notwehrrecht des Arztes  gegen „Abtreibungsgegner“, in: Putzke et al. (Fn . 34), S . 483–502, S . 500 f . Für das Bestehen eines  Notrechts zugunsten des Ungeborenen Heiko Lesch, Notwehrrecht und Beratungsschutz, Paderborn u . a . 2000, S . 72 f .; Herbert Tröndle, Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz,  NJW 1995, S . 3009–3019, S . 3011 . 65  Vgl . Reinhard Merkel, Lebensrecht und Gentest schließen sich aus, FAZ 03 .08 .2010, S . 30: „Wenn  […] § 218a erlaubt, die Schwangerschaft abzubrechen […] dann mutet es absurd an, die PID bei  Strafe zu verbieten .“ Ähnlich BGH NJW 2010, S . 2672–2677, S . 2674 f .; Hans-Georg Dederer, Zur 

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Till Zimmermann

ist vor die Aufgabe gestellt, sich in die Lage eines Ungeborenen hineinzuversetzen,  um zu erforschen, „was man als Embryo wollen würde“66 . Hierzu bemerkt Bernhard  Schlink: „Gefoltert werden, als Schwarzer im Südafrika der Apartheid oder als Frau im Afghanistan unter  den Taliban leben, […], wegen Krankheit oder im Alter nur noch dank medizinischer Apparate  leben, behindert sein – wir können uns einfühlen . […] Aber in eine befruchtete Eizelle können  wir uns schlechterdings nicht einfühlen .“67

Grund für diese Feststellung ist offenbar, dass ein Embryo mangels der neuronalen  Voraussetzungen hierfür noch keine zukunftsgerichteten Interessen hat und damit  auch nicht über Ich-Bewusstsein verfügt .68 Das Problem besteht also darin, dass es  an einem aktuellen Interessensträger und damit an einer qua Rollentausch stellvertretend einnehmbaren Binnenperspektive des Eingriffsadressaten fehlt .69 Welche Schlüsse müssen Kontrakt-(bzw . Interessen-)Theoretiker hieraus ziehen?  Einige – unter ihnen auch der frühe Rawls70 – wollen geborenes und ungeborenes  Leben gleichbehandelt sehen, da der Schleier des Nichtwissens auch den Umstand  verdunkle, ob man nach Vertragsschluss den bereits geborenen Menschen oder erst  einer  künftigen  Generation  angehören  werden  wird .71  Mit  diesem  simplen  Phantasma entfernt man sich allerdings zu weit von der notwendigerweise interessensgebundenen Ausgangsposition kontraktualistischer Normbegründung .72 Komplexere  Lösungsversuche gehen dahin, anhand ähnlicher Kriterien zu entscheiden wie beim 

66  67  68  69  70 

71 

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Straflosigkeit  der  Präimplantationsdiagnostik,  MedR  2010,  S . 819–822,  S . 822;  andersherum  Schmoller (Fn . 62), a . a . O .: „[D]er rechtliche Schutz extrakorporaler Embryonen, etwa gegenüber  einer verbrauchenden Forschung [lässt sich] nur dann sinnvoll erklären, wenn man gleichzeitig  davon ausgeht, dass intrakorporale Embryonen […] ebenfalls grundsätzlich rechtlich geschützt  sind .“ Dietmar von der Pfordten, Lebensrecht für die menschliche Leibesfrucht, JuS 1989, S . 774 f ., S . 774 . Schlink (Fn . 32), S . 16 . Das Zitat ist ausdrücklich nur auf Zygoten bezogen . Tooley  (Fn . 54),  S . 63;  Norbert Hoerster,  Haben  Föten  ein  Lebensinteresse?,  ARSP  1991  (77),  S . 385–395, S . 388 f .; einschränkend Merkel (Fn . 51), S . 456 ff . Vgl . Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, Stuttgart 2002, S . 107: „[Es] ist … kaum zu  verstehen, wie man sich überhaupt in irgendein Lebewesen ‚hineinversetzen‘ kann, das … gar  keine … Interessen hat .“ Rawls (Fn . 8), TdG, S . 160: „Die Menschen im Urzustand wissen auch nicht, zu welcher Generation  sie gehören .“  (woraus  James Sterba, Abortion,  Distant  People, and  Future Generations,  Journal  of  Philosophy  1980  [77],  S . 424–440,  S . 439  auf  ein  Abtreibungsverbot  schließt) .  In  Politischer Liberalismus, Frankfurt a . M . 2003, S . 349 Fn . 32 hat Rawls die Abtreibung jedoch  als gerechtes Ergebnis einer „vernünftigen Abwägung“ bezeichnet, ehe er sich zuletzt (The Idea  of Public Reason Revisited, Chicago Law Review 1997 [64], S . 765–807, S . 798 Fn . 80) für moralisch  ratlos  erklärt  hat .  Ausführlich  zur  normativen  Position  Ungeborener  in  Rawls’  Werk  Williamson Evers, Rawls and Children, Journal of Libertarian Studies 1978 (2), S . 109–114; Luke  Milligan, A Theory of Stability, Boston Law Review 2007 (87), S . 1177–1230 . Dietmar von der Pfordten, Gibt es Argumente für ein Lebensrecht des Nasciturus?, ARSP 1990  (76), S . 69–82, S . 79 f .; Bernd Schünemann, Quo vadis § 218 StGB?, ZRP 1991, S . 379–392, S . 385 .  I . E . ebenso auf der Basis der Goldenen Regel Joachim Hruschka, Zum Lebensrecht des Foetus in  rechtsethischer Sicht, JZ 1991, S . 507–509, S . 508; Richard M. Hare, Abortion and the Golden  Rule, Philosophy & Public Affairs 1975 (4), S . 201–222, S . 208 . Genauer:  Die  hier  kritisierten  Ansichten  benennen  keinen  Grund  dafür,  weshalb  man  (noch)  nicht gehabte Interessen bei der Normgenerierung überhaupt berücksichtigen sollte; sie lassen  also eine Vorfrage aus und gelangen daher über ein Postulat nicht hinaus . Ähnlich die Kritik von  Konstantinos  Papageorgiou,  Interessen,  moralische  Berücksichtigung  und  das  „Lebensrecht  des 

Die Rollentauschprobe im Strafrecht

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Komapatienten . Entscheidend für das Lebensrecht des Ungeborenen sei also entweder, ob dieses später einmal ein rückwirkendes Lebensinteresse haben wird (dies wäre  zu bejahen),73 oder aber, ob es im Vorfeld der Abtreibung ein zukunftsgerichtetes Interesse am Überleben gehabt hat (was zu verneinen wäre) .74 Statt bereits an dieser Stelle einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten, sei dieser  vorerst vertagt und stattdessen zunächst auf einen populären Fundamentaleinwand  gegen  kontraktualistische  Rechtsethiken  hingewiesen;  dessen  anschließende  Entkräftung wird dann zur Lösung der hiesigen Fragestellung hinführen . 4  der eInwand  der praxIstauGlIchkeIt 4.1 der einWand der praxistauGlicHkeit kontraktualistiscH beGründeter norMen Der Einwand lautet, dass aus dem Gedankenexperiment eines „fiktive[n] Vertrag[s]  fiktiver  Naturzustandsakteure“  keine  Verpflichtungen  für  wirkliche  Menschen  erwachsen .75 Konkret: Da man es bei konsequenter Handhabung der vertragstheoretischen Prämissen auch nach Lüftung des Nichtwissens-Schleiers immer noch mit rationalen Egoisten zu tun hat, kann man nicht einfach zur Annahme strikter Gesetzesbefolgung übergehen; vielmehr müsse sich das Modell auch hier an der zukunftsfixierten individuellen Nutzenmaximierung messen lassen . Dann aber sei auch in  der Rechtswirklichkeit allein das aktuelle Interesse des Normunterworfenen handlungsleitend – was im Ergebnis dazu führe, dass sich doch niemand an die vormals  qua Rollentauschprobe generierten, gesellschaftsvertraglich vereinbarten Restriktionen halten und stattdessen jedermann sich klugheitsbedingt der sozialen Trittbrettfahrerei verschreiben würde .76 Dieser Einwand ist von Jan C . Joerden77 so gründlich  ausbuchstabiert worden, dass es sich lohnt, seine Kritik im Wortlaut wiederzugeben:

73 

74  75  76  77 

Nasciturus“, ARSP 1992 (78), S . 108–117, S . 112 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 85; Singer (Fn . 54), S . 37  (jew . zu Rawls) . So von der Pfordten (Fn . 71), S . 774; ders ., Verdienen nur zukünftige Interessen Schutz, die sich  tatsächlich  realisieren?,  ARSP  1990  (76),  S . 257–260,  S . 258;  Anton Leist,  Lebensganzes  oder  Lebenswunsch?, ARSP 1992 (78), S . 94–103, S . 102; Oliver Hallich, Das Argument der Existenzverhinderung in der Abtreibungsdebatte, ZphF 2010 (64), S . 216–238, S . 220 ff . Mit Einschränkungen auch Merkel (Fn . 51), S . 460–509 ff ., der empfindungsfähigen Ungeborenen unter Hinweis  auf  deren  Potential  zu  Ich-Bewusstsein  ein  Lebensinteresse  „zuschreibt“ .  Hierzu  kritisch  Dieter Birnbacher, Rezension zu Merkel: Früheuthanasie, ARSP 2001 (87), S . 587–590, S . 590;  Norbert Hoerster, Kompromisslösungen zum Menschenrecht des Embryos auf Leben?, JuS 2003,  S . 529–532, S . 531 f . Birnbacher (Fn . 54), S . 20; McMahan (Fn . 54), S . 170 f . Armin Engländer, Die Lehren vom Gesellschaftsvertrag, Jura 2002, S . 381–386, S . 386 . Ähnlich  Stemmer (Fn . 14), S . 4; Lindner (Fn . 22), S . 3760 . Pawlik (Fn . 6), S . 69 f .; Küper (Fn . 6), S . 110 . Freilich lässt sich dieser Einwand auch auf andere  interessenbasierende Ethikmodelle übertragen: Warum sollte man zur Befolgung der Goldenen  Regel, einem Prinzip der Nutzenmaximierung usw . verpflichtet sein? Jan C. Joerden,  Nochmals:  Rechtsethik  ohne  Metaphysik,  JZ  1982,  S . 670–674,  S . 671 ff .  (mit  Replik Norbert Hoerster, Schlusswort, JZ 1982, S . 714–716) . Der Text ist hier insoweit modifiziert,  als Joerden statt „vertraglich“ den Begriff „intersubjektiv begründet“ verwendet; zur Austauschbarkeit dieser Begriffe im hiesigen Kontext siehe Fn . 23 .

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Till Zimmermann „[D]ie  Begründung  von  Normen  [kann]  nicht  allein  so  verstanden  werden,  dass  sie  für  den  einzelnen Normunterworfenen einen Grund abgibt, der es sinnvoll für ihn erscheinen lässt, die  Aufstellung der jeweiligen Norm zu befürworten . Denn dann […] lieferte die Normbegründung  noch lange kein zwingendes Argument, sich auch aktuell ihr gemäß zu verhalten . […] Versetzen  wir  uns  dazu  in  den  Mitmenschen  M,  der  sein  eigenes  Überleben  für  wichtiger  hält,  als  die  Möglichkeit, gelegentlich einen anderen Mitmenschen zu töten . Dieser hat ohne Zweifel ein  starkes Interesse daran, dass eine generelle Norm geschaffen wird, die das (beliebige) Töten verbietet . […] Doch stellt sich nun die Frage – die Inkraftsetzung des Tötungsverbots sei vorausgesetzt –, wie die Interessenlage aussieht, wenn M sich aktuell in eine Situation gestellt sieht, in der  er z . B . [die Frau F] umbringen möchte und dies auch tun könnte, und sich nun fragt, ob er dem  Tötungsverbot aktuell Folge leisten oder nicht viel besser [F] das Leben nehmen sollte . Was ist  es jetzt, das für M die Norm [vertraglich] begründet? Was hindert den M eigentlich, die eben  noch akzeptierte ‚[gesellschaftsvertragliche] Begründung‘ über Bord zu werfen und seinen aktuellen Interessen (Tötung [der F]) zu folgen? Nicht überzeugend ist die Antwort, M müsse, wenn er [die F] töten würde, befürchten, demnächst ebenfalls umgebracht zu werden, da durch seinen Normverstoß die Norm außer Kraft  geriete, und nun auch M täglich mit seinem Tode rechnen müsste . Denn es ist offensichtlich,  dass die faktische Geltung einer Norm nie eine absolute ist, sondern stets Ausnahmen erleiden  wird, woraus umgekehrt folgt, dass eine Ausnahme die faktische Geltung einer Regel nicht in  Frage stellt . M könnte also sehr gut damit rechnen, dass er sowohl die Vorteile der einst auch  von ihm akzeptierten Regel nutzen, als auch seine Interessen in Bezug auf die Tötung [der F]  verfolgen könnte . Was also mag es sein, das den M gleichwohl von der Tötung [der F] abhalten  könnte? Bei einem konsequent zu Ende gedachten subjektivistischen Ansatz: Nichts! Im Gegenteil: Da es ja für die ‚Begründung‘ der Norm nur auf die Interessenlage des jeweiligen Individuums ankommt, ist kein Grund ersichtlich, warum das betreffende Individuum nicht jederzeit  aus dem Verband der ‚Normbegründer‘, das soll heißen aus dem Verband derjenigen, für die  aufgrund ihrer Interessenlage die jeweilige Norm ‚[gesellschaftsvertraglich] begründet‘ ist, sollte  aussteigen  können,  wenn  sich  seine  Interessenlage  geändert  hat .  […]  [Daher]  gilt  für  jeden  Mitmenschen, für den die jeweilige Norm (hier das Tötungsverbot) einmal ‚[vertraglich] begründet‘ war, dass es nichts gibt, das ihn davon abhalten könnte, sich außerhalb der in Kraft gesetzten Norm zu stellen und sie sozusagen nun von außen zu betrachten […] . So kann M durchaus  seine  aktuellen  Interessen  verfolgen  (und  [F]  töten)  sowie  möglicherweise  zugleich  noch  den  Schutz des ‚[kontraktualistisch] begründeten‘ Tötungsverbotes genießen, ohne dass aus der [vertraglichen] Begründung dieses Tötungsverbotes auch nur ein Argument fließen würde, das seinem Verhalten entgegengehalten werden könnte .“

4.2 die soziale kontrolle als norMstabilisator Dieser  Einwand  ist  aber  nur  zum  Teil  richtig .  Zutreffend  ist,  dass  ein  (hypothetischer) Gesellschaftsvertrag, der sich bei der Mahnung an seine Einhaltung auf den  Fairness-Appell an die Kontraktpartner beschränkt, in der Realität scheitert; denn  selbst aus einem weit verbreiteten Normgeltungsinteresse erwächst aus verschiedenen  Gründen noch kein ausreichendes Normbefolgungsinteresse .78 Was der v . g . Einwand jedoch nicht mit ins Kalkül zieht, ist der Aspekt sozialer  Kontrolle . Diese sorgt für die Beachtung der Vertragsregeln auch in der Realität, indem sie den unfairen Abweichler mit einer Sanktionsdrohung belegt . Damit wird  ihm nämlich ein weiterer, qua Rollentauschprobe Wirksamkeit entfaltender Klug-

78  Siehe  nur  Hoerster  (Fn . 10),  S . 221 f .;  Stemmer  (Fn . 17),  S . 95 .  Zur  Differenzierung  zwischen  Normgeltungs- und Normbefolgungsinteresse Engländer (Fn . 26), S . 94 f .

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heitsgrund  zur  Beachtung  der  universalisierbaren  Regeln  an  die  Hand  gegeben .79  Die Funktion der sozialen Kontrolleure übernehmen dabei alle Bürger, die sich –  weil von einem konkreten Interessenkonflikt nicht tangiert – nach wie vor mit dem  ausgehandelten Regelwerk identifizieren und deshalb seine Durchsetzung im Einzelfall forcieren .80 Die Regeln des Gesellschaftsvertrags sind in der Realität also deshalb stabil, weil bei einem auftretenden Konflikt die konkret involvierten Parteien  von  der  Masse  ihrer  konkret  unbeteiligten  Mitbürger  durch  Sanktionsandrohung  zur  Regelbefolgung  angehalten  werden .  Auf  das  aktuelle  Interesse  der  konkreten  Konfliktparteien (am Bestand oder auch nur der Befolgung der Norm) kommt es  also gar nicht an; entscheidend ist vielmehr allein der nach wie vor bestehende (Minimal-)Konsens zwischen (fast) allen Außenstehenden .81 In  Bezug  auf  das  v . g .  Beispiel  Joerdens  ergibt  sich  daraus  Folgendes:  Für  die  Frage, ob M die F straflos töten darf, ist das Interesse des potentiellen Mörders M  irrelevant . Entscheidend ist, ob die sozialen Kontrolleure in Gestalt der konkret von  dem Widerstreit zwischen Ms Tötungsinteresse und Fs Lebensinteresse unbeteiligten Mitbürger in ihrem Eigeninteresse nach wie vor eine Regel akzeptieren, die das  willkürliche Töten von Menschen verbietet . Für ein solches Verbot werden die Außenstehenden deshalb eintreten, weil sie sich, erstens, vorstellen können, selbst einmal in die Opferrolle der F geraten zu können und, zweitens, weil ihre gegenwärtige  Furcht, künftig einmal Mordopfer zu werden, größer ist als ihre Sorge, künftig nicht  nach Lust und Laune morden zu können . Neben  diese  durch  und  durch  rational  motivierten  Sanktionierungsinteressen  tritt zudem verstärkend ein genuines Vergeltungsbedürfnis82 (wobei Strawson darauf  hingewiesen hat, dass jene retributiven Emotionen als „stellvertretende“ Gefühlsreaktion auf das Leiden des persönlichen Betroffenen ebenfalls auf einer Rollentauschprobe beruhen83) . Aus diesen Gründen werden Mörder wie Herr M bestraft – und  der Gesellschaftsvertrag bleibt in der Praxis stabil . 4.3 das straFrecHt als norMstabilisator Die wichtigsten Moralnormen werden im Interesse ihrer Effektivität in den robusteren Geltungsmodus des Strafrechts überführt . Dieses bildet sozusagen die Veredelung der (an die Staatsmacht delegierten) sozialen Kontrolle . Das Strafrecht schreckt  79  Vgl . Hare (Fn . 14), S . 155: „Wenn aus der Vorstellung, ich selbst sei derjenige, der bestraft würde,  logisch folgt, dass ich gegen sein Bestraftwerden jetzt eine Aversion habe, die der gleicht, die er  dann haben wird, so erklärt das, warum ich es vermeide, das Verbrechen zu begehen, für das er  bestraft würde .“ 80  Hoerster (Fn . 77), S . 715; ders . (Fn . 17), S . 235 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 99 ff .; ders . (Fn . 14), S . 6 ff .  Siehe auch Engländer (Fn . 26), S . 86 f . 81  Ausführlich dazu Zimmermann (Fn . 24), S . 80–86 . 82  Empirisch Özgür Gürerk et al., The Competetive Advantage of Sanctioning Institutions, Science  2006 (312), S . 108–110; Tania Singer et al ., Empathic Neural Responses are Modulated by the  Perceived Fairness of Others, Nature 2006 (439), S . 466–469 . Zum Zusammenhang zwischen  retributiven Emotionen und Strafe Edward Westermarck, The Origin and Development of the  Moral Ideas, Vol . I, New York 1906, S . 168–201 . 83  Peter Strawson, Freiheit und Übelnehmen, in: Ulrich Pothast, Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a . M . 1978, S . 201–233, S . 217 . Weiterführend Stemmer (Fn . 17), S . 128 ff .

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wirksam  ab  mit  seiner  glaubhaft  vorgetragenen  Botschaft  „Verbrechen  lohnt  sich  nicht“ (negative Generalprävention) .84 Und es wirkt zugleich erzieherisch, indem es  dem Rechtsbrecher sein Versagen, das zur Normakzeptanz führende Rollentauschverfahren mit entsprechenden Schlussfolgerungen durchgeführt zu haben, nachhaltig vor Augen führt, indem es ihn zwangsweise in die Rolle des Opfers versetzt (positive Spezialprävention);85 es ist kaum Zufall, dass die erste zivilisierte Strafform, die  Spiegelstrafe gemäß dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“,86 eine ZwangsRollentauschprobe gewesen ist . 5  dIe  korrekte versuchsanordnunG 5.1 die zukunFtsbezoGene icH-perspektivität des rollentauscHs Aus diesen Überlegungen lässt sich die korrekte Versuchsanordnung für das Rollentauschexperiment ableiten . Kommt es auf die aktuelle Interessenlage der Streitbeteiligten nicht an, sondern stattdessen auf die Zukunftsplanung einer konfliktunbeteiligten Durchschnittsperson,87 dann geht es bei der Rollentauschprobe ausschließlich  um die Zukunftsperspektive einer 1 . Person Singular . Für die Beurteilung des normativen  Gewichts  einer  Rechtsposition  innerhalb  einer  Kollisionslage  sind  somit  entscheidend  die  Antworten  auf  zwei  hintereinander  geschaltete  Fragen .  Erstens:  Könnte auch Ich eines Tages in eine solche Position geraten?88 Und, falls ja, zweitens: Was wünschte Ich mir, von meinem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet,  wenn Ich tatsächlich in diese Lage geriete? Für  die  Rollentauschprobe  folgt  daraus,  dass  zwar  gedankenexperimentell  die  Binnenperspektive  eines  anderen  eingenommen,  dabei  jedoch  als  Bewertungsmaßstab  die  aktuelle  Interessenslage  des  Beobachters  zugrunde  gelegt  wird .89  Auf  der  84  Anders Rawls (Fn . 8), TdG, S . 271 f ., S . 302 f . der die praktische Wirksamkeit des Gesellschaftsvertrags  allein  durch  das  Problem  der  Vorleistungspflichtigkeit  (dazu  Pawlik  [Fn . 6],  S . 71 ff .;  Stemmer  [Fn . 17],  S . 96 f .)  gefährdet  sieht  und  daher  Strafe  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der  positiven Generalprävention für erforderlich hält . 85  Ausführlichere  Skizzen  einer  neo-kontraktualistischen  Straftheorie  finden  sich  bei  Hoerster  (Fn . 3), S . 106–113; Zimmermann (Fn . 24), S . 89–91 . 86  Zum Wiedervergeltungsprinzip Udo Ebert, Talion und Spiegelung im Strafrecht, in: Wilfried Küper, Festschrift für Karl Lackner, Berlin/New York 1987, S . 399–422 . 87  Dazu, dass der Minimalkonsens innerhalb der Bevölkerungsmehrheit prinzipiell gleichbedeutend ist mit dem intrapersonalen Interessenkompromiss irgendeiner Durchschnittsperson, siehe  Rawls (Fn . 8), TdG, S . 162 . 88  Selbstverständlich kann niemand in exakt dieselbe Lage wie das aktuelle Opfer geraten . Es genügt  eine Vergleichbarkeit insofern, als eine im Eigeninteresse begründbare eigennamenunabhängige  und praxistaugliche Regel notwendig so formuliert sein müsste, dass sie den vorliegenden Fall  mitumfasst . 89  Dieser Punkt ist bekanntlich umstritten . Eine a . A . vertritt z . B . Dieter Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a . M . 2006, S . 233 f ., der einen imaginären Rollentausch  nur dann für ethisch aussagekräftig hält, „wenn derjenige, der sich in die Rolle des anderen hineinversetzt, sich die Interessen des anderen zu Eigen macht, statt seine eigenen Interessen in die  imaginär  angenommene  Rolle  ‚mitzunehmen‘ .“  Die  Verschiedenheit  menschlicher  Interessen  wird im Vertragsmodell aber bereits dadurch berücksichtigt, dass ein Konsens überhaupt nur in  Bezug auf gleichgerichtete Interessen zustande kommt; Sonderinteressen werden entweder qua 

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Basis dieser Feststellung ist nun auf die offen gelassenen Fragen nach dem Lebensrecht von Komapatient und befruchteter Eizelle zurückzukommen . 5.2 die lösunG des probleMs des diskontinuierlicHen beWusstseins Führt man das Rollentauschexperiment in der hier vorgeschlagenen Versuchsanordnung in Bezug auf den reversibel Komatösen durch, so ist dessen Lebensrecht nicht  fraglich . Denn: Kann auch Ich, der Durchschnittsbürger, eines Tages in ein solches  Koma fallen? – Gewiss . Und würde Ich dann, von meinem jetzigen Standpunkt aus  beurteilt, wünschen, in diesem Falle bis zum Wiedererwachen am Leben zu bleiben?  – Gewiss; denn auf das Erleben einer möglichst langen Lebenszeit lege Ich bei der  Planung meiner eigenen Zukunft allergrößten Wert .90 Das Problem, dass die Tötung eines Komapatienten (bzw . eines Schlafenden)  bei diesem zu keiner erfahrbaren Frustration seines Lebensinteresses führt, ist also gar  keines .  Denn  der  nichtkomatöse  (bzw .  wache)  Durchschnittsbürger  empfindet  es  von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet als potentielle Bedrohung seines Lebensinteresses, könnte er künftig im Koma (bzw . im nächsten Schlaf) straffrei  getötet werden .91 Es wird bei der Rollentauschprobe also das eigene aktuelle Lebensinteresse gedanklich auf künftige Zustände vorübergehender Bewusstseinslosigkeit  projiziert (und somit auch die hypothetische eigene Tötung als Unrecht stellvertretend erfahrbar92) . Vor diesem Hintergrund erscheint es übrigens auch weniger esoterisch, als es zunächst anmutet, wenn der BGH beim Heimtückemord die Figur der  „mit in den Schlaf genommenen Arglosigkeit“ bemüht .93

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intrasubjektiver Interessenabwägung bis zur Mehrheitsfähigkeit geschliffen (s . oben 1 .2 .) oder  sie bleiben im Normsystem unberücksichtigt . Innerhalb des auf diese Weise vertragstheoretisch  generierten Normsystems besteht weder Grund noch Möglichkeit einer weitergehenden Universalisierung . Siehe nur Merkel (Fn . 51), S . 439; McMahan (Fn . 52), S . 41; Leonard Sumner, A Matter of Life and  Death, Noûs 1976 (10), S . 145–171, S . 145 . Ausdrücklich in Bezug auf das hiesige Bsp . Hoerster  (Fn . 68), S . 392 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 260 f . Weil andererseits dem nicht-mehr-Erlebenkönnen  ein solcher Stellenwert nicht eingeräumt wird (dazu bereits Nagel [Fn . 52], S . 74; Sumner, a . a . O .,  S . 155 ff .), erscheint es folgerichtig, das endgültige Erlöschen jeglicher (Ich-)Bewusstseinsfähigkeit  (sog . Hirntod, vgl . § 3 II Nr . 2 dTPG) als Ende des subjektiv-rechtlich schützenswerten Lebens  anzuerkennen; näher Reinhard Merkel, Hirntod und kein Ende, Jura 1999, S . 113–122; Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a . M . 1998, S . 101 ff . Zimmermann (Fn . 24), S . 436 f . mit Fn . 1770 . Vgl . Ingelfinger (Fn . 52), S . 59: Wenn „ganz unbefangen vom ‚Opfer‘ einer Tötung gesprochen  und damit vorausgesetzt [wird], dass der Tote das Subjekt des Schadens ist […] hat man damit  nicht etwa die Leiche im Sinn . Gemeint ist vielmehr der einst vitale Mensch, den man gleichsam als Lebenden weiterdenkt .“ . BGH NJW 2003, S . 2464–2468, S . 2466 . Dazu, dass diese Rspr . aus anderen Gründen problematisch ist, siehe Wilfried Küper, „Heimtücke“ als Mordmerkmal: Probleme und Strukturen, JuS  2000, S . 740–747, S . 745 f .

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5.3 die lösunG des probleMs potentieller interesssen Zu einem anderen Ergebnis gelangt man in Bezug auf Embryonen . Hier scheitert  der Versuch einer Lebensrechtsbegründung bereits auf der ersten Stufe der Rollentauschprobe .  Die  Frage,  ob  Ich  künftig  in  die  Position  des  Ungeborenen  geraten  könnte, wird verneint, weil Ich über das Ich-bewusstseinslose Embryonenstadium  bereits für immer hinaus gelangt bin .94 Wenn es aber aus diesem Grunde niemanden  gibt, auf den von der Erlaubtheit der Abtreibung eine originäre Bedrohungswirkung  für das eigene Leben ausgehen könnte, dann gibt es für niemanden einen Grund,  dem Ungeborenen ein subjektives Recht auf Leben zuzuschreiben .95 Vertragstheoretisch gesprochen sind Ungeborene daher kontraktunfähig .96 Freilich ist damit nicht gesagt, dass es nicht andere Gründe dafür gibt, das Leben  Ungeborener rechtlich zu schützen .97 Nur handelt es sich dann um einen rechtlichen Schutz, der nicht mit der probehalber eingenommenen Binnenperspektive des  Embryos begründbar ist . Daraus folgt, dass der Lebensschutz Ungeborener lediglich  genuin altruistisch  begründet werden kann .98 Es geht dabei dann nicht mehr um  den  Schutz  des  Lebensinteresses des Embryos,  sondern  um  den  Schutz  des  gesellschaftlichen Interesses am Leben des Embryos;99 kontraktualistisch gesprochen handelt  es sich hierbei um eine gesellschaftsvertragliche Klausel mit Schutzwirkung zugunsten  Dritter .100  Deren  Schutzqualität  unterscheidet  sich  gegenüber  subjektiven  Schutzpositionen durch  ihre  prinzipielle Abwägbarkeit  mit anderen Interessen .101  Dogmatisch betrachtet (nicht inhaltlich!) ist der Schutz des Lebens von Embryonen  damit angesiedelt in der Nähe der Verbote, grundlos Wirbeltiere zu töten, seltene  Pflanzen zu zerstören oder pietätlosen Umgang mit menschlichen Leichnamen zu  pflegen .102 94  Vgl . Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995, S . 227 f . 95  Zu den Gründen, warum ab dem Zeitpunkt der Geburt sofort ein vollwertiges Lebensrecht für  das Neugeborene entsteht, siehe Zimmermann (Fn . 24), S . 466–471 . 96  Merkel (Fn . 51), S . 515 ff . 97  Verkannt von Herbert Tröndle, Die Rechtsphilosophie Norbert Hoersters und die Abtreibungsdebatte, GA 1995, S . 249–260, S . 257 . 98  Ausdrücklich  in  Bezug  auf  Rawls  Johann  Braun,  Rechtsphilosophie  im  20 .  Jahrhundert:  Die  Rückkehr  der  Gerechtigkeit,  München  2001,  S . 135 .  Aus  interessentheoretischer  Perspektive  Hoerster  (Fn . 69),  S . 109–118;  Eric  Hilgendorf,  Überlebensinteresse  und  Recht  auf  Leben,  in:  Strasser/Starz (Fn . 54), S . 90–108, S . 101 . 99  Kurt Seelmann,  Haben  Embryonen  Menschenwürde?  Überlegungen  aus  juristischer  Sicht,  in:  Matthias Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a . M . 2004, S . 63–80, S . 75 f . Eingehend Zimmermann (Fn . 24), S . 440–445 . 100  Reinhard Merkel,  Ärztliche  Entscheidungen  über  Leben  und  Tod  in  der  Neonatalmedizin,  JZ  1996, S . 1145–1155, S . 1154; Hörnle (Fn . 7), S . 337 . Dem Streit, ob ein altruistisch begründeter  (objektiv-)rechtlicher  Schutzstatus  als  „(abgestuftes,  vermindertes,  anwartschaftliches  etc .)  Lebensrecht“ bezeichnet werden kann (so – in Übereinstimmung mit § 219 I 3 dStGB – Mackie  [Fn . 14], S . 254; Hilgendorf [Fn . 98], S . 106; Hörnle, a . a . O ., S . 336) oder nicht (so Norbert Hoerster, Ein „verringertes“ Lebensrecht zur Legitimation der Fristenregelung?, NJW 1997, S . 773– 775;  Reinhard Merkel,  Forschungsobjekt  Embryo,  München  2002,  S . 155 f .),  kommt  letztlich  allein terminologische Bedeutung zu . 101  Ausführlich Merkel (Fn . 100), S . 143 ff . 102  Norbert Hoerster, Ein Recht auf Ausbildung künftiger Wünsche?, ARSP 1992 (78), S . 104–107,  S . 105; Joerden (Fn . 46), S . 55; Merkel (Fn . 100), S . 139 Fn . 186; Birnbacher (Fn . 54), S . 14; vgl .  auch  Günther Jakobs,  Rechtmäßige  Abtreibung  von  Personen?,  JR  2000,  S . 406:  „Die  Leibes-

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frucht wird […] als Gut verwaltet (wie ja auch andere sehr hohe Güter verwaltet werden, die keine Personen sind, etwa Frieden, Kulturgüter, Umweltgüter etc .), aber eben ohne eigene Rechte  geltend machen zu können .“

luca lanGensand* rIchterauswahl – auswIrkunGen  auf   dIe  rIchterlIche unaBhänGIGkeIt Das typische Schweizer Modell der Richterauswahl ist geprägt von einer einflussreichen Stellung der  politischen Parteien . Faktisch sind es die grossen Parteien, welche die Richterinnen und Richter aufgrund politischer Kriterien auswählen . Aufgrund der kurzen Amtsperioden verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl ist es den Parteien zudem möglich, erheblichen Druck auf die Gerichte  auszuüben . Mittels Rückgriff auf Überlegungen aus der normativen Ethik zur Unparteilichkeit sollen  Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit im Allgemeinen und das Auswahlverfahren der Richterschaft im Besonderen hergeleitet werden . Anhand dieser Kriterien soll aufgezeigt werden, inwiefern  das Schweizer Auswahlmodell modifizierungsbedürftig ist .

1  BeGrIffsklärunG 1.1 unparteilicHkeit Unparteilichkeit  wird  in  der  Alltagssprache  für  die  Beschreibung  einer  neutralen  Urteilsperspektive  verwendet .1  Der  unparteiisch  Urteilende  –  beispielsweise  der  Schiedsrichter in einem Fussballspiel – soll alle in eine Streitsache involvierten Parteien  fair  behandeln  und  keine  Seite  bevorzugen  oder  benachteiligen .  Davon  zu  unterscheiden sind ein spezifisch philosophischer und ein spezifisch juristischer Begriff der Unparteilichkeit . In der normativen Ethik gilt Unparteilichkeit neben Universalisierung als wesentliches Charakteristikum des idealen übergeordneten Standpunktes der Moral, von dem aus eine völlig objektive Betrachtungsweise möglich  sein soll .2 In der Rechtswissenschaft ist mit Unparteilichkeit in erster Linie die Unparteilichkeit  der  Gerichte  angesprochen .3  Das  bereits  im  römischen  Recht4  bekannte Postulat der richterlichen Unparteilichkeit verlangt, dass die Richterin in die  Behandlung  und  Entscheidung  des  konkreten  Falles  keine  sachfremden  oder  unsachlichen  Elemente  einfliessen  lassen  und  unvoreingenommen  und  unparteiisch  entscheiden soll .5

*  1  2  3  4  5 

Der Autor dankt Karin Zinsli (MLaw) für die vielen wertvollen Anregungen . Vgl . Elif Özmen, Unparteilichkeit, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg .), Handbuch  der  politischen  Philosophie  und  Sozialphilosophie,  Bd . 2,  Berlin  2008,  S . 1376;  Ofer  Raban, Modern Legal Theory and Judicial Impartiality, London 2003, S . 1 . Dieter  Birnbacher, Analytische  Einführung  in  die  Ethik,  2 . Aufl .,  Düsseldorf  2006,  S . 413 ff .;  Özmen (Fn. 1), s. 1376 f.; näheres dazu hinten unter 3 . Joachim  Riedel, Das  Postulat  der  Unparteilichkeit  des  Richters,  Tübingen  1980,  S . 9;  Raban  (Fn . 1), S . 1; Özmen (Fn. 1), s. 1376. Siehe die Nachweise bei Riedel (Fn . 3), S . 9 . Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, s. 55; Riedel (Fn . 3), S . 9 .

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1.2 ricHterlicHe unabHänGiGkeit Richterliche Unparteilichkeit ist nicht gleichzusetzen mit richterlicher Unabhängigkeit . Erstgenannte stellt nur einen (wenn auch zentralen) Aspekt des umfassenden  Rechtsgrundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit dar .6  Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gilt als allgemein verbreiteter  verfassungsrechtlicher Standard .7 In der Schweizerischen Bundesverfassung ist die  richterliche  Unabhängigkeit  an  zwei  Stellen  geregelt .  Art . 30  Abs . 1  BV  garantiert  die richterliche Unabhängigkeit als Grundrecht . Zusätzlich ist die richterliche Unabhängigkeit in Art . 191 c BV als Organisationsgrundsatz verankert . Auf der internationalen Ebene ist die richterliche Unabhängigkeit an verschiedensten Stellen zu finden: neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem UNO-Pakt II  kennen beispielsweise auch die Afrikanische, die Amerikanische und die Europäische Menschenrechtskonvention eine Garantie der richterlichen Unabhängigkeit .8  Zum besseren Verständnis der einzelnen Ansprüche kann die richterliche Unabhängigkeit nach schweizerischem Verständnis grob zweigeteilt werden: in einen institutionenbezogenen  und  in  einen  personenbezogenen  Teilgehalt .9  Institutionelle richterliche Unabhängigkeit bedeutet  Unabhängigkeit  der  Gerichte  von  den  anderen  Staatsgewalten . Sie lässt sich auf das Rechtsstaatsprinzip zurückführen .10 Der eigentliche Kern der richterlichen Unabhängigkeit findet sich jedoch in ihrem personenbezogenen  Gehalt,  in  der  persönlichen Unabhängigkeit der einzelnen Richterinnen und Richter .11 Hier widerspiegelt sich das Postulat der richterlichen Unparteilichkeit . Die  einzelnen Richterinnen und Richter sollen in der konkreten Entscheidfindung frei  von jeglichen sachfremden Einflüssen und völlig unvoreingenommen und unparteiisch urteilen .12 1.3 ricHterausWaHl Falls sachfremde Einflüsse durch andere staatliche Institutionen zu erwarten sind, ist  zuerst einmal die institutionelle Komponente der richterlichen Unabhängigkeit anKiener (Fn . 5), s. 52 f . Kiener (Fn . 5), s. 1, mit weiteren Nachweisen; Axel Tschentscher, Demokratische Legitimation der  dritten Gewalt, Tübingen 2006, S . 150 . 8  Art . 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10 . Dezember 1948; Art . 14 Ziff . 1  des  Internationalen  Pakts  über  bürgerliche  und  politische  Rechte  vom  16 .  Dezember  1966;  Art . 26 der Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27 . Juni 1981; Art . 8  Abs . 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention vom 22 . November 1969; Art . 6 Ziff . 1  der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten . 9  Kiener (Fn . 5), s. 52 f .; Thomas Stadelmann, Aspekte richterlicher Unabhängigkeit in der Schweiz:  de iure und de facto, abrufbar unter http://www .gewaltenteilung .de/stadelmann .htm (Zugriff:  27 . April 2011);    René A. Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2 . Aufl ., Basel 2009, S . 555 . 10  Kiener (Fn . 5), S . 55; Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S . 9; Kurt  Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960, S . 56 f . 11  Kiener (Fn . 5), s. 13. 12  Kiener (Fn . 5), s. 13; Riedel (Fn . 3), S . 9; Rhinow/Schefer (Fn . 9), S . 596; BGE 114 Ia 50 E . 3b und  c, S . 54 f . 6  7 

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gesprochen . Es sind die in institutioneller Hinsicht notwendigen Vorkehrungen zu  treffen,  damit  die  Rechtsprechung  nicht  durch  andere  staatliche  Behörden  beeinflusst wird .13 So verhält es sich auch bei der Richterauswahl .14 Der Grundsatz der  richterlichen Unabhängigkeit verlangt, dass die Richterinnen und Richter ihre Arbeit völlig unabhängig von ihrem Wahlorgan verrichten .15 Es ist jedoch naheliegend  und auch völlig unbestritten, dass das Verfahren der Richterauswahl zu Abhängigkeiten führt .16 Je nach Wahlorgan, Gewichtung der Auswahlkriterien und Amtsdauer  können diese Abhängigkeiten aber sehr unterschiedlich stark ausfallen . Je stärker die  Abhängigkeiten sind, desto grösser ist die Gefahr der Beeinträchtigung der Unparteilichkeit der einzelnen Richterinnen und Richter .17 Die Modalitäten der Richterauswahl sind demnach so zu regeln, dass nicht nur die institutionelle richterliche  Unabhängigkeit bestmöglich verwirklicht und gesichert wird, sondern letztlich insbesondere die Einflüsse auf die richterliche Unparteilichkeit so schadlos wie möglich  sind . 2  rIchterauswahl  In  der schweIz Das Auswahlverfahren für die Gerichte des Bundes und der Kantone gestaltet sich  im Grossen und Ganzen sehr einheitlich, so dass von einem typischen Schweizer  Auswahlmodell gesprochen werden kann . Im Folgenden soll dieses Schweizer Modell anhand der drei Modalitäten Wahlorgan, Auswahlkriterien und Amtsperiode genauer umschrieben werden . Zuerst erfolgt eine Beschreibung der normativen Ausgestaltung der Auswahlverfahren . Anschliessend sollen die faktischen Gegebenheiten  der Richterauswahl aufgezeigt werden . 2.1 de iure Typisches Wahlorgan für die Gerichte ist in der Schweiz die Legislative .18 Die traditionellen Volkswahlen sind vor allem für die untersten kantonalen, in kleinen Kantonen auch für die oberen Gerichte, nach wie vor die Regel .19 Die Richterinnen und  Richter des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts  werden  durch  das  Parlament  bestimmt .20  Die  kantonalen  Parlamente  sind  mittlerweile  auch  für  die  Mehrheit  der  oberen  kantonalen  Gerichte  Wahlorgan .21  Stadelmann (Fn . 9); Kiener (Fn . 5), s. 13. Kiener (Fn . 5), s. 255. Kiener (Fn . 5), s. 255. Kiener (Fn . 5), s. 255; Stadelmann (Fn . 9) . Vgl . Rhinow/Schefer (Fn . 9), S . 555 . Vgl . Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter, Übersicht über die Stellung der Richterinnen und Richter in der Schweiz (nachfolgend: Übersicht SVR), abrufbar unter    http://www .svrasm .ch/pdf/stellung_der_richter_d .pdf (Zugriff: 27 . April 2011) . 19  Vgl . Übersicht SVR . 20  Siehe Art . 168 BV, Art . 5 Bundesgesetz über das Bundesverwaltungsgericht (VGG, SR 173 .32)  sowie  Art . 42  Abs . 1  Bundesgesetz  über  die  Organisation  der  Strafbehörden  des  Bundes   (StBOG, SR 173 .71) .  21  Vgl . Übersicht SVR . 13  14  15  16  17  18 

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Die Wahl durch das Volk oder dessen parlamentarische Vertretung soll der richterlichen  Tätigkeit  zu  einer  besonderen  demokratischen  Legitimation  verhelfen  und  eine volksverbundene Justiz fördern .22 Das Ideal der im Volk verwurzelten Richterschaft schlägt sich auch bezüglich der  Auswahlkriterien nieder: Das Richteramt soll jeder Bürgerin und jedem Bürger zugänglich sein .23 Für viele Richterstellen bildet denn auch die Aktivbürgerschaft die  einzig gesetzlich geregelte Wahlvoraussetzung .24 Sachliche Anforderungen, wie eine  juristische Ausbildung, ausreichend Berufserfahrung oder soziale Kompetenz fehlen  in der Schweiz auf gesetzlicher Ebene weitgehend . Richterinnen und Richter werden in der Schweiz in der Regel auf eine Amtsperiode von vier Jahren gewählt, in seltenen Fällen beträgt die Amtsdauer drei oder sechs  Jahre .25 Nach Ablauf der Amtszeit müssen sich die Richterinnen und Richter der  Wiederwahl stellen . Die kurzen Amtsperioden und das Erfordernis der Wiederwahl  erklären sich ebenfalls durch eine besondere Gewichtung des Demokratieprinzips .26  Die richterliche Tätigkeit soll immer wieder aufs Neue durch das Volk oder dessen  parlamentarische Vertretung legitimiert werden .27 2.2 de Facto Faktisch  obliegt  die  Auswahl  der  Richterinnen  und  Richter  unabhängig  von  der  Wahlbehörde in fast allen Fällen den politischen Parteien .28 In den meisten Gerichtsbezirken werden die Richtersitze im Sinne der parteipolitischen Kräfteverhältnisse  unter den im Parlament vertretenen Parteien aufgeteilt .29 Kandidatinnen und Kandidaten für frei werdende Richterstellen werden durch diejenige Partei, die gemäss  freiwilligem  Proporz  an  der  Reihe  ist,  vorgängig  ausgewählt  und  der  offiziellen  Wahlbehörde zur Wahl vorgeschlagen .30 Eine eigentliche Wahl durch das Volk oder  das Parlament findet oft gar nicht statt, weil nach dem parteiinternen Auswahlverfahren in der Regel nur so viele Kandidierende vorgeschlagen werden, wie Richterstellen zu besetzen sind .31  Das Fehlen gesetzlich vorgeschriebener sachlicher Auswahlkriterien stärkt diese  dominante  Stellung  der  politischen  Parteien  zusätzlich .  Die  Parteien  sind  weitgehend frei, die Kandidierenden aufgrund politischer Kriterien zu beurteilen . Es wird  22  Kiener (Fn . 5), s. 256 f . 23  Martin Killias, Richterauswahl nach „fachlichen“ statt „politischen“ Kriterien, in: René Schuhmacher (Hrsg .), Geschlossene Gesellschaft?, Zürich 1993, S . 171–174, S . 173 . 24  Vgl . Übersicht SVR . 25  Vgl . Übersicht SVR . 26  Kiener (Fn . 5), s. 281; Stadelmann (Fn . 9); Regina Kiener, Sind Richter trotz Wiederwahl unabhängig?, plädoyer 19 (2001), Heft 5, S . 37 . 27  Stadelmann (Fn . 9). 28  Vgl .  Übersicht  SVR;  Karl  Spühler, Der  Richter  und  die  Politik,  Zeitschrift  des  Bernischen  Juristenvereins  130  (1994),  s. 31 f .;  Stadelmann  (Fn . 9);  Stefan  Pöder, Richterwahlen:  Öffentliche  Tagung  in  Luzern  vom  7 .  November  2003,  Anwaltsrevue  7  (2004),  Heft  3,  S . 104;  Mark M.  Livschitz, Die Richterwahl im Kanton Zürich, Zürich 2002, S . 248 ff . und S . 255 . 29  Vgl . Übersicht SVR; Kiener (Fn . 5), s. 269. 30  Vgl . Übersicht SVR . 31  Tschentscher (Fn . 7), S . 273 f .; Livschitz (Fn . 28), S . 249, S . 255 .

