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German Pages 315 [322] Year 2012
Stephan Ast / Julia Hänni / Klaus Mathis / Benno Zabel (Hg.) Gleichheit und Universalität
archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 128
Stephan Ast / Julia Hänni / Klaus Mathis / Benno Zabel (Hg.)
Gleichheit und Universalität Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-10067-0 Nomos Verlag: ISBN 978-3-8329-7310-0
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I GleIchheIt und dIfferenz (halle 2010) Franziska Martinsen Auch nachts sind nicht alle Katzen grau . Zum Verhältnis von Gleichheit und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Stephan Ast Gleichheit, Differenz und Generalisierung – Was es heißt, sich nach einer generellen Norm zu richten . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Thomas Grosse-Wilde Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Norbert Paulo Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . 59 Tim Wihl Egalitärer Minimalkonstitutionalismus . Gleichheit als notwendige und hinreichende Bedingung des demokratischen Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Michael Grünberger Das Prinzip der personalen Gleichheit . Eine Skizze des Rechtfertigungsmodells von Gleichbehandlungspflichten privater Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Tilmann Altwicker Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . 107 Pawel Polaczuk Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls . Grundriss der Kritik . . . . . . . . . . . . 121 II unparteIlIchkeIt und unIversalIsIerunG (luzern 2011) Klaus Mathis Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
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Inhalt
Julia Hänni Universalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Frederik von Harbou Anspruch und Anthropologie: Unparteilichkeit und Universalismus als rechtsethische Herausforderungen . . . 151 Sabrina Zucca-Soest Zur Universalität von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Tarek Naguib Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘: Antidiskriminierungsrecht ohne Kategorien denken!? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Till Zimmermann Die Rollentauschprobe im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Luca Langensand Richterauswahl – Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit . . . . . . . . 213 Tobias Schaffner Universelle Gleichheit in Hugo Grotius’ Lehre vom natürlichen Privatrecht . . . 227 Magdalena Hoffmann Völker im Urzustand: Zu Rawls’ Begründung seines ‚Rechts der Völker‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Rainer Keil Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit: Taugliche Kriterien für das Maß an Offenheit territorialer Außengrenzen für Flüchtlinge und Immigration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Tobias Zürcher Moralischer Relativismus, philosophischer Pragmatismus und universelle Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Matthias Jenal Sind Menschenrechte universalisierbar? Eine Interpretation im Licht der Sprachphilosophie Wittgensteins . . . . . . . . . . 291 Peter G. Kirchschläger Das ethische Charakteristikum der Universalisierung im Zusammenhang des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte . . . . . . . . 301 Informationen zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
vorwort Der vorliegende Tagungsband vereint die Referate von zwei Jahrestagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) . Die erste Tagung fand am 21 . und 22 . September 2010 in Halle (Saale) zum Thema „Gleichheit und Differenz“ statt, die zweite wurde am 17 . und 18 . Februar 2011 unter dem Titel „Unparteilichkeit und Universalisierung“ in Luzern veranstaltet . Unser herzlicher Dank gilt zunächst den Referentinnen und Referenten sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beider Tagungen, die für anregende Referate und lebendige Diskussionen sorgten . Für ihre freundliche Unterstützung ist sodann der IVR, Sektion Deutschland sowie den beiden Sprechern des JFR, Carsten Bäcker und Sascha Ziemann, herzlich zu danken . Ein Dank gebührt auch den zahlreichen Helfern, deren Engagement eine unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen der Tagungen war . Für die hallische Tagung ist die ehrenamtliche Mitarbeit zahlreicher Studenten besonders hervorzuheben . Für die Luzerner Tagung sind vor allem folgende Personen dankend zu erwähnen: Balz Hammer, MLaw, Claudio Staub, BLaw, Lynn Watkins und Miriam Dobbins, MLaw, für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung, Flavia Brülisauer, BLaw, für die tatkräftige Unterstützung bei der Fertigstellung des Tagungsbandes . Unser Dank gilt gleichermaßen der Forschungskommission der Universität Luzern, dem Schweizerischen Nationalfonds, der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt Luzern und der Josef Müller Stiftung Muri für die großzügige finanzielle Unterstützung sowie der Universität Luzern für die Bereitstellung der Räumlichkeiten . Schließlich möchten wir auch dem „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“ dafür danken, dass mit diesem Band die gute Tradition fortgeführt werden kann, die auf den JFR-Tagungen gehaltenen Vorträge als ARSP-Beiheft zu veröffentlichen . Halle und Luzern, im September 2011 Stephan Ast, Julia Hänni, Klaus Mathis, Benno Zabel
eInleItunG Die erste der beiden Tagungen befasste sich vor allem mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die Gleichheit – der Rolle der Gleichheit als Gerechtigkeitsprinzip, der Gleichheit der Rechtsanwendung als methodologischem Problem, dem Stellenwert des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes sowie mit der Begründung von Diskriminierungsverboten . Im Mittelpunkt der Luzerner Tagung standen die Prinzipien der Unparteilichkeit und der Universalität in Recht und Ethik . Zu den Beiträgen im Einzelnen: 1 . Das Verhältnis von Gleichheit und Differenz sowie die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Gleichheit im Diskurs über die Gerechtigkeit deckt Franziska Martinsen auf . Der Begriff der Gleichheit habe im Kern einen komparativen Sinn, etwa bei der gleichen Verteilung . Wenn er als Allgemeinheit im Sinn der Inklusion aller verstanden werde, sei er streng genommen redundant . Auch die Gleichsetzung von Gleichheit mit Unparteilichkeit (als Absehen von einer Person) sei ungenau . Häufig gehe es bei dieser Rede um den Aspekt der Willkürfreiheit, die durch die Rechtfertigbarkeit ausgezeichnet sei . Dieser komme die Priorität in der Gerechtigkeitskonzeption zu, weil Gleichheit und Unparteilichkeit als Versionen dieses Prinzips verstanden werden können . Nachdem sie somit die Priorität und fundamentale Stellung der Gleichheit in Zweifel gezogen hat, hinterfragt Martinsen die Präsumtion der Gleichheit, die auf die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zielt . Die Berufung auf Aristoteles gehe fehl, weil dessen Formel von der Gleichbehandlung des Gleichen und Ungleichbehandlung des Ungleichen symmetrisch angelegt ist und auf die Angemessenheit statt auf die Gleichheit ziele . Die Gerechtigkeitstheorie müsse immer auch der Besonderheit von Menschen und Sachverhalten Rechnung tragen können, ohne freilich die Idee der Glichheit zu verabschieden . Im anschließenden thematischen Abschnitt geht es um die Gleichheit der Rechtsanwendung unter methodologischem Gesichtspunkt – mit Bezug zuerst auf die Konkretisierung von Voraussetzungen eines Gesetzes und anschließend von unbestimmten Rechtsfolgenanordnungen . Stephan Ast unterscheidet zunächst Auslegung und Subsumtion als Stufen der Gesetzesanwendung durch das Kriterium, dass alle verallgemeinerungsfähigen Annahmen einer Fallentscheidung Auslegung seien und die Subsumtion nur die Tatsachenfrage betreffe . Nach der Unterscheidung von Arten der Auslegung liegt das Hauptaugenmerk darauf, dass Besonderheiten (Differenzen) eines Falls, die in den gegebenen Normen noch nicht berücksichtigt sind, in der Beurteilung für relevant erachtet werden können . Diese Möglichkeit stellt das Subsumtionsmodell in Frage . Sie wurde als eine besondere Eigenschaft von Normen, als deren „defeasibility“ beschrieben bzw . als eine im Wechsel der Prämissen liegende „nichtmonotone“ Ableitung der Einzelfallnorm . Ast zeigt auf, dass sich dieses Problem bis zu Aristoteles zurück verfolgen lässt und stellt die These auf, dass dieses Ergebnis durch die Annahme einer ceteris-paribus-Klausel zu lösen sei, die sich – als Bestandteil der auszulegenden Norm selbst – auf den Gleichheitssatz zurückführen lasse, sofern dieser als materielle Gerechtigkeitsanforderung verstanden wird . Thomas Grosse-Wilde stellt sich dem Problem der Gleichheit in der Strafzumessung . Während in der deutschen Rechtsprechung die Strafzumessung als nicht überprüfbare Tatsachenfrage behandelt wird, legt Grosse-Wilde dar, dass Unrecht und
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Schuld nicht unvergleichbare Größen seien und dass die Strafzumessungsentscheidung deshalb implizit Regeln voraussetzt, die expliziert werden können . Diese Regeln fügen sich in die in Bezug genommene Norm dergestalt ein, dass sie deren Voraussetzungen und zugleich deren Rechtsfolge spezifizieren – freilich nicht punktgenau und mit einer ceteris-paribus-Klausel, die eine begründete Modifikation der Regel zulässt . Die gleiche Anwendung dieser Regeln ist dadurch zu gewährleisten, dass sie als revisible Rechtsfragen anerkannt werden . Dass diese Regeln, die möglicherweise erst ex post facto zu bilden sind, nicht gesetzlich fixiert sind, widerspreche nicht dem Gesetzlichkeitsprinzip; es ist vielmehr eine Forderung des Schuldprinzips, das die Berücksichtigung des Einzelfalls einfordere . In den beiden folgenden Aufsätzen wird der Inhalt und der Stellenwert des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes kritisch revidiert . Norbert Paulo hinterfragt das weithin akzeptierte Verständnis von Art . 3 GG als Ausdruck der materiellen Gerechtigkeit, wie es mit der „neuen Formel“ des BVerfG verbunden ist, welche auf die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen am Verhältnismäßigkeitsmaßstab zielt . Der Wortsinn von Art . 3 hingegen spreche in erster Linie für eine Regelanwendungsgleichheit . Bereits die Ausdehnung auf die Rechtssetzungsgleichheit werde aus ihm nur in Verbindung mit Art . 1 III GG plausibel . Der somit in Art . 3 I GG hineingelesenen Gerechtigkeitsforderung, die sich auf (vermeintlich) antike Ursprünge und die Prinzipien der Unparteilichkeit und Universalisierung berufe, setzt der Aufsatz die partikularistische Perspektive entgegen . Diese könne zwar ein Willkürverbot rechtfertigen, nicht aber eine weitergehende Überprüfung der Gründe, die für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung angeführt werden . Das berechtigte Anliegen der Verhältnismäßigkeitsüberprüfung will Paulo eher in den Freiheitsgrundrechten verorten . Er plädiert für einen jedenfalls transparenteren Umgang mit Art . 3 I GG . Tim Wihl beginnt ebenfalls beim Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, setzt aber verfassungstheoretisch den Begriff der Gleichheit primär . In einer Strukturanalyse der Freiheitsrechte legt er dar, dass für diese die identitäre Gleichheit der Bürger unabdingbar ist und dass weiterhin die Gleichheit im Sinn der (historisch-kontingenten) gleichen Anerkennung realer Verschiedenheit zu beachten ist . Nur ein moralisches Postulat sei hingegen die Gleichheit in Bezug auf den Rechtsinhalt (etwa Eigentum) . Die Gleichheit wird anschließend in Bezug gesetzt zu anderen paradigmatischen Rechten, dem Eigentum und der Meinungsfreiheit . Mit Bezug auf die Gleichheit lasse sich auch das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie besser bestimmen als in der Habermas´schen Gleichursprünglichkeitsthese: Der Rechtsstaat sei als Gewährleistung von Identität in der Rechtsform die notwendige Bedingung der Demokratie, und die Demokratie sei als Durchsetzung der Anerkennung von Differenzen zugleich eine Bedingung des Rechtsstaats . Praktische Folge einer solchen Konzeption ist ein Minimalkonstitutionalismus: Das Verfassungsgericht habe zum einen die identitäre Gleichheit zu gewährleisten, zum anderen das demokratische Verfahren zur Definition und Anwendung der Diskriminierungsregeln zu kontrollieren . Der Frage, wie Diskriminierungsverbote in allgemeinen Grundsätzen begründet werden können, widmen sich in Bezug auf das Privatrecht Michael Grünberger und in Bezug auf die Rechtsprechung des EGMR Tilmann Altwicker .