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zwar von Seiten der politischen Parteien betont, dass auch sachliche Kriterien im  Auswahlverfahren berücksichtigt würden . Doch es muss festgehalten werden, dass  die  Auswahlverfahren  der  Parteien  oft  nicht  nachvollziehbar  und  untransparent  sind .32 Politische Kriterien spielen bei der Auswahl der Kandidierenden ohne Zweifel eine sehr zentrale Rolle .33 Zudem ist die Mitgliedschaft in einer Partei eine in der  Regel unabdingbare Voraussetzung für ein Richteramt .34 Damit verbunden sind für  die allermeisten Richterinnen und Richter eine an ihre jeweilige Partei zu entrichtende jährliche Abgabe, die je nach Partei sehr hoch sein kann .35  Die kurzen Amtsperioden verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl führen  zu einer erhöhten Abhängigkeit der Gerichte von den Wahlbehörden und faktisch  in vielen Fällen vor allem von den politischen Parteien .36 Das Wahlorgan oder eben  in erster Linie die politischen Parteien bestimmen nach sehr kurzer Zeit immer wieder über die berufliche Zukunft der einzelnen Richterinnen und Richter . Das birgt  die Gefahr in sich, dass von Seiten des Wahlorgans oder der Parteien die Rechtsprechung  zu  beeinflussen  versucht  wird .  Die  Druckversuche  im  Zusammenhang  mit  den bundesgerichtlichen Entscheiden zum Einbürgerungsverfahren oder zur Antirassismus-Strafnorm belegen, dass diese Gefahr keine rein theoretische ist .37 2.3 kritik Unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Richterauswahl in der Schweiz zu beanstanden . Die Thematik der Richterauswahl bildet denn auch immer wieder Gegenstand  rechtswissenschaftlicher  Auseinandersetzungen  in  der  Schweiz .  Mehrheitlich  werden der starke Einfluss der Parteien und das Erfordernis der Wiederwahl nach kurzer  Amtszeit bemängelt und eine Modifizierung des Auswahlsystems als notwendig erachtet .38 Die Kritik lässt sich unter dem Stichwort der Politisierung der Richterauswahl zusammenfassen . Es gibt jedoch auch gewichtige Gegenstimmen die sich für  das Schweizer Auswahlmodell stark machen und in der politisierten Richterauswahl  viele positive Aspekte sehen .39 Auf die Argumente der Befürworter der Politisierung  32  Livschitz (Fn . 28), S . 255; Stadelmann (Fn . 9) . 33  Spühler  (Fn . 28), s. 31 f .;  Kiener  (Fn . 5), s. 269 ff .;  Livschitz (Fn . 28),  S . 255;  Pöder  (Fn . 28), s. 104 f .; Hansjörg Seiler, Richter als Parteivertreter, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz  ins  Blickfeld:  Ausgewählte  Beiträge  aus  der  Schweizer  Richterzeitung  2005–2008,  Bern  2009,  S . 17–27, S . 17 f . 34  Nicolas Queloz, Relations entre juges et partis politiques: s’agit-il de corruption?, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz ins Blickfeld: Ausgewählte Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 41–52, S . 46; Kiener (Fn . 5), s. 269 ff .; Pöder (Fn . 28), s. 104 f . 35  Bis zu fünf Prozent des Jahresgehalts oder bis zu 15 000 Schweizer Franken . Vgl . dazu Übersicht  SVR . 36  Kiener (Fn . 26), S . 39 f .; Kiener (Fn . 5), S . 285 ff .; Stadelmann (Fn . 9) . 37  Vgl . NZZ 29 .08 .2004, S . 1, S . 15; vgl . für weitere Nachweise Kiener (Fn . 5), S . 241 . 38  Stadelmann  (Fn . 9); Queloz  (Fn . 34),  S . 46 f .; Kiener  (Fn . 5), s. 267 ff .  und  s. 285 ff .; Hans Peter Walter, Interne  richterliche  Unabhängigkeit,  in:  Peter Albrecht/Stephan Gass  (Hrsg .),  Justiz  ins  Blickfeld: Ausgewählte Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 83– 101, s. 99 ff .; Spühler (Fn . 28), S . 31 ff . und S . 37 . 39  So etwa Seiler (Fn . 33) und Killias (Fn . 24) . Dezidiert zustimmend Peter Albrecht, Richter als (po-

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wird später noch einzugehen sein .40 Zunächst sollen unter Rückgriff auf Überlegungen aus der normativen Ethik zur Unparteilichkeit Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit hergeleitet werden, die wiederum Folgerungen für die konkrete Ausgestaltung des Auswahlverfahrens ermöglichen sollen . 3   unparteIlIchkeIt  In  der ethIk –   folGerunGen  für  dIe  rIchterlIche unparteIlIchkeIt 3.1 unparteilicHkeit in der etHik Durch David Hume und Adam Smith wird Unparteilichkeit im 18 . Jahrhundert zu  einem Grundbegriff der normativen Ethik .41 Adam Smith entwirft das Gedankenkonstrukt des wohlwollenden und wohlinformierten idealen Beobachters, dessen Bewertungen überperspektivisch und unparteiisch sind .42 Dieser ideale Beobachter hat  sich  emanzipiert  von  den  natürlichen  Täuschungen  der  Selbstliebe  und  ist  allen  Wesen gleich nah .43 Der Begriff der Unparteilichkeit nimmt seither in vielen ethischen Theorien einen zentralen Platz ein . Auffallend ist dabei die Engführung von  Unparteilichkeit und Gerechtigkeit: Mittels Unparteilichkeit soll eine völlig objektive Betrachtungsweise ermöglicht werden, von der aus gerechte Urteile gefällt werden können .44 Diese Vorstellung ist auch im juristischen Begriff der Unparteilichkeit  anzutreffen .45 Unparteilichkeit im juristischen Sinne war und ist stets eng verknüpft  mit grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen, soll doch durch sie seit alters her  vor allem eines erreicht werden: gerechte und faire Gerichtsverfahren, die keine Partei benachteiligen oder bevorzugen und im Ergebnis zu gerechten Urteilen führen .46  Es liegt deshalb nahe, für eine Untersuchung der richterlichen Unparteilichkeit auf  Kriterien der Unparteilichkeit der Ethik zurückzugreifen . Die von Dieter Birnbacher  mit Rückgriff auf Richard Brandt vorgenommene Rekonstruktion des idealen Beobachters  bei  Adam  Smith  dient  uns  dabei  als  Ausgangslage .47  Dieser  ideale  Beobachter hat folgende Bedingungen zu erfüllen:48 a)  Der ideale Beobachter muss erwachsen, gesund und nicht psychisch gestört sein . b)  Er  muss  über  die  Handlungen,  ihre  Hintergründe  und  Umstände  sowie  über  ihre Konsequenzen umfassend informiert sein . c)  Er muss bei seinem Urteil seine Fähigkeit zur Empathie, seine Intelligenz und  seine  lebhafte  Vorstellungskraft  einsetzen .  Er  muss  in  einer  gelassenen  Stim-

40  41  42  43  44  45  46  47  48 

litische) Parteivertreter?, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz ins Blickfeld: Ausgewählte  Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 29–39 . Siehe unter 5 . Özmen (Fn. 1), s. 1376. Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S . 177 ff .; Amartya Sen, The Idea of  Justice, London 2009, S . 124 ff .; Özmen (Fn. 1), s. 1376; Birnbacher (Fn . 2), s. 415 f . Smith (Fn . 42), S . 177 ff .; Birnbacher (Fn . 2), s. 416; Sen (Fn . 42), S . 125 f . Özmen (Fn. 1), s. 1376 ff . Özmen (Fn. 1), s. 1376 ff . Özmen (Fn. 1), s. 1376; riedel (Fn . 3), S . 9 . Birnbacher (Fn . 2), s. 416; Richard Brandt, Ethical Theory, Englewood Cliffs 1959, S . 173 f . Birnbacher (Fn . 2), s. 416 .

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mung sein, d . h . frei von Affekten wie Ärger, Angst, Kummer, Euphorie oder  Depression . Er muss so unparteiisch wie möglich urteilen . 3.2 FolGerunGen Für die ricHterlicHe unparteilicHkeit Vor dem Hintergrund des Verfassungsgrundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit  lassen sich aus den Überlegungen zum idealen Beobachter verschiedene Kriterien  für die richterliche Unparteilichkeit herleiten: a)  Fachliche Qualifikation49 ist  eine  unerlässliche  Voraussetzung  für  unparteiisches  juristisches  Entscheiden .  Sie  dient  der  bestmöglichen  Ausrichtung  des  Urteils  am Recht und verhindert die Berücksichtigung sachfremder und unsachlicher  Kriterien . Richter soll nur werden können, wer über fundierte Kenntnisse des  Rechts und der juristischen Methodik verfügt und dem Sachverhalt die für die  Entscheidfindung  wesentlichen  Informationen  entnehmen  kann .  Juristischen  Laien fällt die Abwehr sachfremder Einflüsse schwer, weshalb sie wenig geeignet  sind für Richterstellen . b)  Ebenfalls unabdingbar für eine unparteiische Rechtsprechung ist eine besondere  soziale Kompetenz50 .  Angesprochen  sind  Eigenschaften  wie  Menschenkenntnis,  Selbstkenntnis, Einfühlungsvermögen, Realitätssinn und eine gewisse Lebenserfahrung . Von grosser Bedeutung in diesem Zusammenhang ist zudem die Fähigkeit zur Emanzipation von eigenen Positionen und Vorverständnissen .  c)  Jegliche  Abhängigkeiten  sind  der  richterlichen  Unparteilichkeit  schädlich .  Die  Möglichkeit der Ausübung von Druck auf die einzelnen Richterinnen und Richter  sowohl  durch  gerichtsexterne  als  auch  durch  gerichtsinterne  Kräfte  ist  zu  verhindern . 4  folGerunGen  für  dIe rIchterauswahl 4.1 iM allGeMeinen Der Rückgriff auf die Theorie des idealen Beobachters und die daraus hergeleiteten  Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit lassen bestimmte Folgerungen für das  Verfahren der Richterauswahl zu: a)  Die  Richterinnen  und  Richter  sind  in  erster  Linie  aufgrund  ihrer  fachlichen  Qualifikation und ihrer sozialen Kompetenz zu beurteilen . Das Verfahren der  Auswahl sollte sich deshalb an vorgegebenen sachlichen Auswahlkriterien orientieren . b)  Die Wahlbehörde sollte über genügend fachliche Kompetenz verfügen, um die Richterinnen und Richter hinsichtlich der sachlichen Auswahlkriterien bewerten zu  können . c)  Die  Richterinnen  und  Richter  dürfen  nicht  in  Abhängigkeiten  gegenüber  der  Wahlbehörde  verfallen .  Es  ist  zu  verhindern,  dass  von  externer  oder  interner  49  Vgl . Kiener (Fn . 5), S . 263 ff . 50  Vgl . Kiener (Fn . 5), S . 265 f .; Livschitz (Fn . 28), S . 263 f .

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Seite Druck auf die Gerichte oder die einzelnen Richterinnen und Richter ausgeübt werden kann . Das typische Schweizer Auswahlmodell kommt diesen Anforderungen nur ungenügend  nach .  Die  das  Wahlverfahren  dominierenden  politischen  Parteien  betonen  zwar, dass sie auch sachliche Kriterien in der Auswahl berücksichtigen würden, doch  wird auch von den Befürwortern des vorherrschenden Modells nicht bestritten, dass  sich die Richterauswahl primär an politischen Kriterien orientiert .51 Die Sicherstellung einer fachlich und sozial kompetenten Richterschaft wird dadurch erschwert .  Diese  Politisierung  der  Justiz  führt  sodann  insbesondere  in  Verbindung  mit  den  kurzen Amtsperioden und dem Erfordernis der Wiederwahl zu übermässigen Abhängigkeiten .52  Das  schweizerische  Modell  ist  deshalb  in  verschiedener  Hinsicht  modifizierungsbedürftig . 4.2 ausWaHlkriterien Die Kriterien der fachlichen Qualifikation und der sozialen Kompetenz sind zwingend  als die massgebenden Auswahlkriterien gesetzlich festzulegen . Auch wenn sachliche  Kriterien de facto zumeist immerhin mitberücksichtigt werden, ist eine rechtliche  Verankerung unabdingbar, um diesen Kriterien zu der ihnen gebührenden vorrangigen Stellung im Auswahlverfahren zu verhelfen . Darüber hinaus ist gleichzeitig gesetzlich anzuordnen, dass keine sachfremden Kriterien, insbesondere keine politischen Kriterien, herangezogen werden dürfen für die Richterauswahl . Durch diese  Massnahmen  kann  einer  Politisierung  meines  Erachtens  bereits  erheblich  vorgebeugt werden . 4.3 WaHlorGan Die Gefahr der Politisierung lässt sich jedoch auch durch die konsequente und kompetente Anwendung sachlicher Kriterien nicht aus der Welt schaffen . Unabhängig  vom Wahlorgan drängt sich deshalb zunächst die Entmachtung der Parteien auf . Die  vorgängige Kandidatenauswahl durch die Parteien sollte in jedem Fall aufgegeben  werden . Sodann ist ein Wahlorgan einzusetzen, das so gut wie möglich für die konsequente und kompetente Berücksichtigung der sachlichen Kriterien sorgen kann .  Gleichzeitig sollen durch das Wahlorgan keine Abhängigkeiten entstehen können  und jegliche Möglichkeit der Ausübung von Druck ist zu verhindern . Nachfolgend  sollen verschiedene mögliche Wahlorgane bezüglich dieser Kriterien beurteilt werden .

51  Seiler (Fn . 33), s. 23 ff .; Albrecht (Fn . 39), S . 35 . 52  Stadelmann (Fn . 9);  Kiener  (Fn . 26),  S . 40;  Kiener  (Fn . 5), S . 269 ff .,  S . 285 ff .;  Queloz (Fn . 34),  S . 46 f .; Spühler (Fn . 28), S . 31 f .

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4 .3 .1  Volk Eine Volkswahl der Richterschaft ist hinsichtlich der Sicherstellung der fachlichen  und sozialen Qualifikation der Richterschaft wenig geeignet . Das Wahlorgan ist erstens zu gross, als dass eine sachliche Auseinandersetzung und Beratung bezüglich  der einzelnen Bewerbungen stattfinden könnte . Zweitens darf angezweifelt werden,  ob  sich  die  Aktivbürgerschaft  als  fachlich  genügend  kompetent  erweist,  um  eine  sachliche Bewertung vorzunehmen . Ebenfalls ungeeignet scheint die Volkswahl, insbesondere bei kurzen Amtsperioden und dem Wiederwahlerfordernis, hinsichtlich  der Verhinderung von Abhängigkeiten und des Ausübens von Druck auf die einzelnen Richterinnen und Richter . Öffentliche Empörung ist ein sehr effizientes Mittel  des Drucks . 4 .3 .2  Parlament Das Parlament ist sicher besser geeignet als das Volk, die fachliche und soziale Qualifikation der Gerichte zu garantieren .53 Allerdings könnten je nach Grösse des Parlaments auch hier Schwierigkeiten entstehen bei der vertieften sachlichen Auseinandersetzung mit den Kandidierenden . Auch ist nicht per se gewährleistet, dass das  Parlament überhaupt über die notwendige Fachkompetenz verfügt . Das Hauptproblem beim Parlament als Wahlorgan besteht meines Erachtens aber darin, dass es  sich  um  eine  Behörde  handelt,  die  primär  durch  parteipolitische  Auseinandersetzungen und Interessenpolitik geprägt ist . Selbst bei gesetzlich klar definierten Auswahlverfahren nach sachlichen Kriterien wird die Gefahr einer verdeckten (partei-)  politischen Einflussnahme auf die Gerichte bei diesem Wahlorgan stets sehr hoch  sein .54 4 .3 .3  Exekutive Die Berücksichtigung sachlicher Kriterien sollte bei einer Wahl durch die Exekutive  relativ gut gewährleistet sein, da es sich um ein individuell überblickbares Gremium  handelt, das zudem auf Expertenwissen aus der Verwaltung zurückgreifen kann .55  Doch auch die Wahl durch die Exekutive bringt die bereits beim Parlament angesprochene problematische politische Komponente mit sich . Insbesondere in Regierungssystemen, die nach dem Oppositionsprinzip funktionieren, erscheint die Auswahl  durch  die  Exekutive  als  sehr  ungeeignet  zur  Sicherstellung  der  richterlichen  Unabhängigkeit . Da die Justiz gerade auch die wichtige Aufgabe hat, Konflikte zwischen der Regierung bzw . Verwaltung und den Bürgern als unabhängige Instanz zu  entscheiden, stellt eine Wahl der Richterschaft durch die Exekutive ebenfalls eine  grosse Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit dar .56

53  Kiener (Fn . 5), S . 257 . 54  Kiener (Fn . 5), s. 257 f .;  Johann  Braun, Einführung  in  die  Rechtsphilosophie,  Tübingen  2006,  S . 391 f . 55  Kiener (Fn . 5), S . 259 . 56  Stadelmann (Fn . 9); Kiener (Fn . 5), S . 258 f .

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4 .3 .4  Gerichte Die Auswahl durch die Gerichte selbst, die sogenannte Kooptation oder richterliche  Selbstergänzung, ist sehr zu begrüssen hinsichtlich der Sicherstellung einer fachlich  und sozial kompetenten Richterschaft . Die Kooptation bewahrt ausserdem die Unabhängigkeit  der  Justiz  vor  Einmischungen  anderer  Behörden  und  Parteien  und  kann so einer Politisierung Vorschub leisten . Sie kann jedoch im Gegenzug das Entstehen gerichtsinterner Hierarchien und Abhängigkeiten fördern .57 Weil Richterinnen und Richter auch durch gerichtsinternen Druck an Unparteilichkeit einbüssen  können,  scheint  die  Kooptation  nicht  vollumfänglich  geeignet  zur  Sicherstellung  der richterlichen Unparteilichkeit . Problematisch ist insbesondere die fehlende Kontrolle durch externe Kräfte . 4 .3 .5  Richterwahlausschüsse Diejenigen Wahlorgane, die für eine bessere Berücksichtigung sachlicher Kriterien  stehen, bergen die Gefahr einer erheblichen Politisierung oder der Entstehung gerichtsinterner Abhängigkeiten in sich . Wünschenswert wäre demnach eine Wahlbehörde, die einerseits sicherstellt, dass nur fachlich qualifizierte und sozial kompetente Richterinnen und Richter gewählt werden, andererseits jedoch keine übermässigen Abhängigkeiten begründet und eine adäquate externe Kontrolle zulässt . Richterwahlausschüsse, bestehend aus verschiedenen fachlich versierten Personen, scheinen diesen Ansprüchen relativ gut zu entsprechen . Über die Zusammensetzung dieser Behörde lässt sich freilich streiten . Anzustreben wäre eine ausgeglichene  Besetzung  aus  qualifizierten  Personen  der  Richterschaft,  der  Anwaltschaft  sowie der Rechtswissenschaft . Denkbar wäre auch der Beizug politischer oder zivilgesellschaftlicher Vertreter, sozusagen als gesellschaftliches Korrektiv zum Fachwissen  der  Juristen .  Durch  die  Mitwirkung  politischer  und  gesellschaftlicher  Kräfte  würde auch die demokratische Legitimation mitberücksichtigt . Es sollte jedoch darauf  geachtet  werden,  dass  nicht  nur  die  grossen  Parteien  sondern  auch  Vertreter  kleinerer Parteien und insbesondere auch Vertreter von nicht-parlamentarischen, zivilgesellschaftlichen  Interessenverbindungen,  wie  bspw .  Flüchtlingswerken  oder  Umweltverbänden, berücksichtigt würden . Die Einführung von Richterwahlausschüssen wird in der Schweiz kaum diskutiert . Dies ist angesichts der aufgezeigten Vorteile dieses Wahlorgans sehr zu bedauern . Prüfenswert ist die Einführung von Richterwahlausschüssen auf jeden Fall . 4.4 aMtsdauer Ebenfalls zwingend modifizierungsbedürftig ist das System der kurzen Amtsperioden  und  der  Wiederwahl .  Der  Möglichkeit  der  Druckausübung  wird  durch  diese  schweizerische Besonderheit erheblich Vorschub geleistet .58 Eine Wahl auf Lebenszeit  scheint  die  richterliche  Unparteilichkeit  ideal  abzusichern .59  Doch  gerade  im  57  Kiener (Fn . 5), S . 260 . 58  Kiener (Fn . 26), S . 39 f .; Kiener (Fn . 5), S . 285 ff .; Stadelmann (Fn . 9) . 59  Spühler (Fn . 28), S . 29 .

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Fall einer politischen Wahlbehörde kann die Wahl auf Lebenszeit dazu führen, dass  die Wahlorgane versteckt politische Kriterien in ihre Entscheidung einfliessen lassen, um den Gang der Rechtsprechung längerfristig in gewünschte Bahnen zu lenken .60 Eine Wahl auf Lebenszeit wäre in der Schweiz aufgrund der tief sitzenden  Furcht vor einer elitären und abgeschotteten Richterkaste61 ohnehin kaum durchsetzbar . Zumindest eine Verlängerung der Amtsperioden scheint dagegen dringend  angebracht . Denkbar wäre auch die Wahl auf eine einmalige, relativ lange Amtszeit  von 10 bis 20 Jahren, wodurch das Ärgernis der Wiederwahl wegfallen würde . 5  arGumente  für  eIne  polItIsIerte JustIz In  der  dominanten  Stellung  der  Parteien  und  der  besonderen  Gewichtung  politischer  Auswahlkriterien  sehen  einzelne  Autoren  gerade  besondere  Vorzüge  des  Schweizerischen Modells gegenüber anderen Auswahlverfahren .62 Von dieser Seite  wird nicht geleugnet, dass die politischen Parteien einen erheblichen Einfluss auf die  Richterauswahl haben, mithin eine Politisierung der Richterauswahl stattfindet . Es  wird aber bestritten, dass diese Politisierung negative Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit haben soll . Im Gegenteil sei die politische Vertretung der Gerichte nicht nur nicht schädlich, sondern nützlich und sinnvoll .63 Die Argumente für eine politisierte Justiz lassen sich folgendermassen zusammenfassen:  Da  die  richterliche  Tätigkeit  immer  auch  eine  schöpferische  Komponente beinhalte und der Richter in vielen Fällen sozusagen zum Ersatzgesetzgeber  mutiere, sei ein stures Festhalten am Ideal einer unpolitischen Justiz realitätsfremd .64  Weil nun Rechtsprechung eine eminent politische Tätigkeit sei, soll diese auch besonders demokratisch legitimiert werden .65 Die Wahl durch das Volk oder das Parlament sei der  beste Weg, diese Legitimation herzustellen .66 Weil die politischen Parteien sozusagen das Bindeglied zwischen Bürgern und Staat darstellten, die demokratische Legitimation folglich durch die Parteien vermittelt werde, sei es logisch und sachgerecht,  dass gerade die Parteien erheblichen Einfluss auf die Wahl der Richter nehmen würden .67 Eine Orientierung am Parteienproporz würde zudem sicherstellen, dass alle in  der Gesellschaft vorhandenen politischen Anschauungen im Gericht vertreten wären .68 Zu drei Hauptargumenten für eine politisierte Richterauswahl soll abschliessend Stellung genommen werden .

60  61  62  63  64  65  66  67  68 

Braun (Fn . 54), S . 391 f . Killias (Fn . 24), S . 173 . Albrecht (Fn . 39), S . 35; Killias (Fn . 24), s. 173; Seiler (Fn . 33), S . 23 f . Seiler (Fn . 33), S . 18 . Seiler (Fn . 33), S . 20 f . Albrecht (Fn . 39), S . 35; Seiler (Fn . 33), S . 22 . Seiler (Fn . 33), S . 23 . Albrecht (Fn . 39), S . 35; Seiler (Fn . 33), S . 23 . Killias (Fn . 24), S . 174; Seiler (Fn . 33), S . 24 .

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5.1 recHtsprecHunG als eMinent politiscHe tätiGkeit? Es ist grundsätzlich zu bestreiten, dass richterliche Entscheidfindung eine eminent  politische Tätigkeit ist . Auch wenn es zutrifft, dass die Rechtsfindung nicht völlig  normdeterminiert  ist,  sondern  in  vielen  Fällen  auch  Normkonkretisierung  und  Norm erweiterung betrieben wird, haben sich Richterinnen und Richter primär stets  an Wortlaut und Sinn des Gesetzes und an den Grundwerten der Rechtsordnung zu  orientieren .69  Sie  können  auch  im  Falle  eines  Ermessensspielraums  nicht  einfach  beliebig politische Wertungen vornehmen .70 Die richterliche Entscheidfindung ist  eine normgeleitete Tätigkeit und in erster Linie eine eminent rechtliche Tätigkeit . 5.2 politiscHe ricHterscHaFt? Jeder Richter und jede Richterin verfügt ohne Zweifel über eine eigene Weltanschauung und über eigene politische und soziale Wertmassstäbe . Alleine deshalb das Ideal  der unpolitischen Richterschaft aufzugeben, wäre jedoch ein schwerwiegender Fehler . Ideale sind da, um sich nach ihnen zu richten, ihnen bestmöglich zu entsprechen und in selbstkritischer Reflexion stets an einer noch besseren Entsprechung zu  arbeiten . Idealen kann nie völlig entsprochen werden, sie sind folglich nicht alleine  deshalb aufzugeben, weil ihre Verwirklichung als unmöglich erscheint . Ziel des Ideals  der  unpolitischen  Richterschaft  ist  also  nicht  die  völlige  Entpolitisierung  der  einzelnen Richter . Vielmehr soll jeder einzelne Richter und jede einzelne Richterin  diesem Ideal bestmöglich zu entsprechen versuchen und stets bedacht sein, keine  politischen Kriterien in die Entscheidfindung einfliessen zu lassen . Dies bedeutet  nicht,  dass  die  Richterinnen  keine  politische  Meinung  vertreten  dürfen,  nur  soll  diese Meinung keinen unsachlichen Einfluss auf die Entscheidfindung haben . Als  eminent wichtig stellen sich hierbei besondere soziale Kompetenzen heraus, wie die  Kenntnis der eigenen Ansichten und Wertungen und die Fähigkeit, so gut wie möglich von diesen Vorbelastungen zu abstrahieren .71 Das führt uns wieder zum idealen  Beobachter der Ethik, der von jeglicher Art der Voreingenommenheit abstrahieren  kann . Ebenfalls unabdingbar ist in diesem Zusammenhang eine besondere fachliche  Qualifikation, durch welche eine konsequente Ausrichtung am Recht und an den  darin enthaltenen Grundwerten sichergestellt werden soll . 5.3 leGitiMation durcH parteien? Die demokratische Legitimation der Rechtsprechung ergibt sich aus ihrer Rückführbarkeit auf das demokratisch erlassene Recht .72 Eine zusätzliche besondere demo69  Franz  Hasenböhler, Richter  und  Gesetzgeber  in  der  Schweiz,  in:  Richard Frank  (Hrsg .),  Unabhängigkeit und Bindungen des Richters in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und  in der Schweiz: Ergebnisse einer internationalen Richtertagung, 2 . Aufl ., Basel/Frankfurt a . M .  1997, S . 99–117, S . 109 . 70  Livschitz (Fn . 28), S . 262 . 71  Kiener (Fn . 5), S . 265 f . 72  Livschitz (Fn . 28), S . 261 .

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kratische Legitimation durch das Wahlorgan ist unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit nicht notwendig .73 Darüber hinaus muss aber auch ernsthaft  bezweifelt  werden,  dass  die  gewünschte  demokratische  Legitimation  gerade  durch die politischen  Parteien  gewährleistet  wird . Solange sich eine Mehrheit der  Bevölkerung nicht mit einer politischen Partei identifizieren kann, ist die Behauptung, die Richterauswahl durch die Parteien ermögliche eine ausgeglichene Vertretung aller relevanten politischen und weltanschaulichen Strömungen in den Gerichten, sehr gewagt .74 Zudem würde der Einzelne in der Praxis wohl nie vor einem in  politischer  Hinsicht  völlig  ausgeglichenen  Gericht  stehen .  Gerichte  zeichnen  sich  durch  kleine  Spruchkörper  aus,  nicht  selten  wird  auch  im  Einzelrichterverfahren  entschieden . Folglich scheitert eine ausgeglichene Besetzung der Gerichte hinsichtlich aller in der Gesellschaft vorhandenen politischen und sozialen Anschauungen  bereits an der begrenzten Grösse der Spruchkörper . 6  schlussfolGerunG Um dem Verfassungsgrundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gerecht zu werden,  sind die Richterauswahlverfahren in der Schweiz in verschiedener Hinsicht zu modifizieren . Erstens sind sachliche Auswahlkriterien gesetzlich zu verankern, die ermöglichen, dass nur fachlich und sozial besonders kompetente Personen in die Gerichte gewählt werden . Sodann sind Wahlorgane einzusetzen, die so gut wie möglich  für eine kompetente Anwendung dieser Auswahlkriterien sorgen und keinen Druck  auf die Richterinnen und Richter ausüben können . In dieser Hinsicht ist insbesondere die Errichtung von Richterwahlausschüssen zu prüfen . Und nicht zuletzt sollte  das System der kurzen Amtsperioden verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl aufgegeben werden .

73  Livschitz (Fn . 28), S . 261 f . 74  Vgl . die Nachweise bei Livschitz (Fn . 28), S . 260 ff .

tobias scHaFFner* unIverselle GleIchheIt  In huGo GrotIus’ lehre  vom   natürlIchen prIvatrecht Dieser  Beitrag  argumentiert  unter  Bezugnahme  auf  die  Rechtsphilosophie  Hugo  Grotius’  (1583– 1645), dass es ein materielles ethisches Prinzip gibt, welches das Recht notwendigerweise anstrebt: das  Ziel, den Rechtsfrieden zu erhalten . Der Rechtsfrieden ist zugleich ein kollektives Ziel der Bevölkerung und ein individuelles Ziel jedes Einzelnen . Zur Orientierung auf dieses Ziel dient dem Einzelnen unter anderem das Gebot, die natürlichen Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und  Freiheit aller anderen Menschen zu achten . Unter dem Aspekt dieser natürlichen Rechte sind alle  Menschen gleich, es handelt sich also um eine universelle Gleichheit . Der Schutz dieser Gleichheit  durch das Privatrecht (und Strafrecht) vermag nur deshalb universell zu sein, weil das Privatrecht von  gewissen  persönlichen  Eigenschaften  wie  Alter  oder  Staatsangehörigkeit  absieht,  d . h .  von  Eigenschaften, welche Eignungskriterien für die politischen Rechte des öffentlichen Rechts darstellen . Die  Einteilung des Rechts in Privatrecht und öffentliches Recht erscheint letztlich selbst als eine notwendige Voraussetzung, um das Ziel der universellen Gleichheit und damit des Rechtsfriedens zu garantieren .

1  eInleItunG Dieser Beitrag zur Tagung „Unparteilichkeit und Universalisierung“ untersucht das  dem natürlichen Privatrecht zugrundeliegende Prinzip der Gleichheit . Dies macht  eine  Klärung  des  Verhältnisses  zwischen  Privatrecht  einerseits  und  Strafrecht  und  öffentlichem Recht andererseits erforderlich . Dabei will ich folgenden Fragen nachgehen: Gibt es ein materielles ethisches Prinzip, das in allen drei dieser Rechtsbereiche gilt? Oder haben diese Rechtsbereiche nur ihre Quelle in der Gesetzgebung, ihre  Rechtsform, gemeinsam? Falls es ein solches Prinzip gibt, ist es in dem Sinn universell, dass es für jede Rechtsordnung gilt? Und in welchem Verhältnis steht das privatrechtliche Gleichheitsprinzip zu ihm? Ich werde mich im ersten Teil (Ziff . 2) zunächst der den drei Rechtsbereichen  (scheinbar) gemeinsamen Rechtsform oder -quelle zuwenden, wobei ich mich aus  Platzgründen auf eine kritische Diskussion des Gesetzesvoluntarismus beschränke  (Ziff . 2 .1) . Dieser sieht in der Rechtsquelle die einzige universelle Eigenschaft des  Rechts: Alles Recht gründet im Willen des Gesetzgebers . Wie ich unter Rückgriff auf  die Naturrechtslehre von Hugo Grotius (1583–1645) zeigen werde, gibt es auch ein  materielles ethisches Prinzip, welches alle Rechtsgebiete überspannt: das Rechtsziel  des Gemeinwohls (Ziff . 2 .2) . Diese Behauptung macht eine kurze Auseinandersetzung mit dem analytischen Rechtspositivismus H .L .A . Harts erforderlich, denn dieser weist die Identifizierung des Rechts unter Bezugnahme auf ein ethisches Prinzip  wie das Gemeinwohl zurück (Ziff . 2 .3) . Wie sich zeigen lässt, sind Harts und Grotius’ unterschiedliche Auffassungen über das Ziel des Rechts letztlich auf ein unterschiedliches  Verständnis  der  Aufgabe  der  Rechtsphilosophie  zurückzuführen  * 

Ich möchte mich bei den Organisatoren der Tagung, Herrn Prof . Dr . Klaus Mathis und Frau Dr .  Julia Hänni, den TagungsteilnehmerInnen, meinen Doktoratsbetreuern, Herrn Dr . Nigel Simmonds und Frau Dr . Amanda Perreau-Saussine, meinem Freund Christoph Haar und meiner  Partnerin Stephanie Motz für Anregungen und Kritik bedanken .

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Tobias Schaffner

(Ziff . 2 .4) .  Für  Grotius  ist  die  Rechtsphilosophie  Teil  der  praktischen  Philosophie  und damit primär am menschlichen Handeln interessiert . Bei der Suche nach einem ethischen Prinzip, welches die Rechtsbereiche umspannt und universelle Geltung beanspruchen kann, ist die Grotianische Auffassung  der Rechtsphilosophie aus zwei Gründen vorzuziehen . Der erste betrifft die Art von  ethischen Prinzipien des Rechts, nach denen wir suchen: Prinzip – lateinisch principium  –  bedeutet  bei  Grotius,  anders  als  im  heutigen  juristischen  Sprachgebrauch,  nicht etwa Regel einer höheren Abstraktionsstufe, sondern Anfang oder Ausgangspunkt . Das principium im Sinne von Ausgangspunkt besteht in der praktischen Philosophie, zu der für Grotius auch das Recht gehört, in einem anzustrebenden Handlungsziel . Das dem Einzelnen vom Recht universell vorgeschriebene Handlungsziel  (principium) besteht in der Achtung und Förderung des Gemeinwohls und des Respekts der natürlichen Rechte aller Menschen (Ziff . 3) . Zweitens  ist  die  Unterteilung  des  Rechts  in  verschiedene  Rechtsbereiche  für  Grotius  nicht  eine  kontingente,  also  lediglich  mögliche  Einteilung,  sondern  eine  unabdingbare,  d . h .  moralisch notwendige  Voraussetzung,  um  das  Ziel  des  Gemeinwohls zu verwirklichen (Ziff . 4) . Das Gemeinwohl eines Staates umfasst das individuelle Wohl jedes einzelnen Bürgers und Fremden auf dem Staatsgebiet .1 Das individuelle Wohl bedarf mindestens des Schutzes vor Verletzung der Rechte auf Leben,  körperliche  Unversehrtheit,  Freiheit2  und  Aneignung  lebensnotwendiger  Güter  durch andere Privatpersonen . Der Schutz dieser Rechte ist nur effektiv, wenn er unabhängig von persönlichen Eigenschaften wie der politischen und religiösen Zugehörigkeit, der Tugendhaftigkeit, des Reichtums, des Geschlechts und Alters des Einzelnen  besteht .3 Mindestens gewisse dieser persönlichen Eigenschaften sind jedoch für das  öffentliche  Recht  gerade  entscheidend .  Es  berechtigt  beispielsweise  nur  Mündige  zur politischen Wahl, während im Privat- und Strafrecht Unmündige genau gleich  gegen Körperverletzungen geschützt sind wie Mündige . Damit das Recht alle Menschen gleich schützen kann, müssen somit jene Rechtsbereiche, welche den Schutz  gewähren (d . h . das Privat- und Strafrecht), vom öffentlichen Recht, in dem gewisse  persönliche Eigenschaften wie Alter oder Staatsangehörigkeit entscheidend sind, abgekoppelt werden . Nur dank dieser Abkoppelung und der Einschränkung auf einen  Lebensbereich kann das natürliche Privatrecht allen Menschen die im Titel erwähnte  universelle Gleichheit garantieren . Wir wollen uns nun also zuerst dem Gesetzesvoluntarismus und damit der Problematik  widmen,  wie  angesichts  der  Macht  des  Gesetzgebers,  die  Substanz  des  Rechts  jederzeit  ändern  zu  können,  universelle  Norminhalte  überhaupt  möglich 

1 

2  3 

Vgl . Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis (1625), neu übersetzt durch Walter Schätzel, Tübingen  1950, Buch I Kapitel IV § iv und Buch III Kapitel III §§ ii .1 und ii .2, wo Grotius sagt, der Staat  bestehe aus Gerichten und anderen Institutionen „wodurch die Fremden [exteri] und die {Bürger  unter sich}[privati inter se] ihr Recht verfolgen können .“) . Geschweifte Klammern, d . h . {}, zeigen  an, dass ich die von mir verwendete Übersetzung an diesen Stellen korrigiert oder verbessert  habe . Freiheit  im  Sinne  von  nicht  der  Autorität  einer  anderen  Privatperson  unterworfen  sein,  d . h .  kein Sklave sein, vgl . Hugo Grotius, Inleidinge tot de Hollandsche-Rechtsgeleerdheid, Den Haag  1631, Buch III Kapitel 1 § 12 und Kapitel 35; ders . (Fn . 1), Buch II Kapitel XVII § ii . Für die Liste dieser Rechte vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel II §§ i .4 und i .5 .

Universelle Gleichheit in Hugo Grotius’ Lehre vom natürlichen Privatrecht 

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sind .  Die  leichte  Veränderbarkeit  des  Rechts  suggeriert,  dass  nur  die  Rechtsform,  nicht der Rechtsinhalt universell ist . 2  form  des rechts  versus zweck  des rechts 2.1 GesetzesvoluntarisMus und die ForM des recHts Der  Gesetzesvoluntarismus  erachtet  alles  als  Recht,  was  der  Gesetzgeber  (in  den  meisten Ländern heute ein Parlament) unter Beachtung des Gesetzgebungsprozesses  als seinen Willen ausdrückt . Eine extreme Variante des Gesetzesvoluntarismus postuliert zusätzlich, dass lediglich jene Normen, die der staatliche Gesetzgeber erlassen  hat, Recht sind . Eine Norm ist Rechtsnorm nicht aufgrund ihres Zwecks oder Inhalts, sondern aufgrund ihres Ursprungs im Gesetzgebungsverfahren und letztlich  im Willen des Gesetzgebers . Der extreme Gesetzesvoluntarismus anerkennt keine  andere Rechtsquelle neben dem Willen des Gesetzgebers . (Zum wahren Kern des  moderaten Gesetzesvoluntarismus siehe Ziff . 3 .3, insb . Punkt (2) .) Das zweite Postulat hat eine tief greifende Folge für die Jurisprudenz: Es resultiert daraus, dass es methodisch falsch wäre, zur Ermittlung des Rechts den Inhalt  und Zweck einer Norm zu berücksichtigen, es sei denn, gewisse inhaltliche Schranken (z . B . Menschen- und Grundrechte) seien Voraussetzungen zur Erlassung gültiger Gesetze, wobei diese Schranken letztlich auch nur im Willen eines Gesetzgebers  (u . U . eines supranationalen Gesetzgebers oder der Parteien an einem völkerrechtlichen Vertrag) gründen und damit durch neuerlichen Willensentscheid wieder abgeschafft werden könnten . Für den Gesetzesvoluntarismus zählt also letztlich nur der  Ursprung der Rechtsnorm .4 Was bedeutet dies für das Tagungsthema der Universalisierung? Aus der Sicht des extremen Gesetzesvoluntarismus ist es durchaus möglich, dass  gewisse innerstaatliche Normen zu einem bestimmten Zeitpunkt universell – also in  allen Ländern – anerkannt sind, auch wenn vor dem Hintergrund der sich in den  Rechtsordnung niederschlagenden kulturellen Unterschiede vielleicht zu vermuten  wäre, dass eine solche inhaltliche Übereinstimmung nur ein marginales Phänomen  darstellt .5 Da aus voluntaristischer Sicht zum Erlass von Rechtsnormen die Befolgung von prozeduralen Normen genügt, weist eine universelle inhaltliche Übereinstimmung innerstaatlicher Normen nicht auf eine tieferliegende, für das moralische  Leben bedeutungsvolle Ursache hin, sondern ist rein zufällig und, weil sie sich jederzeit wieder auflösen könnte, letztlich von geringem Interesse . Unter Ziff . 3 dieses  Beitrags werde ich anhand von Grotius’ Naturrechtslehre zeigen, dass es eine tieferliegende Ursache hinter universellen Normen gibt . Der voluntaristische Fokus auf den Gesetzgebungsprozess und die unbestreitbaren inhaltlichen Unterschiede des Rechts von einer Rechtsordnungen zur nächsten  4  5 

Gesetzesvoluntarismus impliziert nicht notwendigerweise Gesetzesgehorsam, denn vom Rechtscharakter einer Norm allein kann nicht geschlossen werden, dass eine moralische Pflicht besteht,  die Norm zu befolgen . Ich konzentriere mich hier auf innerstaatliche Normen, weil supranationale Gesetzgebung für  alle beteiligten Länder die gleichen, universellen Normen schafft (von vereinbarten Opt-OutMöglichkeiten abgesehen) und daher für unsere philosophischen Zwecke uninteressant ist .

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sind sicherlich mitverantwortlich für die Tendenz der Rechtsphilosophie, sich auf  die Form des Rechts statt auf seinen Inhalt zu konzentrieren . Letzten Endes ist es  jedoch die eingangs erwähnte herkömmliche Einteilung des Rechts in verschiedene  Rechtsbereiche innerhalb jeder Rechtsordnung, welche dem Rechtsphilosophen den  Schluss  nahelegt,  dass  die  einzige  Gemeinsamkeit  dieser  Rechtsbereiche  in  ihrer  Quelle liegt: Sie entstammen alle dem Willen desselben Gesetzgebers . Denn was hat  Privatrecht mit öffentlichem Recht und diese beiden mit dem Strafrecht schon gemeinsam? Es scheint ausschliesslich die Rechtsquelle (und nicht etwa ein übergeordnetes ethisches Prinzip) zu sein, welche es rechtfertigt, die verschiedenen Rechtsbereiche alle dem Oberbegriff Recht unterzuordnen . Dieser Schluss ist jedoch (wenn  überhaupt) nur für das Recht des Kodifikationszeitalters zulässig: Erst ab Ende des  18 . Jahrhunderts beginnen die europäischen Staaten das nationale Recht zu kodifizieren und ihm damit eine einheitliche Quelle zu geben! 2.2 das ziel des staatlicHen recHts in der naturrecHtsleHre Die Rechtsgeschichte hält gerade hier eine der wichtigsten Lehren für die Rechtsphilosophie bereit: Wenn Privatrecht, Strafrecht und öffentliches Recht bereits vor der  Kodifikation durch nationale Gesetzgeber und trotz ihres heterogenen Inhalts von  einem Gesichtspunkt als eine Einheit aufgefasst wurden, als zugehörig zum Recht,  dann müssen sie etwas anderes gemeinsam haben als ihre Form . Was ist diese andere  Gemeinsamkeit? Für den Naturrechtler ist es das Ziel (oder der Zweck) .6 Das Ziel des  staatlichen Rechts ist für Grotius das Gemeinwohl (lat . bonum commune), welches für  ihn aus zwei Teilzielen besteht: (1) einem für das Gemeinwohl zwingend notwendigen Teilziel, des Rechtsfriedens,  welches Grotius auf verschiedene Arten beschreibt: Genuss des Rechts (lat . fruitio iuris), jedem das Seine erhalten (suum cuique salvum esse), öffentlicher Frieden und  Ordnung (lat . pax publica et ordo), öffentliche Ruhe (lat . tranquillitas publica) und (2) einem das Gemeinwohl lediglich fördernden Teilziel (Notwendigkeit zur Verbesserung, necessitas ad melius, statt zwingender Notwendigkeit, necessitas simplex): der  Verbesserung oder Vervollkommnung des gemeinsamen Nutzens der Bevölkerung  (lat . utilitas communis) .7 Hierzu ausführlicher unter Ziff . 3 .3, insb . Punkt (2) . Diese Unterscheidung innerhalb des Gemeinwohls zwischen notwendigem und  förderlichem Teilziel ist für das Thema der Universalisierung des Rechts von grundlegender Bedeutung, denn die Notwendigkeit des ersten Teilzieles, des Rechtsfriedens, führt dazu, dass dieser Aspekt des Gemeinwohls von allen Gesellschaften (also  6  7 

Ich  ziehe  den  Begriff  Ziel  dem  heute  etwas  herkömmlicheren  Begriff  Zweck  vor,  weil  damit  klarer zum Ausdruck kommt, dass Recht dem Menschen als Orientierung auf Handlungsziele  dient, siehe Ziff . 3 unten . Für die in der heutigen Literatur kaum beachtete Unterscheidung zwischen notwendigem und  bloss förderlichem Teilziel vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § xiv und Grotius (Fn . 16) Kapitel 4 § 5 . Es sollte klar sein, dass was notwendig ist auch förderlich ist, nicht aber alles was förderlich ist auch notwendig ist . Grotius folgt Francisco Suarez, De Legibus (1612), Madrid 1971, Buch  I Kapitel III §§ 1, 3 und Kapitel VII § 15, wo Suarez auf Thomas von Aquin, Summa Theologiae,  geschrieben 1265–1274, Prima Secundae Quaestio 95 Art . 3 Corpus verweist . Die Unterscheidung ist auch in anderem Zusammenhang wichtig, vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel VI § viii  (zur Veräusserung eines Teils des Territoriums) und Buch II Kapitel XXII § vi .

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universell) erstrebt wird . Wie auch immer das zweite Teilziel, die Vervollkommnung  des Gemeinwohls, von einer Gesellschaft ausgestaltet wird, sie wird zunächst versuchen,  die  Wahrung  des  Rechtsfriedens  zu  sichern  und  für  alle  Zeiten  aufrecht  zu  erhalten .8 Freilich lässt auch der Schutz des Rechtsfriedens einem Staat einen gewissen  Spielraum,  so  dass  die  Notwendigkeit  dieser  Voraussetzung  allein  noch  nicht  erklärt, weshalb es universelle Grundsätze gibt . Wenn man nun aber noch hinzunimmt, dass für Grotius der Rechtsfrieden darin besteht, jedem seine Rechte – insbesondere  seine  Rechte  auf  lebensnotwendige  Güter  –  zu  erhalten,  kommen  wir  universellen Grundsätzen näher . Die einzelnen Schritte hierzu werde ich unter Ziffer 3 .3 . ausführen . Im  Gegensatz  zur  Notwendigkeit  der  Grundsätze,  welche  zum  ersten  Teilziel  führen,  gibt  es  unzählige  Möglichkeiten,  wie  das  Ziel  der  Vervollkommnung  des  Gemeinwohls aufgefasst werden kann, und noch mehr Möglichkeiten, mit welchen  Mitteln dies geschehen soll . Wo eine solche Wahlfreiheit besteht, handelt es sich um  Willensrecht – der Begriff weist auf den Willensentscheid hin, mit dem eine mögliche Ausgestaltung des Ziels bzw . ein mögliches Mittel ausgewählt wird . Wiederum  mit  Blick  auf  das  Thema  der  Universalisierung sollten wir  festhalten, dass  es  aufgrund der Wahlmöglichkeiten viel seltener der Fall ist, dass eine willensrechtliche  Norm universell oder beinahe universell beachtet wird (vgl . Ziff . 3 .3) . Es ist das aus notwendigen und bloss förderlichen Teilzielen zusammengesetzte  Gemeinwohl, welches als ethisches Prinzip das Recht und damit die Rechtsbereiche  zusammenhält . Ein Einwand gegen diese Aussage zeichnet sich ab: Was ist mit ungerechten Rechtsordnungen? Ist es in diesen Fällen sinnvoll das Recht unter Rückbeziehung auf das Gemeinwohl zu erklären? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst festzuhalten, dass für den Naturrechtler sowohl ungerechtes wie auch gerechtes Recht über sein Ziel identifiziert wird .  Er bedient sich dabei einer Unterscheidung zwischen Recht im eigentlichen Sinn und  Recht im uneigentlichen Sinn .9 Wo das Recht, genauer das von Menschen gesetzte, also  positive Recht, nicht das Wohl der ganzen Bevölkerung (Gemeinwohl) verfolgt, sondern  lediglich  dem  Wohl  des  Tyrannen  und  seines  Regimes  dient  und  auch  nur  diesen Rechtsschutz gewährt, spricht der Naturrechtler von Recht im uneigentlichen  Sinn .10 Im Gegensatz dazu zielt das Recht im eigentlichen Sinn auf das Gemeinwohl, also auf ein ethisches Ziel .

8 

Grotius verweist auf die Wahrung der öffentlichen Ruhe ausdrücklich als universelles Ziel (lat .  finis universalis), vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel IV § iv .2 . 9  Für Finnis’ Gebrauch von Recht im eigentlichen Sinn („focal“ oder „central case of law“) und  Recht im uneigentlichen Sinn, vgl . John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 2011,  Kapitel 1 . Grotius zieht folgende Parallele: Wir können ungerechtes Recht in dem Sinn Recht  nennen, in dem wir die Abbildung eines Mannes einen Mann nennen, vgl . Hugo Grotius, De  Aequitate, Indulgentia et Facilitate, Übersetzung im Anhang von Herbert Schotte, Die Aequitas  bei Hugo Grotius, Köln 1963 . 10  Vgl .  John Finnis,  The  Truth  in  Legal  Positivism,  in:  Robert P. George,  The  Autonomy  of  Law:  Essays on Legal Positivism, Oxford 1996, S . 195–214 .

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2.3 der zWeck des recHts iM analytiscHen recHtspositivisMus Die Unterscheidung zwischen Recht im eigentlichen Sinn und Recht im uneigentlichen Sinn und die Identifikation des Ziels des Rechts im eigentlichen Sinn als Gemeinwohl  wird  die  analytischen  Rechtspositivisten  aufhorchen  lassen .  Hart  hat  diese für das Naturrecht charakteristische Unterscheidung zwischen verschiedenen  Bedeutungen des Begriffs Recht zurückgewiesen .11 Er erkannte dem Recht zwar ein  universelles Ziel zu, jedoch ein minimales, moralisch neutrales Ziel: das Überleben  („survival“) .12  Dieses  Ziel  ist  moralisch  neutral,  weil  es  sich  auch  dann  noch  um  Recht im weiten, positivistischen Sinn handelt, wenn es lediglich auf das Überleben  einer tyrannischen Führungsschicht abzielt, also z . B . nur dieser Schicht ein Recht  auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt . Wie wir sogleich sehen werden,  ist  das  Ziel,  welches  Hart  dem  Recht  zuschreibt,  nur  aus  seinem  Verständnis  der  Aufgabe der Rechtsphilosophie zu erklären, und dieses Verständnis ist nicht unumstritten .13 Harts Grund für die Annahme eines weiten, moralisch neutralen Rechtsbegriffs  ist allgemein bekannt und soll hier deshalb nur ganz kurz wiedergegeben werden .  Hart wollte damit einem unkritischen Rechts- oder Gesetzesgehorsam vorbeugen,  der dazu führt, dass Bürger und Beamte dem Gesetzgeber blind folgen . Harts moralisch neutraler Rechtsbegriff soll garantieren, dass bei der Identifikation einer Norm  als gültige Rechtsnorm keine moralische Wertung vorgenommen werden muss . Damit kann selbst äusserst ungerechtes Recht noch gültiges Recht sein, so dass allein  aus der Erkenntnis, dass es sich bei einer Norm um eine gültige Rechtsnorm handelt, nicht geschlossen werden kann, dass auch eine moralische Pflicht besteht, diese  zu befolgen . Die Unterscheidung der Naturrechtler zwischen Recht im eigentlichen  Sinn  und  Recht  im  uneigentlichen  Sinn  würde  für  Hart  nur  Verwirrung  stiften:  Folgte man der Unterscheidung, könnte man nicht mehr einfach nur von Recht (im  weiten, moralisch neutralen Sinn) sprechen, sondern müsste jedes Mal präzisieren,  ob von Recht im eigentlichen Sinn die Rede ist (was moralisches Gewicht hat) oder  von Recht im uneigentlichen Sinn (also moralisch verwerflichem Recht) . 2.4 Hart und Grotius zur auFGabe der recHtspHilosopie Der Rechtspositivist verweist Bürger und Beamte auf eine andere Disziplin, die Moralphilosophie,  um  zu  klären,  ob  sie  eine  moralische  Pflicht  haben,  eine  gültige  Rechtsnorm zu befolgen .14 In dieser Haltung des Rechtspositivisten zeigt sich deut11  Siehe Harts Einleitung in Herbert L.A. Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford  1983, S . 10 f . Ich verdanke diesen Punkt Amanda Perreau-Saussine . 12  Vgl . Herbert L.A. Hart, The Concept of Law, 2 . Aufl ., Oxford 1994, Kapitel IX „2 . The Minimum  Content of Natural Law” (insb . S . 191) . 13  Es  ist  das  Verdienst  Nigel  Simmonds’,  herausgestellt  zu  haben,  dass  Hart  die  grundlegende  Bedeutung des Rechtszwecks für seine Rechtsdefinition und damit für die rule of recognition  verschleiert, indem er die Idee des Rechtszwecks erst bei der Diskussion des notwendigen Minimalinhalts  des  Naturrechts  einführt,  vgl .  Nigel Simmonds,  Central  Issues  in  Jurisprudence,  3 . Aufl ., London 2008, S . 178 f ., S . 184–191 und S . 250–252 . 14  Vgl . Hart (Fn . 12), S . 210 .