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Michael Grünberger erläutert zunächst die Verbindung von Gleichheit und Privatautonomie im Privatrecht . Während die Gleichheit im Sinn der gleichen Rechtsfähigkeit aller als Grundbedingung der Akzeptanz von Privatautonomie anerkannt ist, wird die Privatautonomie andererseits häufig gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung ins Feld geführt . Demgegenüber sei dieser gleichrangig neben der Privatautonomie anzusiedeln . Er enthalte neben den heute schon anerkannten speziellen Diskriminierungsverboten ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot . Eine einfache Ungleichbehandlung könne dabei durch jeden sachlichen Grund gerechtfertigt sein . Insoweit genüge bereits die Berufung auf die Privatautonome . Bei Diskriminierungsverboten wird die Rechtfertigungsanforderung hingegen in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gesteigert . Grünberger begründet den Anspruch auf Gleichbehandlung zunächst als moralischen Anspruch, um anschließend auf das wichtigste Gegenargument einzugehen: dass die Annahme einer rechtlichen Gleichbehandlungspflicht unzulässig in die Privatsphäre eingreife . Er fasst demgegenüber die Idee der Privatsphäre als eine immer schon politische Konzeption auf, deren Prämissen er offen legt . Tilmann Altwicker stellt zunächst fest, dass die subtileren Formen der Diskriminierung und das Diskriminierungsverbot in der Ethik und politischen Philosophie kaum Beachtung fänden . Insoweit erläutert er mit der „rechtsethischen Rekonstruktion“ eine Methode, wie sich eine deskriptiv verstandene Rechtsethik dieser Thematik annehmen könne . Am Beispiel des Nichtdiskriminierungsrechts der Europäischen Menschenrechtskonvention will Altwicker aufzeigen, dass allein die beiden Prinzipien der korrektiven und distributiven Gerechtigkeit taugliche rechtsethische Prinzipien sind, die dem Diskriminierungsrecht zugrunde gelegt werden können . Als diskrimierungsspezifische Gerechtigkeitskonzeption stellt er sodann die Gleichheit der „Mittel des So-Sein-Könnens“ heraus . Durch Formen der Diskriminierung werden diese Mittel verkürzt oder ungerecht verteilt . Diese Mittel sind diejenigen Güter, die Bedingungen für die Verwirklichung des eigenen Lebensplans sind . Der letzte Beitrag zum hallischen Tagungsband führt ebenfalls auf das allgemeine Thema der Gerechtigkeit zurück . Er schließt somit den Kreis und leitet zugleich zu Themen der Luzerner Tagung über . Pawel Polaczuk analysiert die Struktur der „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls . In dieser sind Theorie und Konzeption der Gerechtigkeit zu unterscheiden, aus welcher sich Verteilungsprinzipien ableiten lassen . Polaczuk zeigt auf, dass sich Elemente der Theorie und der Konzeption jeweils mit intuitiven Ansichten über die Gerechtigkeit untrennbar vermengen . Die Intuitionen werden dabei in der Theorie von ihren tatsächlichen Entstehungsbedingungen abgekoppelt . Als Element der Theorie werden die grundlegenden Annahmen über die Gesellschaft und die Wahlbedingungen indes nur ganz abstrakt erfasst, so dass eine umfassende Konzeption der Gerechtigkeit, die sich auf andere Verhältnisse als die in der Theorie hineingelegten beziehen ließe, bei Rawls nicht ergebe . 2 . Die Luzerner Tagung stand unter dem Titel „Unparteilichkeit und Universalisierung“ . In seiner Einleitung zum Thema „Unparteilichkeit“ gibt deshalb Klaus Mathis einen Überblick über die Rolle der Unparteilichkeit in der Ethik und im Recht . Er wirft dabei unter anderem die Fragen auf, ob ein empathischer Richter unparteilich sein kann und ob das Konzept der Unparteilichkeit mit der Tugend der Freundschaft vereinbar ist . Julia Hänni führt anschliessend ins Thema „Universalisierung“ ein . Ausgehend von einer Reflexion darüber, in welchem Maß die Universali-
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sierung als Eigenheit der juristischen Argumentationsstruktur verstanden werden kann, charakterisiert sie Wesensmerkmale der universalistischen Denkweise . Sie stellt dar, welche universalistischen Tendenzen sich in der aktuellen Rechtsentwicklung in institutioneller Hinsicht zeigen und eröffnet die Diskussion darüber, welche universalistischen Prinzipien als Geltungsgrundlage des Rechts herangezogen werden können . Frederik von Harbou geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit eine Realisierung der Gerechtigkeitspostulate der Unparteilichkeit und der Universalisierung aus den anthropologischen Vorgegebenheiten des Rechts überhaupt möglich ist – dies insbesondere angesichts der Tatsache, dass Parteilichkeit und Partikularismus kulturübergreifende Phänomene sind . Gestützt auf die Erkenntnisse der Evolutionären Psychologie, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihr, analysiert von Harbou entwicklungspsychologische Vorgegebenheiten insbesondere mit Bezug auf die Kleingruppenmoral, um damit auf der Grundlage einer naturwissenschaftlich informierten Anthropologie auf „Fallen der Evolution“ aufmerksam zu machen, die es gerade mit Bezug auf die Heranbildung normativer Ordnungen zu reflektieren gilt . In ihrem Beitrag „Zur Universalität von Normen“ untersucht Sabrina ZuccaSoest ob und auf welche Weise das ethische Prinzip der Universalität zur Begründung und Legitimation von (Rechts)Normen herangezogen werden kann . Dabei stellt sie sich die Fragen nach der Grundlage der Geltungskraft des Rechts, die sie durch die Anerkennung fundiert . Diese Anerkennungsprozesse werden meist nach den jeweils partikularen Gemeinschaften unterschieden . Um dementgegen eine allgemeingültige normative Ordnung zu entwerfen, wird die auf den universalpragmatischen Ansatz gestützte Möglichkeit einer rationalen, intersubjektiv verfassten Universalität von Normen nachgezeichnet . Dabei gründet sich die Anerkennung der Normen auf der Achtung der Autonomie des jeweils anderen, sowie – umgekehrt – die Anerkennung der eigenen Autonomie seitens des jeweils andern . Dieses prozedurale Vernunftverfahren, in dem normative Geltungsansprüche begründet und deren Anerkennung rational motiviert werden, wird anschließend anhand konkreter sich stellender Probleme diskutiert, insbesondere am Beispiel der Frage nach der universalen Geltung von Menschenrechten . Im Aufsatz „Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘: Antidiskriminierungsrecht ohne Kategorien denken!?“ unterzieht Tarek Naguib die Kategorienbildung im Antidiskriminierungsrecht einer kritischen Analyse . Dieses markiere in gut gemeinter Absicht Kategorien wie z . B . Behinderung, Geschlecht, Ethnie, Rasse, Alter, fahrende Lebensform, Religion, soziale Stellung oder sexuelle Identität in der Hoffnung, dadurch Diskriminierung zu bekämpfen . Mit der Verwendung dieser Kategorien bzw . dem unbewussten Umgang mit den darin geltungshistorisch eingeschriebenen Essentialismen zementiere es jedoch gerade diskriminierende Wissensbestände in den bestehenden Strukturen und Identifikationsmustern und reproduziere die Stigmatisierungen, die es zu beseitigen suche . Naguib versucht deshalb, mit seinem „Transformations-Konzept“ diese Problematik durch einen postkategorialen Umgang mit ‚Gleichheit und Differenz‘ zu überwinden . Till Zimmermann macht sich in seinem Aufsatz „Die Rollentauschprobe im Strafrecht“ den Rawls’schen „Schleier des Nichtwissens“ und den damit verbundenen Rollentausch für die Strafrechtswissenschaft zunutze . Er wendet dabei die Rol-
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lentauschprobe auf verschiedene dogmatische Fragestellungen des Strafrechts an, wie etwa den rechtfertigenden Notstand oder den Person-Status siamesischer Zwillinge . Dabei offenbart dieses Modell gewisse praktische Schwierigkeiten, die sich etwa durch dessen sog . Erfahrbarkeitsbedingung stellen . Danach muss der Verlust, den jemand durch die Frustration seiner Interessen erleidet, nachvollzogen werden können . Wie aber soll man sich in die Gefühlswelt eines Embryos oder eines KomaPatienten versetzen? Diese und weitere Probleme der Rollentauschprobe nimmt Zimmermann als Anlass, um die Rollentauschprobe zu modifizieren und eine „korrektive Versuchsanordnung“ als Lösungsvorschlag für das Rollentauschexperiment anzubieten . Im Beitrag „Richterauswahl – Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit“ beleuchtet Luca Langensand die Richterwahl in der Schweiz und versucht, unter Rückgriff auf die normative Ethik Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit und das Auswahlverfahren der Richter abzuleiten . Unabdingbare Voraussetzungen eines Richters seien die fachliche Qualifikation, eine besondere soziale Kompetenz und die Abwesenheit jeglicher Abhängigkeiten und Zwänge . Mit Bezug auf die Schweiz stellt er fest, dass die Richterauswahl stark durch die großen politischen Parteien im Land bestimmt sei . Obwohl grundsätzlich jeder Schweizer Aktivbürger als Richter gewählt werden könne, würden de facto die meisten Richtersitze gemäss den parteipolitischen Kräfteverhältnissen unter den im Parlament vertretenen Parteien verteilt . Hinzu komme, dass es in der Schweiz keine gesetzlichen Anforderungen für die fachliche Qualifikation der Richterkandidaten gebe . Diese Wahlmodalitäten und die kurze Amtszeit, verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl, bärgen die Gefahr einer Abhängigkeit der gewählten Richter von den politischen Parteien, was letztlich zu einer Politisierung der Justiz führe . In enger Anlehnung an die naturrechtliche Perspektive Hugo Grotius’ leitet Tobias Schaffner als Ziel jeder Rechtsordnung ein universales materielles ethisches Prinzip her – das Gemeinwohl – welches er sodann konkretisiert . In kritischer Gegenposition zum Rechtspositivismus Harts wird eine Erweiterung des Aufgabenbereichs der Rechtsphilosophie auf ethische Fragen vorgeschlagen, was eine inhaltlich reichere Sinn- und Zweckbestimmung des Rechts erlaubt . Das Recht bezweckt zunächst, den Rechtsfrieden zu erhalten, und zwar als individuelles – und ebenso als kollektives Ziel der Bevölkerung . Der so anzustrebende Rechtsfriede, der auf natürliche Handlungsziele wie den Respekt der Mitmenschen und die Vernunft zurückzuführen ist, bildet eine Vorstufe zur Erreichung des Gemeinwohls – des bonum commune – als Endzweck jeder staatlichen Gemeinschaft und damit auch als ethisches Ziel einer jeden Rechtsordnung . Vor dem Hintergrund dieses Ziels legt Schaffner die grundlegende Bedeutung der natürlichen Gleichheit aller Menschen im Privatrecht sowie die Zweckmäßigkeit der Einteilung des Rechts in verschiedene Rechtsgebiete dar . Magdalena Hoffmann widmet sich im Beitrag „Völker im Urzustand: Zu Rawls’ Begründung seines ‚Rechts der Völker‘“ John Rawls’ Werk „The Law of Peoples“ . Dieser unterscheidet zwischen „liberalen Völkern“ und „achtbaren Völkern“ . Während die liberalen Völker aus freien und gleichen Individuen bestehen, weisen die achtbaren Völker zwar Demokratiedefizite auf, sind aber dennoch hinreichend ‚anständig‘, um als Partner anerkannt zu werden . Rawls versucht zu zeigen, dass in den jeweils separat konstruierten Urzuständen sowohl die liberalen als auch die achtba-
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ren Völker die gleichen acht Prinzipien gutheißen würden, nämlich die Respektierung der Freiheit und Unabhängigkeit der Völker, die Pflicht zur Einhaltung von Verträgen, die Gleichstellung der Völker, die Nichteinmischung, das Recht auf Selbstverteidigung, die Achtung der Menschenrechte, Einschränkungen der Kriegsführung sowie eine Pflicht zur Assistenz . Der von beiden Völkertypen akzeptierte Menschenrechtskatalog ist dabei allerdings auf eine Klasse „besonders dringlicher“ Menschenrechte beschränkt: die Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Gewissensfreiheit, die Sicherheit ethnischer Gruppen vor Massenmord und Genozid, das Recht auf Leben sowie das Recht auf persönliches Eigentum und auf formale Gleichheit . Hoffmann erachtet es als nicht überzeugend, dass sich die liberalen Völker mit dem bescheidenen Menschenrechtskatalog der achtbaren Völker zufrieden geben sollen und diskutiert in der Folge zwei Alternativszenarien, einerseits mit einem gemeinsamen Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern, andererseits mit der Konstruktion des Rechts der Völker aus einer Schnittmenge der Ergebnisse von zwei vollkommen unabhängigen Urzuständen . Der Frage, ob und inwiefern politische Außengrenzen überhaupt sinnvoll als Problem der Gerechtigkeit diskutiert werden können, geht Rainer Keil nach . In Auseinandersetzung mit Michael Walzers Sphärenlehre, dem Utilitarismus zur Flüchtlingspolitik bei Peter und Renata Singer und der Gerechtigkeitstheorie John Rawls’ werden dabei weniger taugliche universalisierbare Kriterien für das Maß an Offenheit territorialer Aussengrenzen für Flüchtlinge und Immigration gefunden als bei Kant: Im Rückgriff auf Kants kosmopolitische Gedanken, d . h . gestützt auf das angeborene Recht, „die Gemeinschaft mit allen zu versuchen und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen“, werden weltbürgerrechtliche, aber dennoch nicht illusionäre Kriterien begründet, die für die Legitimation oder Kritik von Flüchtlings- und Migrationspolitik dienen können . In Anbetracht der Feststellung, dass allen Menschenrechten, für die universelle Geltung beansprucht wird, relativistische Einwände entgegen gehalten werden, untersucht Tobias Zürcher die Kohärenz der relativistischen Argumentation selbst . Anhand zweier Unterformen des Relativismus, d . h . des „Sprecherrelativismus“ und des „Gruppenrelativismus“, wird zunächst geprüft, in welchem Maß diese Richtungen eine universalistische Denkweise tatsächlich relativieren können, um anschließend generell danach zu fragen, inwiefern sich eine relativistische Argumentation überhaupt kohärent formulieren ließe . Dieselbe Frage wird schließlich auch mit Bezug auf den Pragmatismus Rortys gestellt, der sich grundsätzlich gegen ein Begründungsprogramm von Normen richtet . Zürchers Untersuchung führt schließlich zu einer „Umkehr der Beweislast“: Aufgrund der aufgezeigten Probleme der relativistischen Argumentationsformen liegt es vorab und hauptsächlich an den Moralrelativisten, eine kohärente Argumentationsstruktur gegen den Universalismus vorzubringen . Die Frage nach einer universellen Geltung der Menschenrechte wird im Beitrag von Matthias Jenal vor dem Hintergrund sprachphilosophischer Überlegungen aufgegriffen: Der juristische Diskurs über Kerngehalte universell geltender Menschenrechte ist – über völkerrechtliche Texte – primär sprachlich vermittelt, so dass die sprachliche Sinnermittlung und Bedeutung jener Kerngehalte als Ausgangspunkt für die Frage dienen soll, ob universell gültige Normen überhaupt denkbar sind . Im Rückgriff auf die Bedeutungsinterpretation der Sprache bei Wittgenstein wird die
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Frage nach der universalen Bedeutung von Menschenrechtstexten zur Frage nach der Möglichkeit einer „universalen Lebensform“: Indem sich die Bedeutung der Sprache gemäß der Konzeption Wittgensteins erst mit Blick auf den konkreten Gebrauch innerhalb eines sozialen Kontexts („Lebensform“) bestimmen lässt, stellt sich die zentrale Frage, ob eine entsprechende global-sprachliche Lebensform überhaupt denkbar ist . Peter G. Kirchschläger setzt sich in seinem Beitrag mit der Herausforderung der Universalität der Menschenrechte durch die kulturelle Differenz auseinander . Von vielen Seiten werde die Universalität der Menschenrechte wegen ihrer angeblichen westlichen Herkunft in Frage gestellt, beispielsweise etwa in der sogenannten „Asian values debate“ . Kirchschläger setzt sich mit diesen Argumenten auseinander und überwindet in der Folge die naturrechtliche Vorstellung von den angeborenen Menschenrechten und begreift diese vielmehr als Rechte, die sich die Menschen gegenseitig gewähren und gegeneinander erheben . Er kommt in seiner Analyse zum Schluss, dass die Menschenrechte die kulturelle Vielfalt nicht gefährden, sondern vielmehr ihrer Sicherung dienen . Es sei nämlich fraglich, wie sonst die Vielfalt geschützt werden könnte, als deren konstituierenden Elemente das Partikularinteresse förderten . Die fundamentale Funktion der Menschenrechte für den Pluralismus bestehe deshalb darin, einen gemeinsamen Referenzrahmen zu begründen, in dem um die Verständigung zwischen den Kulturen, Traditionen, Religionen und Weltvorstellungen permanent gerungen werden könne . Insofern mache der Universalitätsanspruch der Menschenrechte einen respektvollen Umgang mit kultureller Differenz erst möglich .
I GleIchheIt und dIfferenz Halle 2010
Franziska Martinsen* auch nachts sInd nIcht alle katzen Grau. zum verhältnIs von GleIchheIt und dIfferenz Kern der Untersuchung des Verhältnisses von Gleichheit und Ungleichheit ist die Frage, inwiefern Gerechtigkeitstheorien der Besonderheit von Menschen und Sachverhalten Rechnung tragen können, ohne Gefahr zu laufen, die Idee der Gleichheit zu verabschieden – und umgekehrt . Zwei Desiderata zeitgenössischer Gerechtigkeitsansätze sollen dabei erläutert werden: Erstens bedürfen die meisten Gerechtigkeitstheorien (sie seien der Einfachheit halber egalitaristische Ansätze genannt) einer kritischen Reflexion ihrer metatheoretischen Begründungsparameter . Eine begriffliche Unterscheidung der Prinzipien Gleichheit, Allgemeinheit und Unparteilichkeit versus Nicht-Willkür ist hierbei unabdingbar . Zweitens erfordert die Annahme der so genannten Präsumtionsregel eine nähere Beleuchtung, da diese die Aristotelische Gerechtigkeitsformel, gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich zu behandeln, in unstatthafter Weise verkürzt, was mitunter verzerrende Auswirkungen auf die moralische und juristische Beurteilung von Differenzen zwischen Menschen und ihren soziokulturellen Lebensbedingungen zeitigen könnte .
1 dIalektIk von dIfferenz und GleIchheIt Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit im Kontext einer Theorie der Gerechtigkeit1 bildet die Annahme einer Dialektik von Differenz und Gleichheit in Gerechtigkeitsbelangen . Dialektik von Differenz und Gleichheit – dies mag nach einer Ausflucht klingen, als sollte nicht entschieden werden, ob der einen oder der anderen Vorrang zuzusprechen sei, wie es in vielen Gerechtigkeitsdiskursen, allen voran im Streit zwischen Egalitaristen und Nonegalitaristen, erwartet wird .2 Doch dies ist nicht der Fall . Es sind vielmehr systematische Gründe, die mich von einer Dialektik sprechen lassen . Meine Überlegungen zum Verhältnis von Gleichheit und Differenz basieren auf der grundsätzlicheren Frage, inwiefern Gerechtigkeitstheorien in normativer Hinsicht der Besonderheit von Personen und Sachverhalten Rechnung tragen können, ohne die emanzipatorische Idee der Gleichheit zu verabschieden – und umgekehrt . Was den Aspekt des Emanzipatorischen anbetrifft, kommt dem Begriff der Gleichheit, historisch betrachtet, spätestens seit dem 18 . Jahrhundert eine besondere Bedeutung zu – ist er doch der zentrale Begriff der Moderne schlechthin . Gleichheit stellt die Grundidee des modernen Rechts dar, wie sie sich im Konzept etwa der * 1 2
Ich danke sowohl dem Tagungspublikum des Jahrestreffens des Jungen Forums Rechtsphilosophie in Halle als auch den Kolloquiumsteilnehmer_innen des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover (FIPh) für konstruktive Kritik und wertvolle Hinweise . Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem weiter gefassten Verständnis von Gerechtigkeit, das sowohl ihre juristisch/moralphilosophische als auch ihre politische Dimension umgreift . Sie beziehen sich nicht nur auf Verteilungsgerechtigkeitsprobleme in engeren Sinne . Die mitunter sehr kontroversen Debatten über den Stellenwert der Gleichheit für den Begriff der Gerechtigkeit insbesondere der 1990er Jahre sind u . a . nachvollziehbar anhand folgender Darstellungen: Anderson, What is the Point of Equality?, Ethics 1999 (109:2), S . 287–337; Krebs, Einleitung, in: Dies . (Hg .), Gleichheit oder Gerechtigkeit . Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt am Main 2000, S . 7–37; Ladwig, Gerechtigkeit und Gleichheit, Information Philosophie 2006 (1), S . 24–31 .