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lich, dass er seine Disziplin nicht als Teil der auf Handlung orientierten, praktischen  Philosophie versteht oder wenn, dann nur in der einen praktischen Anweisung: Allein vom Schluss, dass eine Norm Rechtsnorm ist, darf für das Handeln nichts gefolgert werden . Die Hauptaufgabe der Rechtsphilosophie besteht für den analytischen  Rechtspositivismus in der Klärung von Begriffen . Wie wir unter Ziff . 4 sehen werden, kann der Rechtspositivist aber – gerade weil er die Moral in eine separate Disziplin verweist –, begriffliche Unterscheidungen wie jene in Privatrecht und öffentliches Recht nicht erklären . Selbst abgesehen von diesem Punkt, erscheint aus naturrechtlicher Sicht Harts Auffassung der Rechtsphilosophie unnötig limitiert . Denn wenn auch der Rechtspositivist seine Erklärung des Rechts nur vor dem  Hintergrund eines Zieles des Rechts – das Ziel des Überlebens – verständlich machen kann und dieses Minimalziel mit einer bestimmten Auffassung der Aufgabe  der  Rechtsphilosophie  zusammenhängt,  wenn  sich  weiter  alle  vernünftigen  Menschen über das ethische Ziel eines minimalen Schutzes für alle Menschen einig sind  – was selbst Hart ausserhalb der für ihn moralisch neutralen Rechtsdefinition akzeptierte (!),15 dann gibt es keinen Grund, den Aufgabenbereich der Rechtsphilosophie  nicht auf ethische Fragestellungen auszudehnen . Natürlich sind sich die Menschen nicht einig, was unter dem ethischen Ziel des  Gemeinwohls alles zu verstehen ist . Diese Uneinigkeit über die Vervollkommnung  des  Gemeinwohls  sollte  den  Rechtsphilosophen  jedoch  nicht  davon  abhalten,  zu  untersuchen, welche Ziele das staatliche Recht notwendigerweise erstreben muss, um  die Voraussetzungen für das individuelle gute Leben und das wie auch immer ausgestaltete höhere Gemeinwohl zu schaffen . Damit scheint es gerechtfertigt, tiefer in  die  Rechtsphilosophie  einzutauchen,  wie  sie  Hugo  Grotius  verstanden  hat .  Dazu  müssen wir zuerst sein Verständnis des Begriffs Prinzip klären (Ziff . 3 .1), zweitens  müssen wir erörtern, welche Prinzipien für ihn universelle Geltung haben (Ziff . 3 .2),  und  drittens  unter  diesen  spezifisch  rechtliche  Prinzipien  ausfindig  machen  (Ziff . 3 .3), denn es sind diese rechtlichen Prinzipien, welche das notwendige Teilziel  des Rechtsfriedens prägen . 3  GrotIus’  teleoloGIsche rechtsphIlosophIe 3.1 prinzip als ziel und als reGel Was versteht Grotius unter natürlichem Prinzip? Die Auseinandersetzung mit dem  Begriff Prinzip erlaubt uns, einer naiven Erwartung vorzubeugen: Die Naturrechtslehre bezweckt nicht, uns zu einem geheimen Ort zu führen, wo wir ein in Stein  gemeisseltes Naturgesetz vorfinden . Aufschluss über die Art von Prinzip, nach der  wir  suchen,  gibt  uns  der  lateinische  Begriff  für  Prinzip  –  principium –  dessen  sich  Grotius  bedient .  Anders  als  in  unserem  heutigen  juristischen  Sprachgebrauch  bedeutet principium nicht generell-abstrakte Regel (zu dieser Bedeutung vgl . Ziff . 3 .1 in  fine), sondern Anfang oder Ausgangspunkt des menschlichen Handelns . 15  Vgl . Hart (Fn . 12), S . 200 und S . 206 . Hart anerkennt die Idee genereller natürlicher, d . h . nicht  von Menschen geschaffenen, Rechte auch in seinem erstmals 1955 veröffentlichten Aufsatz ‚Are  there any natural rights?‘, in: Jeremy Waldron (Hrsg .), Theories of Rights, Oxford 1984, S . 77–90 .

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Für den Menschen stellen die Handlungsziele (lat . finis) den Ausgangspunkt für  sein Handeln dar .16 Wenn wir beratschlagen (lat . deliberatio oder consilium), was wir  tun  sollen,  gehen  wir  von  einem  oder  mehreren  möglichen  Handlungszielen  aus  (Ausgangspunkt) . Wir fragen uns, welches Ziel wir verfolgen sollen, und mit welchen Mitteln und Handlungen wir dieses Ziel erreichen .17 Dieser innerliche Beratschlagungsprozess ist der Bereich der praktischen Vernunft (lat . prudentia) .18 In einem weiteren, innerlichen Schritt entscheiden wir uns für ein Ziel (lat . electio), auf  das wir unsere Absicht richten (lat . intentio), dann wählen wir die Mittel oder weitere  Zwischenziele, die uns zum beabsichtigten Ziel führen . Nun setzen wir unseren Entschluss in die Tat um: die tätliche Ausführung (lat .  executio) unserer Entscheidungen in Verfolgung des Zieles beginnt . Hier dreht sich  die  Reihenfolge  um:  Anders  als  im  Beratschlagungsprozess,  wo  das  Ziel  zuerst  kommt und die Mittel folgen, ergreifen wir in der Ausführung zuerst die Mittel und  Handlungen,  die  uns  zum  Ziel  führen,  das  Ziel  erreichen  wir  zuletzt  (wenn  überhaupt) .19 Dazu ein Beispiel: Ich werde angegriffen . Mein Handlungsziel ist es,  zu überleben (Selbsterhalt) . Ich überlege, wie ich dem Angriff entkomme und realisiere, dass sich zwei Lösungen (Mittel) bieten: entweder den Angreifer niederschlagen oder entfliehen . Ich entscheide mich, zu fliehen . Jetzt beginnt die Ausführung  (executio):  Ich  renne  los,  hänge  meinen  Verfolger  ab  und  entkomme  schliesslich .  Mein beabsichtigtes Ziel ist erreicht, ich habe überlebt . Einige  Bemerkungen  zur  Stellung  des  Prinzips  in  der  Handlungstheorie .  Gemäss Grotius haben wir ein letztes Ziel – ein höchstes Gut (lat . summum bonum), in  Verfolgung dessen wir alles andere tun, inklusive der von den Tugenden vorgeschriebenen Ziele, die wir sowohl um ihrer selbst willen, als auch in Verfolgung des höchsten Guts, erstreben .20 Für Grotius besteht das letzte Ziel in unserer liebenden Vereinigung mit Gott, die in diesem Leben zwar beginnen kann, aber erst im nächsten  Leben zur Vervollkommnung gelangt . Wir sind also etwa barmherzig sowohl, weil  wir  die  Barmherzigkeit  als  moralisches  Ziel  ansehen,  als  auch  aus  Liebe  zu  Gott .  Genau so wie der Rechtsfrieden ist auch die Barmherzigkeit ein Zwischenziel, oder  genauer ein relatives Selbstziel, d . h . ein Ziel, das wir sowohl um seiner selbst willen  als auch in Verfolgung des letzten Zieles, erstreben . Grotius folgt also einer auf den  Tugenden basierenden eudämonistischen Ethik . Grotius ist sich bewusst, dass es bereits unter heidnischen (d . h . antiken) Philosophen – genau so wie unter den Christen seiner Zeit – höchst umstritten war, worin  das höchste Gut besteht . Gerade diese Einsicht hat ihn veranlasst, eine Naturrechtslehre  zu  entwickeln,  für  die  das  letzte  Ziel  nicht  genauer  definiert  werden  muss .  Seine Naturrechtslehre geht stattdessen von einem blossen Zwischenziel aus – dem  16  Die zwei wichtigsten Passagen, auf welchen die Ausführungen im Text aufbauen, sind Hugo Grotius, De imperio summarum potestatum circa sacra, ins Englische übersetzt von Harm-Jan van Dam, Leiden 2001, Kapitel V § 1 (siehe auch § 2 und § 7); und Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel  XXIV § v .1 und § vi . 17  Es gibt natürlich Routinehandlungen, die wir vornehmen, ohne dass wir lange über Ziele und  Mittel beratschlagen . Dies soll uns hier nicht weiter kümmern . 18  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XXIV § v . 19  Dass Grotius diese Sicht teilt, ergibt sich aus seinem De veritate religionis christianae, Buch II  § IX (konsultierte Ausgabe: Opera omnia theologica, Basel 1732, Vol . IV, S . 37) . 20  Vgl . Hugo Grotius, Meletius sive De iis quae inter Christianos conveniunt Epistola, ins Englische  übersetzt von Guillaume H.M. Posthumus Meyjes, Leiden 1988, Kapitel II §§ 13–15 .

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Schutz des Rechtsfriedens – einem Zwischenziel, welches erstrebt werden muss, was  auch immer der Einzelne als letztes Ziel annimmt .21 Auch etwa der Hedonist respektiert den Rechtsfrieden in Verfolgung eines weiteren Ziels, des ungestörten Lustgewinns . Es ist daher schlichtweg falsch und irreführend, wenn Hart glaubt, die Naturrechtslehre zurückweisen zu können, weil das letzte sittliche Ziel äusserst umstritten  ist .22 Das Zwischenziel des Rechtsfriedens ist auch dann noch notwendig, wenn es  für ein nicht-christliches letztes Ziel verfolgt wird . Die Stärke der Naturrechtslehre liegt genau darin, dass sie das staatliche Recht mit einem für alle notwendigen Zwischenziel identifiziert, welches zu individuellen und kollektiven letzten Zielen beiträgt, ohne von ihnen aufgehoben zu werden. Das lateinische principium kann nun aber neben Handlungsziel auch, wie heute  üblich, generell-abstrakte Handlungsregel bedeuten . Wie hängen diese beiden Bedeutungen von principium zusammen? Grotius gibt eine Antwort auf diese Frage in  seinem Traktat über die Billigkeit (De Aequitate), also jener Tugend, welche uns anhält, eine Ausnahme von einer allzu rigiden Regel zu machen . „Dass diese Tugend [i .e . die Billigkeit] aber vonnöten ist, zeigt folgender Schluss . Da der unstete  und kaum fassliche Geist des Menschen zu dem Ziel, wohin die Natur führt [finem, quo eo vera natura ducit], nur unter Zuhilfenahme gewisser straffer Regeln [regulae] geleitet werden kann, die  man ihrerseits wieder den Prinzipien eben dieser Natur entnehmen müsste, – da diese Regeln  aber, um die Menschen zu ihrer Beachtung zu zwingen, begrenzt sein müssten, während die  Materie der Dinge und Handlungen selbst unbegrenzt ist: so folgt aus alledem, dass sich oft  vieles ereignet, auf das die Regeln nicht passen . In diesen Fällen galt es, nicht den Regeln zu  folgen, sondern die Vorstellung und den Plan dessen, der sie gegeben hatte, zu berücksichtigen .  Das bedeutet so viel wie: alles nach den Prinzipien der Natur {aus}zurichten .“23 [Hervorhebungen durch TS]

Diese Passage ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung für unsere Zwecke . Erstens  macht Grotius hier ausdrücklich die Verbindung zwischen unseren natürlichen Zielen (zu diesen Ziff . 3 .2 unten) und Handlungsregeln: Die Handlungsregeln dienen  lediglich  als  Richtschnur,  die  uns  in  der  Verfolgung  unserer  Handlungsziele  dringend notwendige Orientierung gibt . Zweitens erklärt er, wieso Regeln problematisch  sind: Sie sind begrenzt während die Umstände, auf die wir in der Wirklichkeit treffen, unbegrenzt sind . Die Handlungsregeln sind deshalb lediglich ungefähre Richtlinien, letztlich zählt das Handlungsziel . Um  die  Dimension  der  Rechtsprinzipen  als  Handlungsziel  –  nicht  nur  als  Handlungsregel – zu verstehen, ist es wichtig zwischen innerer, ethischer Perspektive  und äusserer, rechtlicher Perspektive zu unterscheiden . Von der inneren Perspektive  der eudämonistischen Ethik aus gesehen, gebietet das Recht dem nach Glückseligkeit strebenden Menschen nicht nur gewisse äussere moralische Handlungen (z . B .  die Rechte der anderen zu respektieren), sondern auch (sogar primär, wie wir unter  Ziffer 3 .2 und 3 .3 sehen werden) gewisse moralische Handlungsziele oder -motive .  Gleichsam verbietet es die Verfolgung gewisser unmoralischer Handlungsziele, nicht  nur gewisser äusserer Handlungen . 21  Dies hat Heinrich Rommen mit aller wünschenswerten Klarheit für Francisco Suarez herausgestellt, vgl . Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S . J ., München/Gladbach 1926,  S . 23 . 22  Vgl . Hart (Fn . 12), S . 191 . 23  Vgl . Grotius (Fn . 9), I § 5 .

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Von  der  äusseren  Perspektive  des  Staates  (Beamten  und  Richter)  oder  Dritter  (inkl . Anwälte) aus gesehen, schreiben die Rechtsprinzipien dem Rechtssubjekt im  allgemeinen nur äussere Handlungen vor, während das Handlungsziel (das Motiv  des  Handelnden)  für  die  rechtliche  Beurteilung  unerheblich  bleibt .24  Ob  ich  den  angerichteten Schaden begleiche, weil ich mich vor rechtlichen Sanktionen hüten  will (schlechtes Motiv), oder weil mir die Gerechtigkeit ein echtes Anliegen ist (gutes  Motiv), spielt für den Staat keine Rolle; in der Tat hat der Staat sich für meine sich  nicht in äusseren Akten manifestierende Gesinnung nicht zu interessieren .25 Im Gegensatz  zum  Moralphilosophen  ist  der  Jurist  also  geradezu  angehalten,  unter  „Rechtsprinzip“ nicht Prinzip im Sinne von Handlungsziel, sondern im Sinne von  Handlungsregel, und nur so zu verstehen . Die Eigenschaft des Rechts, vom Handlungsziel abzusehen, verfolgt selbst ein ethisches Ziel: Es spielt für das potentielle  Opfer einer Rechtsverletzung keine Rolle, aus welchem Motiv seine Rechte verletzt  werden .  Für  das  Opfer  zählt  nur  der  Schutz  vor  Rechtsverletzungen,  und  dieser  Schutz ist besser gewährt, wenn er nicht von bestimmten Handlungszielen abhängig  gemacht wird, sondern bedingungslos gilt . Und was für den Schutz vor einzelnen  Rechtsverletzungen gilt, gilt umso mehr für den Schutz des Rechtsfriedens generell .  Nur darf aus der Tatsache, dass Ethik und Recht hier aus einem ethischen Grund  divergieren, nicht  geschlossen  werden, dass das  Handlungsziel  für  das Naturrecht  nie von Bedeutung ist . Wie wir sogleich sehen werden, lassen sich die naturrechtlichen Prinzipien nur verstehen, wenn sie als moralische Handlungsziele für die praktische Beratschlagung aufgefasst werden . 3.2 natürlicHe prinzipien als universelle anFanGspunkte Wenn wir nach universellen Prinzipien (Zielen) suchen, dann müssen wir uns, Grotius folgend, nach Handlungszielen umsehen, die allen Menschen aufgrund ihrer  Natur gemeinsam sind, und damit universell . Da die Menschen – zumindest für die  Philosophen der Frühen Neuzeit – einen Teil ihrer Natur mit den Tieren teilen, darf  es uns nicht überraschen, dass wir Menschen auch einen Teil unserer Handlungsziele mit den Tieren teilen .26 Das erste solche Handlungsziel haben wir bereits angetroffen:  das  Ziel  des  Selbsterhalts .  Dieses  Ziel  ist  allen  Menschen  und  Tieren  gemeinsam, wie Grotius, Cicero zitierend, festhält: „{Erste} Natur nennt er [i .e . Cicero] es, dass ein Tier von seiner Geburt ab für sich sorgt und  strebt, sich und seinen Zustand zu erhalten, und das, was zur Erhaltung dieses Zustandes beiträgt, aufsucht; ferner, dass es den Tod und die Dinge verabscheut, welche ihm Untergang zu  bringen scheinen .“27

24  Vgl . Grotius (Fn . 1), insb . § 44 Prolegomena und Buch II Kapitel XXII § xvii . Zum Unterschied  mit dem göttlichen Recht, für welches die Gesinnung des Handelnden relevant ist, siehe ders.  (Fn . 1), Buch I Kapitel II § vi .4 . Ich sehe hier von der Rolle des Motivs für das Strafrecht und  den Rechtsmissbrauch ab: Es geht um den Schutz an sich . 25  Vgl . Grotius (Fn . 16), Kapitel III § 1 . 26  Vgl . Grotius (Fn . 1), § 6 Prolegomena: „[D]er Mensch ist {sicherlich} ein {Tier}, aber das höchste  der {Tiere}“ . 27  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel II § i . Eine Variation von Ciceros Argument findet sich in  Thomas von Aquin (Fn . 7), Prima Secundae Quaestio 94 Artikel 2 Corpus .

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Es ist wichtig, dieses Zitat auf die Methode hin zu untersuchen, mit der Grotius die  natürlichen  Prinzipien  identifiziert .  Die  natürlichen  Neigungen  der  Tiere  (Menschen inbegriffen) wie Hunger, Durst und Angst orientieren sie auf eines ihrer essentiellen natürlichen Ziele, den Selbsterhalt (der mit Harts Überleben gleichzusetzen  ist) . Hunger und Durst veranlassen Tiere wie Menschen nach Nahrung zu suchen,  weil sie das Ziel des Selbsterhalts als etwas Gutes erkennen . Und ähnlich verhält es  sich mit der Angst, die uns unterrichtet, bei einem Angriff zu fliehen oder uns zu  verteidigen, also ein Übel zu meiden, was wiederum nur vor dem Hintergrund des  Ziels, sich selbst zu erhalten, Sinn macht . Man sollte sich den Selbsterhalt nicht als  passiven  Zustand,  sondern  als  Aktivität  vorstellen .  Wir  haben  das  Potential,  uns  selber zu erhalten . Die Verwirklichung dieses Potentials besteht im aktiven Streben  nach Selbsterhalt . Die natürliche Neigung auf das Ziel des Selbsterhalts richten Mensch und Tier  auf ihr eigenes Wohl aus . Das zweite natürliche Ziel, das ihnen gemeinsam ist, richtet sie auf das Wohl ihrer Spezies und/oder anderer Artgenossen aus . Der sexuelle  Trieb orientiert sowohl Menschen wie auch Tiere auf den Erhalt der eigenen Spezies  (durch Fortpflanzung) . Die Menschen und gewisse Tiere sind zudem durch einen  sozialen Trieb (lat . appetitus socialis) auf das Ziel ausgerichtet, ihre Artgenossen zu  respektieren und ihr Wohl zu fördern . Beim Menschen ist das Potential, um dieses  Ziel zu erreichen, jedoch viel ausgeprägt als bei den Tieren .28 Dies nicht zuletzt, weil  die Menschen ein drittes Potential und Ziel haben, das ihrer Natur allein eigen ist,  der Gebrauch der Vernunft . Für die folgende Untersuchung sind zwei Punkte wichtig: (1) Der Mensch ist  bereits qua Tier (lat . animal) von Natur aus nicht nur auf sein eigenes Wohl, Selbsterhalt, sondern auch auf das Wohl anderer, seien es Nachkommen oder Mitmenschen, ausgerichtet; (2) der Mensch qua vernünftiges Tier (lat . animal rationalis) verfolgt alle seine Ziele unter Gebrauch seiner Vernunft . Im Gegensatz zum Menschen  folgen die Tiere ihren natürlichen Neigungen nach Selbsterhalt und Erhalt der Spezies instinktiv .29 Dieser Unterschied ist wichtig, um die Aussage zu verstehen, dass die natürlichen Neigungen (lat . passiones oder inclinationes) wie Hunger oder Angst, vor allem  aber der soziale Trieb, Tiere und Menschen auf ihr jeweiliges Wohl ausrichten . Auf  der einen Seite gründet das Naturrecht nicht auf Vernunft allein, die Vernunft bedarf  der Ausrichtung auf das eigene Wohl und das Wohl anderer durch die natürlichen  (teilweise animalischen) Triebe . Auf der anderen Seite nehmen nur beim Menschen  Selbsterhalt, Erhalt der Spezies, Respekt und Fürsorge für andere und Vernunft die  Stellung eines principium im Sinne der oben skizzierten Handlungstheorie ein, d . h .  die  Stellung  eines  Handlungszieles,  von  dem  die  Beratschlagung  (deliberatio)  ausgeht . Dabei sollte klar sein, (i) dass der Mensch freilich auch entgegen seiner natürlichen Ziele handeln kann: Der Wille kann sich immer gegen das Gute entscheiden  und  das  Böse  wählen;  (ii)  und  dass  die  Vernunft  unser  Verständnis  dieser  Handlungsziele und der möglichen Mittel, diese zu verfolgen, verfeinert (lat . determinatio),  sowohl in eigenständiger Überlegung als auch in den Interpretationen unserer und  anderer Kulturen (was die grosse kulturelle Vielfalt erklärt) . 28  Vgl . Grotius (Fn . 1), § 7 Prolegomena . 29  Instruktiv ist Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § xi; vgl . auch § 7 Prolegomena .

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Weiter ist zu beachten, dass Grotius, Cicero folgend, das Ziel des Selbsterhalts  braucht, um aus der Sicht jeder Person die eigenen natürlichen (für den Selbsterhalt  unentbehrlichen) Rechte auf Leben, Leib, Freiheit und die Aneignung lebensnotwendiger Güter zu rechtfertigen . Und auch das Recht auf Verteidigung dieser Rechte  basiert auf dem Ziel der Selbsterhaltung (Recht auf Selbstverteidigung) . Ich spreche  hier von den eigenen Rechten auf diese Güter (im Sinne von Hohfeldschen Privilegien, engl . privileges30), weil das Ziel meines eigenen Selbsterhalts – auf alle Fälle für  sich allein genommen – nicht meine Pflicht, die Rechte der anderen Menschen zu  respektieren, rechtfertigen kann: Ergreift etwa mein Gefährte beim Schiffbruch auf  offener See zuerst eine Planke, die nur einen von uns trägt, bedeutet mein Respekt  seines Besitzes an der Planke möglicherweise meinen Untergang . Mein Respekt für  diese  Rechtspflicht  kann  also  nicht  im  Ziel  meines  Selbsterhalts  begründet  sein,  zumindest nicht nur .31 3.3 universelle, speziFiscH recHtlicHe natürlicHe prinzipien Wie dieses Beispiel veranschaulicht, ist unsere Pflicht, die Rechte anderer Menschen  und ihre Güter zu respektieren, in erster Linie nicht auf unser eigenes Wohl (Selbsterhalt), sondern auf das individuelle Wohl dieser anderen Menschen ausgerichtet . Unsere  Rechtspflichten  sind  also  generell-abstrakte  Regeln,  die  uns  anleiten,  wie  wir  unser natürliches Ziel, andere zu respektieren und ihnen Gutes zu tun, verwirklichen sollen, d . h ., wie wir gerecht handeln (zur Tugend der ausgleichenden Gerechtigkeit  siehe  Ziff . 3 .4  unten) .  Die  Verfolgung  unserer  Ziele  vervollkommnet  uns  selbst . Anderen Gutes zu tun ist also in zweiter Linie für unser eigenes, individuelles  Wohl  förderlich .  In dritter Linie trägt  mein  Respekt  der  Rechte  anderer  Menschen  und ihr Respekt meiner Rechte und jener aller anderer Menschen zu einem kollektiven Gut bei: dem Rechtsfrieden, den wir als notwendiges Teilziel des Gemeinwohls  identifiziert haben (Ziff . 2 .2 oben) .  Diese  Erkenntnis  hat  einen  Einfluss  auf  das  eudämonistische  Verständnis  der  Rechtspflicht .  Rechtspflicht  bedeutet  hier  nicht  Pflicht  im  deontologischen  Sinn  („Tue dies, weil es Deine Pflicht ist“) noch im Sinn einer Verpflichtung, die uns von  einem Vorgesetzten auferlegt wird . Stattdessen zeigt der Begriff Pflicht hier die moralische Notwendigkeit einer Handlung zur Verwirklichung eines oder auch mehrerer unserer Ziele an .32 Wir haben gesehen, dass anderen Gutes zu tun, eines unserer natürlichen Ziele  ist .  Mit  der  Charakterisierung  dieses  Ziels  als  natürliches  Ziel  bring  Grotius  zum  Ausdruck, dass es für das gute Leben unter anderem notwendig (d . h . unabdingbar)  30  Vgl . Wesley Newcomb Hohfeld, Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasonoing, Yale Law Journal 1913/14 (23), S . 16–59, insb . S . 26 zum Privileg (Recht) auf Selbstverteidigung . 31  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel II § viii . 32  Vgl . Finnis (Fn . 9), S . 54 f . („[E]s ist die Vernunft, die Handlungsziele erfasst und die Mittel zu  diesen Zielen identifiziert und die Notwendigkeit dieser Mittel begreift; und dies ist die Quelle  der Verpflichtungen“ [meine Übersetzung]) . Diese Umschreibung von Pflicht differenziert nicht  zwischen strikter Notwendigkeit (necessitas simplex) und dem, was zur Erreichung des Zieles bloss  förderlich ist (necessitas ad melius) .

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ist, anderen Gutes zu tun . Wie wir alle wissen, gibt es unzählige mögliche Arten, in  denen wir als Einzelmenschen oder als Gesellschaft anderen Gutes tun können (z . B .  Freundschaft,  Grosszügigkeit,  aber  auch  Gerechtigkeit) .  Moralisch  notwendig  ist  also vorerst nur das ganz generelle Ziel, anderen Gutes zu tun . Die spezifische Ausgestaltung (lat . determinatio) dieses individuellen Ziels ist, genau wie das kollektive  Ziel des Gemeinwohls (vgl . Ziff . 2 .2 oben), aufgeteilt in notwendige und lediglich  förderliche  Teilziele  und  notwendige  und  lediglich  förderliche  Handlungen  oder  Mittel, die zu diesen Teilzielen führen . Als naturrechtlich vorgeschrieben gelten nur  jene  Handlungen  oder  Unterlassungen,  welche  zur  Erreichung  eines  natürlichen  Zwecks zwingend notwendig sind . Wo der Ausgestaltung der Teilziele und/oder der  Mittel zu ihrer Erreichung ein Spielraum überlassen ist, handelt es sich nicht um  Naturrecht, sondern um Willensrecht (ius voluntarium) . Es lassen sich grob drei Gruppen von Fällen unterscheiden . (1) Manchmal haben wir die freie Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, um anderen Gutes zu tun,  aus denen wir zwingend eine Möglichkeit wählen müssen, weil es sich um einen notwendigen (d . h . unentbehrlichen) Aspekt des Ziels handelt . Hier wirken moralische Notwendigkeit – eine Möglichkeit muss gewählt werden – und die freie Wahl (lat . electio)  einer dieser Möglichkeiten zusammen . Beispielsweise hat der Staat das notwendige  Ziel, die Bevölkerung gegen Angriffe und Verbrechen zu schützen: Dieser Schutz ist  nicht  eine  bloss  mögliche  Art,  der  Bevölkerung  Gutes  zu  tun,  vielmehr  ist  dieser  Schutz  ein  unabdingbarer  Aspekt  des  Staatszieles .  Zu  seiner  Realisierung  braucht  der Staat – zumindest so wie sich die Welt Grotius und uns präsentiert – notwendigerweise eine Armee (ähnliches gilt für Verbrechen und die Polizei) . Die Wahl zwischen Berufs-, Miliz- oder gemischter Armee ist frei: Alle drei Möglichkeiten können das Ziel erreichen und jede hat Vor- und Nachteile . Die Wahl der Heeresform  gründet  letztlich  also  im  Willen  des  Gesetzgebers,  der  im  Willensrecht  Ausdruck  findet . Würde eine Regierung auf die Aufstellung einer Armee ganz verzichten, so  würde sie das Gemeinwohl vernachlässigen, und damit moralisch schlecht handeln .  Das zeigt, dass es sich hier um eine Kombination zwischen Natur- und Willensrecht  handelt . Mit Blick auf das Thema der Universalisierung sei angemerkt, dass in dieser  Gruppe  das  Ziel  universell  gilt,  die  gewählten  Mittel  (Regeln)  zur  Verfolgung  des  Ziels werden jedoch nur selten universell sein, weil eine Wahl zwischen verschiedenen Mitteln besteht . 33 (2)  Eine  zweite  Gruppe  von  Fällen  betrifft  nicht  zwingend  notwendige  (d . h .  entbehrliche) Aspekte des (für sich genommen notwendigen) Zieles, anderen Gutes  zu tun . In diesen Fällen wäre es für das Gemeinwohl zwar förderlich, wenn der Staat  Mittel zur Verfolgung des Zieles ergreifen würde, gleichzeitig wäre es aber moralisch  nicht  verwerflich,  wenn  er  es  unterliesse,  dieses  entbehrliche  Teilziel  zu  verfolgen  (Fall der Supererogation): Es handelt sich hier also um das nicht-notwendige Teilziel  des Gemeinwohls, das wir unter Ziff . 2 .2 als Vervollkommnung des Gemeinwohls  bezeichnet haben (lat . utilitas communis) . Beispiele für diesen Aspekt des Gemeinwohls wären etwa der Vaterschaftsurlaub oder die staatliche Altersvorsorge, wobei  die genaue Grenze zwischen notwendigen und lediglich förderlichen Teilzielen um33  Alle  wählen  dann  das  selbe  Mittel,  wenn  sie  den  überragenden  Nutzen  dieses  einen  Mittels  einsehen, vgl . Suarez (Fn . 7), Buch II Kapitel 19 § 5 und § 7 (Bsp: Einführung der Botschafter in  internationalen Beziehungen) und § 9 .

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stritten ist . In dieser Gruppe gibt es kaum universelle Regeln, da die Förderung des  Gemeinwohls im freien Willen des Gesetzgebers liegt . Hierin liegt der wahre Kern  des Gesetzesvoluntarismus (Ziff . 2 .1) . (3) In einer dritten Kategorie von Situationen schliesslich haben wir gar keine  Wahl zwischen verschiedenen Mitteln: Eine und nur eine Handlung (oder das Unterlassen einer solchen) ist notwendig, um das Wohl der anderen zu fördern, oder wenigstens nicht zu beeinträchtigen . Es ist diese letzte Kategorie, welche reines Naturrecht darstellt . Hier sind alle Regeln universell; nur aufgrund eines Irrtums weichen  gewisse Gesellschaften ab .34 Um welche Regeln handelt es sich? Unsere  Vernunft  hilft  uns  einzusehen,  dass  alle  anderen  Menschen  ebenfalls  notwendigerweise  Güter  wie  Leben,  körperliche  Unversehrtheit  und  Freiheit  brauchen . In dieser Hinsicht sind wir alle gleich – hier nähern wir uns also der im Titel  des Aufsatzes genannten universellen Gleichheit . Die Notwendigkeit der Güter, wie  Leben und körperliche Unversehrtheit für die anderen Menschen, bestimmt zwingend, was ich tun muss, um den Weg zu meinem natürlichen Ziel der Fürsorge für die  anderen  Menschen  nicht  zu  verlassen:  Ich  muss  notwendigerweise ihre  Rechte  auf  diese notwendigen Güter respektieren . Dieser Respekt ihrer natürlichen Rechte ist  das Mindeste, was ich für ihr Wohl tun kann: dieses Wohl nicht beeinträchtigen .  Dies  zu  verleugnen,  würde  bedeuten,  uns  selbst  Gewalt  anzutun,  weil  wir  damit  unser eigenes Ziel des Respekts und der Fürsorge für andere verfehlen .35 Gleichzeitig  trägt die Verfolgung meines individuellen Ziels, die Rechte der anderen Menschen auf  ihre lebensnotwendigen Güter zu respektieren, zur Verwirklichung eines notwendigen kollektiven Ziels bei, dem Schutz des Rechtsfriedens . Zur Erkenntnis dieser naturrechtlichen Regeln kann zumindest theoretisch jeder  Mensch gelangen, der über die natürlichen Ziele des Menschen und die notwendigen Handlungen zu deren Verwirklichung nachdenkt, ohne Rückgriff auf positive  Gesetze und Praxis, also a priori . Gerade aufgrund ihrer moralischen Notwendigkeit  ist der menschlichen Gesetzgeber (und Gott in den Zehn Geboten) jedoch geneigt,  diese Verbote im positiven Recht zu wiederholen, um sie für alle zu verdeutlichen  und zu bekräftigen . So verbietet (praktisch) jede positive Rechtsordnung Mord, Körperverletzung und Diebstahl . Dies ermöglicht den Beweis des Naturrechts mittels  der a posteriori Methode . Wie Grotius ausführt, kann man „mit grosser Wahrscheinlichkeit das Naturrechtliche einer Bestimmung daraus ableite[n], dass es  bei allen Völkern oder bei allen gesitteten Völkern dafür gehalten wird . Denn eine allgemein  beobachtete Wirkung (effectus univeralis) setzt eine allgemeine Ursache (causa universalis) voraus;  der Grund einer solchen allgemeinen Meinung kann aber wohl nur in dem gefunden werden,  was man den gesunden Menschenverstand nennt .“36

Entgegen  dem  Gesetzesvoluntarismus,  welcher  hinter  einer  inhaltlichen  Übereinstimmung von positivrechtlichen Normen keine tieferliegende Ursache sieht (vgl .  Ziff . 2 .1), ist für einen Naturrechtler wie Grotius eine solche zu vermuten .

34  Dies hat Francisco Suarez mit der für ihn charakteristischen Schärfe herausgestrichen, vgl . Suarez  (Fn . 7), Buch II Kapitel 19 § 2 . 35  Vgl . Grotius (Fn . 1), § 39 Prolegomena . 36  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § xii .

Universelle Gleichheit in Hugo Grotius’ Lehre vom natürlichen Privatrecht 

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3.4 universelle GleicHHeit und universelles privatrecHt Wir haben nun die Grundlagen gelegt, um die im Titel dieses Aufsatzes angesprochene Idee der universellen Gleichheit im natürlichen Privatrecht zu erklären . Wie  Grotius klarstellt, handelt es sich dabei nicht um Gleichheit in jeglicher Hinsicht .  Gleichheit ist hier Gleichheit unter dem Aspekt subjektiver Rechte; zunächst nur natürlicher subjektiver Rechte . Alle haben die gleichen natürlichen Rechte auf die lebensnotwendigen Güter, und gegenüber allen gilt das Verbot, diese Rechte zu verletzen,  gleich . Die Idee der Gleichheit erfährt nun aber eine Erweiterung von gleichen natürlichen Rechten auf Leben, Leib und Freiheit,37 auf positive Rechte . Zu den positiven  Rechten gehören all jene Rechte, die zur Erreichung unserer natürlichen Ziele nicht  zwingend notwendig, sondern (lediglich) förderlich (necessitas ad melius oder utilitas)  sind . Das paradigmatische Beispiel hierfür ist das Recht auf Privateigentum . Für Grotius hatte von Natur aus, d . h . vor der Einführung des Privateigentums,  jeder von uns ein natürliches Recht, sich lebensnotwendige Güter anzueignen während die (noch) nicht angeeigneten Güter im gemeinen Besitz aller Menschen verblieben . Als sich die Erdbewohner nicht mehr mit dem spontanen Ertrag der Erde  begnügten,  sondern  anfingen,  diese  zu  bebauen,  teilten  sie  zunächst  Arbeit  und  Ertrag auf . Später teilten sie die kollektiv gehaltenen Felder durch Gewohnheitsrecht  in Privateigentum ein, so dass jeder sein eigenes Feld bestellte . Dies trug zum Gemeinwohl bei, weil damit eine ungerechte Aufteilung der Arbeit auf den kollektiven  Feldern und/oder des Ertrags vermieden wurde .38 Für Grotius wurde die Institution  des  Privateigentum  also  durch  Willensrecht  geschaffen;  das  subjektive  Recht  am  Privateigentum steht jedoch unter naturrechtlichem Schutz . Hier wirken also Naturrecht und Willensrecht (ius voluntarium) zusammen .39  Diese Ergänzung der natürlichen Rechte durch positive Rechte ist wichtig für  das Verständnis der privatrechtlichen Gleichheitsidee, denn indem diese eine Erweiterung erfährt wird sie schwerer fassbar . Während die natürlichen Rechte in unserer  Natur  gründen  und  damit  jeder  von  uns  genau gleich viele  Rechte  auf  gleich  viele  Güter hat, nämlich Leben, Körper und Freiheit, haben manche von uns mehr und  andere weniger Eigentum, und damit mehr oder weniger positive Rechte, die aber  alle gleich vor Übergriffen geschützt sind . Wie Grotius in seiner Einleitung ins holländische Privatrecht ausdrücklich bemerkt, ist es nicht der Zweck des Privatrechts,  alle  gleich  reich  zu  machen .40  Trotz  des  ungleichen  Reichtums  gehören  auch  die  Rechte auf Privateigentum zur Idee der Gleichheit, im Sinne von gleichem Schutz  für alle und, wie wir sogleich sehen werden, Ausgleich des Schadens an Privateigentum . Das Gebot, die Rechte der anderen zu respektieren, reflektiert die römische Definition der Gerechtigkeit: suum cuique tribuere, jedem ist das Seine zu erhalten . Für  Grotius handelt es sich dabei um eine bestimmte Form der Gerechtigkeit, nämlich  um die ausgleichende Gerechtigkeit (Grotius bezeichnet sie als iustitia expletrix) . Wie  37  Grotius erwähnt auch die Ehre, vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XVII und Buch I Kapitel II  § v .7, z . B . Schutz vor Vergewaltigung, vgl . Buch II Kapitel I § vii . 38  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel II § ii, insbesondere § ii .4 und § ii .5 . 39  Zum letzten Punkt siehe insbesondere Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § x .4 und x .7 40  Vgl . Grotius (Fn . 2), Buch III Kapitel I § 14 .

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jede andere Tugend, verlangt auch die ausgleichende Gerechtigkeit die Einhaltung  der  Tugendmitte .  Die  Rolle  der  natürlichen  und  willensrechtlichen  subjektiven  Rechte ist es nun, dem Handelnden anzuzeigen, wo diese Tugendmitte liegt . Wer  die subjektiven Rechte der anderen Menschen respektiert, beachtet die Tugendmitte  der ausgleichenden Gerechtigkeit . Wer ein Recht eines anderen Menschen verletzt  – was für den Juristen eine Rechtsverletzung (lat . iniuria) darstellt –, überschreitet die  Tugendmitte  und  begeht,  was  der  Tugendethiker  das  Laster  der  Ungerechtigkeit  nennt . Dieses Überschreiten der Tugendmitte wird von Grotius (Aquin folgend) als  Verursachung einer Ungleichheit (lat . inaequalitas) zwischen dem Rechtsverletzer und  dem Opfer interpretiert . Der Name der ausgleichenden Gerechtigkeit leitet sich aus  ihrer  Funktion  ab,  vom  Rechtsverletzer  den  Ausgleich  der  von  ihm  verursachten  Ungleichheit zu verlangen .  Das  natürliche  Privatrecht  stützt  sich  auf  die  ausgleichende  Gerechtigkeit,  indem es sowohl die Verhinderung solcher Ungleichheit zwischen Privatpersonen als  auch die Wiederherstellung  der Gleichheit,  wo diese durch eine Rechtsverletzung  beeinträchtigt wurde, verlangt . Beide Funktionen, Verhinderung von Ungleichheit  und Wiederherstellung von Gleichheit, leisten einen notwendigen Beitrag zum kollektiven  Ziel  der  Wahrung  des  Rechtsfriedens .  Eine  Gesellschaft,  in  der  laufend  Rechtsverletzungen (z . B . Mord und Diebstahl) geschehen oder solche Ungerechtigkeit nicht ausgeglichen wird, ist eine Gesellschaft ohne Rechtsfrieden . Auf das Ziel, die Gleichheit und damit den Rechtsfrieden zu erhalten, orientieren uns die folgenden tragenden Grundsätze des Rechts (zum Verhältnis zwischen  Grundsatz (Regel) und Ziel vgl . das De Aequitate Zitat oben, Ziff . 3 .1): „Diese von uns hier nur roh bezeichnete, der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für  die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man recht eigentlich mit dem Namen Recht bezeichnet . Dazu gehört, dass (1) man sich des fremden Guts enthält und (2) es ersetzt, wenn man  etwas davon besitzt oder genommen hat, ferner (3) die Verbindlichkeit, gegebene Versprechen  zu erfüllen, (4) der Ersatz des durch unsere Schuld veranlassten Schadens und (5) die Wiedervergeltung unter den Menschen durch die Strafe .“41

Von diesen fünf Grundsätzen (lat . praecepta) habe ich den ersten unter der Bezeichnung des Respekts der Rechte der anderen Menschen ausführlich besprochen . Die  nächsten  drei  Grundsätze  sind  tragende  Grundsätze  des  Privatrechts .  Der  zweite  Grundsatz, der besagt, dass, wer fremde Gegenstände in seinem Besitz hat, diese an  seinen  Eigentümer  zurückzugeben  muss,  ist  ein  zentraler  Grundsatz  des  Sachenrechts . Für Grotius haben die Menschen mit der Institution des Eigentums auch die  Pflicht eingeführt, fremdes Eigentum unaufgefordert an seinen Eigentümer zurückzugeben, denn „das Eigentum [wurde] dazu eingeführt […], dass die Gleichheit so  weit gewahrt werde, dass jeder das Seine [suum] {habe}“ .42 Der dritte Grundsatz begründet das natürliche Vertragsrecht, gemäss dem Verträge mit gegenseitigen Verpflichtungen die Gleichheit der ausgetauschten Leistungen und anderer Bedingungen erfordern .43 Dies soll garantieren, dass die Parteien  vor  und  nach  Ausführung  des  Vertrages  gleich  (reich)  sind .  Der  vierte  Grundsatz  begründet das Haftpflichtrecht . Es bezweckt, die durch rechtsverletzende Handlung  41  Vgl . Grotius (Fn . 1), § 8 Prolegomena . 42  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel X, die zitierte Passage findet sich in § ii . 43  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XI und XII; zur Gleichheit insb . §§ viii–xiii .

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verursachte  Ungleichheit,  d . h .  den  Schaden,  wieder  auszugleichen .44  Die  Grundsätze eins und drei zielen also darauf ab zu verhindern, dass eine Ungleichheit entsteht, die Grundsätze zwei und vier zielen darauf ab, eine entstandene Ungleichheit  zwischen Privatpersonen wieder auszugleichen . Für alle vier Grundsätze ist die Idee  der Gleichheit entscheidend . Der fünfte und letzte der oben zitierten Grundsätze, die Vergeltung von Unrecht durch Strafe, begründet das natürliche Strafrecht, gehört also zu einem anderen Rechtsbereich als das Privatrecht . Dies führt uns zurück zur eingangs (vgl . Ziff . 1)  angedeuteten Auffassung von Grotius, dass die Einteilung des Rechts in Rechtsbereiche nicht kontingent sondern moralisch notwendig ist . 4  dIe eInteIlunG  des rechts  In rechtsBereIche Wir  haben  bisher  gesehen,  dass  das  natürliche  Privatrecht  zum  universellen  ethischen Ziel (Prinzip) des Schutzes des Rechtsfriedens und damit zum Gemeinwohl  beiträgt . Der Beitrag des Privatrechts ist zur Erreichung dieser Ziele notwendig, aber  für sich allein keineswegs hinreichend . Zur Sicherung des Rechtsfriedens sind neben  dem Privatrecht auch das Strafrecht und das öffentliche Recht notwendig . Jeder dieser drei Rechtsbereiche leistet einen anderen notwendigen Beitrag, um den Rechtsfrieden zu erhalten, wobei der Beitrag jedes Bereichs für sich genommen zur Erreichung  des  Ziels  nicht  ausreicht .  Für  Grotius  erklärt  sich  die  Notwendigkeit,  das  Recht in Rechtsbereiche einzuteilen, dadurch, dass jeder Beitrag notwendig, jedoch  mit unterschiedlichen Bedingungen und Zwischenzielen verknüpft ist . Dies will ich  an der Einteilung des Rechts in (1) Privatrecht (genauer Haftpflichtrecht) und Strafrecht; und (2) in Privatrecht und öffentliches Recht, veranschaulichen . (1) Die Einteilung des Rechts in Haftpflichtrecht und Strafrecht erklärt sich aus  drei komplementären Gründen: (i) Nicht jedes strafrechtliche Delikt verursacht einen Schaden . Zu denken ist gemäss Grotius nicht nur an Delikte, die keinen Schaden  verursachen,  wie  z . B .  Suizid  oder  sexuelle  Handlungen  mit  Tieren,  sondern  auch an inhärent schädigende Delikte, die im Versuch scheitern bevor der Schaden  eintritt .45 Wo ein Delikt keinen Schaden verursacht, entsteht keine Schadenersatzpflicht, doch kann die Bestrafung des Delikts notwendig sein, um den Rechtsfrieden  zu  erhalten .  (ii)  Gleichzeitig  wird  nicht  jeder  Schaden,  der  nach  einem  Ausgleich  verlangt,  durch  ein  Verbrechen  verursacht .  (iii)  Boshafte  Menschen  können  mit  Schadensbegleichung allein nicht von Verbrechen abgehalten werden . Um dies zu  erreichen sind Strafen notwendig .46 Aufgrund dieser unterschiedlichen Bedürfnisse  des moralischen Lebens sind sowohl die Sanktionen im weiten Sinn des Haftpflichtrechts als auch jene des Strafrechts notwendig, aber je für sich allein genommen zur  Sicherung des Rechtsfriedens nicht hinreichend . Dies erklärt die Notwendigkeit der  Einteilung  des  Rechts  in  Strafrecht  und  Privatrecht  (Haftpflichtrecht) .47  Mit  Blick  44  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XVII . 45  Zum ersten Grotius (Fn . 1), Buch II Kap . § xli; zum zweiten ders. (Fn . 1), Buch II Kap . I § xvi und  Kap . XX, § xxxix . 46  Deshalb enthält De Jure Belli ac Pacis zwei eigene Kapitel zum Strafrecht, vgl . Grotius (Fn . 1),  insb . Kap . XX §§ i, iv–ix und xx . 47  Vgl . Grotius (Fn . 2), Buch III Kapitel xxxii §§ 7–10; ders. (Fn . 1), Buch II Kapitel XX § xxxviii; 

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Tobias Schaffner

auf den Titel des Aufsatzes sei hinzugefügt, dass die Gleichheitsidee des Privatrechts  eine gewisse Universalität der Regeln erlaubt: Während das Strafmass beispielsweise  für Diebstahl von Land zu Land verschieden ausfällt, ist die Pflicht das gestohlene  Gut zurückzugeben (oder Schadenersatz zu leisten) und damit die privatrechtliche  Gleichheit wieder herzustellen, überall ein und die selbe . (2) Wie in der Einleitung (vgl . Ziff . 1) erwähnt, ist der universelle Rechtsschutz  des Privatrechts nur erzielbar, wenn es von gewissen persönlichen Eigenschaften, die  in anderem Zusammenhang entscheidend sind, abstrahiert . Um diese Abstraktion  von persönlichen Eigenschaften, mein Beispiel war die Mündigkeit als Kriterium für  politische Rechte, zu erreichen, ist es notwendig, das Privatrecht (und da, wo es Privatpersonen und nicht etwa den Staatsapparat schützt, das Strafrecht) vom öffentlichen Recht zu trennen . Nur dank dieser Aufteilung kann der Schutz der privatrechtlichen Gleichheit auf alle Menschen (egal welchen Alters, Geschlechts, Staatsangehörigkeit, etc .) ausgedehnt, d . h ., universalisiert, werden . Weshalb sind diese persönlichen Eigenschaften im öffentlichen Recht relevant,  währenddem sie im Privatrecht unberücksichtigt bleiben? Im öffentlichen Recht bestimmen gewisse persönlichen Eigenschaften, wer als Kandidat für ein politisches  Amt geeignet ist . Auch wir halten nicht jeden Menschen für geeignet, politisch mitzureden . Kinder sind beispielsweise von politischen Ämtern ausgeschlossen, weil es  ihnen  an  Vernunft  fehlt .  Gleichzeitig  benötigen  gerade  Kinder  den  Rechtsschutz  durch Privat- und Strafrecht . Und selbstverständlich gibt es noch weitere rechtliche  Eignungskriterien für Ämter, wie etwa die Staatsangehörigkeit, von welchen der privat- und strafrechtliche Schutz subjektiver Rechte absieht . In Grotius’ Zeit sind die rechtlichen Kriterien der Eignung für politische Rechte  und Macht noch umstrittener als bei uns . Verfechter der Monarchie und Tugendaristokratie sind sich zwar einig, dass es eine Regierung braucht, streiten sich aber darüber,  ob  Geburt  oder  Tugendhaftigkeit  das  entscheidende  Kriterium  für  die  Regierungsbeteiligung sein soll . Grotius erachtet die Institution der Regierung als eine moralische Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens, während die Wahl  der Eignungskriterien, und damit einer bestimmten Regierungsform, nicht moralisch  notwendig  ist .48  Solange  die  Regierung  das  Gemeinwohl  fördert,  sind  die  Bürger  frei, eine Monarchie, eine Tugendaristokratie oder eine Demokratie zu wählen . Das  bezeugt, dass die Institution der Regierung an sich auf Naturrecht gründet, während  die Regierungsform im Willensrecht, wenn man so will, im Gesellschaftsvertrag geregelt ist .49 Der Streit über die beste Regierungsform ist für Grotius ein Streit über die richtige  Auffassung  von  austeilender  Gerechtigkeit:  Ausgeteilt  wird  politische  Macht .  Mit  jeder  dieser  Regierungs-  oder  Staatsformen  ist  ein  anderes  persönliches  Eignungskriterium (noble Geburt, Tugendhaftigkeit, Mündigkeit und Bürgerrecht) und 

Edwin Rabbie  (Hrsg .), De  satisfactione  Christi,  übersetzt  von  Hotze Mulder,  Assen/Maastricht  1990, Kap . II §§ 9–11, wo Grotius auf Domingo de Soto, De iustitia et iure, Salamanca 1556, Buch  IV Quaestio 6 Artikel 1 verweist . 48  Zur Notwendigkeit der Regierung vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kap . IV § ii; zur Begründung der  Regierungsform im Willen, vgl . Buch I Kap . III § xvii .2 . 49  Hierzu  beachtenswert Rommen  (Fn . 21),  S . 246  (Regierungsform  nur  im  menschlichen  Recht  begründet), ebenso S . 183, vgl . weiter S . 218 und S . 177 ff .