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Grundrechte niederschlägt . Das Recht versteht hierbei Gleichheit als normative Maßgabe, nach der alle Menschen gleichermaßen berücksichtigt – und eben nicht durch klassenbezogene, rassistische oder andere chauvinistische Überzeugungen benachteiligt oder gar vom Geltungsbereich des Rechts ausgeschlossen werden . Ähnlich geht auch die moderne Moral von einer starken Idee der Gleichheit aus, die in der Auferlegung jedes Einzelnen, sich in Bezug auf die Befolgung von Pflichten jedem anderen gleichzusetzen, besteht .3 Im Zuge der Ausweitung normativer Gleichheitsansprüche auf die verschiedensten gesellschaftlichen Felder – etwa auf den Bereich der Geschlechterverhältnisse – lässt sich allerdings eine zunehmende Gleichsetzung der Termini Gleichheit und Gerechtigkeit beobachten . Gerechtigkeit wird von vielen TheoretikerInnen der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts als Gleichheit verstanden . Das heißt, wenn es um die normative Bestimmung von Rechten, moralischen Pflichten, von Verteilungsregeln oder normativen Beurteilungsmaßstäben geht, gilt für viele Gerechtigkeitsansätze, dass Gleichheit im Sinne von Gleichbehandlung eine normative Vorrangstellung gegenüber anderen Prinzipien hat . In den meisten Gerechtigkeitstheorien kommt der Gleichheit sowohl ein fundamentaler Status als auch konzeptuelle Priorität zu .4 Fundamentaler Status heißt hierbei, dass Gleichheit als formales normatives Prinzip nicht aus einem anderen normativen Prinzip abgeleitet wird . Priorität bedeutet, dass auch bei der Definition von inhaltlichen Gerechtigkeitsprinzipien, z . B . von näher bestimmten Verteilungsregeln, Gleichheit die unumstößliche Prämisse darstellt .5 Spätestens bei den materialen Ausgestaltungen von Gerechtigkeitsvorstellungen zeigt sich aber, dass Gleichheitsansprüche mit Forderungen einer Berücksichtigung von Besonderheiten in Konflikt geraten können, die sich nicht durch eine prinzipielle Vorrangstellung von Gleichheitsnormen auflösen lassen . So müssen sich Gerechtigkeitskonzeptionen, die eine gleiche Verteilung begründen, gerade mit den Besonderheiten von Personen und Sachverhalten auseinandersetzen . Auch im Recht kommt der Individualität insofern besondere Bedeutung zu, als die Anwendung von Gleichheitsnormen im Einzelfall geprüft werden muss . Der Begriff der Differenz tritt, sofern er als Anspruch auf Besonderheit, auf das Nicht-Gleiche verstanden wird, hinsichtlich seiner normativen Geltungsansprüche in Konkurrenz zur Gleichheit, ohne dass ihm kategorisch in jedem einzelnen Fall eine nachrangige Stellung zugewiesen werden könnte . Im Folgenden möchte ich zwei Probleme des gegenwärtigen Diskurses über das Verhältnis von Gleichheit und Differenz in Gerechtigkeitsbelangen erläutern: Erstens bedürfen die meisten zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien (nennen wir sie der Einfachheit halber egalitaristische Ansätze) einer kritischen Reflexion ihrer Begründungsparameter . Ich werde im Folgenden zeigen, dass ein Grundproblem vieler 3 4 5
Vgl . Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2000, S . viii sowie S . 2–3 . Vgl . Menke (Fn . 3), S . 6 ff . So formulieren Autoren wie Ronald Dworkin, Richard Arneson oder Philippe Van Parijs, um nur einige prominente Namen zu nennen, Prinzipien der Gleichverteilung, bei denen es um den direkt relationalen Vergleich zwischen Personen und Sachverhalten unter der Prämisse des Werts der Gleichheit im Sinne eines anzustrebenden Ziels geht . Vgl . Dworkin, What Is Equality? Part 1: Equality of Resources, Philosophy and Public Affairs 1981 (10:3), S . 185–246; Dworkin, What Is Equality? Part 2: Equality of Resources, Philosophy and Public Affairs 1981 (10:4), S . 283–345; Arneson, Luck Egalitarianism and Prioritarianism“, Ethics 2000 (110:2), S . 339–349; Van Parijs, Why Mothers Should Be Fed: The Liberal Case for an Unconditional Basic Income”, Philosophy and Public Affairs 1991 (20:2), S . 101–131 .
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Gerechtigkeitsansätze darin besteht, dass die Begriffe Gleichheit und Allgemeinheit bzw . Gleichheit und Unparteilichkeit im Sinne von Nicht-Willkür miteinander verwechselt werden . Diese Vertauschung überfrachtet den Begriff der Gleichheit nicht nur mit (falschen) Bedeutungen, sondern impliziert darüber hinaus auch regelrechte Fehlverständnisse von Gleichheit . Zweitens muss meiner Ansicht nach die Annahme der so genannten Gleichheitspräsumtion, wie sie für einen Großteil der Gerechtigkeitstheorien konstitutiv ist, näher beleuchtet werden, da sie die Aristotelische Gerechtigkeitsformel, gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich zu behandeln,6 in unstatthafter Weise verkürzt und damit in wichtige und vernünftige Möglichkeiten der Ausgestaltung von Gerechtigkeitsmaßgaben verspielt . Die Verkennung der Komplexität von Gerechtigkeitsbelangen kann somit verzerrende Auswirkungen auf die moralische und juristische Beurteilung der Besonderheiten von Menschen und ihren Lebensbedingungen zeitigen . Mit der Erörterung dieser beiden Probleme soll, dies sei vorangeschickt, keine Demontage des Gleichheitsbegriffs vorgenommen werden . Im Gegenteil . Es geht mir vielmehr darum, den Status des Gleichheitsbegriffs sorgfältiger zu reflektieren als dies in vielen Gerechtigkeitsdebatten getan wird . Ein vereinseitigendes Nachdenken über Gerechtigkeit, das sich durch eine Engführung von Gerechtigkeit mit Gleichheit ergibt, birgt die Gefahr, dass das Konzept der Gleichheit selbst zu einem Tabu gerät und dadurch gewaltförmige Autorität gegenüber Formen der Besonderheit auszuüben droht . Im Grunde genommen geht es daher auch um den Aufweis der Schutzwürdigkeit des Gleichheitsbegriffs, um die Darlegung, unter welchen Bedingungen die Idee der Gleichheit ihre wahre emanzipative Kraft zu entfalten vermag . Emanzipation gelingt nur dort, wo ungerechtfertigte Ungleichheiten aufgezeigt und entsprechend bekämpft werden können . Das heißt jedoch nicht, dass Gleichheitsforderungen immer und bei jeder Gerechtigkeitsfrage die normative Maßgabe sein müssen . 2 BefraGunG der GleIchheIt Um den Begriff der Gleichheit angemessen reflektieren zu können, soll er also im Folgenden befragt werden .7 Die Befragung der Gleichheit geschieht dabei aus einer doppelten Perspektive, zum einen von außen, d . h . aus der Perspektive des Anderen der Gleichheit, aus dem Blickwinkel der Differenz, zum anderen von innen, im Sinne einer Selbstbefragung . Aus der Außenperspektive, also von der Differenz her gesehen, wird der Begriff der Gleichheit insofern in Frage gestellt, als seine Betonung des Nicht-Individuellen genauer überprüft wird . Die Differenz setzt sich somit zur Gleichheit in ein Oppositionsverhältnis . Beide werden also zunächst als gleichrangige normative Orientierungsmaßstäbe betrachtet . Der Begriff der Differenz stellt dabei den Prüfstein für den Begriff der Gleichheit dar, d . h . er prüft, inwiefern Gleichheit hinsichtlich eines Sachverhaltes zutreffend ist . Handelt es sich bei zwei (oder mehreren) Personen oder Gegenständen tatsächlich um gleiche, ist aus der Perspektive der Differenz zu fragen, ob es angemessen ist, das (möglicherweise) Be6 7
Vgl . Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers . v . U . Wolf, Reinbek b . Hamburg 2006, 1131a 23– 25 und Aristoteles, Politik, übers . v . E . Rolfes, Hamburg 1995, 1280a 10–14 . Vgl . Menke (Fn . 3), S . 7 f .
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sondere an ihnen nicht in Betracht zu ziehen, sondern das ihnen beiden Gemeinsame zu betonen . In Christoph Menkes Worten bedeutet die Befragung der Gleichheit von außen, sie „im Verhältnis zu Anderem statt im Vorrang vor Anderem“8 zu begutachten . Die Binnenbefragung der Gleichheit ist hingegen als Sich-selbst-inFrage-Stellen der Gleichheit zu verstehen . „Denn die normative Orientierung an Individualität von der aus die Idee der Gleichheit von außen befragt wird, tritt im inneren Vollzug der Gleichheit selbst schon auf; wir beziehen uns auf sie, genauer: wir übernehmen diese andere normative Orientierung gerade auch dann, wenn es uns um Gleichheit geht .“9 Es geht hier also um die innere logische Verfassung des Gleichheitsbegriffs selbst: „Die Orientierung an Gleichheit ist so verfasst, dass sie bereits in sich enthält, was ihr sodann, sie befragend und begrenzend, von außen entgegentritt . Die moderne Idee der Gleichheit enthält ihren Gegensatz als ihre Voraussetzung .“10 Mit Menke also lässt sich meiner Meinung nach die Dialektik umreißen, die ich dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz eingangs zugesprochen habe . Aufgrund der begrifflichen Verfasstheit der Gleichheit, die den Bezugspunkt der Besonderheit bereits in sich enthält, sind Gleichheit und Differenz in ihrer Opposition auf einander verwiesen . Gleichheit lässt sich nicht denken ohne ihr Gegenteil, die Ungleichheit .11 Doch nicht nur logisch, sondern auch inhaltlich bestimmen wir den Maßstab der Gleichheit unmittelbar anhand der Wahrnehmung von Unterschieden . Gleichheit ist somit zunächst einmal eine komparative Kategorie . Allerdings werde ich Verlauf meiner Überlegungen zeigen, dass es bei der Frage um Gleichheit oder Differenz nicht immer um komparative bzw . relationale Belange geht, sondern dass Gleichheit, verstanden als normative Forderung, oftmals eher eine Bedingung der Einbeziehung aller in einen bestimmten Geltungsbereich darstellt . 3 falsches verständnIs des status von GleIchheIt Ich komme damit zum ersten Problem des Diskurses über das Verhältnis von Gleichheit und Differenz . Die Annahmen sowohl der begrifflichen Fundamentalität als auch der konzeptuellen Priorität der Gleichheit innerhalb von Gerechtigkeitstheorien sind meines Erachtens insofern problematisch, als sie auf einem falschen Verständnis des Status der Gleichheit innerhalb von Gerechtigkeitskonzepten beruhen . (i) Die Annahme der Fundamentalität der Gleichheit versteht die Verfassung der Gleichheit insofern falsch, als sie Gleichheit mit (deskriptivem) Gleichsein bzw . (präskriptivem) Gleichmachen verwechselt, anstatt sie in der Forderung der Berücksichtigung aller Betroffenen zu verorten . Dass sie allesamt als gleich angesehen werden 8 9 10 11
Menke (Fn . 3), S . 7 . Menke (Fn . 3), ibid . Menke (Fn . 3), ibid . Anders als Menke den Aufweis, dass Gleichheit und Differenz in einem Verhältnis des unabdingbaren internen Verweisungszusammenhangs stehen, in dem oben aufgeführten Zitat formuliert, gehe ich davon aus, dass es sich um eine wechselseitige Relation handelt: Umgekehrt hat meines Erachtens auch die Idee der Differenz die Gleichheit zum Bezugspunkt . Damit neige ich also durchaus zu einer ausbalancierteren Auffassung des begrifflichen Verhältnisses zwischen Differenz und Gleichheit als sie Menke vertritt .
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sollen, ist nicht dieselbe Forderung wie diejenige, dass keiner der Betroffenen aus der Geltung des Rechts oder der Moralität ausgeschlossen werden soll . Es geht vielmehr genau darum, dass alle in den Bereich der Berücksichtigung durch das Recht bzw . die Moral eingeschlossen werden . Am Beispiel der gleichen Achtung lässt sich der Sachverhalt verdeutlichen . Die Achtung gegenüber einem Menschen ist ein nicht-komparativer Standard, den es um des Individuums selbst willen12 zu erfüllen gilt und nicht in Bezug auf andere Menschen, mit denen das Individuum relational verglichen würde . An der Gegenüberstellung von Gleichheit und Allgemeinheit wird deutlich, dass die Rede von Gleichheit in Fällen, da ihr Begriff lediglich Allgemeinheit repräsentiert, redundant ist: „Allgemeinheit impliziert Gleichheit der Anwendung auf eine Klasse von Fällen .“13 Die Ergänzung des Attributs „gleichermaßen“ zur Feststellung der Bedingungen oder der Konsequenzen eines Gerechtigkeitsprinzips verwandele es aber noch nicht notwendigerweise in eines, in dem es auch tatsächlich um komparative Gleichheit gehe . Der Satz, ‚Alle Menschen sollen gleichermaßen durch das Recht berücksichtigt werden‘, verändert seine Bedeutung nicht, wenn er lautet: ‚Alle Menschen sollen durch das Recht berücksichtig werden‘ .14 Anders gelagert ist der Fall hingegen, wenn Gleichheit tatsächlich komparativ, also nicht-redundant gemeint ist . Wenn es beispielsweise darum geht, etwas numerisch gleich zu verteilen, etwa bei der Aufteilung einer Menge Süßigkeiten an Kinder, oder wenn es in bestimmten Verhandlungssituationen darum geht, dass Machtpositionen so exakt wie möglich gleich gewichtet sind . In solchen Situationen kann der direkte Vergleich zwischen den Gerechtigkeitssubjekten verteilungsrelevant sein . Dementsprechend ist bei diesen Fällen der Zusatz „gleichermaßen“ erforderlich . In vielen Fällen, in denen wir über Gleichheit sprechen, haben wir es allerdings mit einem Begriff der Allgemeinheit statt der Gleichheit zu tun . Die Allgemeinheit einer Forderung hat Inklusion zur Konsequenz, nicht unbedingt Gleichheit im komparativen bzw . relationalen Sinne . Für viele Absichten, z . B . im Rahmen einer politischen Sensibilisierung, kann es sinnvoll sein, zumindest in rhetorischer Hinsicht, den Terminus Gleichheit zu verwenden, um an die historischen Errungenschaften von sozialen oder politischen Kämpfen zu erinnern oder um an ein bestimmtes Format des emanzipatorischen Engagements zu appellieren, das auf der Befragung von Privilegien beruht . Bei genauerer Betrachtung jedoch, und zumal im geschützten Forum der philosophischen Auseinandersetzung, erweist es sich oftmals gerade nicht als statthaft, unpräzise von Gleichheitsforderungen zu sprechen, wenn eigentlich der Anspruch auf Inklusion gemeint ist, der sich von einer gleichmachenden Tendenz bei der Behandlung von Tatbeständen abhebt . Von einer richtigen Verortung normativer Ansprüche im Zuständigkeitsbereich der Inklusion verspreche ich mir die 12 So besagt es zumindest die kantische Argumentation, jedem Menschen Wert an sich zuzusprechen . Diese deontologische Begründung ist nicht die einzig plausible und darüber hinaus nicht nur philosophisch umstritten . Avishai Margalit beispielsweise zeigt in seiner Studie (vgl . Margalit, Politik der Würde . Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997) nicht nur sehr anschaulich das phänomenologische Spektrum an sozialen und kulturellen Differenzierungen in der Achtungsbezeigung gegenüber Personen auf . Er thematisiert vor allem verschiedene konkurrierende moraltheoretische Argumentationsstränge, Achtung gegenüber allen Personen zu rechtfertigen (vgl . insb . Kap . 4–6) . 13 Vgl . Raz, Strenger und rhetorischer Egalitarismus, in: Krebs (Hg .) (Fn . 2), S . 50–80, hier: 54 . 14 Vgl . auch Krebs (Fn . 2), 18 .