Universelle Gleichheit in Hugo Grotius’ Lehre vom natürlichen Privatrecht 

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damit eine andere Auffassung von austeilender Gerechtigkeit verbunden .50 Im Gegensatz dazu sieht das auf der ausgleichenden Gerechtigkeit basierende natürliche Privatrecht von diesen Eignungskriterien ab: Es sieht nur den Menschen – ob Bürger,  Kind oder Fremder – und bietet ihm Schutz vor Rechtsverletzungen . Dies erklärt,  weshalb die universelle Gleichheit das zentrale Prinzip (Ziel) von Grotius’ natürlichem Privatrecht darstellt . Zusammenfassend können wir im Hinblick auf die eingangs gestellten Fragen  Folgendes festhalten: (i) Es gibt ein ethisches Prinzip (Ziel), welches das ganze Recht  im eigentlichen Sinn umspannt, das Gemeinwohl, dessen notwendiges Teilziel in  der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens besteht . (ii) Die Einteilung des Rechts in  Rechtsbereiche ist nicht kontingent, sondern zur Wahrung des Rechtsfriedens selbst  notwendig . (iii) Die universelle Gleichheit aller Menschen, d . h ., die Gleichheit von  subjektiven Rechten, gilt für Grotius nur innerhalb der Rechtsbereiche des natürlichen Privat- und Strafrechts, während im öffentlichen Recht die Menschen aufgrund  von bestimmten Eignungskriterien als ungleich erachtet werden . Die Leserin oder  der Leser wird sich fragen, wie es sich denn mit den Menschen- oder Grundrechten  verhält, die der Einzelne gegenüber dem Staat hat . Für Grotius basiert das Verhältnis  zwischen Staat und Individuum nicht auf Gleichheit . Vielmehr ist der Staat, wo er  das Gemeinwohl verfolgt, dem Individuum übergeordnet, er hat ein ius eminens, ein  höheres Recht, über die Individuen .51 Er kann beispielsweise zur Abwendung eines  Angriffs einen einzelnen Bürger an einen übermächtigen Feind ausliefern; dem Bürger fehlt hier ein subjektives Abwehrrecht gegen den Staat .52 Diesen drei Punkten sollte eine Warnung folgen: Aus der Erkenntnis, dass das  Recht als Ganzes, also die drei Rechtsbereiche Privatrecht, Strafrecht und öffentliches  Recht,  je  für  sich  einen  notwendigen  aber  nicht  hinreichenden  Beitrag  zum  Gemeinwohl leisten, darf nicht geschlossen werden, dass das Recht als Ganzes einen  hinreichenden Beitrag zu diesem Ziel liefert . Es ist der grosse Vorteil einer Rechtsphilosophie, die sich als Teil der praktischen Philosophie versteht, zu erkennen, dass der  Philosoph von Problemen auszugehen hat, in unserem Fall von der Problematik,  den Rechtsfrieden zu sichern . Wer von diesem praktischen Problem anstatt von abstrakten Begriffen ausgeht, wird sehen, dass es neben dem Beitrag des Rechts auch  jenem der auf den Tugenden basierenden eudämonistischen Ethik bedarf, um das  Gemeinwohl  zu  sichern  und  zu  fördern .  Es  muss  einer  künftigen  Untersuchung  überlassen  bleiben,  aufzuzeigen,  wie  aus  der  Perspektive  des  Gemeinwohls  Recht  und Ethik als Einheit erscheinen, und in welchem Verhältnis das Zwischenziel des  Rechtsfriedens zum letzten Ziel menschlichen Daseins steht .

50  Hierzu  vgl .  de  Soto  (Fn . 47),  Buch  III  Quaestio  V  Art . 2,  wo  Soto  Thomas von Aquin  (Fn . 7),  Prima Secundae Quaestio 105 Art . 1 Corpus kommentiert . 51  Absolute  Menschenrechte,  beispielsweise  das  Folterverbot,  könnte  der  Staat  gemäss  Grotius  wahrscheinlich durch Willensrecht einführen . 52  Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kap . XXV § iii .

MaGdalena HoFFMann* völker  Im urzustand:   zu rawls’ BeGründunG  seInes ‚rechts  der völker‘ In seiner Monographie ‚The Law of Peoples‘ operiert John Rawls gleich mehrfach mit seinem Denkmodell eines Urzustands, um acht Grundsätze des Rechts und der Gerechtigkeit auf internationaler  Ebene zu begründen: Zunächst gibt es einen Urzustand liberaler Völker, anschließend einen Urzustand von sog . achtbaren Völkern – von beiden Völkergruppen werden laut Rawls dieselben Grundsätze angenommen, obwohl das ‚Design‘ der beiden Urzustände unterschiedlich ist . Diese Argumentation von Rawls unterziehe ich einer genaueren Prüfung, wobei ich zum Ergebnis komme, dass sie  nicht zu überzeugen vermag, da Rawls nicht begründen kann, warum sich liberale Völker mit dem  bescheidenen Menschenrechtskatalog der achtbaren Völker zufrieden geben sollten . Im Anschluss  daran diskutiere ich zwei Alternativsazenarien, die ebenfalls zu den acht Grundsätzen führen würden . Obwohl ich Rawls’ Begründung der acht Grundsätze letztlich zurückweise, schließe ich mit einer Würdigung seines Ansatzes, da er mit seinem Urzustandsmodell eine normative Begründung des  Rechts vorlegt, in der die für die Legitimität des Rechts nötige Unparteilichkeit garantiert ist .

1  eInführunG John Rawls hat im Jahr 1999 mit seinem Werk The Law of Peoples1 die von Vielen  erhoffte Übertragung seiner Theory of Justice2 auf die internationale Ebene vorgelegt  – wenn auch nicht in der erwarteten Form . Anstatt seine beiden Gerechtigkeitsprinzipien, darunter das vieldiskutierte Differenzprinzip, auf den globalen Maßstab zu  übertragen, beschränkte sich Rawls darauf, mittels zweier internationaler Urzustände  acht Prinzipien zu formulieren, die das Fundament für den Umgang in einer wohlgeordneten Gesellschaft von liberalen und sog . achtbaren (decent) Völkern bilden  und als ‚Eckpfeiler‘ einer liberalen Außenpolitik fungieren sollen . Auch wenn die thematische Breite dieses Werkes anerkannt wurde, war dessen  Aufnahme nicht positiv . Insbesondere von kosmopolitisch argumentierenden Autoren wie Charles Beitz3 und Thomas Pogge4 wurde Rawls die Vernachlässigung der  individuellen Ansprüche von Menschen sowie die Negierung der Verteilungsproble-

*  1  2  3  4 

Den  Herausgebern  dieses  Tagungsbandes,  insbesondere  Prof .  Dr .  Klaus  Mathis,  möchte  ich  herzlich dafür danken, dass sie mir die Möglichkeit geben, diesen Aufsatz zu publizieren, obwohl ich wegen eines Unfalls an der Tagung nicht vortragen konnte . John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge 1999 (dt . Übersetzung: John Rawls, Das Recht der  Völker, übersetzt von Wilfried Hinsch, Berlin/New York 2002) . Im Folgenden entnehme ich die  Zitate und alle Belege zwecks besseren Leseflusses der Übersetzung . John Rawls, A Theory of Justice, 2 . Aufl ., Oxford 1999 (dt . Übersetzung: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, 10 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1998) . Charles Beitz, Rawls’s Law of Peoples, Ethics 2000 (110), S . 669–696 . Thomas Pogge, An Egalitarian Law of Peoples, Philosophy & Public Affairs 1994 (23), S . 195–224 .  Dieser Aufsatz bezieht sich zwar auf einen Aufsatz von Rawls aus dem Jahr 1993, da aber Rawls  darin die zentralen Ideen von The Law of Peoples bereits skizziert hat, ist Pogges Kritik daran auch  auf die spätere Monographie anwendbar .

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matik vorgeworfen .5 An so gut wie allen Aspekten des Law of Peoples wurde Kritik  geübt: An den Voraussetzungen, am Konzept, am Anspruch .6  In dem vorliegenden Beitrag möchte ich Rawls for the sake of argument viele seiner  Prämissen zugestehen und mich allein auf seine Begründung der acht Grundsätze,  die das Ergebnis der beiden Urzustände sein sollen, konzentrieren und prüfen, ob  seine Argumentation innerhalb seiner eigenen Konstruktion überzeugt .7 Dieser Fokus bringt es mit sich, dass viele kontroverse Punkte von mir unberücksichtigt bleiben – diese sind bereits ausführlich in zahlreichen Publikationen diskutiert worden .  Rawls’ Argumentation hingegen ist meines Erachtens noch nicht hinreichend analysiert worden . Der Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil widme ich mich  der Rekonstruktion von Rawls’ Begründung, im zweiten Teil gehe ich zur Diskussion  seiner  Argumentation  über,  die  letztlich  nicht  überzeugen  kann .  In  diesem  Kontext  werde  ich  zwei  Alternativszenarien  erörtern,  die  ebenfalls  zu  denselben  Prinzipien führen würden . Trotz meiner Vorbehalte gegenüber dem Rawlsschen Ansatz möchte ich diesen Text mit einer Würdigung abschließen, da ich in dem Urzustandsargument  –  wenn  auch  nicht  in  der  von  Rawls  präsentierten  Form  –  die  philosophisch vielversprechendste Begründungsform von Rechtsgrundsätzen sehe .  Das hängt insbesondere mit der dem Urzustand inhärenten Unparteilichkeit zusammen . Bevor ich mit der Rekonstruktion von Rawls’ Argumentation beginne, möchte  ich noch einige grundsätzliche Informationen zu The Law of Peoples vorausschicken .  Rawls  versteht  sein  Werk  als  eine  „bestimmte  politische  Konzeption  des  Rechten  und der Gerechtigkeit, die sich auf die Grundsätze und Normen des internationalen  Rechts und internationaler Praktiken“8 bezieht . Damit verbindet er den Anspruch,  eine gerechte Gesellschaft von Völkern zu begründen, deren Beziehungen untereinander  durch  rechtliche  Prinzipien  normiert  werden,  die  das  Ergebnis  einer  fairen  Ausgangsposition sind . Eine solche Gesellschaft bezeichnet er als „realistische Utopie“  –  hinter  diesem  Oxymoron  versteckt  sich  das  Anliegen,  Aufschluss  über  die  Grenzen des Machbaren geben zu wollen: Das Machbare liegt nach Rawls durchaus  jenseits des jetzigen Zustands (Utopie), ohne aber unendlich ins Imaginäre ausweitbar zu sein (realistisch) . Gleichzeitig bildet die realistische Utopie den Rahmen der  5 

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Mit dem Vorwurf, dass Rawls die individuellen Ansprüche von Menschen missachte, wenn er  Völker statt Individuen als Akteure im Urzustand auftreten lässt, eng verbunden ist die Kritik  an seiner Tolerierung achtbarer Völker, die ihre Bürger nicht als Individuen wahrnehmen . Vgl .  Kok-Chor Tan, Liberal Toleration in Rawls’s Law of Peoples, Ethics 1998 (108), S . 276–295; vgl .  Luis Cabrera, Toleration and Tyranny in Rawls’s Law of Peoples, Polity 2001 (34), S . 163–179 . Zur  Kritik  an  den  Voraussetzungen  gehört  etwa  der  Vorwurf,  dass  Rawls  Völker  als  Akteure  auftreten lässt . Vgl . Allen Buchanan, Rawls’s Law of Peoples: Rules for a Vanished Westphalian  World, Ethics 2000 (110), S . 697–721, S . 698 ff . Die Kritik am Konzept betrifft vor allem seine  Konstruktion der idealen Theorie als „realistische Utopie“, vgl . Andrew Kuper, Rawlsian Global  Justice, Political Theory 2000 (28), S . 640–674, S . 659 . Rawls’ Anspruch wird vor allem hinsichtlich der fehlenden Berücksichtigung eines globalen Differenzprinzips kritisiert, vgl . Beitz (Fn . 3);  Pogge (Fn . 4); Buchanan (Fn . 6) . Zu den Prämissen, die ich Rawls zugestehe, gehört z . B ., dass ich in der Analyse seiner Argumentation ebenfalls davon ausgehe, dass es einen Unterschied zwischen Völkern und Staaten gibt  und dass Völker die relevanten Akteure einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker innerhalb  der idealen Theorie sind . Rawls (Fn . 1), S . 1 .

Völker im Urzustand

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idealen Theorie, während die nichtideale Theorie die Schurkenstaaten und die belasteten  Gesellschaften  umfasst .9  Akteure  der  idealen  Theorie,  der  gerechten  Völkergesellschaft,  sind  die  liberalen  Völker  sowie  die  achtbaren  Völker,  wobei  letztere  zwar Demokratiedefizite aufweisen, aber dennoch hinreichend ‚anständig‘ sind, um  als Partner anerkannt zu werden . Rawls benutzt die Bezeichnung „Volk“ sehr spezifisch: Es handelt sich dabei um eine künstliche Abgrenzung zum Begriff des „Staats“,  der  nach  Rawls  bloß  von  Eigeninteresse  getrieben  ist,  während  Völker  über  eine  nicht nur rationale, sondern auch über eine vernünftige Natur verfügen, die sie erst  kooperationsfähig zu fairen Bedingungen macht .10 2  rekonstruktIon  von rawls’ arGumentatIon 2.1 der urzustand als GedankenexperiMent Mit seinem Denkmodell eines Urzustands reiht sich Rawls in die Tradition der Vertragstheorie ein . Grundlage jeder Vertragstheorie ist eine hypothetische Ausgangsposition, zu deren Überwindung die Beteiligten gute Gründe haben und die in einen sog . Gesellschaftsvertrag mündet . Dieser Vertrag kann einerseits zur Legitimation staatlicher Herrschaft dienen (z . B . bei Hobbes oder Locke), andererseits Prinzipien politischer und sozialer Gerechtigkeit begründen wie es bei Rawls der Fall ist .  Welcher  Art  und  welchen  Inhalts  der  Gesellschaftsvertrag  ist,  hängt  von  der  Beschreibung der ursprünglichen Situation ab, oder anders formuliert: Die Konstruktion des Anfangszustands bestimmt das Ergebnis, die getroffene Übereinkunft . Die  Begründungskraft der Übereinkunft speist sich nämlich aus der Notwendigkeit, mit  der sich diese Vereinbarung aus der Ausgangsposition ergibt . Aus diesem Grunde  verdient  der  Anfangszustand,  der  die  argumentative  Last  trägt,  besondere  Beachtung . Rawls bezeichnet die Ausgangsposition als „Urzustand“, der eine Situation der  Gleichheit der Beteiligten darstellt und so definiert ist, dass der Beschluss als fair gilt,  so  dass  reine  Verfahrensgerechtigkeit  herrscht .  Insgesamt  nennt  Rawls  fünf  Merkmale, die gegeben sein müssen, damit die Übereinkunft als gerecht im Sinne von  fair bezeichnet werden kann:11 Die Parteien müssen: 1)  in fairer Weise die Bürger repräsentieren, d . h . sie müssen sich in einer gleichen,  symmetrischen Position befinden;  2)  rational sein;  3)  über einen angemessenen Gegenstandsbereich verhandeln;

9 

Vgl . Teil III: Nichtideale Theorie in Rawls (Fn . 1), S . 111–149 . Die nichtideale Theorie beschäftigt  sich  mit  der  fehlenden  Konformität  von  Schurkenstaaten  und  belasteten  Gesellschaften  mit  dem  Recht  der  Völker .  Die  Schurkenstaaten  verweigern  die  Konformität  aufgrund  ihrer  aggressiven Natur, während belastete Gesellschaften wegen mangelnder politischer Kultur und  wirtschaftlich-sozial maroden Strukturen zur Befolgung des Rechts der Völker nicht in der Lage  sind . 10  Vgl . Rawls (Fn . 1), § 2 . 11  Vgl .  Rawls  (Fn . 1),  S . 34 .  Die  hier  aufgeführten  Strukturmerkmale  beziehen  sich  auf  den  Urzustand einer liberalen Gesellschaft .

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4)  ihre Entscheidung aus angemessenen Gründen fällen, d . h . aus solchen Gründen, die der Schleier des Nichtwissens12 zulässt; 5)  sowie aus Gründen, die die grundlegenden Interessen der zu Vertretenden widerspiegeln .  Wenn diese Merkmale erfüllt sind, dann ist laut Rawls Unparteilichkeit garantiert,  da der Urzustand als Situation der Gleichheit quasi Unparteilichkeit ist: „Ein unparteiisches  Urteil,  so  können  wir  sagen,  ist  ein  solches,  das  den  Grundsätzen  entspricht, die im Urzustand beschlossen würden .“13 Der Schleier des Nichtwissens ist  mit  seiner  Verhüllung  individueller  Eigenschaften  maßgeblich  daran  beteiligt;  ebenso gewährleistet er die Einmütigkeit im Ergebnis: Da keine Partei wegen fehlender Kenntnisse ihre Stellung zu ihrem Vorteil nutzen kann, erübrigen sich Verhandlungen und Koalitionen im Urzustand . 2.2 die beiden urzustände: die ausGanGsposition Auch in The Law of Peoples operiert Rawls mit seinem Modell eines Urzustands, das  er gleich zweifach anwendet: Zunächst bei den liberalen Völkern, anschließend bei  den  achtbaren  Völkern .  Dieses  gesonderte  Vorgehen  hat  Rawls  damit  begründet,  dass liberale und achtbare Völker erst auf der Grundlage der verabschiedeten Prinzipien als Gleiche konzipiert werden könnten – vorher sei daran nicht zu denken, da  es noch keine Regeln der Kooperation gäbe . Welche Probleme mit diesem Vorgehen  verbunden  sind,  werde  ich  im  nachfolgenden  Diskussionsteil  erörtern .  An  dieser  Stelle konzentriere ich mich zunächst darauf, Rawls’ Argumentation zu rekonstruieren, indem ich zuerst den Urzustand unter liberalen Völkern darstelle . Anschließend  gehe ich auf den Urzustand unter achtbaren Völkern ein, bevor ich danach das Ergebnis dieser beiden Urzustände, die acht Rechtsgrundsätze, aus den beiden Urzuständen herzuleiten versuche . 2 .2 .1  Der Urzustand unter liberalen Völkern Im  Urzustand  unter  liberalen  Völkern  haben  sich  deren  Repräsentanten  über  die  Prinzipien ihres Umgangs zu verständigen . Bei diesem Urzustand wendet Rawls die  allgemeinen  Strukturmerkmale  des  internen  Urzustands  (s .  die  Auflistung  in  2 .1)  schablonenhaft an, indem er sich an ihnen orientiert und prüft, ob sie in derselben  Art und Weise auf den Urzustand liberaler Völker passen . Differenzen ergeben sich  daher nicht in der Übertragung, sondern allein in der ‚Zuschneidung‘ der Merkmale  auf die neuen Parteien und den neuen Verhandlungsgegenstand .14 Diesem Vor gehen  liegt die Annahme zugrunde, dass es eine Analogie zwischen dem internen Urzustand einer liberalen Gesellschaft gibt und dem Urzustand unter liberalen Völkern . 

12  Der Schleier des Nichtwissens garantiert, dass im Urzustand niemand seine Position in der Gesellschaft kennt sowie andere individuelle ‚Ausstattungen‘ wie Talente, Intelligenz, Körperkraft  etc .  Wegen  der  Unkenntnis  dieser  Faktoren  beurteilen  die  Parteien  die  Grundsätze  nur  nach  allgemeinen Gesichtspunkten . Vgl . zum Schleier des Nichtwissens Rawls (Fn . 2), S . 159–166 . 13  Rawls (Fn . 2), S . 217 . 14  Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 36 .

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Dieser Analogie entsprechend, liegen die fünf genannten Strukturmerkmale beim  Urzustand unter liberalen Völkern ebenfalls vor:15 1)  Die Parteien – die Vertreter liberaler Völker – sind frei und gleich positioniert .  Die grundlegende Eigenschaft der Symmetrie sieht Rawls also durch die faire  Anordnung gewahrt . 2)  Die Völker sind als rational konzipiert; ihre Vertreter haben die Aufgabe, diejenigen Völkerrechtsprinzipien auszuwählen, die den grundlegenden Interessen  (die durch die liberalen Gerechtigkeitsgrundsätze zum Ausdruck kommen) der  Völker entsprechen . 3)  Die Repräsentanten der liberalen Völker beraten über den angemessenen Verhandlungsgegenstand, und zwar über den Inhalt des Rechts der Völker . 4)  Die Spezifizierung der Prinzipien erfolgt aus vernünftigen Gründen, indem der  Schleier  des  Nichtwissens  garantiert,  dass  jegliche  Vorteilnahme  durch  die  Kenntnis  individueller  Besonderheiten  ausgeschlossen  ist .  Bei  diesem  modifizierten Schleier des Nichtwissens verschwinden alle Kenntnisse über die Besonderheiten  des  jeweiligen  Volkes  wie  die  Größe  des  Territoriums,  der  Bevölkerung, seiner Leistungskraft, das Ausmaß natürlicher Ressourcen oder der Stand  seiner ökonomischen Entwicklung . 5)  Bei der Auswahl/Annahme der Grundsätze lassen sich die Vertreter der liberalen  Völker von deren fundamentalen Interessen leiten . Diese bestehen in der Sicherung einer Gerechtigkeitskonzeption, die das Ergebnis des internen Urzustands  ist .  Zu  einer  solchen  liberalen  Gerechtigkeitskonzeption  gehören  konstitutionelle Rechte und Freiheiten, die Überzeugung, dass diese Priorität besitzen, sowie die Garantie von Grundgütern, die den effektiven Gebrauch dieser Rechte  und Freiheiten sicherstellen sollen . Obwohl Rawls stark um die Analogie zwischen dem internen Urzustand und dem  unter liberalen Völkern bemüht ist, weist er selbst auf drei Unterschiede hin: Zu einem hat ein liberales Volk als solches keine „umfassende Konzeption des Guten“, da  es sich essentiell durch einen vernünftigen Pluralismus auszeichnet, der ein solches  einheitliches Bekenntnis ausschließt . Zum anderen werden die fundamentalen Interessen eines liberalen Volkes durch seine Gerechtigkeitskonzeption bestimmt, während es beim Bürger seine eigene „Konzeption des Guten“ ist . Drittens haben die  Bürger im internen Urzustand die Wahl zwischen Prinzipien, während sich die Vertreter der liberalen Völker darauf beschränken müssen, vorgegebene Prinzipien zu  spezifizieren und zu interpretieren . 2 .2 .2  Der Urzustand unter achtbaren Völkern Mit Hilfe eines erneuten Urzustands, diesmal zwischen achtbaren Völkern, versucht  Rawls zu zeigen, dass auch diese die von den liberalen Völkern bereits angenommenen Prinzipien akzeptieren würden, so dass von einer gemeinsamen Basis die Rede  sein kann . Anders als bei der Erweiterung des internen Zustands auf die liberalen  Völker kann sich Rawls nun nicht auf eine Analogie zwischen Bürgern und Völkern  stützen und dementsprechend die Merkmale schablonenhaft übertragen . Wegen eines  unterschiedlichen  Personenkonzepts  kann  es  nämlich  keinen  internen  Urzustand der achtbaren Völker geben . Der Konstruktion des Urzustands ist es inhä15  Die nachfolgende Auflistung ist entnommen aus Rawls (Fn . 1), S . 37 ff .

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rent, dass es eine symmetrische Anordnung von freien und gleichen Akteuren gibt  – jedes Individuum ist gleichgestellt, was bei den achtbaren Völkern nicht gegeben  ist, da die Personen nicht als gleichgestellte Individuen, sondern als Mitglieder einer  Gruppe wahrgenommen werden .16 Wenn aber dasselbe Vorgehen wie bei den liberalen Völkern aus den besagten  Gründen ausgeschlossen ist, wie wird dann die Annahme der Prinzipien begründet?  Rawls löst dieses Problem, indem er die achtbaren Völker mit Hilfe von zwei Kriterien definiert, welche dann die Begründungslast tragen .17 Das erste Kriterium orientiert sich an ‚außenpolitischen‘ Merkmalen, während das zweite Kriterium strukturimmanente Inhalte formuliert . Das erste Kriterium besagt, dass ein achtbares Volk über eine friedliche Grundeinstellung verfügt, die sich in der Absage an eine aggressive Politik und dem Streben nach einem friedlichen Völkerumgang ausdrückt . Außenpolitische Ziele eines  achtbaren Volkes werden allein auf friedlichem Wege verfolgt (z . B . durch Diplomatie, Handel etc .) . Zudem verzichtet ein achtbares Volk – obwohl es sich intern an  einer umfassenden Lehre orientiert – auf ‚missionarische‘ Einflussnahme gegenüber  anderen Völkern . Stattdessen respektiert es die politische Unabhängigkeit anderer  Völker . Das zweite Kriterium, das unterschiedliche Aspekte der Binnenstruktur betrifft,  lässt sich wie folgt aufteilen: a) Bedeutung von Menschenrechten; b) Rechtssystem;  c) Verantwortliche des Rechtssystems . Zu a): Ein achtbares Volk gewährt seinen Mitgliedern ein bestimmtes Set an Menschenrechten . Folgende Rechte listet Rawls auf:  Recht  auf  Leben,  im  Sinne  einer  grundlegenden  Sicherheit  und  eines  gesicherten  Existenzminimums; Recht auf Freiheit, wobei zum einen die Freiheit von Sklaverei,  Leibeigenschaft und Zwangsarbeit darunter subsumiert wird, zum anderen wird darunter  ein  bestimmtes  Maß  an  gedanklicher  Freiheit  verstanden,  das  rudimentäre  Religionsfreiheit sowie Gedankenfreiheit umfasst . Ferner werden noch das Recht auf  persönliches  Eigentum  sowie  das  Recht  der  formalen  Gleichheit  genannt,  womit  gemeint ist, dass gleiche Fälle gleich behandelt werden müssten . Die aufgeführten  Menschenrechte  sind  für  Rawls  Ausdruck  von  universellen  Menschenrechten,  die  nicht als spezifisch westlich oder liberal gekennzeichnet werden dürfen . Im Gegensatz  zu  liberalen  Völkern  sind  aber  politische  Teilhaberechte  in  einem  achtbaren  Volk nicht gegeben . Die Teilkriterien b) und c) betreffen das Rechtssystem eines achtbaren Volkes,  das sich an einer gemeinwohlorientierten Idee von Gerechtigkeit orientiert . Anders  als bei liberalen Völkern werden die Menschen nämlich nicht als Bürger mit gleichen, individuellen Rechten und Freiheiten wahrgenommen, sondern als Mitglieder  einer Gruppe . Damit trotz dieses korporatistischen Charakters eine minimale Form  von Legitimität bewahrt bleibt, muss laut Rawls garantiert sein, dass alle Gruppen  (und  damit  indirekt  auch  alle  Mitglieder)  in  Form  einer  etablierten  Prozedur  der  Konsultation an der Entscheidungsfindung teilhaben und auch abweichende Positionen  von  den  Verantwortlichen  berücksichtigt  werden .  Der  möglichen  Unterdrückung einer bestimmten Personengruppe (z . B . Frauen) soll dadurch begegnet werden, dass die Mehrheit ihrer Vertreter von der betroffenen Personengruppe selbst  16  Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 79 . 17  Die Beschreibung der beiden Kriterien erfolgt in Rawls (Fn . 1), S . 79 ff .

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gewählt  werden  muss .  Ein  solches  Repräsentationssystem  bezeichnet  Rawls  als  „Konsultationshierarchie“ . Zentral ist dabei für Rawls, dass es sowohl auf Seiten der  Gruppenmitglieder  als  auch  auf  Seiten  der  Verantwortlichen  (z . B .  Richter)  eine  Identifikation mit der gemeinwohlorientierten Idee von Gerechtigkeit gibt, damit  Deformationen wie der Eindruck von Zwang und Fremdbestimmung bei den Mitgliedern und Korruption sowie Machtmissbrauch bei den Verantwortlichen ausgeschlossen  sind .  Stattdessen  soll  die  Orientierung  an  der  gemeinwohlorientierten  Idee von Gerechtigkeit sicherstellen, dass es eine inhärente Anerkennung der jeweiligen Pflichten gibt, wodurch ein „achtbares System politischer und sozialer Kooperation“ entsteht .18 2.3 die acHt prinzipien: das erGebnis Bei den acht Prinzipien, die das Resultat der jeweiligen Urzustände sind, handelt es  sich um bekannte und traditionelle Grundsätze, die der Geschichte und dem völkerrechtlichen Umgang entnommen worden sind .19 Die acht Prinzipien lauten:  1 .  Völker sind frei und unabhängig und ihre Freiheit und Unabhängigkeit müssen  von anderen Völkern geachtet werden . 2 .  Völker müssen Verträge und eingegangene Verpflichtungen erfüllen . 3 .  Völker sind gleich und müssen an Übereinkünften, die sie binden sollen, beteiligt sein . 4 .  Völkern obliegt eine Pflicht der Nichteinmischung . 5 .  Völker haben das Recht auf Selbstverteidigung, aber kein Recht, Kriege aus anderen Gründen als denen der Selbstverteidigung zu führen . 6 .  Völker müssen die Menschenrechte achten .20 7 .  Völker müssen, wenn sie Kriege führen, bestimmte Einschränkungen beachten . 8 .  Völker sind verpflichtet, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen Bedingungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare  politische und soziale Ordnung haben . Bei dieser Liste erhebt Rawls keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit – es ist durchaus  denkbar, dass noch weitere Grundsätze hinzugefügt werden .21 Ferner mag ihr Anwendungsbereich variieren; Rawls weist etwa darauf hin, dass der 6 . und 7 . Grundsatz in einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker insofern überflüssig seien, als  diese Völker keine Kriege untereinander führen würden (7 . Prinzip) und als die Respektierung basaler Menschenrechte zu ihrem Wesen dazugehöre .22 Zentral sei aber,  dass die wohlgeordneten Völker bereit seien, „sich von gewissen elementaren Grundsätzen der politischen Gerechtigkeit leiten zu lassen“ .23 Diese lapidaren Kommen18  Rawls (Fn . 1), S . 81 . 19  Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 41 . Die nachfolgende Auflistung der Grundsätze ist derselben Seite entnommen . 20  Wenn von Menschenrechten im Kontext der acht Grundsätze die Rede ist, dann ist darunter das  bescheidene Set von Menschenrechten zu verstehen, das auch von achtbaren Völkern respektiert  wird . Siehe die Auflistung in 2 .2 .2 im Kontext des zweiten Kriteriums der Achtbarkeit . 21  Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 41 . 22  Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 41 . 23  Rawls (Fn . 1), S . 41 .

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tare seitens Rawls irritieren allerdings, da sie Unsicherheit bezüglich des Verhandlungsgegenstands, dem Inhalt des Rechts der Völker, schüren: Gemäß dem Vertragsargument müsste sich das Ergebnis des Urzustands zwingend aus dessen Szenario  ergeben – jedes Hinzufügen oder Weglassen wäre daher nicht mehr durch das Vertragsargument gedeckt und müsste anderweitig begründet werden . Für den Moment  möchte ich nur festhalten, dass sich hier ein ernstes Problem für Rawls verbirgt, das  im Diskussionsteil näher ausgeführt wird . Es stellt sich nun aber die Frage, wie diese Prinzipien aus den Urzuständen hergeleitet sein sollen . Betrachten wir zunächst den Urzustand unter liberalen Völkern:  Die Verabschiedung der Prinzipien 1–5 und 7 leuchtet aus folgenden Gründen ein:24  Im Urzustand herrscht Symmetrie, d . h . die Parteien sind zueinander als frei und  gleich positioniert . Es ist offensichtlich, dass jede der Parteien ein virulentes Interesse daran hat, diese Ausgangsposition nicht zu gefährden, was auch in der Verabschiedung  entsprechender  Prinzipien  zum  Ausdruck  kommt .  Das  erste  Völkerrechtsprinzip, das die Freiheit und Unabhängigkeit – kurz: Souveränität – der Völker unterstreicht und wechselseitigen Respekt vor dieser Tatsache einfordert, kann  somit als unmittelbare Übertragung des Symmetrieverhältnisses verstanden werden .  Auch  das  dritte  Völkerrechtsprinzip,  in  dem  der  Gleichheitsgrundsatz  festgelegt  wird, entspricht der Konzeption des Urzustands als Ausdruck von Symmetrie . Der  Schleier  des  Nichtwissens  verstärkt  die  Gleichheitsbedingung  noch,  indem  er  alle  besonderen ‚Ausstattungen‘ eines Volkes verbirgt . Aufgrund dieser Unkenntnis ist es  keinem Volk möglich, sie in irgendeiner Art auszuspielen . Partikularinteressen werden ausgeschaltet, um alle Völker auf einer allgemeinen Ebene als Rechtssubjekte  wahrnehmen zu können . Vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit und Gleichheit  der Völker ist das vierte Prinzip, das des Interventionsverbots, eine logische Konsequenz . Es verdeutlicht den Respekt vor eben dieser Unabhängigkeit und Gleichheit .  In diesem Kontext ist auch das fünfte Prinzip, das Krieg nur aus Gründen der Selbstverteidigung erlaubt, zu nennen . Der Schutz der eigenen Unabhängigkeit, Freiheit  und Gleichheit ist legitim, schließlich muss auch den fundamentalen Interessen der  Völker entsprochen werden . Alle anderen Maßnahmen wie Angriffskriege, Okkupation oder Sezessionskriege besitzen keine Legitimität, da mit ihnen stets die Verletzung der Unabhängigkeit und Gleichheit eines anderen Volkes verbunden ist . Damit ist das völkerrechtliche ius ad bellum allein auf die Selbstverteidigung beschränkt .  Das völkerrechtliche ius in bello, das die Rechtsbedingungen im Krieg festlegt, findet  seinen Niederschlag im siebten Prinzip, das bestimmte Restriktionen in der Kriegsführung bestimmt . Das zweite Prinzip, Ausdruck des bekannten Völkerrechtsgrundsatzes pacta sunt servanda, lässt sich aus der Vernünftigkeit der Parteien ableiten, die  deren Kooperationsbereitschaft unterstreicht . Probleme  bereiten  allerdings  der  6 .  (Menschenrechte)  und  der  8 .  (Pflicht  zur  Assistenz25) Rechtsgrundsatz, da sich bei ihnen die Frage stellt, warum liberale Völker diese in der genannten Form annehmen sollten – schließlich sind in den von  24  Vgl . die Begründung von Victoria Costa in M. Victoria Costa, Human Rights and the Global  Original Position Argument, Journal of Social Philosophy 2005 (36), S . 49–61, S . 52 . Die Herleitung der Prinzipien 6 und 8 bereiten ihm ebenfalls Mühe . 25  Die Pflicht zur Assistenz bezieht sich auf belastete Gesellschaften und ist nicht mit einer Art  Nothilfe bei Naturkatastrophen u . ä . zu verwechseln . Vielmehr sollen belastete Gesellschaften  mittels der Unterstützung beim Aufbau einer tragfähigen politischen Kultur und sozialen sowie 

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Rawls  genannten  Menschenrechten  politische  Teilhaberechte  nicht  enthalten  und  die Pflicht zur Assistenz bezieht sich auf belastete Gesellschaften, die gar nicht Teil  der Völkergesellschaft sind . Auf diese Probleme, die auch mit dem unklaren Status  des Verhandlungsgegenstands zusammenhängen, gehe ich im Diskussionsteil ein . Rawls zufolge nehmen die achtbaren Völker genau dieselben Grundsätze an wie  die liberalen Völker .26 Bei den achtbaren Völkern führt Rawls das auf deren System  der Kooperation, zusammen mit dem Kriterium der Friedfertigkeit, zurück . Da die  achtbaren Völker die Integrität anderer Völker respektieren, können sie die symmetrische Positionierung im Urzustand als fair akzeptieren, woraus sich – wie bei den  liberalen Völkern – die Annahme des ersten, dritten, vierten, fünften und siebten  Prinzips ergibt . Ihre Kooperationsfähigkeit und Achtbarkeit garantieren ferner, dass  sie  Verträge  und  Verpflichtungen  erfüllen  (2 .  Grundsatz)  sowie  auch  das  vorgegebene Set an Menschenrechten akzeptieren (6 . Grundsatz) . All dies wird durch den  Schleier des Nichtwissens noch verstärkt . Allerdings stellt sich auch hier die Frage,  warum sie den achten Grundsatz annehmen sollten (Pflicht zur Assistenz) . 3  dIskussIon  von rawls’ arGumentatIon Bei der Herleitung der acht Prinzipien ist deutlich geworden, dass die Begründung  des sechsten (Menschenrechte) und achten (Pflicht zur Assistenz) Grundsatzes Fragen aufwirft . Im Vergleich zu der ausgesprochen detaillierten Herleitung der Gerechtigkeitsprinzipien in der Theorie der Gerechtigkeit wirkt Rawls’ Argumentation in The Law of Peoples skizzenhaft, unfertig und stipulativ, so dass man als Leser mit nicht  vollends befriedigenden Erklärungen zurückgelassen wird . In diesem Diskussionsteil  möchte ich zumindest eine Begründungslücke schließen, indem ich mich im Folgenden ausführlicher mit der Frage beschäftige, warum sich die liberalen Völker in ihrem Urzustand – laut Rawls – auf die Einhaltung von „besonders dringlichen“ Menschenrechten verpflichten, obwohl darin keine politischen Teilhaberechte etc . enthalten sind . Auch wenn die Annahme der Pflicht zur Assistenz ebenso begründungswürdig  ist, werde ich auf diese Diskussion verzichten müssen, weil sie den Rahmen dieses  Aufsatzes inhaltlich sprengen würde . Damit verbunden wäre nämlich die ganze umfangreiche Debatte darüber, ob mangelnde politische Kultur oder die ungleiche Verteilung  von  Ressourcen  hauptursächlich  für  die  Situation  von  belasteten  Gesellschaften ist sowie die Frage, ob die Parteien im Urzustand nicht eher eine Art Differenzprinzip anstelle der Pflicht zur Assistenz wählen würden . Ferner würde die Erörterung des achten Prinzips das Verhältnis zwischen idealer und nichtidealer Theorie bei Rawls berühren, was insofern außerhalb meines Interesses liegt, als ich mich  auf Rawls’ Begründung der Prinzipien innerhalb der idealen Theorie, innerhalb der  Gesellschaft wohlgeordneter Völker, konzentrieren möchte .

wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dazu befähigt werden, ebenfalls ein Mitglied der wohlgeordneten Völkergesellschaft zu werden . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 131–140 . 26  Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 84 .

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3.1 liberale völker und MenscHenrecHte Der Grund für die Frage nach der Annahme des sechsten Grundsatzes durch die liberalen Völker ist, dass Rawls unter den darin genannten Menschenrechten nur eine  Klasse  von  „besonders  dringlichen“27  Menschenrechten  versteht,  die  viele  Rechte  nicht enthält, die liberale Demokratien in ihren Gesellschaften garantieren . Unter  diese „besonders dringlichen“ Menschenrechte subsumiert Rawls die „Freiheit von  Sklaverei und Leibeigenschaft, die Freiheit (aber nicht die gleiche Freiheit) des Gewissens und die Sicherheit ethnischer Gruppen vor Massenmord und Genozid .“28  An anderer Stelle ergänzt Rawls noch das Recht auf Leben (d . h . auf das für die eigene Subsistenz und Sicherheit Nötige) sowie das Recht auf persönliches Eigentum  und auf formale Gleichheit, wonach gleiche Fälle gleichbehandelt werden sollen .29  Diese Klasse dringlicher Menschenrechte stellt für Rawls die Teilmenge dar, die von  liberalen Demokratien und achtbaren Konsultationshierarchien gleichermaßen anerkannt  wird .  Darüber  hinausgehende  Menschenrechte  wie  das  Wahlrecht,  Versammlungsfreiheit,  vollumfängliche  Gewissensfreiheit  etc .,  die  liberale  Demokratien  ihren  Bürgern  einräumen,  klassifiziert  Rawls  als  „Verfassungsrechte“,  da  sie  durch das politische System des Liberalismus bestimmt seien . Nicht wenige Autoren  werfen Rawls vor, dass er damit hinter dem notwendigen (und allgemein anerkannten)  Standard  von  Menschenrechten  zurückgeblieben  sei  und  mehr  preisgegeben  hätte als nötig .30 Rawls scheint diese Kritik antizipiert zu haben, denn er beginnt  den Paragraphen, in dem er sich mit der Funktion von Menschenrechten im Recht  der  Völker  auseinandersetzt,  mit  der  Frage  „Ist  das  Recht  der  Völker  hinreichend  liberal?“31 . Rawls beantwortet diese Frage an der genannten Stelle nicht . Es ist jedoch aufgrund der Gesamtkonzeption seines Werks offensichtlich, dass ihm zufolge  liberale Völker durch die Tatsache, dass auch achtbare Völker die acht Grundsätze  annehmen, darin bestärkt werden, dass diese der Toleranz würdig sind und entsprechend als Kooperationspartner in Frage kommen . Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob das Argument des Urzustands unter liberalen Völkern tatsächlich die Verabschiedung des sechsten Rechtsgrundsatzes in  der von Rawls vorgesehenen Form zulässt . Wenn wir uns die Ausgangssituation vor  Augen führen, dann werden die Repräsentanten liberaler Demokratien mit der Aufgabe konfrontiert, auf der Basis der vorgelegten Rechtsgrundsätze zu entscheiden,  ob diese als Eckpfeiler ihrer Außenpolitik taugen und ob sie als Grundlage für eine  Kooperation in Frage kommen . Geht man nun davon aus, dass liberale Völker allein  ihren Umgang miteinander regulieren müssten, gäbe es keinerlei Grund, warum sie  auf  einen  anspruchsvolleren  Katalog  von  Menschenrechten  verzichten  sollten,  da  sie ihn ja alle qua liberale Demokratien ohnehin erfüllen . Vielmehr würde man darin die adäquate Wahrung ihrer grundlegenden Interessen sehen, die in dem Schutz  ihrer politischen Unabhängigkeit und freiheitlichen Kultur mit bürgerlichen FreiheiRawls (Fn . 1), S . 96 . Rawls (Fn . 1), S . 96 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 80 . Vgl . Beitz (Fn . 3), S . 683–688; Victoria Costa (Fn . 24), S . 57 ff . Beide Autoren vergleichen Rawls’  besonders dringliche Menschenrechte mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948,  die einen höheren Standard einfordert . 31  Rawls (Fn . 1), S . 96 .

27  28  29  30 

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ten besteht .32 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Rawls zwingend davon ausgegangen sein muss, dass die Repräsentanten liberaler Völker in ihrem Urzustand um  die  achtbaren  Völker  wissen  und  entsprechend  die  ‚Spielregeln‘  nicht  nur  für  die  Kooperation untereinander festlegen, sondern auch in Hinblick auf die achtbaren  Völker .33 Nur bei einem solchen Szenario ist die geleistete Selbstbeschränkung bezüglich der Menschenrechte seitens der liberalen Völker argumentativ nachzuvollziehen . Diese Strategie strapaziert allerdings das Vertragsargument sehr: Die Kraft der  Übereinkunft, die aus der Einigung im Urzustand hervorgeht, resultiert nämlich aus  der  Zustimmung  aller,  die  diese  Übereinkunft  betrifft .  Bei  Rawls’  liberalem  Urzustand  gibt  es  aber  über  die  Repräsentanten  liberaler  Völker  hinaus  noch  einen  weiteren Kreis der Adressaten – die achtbaren Völker –, der bei der Übereinkunft  berücksichtigt wird, ohne dass er selbst vertreten ist . Dadurch verliert das Argument  von Rawls viel von seiner ursprünglichen Überzeugungskraft, die sich daraus speiste,  dass er zu zeigen gemeint hatte, dass sowohl liberale als auch achtbare Völker unabhängig voneinander in zwei unterschiedlichen Urzuständen ein und dasselbe Recht  der Völker annehmen würden . Jetzt stellt sich allerdings heraus, dass dieser Eindruck  täuscht: Die Tatsache, dass es zwei gesonderte Urzustände – einmal unter liberalen  Völkern, einmal unter achtbaren Völkern – in Rawls’ Argumentation gibt, bedeutet  nicht, dass sie auch epistemisch eigenständig konzipiert sind: Zumindest beim Urzustand der liberalen Völker gibt es ein Wissen über die eigene Herrschaftsform hinaus, die eine Selbstbeschränkung zur Folge hat; ob die achtbaren Völker ebenfalls  ein die Herrschaftsform übergreifendes Wissen haben, bleibt bei Rawls offen – sicher ist aber, dass sie sich keinerlei Selbstbeschränkung bei der Annahme der Rechtsgrundsätze auferlegen müssen . Die getrennte Verabschiedung des selben Rechts der  Völker hat bis anhin suggeriert, dass die zwei Völker-Urzustände in relevanten Hinsichten gleich seien, doch dies ist nicht der Fall, weil allein die liberalen Völker eine  Selbstbeschränkung auf sich nehmen . Das Rawlssche Argument muss daher als gescheitert zurückgewiesen werden . Doch was würde Rawls dem entgegnen können? Wiederholt macht Rawls darauf aufmerksam, dass es beim Recht der Völker darum geht, die Eckpfeiler liberaler  Außenpolitik abzustecken – insbesondere bezüglich der Frage, inwieweit ein liberales Volk ein nicht-liberales Volk tolerieren müsse .34 Ferner betont er, dass es sich bei  diesem Vorhaben um eine Erweiterung der liberalen Gerechtigkeitskonzeption auf  achtbare Völker handele, die der Selbstvergewisserung liberaler Völker diene .35 Dies  klingt nun so, als ob Rawls den angemessenen Verhandlungsgegenstand (einer der  fünf Merkmale des Urzustands) des liberalen Urzustands in der Festlegung liberaler  Außenpolitik sähe . Wäre dies der Fall, dann wäre der Ausgang des Urzustands unter  den  liberalen  Völkern  in  der  von  Rawls  vorgesehenen  Form  tatsächlich  denkbar .  Allerdings würde dann an anderer Stelle ein neues Problem auftauchen: Der Verhandlungsgegenstand im Urzustand der achtbaren Völker wäre dann ein anderer als  der im Urzustand der liberalen Völker, denn es wäre absurd, achtbare Völker über  die Festlegung liberaler Außenpolitik bestimmen zu lassen . In beiden Fällen aber  32  33  34  35 

Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 38 . Dies wird von Rawls bestätigt . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 47 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 8 f ., S . 62, S . 71 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 67 .

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bestimmt Rawls den „Inhalt des Rechts der Völker“ als Verhandlungsgegenstand, der  „faire  Bedingungen  der  politischen  Kooperation  mit  anderen  Völkern  festlegt“36 .  Allgemein bekommt man den Eindruck, dass Rawls in seiner Argumentation zwischen  dem  Bestreben,  Kriterien  liberaler  Außenpolitik  zu  bestimmen,  und  dem  Wunsch, eine Grundlage der Kooperation zu begründen, changiert und damit für  Verwirrung sorgt . Für den Moment lässt sich also festhalten, dass Rawls nicht zufriedenstellend begründen kann, warum liberale Völker dem sechsten Rechtsgrundsatz  (Respektierung dringlicher Menschenrechte) in dem von ihm konzipierten Szenario  zustimmen sollten . Möchte man an dem Vorhaben, die Rechtsgrundsätze zu begründen, festhalten,  gäbe es zwei alternative Szenarien, mit denen man zu dem gewünschten Recht der  Völker käme . Diese beiden Alternativen möchte ich im Folgenden erörtern, wobei  ich mich in erster Linie auf das erste Szenario konzentriere . Die erste Alternative  (A1)  besteht  in  einem  gemeinsamen  Urzustand  von  liberalen  und  achtbaren  Völkern; die zweite Alternative (A2) hat zwei vollständig unabhängige Urzustände von  liberalen Völkern einerseits und achtbaren Völkern andererseits zum Gegenstand;  als Ergebnis davon kämen zwei nicht identische Prinzipienlisten heraus, wobei deren Schnittmenge dann den gemeinsamen Rechtskorpus darstellen würde . 3.2 zWei alternativszenarien 3 .2 .1  Ein gemeinsamer Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern In einem gemeinsamen Urzustand beider ‚Völkerklassen‘ würden die Repräsentanten der Völker hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht wissen, ob sie ein achtbares oder ein liberales Volk vertreten . Sie würden demnach – ausgehend von der Situation der Gleichheit – allein Rechtsgrundsätze bestimmen, die deren Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichheit zum Ausdruck bringen würden, sowie Prinzipien verabschieden, die einer Kooperation auf dieser Basis förderlich wären . Bei der Bewahrung ihrer grundlegenden Interessen würden sich die Vertreter – im Unwissen darüber, ob sie die Güter einer liberalen Demokratie oder einer achtbaren Konsultationshierarchie zu bewahren haben – genau auf die dringliche Klasse von Menschenrechten einigen, die Rawls vorschwebt . Im Vergleich zu Rawls’ Konstruktion scheint dieser Vorschlag naheliegend und  wenig umständlich zu sein . Was aber könnte Rawls dazu bewogen haben, ihn gar  nicht erst in Betracht zu ziehen? Ich sehe zwei mögliche Gründe für seine Ablehnung eines gemeinsamen Urzustands: 1) Rawls erachtet die liberalen und achtbaren  Völker  als  nicht  hinreichend  gleich,  damit  sie  in  einem  gemeinsamen  Urzustand  positioniert werden können . Der Urzustand beschreibt eine Situation der Gleichheit  par excellence, indem er individuelle Eigenschaften mittels des Schleiers des Nichtwissens nivelliert und damit eine vollkommene Symmetrie der Parteien garantiert .  Für Rawls sind die achtbaren Völker aber nicht ebenso vernünftig wie die liberalen  Völker, da deren Achtbarkeit lediglich eine schwächere Variante von Vernünftigkeit 

36  Rawls (Fn . 1), S . 84; vgl . für den Urzustand der liberalen Völker S . 36; für den Urzustand achtbarer Völker S . 84 .