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Chance, im Modus des Einbezugs aller durchaus die Möglichkeit bewahren zu können, die Differenzen zwischen und von Einzelfällen zu berücksichtigen . Wie könnte nun eine Lesart der Gleichheit als Inklusion aussehen? Um diese Frage zu beantworten, wende ich mich zunächst einer analytischen Differenzierung des Gleichheitsterminus zu . Der Gleichheitsbegriff hat zwei Dimensionen, sowohl eine deskriptive – als vergleichende Tatsachenaussage über phänomenale Zustände von Personen und Gegenständen – als auch eine präskriptive – im Sinne einer normativen Zielvorstellung .15 Gleichheit ist dabei eine dreistellige Relation – ohne Angabe des Maßstabes bliebe die Rede von Gleichheit unvollständig: „Die Feststellung von Gleichheit erfordert einen Vergleichsmaßstab bzw . Standard, im Hinblick auf den der Vergleich vorgenommen werden soll“ .16 Es ist wichtig, einen entscheidenden Unterschied wahrzunehmen, nämlich zwischen Gleichheitsaussagen, die immer komparativ sind, und dem Maßstab (= der Hinsicht) der Gleichheit selbst, der sowohl komparativ/relational als auch absolut begründet sein kann .17 Eine Balkenwaage etwa versinnbildlicht den komparativen Aspekt des Maßstabs der Gleichheit: „Ob sich beide Waagschalen auf gleicher Höhe befinden, hängt von den jeweils darin liegenden Gegenständen und ihrer Relation zueinander ab .“18 Absolut ist der Maßstab der Gleichheit hingegen dann, wenn eine bestimmte Kategorie für die Bestimmung der Gleichheit relevant ist, in die die entsprechenden Gegenstände je für sich fallen, und nicht der Umstand, ob Gegenstände nur in Bezug aufeinander zu dieser Kategorie gehören . Als Beispiel führt Thomas Schramme die Kategorie „Brillenträger“ an . Ob ein Mensch ein Brillenträger oder eine Brillenträgerin ist, macht ihn allen Brillenträgern gleich, ohne dass er ad personam mit den anderen verglichen wird, dass heißt, ohne dass seine Besonderheit als Individuum auf dem Spiel steht . Der Brillenträger und die Brillenträgerin sind allen anderen Brillenträgern gleich, weil er oder sie die Maßgabe „Brillenträger“ erfüllt . Das Problem vieler Gerechtigkeitstheorien besteht darin, dass sie nicht genügend klären, von welchem Gleichheitsmaßstab sie tatsächlich ausgehen, also, ob sie auf einen komparativ gefassten oder absoluten Maßstab rekurrieren . Während der deskriptive Gebrauch des 15 Vgl . Williams, Der Gleichheitsgedanke, in: Ders ., Probleme des Selbst . Philosophische Aufsätze 1956–1972, Stuttgart 1978, S . 363–379, hier: S . 366; vgl . auch Williams, Person, Character and Morality, in: Ders ., Moral Luck, Cambridge 1981 . Der Maßstab der Gleichheit besagt bezüglich der Beschaffenheit einer begrenzten oder unbegrenzten Anzahl von Personen oder Gütern, dass diese in einer bestimmten Hinsicht weder identisch noch nur weitestgehend ähnlich, sondern gleich sind, d . h ., das Prädikat ‚gleich’ rangiert auf einer Skala aller möglichen Graduierungen von ‚ähnlich’ bis ‚nahezu identisch’ (vgl . Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2004, S . 115) . „Identität“ im engeren Sinne heiße numerische Identität, d . h . wenn „a und b der Zahl nach ein einziges Ding sind“ (Tugendhat/Wolf, Identität, in: Dies ., Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, S . 168–184, hier: S . 169) . Qualitative Identität sei die Bezeichnung für Identität im weiteren Sinne, und zwar, wenn zwei Gegenstände, die der Zahl nach zwei verschiedene sind, in einer bestimmten Eigenschaft (oder mehreren) gleich sind . Der Begriff der absoluten qualitativen Gleichheit ist damit ein Grenzbegriff: Gleiche, aber numerisch verschiedene Gegenstände müssen sich mindestens in einer Hinsicht, nämlich der „raumzeitlichen Lokalisierung“ (S . 171), unterscheiden . Sie können sich im Grenzfall in allen Eigenschaften unterscheiden (vgl . S . 169–172), dann sind sie nicht mehr gleich, sondern verschieden . 16 Schramme, Die Anmaßung der Gleichheitsvoraussetzung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2003 (51:2), S . 255–273, hier: S . 256 . 17 Vgl . Schramme (Fn . 16), S . 256 . 18 Schramme (Fn . 16), S . 256 .
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Gleichheitsterminus im Sinne einer Äquivalenzrelation in dem hier interessierenden Kontext zunächst einmal unproblematisch sein mag, erweist sich die präskriptive Verwendung hingegen als problematischer . Gleichheit als Zielvorstellung besagt, dass der Maßstab der Gleichheit normativ gemeint ist . Die Rede von Gleichheit im präskriptiven Sinne bedeutet dann die Perspektive der Herstellung von Gleichheit, wo noch keine Gleichheit besteht . Diese Perspektive allerdings bedarf einer eigenen Begründung, der Verweis auf den Terminus Gleichheit ist nicht selbsterklärend . Und es ist diese Begründung, die von den meisten egalitaristischen Theorien ausgespart wird, wenn Gerechtigkeit schlichtweg als Gleichheit aufgefasst wird . Gleichheit erscheint damit als unhinterfragter Maßstab, der zur pauschalen Zielvorstellung einer Gerechtigkeitskonzeption gerät . In der Pauschalität liegt jedoch genau das Problem . Denn Gleichheit per se ist, und dies vergessen zuweilen egalitaristisch argumentierende Theoretikerinnen und Theoretiker, begrifflich kein Synonym für Emanzipation oder Gleichberechtigung . Gleichheit kann ihre egalitäre, hierarchiekritische Kraft immer nur im jeweiligen Kontext entfalten . Gleichheit kann in zweierlei Hinsicht ihr emanzipatives Potential verpuffen lassen . Zum einen, wenn sie nicht im Sinne einer Inklusionsnorm interpretiert wird, sondern unterschwellig als relationale Kategorie fungiert . Diese Erfahrung machen häufig marginalisierte Gruppen in sozialen oder politischen Auseinandersetzungen . So hat sich die Forderung nach Gleichheit, wie sie die Französische Revolution auf ihren Fahnen führte, aus feministischer Perspektive als exklusiv erwiesen, da sie nur auf das männliche Geschlecht angewendet wurde, und damit eine bestimmte Differenz zwischen Menschen zementierte . Zum anderen kann Gleichheit, wenn sie dogmatisch oder ideologisch verstanden wird, in einen Gleichheitsterror umschlagen, der zwar die egalisierende Norm ernst nehmen mag, aber u . U . wiederum Minderheiten das gleiche Recht auf Besonderheit verwehrt . (ii) Die Annahme der Priorität von Gleichheit begreift ihre Stellung innerhalb einer Gerechtigkeitskonzeption falsch, weil sie der Gleichheit mindestens eine Vorrangposition zumisst, meistens sie gar als einziges Prinzip der Gerechtigkeit verabsolutiert . Damit missversteht sie Gleichheit als monolithische Zielvorstellung und vernachlässigt eine mögliche Variante der Gleichheit als Begleiterscheinung absoluter Standards, die auf Inklusion und nicht Herstellung von Gleichheit zielen (Beispiel Brillenträger) . Die Zuschreibung von Priorität hängt mit der Annahme zusammen, dass das formale Prinzip der Gleichheit deshalb für Gerechtigkeit konstitutiv ist, weil durch seine Beachtung Willkür ausgeschlossen werden soll . In diesem Zusammenhang wird Gleichheit oftmals mit Unparteilichkeit gleichgesetzt . Wenn wir uns genauer anschauen, wofür Gleichheit, und in ihrem Schlepptau Unparteilichkeit, in der Rede über formale Gerechtigkeit stehen, wird deutlich, dass die meisten Theoretiker eigentlich ‚Willkürfreiheit’ meinen . Es ist richtig, dass Gerechtigkeit Nicht-Willkür verlangt . Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht ist Nicht-Willkürlichkeit jedoch nicht gleichbedeutend mit Gleichheit noch mit Unparteilichkeit . Gleichheit und Unparteilichkeit sind Versionen des Prinzips der Nicht-Willkür, die sich durch das begründungstheoretische Metaprinzip der Rechtfertigbarkeit auszeichnet . Was Bernd Ladwig etwa generell für die Moral formuliert, dass sie „für alle Streitfälle
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willkürfrei gerechtfertigte Lösungen“19 verlangt, gilt im engeren Sinne für die Gerechtigkeit . Willkürfreiheit kann sich zwar – je nach Kontext – durchaus zum einen durch Unparteilichkeit, zum anderen durch Gleichheit ausdrücken . Das Problem besteht hierbei jedoch, dass oftmals diese beiden Begriffe synonym mit ‚Willkürfreiheit’ verwendet (bzw . untereinander verwechselt) werden, ohne dass im Einzelnen darauf geachtet wird, welche spezifische Form der Willkürfreiheit unterschiedliche Fälle der Gerechtigkeit jeweils verlangen . Unparteilichkeit, d . h . die Absehung von einer Person (oder Sache), kann tatsächlich das Gegenteil einer spezifischen Form der Willkür, in diesem Falle der Parteinahme für eine Person (oder eine Sache) bedeuten . Gleichheit im Sinne inklusiver Berücksichtigung aller Betroffenen kann ebenfalls das Gegenteil eines willkürlichen Ausschlusses von Personen von dieser Berücksichtigung bedeuten . Die Erfüllung von Unparteilichkeit oder Gleichheit, und das ist trivial, muss aber nicht in jedem Falle gleichbedeutend mit ‚Gerechtigkeit’, also mit Nicht-Willkür, sein . Es lassen sich Umstände denken, in denen die besondere Berücksichtigung einer Person, also die Nicht-Absehung von einer Person, durchaus gerecht sein kann . Bestimmte Maßnahmen der so genannten positiven Diskriminierung oder Quotenregelungen können, wenn sie wohl begründet sind (etwa durch die feministische Forderung der beruflichen Gleichberechtigung von Frauen in männerdominierten Domänen), durchaus als gerecht gelten . Da also weder Unparteilichkeit noch Gleichheit prinzipiell als formale Begründung gelten können, sondern lediglich hinsichtlich des jeweiligen Kontextes, können sie nur als je spezifische Varianten einer formalen nicht-willkürlichen Rechtfertigung für Urteile und Handlungen gelten . Um den begrifflichen Zusammenhang von Unparteilichkeit und Gleichheit zuzuspitzen: Unparteilichkeit kann in vielen Fällen durchaus durch das Gleichheitsgebot erfüllt werden . Von einer unparteilichen Richterinstanz wird etwa erwartet, dass sie beide Seiten gleichermaßen berücksichtigt . Streng genommen geht es jedoch auch hier darum, dass das Gebot der Willkürfreiheit nicht verletzt wird, das dann nicht gegeben wäre, würde der Richter/die Richterin nur für eine Seite Partei ergreifen und damit die eine Partei aus der Berücksichtigung in Bezug auf das Recht ausschließen . Formale Gleichheit ist als Variante des Gebots der Willkürfreiheit zu betrachten, sie ist nicht mit ihm identisch . Es kann unter anderen Prinzipien, etwa Unparteilichkeit oder Allgemeinheit, als Rechtfertigungskriterium herangezogen werden, aber es trumpft sie nicht prinzipiell . Die formale Gleichheit kann somit als inklusives Kriterium verstanden werden, ohne dabei deskriptives Gleichsein der Betroffenen vorauszusetzen noch präskriptiv deren Gleichmachen vorzuschreiben .20 Substantiell kann Gleichheit hingegen tatsächlich den Inhalt einer normativen Regel bedeuten . Gleichheit kann dann konkret eine egalisierende Behandlung von Menschen in vergleichender Hinsicht meinen . Gleichheit wird somit selbst zum Gehalt von Gerechtigkeit . Aber auch hier ist es erst recht fraglich, ob die Fundamentalität und Priorität der Idee der Gleichheit evident sind .
19 Ladwig, Gerechtigkeit, in: G. Göhler/M. Iser/I. Kerner (Hg .), Politische Theorie . 22 umkämpfte Begriffe, Wiesbaden 2004, S . 119–136, hier: S . 131 . 20 Vgl . Menke (Fn . 3), S . 2 .
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4 verzerrunGen der präsumtIonsreGel Mit diesem Zweifel an der Evidenz der Fundamentalität und Priorität der Idee der Gleichheit komme ich zum zweiten Problem, der verzerrenden Auswirkung der Geltung der Präsumtionsregel . Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass ich von einer Dialektik von Gleichheit und Differenz ausgehe, weil nicht nur der Begriff der Differenz auf den der Gleichheit bezogen ist, sondern vor allem die Idee der Gleichheit begrifflich ihren Gegensatz als ihre Voraussetzung enthält . Diese Dialektik unterschlägt der Egalitarismus, wenn er die Beweislast der Rechtfertigung von Gerechtigkeitsmaßnahmen einseitig zugunsten der Gleichheit verortet .21 Die so genannte „Präsumtion der Gleichheit“22 ist hierfür ein Beispiel . Ihr zentraler Gedanke lautet: „Alle Betroffenen sind ungeachtet ihrer deskriptiven Unterschiede numerisch oder strikt gleich zu behandeln, es sei denn bestimmte […] Unterschiede[…] sind in der anstehenden Hinsicht relevant und rechtfertigen durch allgemein annehmbare Gründe erfolgreich eine ungleiche Behandlung […]“ .23 An dem Kerngedanken ist zunächst einmal in formaler Hinsicht plausibel, dass Gerechtigkeit die inklusive Berücksichtigung der (moralischen oder juridischen) Rechtsansprüche Aller verlangt . Liegen relevante Unterschiede vor, können Abweichungen der Gleichbehandlung gerechtfertigt werden – vielmehr müssen sie gerechtfertigt werden, da sie andernfalls als willkürlich einzustufen sind und damit das formale Erfordernis der Inklusion verletzen . Problematisch an der Präsumtionsregel ist jedoch ihre Aussage bezüglich der materialen Regeln der Behandlung von verschiedenen Personen . Dass nur für Ungleichheit (ungleiche Behandlungen), nicht aber für Gleichheit eine Begründung gefordert wird, stellt eine Asymmetrie dar, die sich nicht aufrechterhalten lässt . Vielmehr gerät die konstitutive Rolle der Gleichheitspräsumtion für eine Gerechtigkeitskonzeption in Misskredit . Es gibt freilich zwei Ansätze, die die ausgezeichnete Stellung der Gleichheit zu begründen versuchen . Ernst Tugendhats Version hat (wie er später selbst zugibt24) dabei allerdings den Anschein, als handele es sich um eine pragmatische Begründung, wenn er der Gleichbehandlung bescheinige, dass sie die einfachste Regel sei, die Ungleichbehandlung hingegen zu viele verschiedene Regeln verlange .25 Im Zuge einer Selbstrevision versucht Tugendhat die pragmatische Begründung durch eine konzeptuelle zu ersetzen: Nur Gleichverteilung könne gegenüber allen gleichermaßen begründet werden, wobei das „gleichermaßen“ für die Moralbegründung generell zwingend erforderlich sei .26 Für Gosepath wiederum besteht ein begründungstheoretischer Zusammenhang zwischen dem Unparteilichkeitsgebot bzw . dem allgemeinen Rechtfertigungsgebot und der Gleichheitspräsumtion .27 Doch scheint das vermeintlich erforderliche ‚gleichermaßen’ in diesem Falle 21 Vgl . Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, S . 374; kritisch dazu Schramme (Fn . 16), S . 263 . 22 Vgl . Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, S . 83, Westen, The Empty Idea of Equality, Harvard Law Review 1982 (95:3), S . 537–596, hier: 230 ff ., Gosepath (Fn . 15), S . 201–211 . Zum Begriff der Präsumtion siehe Katzner, Presumptivist and Nonpresumptivist Principles of Formal Justice, Ethics 1971 (81:3), S . 253–258 . 23 Gosepath (Fn . 15), S . 14 u . S . 202 . 24 Vgl . Tugendhat, Dialog in Laeticia, Frankfurt am Main 1997, S . 71 . 25 Vgl . Tugendhat (Fn . 21), S . 374 . 26 Vgl . Tugendhat (Fn . 24), S . 64 u .72 f . 27 Vgl . Gosepath (Fn . 15), S . 207 .