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ist .37 Daher müsse erst eine gemeinsame politische und rechtliche Basis (das Recht  der Völker) gelegt werden, bevor die Völker als Gleiche positioniert werden können .  Auf  dieser  Grundlage  ist  danach  auch  ein  gemeinsamer  Urzustand  von  liberalen  und achtbaren Völkern denkbar, beispielsweise zur Schaffung von Institutionen wie  die EU .38 Was an dieser Argumentation irritiert, ist der Umstand, dass das Vertragsargument darin quasi ‚zweckentfremdet‘ wird: Der Urzustand unter achtbaren Völkern  wird nicht mehr in seinem Kontext gesehen – die Ermittlung von Rechtsgrundsätzen –, sondern wird ausschließlich aus dem Blickwinkel der liberalen Völker beobachtet, die darin eine Art ‚Lackmustest der politischen Reife‘ sehen, der anzeigen  soll, ob die achtbaren Völker als Partner in einer wohlgeordneten Gesellschaft der  Völker  in  Frage  kommen .  Ferner  könnte  man  fragen,  ob  es  tatsächlich  des  Urzustands der achtbaren Völker bedarf, um zu diesem Ergebnis zu kommen . Warum  braucht es noch die zusätzliche Bestätigung durch den Urzustand, wenn bereits die  beiden Kriterien, mit denen ein achtbares Volk bestimmt wird, zeigen, dass sie zur  Kooperation fähig sind? Die angenommenen Rechtsgrundsätze fügen dem normativ nichts hinzu . Zudem betont Rawls selbst, dass ein achtbares Volk Gleichbehandlung seitens anderer liberaler Völker erwarten darf, selbst wenn es seine eigene Bevölkerung  nicht  gleichbehandelt:  „Auch  wenn  innerhalb  einer  Gesellschaft  keine  vollständige Gleichheit besteht, kann gleichwohl vernünftigerweise Gleichheit bezüglich ihrer Ansprüche gegenüber anderen Gesellschaften gefordert sein .“39 Diese  Ansprüche dürften m . E . allerdings schon bestehen, bevor die achtbaren Völker ihre  Kooperationstauglichkeit indirekt durch die Annahme der Rechtsgrundsätze unter  Beweis  stellen .  Würde  man  von  dem  Gleichheitsparadigma  ausgehen  und  einen  gemeinsamen Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern konstruieren, hätten  die Rechtsgrundsätze eine größere normative Kraft, da sie sich direkt aus der Situation  der  Symmetrie  ergeben  würden  anstatt  aus  der  Parallelität  der  beiden  Urzustände . 2)  Der  zweite  Grund  für  Rawls’  Ablehnung  eines  gemeinsamen  Urzustands  könnte darin bestehen, dass er in den verschiedenen grundlegenden Interessen der  liberalen und achtbaren Völker ein Problem für eine Übereinkunft sieht . Die Parteien  im  Urzustand  sind  als  rational  konzipiert  und  sie  haben  die  Aufgabe,  die  grundlegenden Interessen der Völker, die in der Wahrung und optimalen Förderung  der  eigenen  Grundstruktur  bestehen,  zu  vertreten .  Da  aber  liberale  und  achtbare  Völker eine unterschiedliche Grundstruktur besitzen, könnten ihre Repräsentanten  ihren ‚Auftrag‘ gar nicht zufriedenstellend erfüllen . Im Rahmen dieser Argumentation weist Charles Beitz40 zu Recht darauf hin,  dass im liberalen heimischen Urzustand solche Unterschiede in den individuellen  Konzeptionen des Guten (die mit den grundlegenden Interessen zusammenhängen)  durch den Schleier des Nichtwissens verborgen sind, während sie im globalen Maßstab sichtbar bleiben . Daraus schließt er, dass die beiden liberalen Urzustände (intern und ausgeweitet auf Völker) nicht analog seien, was er auf einen unterschiedlichen Verhandlungsgegenstand zurückführt: Während der interne liberale Urzustand  37  38  39  40 

Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 82 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 86 . Rawls (Fn . 1), S . 86 . Vgl . Beitz (Fn . 3), S . 675 .

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Gerechtigkeitsprinzipien  verpflichtet  ist,  würde  der  liberale  Urzustand  der  Völker  nicht der Ermittlung von Gerechtigkeitsprinzipien dienen, sondern der Formulierung liberaler Außenpolitik . Damit wären wir aber wieder mit demselben Problem konfrontiert, das bereits  bei der Frage nach den Beweggründen liberaler Völker bezüglich der Annahme bloß  dringlicher Menschenrechte aufgetaucht ist: Wäre die Festlegung liberaler Außenpolitik der Verhandlungsgegenstand des liberalen Urzustands, wäre nicht ersichtlich,  warum auch achtbare Völker darüber verhandeln sollten . Außerdem gibt Rawls in  beiden  Urzuständen  der  Völker  denselben  Verhandlungsgegenstand  an,  nämlich  den Inhalt des Rechts der Völker, was zur grundlegenden Frage führt: Was versteht  Rawls unter dem „Recht der Völker“? Betrachtet man Rawls’ Definitionen vom „Recht der Völker“ wird schnell deutlich, dass er diesen Ausdruck mehrdeutig verwendet . Einerseits scheint er unter dem  „Recht der Völker“ die „Grundsätze der Außenpolitik eines liberalen Volkes“41 zu  verstehen, andererseits definiert er dieses Recht als etwas, „das die Grundstruktur der  Beziehungen zwischen Völkern reguliert“42 bzw . „faire Bedingungen der politischen  Kooperation mit anderen Völkern festlegt“43, womit er dem Charakter der Rechtsgrundsätze, die er ja den Normen des internationalen Rechts entnimmt, zweifelsohne besser gerecht werden würde . Diese Mehrdeutigkeit scheint mir das zentrale  Problem  seiner  Argumentation  zu  sein:  Rawls’  Begründung  der  Annahme  der  Rechtsgrundsätze durch liberale und achtbare Völker funktioniert nur, wenn er beim  Urzustand der liberalen Völker (Festlegung liberaler Außenpolitik) von einem anderen  Verhandlungsgegenstand  ausgeht  als  beim  Urzustand  der  achtbaren  Völker  (Festlegung fairer Bedingungen der Kooperation), was allerdings seine Gesamtargumentation  schwächt,  die  darauf  angewiesen  ist,  dass  der  Verhandlungsgegenstand  derselbe ist . 3 .2 .2  D   as Recht der Völker als Schnittmenge zweier vollkommen unabhängiger  Urzustände Beim  Szenario  der  zweiten  Alternative  gäbe  es  zwei  vollständig  unabhängige  Urzustände: Einmal unter liberalen Völkern, dann unter achtbaren Völkern .44 Der Unterschied zu Rawls’ Konzeption besteht darin, dass bei A2 die jeweiligen Parteien im  Urzustand nicht von der Existenz der anderen Völkergruppe wüssten . Es ist davon  auszugehen, dass die Prinzipien, die die eigene Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit  und faire Kooperationsbedingungen garantieren, in derselben Form angenommen  werden würden . Allerdings würden die liberalen Völker einen wesentlich anspruchsvolleren Menschenrechtskatalog verabschieden als die achtbaren Völker, da es keinerlei Grund für ihre Vertreter gäbe, sich selbst normative Beschränkungen aufzuerlegen .  Damit  es  aber  im  Anschluss  zu  einer  Kooperation  zwischen  liberalen  und  achtbaren Völker kommt, müsste ein weiterer Schritt erfolgen: Die Abgleichung der 

41  42  43  44 

Rawls (Fn . 1), S . 8 . Rawls (Fn . 1), S . 37 . Rawls (Fn . 1), S . 84 . Dieser Alternativvorschlag wird von M . Victoria Costa kurz erörtert . Vgl . Victoria Costa (Fn . 24),  S . 54 .

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beiden angenommenen, nicht ganz identischen Rechtsprinzipienkataloge, bei der  man sich dann nur auf die dringliche Klasse der Menschenrechte einigen könnte . Das Problem bei diesem Vorschlag besteht darin, dass ihm die normative Kraft  fehlt, die das ursprüngliche Urzustandsargument auszeichnet . Sowohl bei Rawls als  auch bei A1 gehen die angenommenen Rechtsprinzipien unmittelbar aus dem Urzustand hervor, der eine Situation der Gleichheit, der Symmetrie und der Unparteilichkeit repräsentiert – Kennzeichen, die der Übereinkunft eine besondere Legitimität verleihen . Indem bei A2 nach den beiden Urzuständen noch eine Abgleichung  der angenommenen Grundsätze bzw . eine Verhandlung darüber erfolgt, wird die im  Denkmodell des Urzustands geschaffene ideale Situation konterkariert . Wie bei Verhandlungen im Allgemeinen und denen auf der internationalen Bühne im Besonderen, droht nämlich eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, indem politische  und ökonomische Macht ausgespielt wird . Die beiden der Verhandlung vorausgehenden Urzustände  wären  dann argumentativ  überflüssig .  Obwohl A2 zur  selben  Liste von Rechtsgrundsätzen führen würde wie Rawls’ Konzeption oder A1, überzeugt diese Alternative daher nicht . 3 .2 .3  Zusammenfassung Die  Diskussion  der  beiden  Alternativszenarien  hat  gezeigt,  dass  ein  gemeinsamer  Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern die angenommenen Rechtsgrundsätze besser begründen könnte als getrennte Urzustände der beiden ‚Völkerklassen‘  – sei es in Rawls’ Konzeption, sei es in der Version der vollkommenen Unabhängigkeit .45 Darüber hinaus ist im Kontext der Diskussion von Rawls’ Ablehnung eines  gemeinsamen Urzustands von liberalen und achtbaren Völkern meines Erachtens  deutlich geworden, dass sich die Mehrdeutigkeit und Unschlüssigkeit von Rawls, die  bereits  beim  Verhandlungsgegenstand  deutlich  geworden  ist,  durch  das  gesamte  Werk The Law of Peoples hindurchzieht: Einerseits hält er die liberalen und achtbaren  Völker für nicht gleichwertig und geht von einer inhärenten Überlegenheit der liberalen Völker aus, weshalb er diesen beiden ‚Völkergruppen‘ einen gemeinsamen Urzustand zur Bestimmung der Grundsätze ihrer Kooperation verweigert . Andererseits  möchte  er  faire  Bedingungen  der  Kooperation  zwischen  ihnen  begründen  und  spricht sich dezidiert dagegen aus, dass man achtbare Völker wegen ihrer fehlenden  Liberalität nicht gleich behandelt . Den Ausweg aus diesen widersprüchlichen Positionen meint er in der prima facie eleganten Trennung der Urzustände von liberalen  und achtbaren Völkern zu finden, die dann just dasselbe Recht der Völker annehmen . Doch diese Lösung hat sich nicht als überzeugend herausgestellt, da nicht begründet  werden  konnte,  warum  sich  liberale  Völker  mit  der  Verabschiedung  bloß  dringlicher Menschenrechte zufrieden geben sollten .

45  Ob ein gemeinsamer Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern allerdings aus anderen  Gründen  (z . B .  zu  minimales  Konzept  von  Menschenrechten)  abzulehnen  ist,  wäre  weiterer  Diskussion würdig . In dem Kontext des Beitrags geht es mir nur um die überzeugendste Begründung von Rawls’ Rechtsgrundsätzen .

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4  würdIGunG Die Überschrift „Würdigung“ am Ende dieses Aufsatzes, in dem ich viel Kritik an  Rawls’ Begründungsleistung geübt habe, mag überraschen . Ungeachtet der Skepsis  gegenüber  seinem  konkreten  Ansatz  bin  ich  der  Meinung,  dass  Rawls  mit  seiner  Grundidee,  allgemein  anerkannten  Rechtsgrundsätzen  mit  Hilfe  seines  Modells  vom  Urzustand  zu  neuer  Legitimität  zu  verhelfen,  Wichtiges  geleistet  hat .  Diese  Form der Begründung scheint mir nämlich aufgrund der Gleichheit, Symmetrie und  Unparteilichkeit, die der Ausgangsposition inhärent ist, für Rechtsnormen besonders vielversprechend zu sein . Dies gilt umso mehr, als Rawls einen eher ‚technischen‘  Begriff  der  Unparteilichkeit  favorisiert,  indem  er  Unparteilichkeit  als  pure  Verfahrensgerechtigkeit beschreibt, die mittels des Schleiers des Nichtwissens garantiert wird .46 Ferner gibt es wegen der fehlenden Kenntnisse, was die eigene Position  betrifft, im Urzustand weder Verhandlungen noch Koalitionen, da es keinen Sinn  macht, sich auf dieser Basis Vorteile beschaffen zu wollen .47 Damit ist eine wichtige  Quelle der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes beseitigt, die insbesondere im internationalen Kontext zahlreiche Konflikte wegen der herrschenden Machtasymmetrie verursacht . Selbstverständlich handelt es sich bei Rawls’ Urzustandsmodell um ein Gedankenexperiment, um ein normatives Ideal . Doch dies schmälert die Begründungskraft  insofern nicht, als jede normative Begründung von Recht darauf angewiesen ist, eine  rechtspositivistische Legitimation zu überwinden . Im Vergleich zu Grotius’ naturrechtlicher Begründung und Kants metaphysischer Rechtslehre hat Rawls aber eine  politische Konzeption von Recht und Gerechtigkeit vorgelegt, die auf die gegenwärtigen Verhältnisse besser zugeschnitten ist .

46  Unparteilichkeit ist kein eindeutig definierter Begriff, da es unterschiedliche Konzeptionen von  Unparteilichkeit gibt . So beansprucht etwa die Figur des „mitfühlenden Beobachters“ bei David  Hume und Adam Smith ebenfalls Unparteilichkeit für sich, indem sie eine Art Vogelperspektive  einnimmt, bei der alle Interessen jedes Menschen gleichermaßen berücksichtigt werden . Siehe  die Auseinandersetzung von Rawls mit dieser Variante von Unparteilichkeit in Rawls (Fn . 2),  S . 211–220 . 47  Vgl . Rawls (Fn . 2), S . 163 .

rainer keil unparteIlIchkeIt  und unIversalIsIerBarkeIt:   tauGlIche krIterIen  für  das mass  an offenheIt  terrItorIaler  aussenGrenzen  für flüchtlInGe  und ImmIGratIon? Sehr gegensätzliche Intuitionen zum Verhältnis von universalistischer Gerechtigkeit zu Immigration  und Flüchtlingsschutz scheinen zu Beginn des Artikels auf . Sodann wird versucht, mit ihnen verbundene, argumentativ-diskursiv zugängliche Grundfragen anzureißen . Ob und inwiefern politische Außengrenzen überhaupt sinnvoll als Problem der Gerechtigkeit diskutiert werden können, erscheint  problematisch . Skeptizistische Ansätze lehnen dies ab oder versuchen, das Problem unter Gesichtspunkten der Souveränität und gesellschaftlich-eigener Werte abzuhandeln, um bestenfalls Empathie  durch Nähe zu generieren und handlungswirksam werden zu lassen . Walzers Modell der Gerechtigkeitssphären erscheint als sehr subtil und einfühlsam in der Wahrnehmung von Phänomenen, aber  auch  als  wenig  systematisch .  Ähnliches  gilt  für  den  Utilitarismus  Peter  und  Renata  Singers .  Diese  Ansätze tun sich schwer mit einer gerade rechtsphilosophischen und auf Rechte bezogenen Herangehensweise . Der Gerechtigkeitstheoretiker Rawls dagegen schließt internationale Mobilität aus dem  Horizont seiner explizit nicht kosmopolitischen Erwägungen weit gehend aus . Der Klassiker I . Kant,  an dem er sich orientiert, ist ihm an dieser Stelle überlegen: Er kennt auch ein systematisch zentral  platziertes,  aber  illusionslos  vorsichtig  ausformuliertes  und  an  Freiheit  als  Angelpunkt  praktischer  Philosophie rückgekoppeltes Weltbürgerrecht – als Forderung an das geltende Recht .

1  eInleItunG 1.1 zWei einander radikal entGeGen Gesetzte intuitionen Konträre Intuitionen1 drängen sich auf, wenn man gegen Migration zwangsbewehrte  Außengrenzen eines politischen Gebildes der Frage der Gerechtigkeit aussetzt . Einer  ersten erscheint schon die Frage der Gerechtigkeit verfehlt: Menschen ohne Bürgerschaft  könnten  kein  moralisch  begründbares  Recht  auf  Einreise  oder  gar  Einwanderung  haben .2 Ihr entspricht, dass Fragen der Migration oft in Debatten über globale Verteilungsgerechtigkeit nicht mitdiskutiert werden .3 Eine andere Intuition nimmt auf,  dass aus der Sicht Einreise- oder -wanderungswilliger die Möglichkeit, sie einseitig,  ohne  Gründe  an  der  Verwirklichung  ihres  Wunsches  zu  hindern,  als  ungerecht erscheinen kann . So ist die Frage nach der Öffnung der U .S .A . für Einwandernde mit  1 

2 

3 

Vgl .  zur  Tauglichkeit  von  und  Kritik  an  Intuitionen  als  Quelle  normativer  Einsicht  Robert E. Frazier, Intuitionism in Ethics, in: Edward Craig (Hrsg .), The Shorter Routledge Encyclopedia  of Philosophy, Abingdon/New York 2005, S . 456 sowie Wulf Kellerwessel, Intuismus, ethischer,  in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg .), Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, 2 . Aufl ., Stuttgart 1999, S . 271 . Vgl . hierzu die Position des einheimischen „Explorer“ gegenüber einwanderungswilligen „Apollonians“ im Dialog bei Bruce Ackerman, Social justice in the liberal state, Yale 1980, S . 90: „No  Neutrality objections please; by its own terms, the third principle limits its protection to ‚citizens’ .“ Zutr . der Untertitel von Ines Sabine Roellecke, Gerechte Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitskriterien:  Ein  dunkler  Punkt  der  Gerechtigkeitstheorien,  Baden-Baden  1999 .  Vgl .  als  Beispiel  etwa den sonst wertvollen Band Peter Siller/Gerhard Pitz (Hrsg .), Politik der Gerechtigkeit: Zur  praktischen Orientierungskraft eines umkämpften Ideals, Baden-Baden 2009 .

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der  Grundfrage  praktisch-normativer  Rechtsphilosophie  assoziiert  worden:  Was  rechtfertigt  Zwang  –  die  von  Menschen  ausgehende  Beeinträchtigung  der  Handlungsfreiheit anderer Menschen – und seine Regelung4 und inwiefern5 trägt diese  Rechtfertigung? Vor allem bei existenzieller Bedrohung im Herkunftsstaat wird sie  relevant: Wer es als Jüdin oder Sinti geschafft hat, dem Tod im sog . Dritten Reich zu  entkommen, wer Folterknechten und Mördern der Tscheka, gar des NKWD oder  der Militärs unter Pinochet, den unfassbaren Brutalitäten der Khmers Rouges oder  der Kulturrevolution Maos, Ruandas ethnischem Horror, den massakrierenden Kindersoldaten im Diamantenkrieg Sierra Leones, dem Religionsterror der Taliban, der  Steinigung im Iran oder dem Juche-Terror der Kim-Dynastie entflohen ist, wird es  kaum nur als Unglück, sondern als elementares Unrecht empfinden, wenn die Abschiebung dorthin droht . 1.2 diskursiv erscHliessbare norMative einsicHten Ein intuitiver Zugang macht Facetten des Problems sichtbar, erhellt aber nicht, wie  wir  es  einer Lösung  entgegen  führen  können .6 Deshalb stehen wir vor der Frage:  Was lässt sich diskursiv an normativer Einsicht hierzu erschließen? Die Öffnung oder Schließung territorialer Grenzen von Staaten oder supranationalen Staatenverbünden für Migration scheint sich auf Außengrenzen jenes Rahmens zu beziehen, in dem erst Gerechtigkeit gehaltvoll denk-, verhandel- oder realisierbar ist . Kann sie überhaupt mit Kategorien der Gerechtigkeit begriffen werden? Universalisierung zielt auf ein begriffliches Ganzes, das sich sinnvoll auf das zu  beurteilende  kontingente  Partikulare  beziehen  lässt .  Bei  der  Gewinnung  von  Gesichtspunkten der Gerechtigkeit kann die mit ihr verbundene Forderung der Unparteilichkeit oft helfen . Aber die Annahme eines Standpunkts, der ne-utrum – wörtlich:  „keins von beidem“ – ist, leistet nur einen angemessenen Beitrag, wenn die Abstraktion nicht das Sachproblem selbst aus dem Blickfeld geraten lässt .7 Ein geeignetes:  nicht zu abstraktes noch zu konkretes tertium comparationis muss eine Gemeinsamkeit der Positionen sicherstellen . Diese muss den Vergleich gerade für die zu beurteilende Frage rechtfertigen, ihn aus der Sicht eines unbefangenen Zuschauers8 als legi4  5 

6  7 

8 

Joseph H. Carens, Aliens and Citizens: The Case for Open Borders, The Review of Politics 1987,  S . 251–273, S . 251; ähnlich Ackerman (Fn . 2), S . 92 „exercising power“, S . 93 zu rechtfertigende  „power to exclude“ . Joseph H. Carens, The Philosopher and the Policymaker: Two Perspectives on the Ethics of Immigration with Special Attention to the Problem of Restricting Asylum, in: Kay Hailbronner/David a. Martin/Hiroshi Motomura (Hrsg .), Immigration Admissions: The Search for Workable policies  in Germany and the United States, Provicence, Rhode Island 1997, S . 3–50, S . 6 . “What forms  of control are morally permissible from a liberal perspective?” Vgl . zum Einwand gegen den ethischen Intuitionismus, dass „verschiedene Personen Verschiedenes,  u . U .  moralisch  Unverträgliches  als  evident  ansehen,  ohne  daß  eine  immanente  […]  Überprüfung ihrer Ansichten möglich wäre“, Kellerwessel (Fn . 1) . Vgl . Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983,  S . 14; dt . Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit,  Frankfurt  a . M .  2006,  S . 20  und,  deutlicher,  die  Problembeschreibung  im  Vorwort  für  die  dt .  Neuauflage, S . 3 . Zu „Unparteilichkeit“, „der allgemeine Standpunkt“ und zur Bedeutung der „Zuschauer“-Per-

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tim erscheinen lassen und9 es Beteiligten, wenn sie sich auf die Gründe einlassen,  erlauben, sich selbst in ihm wiederzufinden .10 Gibt es eine solche Gemeinsamkeit  zwischen Angehörigen der Einreise- und Einwanderungsgesellschaft und Einreisewilligen und unter verschiedenen Gruppen der Letzteren?11 2  ansätze  zur annäherunG  an  das proBlem 2.1 skeptizistiscHe positionen Manche  Autoren  weisen  die  moralische  Fragestellung  skeptizistisch12  als  falsch  zurück,13 wähnend, sie könnten ihr ausweichen,14 oder formulieren sie so, dass der  praktisch-philosophische  Gehalt  kaum  erkennbar  ist .  So  bekämpft  Christina Boswell15 universalistische Begründungen einer Flüchtlingspolitik . Diese neigten dazu,  die  Grenzen  des  Machbaren  zu  überschreiten16  oder  seien  inkohärent .17  Die  zu  Grunde  liegende  kognitive  Theorie18  könne  keine  moralische  Motivation  bewirken .19  Rationale  Begründung  von  Moral  überschätze  das  Vernunftvermögen,  sie 

9  10  11  12 

13 

14 

15  16  17  18  19 

spektive vgl . Hannah Arendt, Das Urteilen: Texte zu Kants politischer Philosophie, München  1998, Siebente Stunde, S . 57–65 und erneut Neunte Stunde, S . 75 f . Zum Problem der „besonderen Bedingungen der Standpunkte, durch die man sich hindurcharbeiten muß, um zu dem eigenen ‚allgemeinen Standpunkt’ zu gelangen“ vgl . Hannah Arendt  (Fn . 8), Siebente Stunde, S . 61 . Dies ist ein Aspekt der Forderung, dass „sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, zugleich als Autoren des Rechts verstehen können“ (Jürgen Habermas, Faktizität und  Geltung, 4 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1994, S . 153) . Ausführlich zur Problematik Matthew J. Gibney, The Ethics and Politics of Asylum, Cambridge  2004, S . 23–84 . Vgl .  zur  Skepsis  als  „umfassende[r]  Enthaltung  des  Urteils“  Achim Engstlers  Artikel  „Skepsis“  (dort das Zitat), „Skeptizismus“ und „Epoché, skeptische“, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard  (Hrsg .),  Metzler-Philosophie-Lexikon:  Begriffe  und  Definitionen,  2 . Aufl .,  Stuttgart  1999,  S . 546 f . bzw . S . 141 f .; ferner Steward Cohen, Scepticism, in: Edward Craig (Hrsg .), The Shorter  Routledge Encyclopedia of Philosophy, London 2005, S . 934–939 . Kay Hailbronner, Citizenship and Nationhood in Germany, in: William R. Brubaker, Immigration and the politics of citizenship in Europe and North America, Lanham 1989, S . 67– 79, S . 75  meint, Fragen der Einbürgerungs- und Immigrationspolitik könnten nicht determiniert werden  durch  Fragen  danach,  was  moralisch  oder  unmoralisch  sei,  sondern  allein  durch  politisches  Ausbalancieren von Interessen . Dass auch ein solcher Standpunkt moralisch argumentiert und sich selbst den Einwänden gegen  moralische Argumentation aussetzt, wird übersehen . „Wer je eine schwierige ethische Entscheidung durchdacht hat, weiß, daß mit der Kenntnis dessen, was unsere Gesellschaft […] erwartet,  die Entscheidung noch nicht getroffen ist . Wir müssen selbst die Entscheidung treffen“ (Peter Singer, Praktische Ethik: Übersetzt von O . Bischoff, J .-Cl . Wolf und D . Klose, 2 . Aufl ., Stuttgart  1994, S . 21) . Wer nicht willkürlich verfahren will, muss nach Kriterien suchen, auch dann, wenn  er als Rechtspolitiker Interessen ausbalanciert . Im einfühlsam-subtilen Buch Christina Boswell, The Ethics of Refugee Policy, Aldershot 2005 . Zentrale  These  des  Kapitels  2  “Liberal  Universalism  and  the  Problem  of  Feasibility”,  Boswell  (Fn . 15), S . 35–55, S . 49 und S . 53, ferner S . 89 . Zentrale  These  des  Kapitels  3  “Thin  Universalism  and  the  Problem  of  Internal  Coherence”,  Boswell (Fn . 15), S . 57–74 . Boswell (Fn . 15), v . a . S . 112–121 . Kapitel 5 “The Role of Reason in Moral Motivation”, Boswell (Fn . 15), S . 101–123 .

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setze die Anerkennung des Wertes des Selbst gerade als rational und frei voraus, was  sich nicht begründen lasse .20 Es gebe nur „historisch kontingente Quellen moralischer Glaubenspositionen“ .21 Weil es ihr um die Förderung der Motivation zu moralischem Handeln geht, hält sie eine Dichotomie von persönlicher und unparteiischer Perspektive und jene von partikularem Eigeninteresse und universeller moralischer Pflicht für kontraproduktiv .22 Für den Flüchtlingsschutz relevante Güter hätten einen besonderen Ort unter den Werten unserer partikularen Gesellschaft23 sowie dem, woran wir glaubten und was unsere Identität ausmache .24 Sie könnten als  Quelle der Bestätigung25 und als Mittel für die Kanalisierung einer empathischen  Disposition dienen .26 Wer eine solche Position einnimmt, mag sich für einen großzügigen, auch rechtlichen27 Flüchtlingsschutz oder für eine restriktive Politik einsetzen; das folgt dann  allerdings nicht aus Argumenten, die die Sache betreffen, sondern aus dem Zufall,  welche  Werte  herrschen .  Wer  Ethik  reduziert  auf  ihren  Bezug  auf  eine  besondere  Gesellschaft, droht „höchst unplausible Konsequenzen“28 akzeptieren zu müssen,  etwa diejenige, dass Sklaverei hier und jetzt falsch sei, aber in einer benachbarten  Sklavenhaltergesellschaft dann nicht, wenn maßgebliche Personen das dort anders  sähen .  „Weshalb  sich  darüber  streiten?“29  Sie  kann  dann  auch  hinauslaufen  auf  Zweifel an der „Justitiabilität des Asylrechts“,30 wie es in den achtziger und neunziger  Jahren  des  20 .  Jahrhunderts  geschah,  als  manche  forderten,  das  Asylrecht  als  subjektiv-öffentliches Recht abzuschaffen .31 2.2 Walzers Gut der MitGliedscHaFt und seine GerecHtiGkeitsspHäre Michael Walzer verfolgt, ausgehend von einer Güterlehre,32 mit seinem Konzept der  Sphären der Gerechtigkeit das universelle33 Ziel, dass kein gesellschaftliches Gut als  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29  30  31 

32  33 

Boswell (Fn . 15), S . 114 . Boswell (Fn . 15), S . 147, Übersetzung des Verfassers, ähnlich S . 146 . Boswell (Fn . 15), S . 71 . Boswell (Fn . 15), S . 142 . Boswell (Fn . 15), S . 146 . „source of personal affirmation“, Boswell (Fn . 15), S . 155 . Boswell (Fn . 15), S . 155 . Vgl . Boswell (Fn . 15), S . 146 . Singer (Fn . 14), S . 21 . Singer (Fn . 14), S . 21, in der 1 . Aufl . 1984 war übersetzt worden: „Weshalb darüber argumentieren?“ Dieses Problem sieht Boswell (Fn . 15) auf S . 146 f . selbst, gibt aber hierauf keine Antwort . Kay Hailbronner, Vom Asylrecht zum Asylbewerberrecht: Rechtspolitische Anmerkungen zu einem ungelösten Problem, in: Walther Fürst u. a. (Hrsg .), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd . 1,  Berlin 1987, S . 917–937, S . 936 . Nachweise zu dieser ehem . Forderung bei Rainer Keil, Freizügigkeit, Gerechtigkeit, demokratische Autonomie: Das Weltbürgerrecht nach Immanuel Kant als Maßstab der Gerechtigkeit geltenden Aufenthalts-, Einwanderungs- und Flüchtlingsrechts, Baden-Baden 2009, S . 48 Fn . 268  und S . 103 Fn . 634 . Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983, S . 6–10;  dt . Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a . M . 2006, S . 30–36 . Zum Universalismus bei Walzer vgl . Walzer (Fn . 32), dt . S . 1, S . 4 f .

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Mittel der Beherrschung dient .34 Er argumentiert aber dabei „radically particularist“ .35  Nur dies erscheint ihm für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit36 angemessen: Gesellschaftlich  führen  geteilte  „Bedeutungen“37  zur „Konzeption  und Erzeugung“ von  Gütern38 und zur je eigenen Gewinnung individueller Identität .39 Diversen Gütern  entsprechen unterschiedliche Gerechtigkeitssphären, denen spezifische Verteilungskriterien angemessen sind .40 Die Übertragung eines Kriteriums aus einer Sphäre auf  eine andere kann dazu führen, dass es der Bedeutung des Gutes nicht gerecht wird,  wie er an Prostitution,41 Bestechung oder Ämterkauf als unangemessener Übertragung  des  Markt-Verteilungskriteriums  Geld  auf  andere  Sphären  veranschaulicht .42  Migration handelt Walzer beim ersten und wichtigsten43 Gut: der Mitgliedschaft44  ab .  Die  Frage:  „Wen  sollten  wir  zulassen?“45  hänge  von  unserem  Verständnis  ab,  „was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen .“46 Diese Erwägungen beziehen sich auf die Distribution47 von Mitgliedschaft . Walzer fasst sie aber nicht mit Kategorien distributiver Gerechtigkeit auf, die „eine festumgrenzte Welt“ voraussetze .48 Entweder ordnet er Immigration Fragen zu, die gar nicht in Kategorien der Gerechtigkeit, sondern solchen  der Selbstbestimmung und Mildtätigkeit49 zu verhandeln sind, oder solchen, die er  mit wechselseitiger Hilfeleistung50 assoziiert, die eher51 kommutativer Gerechtigkeit zuzuordnen ist . Immigrationspolitik orientiere sich zu Recht52 wie Nachbarschaft an  selbstbegründeter  Assoziation,53  wie  „clubs“54  an  selbstbestimmter  Reglementie-

34  Walzer (Fn . 32), engl . S . 14 bzw . dt . S . 19 . 35  Walzer (Fn . 32), engl . S . 14 bzw . dt . Übersetzung S . 20 „streng subjektive“ . 36  Walzer (Fn . 33), engl . S . 3 . Walzer sieht aber andernorts durchaus die Möglichkeit von „universal  standards“ distributiver Gerechtigkeit auf globaler Ebene, die durch eine starke globale Hoheitsgewalt (strong government) befördert werden mag, wobei es in der Weltrepublik vermutlich am  Willen fehle, sie zu realisieren (Michael Walzer, Governing the Globe, zit . nach dem Abdruck in:  Ders., Arguing About War, New Haven 2004, S . 171–191, S . 177) . 37  Walzer (Fn . 32), engl . S . 14 bzw . dt . S . 20 . 38  Walzer (Fn . 32), engl . S . 7 bzw . dt . S . 32 . 39  Walzer (Fn . 32), engl . S . 8 bzw . dt . S . 33 . 40  Walzer (Fn . 32), engl . S . 10 bzw . dt . S . 36 . 41  Vgl . zu einer breiter angelegten Analyse Norbert Campagna, Prostitution: Eine philosophische  Untersuchung, Berlin 2005 . 42  Walzer (Fn . 32), engl . S . 9 f . bzw . dt . S . 35 f . 43  Walzer (Fn . 32), engl . S . 31 „primary“ bzw . dt . S . 65 „erste und wichtigste“ . 44  Walzer (Fn . 32), engl . S . 31–63 bzw . dt . S . 65–107 . 45  Walzer (Fn . 32), engl . S . 32 „Whom should we admit?“ bzw . dt . S . 66 „Wem gewähren wir Aufnahme?“ 46  Walzer (Fn . 32), engl . S . 32 bzw . dt . S . 66 . 47  Walzer (Fn . 32), engl . S . 33 „distribution“ bzw . dt . S . 68 „Vergabe“ . 48  Walzer (Fn . 32), engl . S . 31 bzw . dt . S . 65 . 49  Walzer (Fn . 32), engl . S . 34 „charity“ bzw . dt . S . 69 „Mildtätigkeit“ . 50  Walzer (Fn . 32), engl . S . 34 bzw . dt . S . 69 . 51  Genauer unten Fn . 63 . 52  Walzer (Fn . 32), engl . S . 40 bzw . dt . S . 77 . 53  Walzer (Fn . 32), engl . S . 36 bzw . dt . S . 72 . 54  Walzer (Fn . 32), engl . S . 40 bzw . dt . S . 76 f . „Vereine“ .

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rung des Zugangs, aber nicht des Weggangs55 und wie „Familien“56 an „kinship“ .57  Das zeige sich etwa an der privilegierten Aufnahme der Pontos-Griechen in Griechenland oder der Statusdeutschen in Deutschland .58 Die national origin systems für  Einwanderungsquoten  der  Vereinigten  Staaten  –  unter  universalistischen  Gleichheits- und Antidiskriminierungsgesichtspunkten kritisiert und 1965 abgeschafft59 –  zeigen allerdings, wie nötig normative Kritik solcher Mechanismen ist .60 Moralisch  verpflichtend wirkt eine Nähe, die darauf beruht, dass durch Zutun der Aufnahmegesellschaft Menschen zu Flüchtlingen wurden, wie vietnamesische boat people 1975  aus amerikanischer Sicht .61 Das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention lässt sich auf dieser  Basis noch nicht begründen .62 Aber es gibt bei Walzer das Prinzip wechselseitiger  Hilfeleistung . Es wird in besonderen Situationen relevant, in denen (1) zwei Fremde  einander als Fremde63 begegnen, (2) einer von beiden dringend Hilfe benötigt und  (3) die Hilfeleistung für die helfende Partei mit geringen Kosten und Risiken verbunden ist .64 Indessen lassen sich weder diese Voraussetzungen noch der Inhalt der folgenden  Pflicht präzise benennen . Das systematische Verhältnis der Hilfeleistung zur Sphärenlehre bleibt fast völlig im Dunkeln . Klar ergibt sich hieraus immerhin, dass Einwanderungspolitik,  die  im  gemeinschaftlichen  Selbstverständnis  wurzelt,  modifiziert65 und im Extremfall der „Asylanspruch praktisch unabweisbar“66 wird .

55  56  57  58  59    60  61  62  63 

64  65  66 

Walzer (Fn . 54) . Walzer (Fn . 32), engl . S . 41 bzw . dt . S . 78 . Walzer (Fn . 32), engl . S . 41 bzw . dt . S . 78 f . „Verwandtschaft“ . Walzer (Fn . 32), engl . S . 42 bzw . dt . S . 79 f . Hiroshi Motomura, Viewing Country-Specific Immigration Arrangements in U .S .: Historical Perspective, Davis, Kalifornien 2010, S . 2,  http://migration .ucdavis .edu/rs/files/2010/motomura-viewing-country-specific-immigration . pdf (Zugriff: 28 .06 .2011) . Walzer (Fn . 32), engl . S . 40 bzw . dt . S . 77 „moralisch … geprüft”, „ungerecht“ . Walzer (Fn . 32), engl . S . 49 bzw . dt . S . 89 . Vgl .  Walzer  (Fn . 32),  engl .  S . 49  bzw .  dt .  S . 89  „Vielleicht  ist  jedes  Opfer  von  Autoritarismus  und Bigotterie der moralische Gefährte des liberalen Bürgers […] Doch würde dies die Affinität  überstrapazieren, und sogar ohne Not .“ Walzer  (Fn . 32),  engl .  S . 33  bzw .  dt .  S . 67  „Abwesenheit  jedweden  Kooperationszusammenhangs“ . Hierin liegt der Unterschied zur aristotelischen Version ausgleichender Gerechtigkeit,  die sich auf Vertragsverhältnisse bezieht (Aristoteles, Nikomachische Ethik: Übersetzung Franz  Dirlmacher, Stuttgart 1999, Buch V, 1131a, S . 125 f .) . Walzer (Fn . 32), engl . S . 33 bzw . dt . S . 67 f . Walzer (Fn . 32), engl . S . 51 bzw . dt . S . 92 . Walzer (Fn . 32), engl . S . 51 bzw . dt . S . 91 .

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2.3 eine utilitaristiscHe position: peter und renata sinGer Peter und Renata Singer äußerten sich 198867 auf der Basis ihres68 Utilitarismus69  zur Flüchtlingspolitik . Peter Singer hatte zuvor formuliert, kein Versuch einer ethischen Theorie habe bisher allgemeine Anerkennung gefunden .70 Solle moralische  Diskussion  überhaupt  möglich  sein,71  so  könne  Ethik  nur  als  universeller  Standpunkt diskutiert werden .72 Ethische Standpunkte eines nur auf die Überzeugungen  besonderer  Gesellschaften  bezogenen  Relativismus73  und  eines  groben,  allein  auf  individuellen Meinungen basierenden Subjektivismus74 seien nicht haltbar . Folglich  sei von der Tatsache auszugehen, dass ich anstrebe, für meine Interessen zu sorgen .  Dieses Bestreben müsse ausgedehnt75 und auch das je eigene Interesse aller anderen,  die Interessen haben,76 als gleichermaßen77 relevant berücksichtigt78 werden . Dieses  „provisorische Argument“79 bürde denen die Beweislast auf, die über den Utilitarismus hinauszugehen trachteten .80 Für die Immigrations- und Flüchtlingsproblematik  bedeutet dies: „[W]e hold that immigration policy in general, and refugee intake in particular,  should be based on the interests of all those affected […] . Where the interests of  different parties conflict, we would attempt to give equal consideration to all […],  which would mean that more pressing or … fundamental interests take precendence  over those less pressing or fundamental .“81

67  Peter und Renata Singer, The Ethics of Refugee Policy, in: Mark Gibney (Hrsg .), Open Borders?  Closed Societies? The Ethical and Political Issues, New York 1988, S . 111–130 . Sehr weit gehend hierauf beruht das hinzugefügte Kapitel “9 Die drinnen und die draußen” auf den Seiten  315–334 der als 2 . Auflage 1994 in Stuttgart auf Deutsch erschienenen Neuausgabe von Singer  (Fn . 14) . 68  Zu einer ähnlichen Einstellung zu ein- und auswanderungspolitischen Fragestellungen vgl . die  Position Gerald Elfsroms, dargestellt in: Roellecke (Fn . 3), S . 203–205 . 69  Ausdrücklich stellen die Singers ihren Ansatz in die Tradition J . Benthams, J . St . Mills (Singer  [Fn . 14], S . 31) sowie H . Sidgwicks (Peter und Renata Singer [Fn . 67], S . 122; zu Sidgwicks eigenen  Vorstellungen  im  Bereich  Immigrationspolitik  vgl .  Henry Sidgwick,  The  elements  of  politics,  London/New York 1891, S . 295–297), also des klassischen Utilitarismus . 70  Singer (Fn . 14), S . 28 . 71  Singer (Fn . 14), S . 23, in der Übersetzung der 1 . Aufl . 1984 stand hier statt „Diskussion“ „Begründung“ . 72  Singer (Fn . 14), S . 28 . 73  Singer (Fn . 14), S . 19–21 . 74  Singer (Fn . 14), S . 21–23 . 75  Singer (Fn . 14), S . 29 . 76  Singer  (Fn . 14),  S . 41 .  Zur  hieraus  erwachsenden  Relevanz  des  Präferenz-Utilitarismus  für  die  Frage des Umgangs mit der Frage, ob das Töten einer Person oder das eines anderen leidensfähigen Wesens schlimmer ist, vgl . dort S . 129 . 77  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 122 „principle of equal consideration of interests” . 78  Singer (Fn . 14), S . 29 f . 79  Singer (Fn . 14), S . 31 . 80  Singer (Fn . 14), S . 31 . 81  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 121 f .; ähnl . 1994 dann Singer (Fn . 14), S . 326 .

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Zunächst müssten die Betroffenen82 wahrgenommen und identifiziert werden:  Flüchtlinge,83  Einwohner  des  potentiellen  Zufluchtsstaats,84  die  ökologische  Umwelt, welche für die zukünftigen Menschen im Aufnahmestaat und für leidensfähige  Tiere von Bedeutung ist .85 Die Autoren kamen86 zu dem Ergebnis, dass ihr Ansatz  eine  viel  offenere  Flüchtlingsaufnahmepolitik  zur  Folge  habe,  da  sie  erst  in  einer  extremen Situation zu einem Schaden für die Aufnahmegesellschaft führe .87 Gegenüber der Vorstellung, Flüchtlingsschutz beruhe gleichsam auf Gnade, betonen die  Singers, dass es um moralische Verpflichtungen88 geht, und zwar nicht nur im Extremfall .  So  lässt  sich  Engagement  für  eine  offenere  Flüchtlingspolitik  begründen .  Wegen grundlegender Zweifel am „Begriff eines moralischen Rechts“89 lehnen Peter  und Renata Singer es aber ab, sich hinter auf Rechten basierende Begründungen90  zu stellen und Rechte von Flüchtlingen zu begründen . Sie aber sind das, was hier  ganz besonders interessiert . Aber haben sie nicht Recht? Wie Boswell und Walzer, so weiten auch die Singers den Blick für eine unvoreingenommene,  einfühlsame  und  möglichst  vollständige  Wahrnehmung .  Es  bleiben aber Bedenken, welche den Utilitarismus allgemein treffen: Das Fehlen einer  zureichenden „Begründung für das Nützlichkeitsprinzip“,91 der nicht fern liegende  Vorwurf eines empiristischen Fehlschlusses92 und das Unvermögen anzugeben, „warum  die  Verletzung  der  Freiheit  einiger  […]  nicht  durch  das  größere  Wohl  vieler  anderer gutgemacht werden könnte“,93 etwa bei Versklavung eines kleinen Teils der  Gesellschaft, von der der Großteil der Gesellschaft profitierte .94 Utilitaristisch lässt  sich die Gewichtung von Interessen, kein zu respektierendes Recht, wohl die Abwägung von Werten, nicht aber die Achtung95 von Würde begründen . Freiheit ist Uti82  „those whose interests are affected“, Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 122; ähnl . Singer (Fn . 14),  S . 326 . 83  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 122; Singer (Fn . 14), S . 326 . 84  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 123; Singer (Fn . 14), S . 327 . 85  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 124 . 86  Ende der achtziger Jahre für Australien, Kanada, Neuseeland und die Vereinigten Staaten, vgl . Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 125 . 87  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 128; Singer (Fn . 14), S . 333 noch 1994 für „die hochentwickelten Länder“ . 88  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 128; Singer (Fn . 14), S . 334: „moralischen und geopolitischen  Verpflichtungen und dazu noch Vorteile für die eigenen Gesellschaften“ . 89  Singer (Fn . 14), S . 130; hierauf und auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe weist zu Recht  Joachim Hruschka, Utilitarismus in der Variante von Peter Singer, JZ 2001 (56), S . 261–271, S . 262  hin . 90  Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 121: „rights based arguments“ . Bei den abgelehnten „rights“  handelt es sich um solche der Aufnahmegesellschaft, ihre Mitgliedschaft festzulegen, aber auch  um die gleichen Rechte aller auf das grundlegend zum Leben Notwendige . 91  Otfried Höffe,  Artikel:  Utilitarismus,  in:  Ders.,  Lexikon  der  Ethik,  5 . Aufl .,  München  1997,  S . 312 f ., S . 313 . 92  Otfried Höffe, Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus, in: Ders., Ethik und Politik:  Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a . M . 1979, S . 120–159,  S . 143 . 93  John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge 1971; dt . Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt  a . M . 1979, S . 44 . 94  Zutreffend Hruschka (Fn . 89), S . 262 . 95  Ähnlich,  aber  etwas  spezifischer  Hruschka (Fn . 89),  S . 268:  „besteht  …  kein  Bedarf  für  einen  Respekt vor der Autonomie .“

Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit

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litaristen nur erstrebenswert, sofern sie „zu besseren Ergebnissen“ führt .96 Das Fehlen eines kategorialen Anknüpfungspunktes lässt alles als bloßes Instrument erscheinen . Was, wenn eine Lüge in einem wissenschaftlichen Aufsatz verspräche, die Interessenlage insgesamt zu verbessern? Hruschka meinte deshalb gar, Singers Utilitarismus stehe unter der Vermutung der Lüge .97 2.4 GerecHtiGkeitstHeoretiscHe arGuMentation iM anscHluss an JoHn raWls? Rawls’ Werk ist für die Frage gerechter Regelung internationaler Migration und des  Flüchtlingsschutzes enttäuschend98 unergiebig . Er beschränkt die Theorie der Gerechtigkeit99 darauf, „einen vernünftigen Gerechtigkeitsbegriff für die Grundstruktur der  [demokratischen,  R .K .]100  Gesellschaft“  „als  geschlossenes  System“  zu  formulieren .101 Rawls macht das „Differenzprinzip“,102 das sonst vielleicht für die Forderung  einer Öffnung für Einwanderung weniger Begüterter angeführt werden könnte,103  nicht für den Kontext der Migration fruchtbar . Unter den Grundfreiheiten,104 die  aus dem vorrangigen105 Grundsatz „der gleichen Freiheit für alle“106 folgen, findet  man kein Recht auf Schutz als Flüchtling, auf Einreise oder Einwanderung . Kosmopolitisch will Rawls nicht argumentieren .107 Er sieht sich in der Tradition Kants, wenn  96  Singer (Fn . 14), S . 135 . 97  Hruschka (Fn . 89), S . 270 . 98  Urteil von “many students of Rawls” in Seyla Benhabib, The Rights of Others, Cambridge 2004,  S . 94 . 99  Rawls (Fn . 93) . 100  John Rawls,  Das  Völkerrecht,  in:  Stephen Shute/Susan Hurley,  Die  Idee  der  Menschenrechte,  Frankfurt a . M . 1996, S . 53–103, S . 57 . 101  Rawls (Fn . 93), dt . S . 24, dort beide Zitate . 102  Rawls (Fn . 93), dt . S . 96; vgl . zu einer frühen Formulierung S . 81; vgl . zu späteren Formulierungen S . 104 und S . 336 . 103  Erwogen bei Charles Beitz, Cosmopolitan ideals and national sentiment, Journal of Philosophy  1983 (80), S . 591–600, S . 595; Carens (Fn . 4), S . 258; Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 117, die  hiervon “most of the 10 million refugees” erfasst sehen; Frederick G. Whelan, Citizenship and  Freedom of Movement: An Open Admission Policy?, in: Mark Gibney (Hrsg .), Open Borders?  Closed Societies? The Ethical and Political Issues, S . 3–39, S . 9; Roellecke (Fn . 3), S . 191, weitere  Nachweise bei Günter Rieger, Einwanderung und Gerechtigkeit: Mitgliedschaftspolitik auf dem  Prüfstand amerikanischer Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart, Opladen 1998, S . 278–281 . 104  Aufzählung bei Rawls (Fn . 93), dt . S . 82 . 105  Rawls (Fn . 93), dt . S . 275 . Die Vorrangregel wird auf S . 283 genauer ausformuliert . 106  Kurz  Rawls  (Fn . 93),  dt .  S . 283;  ausf .  Formulierung  des  1 .  Grundsatzes  in  Abschn .  11,  S . 81 .  Endgültig  in  Abschn .  46  auf  S . 336:  „Jedermann  hat  gleiches  Recht  auf  das  umfangreichste  Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist .“ 107  John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin 2002, S . 100 f ., ferner 148 f . Zuvor schon Rawls (Fn . 100),  S . 61 f . (dagegen, „bei der Welt als ganzer zu beginnen“ statt von Gesellschaften auszugehen) .  Ähnlich deutlich John Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Ders ., Die  Idee des politischen Liberalismus: Aufsätze 1978–1989 (Hrsg . Wilfried Hirsch), 2 . Aufl ., Frankfurt  a . M . 1997, S . 80–158, S . 83 f . Nicht das, was „unmittelbar und unter allen Umständen für uns“  gilt, sucht er (Rawls [Fn . 100], S . 56 f .), nicht eine Gerechtigkeitskonzeption, die gerechtfertigt  wird durch “ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern  ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst … unsere Einsicht, daß  diese Lehre […] die vernünftigste für uns ist“, was sich losgelöst von dem Verfahren, die Gerech-

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er eine Entwicklung in Richtung auf einen weltrechtlichen Zustand ablehnt und sich  einen  Weltstaat  nur  despotisch  oder  fragil  und  schwach  vorstellen  kann .108 Unter  den Grundsätzen,109 auf die sich im Recht der Völker „liberale Völker“ „als Freie und  Gleiche“ hinter dem Schleier des Unwissens110 einigen, findet man als Grundsatz 7:  „Völker müssen Menschenrechte achten“ . Flüchtlingsschutz wird nicht erwähnt . In  einer Fußnote äußert Rawls, Völker besäßen „zumindest ein eingeschränktes Recht  […], Einwanderung zu begrenzen . Um welche Einschränkungen es sich […] handeln mag, sei dahingestellt .“111 Er leitet die Befugnis, Wanderung auch angesichts  der Willkürlichkeit von Grenzen112 zu limitieren, aus der Eigentumsähnlichkeit des  Staatsgebiets ab: „Wenn niemand die Verantwortung für ein Objekt besitzt und daher auch niemand befürchten muß, dieses Objekt zu verlieren, […] droht dem Objekt Verfall . In unserem Fall ist das Objekt das Staatsgebiet und dessen Fähigkeit,  dem Volk auf Dauer als Lebensgrundlage zu dienen; der Eigentümer ist das staatlich  organisierte Volk . Und das Volk muß einsehen, daß es Verantwortungslosigkeit im  Umgang mit seinem Land und der Erhaltung der natürlichen Ressourcen nicht […]  dadurch ausgleichen kann, daß es ohne Zustimmung in das Gebiet eines anderen  Volkes auswandert .“113 Dem Menschenrecht „auf Auswanderung“,114 korrespondiert  kein  Menschenrecht,  einwandern  zu  dürfen .  So  bleibt  nur  Rawls’  Hinweis,  Menschenrechte formulierten in seiner Konzeption des Rechts der Völker „eine Klasse  besonders dringender Rechte“ .115 An den Gedanken der Dringlichkeit anknüpfend,  hat Günter Rieger gefolgert, es gebe für wohlgeordnete liberale Gesellschaften „eine  Pflicht zur Notaufnahme, solange sie die Verwirklichung des menschenrechtlichen  Minimalstandards nicht anderweitig gewährleisten können .“116 Für diese Pflicht ist  allein der „Grad der existentiellen Bedrohung“ maßgeblich, nicht aber die Frage, ob  die Bedrohung von einem Staat ausgeht, ob sie sich als politische Verfolgung qualifizieren lässt oder ob es um Flucht aus existenzieller Armut geht .117 Es  bleiben  Zweifel118  hinsichtlich  des  Fundaments  dieser  Argumentation:  Im  zwischenstaatlichen Recht können Menschenrechte nur schwach begründet erscheinen, als Ergebnis quasi eines Vertrags zu Gunsten Dritter – der Menschen – und zu  Lasten der jeweiligen staatlichen  Souveränität der Vertragsparteien .  Ihre Legitimatigkeitsgrundsätze zu konstruieren, nicht bestimmen lässt (Rawls, Kantischer Konstruktivismus  in der Moraltheorie a . a . O ., S . 85 .) . 108  Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 40 . 109  Auflistung bei Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 41 . 110  Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 36 . 111  Rawls (Fn . 100), S . 97 Fn . 18 zu S . 68 . 112  Rawls (Fn . 100), S . 68; Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 6 und S . 43 . 113  Rawls (Fn . 100), S . 68; fast wortgleich in Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 7, eng angelehnt dort S . 43 . 114  Rawls (Fn . 100), S . 75 und erneut S . 80 . 115  Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 96, wie etwa „die Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Freiheit (aber nicht die gleiche Freiheit) des Gewissens und die Sicherheit ethnischer  Gruppen vor Massenmord und Genozid“ (ebda .) . 116  Rieger (Fn . 103), S . 292 . 117  Rieger  (Fn . 103),  S . 291;  allenfalls  Überlegungen  der  Praktikabilität  mögen  für  solche  Unterscheidungen relevant werden, wenn etwa Armutsflucht durch Hilfsleistungen besser abgeholfen  werden kann als durch Aufnahme (ebda .) . 118  Rieger (Fn . 103), S . 283 .

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tion als Rechtspositionen der Individuen als solcher gegenüber Staaten und Völkern  wird nicht deutlich . 2.5 eine an kant anknüpFende beGründunG des FlücHtlinGsrecHts Ein  auf  Kant  aufbauender  Ansatz  teilt  die  zentralen  Stärken  der  Theorie  Rawls’,  ohne ihre Schwächen aufzuweisen . Kant kennt ein innerstaatliches Staatsrecht, ein  zwischenstaatliches Völkerrecht und, als „notwendige Ergänzung … zum öffentlichen  Menschenrechte“,119  ein  kosmopolitisches  Weltbürgerrecht  (WeltBR) .  In  seinem Kontext diskutiert Kant Fragen des Rechts internationaler Freizügigkeit einzelner . Kant sieht, soweit es das Thema zulässt, von empirisch zufälligen Gegebenheiten ab . Er versucht zu zeigen, dass es auch in einem vorstaatlichen Naturzustand  schon Recht – „Privatrecht“ – geben kann, mit dem, wie überhaupt mit Recht, eine  Zwangsbefugnis verbunden120 ist . Seine Legitimation erfährt alles Recht aus einem  normativ-fiktiven  ursprünglichen  Vertrag  (UV)  aller  dem  Recht  Unterworfenen .  Lässt sich die Struktur der Rechtswirklichkeit unter diese Vorstellung subsumieren,  befindet  sie  sich  bereits  im  bürgerlichen,  öffentlich-rechtlichen  Zustand  „Staat  (civitas)“ .121 Im Naturzustand entsteht Recht durch erste Besitznahme . Deren Einseitigkeit widerspricht nicht dem Kriterium des allgemeinen Willens,122 weil sonst  gar  kein Recht  möglich  wäre, potentielle  Gegenstände eines Rechts  also nicht  gebraucht123 werden dürften . Dies läge der Idee gleicher Freiheit noch ferner124 als die  gleichheitswidrige Einseitigkeit125 erster Aneignung . Eine „lex permissiva“126 erlaubt  die erste Besitznahme zur Begründung vorläufigen, aber wahren127 Rechts . Der UV  bezieht sich letztlich auf das „ganze menschliche Geschlecht“ .128 Ein weltbürgerlicher Gedanke steht am Anfang allen Rechts . Allerdings  legte  Kant  größten  Wert  auf  das  Verfahren,  in  dem  Recht  gesetzt  wird .129 Im geforderten Staatsrecht geben sich freie, gleiche und selbständige Bür119  Immanuel Kant,  ZeF,  XI,  216,  A  46,  B  46 .  Zur  Zitierweise:  Kants  Schriften  werden  nach  der  Werkausgabe Wilhelm Weischedels zitiert . Dabei werden für die zitierten Schriften folgende Abkürzungen verwandt: Gemeinspruch = Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig  sein, taugt aber nicht für die Praxis; KrV = Kritik der reinen Vernunft; MdS = Metaphysik der  Sitten; MdS/RL = MdS, erster Bd ., Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; ZeF = Zum  ewigen Frieden . Ein philosophischer Entwurf . Eine römische Ziffer gibt dann den Band besagter  Werkausgabe an, auf die die Seitenzahl in ihr und im Falle einiger Schriften der ersten Auflage  (A) und, etwa bei der KrV oder im Falle der MdS/RL auch der zweiten Aufl . (B) folgen wird, wie  sie in der Weischedel-Ausgabe zu finden ist . Bd . IV ist nach der 13 . Aufl . 1995, Bd . VIII nach  der 1 . Aufl . 1977, Bd . XI nach der 10 . Aufl . 1993 zitiert . 120  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 339, A B 35 . 121  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 429, A 161, B 191 . 122  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 359, A 64, B 64 . 123  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 359, A 64, B 64 „sonst zu herrenlosen Dingen” . 124  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 367, A 75, B 75 „komparativ“ . 125  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 365, A 73, B 73 . 126  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 378, A 92, B 92 . 127  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 375, A 87, B 87 . 128  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 378, A 90, B 90 . 129  Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt a . M . 1994, z . B . S . 252 .

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ger130 Gesetze . Ein „repräsentatives System des Volks“131 ist aber in einem Weltstaat  nicht möglich, dessen Größe zu weniger „Nachdruck“ der Gesetze, schließlich zu  Anarchie  und  Zerfall  dieses  Staates  führe132  und  von  einer  konkreten  politischen  Partizipation nichts übrig133 lässt: Nur ein bürokratischer „seelenloser Despotism“134  „auf dem Kirchhofe der Freiheit“135 ist hier vorstellbar, der – anders als beim „lebhaftesten Wetteifer“136 unabhängiger Staaten – die „Schwächung aller Kräfte“,137 ja  die Ausrottung der „Keime des Guten“138 nach sich zieht: „die Untertänigkeit des  Volks“,139 den „schrecklichsten Despotismus“ .140 Auch Fluchtmöglichkeiten wären  in  einem  konsequent  monistischen  weltrechtlichen  System  unwahrscheinlich .141  Vorläufig kann Recht nur von partikularen Staaten gesetzt werden . Es bleibt – analog dem Naturzustand – dabei, dass partikulare Staaten einseitig über Aufenthaltsrechte entscheiden dürfen . Zwar sollen sie das Recht eines jeden, „die Gemeinschaft mit allen zu versuchen,  und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen“, respektieren, welches  ein kritisches Licht auf viele Restriktionen des geltenden Rechts wirft .142 Kant will  aber „die Idee des Weltbürgerrechts“ nicht als eine „phantastische und überspannte  Vorstellungsart des Rechts“143 präsentieren . Das WeltBR ist eingeschränkt „auf die  Bedingungen der allgemeinen Hospitalität“,144 die Möglichkeit, einander als hospes,  Besucher  und  Gastgeber,  nicht  als  hostis,  Feind,  zu  begegnen .  Folglich  muss  ein  Fremder  ein  Recht  haben,  „der  Ankunft  auf  dem  Boden  eines  anderen  wegen[,]  nicht feindselig behandelt zu werden“,145 „so lange er … auf seinem Platz sich fried-

130  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 432, A 165 f ., B 195 f . oder ihre Abgeordneten, a . a . O ., 464, A  213, B 241 f . 131  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 464, A 213, B 242 . 132  Immanuel Kant, ZeF, XI, 225, A 62, B 63 . 133  Ingeborg Maus, Die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen: Oder: Die Transformation des Territorialstaates zur Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik 2001 (3), S . 313 ff .,  S . 313 und S . 321 . Vgl . ferner Friedrich Tomberg, Brauchen wir eine Weltrepublik?, Das Argument  2001 (43), S . 217 ff ., S . 221 und Stefan Oeter, Internationale Organisation oder Weltföderation?  in: Hauke Brunkhorst/Matthias Kettner (Hrsg .), Globalisierung und Demokratie, Frankfurt a . M .  2000, S . 208 ff . 134  Immanuel Kant, ZeF, XI, 225, A 62, B 63 . 135  Immanuel Kant, ZeF, XI, 226, A 63, B 64 f . 136  Immanuel Kant, ZeF, XI, 226, A 63, B 65 . 137  Immanuel Kant, ZeF, XI, 226, A 63, B 65 . 138  Immanuel Kant, ZeF, XI, 225, A 62, B 63 . 139  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 464, A 212, B 242 . 140  Immanuel Kant, Gemeinspruch, XI, 169, A 279 . 141  Hannah Arendt,  Interview  geführt  von  Adelbert  Reif,  in:  Hannah Arendt,  Macht  und  Gewalt,  14 . Aufl ., München 2000, S . 107–133, S . 131; Federick G. Whelan, Citizenship and Freedom of  Movement: An Open Admission Policy?, in: Mark Gibney (Hrsg .), Open Borders? Closed Societies? The Ethical and Political Issues, New York 1988, S . 3–39, S . 25 f ., hält wie Hannah Arendt  a . a . O . die Wahrscheinlichkeit für größer, daß ein Weltstaat despotisch ist und jede Zufluchtsmöglichkeit zerstört, als dass in einer pluralistischen Welt alle Staaten gleichzeitig despotisch  sind . 142  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, A 230, B 260; ähnl . ZeF, XI, 214, A 40, B 40 . 143  Immanuel Kant, ZeF, XI, 216, A 46, B 46 . 144  Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 . 145  Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 .

Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit

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lich verhält“ .146 Das antikolonialistische WeltBR impliziert kein „Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks“,147 das nur ein zu fairen Bedingungen  abgeschlossener Vertrag148 mit denen, die bereits gesiedelt haben, begründen kann .  Auch ein Gastrecht auf einen Aufenthalt, der mehr als einen Besuch zur Kontaktaufnahme oder Vertragsanbahnung umfasst, folgt nicht immer aus dem WeltBR . Ansässige dürfen demokratisch-autonom entscheiden und den Fremden auch „abweisen“  – und dann folgt die entscheidende Einschränkung: „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann“ .149 In diesem Nebensatz erfährt das WeltBR seine eigentlich rechtliche Relevanz,150  die Kant so sehr betont:151 Die Befugnis partikularer Staaten, einseitig über Aufenthaltsrechte  zu  bestimmen,  ist  begrenzt  durch  den  universalistisch  begründeten  Zweck, vorläufig die Zuordnung von Aufenthaltsrechten zu Menschen überhaupt  zu ermöglichen . Sie darf nicht die Einführung von Regelungen umfassen, mit denen  der  anstelle  des  Weltsystems  distributiver  Gerechtigkeit  entscheidende  Staat  dem  angeborenen Recht Betroffener jede Realisierungschance raubte . Dies täte er, wenn  er einen Menschen durch Zurückweisung zum Untergang verdammte, ihn also in  existenziellen Gütern wie Leib, Leben, körperliche oder psychische Unversehrtheit  verletzte  und  gleichsam  staatenlos152  machte .  Kann  das  ursprüngliche  Recht  aller  Menschen, da zu sein, „wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen)  gesetzt hat“,153 nicht realisiert werden, so wird relevant, dass „ursprünglich […] niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als … andere“ .154 Sonst wäre  ein  Mensch  mangels  Aufenthaltsrechts  insgesamt  rechtlos  gestellt,  ihm  wäre  kein  Recht zugeteilt, das partikulare öffentliche Recht verlöre insofern seine normative  Begründung . Angesichts  global  vieler  Gefährdeter  wurde  einst  gegen  das  Asylrecht  eingewandt, es sei nicht realisierbar . Normativ lasse sich ferner nicht beantworten, worauf  der Zurechnungszusammenhang, „der den Anspruch des einen mit der Pflicht des  anderen  zusammenkoppelt  –  mit  für  beide  Seiten  überzeugenden,  zumindest  akzeptablen  Gründen“,155  beruhe .  Kants  Rechtsidee  und  ihr  Optimierungsdruck156  146  Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 . 147  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 476, A 230, B 260 . 148  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 477, A 231, B 261 . 149  Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 . 150  Vgl . Gregor Noll, Why Refugees Still Matter: A Response to James Hathaway, Melbourne Journal  of International Law 2007 (8), S . 536–547, S . 547: „Without the irregular movements of refugees  …, the black box of cosmopolitan law would … vanish“ . Zur Flüchtlingsproblematik als Ort  aufscheinender  Evidenz  des  Individual-Weltbürgerrechts  Keil (Fn . 31),  S . 47,  zu  ihr  als  ideelnormatives  „Kraftzentrum“ Jürgen Bast,  Aufenthaltsrecht  und  Migrationssteuerung,  Tübingen  2011, S . 104 . 151  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 475, A 229, B 259 . 152  Andrew E. Shacknove, Who is a Refuge? Ethics 1985 (95), S . 274–284, S . 283 . 153  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 373, A B 84 f . 154  Immanuel Kant, ZeF, XI, 214, A B 41 . 155  Winfried Brugger, Für Schutz der Flüchtlinge – gegen das Grundrecht auf Asyl! JZ 1993, S . 119– 123, S . 121 . 156  Rainer Keil,  Die  Rechtsidee  bei  Kant:  Zur  moralischen  Rechtfertigung  und  Beurteilung  des  Rechts  notwendige  Ergänzung  des  reinen  Verstandesbegriffs  des  Rechts,  in:  Jochen  Bung/Brian Valerius/Sascha Ziemann  (Hrsg .),  Normativität  und  Rechtskritik,  ARSP-Beiheft  2007  (114),  S . 45–65, S . 58 .

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Rainer Keil

richten sich aber „gegen einen Ansatz, der auf Grund der theoretischen Schwierigkeit, Rechte und korrespondierende Pflichten zuzuordnen, … nahelegt, sich in der  rechtspolitischen Praxis gleichgültig vom Problem abzuwenden und deren Existenz  auch nicht herbeiführen und gegebenenfalls verteidigen zu wollen .“ Hierin besteht  der Kerngedanke157 der vorläufigen moralischen Legitimation der sonst auch unzulässigen prima occupatio .158 Kants praktische Philosophie erlaubt nach alledem die Gewinnung normativer  Gesichtspunkte der Beurteilung geltenden Rechts: eher vage hinsichtlich des allgemeinen Einreise- und Einwanderungsrechts, konkret159 mit Blick auf das Verbot der  Zurückweisung von Migration wegen existenzieller Bedrohung .160 Wie Rawls in Riegers  Lesart  rechtfertigen  sie  hier  keine161  weitere  Differenzierung  nach  Gefährdungs-  bzw . Verfolgungsgründen,162 politischer oder nicht politischer Verfolgung,163 réfugiés sur place  und  Vorverfolgten .164  Das  Menschenrecht  auf  Schutz  ist  abwägungsfest,  abgesehen von tragischen Situationen, in denen die Auflösung des demokratischen  Staates oder die Verletzung elementarer Rechte von Menschen der Aufnahmegesellschaft droht . Anders als bei Rawls beruht rechtlicher Schutz auf einer weltbürgerlichmenschenrechtlichen  Begründung .  Diese  aber  untergräbt  nicht  mit  einer  Illusion  Staaten und die supranationale Europäische Union als bestehende Strukturen der  Annäherung an eine universelle Gerechtigkeit: Der kosmopolitische Gedanke modifiziert partikulares Recht, ersetzt es nicht weltstaatlich oder anarchistisch . Eine hierauf aufbauende Herangehenswiese dürfte der Sache am ehesten gerecht werden .

157  Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 364 f ., A B 72: “läßt sich nicht einsehen … muß aus dem Postulat  der praktischen Vernunft gefolgert werden”; ähnlich bereits 361, A B 67 . 158  Ausführlicher in Keil (Fn . 31) . Dort auf S . 52 f . das Zitat . 159  Das fügt sich dazu, dass sich die menschliche Vernunft ruhig und distanziert verhält, sich aber  nicht mit einem skeptizistischen „Grundsatz der Neutralität bei allen ihren Streitigkeiten“ (Immanuel Kant, KrV, IV, 643, A 756, B 784) selbst dergestalt ad absurdum führen lässt, dass sie es  nicht erlaubte, eine dezidierte Stellungnahme zu begründen . 160  Vgl . zum nur hierauf abstellenden moralischen Flüchtlingsbegriff Gibney (Fn . 11), S . 7 f . 161  Keil (Fn . 31), S . 104, S . 106, S . 114 f . Zu überfordernden Extremsituationen S . 53 und S . 114 f . 162  Vgl . aber Art . 1 A Absatz 2 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28 . Juli  1951: „Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten  sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ . 163  So aber Art . 16a Abs . 1 GG . 164  So aber § 28 AsylVfG i . V . m . Art 5 Abs . 2 und 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29 .  April 2004, Abl . EU L 304/12 .

tobias zürcHer* moralIscher relatIvIsmus,  phIlosophIscher praGmatIsmus  und  unIverselle menschenrechte Menschenrechte, für die universelle Geltung beansprucht wird, sind dem Einwand des Relativismus  ausgesetzt . Dieser kommt in unterschiedlichen Formulierungen daher und nicht alle Lesarten von  Relativismus sind für universelle Menschenrechte gleichermassen bedrohlich . Während die Beschreibung unterschiedlicher normativer Praktiken kein direktes Argument gegen universelle Geltung liefert, scheinen sich aus relativistischer Perspektive einige normative Positionen anzubieten . Hier werden zunächst zwei Standartformen, einerseits der „Sprecherrelativismus“ und andererseits der „Gruppenrelativismus“  untersucht  und  zurückgewiesen .  Beide  Interpretationen  weisen  Defizite  auf,  die  selbst für Relativisten nicht ohne Not akzeptiert werden können . Anschliessend folgt ein gründlicherer Blick auf die Struktur relativistischer Argumentation, wobei argumentiert wird, Relativismus liesse  sich  nicht  kohärent  formulieren .  Mit  dem  philosophischen  Pragmatismus,  wie  ihn  Richard  Rorty  vertreten hat, wird schliesslich eine Position diskutiert, die sich grundsätzlich gegen den Sinn eines  Begründungsprogramms wendet . Sollte der Pragmatismus Recht haben, wäre dies ein starkes Argument  gegen  klassisch  universalistische  Fundierungen  und  für  die  Stärkung  praktischer  Menschenrechtsarbeit . Es gibt aber gute Gründe, an diesem Ergebnis zu zweifeln .

1  dIe herausforderunG Im Januar 2011 besuchte der chinesische Präsident Hu Jintao seinen amerikanischen  Kollegen  Barack  Obama  in  Washington .  Neben  wirtschaftlichen  Themen  kamen  schliesslich auch die Menschenrechte zur Sprache, wenn auch reichlich vage und,  zunächst  jedenfalls,  sehr  einseitig .  An  der  gemeinsamen  Pressekonferenz  positionierte sich Obama im Lager der Universalisten:  „History shows that societies are more harmonious, nations are more successful,  and the world is more just when the rights and responsibilities of all nations and all  people are upheld, including the universal rights of every human being .”1 Anschliessend  wurde  auch  der  chinesische  Präsident  um  eine  Stellungnahme  gebeten . Das Resultat: Schweigen, bzw . eine technische Panne und ein hilfreicher  Journalist,  der  das  Thema  wechselt .  Doch  was  hätte  Hu  Jintao  Obamas  Position  entgegensetzten können? Gäbe es gute Gründe, die universalistische Position anzuzweifeln? Oder anders gefragt: Welche Gründe gibt es überhaupt, dass ein US-Amerikaner  und  eine  Chinese  sich  über  Menschenrechte  unterhalten?  Unter  welchen  Bedingungen  könnte  eine  solche  Debatte  überhaupt  sinnvoll  sein?  Falls  es  diese  guten Gründe gibt, wäre ein gemeinsames Nachdenken über Menschenrechte und  eine echte Auseinandersetzung möglich, die über das blosse Berichten von eigenen  Erfahrungen mit Menschenrechtsthemen hinausgeht .  Auf den folgenden Seiten werde ich mich mit den Argumenten auseinandersetzen, die einem Universalismus, wie ihn Obama angedeutet hat, hätten entgegengehalten werden können . Diese Argumente zusammen könnten wir als die Herausfor*  1   

Herzlichen Dank an Jonathan Erhardt, Julia Hänni, Barbara Schüpfer und Stefan Schröter . Eine  detaillierte  Nachzeichnung  dieser  Pressekonferenz  findet  sich  auf  der  Internetseite  des  Guardian unter: http://www .guardian .co .uk/world/richard-adams-blog/2011/jan/19/ hu-jintao-china-barack-obama-live (Zugriff: 26 .04 .2011) .

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Tobias Zürcher

derung an die Adresse Obamas verstehen; ihnen ist gemeinsam, dass sie alle verschiedenen Formulierungen eines Relativismus voraussetzen und aus diesem Grund  die Geltung von universellen Menschenrechten in Zweifel ziehen .2 Dazu werde ich  zunächst (2 .) die Relativismusthese möglichst allgemein formulieren und ausgehend  davon zwei unterschiedliche Lesarten diskutieren, die ich beide mit einer Reihe von  Argumenten zurückweise . Danach (3 .) erörtere ich ein allgemeines Problem, das sich  beim Versuch ergibt, eine relativistische Position zu formulieren . Nachdem damit  die relativistische Skepsis an der Fundierung von universellen Menschenrechten etwas geschwächt sein sollte, wende ich mich (4 .) mit dem philosophischen Pragmatismus einer Position zu, die die Notwendigkeit einer solchen Begründung überhaupt  in Frage stellt und sich damit dem Streit zwischen Universalismus und Relativismus  zu entziehen versucht . Schliesslich (5 .) versuche ich eine Antwort darauf zu geben,  wer in der Debatte die besseren Karten hat . 2  moralIscher relatIvIsmus Eine sehr allgemeine Formulierung des moralischen Relativismus, die definitorisch  keine  Theorie  unzulässig  bevorzugen  oder  benachteiligen  sollte,  lautet  folgendermassen: „Was in der einen Kultur moralisch richtig ist, ist moralisch falsch in einer  anderen . Es gibt keine absoluten Standards .“ Wie ist eine solche Aussage zu verstehen? Ich schlage vor, zunächst eine deskriptive von einer normativen Lesart zu unterscheiden und werde im Folgenden dafür argumentieren, dass beide Lesarten unhaltbar  sind oder zumindest  Aspekte ausser Acht  lassen,  die (auch) für Anhänger  einer relativistischen Position von Bedeutung sind oder sein sollten . 2.1 deskriptive lesart Einer deskriptiven Interpretation zufolge bedeutet der erwähnte Satz, dass es faktisch eine Vielfalt von Moral- und Rechtskulturen gibt . Damit wird eine anthropologische These über die unterschiedliche Verbreitung von Normsystemen oder eine  psychologische These über das Vorkommen von moralischen Überzeugungen aufgestellt . Wir alle wissen, dass diese These, zumindest oberflächlich betrachtet, zweifellos  wahr  ist;  wir  brauchen  nicht  weit  zu  reisen,  um  mit  unterschiedlichen  Sitten  konfrontiert zu werden und auf Menschen mit moralischen Überzeugungen zu stossen,  die  sich  von  den  unseren  unterscheiden .  Schwieriger  zu  entscheiden  ist,  ob  diese Beschreibung auch in einem fundamentalen Sinne wahr ist . Sie ist es genau  dann, wenn empirisch ausgeschlossen werden kann, dass es sogenannte Universalien  gibt, also kulturunabhängige, universell verbreitete Normen oder Überzeugungen,  die entweder im Alltag gut sichtbar sind oder aber gleichsam unter der Oberfläche  der Normpraxis, als fundamentale Wertungen, existieren .3 2  3 

Im Folgenden wird klar werden, weshalb es dabei nicht um die Frage der (beinahe) universellen  Positivierung einiger Menschenrechte geht, sondern um einen prinzipiellen Einwand gegen die  Begründung universeller Menschenrechte . Für eine optimistische Position, was die Existenz von Universalien angeht, vgl . Alison Dundes

Moralischer Relativismus, philosophischer Pragmatismus und universelle Menschenrechte

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Nehmen wir aber einmal an, es gäbe tatsächlich keine Universalien: Was folgt  aus dieser Beobachtung für den universalistischen Standpunkt? Zunächst gar nichts .  Erst wenn wir eine normative Prämisse einführen, die besagt, dass die Regeln, wie sie  de facto gelebt werden, auch die richtigen Regeln sind, wäre der Universalismus – der  ja gerade behauptet, dass es universelle richtige Regeln gibt – falsch . Diese Prämisse  ohne weiter Begründung einzuführen, ist aber unplausibel . Wir würden lediglich die  Beschreibung mit einem normativen Zusatz (wie gut oder richtig) versehen und damit  geradezu  einen  Sein-Sollen-Fehlschluss  in  Reinform  produzieren .  Denn  der  Fehler  bestünde  nicht  darin,  dass  wir,  von  einer  Beschreibung  (einem  Seinssatz)  ausgehend, mit argumentativen Schritten zu einer Norm (einem Sollenssatz) gelangen, sondern dass wir dies ohne jede Erklärung tun .4 Ohne Angabe dieser Erklärung  hätten wir keine eigentliche Theorie über die Geltung von Normen, sondern lediglich eine normativ verkleidete Beschreibung, die wir natürlich sofort aufgeben müssten, wenn sich herausstellen sollte, dass es doch Universalien gibt . Wenden  wir  uns  also  Lesarten  der  allgemeinen  Relativismusformulierung  zu,  die  solche  Erklärungen  anbieten,  indem  sie  die  Bedingungen  für  Wahrheit  einer  moralischen Überzeugung angeben . 2.2 zWei norMative lesarten Relativisten, die eine normative Lesart vertreten – und nur eine solche bedroht den  Universalismus –, begründen dies oftmals damit, dass die Wahrheit einer Überzeugung  relativ zu etwas  bestimmt  wird  und  damit  auch  die  formulierbaren  Normen  (über moralische und rechtliche Fragen) relativ zu etwas wahr oder falsch sind . Woraus könnte sich diese Relativität nun ergeben? Was sollte der Standard sein, nach  dem bemessen werden soll, ob unsere Überzeugungen korrekt sind? Ich werde in  den beiden folgenden Abschnitten auf zwei Möglichkeiten eingehen, worunter, wie  ich meine, die meisten Verständnisse von Relativismus gefasst werden können . 2 .2 .1  Sprecherrelativismus Nach dem Sprecherrelativismus ist der Standard (oder Wahrmacher) für eine moralische Überzeugung in der Person begründet, die diese Überzeugung hat . Indem wir  weiter annehmen, dass solche Urteile normalerweise nicht völlig zufällig und unzusammenhängend geäussert werden, gilt dasselbe nicht nur für Überzeugungen, sondern auf für Normen (oder allgemeinere Wertungen) dieser Person, auf denen dieses  Urteil basiert und die durch die Überzeugung zum Ausdruck gebracht werden . Das  bedeutet, dass der Satz „Die Todesstrafe ist (manchmal) gerecht“ dann korrekt ist,  wenn er mit der allgemeineren Wertung der Person, die ihn äussert, übereinstimmt .  Diese Person müsste also über ein entsprechendes Überzeugungssystem verfügen,  das es zulässt, dass die Todesstrafe (in manchen Fällen) die moralisch richtige Strafe  ist .  Die  Richtigkeit  dieses  Urteils  ist  also  von  der  Person  abhängig,  die  es  äussert 

4 

Renteln, Relativism and the Search for Human Rights, American Anthropologist 1988 (Vol . 90  No . 1), S . 56–72 . Vgl . David Hume, A Treatise of Human Nature, in: David Fate Norton/Mary J. Norton (Hrsg .),  Oxford 2000, S . 302 (Book III Part I Sec . I) .

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(oder  hat) .  Diese  Auffassung  mag  vielleicht  von  Vornherein  abwegig  erscheinen,  doch weshalb ist sie genau falsch? Der Sprecherrelativismus überzeugt aus verschiedenen Gründen nicht . Zunächst  liefert er uns eine ziemlich seltsame Beschreibung unserer Gespräche über moralische  Fragen .  Solche  Gespräche  (über  die  Todesstrafe  oder  über  den  Umfang  von  Meinungsfreiheit) wären zwar nicht per se ausgeschlossen, doch sie würden anderen  Regeln folgen: Eine Befürworterin der Todesstrafe könnte wahre Sätze über die Todesstrafe  äussern,  auf  die  sich  ein  Gegner  der  Todesstrafe  auch  beziehen  könnte .  Gleichzeitig  könnte  dieser  aber  gegenteilige,  ebenfalls  wahre  Sätze  äussern .  Eine  Aussenstehende könnte die Äusserungen der beiden in diesem Dialog (wäre es noch  einer?)  paraphrasieren,  indem  sie  die  Urteile  mit  „wahr  für  mich“  und  „wahr  für  dich“  ergänzt .  Ein  solches  Gespräch  könne  keine  echte  Debatte  werden;  es  wäre  sinnlos, den anderen überzeugen zu wollen . Wir stehen vor folgendem Dilemma:  Entweder verstehen wir die Sätze der beiden Sprecher als solche über denselben Gegenstand und erhalten damit die Aussage P und eine kontradiktorische nicht-P, die  beide wahr sind . Oder wir interpretieren die Sätze als solche über zwei unterschiedliche Gegenstände – es gäbe von beiden Sprechern ein je eigens konstituiertes Thema  – wobei wiederum beide Aussagen wahr sind . Doch beide Deutungen sind unplausibel: Im ersten Fall müssten wir den Satz des Widerspruchs aufgeben, da eine Aussage und ihr Gegenteil zum selben Gegenstand wahr sein müssten, und im zweiten  Fall wäre unklar, wie es echten Dissens zu einem Thema, wie die Frage der Richtigkeit der Todesstrafe überhaupt geben könnte . Weiter wäre es begrifflich ausgeschlossen, dass eine Person, die ein solches Urteil  äussert, sich jemals irrt oder in moralischen Belangen unwissend wäre . Möglich wäre  lediglich, zu einer Frage keine Meinung zu haben oder allenfalls, sich an Vergessenes  wieder zu erinnern . Prozesse des Umdenkens oder des Lernens würden aber nicht  als „innere“ Auseinandersetzungen beschrieben werden können . Die Urteile einer  Person würden einander völlig gleichgestellt zeitlich aufeinander folgen . Wir könnten sie protokollieren, kommentieren, doch bewerten könnten wir sie nur im Vergleich  zu  unseren  eigenen  Überzeugungen .  Diese  Bewertung  hätte  etwas  höchst  Künstliches; sie wäre eher ein Bericht über unsere Urteile als über die anderen, denn  das Bewertete bliebe immerzu richtig . Auch für die Sprecher selbst würde der Sprecherrelativismus eine unbefriedigende Deutung ihres Tuns liefern . Wer sich über die  Todesstrafe äussert, berichtet für gewöhnlich nicht nur über einen Teil seines Überzeugungssystems (und was sich daraus alles ergibt), sondern erhebt einen normativen Anspruch . Die Äusserung ist (auch) eine über die Welt, die auf eine bestimmte  Art und Weise beschaffen ist, dass die Todesstrafe richtig oder falsch ist . Das Urteil  soll nicht deshalb richtig sein, weil ich es sage, sondern weil es auf für andere Menschen  richtig  sein  kann .  Es  ist  ein  rationales  „Angebot“,  das  seine  Rechtfertigung  nicht nur in der blossen Tatsache trägt, dass es schlicht geäussert wird . Es mag zwar  sein, dass manche normativen Urteile durchaus auf diese Art „privat“ funktionieren,  wenn etwa jemand meint, sie möge lieber Bier als Wein . Doch damit wird üblicherweise  gerade  kein  Anspruch  auf  Generalisierung  erhoben;  es  soll  weder  jemand  überzeugt  werden,  noch  muss  für  dieses  Urteil  eine  besondere  Rechtfertigung  erbracht werden . Bei moralischen Überzeugungen möchten wir es aber nicht bei einem solchen Bericht belassen . Deshalb muss auch ein relativistischer Sprecher, der  nicht bloss über „Privates“ berichten will, die Deutung seiner Position als Sprecher-

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relativismus zurückweisen; sie vermag für ihn keine befriedigende Beschreibung zu  geben, dessen was er eben meint, wenn er sagt, die Todesstrafe sei richtig oder falsch . 2 .2 .2  Gruppenrelativismus Die wohl am häufigsten vertretene Variante des Relativismus ist der Kulturrelativismus oder Gruppenrelativismus, wie ich ihn im Folgenden nennen möchte . Dieser behauptet, dass eine Konvention oder ein moralischer Code einer Gruppe die Wahrheit  oder Falschheit von moralischen Urteilen bestimmt . Was bedeutet das nun für unser  Beispiel? Ob das Urteil „Die Todesstrafe ist (manchmal) gerecht“ wahr oder falsch  ist, hängt nach dem Gruppenrelativismus davon ab, welcher Gruppe die Person zugehörig ist, die das Urteil äussert (oder die Überzeugung hat) .5 Dieses Urteil wäre  also dann wahr, wenn es von einem Chinesen formuliert, aber falsch, wenn es von  einer  Norwegerin  geäussert  wird .  Zweifellos  ist  die  Rede  von  „Norwegern“  und  „Chinesen“ eine massive Vereinfachung; Gruppen müssten wesentlich differenzierter  bestimmt  werden .  Ausserdem  sind  Menschen  niemals  Angehörige  nur  einer  Gruppe, sondern vieler .6 Doch es wäre zu einfach, den Gruppenrelativismus schon  alleine deswegen zurückzuweisen . Zweifellos birgt dieser Umstand praktische Probleme, etwa wenn bestimmt werden müsste, welche Gruppenzugehörigkeit die einschlägige ist oder welche Norm die Gruppe überhaupt befolgt . Unklar könnte etwa  sein, was in einem Staat gilt, der die Todesstrafe zwar gesetzlich vorsieht, diese aber  nicht (mehr) praktiziert . Die Differenzierung darf ausserdem nicht allzu weit gehen,  da die Position sonst droht, auf den Sprecherrelativismus reduziert zu werden .  Doch auch wenn wir diese Probleme nicht als prinzipielle ansehen, gibt es einige  grundsätzlichere  Einwände  gegen  den  Gruppenrelativismus .  Sobald  die  Gruppe  massgeblich die Richtigkeit von moralischen Urteilen bestimmt, können wir nicht  mehr  zwischen  der  Genese  von  Normen  und  deren  Geltung  unterscheiden .7  Ein  moralisches Urteil für wahr zu halten, fällt dann mit dem Verweis auf eine historisch  entstandene gefestigte (Gruppen-)Meinung zusammen . Wer bereit ist, das als Konsequenz dieser Theorie hinzunehmen, müsste strikt darauf verzichten, die Konventionen anderer Gruppen zu kritisieren . Es wäre zwar möglich, ein anderslautendes  Urteil zu äussern, doch dieses würde die Richtigkeit der Konvention nicht betreffen .  Ganz  ähnlich  würde  es  einem  Angehörigen  dieser  Gruppe  gehen,  der  nicht  die  Gruppenmeinung  vertritt .  Die  Meinung  dieses  Reformers  wäre  per  definitionem  falsch: Ein Chinese könnte keine wahren Urteile gegen die Todesstrafe äussern und  eine Norwegerin keine wahren dafür . Dieses Problem würde wiederum durch eine  differenzierte Bestimmung der Gruppe nicht gelöst sondern lediglich verschoben .  Es bleibt in jedem Fall dabei, dass eine zur Gruppe abweichende Meinung irrtüm5 

6  7 

Statt der Gruppenzugehörigkeit des Sprechers könnte auch die Kultur oder Gruppe des Kontextes, worüber das Urteil geäussert wird, als Bezugspunkt dienen . Wenn sich also eine Norwegerin über die Mädchenbeschneidung in der Subsahara äussert, wäre die dortige Konvention  massgebend . Diese Variante ist aber mutatis mutandis denselben Einwänden ausgesetzt, die ich  im Folgenden diskutiere . Ein Plädoyer für diese Sicht lieferte kürzlich Amartya Sen mit seinem Buch Die Identitätsfalle:  Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007 .  Die Aussage, eine Normpraxis habe sich auf eine bestimmte Art und Weise entwickelt ist eine  ganz andere als die Aussage, diese Normpraxis sei richtig . Vgl . James Griffin, On Human Rights,  Oxford 2008, S . 133 f . 

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lich wäre, ohne dass dafür weitere Gründe angegeben werden müssen . Das ist schon  für den Fall des „einsamen Propheten“ unplausibel (warum annehmen, dass er immer irrt?) und erst recht falls zwei oder mehrere die Reformmeinung vertreten . Bei  welchem Anteil von Unstimmigkeit würden wir dazu übergehen, statt von falschen  (Reform-)Urteilen von einer Unbestimmtheit der Gruppenposition zu sprechen? All  diese Erwägungen könnten nicht anders als arbiträr sein .  Es  stellt  sich  also  heraus,  dass  die  beim  Sprecherrelativismus  angesprochenen  Probleme bezüglich des Umdenkens, Nichtwissens und mit Blick auf (interne) Meinungsverschiedenheiten auch den Gruppenrelativismus betreffen . Im nächsten Teil  soll deshalb ein Problem angesprochen werden, das die Struktur der relativistischen  Theorien insgesamt betrifft . 3  relatIvIsmus  ohne „aBsoluten“ Gehalt? Woran liegt es, dass die beiden „Standardinterpretationen“ scheitern? Was hat dieser  Befund  mit  dem  Relativismus  generell  zu  tun?  Betrachten  wir  zur  Beantwortung  dieser Fragen zunächst das grundsätzliche Argumentationsziel eines jeden Relativismus: das Vermeiden von absoluten Gehalten . Die Herausforderung, die sich für Relativisten stellt, besteht darin, dass sie das  vermeiden müssen, was ich im Folgenden absolute Sätze (oder Gehalte) nenne . Damit meine ich Sätze wie „Unschuldige töten ist ungerecht“, „Meinungsfreiheit ist  gut“ oder „Foltern ist falsch“, die ohne eine weitere Einschränkung gelten sollen . Es sind  Sätze in der Form „A ist F“, wobei A eine Handlung oder einen Zustand bezeichnet  und F die moralische Bewertung (gut, gerecht etc .) . Falls es solche wahre Sätze gibt,  wäre der Relativismus falsch . Dafür würde es theoretisch genügen, wenn es einen  einzigen solchen wahren Satz gäbe . Eine relativistische Theorie ist dann akzeptabel,  wenn sie solche Sätze vermeidet und gleichwohl widerspruchsfrei formulierbar ist . 3.1 erGänzunG absoluter sätze Eine  Möglichkeit,  wie  absolute  Sätze  vermieden  werden  könnten,  besteht  darin,  diese  Sätze  als  Ellipse  eines  anderen  vollständigen  Satzes  zu  lesen,  der  um  einen  relativen Zusatz erweitert ist . Der Satz „Foltern ist falsch“ wird ergänzt zu „Foltern  ist gemäss Konvention X falsch“ .8 Gemäss diesem ergänzten Satz ist es also nicht für  alle  Kontexte  (seien  sie  nun  durch  unterschiedliche  Sprecher  oder  Gruppen  bestimmt) falsch, zu foltern . Doch was gewinnen Relativisten durch diese Ergänzung?  Die Frage ist, was der Zusatz „gemäss Konvention X“ leisten könnte . Um dies zu  klären, könnten wir nun versuchen, die Inhalte der Konvention X auf einer Liste  zusammenzufassen . Falls das obige Urteil den Inhalt der Konvention korrekt wiedergibt, würden wir unter anderem einen Satz finden, der „Foltern ist falsch“ (oder  ähnlich) lautet . Denn nur weil die Konvention X diesen Satz enthält, ist es ihr ge8 

Eine  gründliche  (sprachanalytische)  Auseinandersetzung  mit  Relativismus  in  der  Moral  und  Erkenntnistheorie unternimmt Paul Boghossian, What is Relativism?, in: Patrick Greenough/Michale Lynch (Hrsg .), Truth and Relativism, Oxford 2006, S . 13–37 . Für die Ergänzungsstrategie  (mit etwas anderen Akzenten) vgl . S . 28 ff .

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mäss falsch, zu foltern . Nun wird aber dieser Satz selbst den Zusatz „gemäss Konvention X“ nicht enthalten; er lautet lediglich dahingehend, dass Foltern (einfach  so) falsch ist . Es handelt sich also um nichts anderes als um einen absoluten Satz  und wir können uns fragen, ob er wahr oder falsch ist . Einen solchen Satz darf es  aber dem Relativismus zufolge nicht geben . Denn wenn er wahr ist, dann ist er dies  kontextunabhängig; und dass er Teil der Konvention X ist – also gleichsam auf der  Liste X steht – ist dafür irrelevant . Es bleibt also nichts anderes, als die Ergänzungsstrategie weiterzuführen . Der Satz „Foltern ist falsch“ aus der Konvention X muss  ergänzt werden mit einem relativen Zusatz . Er könnte dann lauten: „Foltern ist gemäss Code Y falsch“ . Schauen wir uns den Code Y aber an, so werden wir sehen, dass  dieser  ebenfalls  den  Satz  „Foltern  ist  falsch“  (oder  einen  ähnlichen)  enthalten  müsste, damit der Satz mit dem Verweis auf Y wahr ist . Es reicht, wie gesagt, dass der  Satz in X und Y dem Satz „Foltern ist falsch“ jeweils ähnlich ist, da auch aus Sätzen  wie „starke Schmerzen zufügen ist falsch“ oder „Die Menschenwürde ist zu achten“  jener über die Folter abgeleitet werden könnte . Wie auch immer diese Sätze genau formuliert sind, sie werden immer als absolute  formuliert  sein  und  deshalb  weiter  ergänzt  werden  müssen .  Und  weil  dieser  Prozess nicht gestoppt werden darf, mündet diese Strategie in einem infiniten Regress . 3.2 norMakzeptanz und WaHrHeit Bisher war davon die Rede, dass der Relativismus die Wahrheitsbedingungen relativ zu  etwas vorgibt . Wir könnten nun aber diesen Punkt bestreiten und behaupten, dass  besagte  Urteile  gar  nicht  wahr  oder  falsch  sein  können .9  Diese  nonkognitivistische  Position findet sich beispielsweise im Emotivismus von Alfred Ayer . Dieser meint,  dass Sätze der Ethik keine Propositionen seien und daher nicht wahrheitswertfähig  sind . Der normative Aspekt des Satzes „Foltern ist falsch“ trägt nichts zum propositionalen  Gehalt  des  Satzes  bei,  sondern  unterstreicht  lediglich  die  Ernsthaftigkeit  oder Dringlichkeit, mit der der Satz geäussert wird .10 Ganz ähnlich lautet Wittgensteins Befund im Tractatus: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich  die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also  etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat (…)“11 . In beiden Fällen stellen moralische Sätze also nichts dar, was mit „philosophischen Mitteln“ befriedigend angegangen werden könnte . 

9 

Möglich wäre auch, eine „Irrtumstheorie“ zu vertreten, wonach alle moralischen Überzeugungen falsch sind, vgl . John Leslie Mackie, Ethik: Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen,  Stuttgart 1981 . Doch warum sollten wir Überzeugungen zu moralischen Fragen haben, die wir  (prinzipiell) für unwahr (irrtümlich) halten? Denn es reicht dafür nicht, einfach keine Meinung  zu haben: Wir müssen gleichzeitig überzeugt sein, dass foltern falsch ist und aus (anderen Gründen)  davon  überzeugt  sein,  dass  sämtliche  Überzeugungen  zur  Bewertung  von  Folter  falsch  sind, also auch die eigene . 10  Vgl . Alfred J. Ayer, Sprache: Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970, insb . Kapitel 6 (Kritik der Ethik  und Theologie) .  11  Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a . M . 2006, S . 85 [6 .53] .

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Es ist unmöglich, hier in gebotener Kürze zu diskutieren, ob der Nonkongitivismus überzeugt und damit einen valablen Ausweg für die Relativisten bietet . Auf ein  Problem  möchte  ich  aber  trotzdem  zu  sprechen  kommen:  Die  Frage,  warum  wir  Normen akzeptieren . Falls wir den nonkognitivistischen Weg einschlagen, könnte es  unklar sein, weshalb wir uns überhaupt Normen zu eigenen machen .12 Warum sollten wir die Überzeugung haben, dass Foltern falsch ist, wenn nicht deshalb, weil sie  richtig (oder eben wahr) ist? Wir könnten versuchen, auf eine Reihe anderer (sozialer)  Gründe  zu  verweisen,  warum  wir  diese  Überzeugung  haben;  etwa  weil  diese  Überzeugung bisher nützlich war oder weil wir damit mit unseren Freunden übereinstimmen . Dennoch bleibt damit der Umstand erklärungsbedürftig, dass wir normalerweise nur dann von etwas überzeugt sind, wenn wir es für wahr halten oder  uns  zumindest  eine  hinreichende  rationale  Rechtfertigung  zu  Recht  legen .  Und  selbst wenn dies nicht so sein sollte, wäre es vernünftig, unsere Überzeugungen an  diesem Standard zu messen . Eine weitere Möglichkeit, Normen als nicht wahrheitswertfähige Sätze zu verstehen, wäre, sie als Imperative zu verstehen . Der Satz „Foltern ist falsch“ würde somit  durch den Satz „Foltere nicht!“ ersetzt . Hier stellt sich allerdings das Problem, dass  wir diese Sätze nicht mehr ohne weiteres von anderen normativen Sätzen der Ästhetik  („Iss  Spaghetti  nicht  mit  dem  Messer!“)  oder  der  Klugheit  („Nimm  den  Bus,  wenn du in Eile bist!“) unterscheiden könnten, was im Vergleich von Sätzen über  das Foltern mit Sätzen der Etikette unbefriedigend ist . Mit dem Imperativ-Verständnis wäre zudem abermals das Problem der Motivation zu lösen . Warum sollten wir  uns bestimmten Imperativen unterwerfen und anderen nicht? „Weil sie richtig sind“  steht als Antwort nicht mehr zur Verfügung . Welche Art von guten Gründen könnte  es aber dafür geben? Ein Ausweichen auf eine kantische Linie („weil es gemäss dem  kategorischen Imperativ vernünftig ist“) wäre universalistisch und kommt deshalb  nicht mehr in Frage . Die Motivation müsste also relativ zum Überzeugungssystem  des Sprechers erklärt werden, was zu bereits bekannten Problemen führt . 4  GeGen  eIne fundIerunG: der  praGmatIstIsche eInwand Die Debatte zwischen Relativisten und Universalisten über die Geltung von Menschenrechten ist eine über die Begründung oder die Fundierung von Normen . In  diesem Sinn steht sie in der langen philosophischen Tradition, wonach zu klären ist,  was ist, und was wir wissen . Demgegenüber macht nun der philosophische Pragmatismus geltend, dass dieses Unterfangen grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sei  und schlägt einen Strategiewechsel vor . Bevor wir uns der pragmatistischen Position  zu den Menschenrechten annehmen, will ich kurz umreissen, worum es dem Pragmatismus  grundsätzlich  geht .  Dabei  beziehe  ich  mich  primär  auf  den  führenden  Exponenten dieser Strömung der letzten fünfzig Jahre: Richard Rorty .