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einer Verwechslung mit dem Begriff der Allgemeinheit zu unterliegen . Auch vermag der Versuch, die Gleichheitspräsumtion aus einem allgemeinen Begründungsgebot der Unparteilichkeit zu folgern, nicht zu plausibilisieren, warum das onus probandi nur auf Seiten der Ungleichheit liegen solle . Entgegen den Vereinnahmungsversuchen, Aristoteles als Gewährsmann der Gleichheitspräsumtion anzuführen, kann anhand der aristotelischen Gerechtigkeitsformel, gleiche Fälle gleich, ungleiche Fälle ungleich zu behandeln,28 gezeigt werden, dass die Beweislast auf beiden Seiten liegt . Da meistens nur die erste Hälfte der Regel erwähnt wird, suggeriert die einseitige Betonung der Gleichheit, dass nur Ungleichheit eigens begründet werden muss . Die Formel ist aber bei Aristoteles symmetrisch, es gibt keinen Vorrang der Gleichheit für gleiche Fälle vor der Ungleichheit der ungleichen Fälle – was Tugendhat auch folgendermaßen eingesteht: „Aber statt auf Gleichheit einfach zu pochen […], müßten wir klären, welchen Stellenwert die Gleichheit in der Frage nach der Gerechtigkeit hat, ein Tatbestand, der der Ulpianschen Formel auf Anhieb nicht anzusehen ist .“29 Vielmehr geht es Aristoteles um die Proportion der Verhältnisse, nicht um Gleichheit (oder Ungleichheit) als solche – und damit um Angemessenheit statt Gleichheit .30 Ob in einem Fall eine Gleich- oder eine Ungleichbehandlung angemessen ist, kann nicht durch eine Präsumtion vorab ‚entschieden‘ werden . Sowohl die gleiche als auch die ungleiche Verteilung bedürfen einer willkürfreien Begründung anhand von Gerechtigkeitsprinzipien, z . B . dem Unparteilichkeitsprinzip . Dass das Gebot der Unparteilichkeit jedoch nicht per se mit der Gleichheitspräsumtion in eins gesetzt werden kann, zeigt sich daran, dass den Gegenbegriff von Unparteilichkeit nicht Ungleichheit, sondern Willkür (und zwar dann in der speziellen Version der Parteilichkeit) bildet . Unparteilichkeit heißt, keine Partei zu ergreifen, sondern ohne Ansehung der Person zu urteilen . In das „ohne Ansehung“ selbst ist jedoch kein komparativer Maßstab, sondern ein absoluter Maßstab der Allgemeinheit eingelassen: ohne Ansehung jeglicher (d . h . keiner einzigen) Person . Faktisch mag die Absehung von jeglicher Person (d . h . von allen Personen) eine tatsächliche Gleichbehandlung bedeuten, begrifflich ist dies nicht zwingend so . 5 schluss Fest steht, dass eine willkürliche Behandlung oder Verteilung in jedem Fall ungerecht ist . Eine nicht-willkürliche Behandlung ist eine anhand von vernünftigen Prin28 Vgl . Aristoteles (Fn . 6), Nikomachische Ethik, 1131a 23–25 und Aristoteles (Fn . 6), Politik, 1280a 10–14 . 29 Tugendhat (Fn . 24), S . 67–68 . Vgl . die Ulpian zugeschriebene, in Ansätzen aber schon bei Platon durch den Begriff des pros‘hkwn (vgl . Platon, Politeia, Sämtliche Werke, Bd . 10, griechisch und deutsch, übers . v . F . Schleiermacher u . F . Susemihl, hrsg . v . K . Hülser, Frankfurt am Main/ Leipzig 1991, 331e–332c) und bei Aristoteles (Fn . 6), Nikomachische Ethik, 1134a 1–5, angelegte Formel: „Justitia est constans et perpetua voluntas jus suum cuique tribuendi“ – „Gerechtigkeit ist der feste und dauerhafte Wille, jedem das Seine zuzuteilen“, Ulpian, Digesten 1,1,10, zitiert nach O. Behrens/R. Knütel/B. Kupisch/H. H. Seiler (Hg .), Corpus Juris Civilis . Digesten 1–10, Text und Übersetzung auf der Grundlage der von Th . Mommsen und P . Krüger besorgten Textausgabe, Heidelberg 1995, S . 94 . 30 Vgl . Katzner (Fn . 22), S . 254, Feinberg, Social Philosophy, Englewood Cliffs 1973, S . 100 ff .
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zipien begründete Verteilung – je nach Sachlage eine der Gleichheit oder der Ungleichheit . Damit braucht die Berücksichtigung der Gleichheit, ebenso wie die der Differenz, plausible Gründe, und kann nicht einfach fraglos vorausgesetzt werden . Thomas Schramme weist mit leiser Ironie darauf hin, dass Gerechtigkeit kein statisches Gebilde ist, das das eigene Urteilsvermögen und damit den Raum, die Tugend der Gerechtigkeit zu entfalten, ersetze: „Wie sollte Gerechtigkeit sonst eine Tugend sein? Wenn die Handlungsanweisung immer eindeutig ist, nämlich Gleichverteilung bei Unsicherheit über gegenteilige Gründe und Ungleichverteilung bei entsprechender Sicherheit, gibt es keinen Platz für eine Tugend der Gerechtigkeit .“31 Wenn wir an dieser Stelle die Bezeichnung „Tugend“ durch „Auseinandersetzung“ ersetzen, lässt sich zumindest im Ansatz aufzeigen, wie die Dialektik von Besonderheit und Gleichheit in der (demokratischen) Praxis auszugestalten wäre . Es liegt dann an der Qualität, d . h . am Umfang, an der Sorgsamkeit und dem Differenzierungsvermögen der sozialen, politischen, und nicht zuletzt der philosophischen Auseinandersetzungen, die Wahrnehmung dafür zu schärfen, dass allenfalls hinter einem Schleier des Nichtwissens Katzen grau erscheinen mögen . Bei Tageslicht hingegen lässt sich wohl nicht abstreiten, dass sie es in Wirklichkeit nicht einmal des Nachts sind .
31 Schramme 2003, S . 263 .
stepHan ast GleIchheIt, dIfferenz und GeneralIsIerunG – was es heIsst, sIch nach eIner Generellen norm zu rIchten Der Beitrag untersucht die Struktur der Anwendung genereller Normen, insbesondere von Rechtsnormen, mit Bezug auf den Gleichheitssatz . Die Anwendung einer generellen Norm wird aufgefasst als die Ableitung einer Situationsnorm . Hierbei sind Auslegung und Subsumtion zu unterscheiden . Auslegung ist die Ableitung von konkretisierenden Normen . Die Subsumtion ist die Ableitung der Situationsnorm, begründet durch das Urteil, dass der in der konkretisierenden Norm bezeichnete Sachverhalt gegeben ist . Die Auslegung muss zunächst („horizontal“ oder „vertikal“) auf vorgegebene generelle Normen Bezug nehmen, kann aber auch über sie hinausgehen, indem sie Besonderheiten eines Falls für relevant erachtet . Problematisch erscheint insbesondere eine Auslegung, die nicht mehr als modifizierende Definition oder Exemplifikation der Normbedingung, sondern nur noch als eine Ausnahme von der Norm dargestellt werden kann . Das scheint dem Modell der Subsumtion aus Prämissen zu widersprechen, die aus der Norm ableitbar bzw . mit dieser vereinbar sind . Hier wird deshalb vorgeschlagen, als weitere inhaltliche Prämisse den materiell interpretierten Gleichheitssatz anzunehmen, die Frage, ob ein Fall eine relevante Differenz aufweist oder nicht .
1 Generelle norm und sItuatIonsnorm Das Gebot der formalen Gerechtigkeit verlangt, die gegebenen generellen Normen gleich anzuwenden . Wie wendet man eine generelle Norm gleich an? Diese Frage weist über die juristische Methodenlehre hinaus und gibt ein Thema vor, das in der allgemeinen Normentheorie zu behandeln ist .1 Man wendet eine generelle Norm an, indem man eine Situationsnorm aus dieser generellen Norm ableitet .2 Eine generelle Norm ist dadurch zu definieren, dass sie mehr als eine Handlungssituation oder einen Anwendungsfall betrifft . Generelle Handlungsnormen können meist konditioniert formuliert werden: „Wenn A der Fall ist, ist die Handlung B geboten, verboten oder erlaubt .“ Selbst scheinbar unbedingte (kategorische) Verbote sind zumeist negativ konditioniert, etwa durch das Fehlen von rechtfertigenden Umständen . Die hier besonders interessierenden generellen Gebote, die an einen Richter gerichtet sind, haben die Form: „Wenn A gegeben ist, soll der Richter in der Weise B entscheiden .“3 Eine Situationsnorm ist demgegenüber eine Norm, die ein Handeln eines Handelnden in einer bestimmten Situation bezeichnet, ein „Du, jetzt (bzw . dann), dieses (nicht)!“4 Bezeichnet die Norm einen Zeitraum, ist sie immer noch auf ein „Jetzt“ 1
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Die Grenze zwischen beiden Disziplinen ist durch eine unterschiedliche Perspektive bezeichnet: Die Normentheorie beschreibt das normative Handeln (einschließlich der Anwendung solch komplexer Normenzusammenhänge, wie es die Gesetze sind); die Methodenlehre schreibt darüber hinaus vor, wie der Rechtsanwender arbeiten soll . Vgl . Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9 . Auflage, Stuttgart (1997), Kapitel III, S . 45: „Demgemäß spitzt sich das Recht, wenn es Bedeutung für unser Leben erlangen soll, auf konkrete Sollenssätze zu .“ Ferner S . 53 zum Begriff der Ableitung . Kelsen spricht von der Erzeugung der individuellen Norm aus der generellen Norm, Reine Rechtslehre, 2 . Auflage, Wien 1960, S . 239–242 . Vgl . Kelsen, Reine Rechtslehre, S . 242 . Zur Unterscheidung von genereller Norm und individueller „Pflicht“ Binding, Die Normen und
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konkretisierbar (bei gegebenem Spielraum auf ein „Jetzt oder später“) . Für den Richter ist die Situationsnorm etwa das Gebot:„Der gegebene Fall soll in der Weise B entschieden werden!“ Der Inhalt dieser Entscheidung ist oft wiederum die Setzung einer generellen Norm oder einer Situationsnorm, so Kelsen: „Die Gerichte wenden die generellen Rechtsnormen in der Weise an, dass sie individuelle, in ihrem Inhalt durch die generellen Normen bestimmte Normen setzen, in denen eine konkrete Sanktion: zivile Zwangsvollstreckung oder Strafe, statuiert ist .“5
Die Aufgabe, eine Situationsnorm aus der generellen Norm abzuleiten, stellt sich einerseits für den Normunterworfenen, andererseits für den Beurteiler des Handelnden . Ein Beurteiler ist jeder, der behauptet, dass ein Handeln einer Norm entspricht oder widerspricht . Dem Beurteiler kann die Befugnis zukommen, verbindlich zu entscheiden, ob ein Handelnder eine generelle Norm befolgt oder verletzt hat . Der Richter steht in beiden Positionen: Er selbst ist den Gesetzesnormen unterworfen, die er anzuwenden hat und beurteilt zugleich, wie andere von Rechts wegen handeln sollen oder hätten handeln sollen . 2 ausleGunG und suBsumtIon Eine generelle Norm befolgt oder missachtet man, indem man eine Situationsnorm befolgt oder missachtet, die aus dieser generellen Norm abgeleitet ist . Die Ableitung kann teleologisch oder logisch orientiert sein . Wenn die Norm zu erreichende oder vermeidende „Erfolge“ (Veränderungen, Zustände) bezeichnet, ist die teleologische Normableitung vorrangig . – Das soll hier nicht behandelt werden .6 – Wenn die Norm Handlungen beschreibt, wird der Schwerpunkt auf der Situationsbeschreibung und auf dem logischen Aspekt der Normableitung liegen . Diese Art der Ableitung wird in der juristischen Methodenlehre als Subsumtion des Falls unter die Normvoraussetzungen in der Form eines („juristischen“) Syllogismus dargestellt .7
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ihre Übertretung, Band 1, 2 . Auflage, Leipzig 1890, S . 96 ff ., Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, Göttingen 1954, S . 138 ff ., Philipps, Der Handlungsspielraum, Frankfurt/Main 1974, S . 25 ff ., Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, Berlin 2010, S . 20 . Das entspricht der Fallnorm bei Fikentscher, Methoden des Rechts, Band IV, Tübingen 1977, S . 202 . Zu teleologischen Normbeziehungen zwischen „Verursachungsnormen“ und „Handlungsnormen“ Ast, Normentheorie, S . 16 ff ., 23 ff . (vgl . auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, S . 97) . Dass die Unterscheidung von erfolgsorientierten und handlungsorientierten Normen für die Normentheorie zentral ist, zeigen ihre vielfältigen Interpretationen: als Zweck- und Konditionalprogramme bei Luhmann, als Prinzipien und Regeln bei Alexy und als Normen vom Sein-SollensTyp und Tun-Sollens-Typ bei von Wright. Vgl . Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Frankfurt am Main 1973, S . 101 ff ., 257 ff ., Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1986, S . 71 ff ., v. Wright, Ought to be – Ought to do, Festschrift Alchourrón/Bulygin, Berlin 1997, S . 427–435 . Hierzu etwa Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3 . Auflage, Heidelberg 1963, S . 8 ff ., Einführung, S . 52, 63, Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3 . Auflage, Berlin u . a . 1995, S . 91–98, Wróblewki, Legal Syllogism and Rationality of Judicial Decision, Rechtstheorie 1977, S . 33–46, Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S . 48 ff ., Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt am Main 1983, S . 273 ff ., ders., Die logische Analyse juristischer Entscheidungen, in: Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt/Main 1995, S . 19–29 (auch im ARSP Beiheft 14, 1980), Klug, Juristische
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Im Obersatz steht: „Immer wenn A, soll B folgen“, im Untersatz: „Jetzt A“ und als Schluss: „Also soll B folgen .“ Dieser Schluss ist kein Syllogismus im Aristotelischen Sinn . Er hat die Form des modus ponens . Beide Schlussformen unterscheiden sich dadurch, dass der Syllogismus ausschließlich allgemeine Aussagen enthält, während beim modus ponens eine Prämisse und der Schluss singuläre Urteile sein können .8 Bereits das klassische Beispiel für einen Syllogismus betrifft genau genommen einen Schluss im modus ponens: „Alle Menschen sind sterblich . (= Wenn x ein Mensch ist, ist x sterblich .)9 Sokrates ist ein Mensch . Sokrates ist sterblich .“ Ein typischer syllogistischer Schluss expliziert demgegenüber das Verhältnis von allgemeinen Begriffen oder allgemein beschriebenen Sachverhalten . Dessen Aussagen können auch konditional ausgedrückt werden . Ein Beispiel, Obersatz: „Alle Bäume (Mittelbegriff) haben einen Stamm (Oberbegriff) . (= Wenn x ein Baum ist, hat x einen Stamm .)“ Untersatz: „Alle Platanen (Unterbegriff) sind Bäume . (= Wenn x eine Platane ist, ist x ein Baum .)“ Schluss: „Alle Platanen haben einen Stamm .“(Wenn x eine Platane ist, hat x einen Stamm .)“ Zwischen Unterbegriff, Mittelbegriff und Oberbegriff besteht ein Art-Gattungs-Verhältnis und das klassenlogische Verhältnis der Implikation: Menge 1 (Platanen) ist in Menge 2 (Bäume) und beide sind in Menge 3 (Gegenstände mit einem Stamm) komplett enthalten . Aus den Prämissen ist der Schluss bloß explizierend . In der Gesetzesanwendung werden sowohl der modus barbara als auch der modus ponens relevant . Jeder verallgemeinerungsfähige Aspekt einer Fallentscheidung und somit jede Rechtsfrage ist als allgemeingültiger Schluss im modus barbara darstellbar, während im modus ponens die Tatsachenfrage beantwortet wird .10 Auslegung und Subsumtion lassen sich präzise voneinander trennen . Logik, 4 . Auflage, Berlin u . a . 1982, S . 48 ff ., Zippelius, Juristische Methodenlehre, 7 . Auflage, München 1999, § 16 I, Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, Tübingen 1999, S . 416 ff ., Bung, Subsumtion und Interpretation, Baden-Baden 2004, Bäcker, Der Syllogismus als Grundstruktur des juristischen Begründens?, Rechtstheorie 2009, S . 404, Joerden, Logik im Recht, 2 . Auflage, Berlin Heidelberg 2010, S . 336 ff . Aus der Literatur zur Ethik: Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt am Main 1972, S . 45–80 . 8 Der Versuch, den modus ponens logisch zu begründen, wird allerdings zirkulär, schön aufgezeigt von Lewis Carroll, What the Tortoise said to Achilles, Mind 1895, S . 278–280 . Die Literatur zur Logik versucht, den singulären Schluss als Fall des modus barbara darzustellen . Arnauld/Nicole, Die Kunst des Denkens, Darmstadt 1994 (Originalausgabe Amsterdam 1685), S . 172 f ., 197 (vgl . auch S . 177–179) mit dem Argument, dass die Einzelbegriffe als allgemeine fungieren, weil sie „mit ihrem ganzen Umfang genommen“ werden . Zum historischen Hintergrund des Problems Löffler, Einführung in die Logik, Stuttgart 2008, Rn . 419, 459 . Aus dem juristischen Schrifttum nur Engisch, Logische Studien, S . 8 (mit Bezug auf Kant), Einführung, S . 63 f ., Klug, Juristische Logik, S . 49, 60, Joerden, Logik im Recht, S . 337 (Die Ersetzung von „einige“ im modus darii durch „ein“ spezifiziert aber immer noch nicht, wer genau) . Andererseits zu einseitig Gröschner, Justizsyllogismus? Jurisprudenz!, in Lerch (Hrsg .), Die Sprache des Rechts, Band 2, Berlin 2005, S . 203, 204 f . 9 Diese konditionale Formulierung enthält die Allbeseitigungsregel, dass das, was für alle gilt, auch für einen gilt . In dieser Weise entspricht der Obersatz des modus barbara dem Obersatz des modus ponens . Vgl . Koch/Rüßmann Begründungslehre, S . 50, Alexy, Die logische Analyse, S . 22 f ., Bäcker, Der Syllogismus, S . 406–408, 415 f . 10 Zum Begriff der species facti, dem „Bild der Tatsachen“, dem Sachverhalt, von dem der Normanwender ausgeht, Hruschka, Die species facti, in: Schröder (Hrsg .), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik, Stuttgart 2011, S . 206 f .
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Die Auslegung – der Schluss im modus barbara – führt zur Gewinnung einer spezielleren, aber immer noch generellen Norm aus der generellen Norm des Gesetzes . Der Obersatz der Auslegung ist die Gesetzesprämisse . Zum Beispiel: „Alle Personen, die eine fremde bewegliche Sache wegnehmen etc . (es folgen weitere Voraussetzungen), sollen bestraft werden (= sind Personen, die bestraft werden sollen) .“ – Der Untersatz enthält die Auslegung: „Alle Personen, die ein Portemonnaie wegnehmen, sind solche, die eine bewegliche Sache wegnehmen .“ (Kurz: „Portemonnaies sind bewegliche Sachen .“) Als Schluss folgt: „Jeder, der ein fremdes Portemonnaie wegnimmt etc ., soll bestraft werden .“ Die zweite Prämisse dieses Schlusses (der Untersatz) enthält zunächst eine bloße Behauptung . Sie kann begründet werden, indem man den Mittelbegriff definiert und den Unterbegriff als mit der Definition übereinstimmend behauptet . Das lässt sich wiederum in der logischen Form eines Syllogismus darstellen . Die Definition ist ein Allsatz, der als Obersatz eines syllogistischen Schlusses eingesetzt werden kann, bei welchem Mittelbegriff und Oberbegriff bedeutungsmäßig vollständig äquivalent und deshalb vertauschbar sind (also eine identische Klasse bilden), im Beispiel: „Alle körperlichen Gegenstände (ggf . folgen hier weitere Merkmale) (Mittelbegriff) sind Sachen (Oberbegriff) . – Alle Portemonnaies (Unterbegriff) sind körperliche Gegenstände (Mittelbegriff) . – Alle Portemonnaies sind Sachen .“ Dieser Schlusssatz fungiert dann als Untersatz des übergeordneten Syllogismus, der auf diese Weise begründet wird . Eine solche Aneinanderreihung von syllogistischen Schlüssen nennt man Soriten, während das Enthymem dadurch gekennzeichnet ist, dass Begründungsschritte weggelassen werden, aber in syllogistischer Form expliziert werden können .11 An die Auslegung schließt die Subsumtion an . In Bezug auf einzelne Merkmale der Norm wird die conclusio des syllogistischen Schlusses zum Ausgangspunkt eines Schlusses der Form des modus ponens (mit zwei singulären Urteilen), im Beispiel: „Alle Portemonnaies sind Sachen . Was A an sich genommen hat, ist ein Portemonnaie . A hat eine Sache an sich genommen .“ Wenn der Sachverhalt unter sämtliche Merkmale der (ausgelegten) Norm subsumiert werden kann, wird die Situationsnorm angenommen: „Wenn jemand des Diebstahls schuldig ist, soll er bestraft werden . A ist des Diebstahls schuldig . A soll bestraft werden .“ Es wird somit nicht der konkret beschriebene Fall unter die generelle Norm „subsumiert“, sondern immer zumindest implizit eine allgemeingültige Auslegung der Norm behauptet, unter die subsumiert wird .12 Die Situationsbeschreibung einer generellen Norm kann, wie zum Beispiel ein Strafgesetz, an das Bestehen oder die Missachtung einer vorausgesetzten Norm anknüpfen . Das situationsbezogene Urteil im Untersatz des modus ponens ist dann nicht bloß beschreibend, sondern erfordert die Auslegung und Subsumtion unter diese vorausgesetzte Norm . Der Zivilrichter muss das Bestehen einer Pflicht bejahen,13 der Strafrichter ein Zurechnungsurteil fällen, also annehmen, dass der 11 Arnauld/Nicole, Die Kunst des Denkens, S . 171, 216 ff . 12 Dieser Auslegungsakt wird häufig bereits als „Subsumtion“ aufgefasst . Das verdeckt aber, dass es hierbei eben nicht um die Subsumtion des singulär gegebenen Falls unter die generelle Norm geht, sondern – mit Engisch – um die Subordination einer ganzen Fallgruppe (im Beispiel die Wegnahme von Portemonnaies) . 13 Paradigmatisch bereits die Klageformeln im alten Rom, etwa: „… quidquid Numerium Negidi-
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Angeklagte eine Verhaltensnorm missachtet hat .14 Das Erfordernis der Normwidrigkeit ist dann wesentliches Definitionsmerkmal für scheinbar rein beschreibende Begriffe . Bestraft wird nur das normwidrige „Verursachen“, „Unterlassen des Verhinderns“, die normwidrige „Wegnahme“ oder „Täuschung“ .15 Schließlich ist zu fragen, ob es zutreffend ist und was es nutzt, mittels der beiden logischen Figuren des modus barbara und des modus ponens die Normanwendung darzustellen .16 Selbstverständlich ist zunächst, dass die Schlussformen nicht zu neuen Erkenntnissen führen . Die Fallentscheidung steckt in den Prämissen, nicht im Schluss . Die Schlussformen garantieren sowohl in Bezug auf Aussagesätze als auch auf Normen nur, dass die Folgerung aus den Prämissen gültig (formal korrekt) ist, nicht auch, dass das Ergebnis sachlich zutreffend ist . Sachlich zutreffend heißt im Fall von Aussagesätzen, dass sie als wahr gelten (anerkannt werden), im Fall von Normen etwa, dass sie als Recht oder allgemeiner, dass sie als von einem Normgeber gesetzt gelten .17 Die Wahrheit bzw . Geltung der Schlusssätze hängt allein von der Wahrheit oder Geltung der Prämissen ab . In der zutreffenden Setzung der Prämissen liegt die Schwierigkeit, wenn es heißt, eine generelle Norm anzuwenden . Die Explikation der Schlussformen ist deshalb von Nutzen, weil sie aufzeigt, worauf man sich festlegt, wenn man die Norm in der einen oder anderen Weise versteht . Der Auslegungsschluss – der Allsatz im modus barbara – zeigt die Konsequenz auf, die der Normanwender ziehen muss . Er muss behaupten, dass die gewählte Auslegung der Norm generalisierbar ist und dass er jeden Fall, der dem gegebenen bis auf die zeitlich-örtliche, sachliche und persönliche Individualisierung gleicht, in gleicher Weise entscheiden würde . Der Schluss im modus barbara statuiert: „Alle Fälle mit den gegebenen allgemeinen Merkmalen sind Fälle, auf welche die Situationsbeschreibung der Norm (bzw . das einzelne Merkmal X) zutrifft .“ Diese Funktion kann man als die Verallgemeinerungskonsequenz der Normanwendung bezeichnen . Der Subsumtionsschluss im modus ponens bedeutet hingegen, dass sich der Normanwender auch im gegebenen Fall an die Norm bindet: „Im Einzelfall trifft die Situationsbeschreibung zu . Somit gilt die Normanordnung .“ Diese Funktion kann man als Einzelfallkonsequenz bezeichnen . Auf die Frage der Einzelfallkonsequenz wird das letzte Kapitel zurückkommen . Zunächst geht es um die Berücksichtigung vorgegebener Normen bei der Auslegung sowie um die Frage, wie die Auslegung Besonderheiten berücksichtigen kann, die ein zu entscheidender Fall aufweist .
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um Aulo Agerio dare facere oportet ex fide bona, eius, iudex, Numerium Negidium Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito .“ Zum Begriff der Zurechnung Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, Berlin 2010, S . 55 . Vgl . Engisch, Einführung, S . 56 f . Die vielfältigen Positionen zur Frage der Anwendbarkeit der formalen Logik auf Normsätze hat Holländer herausgearbeitet, Rechtnorm, Logik und Wahrheitswerte, Baden-Baden 1993, S . 16– 55 . Vgl . auch Engisch, Einführung, S . 50 f ., Alexy, logische Analyse, S . 21 f ., Bung, Subsumtion, S . 100 ff . Bereits Arnauld/Nicole benutzen ohne weiteres Normenbeispiele (etwa: „Alle Könige sind Personen, die man von Gesetzes wegen ehren soll“), Die Kunst des Denkens, S . 173, 196 f ., 218 . Dem liegt die Position zugrunde, dass eine Aussage dann wahr „ist“, wenn sie als wahr gilt (anerkannt wird), weil ein absoluter Begriff der Wahrheit nur als eine Art regulatives Prinzip fungiert, an dem sich die Anerkennung als wahr orientiert .
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3 arten der ausleGunG Bevor man im Weg der Subsumtion vom gegebenen Sachverhalt auf die Situationsnorm schließen kann, sind sämtliche normative Prämissen zu ermitteln, die für die Gewinnung der Situationsnorm erforderlich sind . Das ist die Aufgabe der Auslegung der generellen Norm . Ergebnis der Auslegung ist eine generelle Norm, die mit Blick auf den zu entscheidenden Fall so weit wie möglich inhaltlich angereichert und konkretisiert ist . Die Auslegung hat in einem ersten Schritt zunächst vorgegebene Normen zu berücksichtigen, die der auszulegenden Norm zuzuordnen sind, und zwar nach zwei Richtungen . Es gibt eine horizontale und eine vertikale Auslegung der Norm . Während sich die vertikale Auslegung an eine Voraussetzung anschließt, welche die Norm enthält, berücksichtigt die horizontale Auslegung Voraussetzungen, die in der Norm nicht benannt sind . Normen, die einzelne Merkmale spezifizieren, sind der auszulegenden Norm unterzuordnen . Normen, die weitere Voraussetzungen und Ausnahmen statuieren, stehen mit ihr auf der gleichen Stufe . So muss man bei der Anwendung eines Strafgesetzes im Weg der horizontalen Auslegung berücksichtigen, dass das bezeichnete Handeln rechtwidrig und schuldhaft sein muss . Für die Frage, ob ein Vindikationsanspruch nach § 985 BGB besteht, muss man untersuchen, ob nicht ein Recht zum Besitz besteht (§ 986 BGB) . Die gleichstufigen Normen, die in der horizontalen Auslegung berücksichtigt werden, können mit der auszulegenden Norm zusammengefügt werden, sodass sich eine Gesamtnorm ergibt, die sämtliche positiven wie negativen Normkonditionen enthält . Insoweit wird häufig zwischen vollständigen und unvollständigen Normen unterschieden .18 Ob ein Merkmal in der einen generellen Norm enthalten ist oder in einer anderen benannt wird, ob es also zunächst in einer horizontalen Auslegung zu ermitteln oder nur vertikal auszulegen ist, ist veränderbar und wird pragmatisch gehandhabt . Die vertikale Auslegung schließt an ein Merkmal an, das in der generellen Norm benannt ist . Ihr Ergebnis ist eine Exemplifikation und eventuell eine Definition dieses Merkmals . Wie oben gezeigt, ist die Definition ein Allsatz mit äquivalenten Termen . Die Definition substituiert das auszulegende Merkmal deshalb vollständig: „[Alle] X sind Y und [alle] Y sind X .“ Die Exemplifikation hingegen benennt eine Fallgruppe, die dem auszulegenden Begriff zugeordnet wird: „Alle X sind Y (Jedes Portemonnaie ist eine Sache)“ – ohne dass alle Y X sind .19 Die exemplifizierende Auslegung führt deshalb im Schluss des modus barbara zu einer Norm, die einen geringeren Generalisierungsgrad hat als die auszulegende Norm (die also weniger umfassend ist als diese) . Während im obigen Beispiel der definierende Term „kör18 Etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, S . 78 ff ., 93, Fikentscher, a . a . O ., S . 244–247, Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtstheorie, 3 . Auflage, Köln München (2008), S . 231 f . 19 Vgl . Zippelius, Methodenlehre, § 12 I c . Hinter dieser Unterscheidung steht die Unterscheidung von intensionaler und extensionaler Definition . Eine extensionale Definition müsste alle Anwendungsfälle eines Begriffs benennen, was schwierig und unnötig ist . Es interessiert immer nur ein Anwendungsfall . Deshalb ist hier von Exemplifikation des Begriffs die Rede . Engisch spricht insoweit von der Subordination eines Begriffs unter den Begriff, der in der generellen Norm verwendet wird, Einführung S . 63, Fn . 25 . Vgl . auch Lege, Rechtsbegriffe, Ihre Logik, ihre Bedeutung, ihre Richtigkeit, GreifRecht 2006, S . 6 f .