12  Natürlich könnten wir auch darauf verzichten, überhaupt irgendwelche Normen zu akzeptieren;  ein Preis, der wohl kaum jemand zu zahlen bereit ist .

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4.1 Was ist pHilosopHiscHer praGMatisMus? Auf  Arbeiten  von  Charles  Sanders  Pierce,  William  James  und  John  Dewey  basierend, ist der Pragmatismus keine einheitliche philosophische Theorie, sondern mehr  eine „Einladung, eine bestimmte Perspektive einzunehmen“13 . Es geht darum, eine  bestimmte  Sorte  von  klassischen  philosophischen  Problemen  der  Ontologie  und  der Erkenntnistheorie auf eine grundsätzlich andere Art anzugehen als bisher . Pragmatisten verfolgen nicht Erkenntnis, wie das Philosophen seit Platon getan haben,  sondern verstehen Erkenntnis als Instrument zur Anpassung des Menschen an seine  Umwelt . Für sie steht die Frage im Vordergrund, ob eine Überzeugung einen praktischen Unterschied macht – und nicht, ob sie korrekt abbildet, was wirklich ist . Denn ein  solches unabhängiges Sein gibt es dem Pragmatismus zufolge nicht, da alles „durch  und durch relational“14 ist . Es gibt kein Wesen der Dinge, das zu erkunden wäre .  Dieser Antiessentialismus führt dazu, dass Rechtfertigung von Überzeugungen, aber  auch von Handlungen, nicht durch Nachweis der Übereinstimmung mit einer nichtrelationalen  Wirklichkeit  gedacht  wird .  Wissen  und  Handlungsanleitungen  sind  vielmehr dann gerechtfertigt, wenn sie nützlich sind, d . h . wenn sie uns dazu dienen,  uns an „die Verhältnisse“ anzupassen . Was bedeutet das nun mit Blick auf die Moralphilosophie? Zum einen, dass es  keine absoluten Sätze gibt, wie wir sie dem Relativismus gegenüber gestellt haben .  Moralische Überzeugungen zielen ausserdem, ebenso wie Erkenntnis, nicht auf Objektivität . Richard Rorty führt diesen Gedanken in einem 1991 erschienen Aufsatz  „Solidarity or Objectivity?“ aus .15 Er meint, dass wir Menschen uns auf zwei grundsätzliche verschiedene Arten mit uns selbst auseinandersetzten können . Wir können  uns  entweder  als  Mitglieder  einer  (realen  oder  fiktiven)  Gemeinschaft  verstehen  oder uns in Relation zu einer nicht-menschlichen Umwelt denken . Dabei basiert die  erste Betrachtungsweise auf dem Wunsch nach Solidarität, die zweite hingegen auf  dem Wunsch nach Objektivität .16 Rorty meint nun, dass Objektivität hinter Solidarität  zurückzustehen  habe .17  Wahrheit  und  Rechtfertigung,  die  dem  objektivistischen Programm zuzuordnen wären, sind damit nur noch mit Blick auf das auf Solidarität  ausgerichtete  Projekt  zu  verstehen;  für sich alleine brauchen  wir  sie  nicht  mehr . Das ist eine folgenschwere Annahme: Mit der Absage an Objektivität bekennt  sich Rorty zu einem Ethnozentrismus mit der Behauptung, „that there ist nothing to  be said about either truth or rationality apart from descriptions of the familiar procedures of justification which a given society – ours – uses in one or another area of  inquiry .“18  Indem  es  keinen  objektiven,  ahistorischen  Standpunkt  gibt,  um  Standards miteinander zu vergleichen, bekennt sich Rorty zu einer (zirkulären) Bevorzu13  Andreas Graeser, Positionen der Gegenwartsphilosophie: Vom Pragmatismus bis zur Postmoderne, München 2002, S . 18, vgl . S . 18 ff . für eine kurze Einführung . 14  Richard Rorty,  Hoffnung  statt  Erkenntnis:  Eine  Einführung  in  die  pragmatische  Philosophie  IWM-Vorlesungen zur modernen Philosophie, Wien 1994, S . 68 . 15  Richard Rorty, Solidarity or Objectivity?, in: Ders ., Objectivity, Relativism, and Truth Philosophical Papers I, Cambridge 1991 . 16  Vgl . Rorty (Fn . 15), S . 21 . 17  “Those who wish to reduce objectivity to solidarity – call them „pragmatists“ – do not require  either a metaphysics or an epistemology . They view truth as, in William James‘ phrase, what is  good for us to believe .” Rorty (Fn . 15), S . 22 . 18  Vgl . Rorty (Fn . 15), S . 23 .

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gung des eigenen Standpunkts vor dem Hintergrund des eigenen Standpunkts, mit der  Begründung, dass es eine andere, nicht-zirkuläre Rechtfertigung eines Standpunkts  nicht gibt .19 4.2 HoFFnunG auF eine MenscHenrectHskultur Wie steht nun aber der Pragmatismus zu den Menschenrechten? Man könnte vielleicht annehmen, dass der erwähnte Ethnozentrismus dazu führt, universellen Menschenrechten gegenüber skeptisch zu sein . Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Bevorzugung des eigenen Standpunkts bedeutet nicht, ihn zu relativieren . Einzig die  Strategie,  wie  Menschenrechte  stark  gemacht  werden  sollen,  liegt  nicht  darin,  sie  gemäss dem klassischen Rechtfertigungsprogramm zu fundieren . Rorty stellt diesem  auf Objektivität gerichteten Programm die Hoffnung auf eine sich fortentwickelnde  Menschenrechtskultur  entgegen .  Diese  Hoffnung  ist  darauf  gerichtet,  „Gruppen  durch  tausend  kleine  Stiche  zu  verknüpfen  und  –  anstelle  der  Berufung  auf  eine  enorm grosse Gemeinsamkeit in Gestalt ihrer gemeinsamen Menschlichkeit – tausend kleine Gemeinsamkeiten zwischen ihren Mitgliedern zu beschwören .“20 Der  moralische Fortschritt, den Rorty vor Augen hat, besteht darin, dass die „Reichweite  des Mitgefühls immer umfassender wird .“21 Das anzustrebende Ideal sieht eine Welt  vor, in der die Menschen bei der Wahl ihrer Handlungen und der Bestimmung ihres  Selbstverständnisses immer mehr auch  die Bedürfnisse, Ansichten  und Interessen  von  anderen  Menschen  berücksichtigen .22  Kurz  gesagt;  die  Gruppe,  der  ich  mich  zugehörig  fühle, vergrössert  sich  und  Rorty hofft darauf (und  fordert uns auf,  zu  hoffen), dass die Menschen zu dieser ungeheuren Inklusionsleistung fähig sind . Woher  rührt  diese  Hoffnung?  Sie  hat  nichts  mit  dem  Erfolg  von  philosophischen Argumenten zu tun, sondern damit, dass wir in einer Zeit leben, in der es  „sehr viel leichter geworden ist, uns durch traurige und rührselige Geschichten zum  Handeln anzuspornen .“23 Die Menschenrechtskultur soll mit politischen Aktionen,  Gedichten  und  Filmen  gestärkt  werden .  Wir  sollten  nicht  zu  erklären  versuchen,  warum  Menschenrechte  vernünftig  oder  gerecht  sind .  Die  Idee  universeller  Menschenrechte, ist als „begrüssenswertes Faktum der Welt nach dem Holocaust“24 hinzunehmen und wir sollen dieser Kultur zu „mehr Selbstbewusstsein und Einfluss  (…) verhelfen“25 . Wie wir das genau tun, ist wiederum eine Sache der Nützlichkeit  und Rorty hat eine starke empirische Annahme dazu, was zur Förderung der Menschenrechtskultur geeignet ist und was nicht: „Wir Pragmatisten gehen bei unserer  Argumentation  davon  aus,  dass  das  Auftauchen  der  Menschenrechtskultur  einem  19  20  21  22  23 

Vgl . Rorty (Fn . 15), S . 29 . Rorty (Fn . 14), S . 87 . Rorty (Fn . 14), S . 81 . Vgl . Rorty (Fn . 14), S . 80 . Richard Rorty,  Menschenrechte,  Vernunft  und  Empfindsamkeit,  in:  Ders .,  Wahrheit  und  Fortschritt,  Frankfurt  a . M .  2003,  S . 241–268,  S . 268  (orig .:  Human  Rights,  Rationality,  and  Sentimentality,  in:  Susan Hurley und Stephen Shute  [Hrsg .],  On  Human  Rights:  The  1993  Oxford  Amnesty Lectures, New York 1993) . 24  Rorty (Fn . 23), S . 245 . 25  Vgl . Rorty (Fn . 23), S . 246 f .

Moralischer Relativismus, philosophischer Pragmatismus und universelle Menschenrechte

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Zuwachs an moralischem Wissen offenbar gar nichts, sondern alles dem Hören trauriger  und  rührseliger  Geschichten  verdankt“ .26  Damit  wäre  die  metaethische  Debatte, wie sie sich zwischen Relativisten und Universalisten abspielt, bedeutungslos  geworden . Doch warum sollten wir die Einladung des Pragmatismus auf diesen „Perspektivenwechsel“ annehmen? 4.3 enGaGiertes nicHt-beGründen Die Attraktivität des pragmatistischen Angebots hängt unter anderem davon ab, ob  erstens die Auffassung davon, was eine Begründung (nicht) leistet, überzeugt und  zweitens,  ob  wir  Grund  haben,  das  relationale,  antiessentialistische  Programm  zu  akzeptieren . Auf beide Punkte möchte ich im Folgenden kurz eingehen .27  Wie wir gesehen haben, ist Rorty der Meinung, dass die Anstrengungen die im  Rahmen eines klassischen Begründungsprogramms unternommen werden können,  keinen Unterschied für das Bestehen und Fortentwickeln der Menschenrechtskultur  machen . Die Menschen sollten daher praktisch zu empathischeren Wesen erzogen,  statt  mit  philosophischen  Theorien  und  Argumenten  ausgestattet  werden .  Rorty  meint, dass kein Aspekt der Aussenwelt, kein Wissen darüber, wie die Dinge sind,  uns einen Grund für oder gegen das Haben einer Überzeugung liefern kann . Doch  für den Fall der moralischen Überzeugungen scheint dies oftmals der Fall zu sein .28  Es ist möglich, sich aufgrund von Argumenten etwa zu einer deontologischen, konsequentialistischen oder theologischen Ethik zu bekennen und es sind viele Fälle  vorstellbar, in denen wir unsere Urteile nach neuen Erkenntnissen revidieren . Dies  wäre in besonderem Mass der Fall, wenn solche Erkenntnisse auch das Wesen des  Menschen betreffen könnten .  Dieser  zweite  Punkt  betrifft  Rortys  Antiessentialismus .  Demnach  gibt  es  über  das Wesen des Menschen nichts festzustellen, woran eine Ethik ansetzen könnte –  jedenfalls nichts, was nicht durch die Brille unseres (ethnozentrischen) Standpunkts  gesehen wird . Weil es diese kultur- und geschichtsunabhängige Beschreibung nicht  gibt, erübrigt sich auch eine Begründung von Menschenrechten, die hier ansetzen  würde . Diese Behauptung ist jedoch alles andere als unbezweifelbar: An dieser Stelle  setzt Greg Hill seine Kritik an Rortys Position an, die lautet, dass es wesentlich mehr  über das Wesen des Menschen zu sagen gebe als Rorty dies tut .29 Dabei weist er auf 

26  Rorty (Fn . 23), S . 248 . 27  Eine  gründliche  Diskussion,  insb .  des  zweiten  Punktes,  würde  verlangen,  Rortys  umfassende  Argumentation gegen klassische Ontologie und Erkenntnistheorie zur Sprache zu bringen . Eine  Sammlung von Kritik und Verteidigung enthält Robert B. Brandom (Hrsg .), Rorty and his Critics,  Oxford 2000 . 28  Vgl . dazu auch Graeme Garrard, The Curious Enlightenment of Professor Rorty, Critical Review  2000 (Vol . 14 No . 4), S . 421–439, S . 429 . 29  Es geht um Dinge wie Geschichten erzählen, krank werden, sich erinnern, jemanden tadeln etc . Interessant ist dabei, dass Hill sich auf Wittgenstein bezieht, der auch für Rortys Denken bedeutsam  ist, etwa in den Philosophischen Untersuchungen, Paragraph 25, (über „Naturgeschichte“), wo davon  die Rede ist, wie menschliche Eigenschaften, die sozialen Handlungen einbetten . Vgl . Greg Hill,  Solidarity, Objectivity, and the Human Form of Life: Wittgenstein vs . Rorty, Critical Review  1997 (Vol . 11 No . 4), S . 555–580, S . 573 .

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Aspekte des Menschseins hin, die so selbstverständlich sind, dass wir für gewöhnlich  nicht darüber reden: “Hearing  someone  scream  can  belong  to  the  criteria  for  believing  a  person  nearby is in trouble because the range of human hearing extend just so far, because  we have a capacity for fear, sympathy, for surprise . If the human voice were not expressive, if we had telepathic powers, if we could fly like birds, or if we were invulnerable to harm, then our concepts would be different, and there might be no such  things as ‘a person nearby in trouble .’”30 Demgegenüber belässt es Rorty bei der radikal offenen Feststellung, der Mensch  sei  „enorm  wandlungsfähig“31,  um  dann  doch  ein  sehr  anforderungsreiches  Programm menschlicher Entwicklung zu entwerfen, wonach Solidarität unter den Menschen  nicht  nur  zunehmen  wird  sondern  zunehmen  soll .  Es  scheint  überhaupt  schwierig zu sein, den Antiessentialismus rein zu bewahren: Rortys Mensch ist kein  unbeschriebenes Blatt, sondern entspricht dem Bild eines „maximal gütigen, sensiblen  und  mitfühlenden  Menschen“32 .  Damit  will  er  freilich  nicht  behaupten,  der  Mensch sei intrinsisch so beschaffen; doch auf die Hoffnung, diese Eigenschaften – ja  was sind es nun, wenn nicht Wesensmerkmale? – mögen zur Entfaltung kommen,  will er nicht verzichten . Man bleibt diesem Standpunkt gegenüber etwas ratlos zurück: Weshalb sollte sich dieses quasi-evolutionistische Programm der zunehmenden Ausbreitung unseres Mitgefühls weiter entfalten? Aber viel wichtiger noch: Weshalb sollten wir überhaupt auf diese Entwicklung hoffen? – Für alle, die es nicht  schon sowieso tun, scheint es vor diesem Hintergrund eigentlich keine Argumente  dafür zu geben; Argumente, die zu suchen sich Philosophen seit Sokrates verschrieben haben . 5  eIn „unentschIeden“  für  dIe unIversalIsten? Die Diskussion der verschiedenen relativistischen Positionen hat ergeben, dass eine  kohärente Formulierung nicht nur einige Probleme mit sich bringt, sondern solange  Schwierigkeiten birgt, wie von der Wahrheitsfähigkeit von moralischen Sätzen ausgegangen  wird .  Die  nonkognitivistische  Alternative  oder  ein  Verständnis  dieser  Sätze als Imperative vermag diese Lücken nicht zu schliessen und lässt offen, warum  wir uns moralische Normen zu Eigen machen sollten . Von  Seiten  des  Pragmatismus  wurde  nicht  der  Inhalt des Universalismus (die  universellen  Menschenrechte)  angegriffen,  sondern  der  Weg,  diese  zu  begründen .  Trotz dieser Übereinstimmung im Ergebnis sollte dies die Universalisten aus mindestens zwei Gründen kümmern: Erstens kann es ihnen nicht nur darum gehen, ob  ihre Theorie „einen Unterschied macht“, bzw . sie sollten sie auch dann vertreten,  wenn sie es kontingenterweise einmal nicht tut . In dieser Hinsicht ist Rorty ein erstaunlich  „klassisch“  argumentierender  Philosoph,  der  eine  Theorie  entfaltet,  die  gegen Begründungsprojekt im Sinne Platons oder Descartes abzielt und ihnen das  anti-metaphysische  Projekt  des  Pragmatismus  entgegenstellt .  Zweitens  ist  Skepsis  30  Greg Hill, Solidarity, Objectivity, and the Human Form of Life: Wittgenstein vs . Rorty, Critical  Review 1997 (Vol . 11 No . 4), S . 555–580, S . 577 . 31  Rorty (Fn . 23), S . 244 . 32  Rorty (Fn . 14), S . 81 .

Moralischer Relativismus, philosophischer Pragmatismus und universelle Menschenrechte

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hinsichtlich  der  Leistungsfähigkeit  und  der  Bestimmtheit  angebracht .  Der  selbst  schon fast pragmatistisch anmutende Rat, auf die Kraft von Argumenten und nicht  nur auf Nützlichkeit für die Menschenrechtskultur zu setzen, sollte uns ausserdem  davor schützen, aus den Augen zu verlieren, ob wir auf dem richtigen Weg sind;  sollte dies der Weg zunehmender Einbeziehung menschlicher Interessen sein, gibt  es daran nichts auszusetzten . Wer müsste nun in dieser Debatte den nächsten Schritt machen? Die Pragmatisten, falls sie nicht glaubhaft machen können, dass ihre empirische Annahme stimmt,  Begründungsprogramme seien unnütz . Denn falls das so ist, muss die Menschenrechtskultur  „mit  philosophischen  Mitteln“  gestärkt  werden .  Gefordert  sind  auch  die moralischen Relativisten: Diese müssten mit einer kohärenten Formulierung des  moralischen Relativismus aufwarten, die die angesprochenen Defizite befriedigend  erklären kann . Das ist vielleicht möglich, doch vorher meine ich, dass die Relativisten und nicht die Universalisten am Zug sind, auch wenn in diesem Betrag mit keinem Wort direkt für den universalistischen Standpunkt argumentiert worden ist .

MattHias Jenal sInd menschenrechte  unIversalIsIerBar?   eIne InterpretatIon  Im lIcht  der sprachphIlosophIe   wIttGensteIns Der Beitrag untersucht die Frage der Universalität der Menschenrechte . Dabei scheint es einen Konsens zu geben, dass es in Fragen der Menschenrechte gewisse universell geltende Kerngehalte gibt,  welche überall und für alle Menschen gleich sind . Im juristischen Diskurs über Menschenrechte bezieht man sich häufig auf Konventionen und Pakte der UNO . Da man damit nichts anderes tut, als  auf Texte zu verweisen, ist die Frage nach der Universalität der Menschenrechte eine Frage nach dem  Verständnis dieser Texte und damit ein sprachliches Problem . Die Frage, ob es universelle Kerngehalte gibt, die für alle Menschen inhaltlich gleich sind, könnte also umformuliert werden in: Wie  liesse sich eine für alle Menschen identische Bedeutung in der Sprache herstellen? Es lohnt sich daher, die Frage der Universalität der Menschenrechte „sprachlich“ anzugehen . Im vorliegenden Beitrag  wird dies vor dem Hintergrund der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins getan und nach den  Konsequenzen Wittgensteinscher Sprachphilosophie auf die Universalität der Menschenrechte gefragt .

1  eInleItunG Universalität  der  Menschenrechte  –  kaum  ein  Thema  ist  so  umstritten .  Dennoch  scheint  ein  gewisser  Konsens  zu  bestehen,  dass  es  in  Fragen  der  Menschenrechte  gewisse universell geltende Kerngehalte gibt: So ist etwa von „gewissen Grundideen  der Demokratie als universell geltenden Werten“1 und von „Unverträglichkeit“ kultureller Traditionen mit menschenrechtlichen Kerngehalten die Rede,2 oder es wird  bedauert,  dass  es  immer  noch  Traditionen  gibt,  die  die  Verwirklichung  der  Menschenrechte „brechen und bremsen“ .3 Anderenorts wiederum wird die Wichtigkeit  „liberaler Demokratie“ betont .4 Jetzt stellt sich die Frage: Was könnten universelle  Kerngehalte  sein  und  was  könnte  Universalität  im  Hinblick  auf  Menschenrechte  bedeuten? Wenn man in Fragen der Menschenrechte Bezug nimmt auf internationale Konventionen  und  Pakte,  wie  man  dies  aus  juristischer  Sicht  häufig  tut,5  macht  man  nichts anderes, als schriftliche Texte heranzuziehen . Das Instrument, mit welchem  der menschenrechtliche Diskurs geführt wird, ist die Sprache . Mir scheint daher die  Frage nach der Existenz universeller Kerngehalte ein sprachliches Problem zu sein:  Die Frage, ob es universelle Kerngehalte gibt, die für alle Menschen inhaltlich gleich  sind, könnte man so umformulieren: Wie liesse sich eine für alle Menschen identische  Bedeutung  in  der  Sprache  herstellen?  Denn  die  Ansicht,  es  gebe  universelle  1  2  3  4  5     

Sendung „Sonntagsblick Standpunkte“ vom 03 .10 .10, Votum Andreas Gross . http://www .humanrights .ch/home/front_content .php?idcat=138 (Zugriff: 27 .01 .11) . Karl Peter Fritzsche, Menschenrechte, Paderborn 2004, S . 18 . Babetta von Albertini Mason,  Menschenrechte  aus  westlicher  und  asiatischer  Sicht:  Zu  den  Grundwerten der liberalen Demokratie, Zürich 2004, S . 3 . http://www .humanrights .ch/home/de/Themendossiers/Universalitaet/Bedeutung/ idcatart_ 75content .html (Zugriff: 27 .01 .11); Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2 . Aufl ., Basel 2008, S . 204 .

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Kerngehalte, läuft darauf hinaus, dass es ein Verständnis von Menschenrechten (und  damit von Sprache) gibt, das zumindest im Kern von allen geteilt wird . Es lohnt sich  daher, die Frage der Universalität der Menschenrechte „sprachlich“ anzugehen . Ich  werde das vor dem Hintergrund der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins tun  und nach den Konsequenzen Wittgensteinscher Sprachphilosophie auf die Universalität der Menschenrechte fragen . Zunächst unterscheide ich persönlich Universalität in institutionelle Universalität und inhaltliche Universalität . In einem zweiten  Schritt werde ich die Sprachphilosophie Wittgensteins näher betrachten und deren  Konsequenzen auf die Universalität der Menschenrechte umreissen . 2  unIversalItät 2.1 institutionelle universalität Auf institutioneller Ebene versteht man den universellen Charakter der Menschenrechte im Sinne eines Geltungsanspruchs . Unabhängig von einer tatsächlich existierenden universellen Geltung wird der Anspruch erhoben, Menschenrechte hätten  überall und für alle Menschen zu gelten,6 nach dem Schema: Das Recht auf Leben  gilt, überall auf der Welt und für alle Menschen . Damit ist allerdings nur ein Anspruch umschrieben, über die inhaltliche Bedeutung, besonders darüber, was „Recht  auf Leben“ in einem konkreten Fall bedeutet, ist noch nichts gesagt . Ein  gewichtiger  Schritt  Richtung  Anerkennung  dieses  Anspruchs  geschah  mit  Gründung der UNO . So gut wie jedes Land dieser Erde ist mittlerweile Mitglied der  UNO – sogar die Schweiz . So gut wie jedes Land dieser Erde anerkennt durch seine  Mitgliedschaft,  die  Bereitschaft  Menschenrechte  zu  fördern  und  „fundamentale“  Freiheiten aller zu achten . Bereits in Art . 1 der UNO-Charta wird nämlich genau  dies als Zweck der Vereinten Nationen ausgewiesen .7 . Dazu kommen die Allgemeine  Erklärung der Menschenrechte und die UNO-Pakte I und II, die zwar nicht von allen, aber doch den meisten Mitgliedsstaaten ratifiziert wurden .8 Der Anspruch auf  Geltung dieser Rechte wurde durch Bildung der UNO und deren Instrumente institutionalisiert und durch die grosse Anzahl ihrer Mitglieder globalisiert . Auf dieser  institutionellen Ebene, der Geltungsebene, sind Menschenrechte heute tatsächlich  universalisiert .9 Doch weshalb reissen Diskussionen um Menschenrechte und deren  Verletzung nicht ab? Warum gibt es angesichts der Tatsache, dass es offenbar menschenrechtliche Kerngehalte gebe, so viele Debatten genau darüber? Bei soviel Einigkeit über Menschenrechte, deren Geltung so unbestritten ist, müsste doch alles  klar und halb so schlimm sein? Mir scheint die Musik spielt anderswo .

6  7  8  9 

Fritzsche (Fn . 3),  S . 18 .  http://www .humanrights .ch/home/de/Themendossiers/Universalitaet/ Bedeutung/idcatart_751-content .html (Zugriff: 11 .01 .11) . Art . 1 Ziff . 3 UNO-Charta . Bis dato haben 160 der 192 Mitgliedstaaten der UNO den UNO-Pakt I und 167 den UNO-Pakt  II ratifiziert . Kälin/Künzli (Fn . 5), S . 24 .

Sind Menschenrechte universalisierbar?

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2.2 inHaltlicHe universalität Wie bereits erwähnt, ist mit dem Geltungsanspruch noch nichts über die inhaltliche  Bedeutung  einer  Norm  gesagt .  Inhaltliche  Universalität  ist  daher  m . E .  zu  unterscheiden von institutioneller Universalität . Der Satz „das Recht auf Leben gilt“ gibt  noch keinen Aufschluss darüber, was der Satz konkret meint . Der Frage, wie Bedeutung möglich ist, wie es möglich sein könnte, eine universelle Bedeutung herzustellen und so Universalität auf inhaltlicher Ebene zu verwirklichen, werde ich im Folgenden  nachgehen .  Ich  werde  dies  vor  dem  Hintergrund  der  Sprachphilosophie  Wittgensteins tun, insbesondere mit Blick auf dessen Idee der Lebensform . 3  InhaltlIche unIversalItät  und wIttGensteInsche sprachphIlosophIe 3.1 WittGenstein und die klassiscHe recHtsausleGunGsleHre Wittgensteins  Hauptinteresse  in  seinem  philosophischen  Schaffen  galt  der  Frage  nach der Bedeutung von Sprache . Wie ist Bedeutung in der Sprache möglich? Wie  erhalten Texte ihren Sinn? Die Relevanz Wittgensteinscher Überlegungen im Hinblick auf den menschenrechtlichen Diskurs liegt damit auf der Hand, handelt es sich  doch bei den erwähnten Konventionen und Pakten um nichts anderes als um Texte .  In  einem  bestimmten  Verfahren  ausgearbeitete  und  mit  einem  Geltungsanspruch  versehene Texte zwar, aber doch um Texte . Obwohl man in jüngerer Zeit auch in der  Rechtswissenschaft den Thesen Wittgensteins vermehrt Aufmerksamkeit schenkte,10  bleibt der Einfluss seiner Ideen auf die klassische Lehre der Rechtsauslegung marginal . In den gängigen Lehrmitteln wird zwar auf das Thema der Sprache und deren  Bedeutung  für  Juristen  ausführlich  eingegangen,  Wittgenstein  wird  allerdings  mit  keinem Wort erwähnt .11 In der klassischen Rechtsauslegungslehre steht der Wortlaut  im Zentrum . Er gilt als der Ausgangspunkt auf dem Weg zum Sinn einer Rechtsnorm . Danach birgt der Wortlaut, etwa der des Wortes „Baum“, so wie er dasteht,  immer eine Bedeutung in sich und diese existiert unabhängig von jeder Interpretation . Diese Bedeutung kann sich im Einzelfall als inakzeptabel erweisen und bedarf  dann der Auslegung, aber sie besteht . Das Bundesgericht setzt diese Lehre in langjähriger Praxis um, wie in neueren Entscheiden, etwa BGE 125 III 57 oder BGE 128  IV 272 aber auch älteren, wie BGE 87 I 10 zu lesen ist . In BGE 87 I 10 führt das  Bundesgericht aus: „Ausgangspunkt und in erster Linie massgebend für die Bestimmung des Sinns  eines Rechtssatzes ist dessen Wortlaut, der entweder klar ist oder der Auslegung bedarf (vgl . Art. 1 Abs. 1 ZGB [Hervorhebung durch Bundesgericht]) .“12 10  Vgl .  etwa  Marc Amstutz/Marcel Alexander Niggli,  Recht  und  Wittgenstein  I,  Jusletter  24 .  Juli  2006; Gerhard Fiolka, Äusserungsdelikte: Die strafrechtliche Regulierung von Kommunikation  im Lichte der Sprachphilosophie Wittgensteins, Jusletter 24 . Juli 2006; Anne Berkemeier/Elisabeth Binz, Wittgenstein und Recht: Sprachliche Abrichtung in der Juristenausbildung, Jusletter 24 .  Juli 2006. 11  Vgl . etwa Peter Forstmoser/Hans-Ueli Vogt, Einführung in das Recht, 4 . Aufl ., Bern 2008, S . 103 ff .  und S . 471 ff . 12  BGE 87 I 10, S . 15 .

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Es lohnt sich, diesen Entscheid näher zu betrachten . Worum ging es? Das Bundesgericht hatte eine gebührenrechtliche Frage im Bereich des Erbrechts zu entscheiden .  Einem  regierungsrätlichen  Beschluss  zufolge  hätten  drei  Söhne,  welche  von  ihrer Mutter eine Erbschaft erhalten hatten, eine „Handänderungsgebühr“ entrichten sollen . Diesen Beschluss fochten die drei Erben vor Bundesgericht an . Sie stützten  sich  dabei  auf  eine  kantonale  Bestimmung,  welche  ausdrücklich  besagt,  dass  Nachkommen in gerader absteigender Linie von der Entrichtung der Gebühr ausgenommen sind: „Die Übernehmer von Erbschaften, Vermächtnissen und Schenkungen auf Todesfall – mit Ausnahme der Nachkommen in gerade absteigender Linie [Hervorhebung durch Autor] und der Adoptivkinder – haben vom Betrag der ihnen zufallenden reinen Habschaft an Handänderungsgebühr  in der Regel zu bezahlen: a) die Ehegatten für diejenigen Teile, wofür sie als Erben angesehen werden, 2 %; b) die Eltern, Grosseltern usw ., die Geschwister und deren Nachkommen für jeden Grad der  Verwandtschaft 1 %, also die Eltern 1 %, die Geschwister 2 % usf .; c)  die  übrigen  Erben,  nämlich  der  Eltern  Geschwister  6 %,  im  vierten  Grad  7 %,  in  weiteren  Verwandtschaftsgraden 8 %; d)  die durch Testament berufenen Erben  [Hervorhebung  durch  Autor]  und  Vermächtnisnehmer  8 % .“13

Der Regierungsrat des Kantons Solothurn, welcher den Entscheid über die Entrichtung der Gebühr zu verantworten hatte, vertrat dagegen eine ganz andere Position  als die drei Erben . Wie aber kommt der Regierungsrat zu seiner Auslegung, wo doch  der Wortlaut der vorliegenden Bestimmung angeblich, Zitat Bundesgericht: „völlig  klar“14 sei? Der Regierungsrat argumentierte, die direkten Nachkommen seien nur  insoweit von der Gebühr zu befreien, als es sich bei der Erbschaft um Pflichtteile  handle .  Für  sämtliche  darüber  hinaus  gehenden  testamentarischen  Zuwendungen  gelte die Ausnahme nicht . Schliesslich seien die direkten Nachkommen in einem  solchen Fall testamentarisch begünstigt und seien daher „durch Testament berufene  Erben“ im Sinne von Bst . d) . Aus diesem Grund hätten direkte Nachkommen in  dieser Konstellation die Gebühr genau gleich zu bezahlen wie die anderen Erben,  was  zudem  einer  jahrzehntelangen  Praxis  im  Kanton  Solothurn  entspräche .  Wie  bereits  angetönt,  folgte  das  Bundesgericht  dieser  Argumentation  nicht .  Vielmehr  seien die direkten Nachkommen nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung über  die Handänderungsgebühren in jedem Fall von der Gebühr befreit . Die angebliche  Klarheit  des  Wortlauts  hinderte  das  Bundesgericht  allerdings  nicht  daran  in  zwei  früheren Fällen genau umgekehrt zu entscheiden: „Das Bundesgericht hat im Urteil vom 12 . Oktober 1929 i . S . Weber den gegen diese Auslegung  (= jene des Regierungsrats, Anm . des Autors) erhobenen Vorwurf der Willkür als unbegründet  bezeichnet . Den gleichen Standpunkt hat es im Urteil vom 31 . Oktober 1946 i . S . Pfluger (Erw .  2 e) unter Hinweis auf jenen Entscheid eingenommen .“15

13  § 1,  solothurner  Gesetz  vom  13 .  Dez .  1848  über  Handänderungsgebühren  von  Erbschaften,  zitiert nach BGE 87 I 10, S . 10 . 14  BGE 87 I 10, S . 15 . 15  Vgl . BGE 87 I 10, S . 15 .

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Zudem hinderte der „klare“ Wortlaut die Regierung des Kantons Solothurn nicht, in  jahrzehntelanger Praxis die Bestimmung über die Handänderungsgebühr in ihrem  Sinne zu verstehen (wobei diese Praxis, wie eben erwähnt, in zwei Fällen bestätigt  wurde durch das Bundesgericht) . Der Wortlaut, so wie er dasteht im Gesetz, ist mit  anderen Worten eben alles andere als klar . Das Bundesgericht gibt dies auch implizit  zu, indem es, im Anschluss an das oben genannte Zitat, sagt: „Eine nochmalige Überprüfung der Frage ergibt, dass an dieser Auffassung nicht  festgehalten werden kann .“16 Wäre der Wortlaut wirklich „völlig klar“, wie das Bundesgericht ausführt, wäre  nicht einsichtig, warum man überhaupt von „Überprüfung“ sprechen sollte . An einer  klaren  Sache  gibt  es  nämlich  nichts  zu  überprüfen .17  Ist  es  nicht  gerade  die  Überprüfung der eigenen Praxis, die zeigt, dass die Rechtslage auf Grund des Wortlauts eben nicht klar ist? Anderenfalls müsste ja nicht gestritten werden . 3.2 spracHe Spätestens an diesem Punkt würde sich nun Wittgenstein heftig in die Diskussion  einmischen und der bundesgerichtlichen Auffassung vom Wortlaut widersprechen .  Sein Haupteinwand wäre in den Worten der „Philosophischen Untersuchungen“:  „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache .“18 So  ist  nach  Wittgenstein  sprachliche  Bedeutung  unabhängig  vom  Gebrauch  nicht möglich . Über den Gebrauch hinaus gibt es nichts Fixiertes, nichts ein für alle  mal Gültiges .19 Ein Satz wie „das ist ein Baum“ hat keinen Sinn, so wie er dasteht .  Der Wortlaut birgt nicht einen Sinn in sich . Vielmehr kann exakt der gleiche Satz in  verschiedenen Situationen Verschiedenes meinen, bzw . verschiedenen „Bedeutungsregeln“ folgen . Ein Beispiel aus „Über Gewissheit“ soll dies verdeutlichen: „Ich sitze  mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen „Ich weiss, dass  das ein Baum ist“, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt . Ein Dritter kommt  daher und hört das, und ich sage ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur .“20 Ein und derselbe Satz kann je nach Situation anders verstanden werden . Einem  Dritten erschiene es verrückt, zum wiederholten Male den Satz „Ich weiss, dass das  ein Baum ist“ zu gebrauchen, um auf einen vor ihm stehenden Baum hinzuweisen .  Innerhalb eines philosophischen Gesprächs gelten aber möglicherweise andere Regeln . Ändert man die Bedingungen der Situation, indem man darauf hinweist, es  handle  sich  um  eine  Situation  des  Philosophierens,  ändern  sich  auch  die  Bedeutungsregeln für den Satz . Dem Dritten wird einsichtig, dass es sich um eine spezielle  Situation handelt, in der der Satz gebraucht wird, nämlich eine des Philosophierens,  und er würde dann vielleicht nicht mehr denken, die beiden Herren seien verrückt,  sondern etwa: Philosophen stellen halt alle möglichen Dinge in Frage, das gehört zu  16  BGE 87 I 10, S . 15 . 17  Vgl . Marc Amstutz/Marcel Alexander Niggli, Recht und Wittgenstein III, Jusletter 24 . Juli 2006,  Rz . 21 . 18  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Bd . 1, Frankfurt a . M . 2006, S . 262 . 19  Amstutz/Niggli (Fn . 10), Rz . 18 . 20  Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, Frankfurt a . M . 1970, S . 121 .

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ihrem Wesen . Je nach Situation können sich also die Bedeutungsregeln und damit  die Bedeutung von Sätzen verändern . Der Vorgang ist vergleichbar mit dem eines  Spiels, bei dem verschiedene Akteure innerhalb eines bestimmten Rahmens Regeln  gleich verstehen und danach handeln . Wittgenstein spricht deshalb in diesem Zusammenhang von Sprachspielen . Dabei gibt es unzählige derartige Spiele . Ich zitiere  einige  Beispiele  Wittgensteins:  „Befehlen,  und  nach  Befehlen  handeln;  Berichten  eines Hergangs; eine Hypothese aufstellen und prüfen; eine Geschichte erfinden;  Theater spielen; Reigen singen; Rätsel raten“21 oder eben – füge ich bei –: Philosophieren . Sprachspiele definieren die Bedeutung eines Satzes bzw . sie sind diese Bedeutung, wobei sich die Art und Weise, wie diese Sprachspiele gespielt werden, über  die  Zeit  ändern  kann .22  So  war  etwa  die  Anrede  „Fräulein“  durchaus  üblich  im  Sprachspiel „Bestellen im Restaurant“, wobei diese Anrede heute eher als verpönt  gilt . Gebraucht man Worte über die Zeit anders, verändert sich auch deren Bedeutung oder die Worte verschwinden ganz, wie etwa das „Fräulein“ im angesprochenen  Beispiel . Nach welchen Regeln das Spiel der sprachlichen Kommunikation abläuft  bzw . was die inhaltliche Bedeutung der Regeln und damit der einzelnen Sprechakte  ausmacht, hängt somit von der Situation bzw . dem Gebrauch ab . 3.3 FolGerunGen in bezuG auF die universalität der MenscHenrecHte Was sind also die Konsequenzen dieser Ausführungen mit Blick auf die Menschenrechte? Die Konsequenzen sind erheblich: Menschenrechtliche Ansprüche beziehen  sich  letztlich  auf  die  erwähnten  Konventionen  und  Pakte  der  UNO .  Diese  sind  nichts anderes, als eine Sammlung von Wörtern und Sätzen, die für sich genommen, d . h . in ihrem „Da-stehen“, noch keine Bedeutung haben, sondern diese vielmehr erst im Gebrauch, Wittgenstein würde sagen: in den einzelnen Sprachspielen,  erhalten . Läge Wittgenstein falsch und wäre das Verständnis des Wortlauts klar und  eindeutig, wäre nicht einsichtig, warum es im Bereich der Menschenrechte derartige  Meinungsverschiedenheiten  gibt .  Ein  Beispiel  soll  verdeutlichen,  wie  solch  unterschiedliche Auffassungen zu Stande kommen . Obwohl beide Parteien sich auf gleiche Texte stützen, lesen sie aus dem gleichen philosophischen Konzept Verschiedenes heraus:  Die  Weltkonferenz  für  Menschenrechte,  welche  1993  in  Wien  stattfand,  zog  eine Kontroverse nach sich über die Frage, ob und wie sogenannte „asiatische Werte“  mit dem westeuropäisch geprägten Konzept der Menschenrechte vereinbar sind .23  Insbesondere China und Singapur setzten sich bei der Weltkonferenz für einen „asiatischen  Weg“  ein .24  Ihre  Kernaussage  bestand  darin,  dass  insbesondere  die  Idee  politischer  und  bürgerlicher  Rechte  nicht  mit  konfuzianischen  Werten  vereinbar  wäre .  Die  Idee  der  konfuzianischen  Wertelehre  der  „fünf  sittlichen  Beziehungen“  liesse dies nicht zu . Bei den „fünf sittlichen Beziehungen“ handelt es sich um fünf  elementare Beziehungen, die die menschliche Gesellschaft ausmachen . Es sind dies:  1 .  die  Beziehung  Herrscher  zu  Beherrschtem,  2 .  Vater  zu  Sohn,  3 .  Ehemann  zu  21  22  23  24 

Wittgenstein (Fn . 18), S . 250 . Amstutz/Niggli (Fn . 10), Rz . 17 . von Albertini Mason (Fn . 4), S . 82 ff . von Albertini Mason (Fn . 4), s. 86.

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Ehefrau, 4 . älterer Bruder zu jüngerem Bruder und 5 . Freund zu Freund .25 Das Verhältnis zwischen den fünf Beziehungen sei ein streng hierarchisches . Eine zentrale  Rolle spiele dabei die Gehorsamspflicht des Untergebenen, wodurch soziale Stabilität garantiert werden soll .26 Auf Grund dieser Konstellation seien bürgerliche und  politische  Rechte,  wie  etwa  Regimekritik  als  Teil  der  Meinungsäusserungsfreiheit,  nicht oder nur in eingeschränktem Masse zu gewähren .27 Gegen das Konzept der  „asiatischen Werte“, wie es China und Singapur vertraten, erhob sich daraufhin Widerstand . Joseph Chan, Professor an der Universität von Hong Kong, vertrat etwa  die Ansicht, Menschenrechte lassen sich durchaus mit konfuzianischen Werten vereinbaren .28 Im Zentrum der konfuzianischen Lehre würde nämlich nicht die Gehorsamspflicht, sondern eine „allumfassende Tugend der Humanität“ stehen, genannt  „jen“ .  „Jen“  wirke  als  Beschränkung  der  Gehorsamspflicht,  d . h .  die  Gehorsamspflicht  müsse  stets  mit  der  „allumfassenden  Tugend  der  Humanität“  in  Einklang  gebracht werden .29 Interessant an dem Beispiel ist, beide Seiten stützen sich auf das  gleiche philosophische Konzept, nämlich die konfuzianische Wertelehre, kommen  aber zu fundamental unterschiedlichen Schlüssen . Die beiden Seiten scheinen mit  den gleichen Spielfiguren ein ganz anderes Sprachspiel zu spielen und eine Verständigung rückt in weite Ferne . 3.4 alles Willkür? Wenn also feststeht, dass es über den Gebrauch hinaus in der Sprache keine allgemeingültige, ein für alle Mal fixierte Bedeutung gibt, folgt daraus: alles ist Willkür,  nichts ist bestimmt? Die Folgerung wäre verfehlt, denn wäre jede sprachliche Bedeutung  beliebig,  wie  wäre  dann  noch  Kommunikation  möglich?  Die  Tatsache,  dass  Sprache ihre Bedeutung erst im Gebrauch erhält, heisst daher nicht, dass Bedeutung  beliebig wäre, es heisst nur, dass die Frage nach Regelmässigkeit in der Sprache aussersprachlich beantwortet werden muss .30 Was also eine akzeptable Bedeutung ausmacht, was ihre Regelmässigkeit ausmacht, ist nicht die Leistung der Sprache selbst,  sondern versteht sich vor dem Hintergrund der Lebensform, in welcher die Sprache  gebraucht wird .31 So wird eine akzeptable Bedeutung nicht durch die Sprache selbst  definiert,  sondern  durch  die  Menschen  bestimmt,  welche  die  gleiche  Lebensform  teilen, oder mit Wittgensteins Worten: „Das Wort „Sprachspiel“ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache  ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform .“32 25  26  27  28  29  30  31  32 

von Albertini Mason (Fn . 4), s. 129. von Albertini Mason (Fn . 4), S . 155 f . von Albertini Mason (Fn . 4), s. 156. Joseph Chan, A Confucian Perspective On Human Rights For Contemporary China, in: Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell, The East Asian Challenge For Human Rights, Cambridge 1999, S . 212– 237, S . 215 ff . Chan (Fn . 28), S . 224 . Vgl .  Amstutz/Niggli  (Fn . 10),  Rz .  30;  ähnlich  Paul Feyerabend,  Irrwege  der  Vernunft,  Frankfurt  a . M . 1989, S . 165 ff . Amstutz/Niggli (Fn . 17), Rz . 6 . Wittgenstein (Fn . 18), S . 250 .

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Den Begriff der Lebensform könnte man trefflich als „sozio-historischen Kontext“  bezeichnen .33  Lebensform  bedeutet  dabei  mehr  als  blosse  Tradition,  sie  ist  vielmehr die Summe aller Einflüsse und Praktiken, die von einer Gesellschaft ausgehen und auf ein Individuum dieser Gesellschaft einwirken . Die Lebensform konstituiert sich aus den tatsächlichen Lebensumständen, also etwa den gemeinschaftlichkulturellen  Traditionen,  Sitten  und  Bräuchen,  den  politischen  Debatten,  den  Gesprächen und  Zuneigungen  der  Familie,  dem Umgang mit Freunden, der  Beteiligung  im  Sportverein,  dem  Einkaufen  im  Supermarkt,  dem  Lesen  von  Büchern,  Zeitschriften und Blogs, dem Hören von Musik dem Schauen von Fernsehsendungen  etc .34  Es  ist  dieses  Geflecht  von  umweltlichen  Einflüssen,  vor  dessen  Hintergrund Regelmässigkeit in der Sprache erst möglich wird . 4  unIversalItät  durch  GloBale leBensform? Wenn feststeht, dass Sprache ihre Bedeutung im Gebrauch erhält und regelmässiger  Gebrauch wiederum von der Lebensform abhängt, was sind dann die Konsequenzen für die inhaltliche Universalität der Menschenrechte? Wie sind in diesem Umfeld noch universelle Kerngehalte möglich? Meine These wäre angesichts dieser Ausgangslage: Inhaltliche Universalität der Menschenrechte liesse sich am ehesten erreichen in der Schaffung einer globalen gemeinsamen Lebensform . Wollte man inhaltliche Universalität der Menschenrechte  tatsächlich verwirklichen, müsste man die  Lebensumstände aller Menschen derart vereinheitlichen, dass alle eine gemeinsame  Lebensform  teilen .  Nur  so  wäre  garantiert,  dass  alle  Menschen  sprachliche  Sätze,  etwa die der angesprochenen Menschenrechtskonventionen, gleich verstünden und  gebrauchten . Je homogener eine Gesellschaft ist, desto einfacher ist, in Wittgensteinschem  Sinne  ausgedrückt,  das  juristische  Sprachspiel,  denn  die  Akzeptanz  gegenüber  Rechtsentscheidungen  ist  dann  am  grössten,  wenn  bei  allen  Beteiligten  ein  möglichst ähnliches Vorwissen vorhanden ist .35 Oder anders gewendet: Je einheitlicher  das  sprachliche  Vorverständnis  innerhalb  einer  Gesellschaft,  desto  einfacher  und regelmässiger ist die juristische Entscheidung . Aus all dem folgt: „In einer totalitären Gesellschaft bestehen optimale Bedingungen zur Kommunikation über das  Recht“,36 denn in einer totalitären Gesellschaft wird die Sozialisation der Individuen  derart umfassend vereinheitlicht, dass alle dasselbe Verständnis der Lebenswelt teilen bzw . teilen müssen . In einer totalitären Gesellschaft wären also tatsächliche universelle Werte und tatsächliche universelle Kerngehalte am ehesten möglich . Zum  Glück aber leben wir nicht in einer solchen Gesellschaft – und das soll auch so bleiben . Schliesslich gibt es genügend abschreckende Beispiele totalitärer Regime in der  Vergangenheit . In einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft, die verschiedene Auffassungen und Lebensformen zulässt, ist das juristische Sprachspiel dagegen ungemein  schwieriger,  aber  auch  spannender:  Hier  gilt  es  nicht  vor  dem  Hintergrund  einer einzigen sondern eines Geflechts von Lebensformen eine vertretbare Lösung  33  Marc Amstutz/Marcel Alexander Niggli,  Recht  und  Wittgenstein  V,  in:  Gerhard Danecker et. al. (Hrsg .), Festschrift für Harro Otto, Köln 2007, S . 123–132, S . 129 . 34  Vgl . auch Feyerabend (Fn . 30), S . 162 . 35  Fiolka (Fn . 10), Rz . 13 . 36  Fiolka (Fn . 10), Rz . 13 .