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perliche Gegenstände“ den Begriff der „Sache“ vollständig substituiert, schränkt der exemplifizierende Term „Portemonnaie“ den Gegenstandsbereich ein . Sowohl die Definition als auch die Exemplifikation führen zur Konkretisierung der generellen Norm, das heißt zur Ableitung von konkreteren, aber immer noch generellen Normen .20 Die Definition konkretisiert, indem sie die Grenzen des Begriffs unter Zuhilfenahme anderer Begriffe möglichst präzise beschreibt und festlegt; die Exemplifikation, indem sie die Norm auf den zu beurteilenden Fall hin entwickelt . Aus der großen Menge konkretisierender Normen werden im Prozess der Normanwendung nur diejenigen Normen herausgefiltert, die für den Fall relevant sind . Hierfür hat Engisch das Bild vom Hin- und Herwandern des Blicks gefunden .21 Man konkretisiert die Norm auf den Einzelfall hin . Vorgegebene Definitionen und konkretisierenden Exemplifikationen sind entweder im Gesetz selbst enthalten (z . B . die Rechtfertigungsgründe im Hinblick auf das Erfordernis der Rechtswidrigkeit oder die Entstehungsgründe für das Eigentum im Hinblick auf die Definition des Eigentums), oder sie haben in der Auslegungsgeschichte der Norm rechtliche Anerkennung gefunden, etwa in der Form von höchstrichterlich anerkannten Normauslegungen . In gewissem Sinn handelt es sich einerseits um eine systematische Auslegung, andererseits um eine historische Auslegung der Norm . Wird eine Rechtsnorm ausgelegt, muss man behaupten können, dass auch die auf den Einzelfall hin konkretisierte generelle Norm eine Rechtsnorm ist – in gleicher Weise wie die generelle Norm, auf die sie sich bezieht, und wie die Situationsnorm, die das Ergebnis der Subsumtion ist .22 Die Definitionen und Exemplifikationen sind nicht beliebige Sprachverwendungsregeln, sondern sind von Rechts wegen verbindlich . Das wird deutlich, wenn ein Gericht oder Rechtsanwender die anerkannten konkretisierenden Normen nicht beachtet . Dann wird die Auslegung der Norm nicht akzeptiert und gegebenenfalls von Obergerichten korrigiert . So resultiert aus der Definition des Merkmals der Wegnahme im Diebstahlstatbestand für den Normanwender die „Definitionsnorm“23, dass die Wegnahme zu bejahen ist, wenn jemand den Gewahrsam an einer fremden Sache gebrochen hat, sowie die exemplifizierende konkretisierte Norm, dass, wer das Portemonnaie eines anderen an sich nimmt und in die eigene Jackentasche steckt, wegen Diebstahls bestraft werden soll .
20 Alexy, Th . d . jur . Arg ., S . 276–280, Zippelius, Methodenlehre, § 12 I c, § 16 II . 21 Engisch, Studien, S . 15, Einführung, Kapitel IV, Fn . 4, S . 74 . Hierzu Alexy, Th . d . jur . Arg ., S . 281 f ., Hruschka, Die species facti, S . 213 . Kritisch Upmeier, Fakten im Recht, Baden-Baden 2010, S . 24–71 . 22 Vgl . Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Auflage, S . 243 f . Während häufig wohl nur die Gesetzesnormen als Rechtnormen bewusst werden, tendiert Fikentscher zum anderen Extrem: Nur die Fallnormen seien geltende Rechtsnormen, Methoden, S . 244–247 . 23 Bierling spricht insoweit von begriffsentwickelnden Rechtssätzen, Juristische Prinzipienlehre, Band 1, Tübingen 1894, S . 88–90 .
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4 reaGIeren auf dIfferenzen Die Berücksichtigung von vorgegebenen generellen Normen im Weg der horizontalen oder vertikalen Auslegung ist die erste Stufe der Anwendung einer generellen Norm . Je nachdem, ob man höchstrichterliche oder sonst allgemein anerkannte Auslegungen mit einbezieht oder nicht, ist diese Auslegungsart mehr oder weniger weitreichend . – Das Gleichheitsgebot fordert insoweit bloß, dass sämtliche gegebenen generellen Normen zu berücksichtigen sind .24 Das mag trivial erscheinen, ist aber eine anspruchsvolle Aufgabe, gerade in einem sehr komplexen Normenzusammenhang, wie es das Recht ist . Sie erfordert, die gegebenen gleichstufigen generellen Normen und die einschlägigen konkretisierenden Normen zu kennen oder zu ermitteln und sie mit dem Sachverhalt überhaupt erst assoziativ in Verbindung zu bringen . Andernfalls wendet man die Norm nicht richtig an .25 In einem zweiten Schritt muss die Normauslegung die generelle Norm zumindest implizit so weit wie möglich konkretisieren . Wie gesagt, bejaht oder verneint die Subsumtion lediglich, dass der Sachverhalt gegeben ist, der in der am weitesten konkretisierenden Norm beschrieben ist . Alle vorausgehenden Annahmen sind generalisierbar und damit Auslegung . Man behauptet zumindest implizit in jeder Subsumtion eines Sachverhalts unter eine generelle Norm eine konkretisierende (generelle) Norm als Ergebnis einer exemplifizierenden Auslegung . Das Gleichheitsgebot bedeutet dann, dass es möglich sein muss, diese generalisierbaren Aspekte eines Falls als allgemeingültige Auslegung zu behaupten und dass man sich selbst an diese Auslegung bindet . – Der Normanwender muss die oben so genannte Verallgemeinerungskonsequenz ziehen . Jeder konkrete Fall weist im Hinblick auf den Sachverhalt, der in einer generellen Norm beschriebenen ist, Differenzen (Unterschiede, Besonderheiten) auf . Eine konkrete Situationsbeschreibung ist immer reicher an potentiell generalisierbaren Merkmalen als die Situationsbeschreibung einer gegebenen generellen Norm . Diese Differenzen werden in der Auslegung entweder als relevant oder als irrelevant eingestuft . So enthält bereits jeder Gattungsbegriff (im obigen Beispiel: Portemonnaie) gegenüber dem Artbegriff (Sache) zusätzliche Merkmale . Er ist ein reicherer und in gewissem Sinn umfangreicherer Begriff als der Artbegriff . Wird die Art-GattungsZuordnung bejaht, wird die Differenz negiert und als irrelevant erklärt . Gelingt die Zuordnung nicht, besteht eine relevante Differenz . Die Begriffe der generellen Norm und deren Definition bestimmen somit in Bezug auf diese Norm über die Relevanz und Irrelevanz von Differenzen, die ein Fall aufweist – und damit selbstverständlich auch über die Gleichheit und Ungleichheit eines Falls bzw . eines Fallaspekts in Bezug auf Aspekte der Situationsbeschreibung der generellen Norm . Der zweite Schritt der Auslegung kann somit verstanden werden als ein Reagieren auf Differenzen .Bei der Rechtsanwendung ist es möglich, Differenzen, die in den vorgegebenen Konkretisierungen noch nicht beachtet sind, als beachtlich zu erklären . Wenn die Relevanz einer Differenz in Frage steht, ist es nötig, das Urteil über deren Relevanz oder Irrelevanz zu begründen . Man behauptet damit ja zugleich eine neue, 24 Zum Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 2 . Auflage, Wien 1975, S . 26 f ., Alexy, Th . d . Grundrechte, S . 357 f . 25 Auf die Normanwendung beziehen sich somit Kenntnis- und Nachforschungsgebote . Hierzu allgemein Ast, Normentheorie, S 44 ff .
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konkretisierende Norm . Diese Norm gewinnt man quasi induktiv, vom Fall ausgehend .26 Auf dieser Stufe der Rechtsanwendung trifft sich die Rechtspraxis, die von generellen Gesetzesnormen ausgeht mit einer fallrechtlichen Praxis . Während man vom Gesetz ausgehend konkretisiert, muss man von einer Fallentscheidung und damit einer Situationsnorm ausgehend generalisieren .27 Auch hierbei sind Differenzen der Fälle für relevant oder irrelevant einzustufen . Dass trotz gegebener Gleichheit von Fällen auf Differenzen zu achten ist, ist nicht unbedingt eine Besonderheit des Rechtssystems . Wenn generelle Normen gegeben sind, ist der Normanwender häufig aufgefordert, für relevante Differenzen sensibel zu sein und die Norm nicht stur durchzuhalten . Freilich kann sich derjenige, der eine generelle Norm dem Wortlaut gemäß anwendet, immer auf den Wortlaut berufen und wird sozusagen von der Norm geschützt . Derjenige hingegen, der darüber hinaus Differenzen für relevant erachtet, die noch nicht in den Normen oder den anerkannten Normkonkretisierungen vorgesehen sind, geht ein gewisses Wagnis ein . Er macht vielleicht einen Fehler, macht es aber unter Umständen besonders gut . In jedem Fall setzt sich eine insoweit ungleiche Entscheidung unter ein Rechtfertigungserfordernis . Die Berufung auf die generelle Norm selbst genügt dann nicht mehr .28 5 dIe relevanz eIner dIfferenz Für den Normanwender gibt es vier Möglichkeiten, eine im Fall entdeckte Differenz einzuordnen . Die Differenz kann zunächst entweder („vertikal“) einem Merkmal der generellen Norm untergeordnet werden oder nicht . In beiden Fällen kann die Relevanz der Differenz bejaht oder verneint werden . Das kann das Beispiel der Auslegung des Irrtumsmerkmals im Betrugstatbestand (§ 263 StGB) verdeutlichen . Die Norm ist insoweit zunächst durch die anerkannte Definition zu konkretisieren, dass Irrtum jede Fehlvorstellung über Tatsachen sei .29 Im zu beurteilenden Fall wird nun die Besonderheit erkannt, dass jemand die Wahrheit der Behauptungen des Täuschenden anzweifelt, sich aber auf das Geschäft einlässt . Hier hat man zu beurteilen, ob diese Konstellation überhaupt noch als Fall eines Irrtums erfasst werden kann und ob – so oder so – die Differenz zu den Fällen des Irrtums relevant ist oder nicht . Es sind somit vier Positionen denkbar: Man kann annehmen, dass der Zweifelnde sich nicht irrt, und dann entweder (1) die Anwendung der Norm aus diesem Grund ablehnen – oder (2) gleichwohl annehmen . Dann 26 Vgl ., im Anschluss an Peirce, Lege, Pragmatismus, S 416 ff ., 444 ff ., ders., Rechtsbegriffe, S . 4 . f ., ders., Was Juristen wirklich tun, in: Rechtsphilosophie im 21 . Jahrhundert, S . 207, 213 ff . (Missverständlich bei diesem aber die Deutung von juristischen Definitionen .) Zur Abduktion bei Peirce auch Schulz, Regel und Fall, in Feldner/Forgó (Hrsg .), Norm und Entscheidung, Wien 2000, S . 153 . 27 Vgl . etwa Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1993, S . 349–351 m . w . N . Zur fallorientierten Methodik der römischen Juristen Benke, In sola prudentium interpretatione, in Feldner/Forgó, Norm und Entscheidung, S . 1–85 . 28 Vgl . mit Blick auf die Verwaltung Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S . 170: Das konditionale Entscheidungsprogramm entlastet vom Erfordernis, Gründe, für eine Entscheidung anzugeben und wirkt einer Verselbständigung der „Untergebenen“ entgegen . 29 Schönke/Schröder/Cramer/Perron, StGB, 28 . Auflage, München 2010, § 263 Rn .33 f .
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zieht man eine Analogie zu der Norm . Demgegenüber kann man den Zweifelnden als Irrenden ansehen und auf dem Boden dieser Meinung (3) die Differenz, dass der Irrende zweifelt, negieren und die Normvoraussetzung bejahen oder (4) die Differenz für relevant erachten und die Normvoraussetzung verneinen . Dann würde man eine (teleologische) Reduktion der Norm annehmen .30 Die herrschende Auslegung im Strafrecht bejaht den Irrtum und verneint die Relevanz der Differenz (Variante 3) . – Diese Auslegung ist freilich mit der oben angeführten Definition nicht mehr zu vereinbaren . Wer zweifelt, unterliegt nicht einer Fehlvorstellung, weil das die Überzeugung vom Gegebensein eines Sachverhalts voraussetzt . Man kann dann entweder diese Unvereinbarkeit einfach leugnen31 oder die Definition (und damit die generelle Norm) an den neu entdeckten Fall anpassen . Der Begriff des Irrtums könnte demnach dadurch definiert werden, dass jemand in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt eine Vorstellung entwickelt hat, aber über den tatsächlichen Sachverhalt in Unkenntnis ist . Das Beispiel zeigt, dass sich die Bedeutung und Definition der Begriffe, die eine Norm verwendet, im Lauf der Auslegungsgeschichte autonom und abweichend vom herkömmlichen Sprachgebrauch entwickeln können und dass sie erst aus den konkretisierenden Normen ersichtlich werden, die der auszulegenden Norm zuzuordnen sind . Wegen des Gesetzlichkeitsprinzips sollte sich das Strafrecht freilich an den konventionellen, allgemein verständlichen Wortgebrauch halten .32 Konsequent wäre es deshalb, das Vorliegen eines Irrtums zu verneinen und eine Analogie nicht zuzulassen .33 Weil man nur mit dem Wortsinn argumentiert, wirkt diese Auffassung aber formal . Das Verbot der Analogie wird als ein Gebot der Ungerechtigkeit erscheinen, weil man Differenzen für relevant erklären muss, die es nach den maßgeblichen Begründungserwägungen der Norm nicht sind . Man behandelt in relevanter Hinsicht Gleiches ungleich .34 Was sind also die Argumente, die ein Relevanzurteil und damit eine konkretisierende Norm als Ergebnis der Auslegung materiell begründen können und die somit auch das Einzelfallurteil sozusagen extern rechtfertigen?35 In der klassischen Unterscheidung sind es Argumente aus dem Wortlaut, der Systematik, der Geschichte und dem Zweck des Gesetzes . Im Beispielsfall ist es etwa der Gedanke, dass ein Strafbe30 Die Reduktion könnte man auch durch eine (Neu-)Definition des Bezugsbegriffs und damit als einschränkende Begriffsauslegung darstellen . Die Definition enthält dann einen negativen Term: „x ist immer gegeben, wenn y gegeben ist, außer wenn auch z gegeben ist .“ Ein Beispiel hierfür ist die Definition der Heimtücke (§ 211 StGB) durch das Erfordernis der „feindlichen Willensrichtung“, welche nur dadurch definiert wird, dass sie nicht gegeben ist, wenn der Täter zum Besten des Opfers handeln will (Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rn . 23, 25a) . 31 Arzt/Weber, Strafrecht BT, Bielefeld 2000, § 20/65, LK-Tiedemann, StGB, 11 . Auflage 2005, § 263 Rn . 86 . 32 Den konventionellen Gebrauch des Begriffs „Irrtum“ haben mit empirischen Mitteln untersucht Lorenz/Pietzker/Pietzker, NStZ 2005, S . 429–434 . Zum Gesetzlichkeitsprinzip Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009, S . 253–274 . 33 Zuletzt Amelung, Der Zweifel als Irrtum – Ein Irrtum zum verzweifeln, Festschrift für Volker Krey, Stuttgart 2010, S . 1 ff . m . w . N . 34 Zur Materialisierungstendenz im Strafrecht Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, ZStW 115 (2003), S . 638, 645 ff . 35 Im Sinn von Alexy, Th . d . jur . Arg ., S . 273, 283–348, hierzu auch Bäcker, Der Syllogismus, S . 409–414 . Intern (formal) gerechtfertigt wird das Urteil (die Situationsnorm) dadurch, dass man die konkretisierenden Normen und die Subsumtion unter diese Normen expliziert .