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zu finden . Tatsächliche inhaltliche Universalität der Menschenrechte hätte also einen hohen Preis, nämlich den der Freiheit .37

37  Fiolka (Fn . 10), Rz . 15 .

peter G. kircHscHläGer das  ethIsche charakterIstIkum  der unIversalIsIerunG   Im zusammenhanG  des unIversalItätsanspruchs  der   menschenrechte Am Beispiel der Universalität der Menschenrechte soll das ethische Charakteristikum der Universalisierung diskutiert werden . Letzteres stellt ein zentrales Element eines ethischen Fundaments dar, das  über begrenzte Rechtssysteme hinausreicht . Um das ethische Charakteristikum der Universalisierung  am Beispiel der Menschenrechte reflektieren zu können, soll zu Beginn in den Begriff der Menschenrechte eingeführt werden . Des Weiteren gilt die Aufmerksamkeit einer relevanten Problematik der  Begrifflichkeit der Universalität . Anschliessend soll Universalität als eines der essentiellen Charakteristika der Menschenrechte diskutiert werden . Während die Menschenrechte kulturelle Differenz u . a .  durch den Schutz des Rechts des Individuums auf Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot  ermöglichen und schützen und so nicht nur das Fundament für kulturelle Differenz, sondern auch  einen Referenzrahmen formulieren, wie ein Zusammenleben und ein Austausch in kultureller Differenz gestaltet werden kann, wird die Universalität der Menschenrechte gleichzeitig besonders durch  die kulturelle Differenz herausgefordert . An Letzterer werden die Notwendigkeit der Universalität  der  Menschenrechte  und  die  Notwendigkeit  ihrer  Begründung  deutlich .  Menschenrechte  machen  also nicht halt vor Kulturen, sondern wirken in sie hinein bzw . stellen auch in ihnen den Anspruch,  grundlegend für die Möglichkeit einer kulturellen Differenz zu sein .

1  was  sInd menschenrechte? Zu Beginn gilt es, kurz den Begriff „Menschenrechte“ zu umreissen, der auch das  Prinzip der Universalität beinhaltet: Menschenrechte sind komplexe Rechte, da sie  eine rechtliche, eine politische und eine moralische Dimension aufweisen . Die Menschenrechte weisen eine politische Dimension auf, da sie zum einen im politischen  Diskurs ihre rechtliche Dimension erlangt haben und sich im politischen Entscheidungsfindungsprozess  weiterentwickeln  können,  zum  anderen  als  Argumente  im  politischen Diskurs eingesetzt werden .1  Ihre rechtliche Dimension kommt in der folgenden Definition zum Ausdruck:  „Internationale Menschenrechte sind die durch das internationale Recht garantierten Rechtsansprüche von Personen gegen den Staat oder staatsähnliche Gebilde, die  dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde in  Friedenszeiten und im Krieg dienen .“2 Der Staat ist auf Grund der Konzeption der  Menschenrechte verpflichtet, die Menschenrechte in all ihren Facetten zu schützen . Die  staatliche Verpflichtung umfasst positiv ein Tun und negativ ein Unterlassen . In einer  ersten Ebene gilt es für den Staat, ein Unterlassen von Eingriffen sicherzustellen, damit  Verletzungen der Menschenrechte nicht geschehen können (z . B . Verzicht und Unterlassen von fragwürdigen Verhörmethoden seitens der Polizei) . Auf einer zweiten Ebene  obliegt es dem Staat sicherzustellen, dass Individuen vor Menschenrechtsverletzungen  durch Dritte geschützt sind . Als Werkzeuge dienen dem Staat das Gesetz (z . B . Schutz  vor häuslicher Gewalt oder rassistischen Übergriffen) und die Polizei . Auf einer dritten  1  2 

Da  die  moralische  Dimension  im  Folgenden  eine  zentrale  Rolle  spielt,  gehen  wir  hier  nicht  weiter auf sie ein . Walter Kälin/Lars Müller/Judith Wyttenbach, Bild der Menschenrechte, Baden 2004, S . 17 . 

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Peter G . Kirchschläger

Ebene ist der Staat dazu verpflichtet, dass die Menschenrechte in möglichst umfassender  Art und Weise den einzelnen Menschen auch wirklich zu Gute kommen . Der Staat hat  mit gesetzgeberischen und administrativen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte Realität werden . Neben der staatlichen Verantwortung besteht auch eine Verantwortung nichtstaatlicher Akteure, die Menschenrechte zu respektieren, zu achten und zur ihrer Durchsetzung beizutragen .3 Kann man die Menschenrechte nicht ausschliesslich rechtlich oder einfach als  einen politischen Kompromiss verstehen, auf den die Staatengemeinschaft sich geeinigt  hat?  Dies  muss  verneint  werden,  da  die  Menschenrechte  –  ausschliesslich  rechtlich  oder  als  einen  politischen  Kompromiss  verstanden  –  in  ihrer  Wirkung  eingeschränkt sind . Das kann man an drei Punkten verdeutlichen:  •  Menschen  haben  einen  Anspruch  auf  Menschenrechte,  auch  wenn  in  ihrem  Staat die Menschenrechte nicht geachtet werden . Gerade unter diesen Voraussetzungen  sind  Menschenrechte  so  zu  verstehen,  dass  alle  Menschen  ein  Menschenrecht auf Menschenrechte haben .  •  Es gibt kulturell und religiös unterschiedliche Auslegungen der Menschenrechte,  die oft mit einer gravierenden Einschränkung ihres Gehaltes einhergehen (z . B .  die Stellung der Frau in fundamentalistischen Religionen, Traditionen und Kulturen; der Vorrang von Gemeinschaftspflichten gegenüber individuellen Rechten; etc .) . •  Menschenrechte regeln gleichzeitig horizontale (zwischen Individuum und Individuum) und vertikale (zwischen Individuum und Staat) Verhältnisse und besitzen in beiden Fällen kritisches Potential . Beiden wird nur entsprochen, wenn  die Menschenrechte nicht auf die Grenzen eines Staates beschränkt werden . In allen drei Fällen könnte man die Menschenrechte nicht einfordern oder uneingeschränkt  einfordern,  wenn  es  keine  von  staatlichen  Entscheidungen  unabhängige  Begründung gäbe . Eine solche Begründung kann nur eine moralische sein, weil sie  eine sein muss, die allen Menschen in der gleichen Weise überzeugen kann, d . h . es  muss eine universelle Moral sein, aus der heraus gefordert werden kann, dass alle  Menschen gleiche Rechte haben . 2  was  Bedeutet unIversalItät? Am Beispiel der Universalität der Menschenrechte soll das ethische Charakteristikum der Universalisierung diskutiert werden . Letzteres stellt ein zentrales Element  eines  ethischen  Fundaments  dar,  das  über  begrenzte  Rechtssysteme  hinausreicht .  Einleitend möchte ich dazu auf eine entscheidende Problematik der Begrifflichkeit  hinweisen, die G . Lohmann herausgearbeitet hat: Wenn man die aktuelle Diskussion zur Universalität der Menschenrechte verfolgt, entsteht der Eindruck, dass sich  die Begriffe „Universalismus“ und „Relativismus“ gegenüberstehen . In Wirklichkeit  lautet der direkte Gegenbegriff zum Ersten „Partikularismus“, zum Zweiten „Abso3 

Vgl . Peter G. Kirchschläger/Thomas Kirchschläger et al. (Hrsg .), Menschenrechte und Wirtschaft im Spannungsfeld  zwischen  State  und  Nonstate  Actors:  Internationales  Menschenrechtsforum  Luzern  (IHRF), Bd . II, Bern 2005 .

Das ethische Charakteristikum der Universalisierung

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lutismus“ . „Die gängige Argumentation scheint zu sein, dass ein Universalismus nur  absolut begründet werden kann, und wenn dies nicht möglich ist, eine nur relative  Begründung zur Aufgabe des Universalismus führt und damit zu einer nur partikularen  Geltung .“4  Demzufolge  sehen  sich  die  Verteidiger  des  Universalismus  dazu  gedrängt, eine absolute Begründung der Menschenrechte leisten zu müssen, denn  eine relative Begründung würde der Universalität der Menschenrechte nicht gerecht  werden . Anschliessend an Lohmanns Beobachtung stelle ich fest, dass die beiden  oben  genannten  direkten  Gegenbegriffspaare  nicht  direkt  miteinander  zu  tun  haben . Selbst wenn sie es hätten, könnte die Begründung des mit einem dieser Begriffe  bezeichneten Charakteristikums gemäss der begrifflichen Bestimmung aller drei Begriffe erfolgen, ohne dass der das Charakteristikum bezeichnende Begriff an Relevanz verlieren würde . Demzufolge kann im Falle der Menschenrechte die Begründung ihrer Universalität durchaus relativ erfolgen .5 Dabei  ist  die  Unterscheidung  zwischen  einem  starken  und  einem  schwachen  Relativismus zentral . Mit Lohmann schlage ich für den Umgang mit der Universalität  der  Menschenrechte  eine  schwach  relativistische  Position  vor .  Was  bedeutet  „schwacher Relativismus“? Das bedeutet nicht, „dass alles relativ ist, sondern 1) dass  einige Aspekte der inhaltlichen Voraussetzungen der universalistischen Moral nur  relativ zu einer bestimmten Kultur zu verstehen sind, während andere durchaus in  andere Kulturen übersetzbar und auch verstehbar gemacht werden können . Damit  muss  nicht  behauptet  werden,  dass  es  in  allen  Kulturen  gleiche  semantische  Bestandteile geben muss, sondern nur, dass es hinreichende Überlappungen oder Kontextüberschreitungen gibt . Es muss daher keine Zentralperspektive oder einen Kernbestand aller Kulturen geben, sondern nur die Möglichkeit, wie in einem Netzwerk  von einer zur anderen sich zu bewegen .“6 Damit ist keine Inkommensurabilität von  je für sich geschlossenen Kulturen gemeint, keine scharfe Trennung zwischen Interkulturellem und Intrakulturellem .7 Vielmehr wird damit hervorgehoben, dass uns  fremde Kulturen nicht weniger unvertraut sind als Teile unserer eigenen Kultur .8

4 

5  6  7  8 

Georg Lohmann,  Zur  Verständigung  über  die  Universalität  der  Menschenrechte:  Eine  Einführung, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg .), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg i . B . 2008, S . 5; vgl . dazu auch Georg Lohmann, Diversité culturelle et universalité des droits de l›homme: Le cas du Japon, in: Lukas K. Sosoe (Hrsg .), Diversité Humaine: Démocratie, multiculturalisme et citoyenneté, Saint-Nicolas  2002,  S . 441–452;  Georg Lohmann,  Zu  einer  relativen  Begründung  der  Universalisierung  der  Menschenrechte, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg .), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg i . B . 2008, S . 218–228 . So fordert es G . Lohmann für die Menschenrechte und für die Moral (vgl . Lohmann [Fn . 4], Zur  Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 6) . Lohmann (Fn . 4), Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 7 . Richard Rorty, Solidarität oder Objektivität, Stuttgart 1988, S . 21 . Vgl . Lohmann (Fn . 4), Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 7 . 

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Peter G . Kirchschläger

3  was  Bedeutet unIversalItät  der menschenrechte? Universalität bildet eines der essentiellen Charakteristika der Menschenrechte . Menschenrechte  sind  universell,  da  alle  Menschen  Trägerinnen  und  Träger  der  Menschenrechte  sind .  Neben  ihrem  Universalitätsanspruch  sind  Letztere  kategorisch,  weil sie allen Menschen zustehen, sie können keinem Menschen abgesprochen werden . Menschenrechte sind zudem egalitär, denn alle Menschen haben in gleichem  Masse Anspruch auf den menschenrechtlich garantierten Schutz . Diese weiteren essentiellen Eigenschaften der Menschenrechte und der Aspekt, dass es sich um individuelle Rechte handelt, da sie einem Menschen als einem Rechtssubjekt zustehen,  die dieses auch gegenüber einem Kollektiv beanspruchen kann, prägen die Universalität der Menschenrechte . Schliesslich handelt es sich bei den Menschenrechten  um fundamentale Rechte, die einen Minimalstandard eines menschenwürdigen Lebens schützen . Gerade in der Auseinandersetzung mit der Universalität spielt zudem das Prinzip der Unteilbarkeit der Menschenrechte eine wichtige Rolle . Wenn  R .  Alexy  festhält,  dass  die  Existenz  der  Menschenrechte  ausschliesslich  von ihrer Begründbarkeit abhängt, kann dies auch für die Universalität der Menschenrechte gesagt werden, d . h . für den Anspruch, dass alle Menschen Trägerinnen  und Träger der Menschenrechte sind . Dabei mitzudenken ist der Hinweis von G .  Lohmann, dass die Idee der Menschenrechte gerade mit einer Idee der Begründung  eng verbunden ist . „Wir hätten gar keine Menschenrechte, würden wir Menschen als  Träger von Rechten nicht so verstehen, dass sie für alles, was ihre subjektiven Freiheiten legitimerweise einschränkt, Begründungen verlangen können .“9 Der Mensch  als Subjekt von Menschenrechten versteht sich nach Lohmann als sich selbst verstehend und will daher wissen, warum seine Selbstbestimmung Einschränkungen erfährt,  was  Lohmann  in  der  subjektiven  Forderung  herauskristallisiert:  „Begründe,  was du mir antust!“10 Die Menschenrechte sind objektiv betrachtet eine Vorkehrung  zum Schutz der Menschen vor Gewalt in ihrem Zusammenleben und in der Lösung  von Konflikten . Rechte und die dazu korrespondierenden Pflichten spielen zusammen und schränken die Willkürfreiheiten der Menschen ein, woraus die Forderung  nach einer Begründung der Verpflichtungen resultiert . „Die Begründungen sind daher zwischen Rechtsinhaber und den Adressaten der aus den Rechten resultierenden  Pflichten  anhängig .  Beide  Seiten  werden  eine  Begründung  nur  dann  akzeptieren  können, wenn diese Relationierung auch gewahrt ist, und eine Begründung scheint  nur dann eine angemessene zu sein, wenn sie für alle Betroffenen und insofern allgemein  gilt .“11  Diese  Idee  wird  politisch  in  der  Allgemeinen  Erklärung  der  Menschenrechte von 1948 und rechtlich in den UNO-Pakten I und II von 196612 umgesetzt, die allen Menschen das Selbstbewusstsein verleiht, frei und gleich geboren zu  sein . Lohmann hält fest, dass demzufolge jeder Verstoss gegen die Menschenrechte  Georg Lohmann,  Die  unterschiedlichen  Menschenrechte,  in:  Klaus P. Fritzsche/Georg Lohmann (Hrsg .), Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Würzburg 2000, S . 9–10 . 10  Lohmann (Fn . 9), S . 10 . 11  Lohmann (Fn . 9), S . 10 . 12  Vgl . SR 0 .103 .1; SR 0 .103 .2 . Hier differenziere ich im Unterschied zu Lohmann und verstehe  die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 v . a . in ihrer politischen Dimension,  während die UNO-Pakte I und II von 1966 den Menschenrechten rechtliche Verbindlichkeit  verleihen .

9 

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die  individuelle  Selbstbestimmung  auf  nicht  mehr  allgemein  begründbare  Weise  einschränkt . Protest gegen Verletzungen der Menschenrechte baut darauf auf, dass es  sich bei den Menschenrechten um allgemein begründbare Rechte handelt .13 Davon  hängt direkt auch die Universalität der Menschenrechte ab, denn der Anspruch, dass  alle Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind, kann nur aufrechterhalten bleiben, wenn die Menschenrechte insofern kohärent bleiben, als sie  sich der Begründungsfrage stellen . Des Weiteren unterstreicht die kulturelle Differenz als Herausforderung für die  Universalität  der  Menschenrechte  die  Notwendigkeit  einer  moralischen  Begründung der Menschenrechte . Ohne eine moralische Begründung der Menschenrechte  würden sie vom kulturellen Hebel aus ihren Fugen geworfen . Die Menschenrechte  können ohne moralische Begründung weder die kulturelle Differenz gewährleisten  noch in die Kulturen hineinwirken, da ohne eine moralische Begründung über die  Grenzen  der  Kulturen  hinweg  die  Kulturgrenzen  gleichsam  die  Grenzen  für  die  Geltung der Menschenrechte wären . Menschenrechte  werden  gerne  absolut,  als  ewige  unveränderliche  Rechte  verstanden, nach deren Begründung niemand fragt . Sie scheinen keine Alternative zu  kennen und gelten absolut . Sie scheinen immun gegen kulturelle Unterschiede zu  sein .  Sie  werden  gepredigt  und  mit  missionarischem  Eifer  indoktriniert .  Auch  C .  Menke  und  A .  Pollmann  stellen  fest,  dass  Menschenrechte  zu  einer  „schlechthin  grundlegenden  und  weltweit  gültigen  politischen  Idee  geworden“14  sind .  Der  Ruf  nach einer Begründung dieses Anspruchs scheint unterzugehen . Es scheint ausreichend zu sein, auf die Allgemeine Erklärung von 1948, auf die UNO-Pakte I und II  von 1966 und weitere Menschenrechtsverträge zu verweisen, um die Universalität  der Menschenrechte zu begründen . Die Menschenrechte scheinen gegenwärtig gar  nicht mehr einer Begründung zu bedürfen . Dies hat fatale Folgen, denn die Menschenrechte  können  so  nicht  universell  überzeugen,  bleiben  nur  für  einen  beschränkten Adressatinnen- und Adressatenkreis interessant und verspielen sich ein  hohes  Mass  an  Glaubwürdigkeit  durch  eine  substantielle  Inkonsistenz .  Diese  besteht  darin,  zum  einen  darauf  abzuzielen,  das  einzelne  Individuum  zu  schützen,  zum  anderen  gleichzeitig  dessen  Freiheit  unbegründet  durch  die  Menschenrechte  einzuschränken .  Dieses  Menschenrechtsverständnis  tappt  dabei  in  die  Falle,  dass  man allzu gerne seine eigenen Werte voraussetzt und sie als gegeben ansieht, ohne  einer Begründung zu bedürfen . Ebenso hinterfragt man nicht, was einem intuitiv  richtig erscheint, auch wenn es für diesen intuitiven Entscheid keine Begründung  geben mag . Menschenrechte sind aber im Gespräch zu begründen .15 Denn wie bereits oben erläutert handelt es sich bei den Menschenrechten in ihren drei Dimensionen (rechtliche, politische und moralische Dimension) um keine absolute Wahrheit im Sinne einer Offenbarung . Im Unterschied zu einer religiösen Offenbarung  gelten sie für alle Menschen, nicht nur für die Adressaten einer bestimmten Offen-

13  Vgl . Lohmann (Fn . 9), S . 11 . 14  Christoph Menke/Arnd Pollmann,  Philosophie  der  Menschenrechte  zur  Einführung,  Hamburg  2007, S . 9 . 15  Vgl . dazu Peter G. Kirchschläger, Brauchen die Menschenrechte eine (moralische) Begründung?,  in: Peter G. Kirchschläger/Thomas Kirchschläger et al. (Hrsg .), Menschenrechte und Kinder, Internationales Menschenrechtsforum Luzern (IHRF), Bd . IV, Bern 2007, S . 55–63 .

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Peter G . Kirchschläger

barung .  Menschenrechte  bilden  auch  keine  natürlichen  Eigenschaften  des  Menschen . J . Habermas hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es gerade im Rahmen des  interkulturellen  Menschenrechtsdiskurses  von  entscheidender  Bedeutung  ist,  dass  „das  Verständnis  der  Menschenrechte  vom  metaphysischen  Ballast  der  Annahme  eines  vor  aller  Vergesellschaftung  gegebenen  Individuums,  das  mit  angeborenen  Rechten gleichsam auf die Welt kommt, befreit“16 wird . Denn nur so erübrigt sich  die Alternative zwischen „Individualisten“ und „Kollektivisten“, indem „die gegenläufige Einheit von Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozess in die Grundbegriffe  des  Rechts“17  integriert  werden .  Menschenrechte  stellen  das  Ergebnis  einer  menschlichen Konstruktion dar . Menschen haben sich auf sie geeinigt . Für diesen  Konsens gibt es Gründe, die zu einer Begründung zusammengeführt werden müssen . Wie oben ausgeführt sind Menschenrechte gegenüber allen Betroffenen zu begründen  und  müssen  für  alle  rechtfertigbar  sein .  J .  Habermas  weist  darauf  hin:  „Auch der Menschenrechtsdiskurs ist darauf angelegt, alle Stimmen Gehör zu verschaffen . Deshalb schiesst er selbst die Standards vor, in deren Licht noch die die  latenten Verstösse gegen den eigenen Anspruch entdeckt und korrigiert werden können . (…) Menschenrechte, die die Einbeziehung des Anderen fordern, funktionieren zugleich als Sensoren für die in ihrem Namen praktizierten Ausgrenzungen .“18 Die  Entstehung  der  Menschenrechte  weist  einen  historischen  Charakter  auf .  A . Sen unterstreicht das und weist gleichzeitig auf die Bedeutung des wechselseitigen  Austausches  zwischen  Theorie  und  Praxis  der  Menschenrechte  hin:  „Despite  their  practical  preoccupations,  human  rights  activists  have  reason  enough  to  pay  attention to the skepticism that the idea of human rights generates among many  legal and political theorists . These doubts have to be – and can be addressed . But it  is  also  important  to  note  that  the  conceptual  understanding  of  human  rights,  in  turn, can benefit substantially from considering the reasoning that moves the activists and the range and effectiveness of practical actions they undertake, including  recognition, monitoring and agitation, in addition to legislation . Not only is conceptual clarity important for practice, the richness of practice (…) is also critically  relevant for understanding the concept and reach of human rights . There is, I must  conclude, no great deficit in the balance of trade between theory and practice .“19  Dies trifft besonders zu, wenn der Fokus auf der Universalität der Menschenrechte  liegt . Menschenrechtspraxis läuft im Falle eines unreflektierten Verständnisses des  menschenrechtlichen Universalitätsanspruchs Gefahr, in ihrem Einsatz für die Menschenrechte den selbstbestimmten Menschen aus den Augen zu verlieren, der ein  Recht darauf hat, sich mit Begründungsfragen auseinanderzusetzen … Menschenrechtstheorie muss sich auf Fragen konzentrieren, die zur Menschenrechtspraxis einen Beitrag leisten . So stellt sich im Bezug auf die Universalität der Menschenrechte  16  Jürgen Habermas,  Zur  Legitimation  durch  Menschenrechte,  Abs . I,  in:  Hauke Brunkhorst/Peter Niesen (Hrsg .), Das Recht der Republik, Frankfurt a . M . 1999, S . 399 . 17  Habermas (Fn . 16), S . 400 (Hervorhebung im Text) . 18  Habermas (Fn . 16), S . 393–394 . Vgl . dazu L . Wingert, der dies als „detektivischen Zug“ der Menschenrechte bezeichnet (vgl . Lutz Wingert, Türöffner zu geschlossenen Gesellschaften, Frankfurter Rundschau vom 06 .08 .1995) . 19  Amartya Sen, Elements of a Theory of Human Rights, Philosophy & Public Affairs 2004 (32/4),  S . 356 .

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aus der Perspektive der Menschenrechtspraxis die Frage: Was genau muss man begründen, wenn man die „Universalität der Menschenrechte“ begründet? Eigentlich  muss man nicht begründen, warum der Mensch Trägerin und Träger von Menschenrechten  ist,  sondern  die  Aussage:  „Alle  Menschen  haben  die  gleichen  Menschenrechte“ . Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, vertieft auf Begründungsmodelle der Menschenrechte einzugehen, sondern ich muss es hier bei einem sehr kurz  gehaltenen Überblick belassen: Auf der juristischen Ebene liegt der Begründung der  Menschenrechte die demokratische Legitimität und auf der politischen Ebene die  Rechtsstaatlichkeit des politischen Prozesses (Mensch als Bürgerin und Bürger eines  Staates) zugrunde . Auf der moralischen Ebene können nach R . Alexy acht Begründungen moralischer  Normen identifiziert  werden: die 1 . religiöse, 2 . biologische, 3 . intuitive, 4 .  konsensuelle, 5 . instrumentelle, 6 . kulturelle, 7 . explikative Begründung, 8 . existentielle  Begründungsversuche .20  Grundsätzlich  gilt  die  Suche  auf  der  moralischen  Ebene einer moralischen Begründung, die den Anforderungen einer rationalen Moral genügt . „Eine rationale oder kritische Moral ist eine, die für ihre Grundsätze den  Anspruch rationaler Begründbarkeit erhebt . Moralische Grundsätze sind rational begründet, wenn sie allgemein zustimmungsfähig sind, d . h . annehmbar für alle betroffenen  Personen  unter  der  Voraussetzung  ihrer  vollkommenen  Gleichberechtigung  und Selbstbestimmungsfähigkeit .“21 „Gute Gründe“, die eine Begründung der Menschenrechte bilden, müssen diesem Kriterium genügen . 4  kulturelle dIfferenz  als herausforderunG  für  dIe menschenrechte Die Universalität der Menschenrechte wird besonders durch die kulturelle Differenz  herausgefordert .22 Dies mag auf einen ersten Blick erstaunen, da gerade die Menschenrechte durch den Schutz von Freiheiten des Individuums kulturelle Diversität  fördert . S . Zurbuchen hält fest: “While I do not deny that human rights establish  moral boundaries, it needs also to be seen that these rights enable members of religious communities and of other variants of cultural groups to maintain their distinct identity .”23 Die Wiener Konferenz 1993 bekräftigte erneut die Universalität der  Menschenrechte . Von  vielen  Seiten  wird  die  Universalität  der  Menschenrechte  wegen  der  vermeintlichen westlichen Herkunft und Prägung der Menschenrechte in Frage gestellt, 

20  Vgl . Robert Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004  (52), S . 17–21 . 21  Peter Koller, Die Begründung von Rechten, in: Peter Koller/Csaba Varga/Ota Weinberger, Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik: Ungarisch-Österreichisches Symposium der internationalen  Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP 1990 (54), S . 75 . 22  Georg Lohmann unterscheidet drei Arten, auf die die Universalität der Menschenrechte in Frage  gestellt wird (vgl . Lohmann [Fn . 4], Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 47–60) . 23  Simone Zurbuchen, Universal Human Rights and the Claim to Recognition of Cultural Difference,  in:  Beat Sitter-Liver/Thomas Hiltbrunner  (Hrsg .),  Universality:  From  Theory  to  Practice:  An intercultural and interdisciplinary debate about facts, possibilities, lies and myths, Fribourg  2009, S . 285 .

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beispielsweise in der sogenannten „Asian values debate“24 . Was hier kritisiert wird,  klingt bereits bei E . Burke in seiner Polemik gegen die Französische Erklärung der  Rechte der Menschen von 1789 an: Burke geht davon aus, dass jeder Mensch innerhalb der politischen Ordnung, deren Teil er ist, gerecht behandelt werden muss . Das  Verständnis von gerechter Behandlung hängt aber von den kulturellen und sozialen  Bedingungen ab, die lokal vorherrschen . Daher gibt es eine Vielfalt von Vorstellungen von gerechter Behandlung, sodass eine Einheitlichkeit, wie sie in der Idee der  Menschenrechte enthalten ist, eine Illusion darstellt . Zudem bedroht ein derartiger  Katalog die lokalen politischen Ordnungen und ihr Verständnis von gerechter Behandlung .25 C .  Taylor  setzt  in  seiner  Bewältigung  dieser  relativistischen  Herausforderung  beim „overlapping consensus“ von J . Rawls an,26 dessen Idee auf J . Maritain zurückgeht .27 Taylor hält einen derartigen Konsens, der auf ganz unterschiedlichen spirituellen  und  philosophischen  Ansichten  beruht,  über  Menschenrechte  für  möglich,  schränkt dabei aber ein, dass unklar und offen bleibt, worin ein derartiger Konsens  bestehen wird . Es liegt uns nahe anzunehmen, dass die Menschenrechte Inhalt dieses  Konsenses  wären .  Dabei  übersehen  wir  aber,  dass  die  Kategorie  der  „Rechte“  westlichen Ursprungs  ist .  „These  norms  have to  be  distinguished  and  analytically  separated not just from the background justifications, but also from the legal forms  that give them force .“28 Während die Normen gleich bleiben sollen, können sowohl  die Begründungen als auch ihre rechtliche Form variieren . Taylor arbeitet u . a . zwei wichtige Aspekte heraus, die Konvergenzen ermöglichen:  Zum  einen  müssen  wir  uns  nur  auf  unmittelbare  praktische  Konklusionen  einigen,  wenn  sehr  unterschiedliche  Geister  und  Prämissen  aufeinander  treffen .  Zum anderen gilt es, uns näher zu kommen, um uns in unserer Differenz gegenseitig besser zu verstehen .29 Der Zugang der kulturellen Mediation geht in eine ähnliche Richtung .30 Taylor setzt erstens unbegründet die Grundintentionen der Menschenrechte als  unstreitig voraus und geht zweitens davon aus, dass alle Kulturen und Traditionen  schliesslich  zu  den  Menschenrechten  hinführen .  Beides  scheint  problematisch  zu  24  Vgl . dazu Dieter Senghaas, Über asiatische und andere Werte, Leviathan 1995 (1), S . 5–12; Klaus F. Geiger/Manfred Kieserling (Hrsg .), Asiatische Werte: Eine Debatte und ihr Kontext, Münster  2001; Fareed Zakaria, Culture is Destiny: A Conversation with Lee Kuan Yew, Foreign Affairs  1994 (73/2), S . 109–126 . 25  Vgl . Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, Indianapolis 1987 . 26  John Rawls, Political Liberalism, New York 1993 . 27  Vgl .  Charles Taylor,  Conditions  of  an  Unforced  Consensus  on  Human  Rights,  in:  Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell  (Hrsg .),  The  East  Asian  Challenge  for  Human  Rights,  Cambridge  1999,  S . 124–144 . 28  Taylor (Fn . 27), S . 143 . 29  Dabei betont Taylor vor allem die Bringschuld des Westens; vgl . dazu auch Charles Taylor, Modernity and the Rise of the Public Sphere, in: Grethe B. Peterson (Hrsg .), The Tanner Lectures on  Human Values, Salt Lake City 1993 . 30  Vgl . Abdullahi Ahmed An-Na’im, The Cultural Mediation of Human Rights, in: Joanne R. Bauer/ Daniel A. Bell (Hrsg .), The East Asian Challenge for Human Rights, Cambridge 1999, S . 147– 168; Joseph Chan, The Asian Challenge to Human Rights: A Philosophical Appraisal, in: James Tuck Hong Tang (Hrsg .), Human Rights and International Relations in the Asia-Pacific Region,  New York 1995, S . 25–38; Daniel A. Bell, The East Asian Challenge to Human Rights: Reflections on an East-West Dialogue, Human Rights Quarterly 1996 (18), S . 643–645 .

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sein, weil nicht einfach angenommen werden kann, dass alle Kulturen und Traditionen den Menschenrechten zustimmen und dass alle Kulturen und Traditionen auf  die Menschenrechte verweisen . Gleichzeitig halte ich Taylors Ansatz für relevant, dass eine Wahrnehmung der  Differenz zu einem besseren Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen und Traditionen führt . Dies ist gerade auf der Ebene der Anwendung und Förderung der  Menschenrechte  von  besonderer  Bedeutung .  Dabei  erweist  sich  aber  als  entscheidend,  dass  dieser  Dialog  zwischen  den  Kulturen  und  Traditionen  bereits  Regeln  voraussetzt, nach denen er abläuft, sonst läuft er Gefahr, dass er gar nicht bzw . diskriminierend stattfindet . Diesen Referenzrahmen für den Dialog können die Menschenrechte darstellen . Aus der „inter-civilizational perspective“ versucht Y . Onuma, mit dem Begriff  „intercivilizational“ den zu engen Begriff „Kultur“ zu überwinden . Onuma ist sich  des problematischen Charakters des Zivilisationsbegriffs bewusst .31 Dennoch zieht  er diesen dem Kulturbegriff aus folgenden drei Gründen vor: Erstens wird „Kultur“  im Menschenrechtsdiskurs nicht in einem komprehensiven sondern in einem sehr  engen Sinn verwendet, der die ökonomische, die soziale, die zivile und politische  Dimension ausschliesst . Zweitens besitzt auch „Kultur“ unendlich viele Definitionen  und läuft Gefahr, ideologisch  besetzt zu  werden und national verstanden  zu  werden .  Drittens  wird  mit  dem  Kulturbegriff  der  zeitliche  Faktor  vernachlässigt .  Dem historischen Charakter wird „Zivilisation“ gerechter .32 Wie A .A . An-Na’im betont Onuma, dass Kulturen bzw . Zivilisationen keine ewigen Gebilde sind, sondern  sich über die Zeit hin verändern . Interessanterweise streicht er aber gleichzeitig hervor, dass man auch für das Menschenrechtsverständnis zugestehen muss, dass es sich  ändern kann . Wenn es darum geht, mit Menschenrechtsverständnis den sich weiterentwickelnden Umfang der Menschenrechte (z . B . das Recht auf Wasser, das Recht  auf Menschenrechtsbildung oder die Diskussion über ein mögliches Recht auf eine  saubere Umwelt) und die Ebene der Umsetzung der Menschenrechte zu bezeichnen, erweisen sich die Überlegungen von Onuma als überzeugend . Meint er damit  auch  die  menschenrechtliche  Begründungsfrage  auf  der  moralische  Ebene,  würde  ich an dieser Stelle ein Fragezeichen setzen, denn der Umstand, dass keine „guten  Gründe“ (d . h . z . B . Gründe, von denen es denkbar ist, dass sie bei allen von dieser  Entscheidung  betroffenen  Menschen  in  einer  autonomen  Entscheidung  Zustimmung finden würden) aufgeführt werden können, die für den Ausschluss von Menschen als Trägerinnen und Träger der Menschenrechte sprechen, schränkt die Relevanz der historischen Kontingenz entscheidend ein .  Mit O . Höffe würde ich bezogen auf das Verhältnis zwischen Kulturen und den  Menschenrechten insgesamt eher von einer anderen Reihenfolge ausgehen, nämlich  dass die Menschenrechte die Koexistenz und den Dialog zwischen Kulturen erst ermöglichen,  und  nicht  aus  dem  Dialog  der  Kulturen  entstehen  können .  Läuft  der  Ansatz beispielsweise von Taylor nicht Gefahr, Kulturen und Religionen per se zu  31  Vgl .  dazu  Lucien Febre et al.,  Civilisation:  le  mot  et  l’idée,  Paris  1930; Alfred L.  Kroeber/Clyde  Kluckhohn, Culture: A critical review of concepts and definitions, Cambridge 1952; Roger M. Keesing, Theories of culture, Annual Review of Anthropology 1974 (3), S . 73–97 . 32  Vgl . Yasuaki Onuma, Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights: For Universalization of Human Rights through Overcoming of a Westcentric Notion of Human Rights, Asian  Yearbook of International Law 2001 (7), S . 29–30 .

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unantastbaren Entitäten zu machen? In der Bedeutung des kategorischen Rechtsimperativs im Plural als kategorische Rechtsprinzipien hat Höffe ein entscheidendes  Argument gegen die grundsätzliche Kritik des Pluralismus und gegen die kulturrelativistische Kritik des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte herausgearbeitet:  Indem die Menschenrechte als kategorische Rechtsprinzipien Vor- und Rahmenbedingungen bilden, damit aus Verschiedenheit auch Wirklichkeit, damit auch gegen  Widerstand legitime Vielfalt wird, sind es die Menschenrechte, die Vielfalt erst ermöglichen . Die unbegründete Annahme von Vielfalt ohne Menschenrechte ist insofern nicht zulässig, da unklar bleibt, wie eine Vielfalt gesichert werden kann, denn  die Vielfalt konstituierenden Elemente enthalten nicht an sich die Forderung nach  dem Schutz der Vielfalt . Vielmehr ist bei ihnen ein Partikularinteresse anzunehmen .  Erst der Schutz der Vielfalt durch die Menschenrechte, deren einzige Einschränkung  die Einhaltung der Menschenrechte darstellt, gewährleistet Vielfalt . Menschenrechte  bedrohen  mit  ihrem  Universalitätsanspruch  nicht  kulturelle  Traditionen,  sondern  schützen  sie,  indem  sie  davor  bewahren,  von  anderen  kulturellen  Traditionen  in  Frage gestellt zu werden . Dies ist gleichbedeutend mit der universell gültigen Einschränkung von Kulturen, dass sie innerhalb des Rahmens der Menschenrechte frei  sind,  d . h .  innerhalb  der  Voraussetzungen,  die  auch  ihre  eigene  Existenz  schützt,  d . h . in letzter Konsequenz, dass sie so weit frei sind, wie sie die Existenz von anderen Kulturen nicht in Frage stellen oder zerstören . Diese fundamentale Funktion der  Menschenrechte für den Pluralismus würde ich beim Rahmen, den die Menschenrechte dem Pluralismus nach Höffe geben, noch besonders hervorheben bzw . ergänzen . Menschenrechte erfüllen in diesem Sinne eine friedens- und zukunftssichernde  Funktion . Das stete Ringen um die Verständigung zwischen Kulturen, Traditionen,  Religionen und Weltvorstellungen findet in den Menschenrechten einen begründeten Referenzrahmen, der einen respektvollen Umgang mit kultureller Differenz fördert, was sich als ein wichtiges Kriterium für die humane Qualität und für die Lebensmöglichkeiten der nächsten Generationen erweist . O . Höffe geht zu Recht davon aus, dass der Anspruch der Menschenrechte auf  interkulturelle  und  überepochale  Gültigkeit  nur  dann  gerechtfertigt  ist,  wenn  die  Legitimationsgrundlage von den Entstehungsbedingungen (d . h . z . B . von einer bestimmten Wirtschaftsform, einer bestimmten Staatsform33, …) des Rechtsinstituts  losgelöst  ist .34  Menschenrechte  sind  Rechte,  die  sich  die  Menschen  gewähren  als  auch gegeneinander erheben . Dem Staat wird die Aufgabe zugesprochen, diese zu  gewährleisten . Menschenrechte sind dem Menschen nach Höffe nicht in einem naturrechtlichen Sinn angeboren, sondern weil sie „den Menschen als Menschen möglich machen .“35 33  Vgl . dazu Georg Jellineks Differenzierung der Ansprüche eines Rechtssubjektes an die Rechts-  und Staatsordnung in „status negativus“ (persönliche Freiheitsrechte), „status activus“ (demokratischen Mitwirkungsrechte) und „status positivus“ (Leistungsansprüche des Bürgers an sein  Gemeinwesen) (vgl . Georg Jellinek, System der subjektiven Rechte, Freiburg i . B . 1892) . 34  Vgl .  Otfried Höffe,  Transzendentaler  Tausch:  Eine  Legitimationsfigur  für  Menschenrechte?,  in:  Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hrsg .), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a . M . 1999,  S . 29 .  35  Höffe (Fn . 34), S . 34 . „Eine normative Anthropologie befasst sich mit dem wahrhaft humanen  Menschen .  Wer  nun  von  einem  entsprechenden  Begriff  aus  Menschenrechte  ausweisen  will,  läuft Gefahr, dass erst der humane Mensch zählt und dem nicht so humanen Menschen grundlegende  Rechte  abgesprochen  werden .  Der  Gefahr,  Ungleichheiten  zum  Recht  zu  verhelfen, 

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Schliesslich stellt sich die Frage, von welchem Kulturbild wir ausgehen, wenn  wir einfach annehmen, dass jede Kultur die Existenz einer anderen Kultur akzeptiert  und voraussetzt, dass jede Kultur mit einer anderen Kultur koexistieren will .36 Was  geschieht, wenn eine Kultur die Existenzberechtigung einer anderen Kultur negiert?  Meine erste Reaktion wäre vielleicht, dass sie sich damit auch ihrer eigenen Existenzberechtigung berauben würde, was aber bereits voraussetzt, dass wir das in den Menschenrechten  verankerte  Prinzip  der  Reziprozität  anerkennen .  Dies  ist  aber  nicht  zwingend gegeben, womit eine Lösung im Dialog gefunden werden müsste . Auch  ein Dialog erwiese sich aber als illusorisch, denn wie soll eine Kultur, die die Existenzberechtigung einer anderen Kultur bestreitet, diese andere Kultur am Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess beteiligen lassen und als Dialogpartner auf gleicher Augenhöhe, mit gleichem Anrecht auf Mitsprache und mit gleicher  Entscheidungsgewalt akzeptieren, ohne dass sie sich an gemeinsame Regeln wie die  Menschenrechte halten muss?37  Menschenrechte machen also nicht halt vor Kulturen, sondern wirken sogar in  sie hinein bzw . stellen auch in ihnen den Anspruch, grundlegend für die Möglichkeit einer kulturellen Differenz zu sein . Menschenrechte unterstützen Wandel und  Veränderungsprozesse im Dienste des Schutzes der Menschenwürde und der Freiheit  des  einzelnen  Menschen  in  Kulturen,  Religionen,  Traditionen  und  Weltanschauungen oder lösen diese aus . Sie dienen Menschen, die sich von Unterdrückung  und von Verletzungen ihres Menschseins befreien, als Begrifflichkeit und als Referenzrahmen . Menschen lösen mit ihrer Hilfe die Fesseln der Ohnmacht . Menschenrechte haben demzufolge auch Macht – Macht zu Würde und Freiheit . Diese Macht  muss legitimiert sein, ganz im Sinne der Ursprünge der menschenrechtlichen Idee,  den  einzelnen  Menschen  vor  Willkür  und  illegitimen  Machtgebrauch  u . a .  durch  den Staat zu schützen . So stellt die kulturelle Differenz nicht nur eine Herausforderung  für  die  Menschenrechte  dar,  sondern  an  der  kulturellen  Differenz  wird  die  Notwendigkeit der Universalität der Menschenrechte38 und einer Begründung der  Universalität der Menschenrechte deutlich . entgeht, wer die Frage, wo der Mensch zu sich selbst kommt, offenlässt . Aus diesem, aber auch  nur diesem Grund pflegt die Idee der Menschenrechte hinsichtlich des Humanum eine bewusste  Unbestimmtheit; sie verzichtet auf jeden normativen Begriff . Indem die Idee der Menschenrechte  zum  Humanum  gar  nicht  Stellung  nimmt,  enthält  sie  eine  Partialanthropologie  und  kann nur deshalb den verschiedenen Kulturen und Epochen zugemutet werden . Scheinbar ein  Mangel, ist die Unbestimmtheit tatsächlich ein Vorzug, weder eine Gleichgültigkeit gegen das  Humanum noch eine Reduktion, sondern ein Ausblenden der hier störenden Faktoren, eine  Konzentration auf das Wesentliche“ (Höffe [Fn . 34], S . 32–33) . 36  Vgl . zum Verständnis von Kulturen und seiner Kontextabhängigkeit Thomas Göller, Kulturverstehen: Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis, Würzburg 1999 . 37  Vgl . Thomas Hoppe, Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit, Gleichheit und Solidarität:  Grundlagen eines internationalen Ethos zwischen universalem Geltungsanspruch und Partikularitätsverdacht, Stuttgart 2002 . 38  Georg  Lohmann  stellt  drei  Möglichkeiten  der  Begründung  der  Universalität  der  Menschenrechte fest: „1 . die eine, umfassende und absolute moralische Begründung (…) 2 . pragmatische  Begründung im Zuge der Globalisierung; (…) 3 . mehrere moralische Begründungen der Universalität  der  Menschenrechte  angesichts  des  kulturellen  Pluralismus“  (Lohmann [Fn . 4],  Zur  Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 55) . Ich würde  ergänzen,  dass  bei  der  dritten  Möglichkeit  noch  zu  differenzieren  wäre,  ob  die  Begründung 

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der Universalität der Menschenrechte jeweils aus verschiedenen kulturellen und/oder religiösen  Traditionen hervorgeht oder auf Letztere zugeht, sodass von vier Möglichkeiten die Rede wäre .

InformatIonen  zu  den autoren Dr . Tilmann Altwicker Assistent Universität Zürich Lehrstuhl Prof . Dr . Oliver Diggelmann eMail: tilman .altwicker@uzh .ch Dr . Stephan Ast Wissenschaftlicher Mitarbeiter Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lehrstuhl Prof . Dr . Joachim Renzikowski eMail: stephan .ast@jura .uni-halle .de Thomas Grosse-Wilde Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Bonn Lehrstuhl Prof . Dr . Dr . h . c . Urs Kindhäuser eMail: thomasgw@uni-bonn .de PD Dr . Michael Grünberger Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität zu Köln Institut für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht eMail: michael .gruenberger@uni-koeln .de Dr . Julia Hänni Oberassistentin Universitäten Bern, Neuenburg und Freiburg Institut für Europarecht eMail: julia .haenni@unifr .ch Frederik von Harbou Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Zürich Rechtswissenschaftliches Institut eMail: fharbou@yahoo .de Dr . Magdalena Hoffmann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Bern Institut für Philosophie eMail: magdalena .hoffmann@philo .unibe .ch

314 Matthias Jenal Wissenschaftlicher Assistent  Universität Freiburg/Schweiz Departement für Strafrecht, Prof . Dr . M .A . Niggli eMail: matthias .jenal@unifr .ch Dr . Rainer Keil  Fakultätsreferent Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Juristische Fakultät eMail: keilr@jurs .uni-heidelberg .de Dr . Peter G . Kirchschläger PHZ Luzern Co-Leiter Zentrum für Menschenrechtsbildung (ZMRB) eMail: peter .kirchschlaeger@phz .ch Luca Langensand Wissenschaftlicher Assistent Universität Luzern Rechtswissenschaftliche Fakultät eMail: luca .langensand@unilu .ch Dr . des . Franziska Martinsen Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Hannover Institut für politische Wissenschaft eMail: f .martinsen@ipw .uni-hannover .de Prof . Dr . Klaus Mathis Universität Luzern Rechtswissenschaftliche Fakultät eMail: klaus .mathis@unilu .ch Tarek Naguib Wissenschaftlicher Assistent Fachstelle Égalité Handicap Bern eMail: tarek .naguib@gmail .com Norbert Paulo Promotionsstudent Philosophie Universität Hamburg eMail: norbert .paulo@jura .uni-hamburg .de

Informationen zu den Autoren

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Dr . Pawel Polaczuk Wissenschaftlicher Assistent Ermländisch-Masurische Universität Olsztyn Lehrstuhl für Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Staatslehre eMail: pawel .polaczuk@uwm .edu .pl Tobias Schaffner Tutor in History and Philosophy of International Law and in Jurisprudence University of Cambridge, Faculty of Law, Pembroke College eMail: ts370@cam .ac .uk Tim Wihl Wissenschaftlicher Mitarbeiter Humboldt-Universität Berlin Lehrstuhl Prof . Dr . Christoph Möllers eMail: tim .wihl@rewi .hu-berlin .de Dr . Benno Zabel Akademischer Rat a . Z . Universität Leipzig Lehrstuhl Prof . Dr . M . Kahlo eMail: zabel@rz .uni-leipzig .de Dr . Till Zimmermann Akademischer Rat a .Z . Universität Passau Lehrstuhl Prof . Dr . Armin Engländer eMail: till .zimmermann@uni-passau .de Dr . des . Sabrina Zucca-Soest Wissenschaftliche Mitarbeiterin Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Lehrstuhl Prof . Dr . Roland Lhotta eMail: zucca@hsu-hh .de Tobias Zürcher Wissenschaftlicher Assistent Universität Bern Institut für Strafrecht und Kriminologie eMail: tobias .zuercher@krim .unibe .ch

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a rc h i v f ü r r e c h t s - u n d s o z i a l p h i l o s o p h i e



beihefte

Herausgeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Die Bände 1–4 sind im Luchterhand-Fachverlag erschienen.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–079x

72. Morigawa Yasutomo (Hg.) Law in a Changing World: Asian Alternatives Proceedings of the 4th Kobe Lectures being the first Asia Symposium in Jurisprudence, Tokyo and Kyoto, 10th and 12th October 1996 1998. 164 S., kt. ISBN 978-3-515-07262-5 73. Peter Strasser / Edgar Starz (Hg.) Personsein aus bioethischer Sicht Tagung der Österreichischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 29.–30. November 1996 in Graz 1997. 185 S., kt. ISBN 978-3-515-07108-6 74. Ulfrid Neumann / Lorenz Schulz (Hg.) Verantwortung in Recht und Moral Referate der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 2.–3. Oktober 1998 in Franfurt am Main 2000. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-07635-7 75. Lorenz Schulz (Hg.) Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung Referate der 6. Tagung des Jungen Forum Rechtsphilosophie am 1. Oktober 1998 in Frankfurt am Main 2000. 201 S., kt. ISBN 978-3-515-07683-8 76. Kurt Seelmann (Hg.) Kommunitarismus versus Liberalismus / Communautarisme contre Libéralisme / Communitarismo verso Liberalismo Vorträge der Tagung der Schweizer Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 23.–24. Oktober 1998 in Basel 2000. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-07657-9 77. Kurt Seelmann (Hg.) Nietzsche und das Recht / Nietzsche et le Droit / Nietzsche e il Diritto



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Vorträge der Tagung der Schweizer Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 9.–12. April 1999 in Basel 2001. 270 S., kt. ISBN 978-3-515-07745-3 Alexander Bröstl / Marijan Pavcnik (Hg.) Human Rights, Minority Rights, Women’s Rights Proceedings of the 19th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in New York, 24th–30th June 1999 2001. 145 S., kt. ISBN 978-3-515-07861-0 Michael Anderheiden / Stefan Huster / Stephan Kirste (Hg.) Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit und Steuerungsfähigkeit des Rechts Vorträge der 8. Tagung des Jungen Forum Rechtsphilosophie vom 20.–21. September 2000 in Heidelberg 2001. 170 S., kt. ISBN 978-3-515-07870-2 Elspeth Attwooll / Annette Brockmöller (Hg.) Applied Ethics at the Turn of the Millenium Proceedings of the 19th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in New York, 24th–30th June 1999 2001. 122 S., kt. ISBN 978-3-515-07903-7 Kurt Seelmann (Hg.) Wirtschaftsethik und Recht Vorträge der Tagung der Schweizer Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie im Oktober 2000 in Fribourg/Schweiz 2001. 123 S., kt. ISBN 978-3-515-07899-3 Michel Troper / Annalisa Verza (Hg.) Legal Philosophy: General Aspects Concepts, Rights and Doctrines. Procee-

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Der Tagungsband vereint die Beiträge zu den Treffen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in Halle (Saale) und Luzern. Die hallische Tagung befasste sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auf Fragen der Gleichheit, mit der Gleichheit der Rechtsanwendung, dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und der Begründung von Diskriminierungsverboten. Im Mittelpunkt der Luzerner Tagung standen die Prinzipien der Unparteilichkeit und der Universalität in Recht und Ethik.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10067-0