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dürfnis nicht besteht, weil der Geschädigte sich selbst hätte schützen können, indem er seinen Zweifeln nachgeht und weil er somit den entstandenen Schaden selbst zu verantworten hat . Die Gegenmeinung behauptet genau das Gegenteil, dass der Geschädigte schutzwürdig bleibe und dass es ungerecht sei, wenn ihm entweder sein größeres Misstrauen oder seine Leichtgläubigkeit zum Nachteil bzw . dem Betrüger zum Vorteil gereichen soll .36 Hier sind es also spezifisch normative und teleologische Erwägungen, die das Urteil tragen, dass eine Differenz relevant ist oder nicht . Durch die Annahme einer Analogie oder Reduktion kann die Normanwendung die Norm erweitern, während die Definition und Exemplifikation immer normimmanent sind . Sie substituieren das Merkmal, auf das sie sich beziehen . Analogie und Reduktion hingegen erweitern die Norm, indem sie eine weitere positive oder negative Normkondition setzen . Diese Bedingungen sind in späteren Fällen in einer horizontalen Auslegung zu berücksichtigen . Im Fall der Analogie ist das Ergebnis: „Wenn A oder wenn C, soll B folgen .“ Eine Reduktion führt zur Annahme einer negativen Bedingung: „Wenn A außer wenn C, soll B folgen .“ Die Unterscheidung von merkmalsimmanenter (vertikaler) und normerweiternder Auslegung per Analogie oder Reduktion hängt dabei von den gegebenen konkretisierenden Definitionen ab . 6 eInzelfallkonsequenz versus defeasIBIlIty Wenn eine Analogie oder Reduktion der Norm noch nicht anerkannt ist, sondern vom Normanwender eigenständig behauptet und begründet wird, fragt sich, wie diese Möglichkeit im Subsumtionsmodell darstellbar ist . Es scheint doch, als ob man, von einer anerkannten konkretisierenden Norm ausgehend, gerade den Subsumtionsschluss verneint, im Fall der Reduktion: „Jetzt zwar A . Gleichwohl soll nicht B folgen“, im Fall der Analogie: „Jetzt zwar nicht A, gleichwohl soll B folgen .“ Somit stellt sich die oben angesprochene Frage der Einzelfallkonsequenz und der Anwendbarkeit des modus ponens . Diese Frage wird in der aktuellen Diskussion, die auf H .L .A . Hart zurückgeht, unter das Schlagwort der „defeasibility“ von Normen gebracht .37 Offenbar lassen es (Rechts-)normen zu, dass Ausnahmen zugestanden werden . Hare spricht davon, dass man die gegebene Norm „bricht“ und eine neue (modifizierte) Norm annimmt, aus der man dann schließt .38 Toulmin bestreitet deshalb, dass die Rechtsanwendung in einer logisch zwingenden Folgerung der Situationsnorm aus gegebenen generellen Normen mündet: „Das ´alle´ bzw . ´jedes´ des Logikers bringt unglückliche Erwartungen mit sich, die die in der Praxis gelegentlich enttäuscht werden . Sogar die allgemeinsten Schlussregeln innerhalb ethischer
36 Schönke/Schröder/Cramer/Perron, StGB, 28 . Auflage, München 2010, § 263 Rn . 40, Wessels/ Hillenkamp, Strafrecht BT II, 30 . Auflage, Heidelberg 2007, Rn . 510 . 37 Zur Übersicht über Entwicklung und Stand der Diskussion Bäcker, Der Syllogismus, S . 421–424, ders ., Rules, Principles, and Defeasibility, in Borowski (Hrsg .): On the Nature of Legal Principles, ARSP-Beiheft 119 (2010), S . 81–85 . Sofern als Beispiel schon anerkannte Ausnahmen genannt werden, handelt es sich bloß um eine horizontale Auslegung der Norm . Interessant sind nur die noch nicht anerkannten Ausnahmen . 38 Hare, Sprache der Moral, S . 71 ff ., 79 f .
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Die Frage, wie sich die strikte Gesetzesanwendung mit der Berücksichtigung von Besonderheiten des Einzelfalls verträgt, beschäftigt die Rechtsphilosophie und Methodenlehre seit jeher . Platon räumt den – gut ausgebildeten – Richtern eigene Entscheidungsbefugnisse ein, weil das Gesetz nicht das für alle Fälle Beste und Gerechteste erfassen könne .40 Aristoteles fragt, wie sich die „Epikeia“ (Billigkeit, Equity) mit dem Gesetzesrecht verträgt und sieht darin bereits ein logisch-begriffliches Problem: „Einerseits loben wir das Billige … andererseits erscheint es, wenn man sich an die Logik hält, als ungereimt, dass das Billige Lob verdienen soll und doch vom Recht verschieden sein soll … Die Schwierigkeit rührt … daher, dass das Billige zwar ein Recht ist, aber nicht im Sinne des gesetzlichen Rechts, sondern als eine Korrektur desselben … Wenn demnach das Gesetz allgemein spricht, aber in concreto ein Fall eintritt, der in der allgemeinen Bestimmung nicht einbegriffen ist, so ist es, insofern der Gesetzgeber diesen Fall außer acht lässt und, allgemein sprechend, gefehlt hat, richtig gehandelt, das Versäumte zu verbessern … Daher ist das Billige ein Recht und besser als ein gewisses Recht, aber nicht besser als das Recht schlechthin, sondern als jenes Recht, das mangelhaft ist, weil es keinen Unterschied kennt .“41
Wie kann die Möglichkeit der Korrektur mit dem Subsumtionsschluss vereinbart werden? Lässt sich das nur als ein Bruch des Gesetzes darstellen? Die Lösung dieses Problems kann nur darin liegen, die Ausnahmemöglichkeit in den Prämissen des Subsumtionsschlusses unterzubringen . Man muss eine bereits anerkannte Prämisse annehmen, die es dem Rechtsanwender erlaubt, eine eigene Auslegung zu postulieren . Kelsen ging insoweit von einer Ermächtigungsnorm aus .42 Eine solche sekundäre Norm (im Sinne Harts) betrifft aber nicht den Inhalt der Entscheidung, sondern bestimmt nur die Befugnis zur Entscheidung . Sie gehört deshalb nicht in die Prämissenklasse, die in der Auslegung einer generellen Norm zu beachten ist . Die neue Prämisse muss auf den Inhalt der Entscheidung abzielen . Sie kann dabei aber nur sehr unbestimmt sein, wie eine Leerstelle . 39 Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 2 . Auflage, Weinheim 1996, S . 106 f . Im Anschluss hieran Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1986, S . 19–28; ders., Theorie der juristischen Argumentation, in Brugger u . a ., Rechtsphilosophie im 21 . Jahrhundert, Frankfurt/ Main 2008, S . 233, 242 ff . Im Widerspruch zur syllogistischen Rekonstruktion der Rechtsanwendung sehen sich auch neuere argumentationstheoretische Untersuchungen, etwa Christensen/Sokolowski, Die Krise der Kommunikation, in: Kent, Die Sprache des Rechts, Band 2, S . 105, 127 ff ., Schlieffen, Wie Juristen begründen, JZ 2011, S . 109, 115 . In der hier entwickelten Perspektive ist diese Entgegensetzung unnötig . 40 Platon, Politikos, 294a–301a, Nomoi IX, 875d–876e . Hierzu und zur teleologischen Auslegung bei Platon Michelakis, Platons Lehre von der Anwendung des Gesetzes und der Begriff der Billigkeit bei Aristoteles, München 1953, S . 5–27 . 41 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kap . 14, 1137b (zitiert aus Hamburg 1985) . Hierzu Stroux, Summum ius, summa iniuria, in ders., Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik, Potsdam 1949, S . 18 f ., Zahnd, The Application of Universal Laws to Particular Cases: A Defence of Equity in Aristotelianism and Anglo-American Law, 59 Law & Contemporary Problems 1996, S . 263–295, auch in Brooks/Murphy (Hrsg .), Aristotle and Modern Law, Aldershot/Burlington 2007, S . 57–89 . 42 Kelsen, Reine Rechtslehre, S . 249 f . Die Ermächtigung ist im Verbot der Justizverweigerung impliziert, das erfordert, gegebenenfalls auch ohne eindeutige Gesetzesprämisse zu entscheiden, hierzu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S . 306 f ., 310 ff .
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Diese Prämisse besteht einfach in der Voraussetzung, dass der Fall keine relevanten Besonderheiten aufweist . Sie erfordert als Untersatz des Subsumtionsschlusses ein zumindest implizites Urteil darüber, ob der gegebene Fall relevante Differenzen aufweist, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen . Dementsprechend steht in der Subsumtion der Untersatz: „Jetzt A, die Besonderheiten des Falls sind irrelevant“ und der Schluss: „Also soll die Entscheidung B folgen .“ Im Fall einer Reduktion der generellen Norm lautet das Urteil: „Zwar ist A gegeben, es besteht aber eine relevante Differenz, deshalb soll gleichwohl nicht B folgen .“ – und im Fall einer Analogie: „Jetzt liegt zwar A nicht vor, diese Differenz ist aber nicht relevant, es soll trotzdem B entschieden werden .“ Man könnte auch einen Regelvorbehalt oder eine ceteris paribus- Klausel in die generellen Normen hineinlesen, einerseits: „Wenn A gegeben ist, soll in der Regel B entschieden werden“ und andererseits: „In der Regel soll nur wenn A gegeben ist, B entschieden werden .“ Der somit anzunehmende Untersatz, dass relevante Differenzen (nicht) bestehen oder dass der Regelfall (nicht) vorliegt, impliziert einen Satz von der Form: „Wenn C, besteht eine (bzw . keine) relevante Abweichung vom Regelfall“ Weil „C“ ein generalisierbarer Sachverhalt sein muss, behauptet man mit diesem Satz eine neue generelle Norm im Hinblick auf die künftige Anwendung der Norm und muss diese Norm materiell begründen . Gegen diese Lösung könnten die Kritiker der formal-logischen Rekonstruktion der Gesetzesanwendung einen Einwand von Brandom anführen: „Ich würde geltend machen, dass ceteris-paribus-Klauseln als expliziter Hinweis auf die Nichtmonotonizität einer Inferenz verstanden werden sollten und nicht als ein Geist aus der Maschine, der ihre Nichtmonotonizität auf wundersame Weise … entfernt . Materiale Richtigkeiten des praktischen Begründens sind, ebenso wie ihre theoretischen Genossen, nichtmonotonisch .“43
Zum Beweis dessen führt Brandom Beispiele enthymematischer Verkürzungen der Begründung an, die einen Rückschluss von einer Handlungssituation auf eine Norm betreffen, etwa: „Ich bin ein Bankangestellter auf dem Weg zur Arbeit, also soll ich eine Krawatte tragen .“44 Wendet man hierauf Brandoms eigene Kriterien an, ist diese Folgerung jedoch monotonisch: Der Schluss vom gegebenen Sachverhalt auf die Situationsnorm („von p auf q“) ist nur dann richtig, wenn der Schluss von beidem („p & q“) auf die generelle Norm („r“) richtig ist .45 Brandoms weitere Beweisführung betrifft hingegen teleologische Normenbeziehungen, etwa zwischen dem Verbot, jemandem zu schaden und darauf bezogenen Handlungsverboten . Diese sind nicht Gegenstand der hiesigen Erörterung .46 Der Widerspruch von Einzelfallkonsequenz und Defeasibility löst sich somit auf, wenn man das Gebot, Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, in die Gesetzesprämisse hineinliest . Die Forderung, auf relevante Differenzen zu achten, übergreift indes einzelne Normen und ist als allgemeines Gerechtigkeitsgebot for43 Brandom, Begründen und Begreifen, Frankfurt am Main 2001, S . 117 . Zur Unterscheidung formaler und materialer Inferenzen auf S . 113 f . Der Begriff der nichtmonotonen Logik bezeichnet die Änderung in der Prämissenmenge . Hierzu etwa Alchourrón/Gärdenfors/Makinson, On the Logic of Theory Change, The Journal of Symbolic Logic 1985, S . 510–530 . 44 Brandom, S . 112, 119 f . Um das gegebene Beispiel nicht mit dem Problem der Progonose zu belasten, ob man sich wirklich wo verhalten wird, („werd´ ich“), ist in der Paraphrase deutlicher normativ formuliert . 45 Brandom, S . 115 . 46 Siehe oben, bei Fn . 6 .
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mulierbar, relevant Gleiches gleich zu behandeln .47 Dieses Gebot kann in unterschiedlicher Weise akzentuiert werden . Es kann einerseits so verstanden werden, dass nur relevant Gleiches gleich (und deshalb relevant Ungleiches ungleich) zu behandeln ist . Dann zielt es auf Differenzierungen oder eine Reduktion der Norm . Darüber hinaus (aus der Sicht der Rechtsanwendung) geht die Forderung, alles relevant Gleiche gleich zu behandeln . Diese Forderung zielt auf eine Analogie zu gegebenen Normen . Das Gleiche und Ungleiche wird dabei nicht nur durch vorgegebene Normen konstituiert, sondern muss in der Rechtsanwendung erst entdeckt werden . Das hierfür erforderliche Relevanzurteil muss der Normanwender selbst begründen und als generalisierbar behaupten . Sein Urteil ist nicht beliebig, sondern ist an die anerkannten Auslegungsmethoden gebunden . Grenzen werden ihm gesetzt, soweit Differenzierungsverbote oder ein Analogieverbot bestehen . Das materiell-inhaltliche Gebot der Gerechtigkeit ist selbst eine Rechtsnorm, die der Rechtsanwender zu beachten hat . Es besteht somit, übereinstimmend mit Aristoteles, kein Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Recht im Sinn des Gesetzesrechts . Die Anwendung des Gesetzes ist immer Anwendung des Rechts, dessen Teil das Gesetz ist, dessen Teil aber auch das Gebot ist, einen zu beurteilenden Fall im Sinn der Gerechtigkeit zu entscheiden . Bereits positivrechtlich stehen nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Rechtsanwendung unter dem Gleichheitssatz des Art . 3 GG . Das Bundesverfassungsgericht fasst Art . 3 GG als Gebot materieller Gerechtigkeit auf und misst die gesetzlichen Differenzierungen an dem Zweck, der mit ihnen verfolgt werden kann . Um nicht in jeder Rechtsfrage als oberster Richter und Gesetzgeber fungieren zu müssen, kommt es ihm freilich vor allem auf die Dimension des Willkür- und des Differenzierungsverbots an, relevant Gleiches ungleich zu behandeln .48 Für die Rechtsanwendung wichtig ist hingegen vor allem das Differenzierungsgebot, Ungleiches ungleich zu behandeln . Dieses treibt die Ausdifferenzierung des Rechts voran . Wie Luhmann bemerkt hat, wird man sich bei der Anwendung dieses Gebots der Gerechtigkeit eher am Eindruck der Ungerechtigkeit bestimmter Ergebnisse orientieren als an einer „Anwendung“ des Gerechtigkeitsgebots .49 Dieses Gebot als Prämisse des Subsumtionsschlusses anzunehmen, ermöglicht es aber, die Gesetzesanwendung als Kombination von Auslegung und Subsumtion mittels der logischen Schlussfiguren darzustellen .
47 Dass damit gerade keine inhaltlichen Kriterien vorgegeben werden, ist oft bemerkt worden, etwa Kelsen, Gerechtigkeit, S . 25 f . 48 Siehe etwa Alexy, Th . d . Grundrechte, S . 359–393 . 49 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S . 221 .
tHoMas Grosse-Wilde GleIchheIt und dIfferenz In der strafzumessunG Die Strafzumessung mit dem schillernden Begriff der Schuld als Grundlage für die Zumessung der Strafe scheint sich dem ehernen Grundsatz zu entziehen, dass Rechtsanwendung das Entscheiden nach allgemeinen Regeln ist . Mag man die Schuld auch als inkommensurable Größe verstehen, so ist es wenigstens ihr wesentlicher Bezugspunkt, das Unrecht, sicherlich nicht . Die deutschen Strafgerichte weigern sich indes beharrlich, wenigstens gewisse Vorrangregeln aufzustellen, mit deren Hilfe das Unrecht einer Tat evaluiert werden kann . Ingeborg Puppe hat bereits 1979 ein weithin unbeachtetes Strafzumessungsnormen-Modell entwickelt, mit dessen Hilfe das Ausmaß normativer Unsicherheit in der Strafzumessung reduziert werden kann . Sie verpflichtet den Richter zur Aufstellung von Prima facie-Regeln, die zwar immer eine Ausnahmeklausel für ungewöhnliche Fälle enthalten, die ansonsten aber über die Entscheidung des Einzelfalls hinaus Allgemeingültigkeit beanspruchen . Diese Vorrangregeln bewirken zwar keine absolute Bindung, aber implizieren ein Rechtfertigungsgebot für denselben Spruchkörper, will er in einem künftigen Fall die Regel verwerfen und eine andere aufstellen . Eine gleichmäßigere Strafzumessungspraxis könnte sich dann einstellen, wenn diese Strafzumessungsnormen revisionsrechtlich als Rechtsfragen behandelt würden . Damit minimiert dieses Modell den allerdings irreduziblen Dezisionismus einer numerischen Strafmaßentscheidung im Einzelfall .
1 eInleItunG Auf den ersten Blick vermag eine Spiegelung des Themenkomplexes „Gleichheit und Differenz“ im Strafzumessungsrecht aus rechtsphilosophischer Perspektive nicht allzu ertragreich wirken: Der Strafrichter misst in praktischer Tätigkeit unter „Würdigung aller Umstände des Einzelfalles mit Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit“ eine gerechte Strafe zu . Diese entfaltet keine Bindungswirkung für andere Fälle, denn es geht um die individuelle Schuld1 des Angeklagten, und insofern verböte es sogar Art . 1 GG, das Gleichbehandlungsgebot hier in Ansatz zu bringen . Dies gilt selbst für Mittäter oder andere Beteiligte, § 29 StGB . Noch 2006 liest man in einem Urteil des 1 . Senats zur Revision eines Mittäters: „In anderen Urteilen verhängte Strafen führen zu keiner, wie auch immer beschaffenen, rechtlichen Bindung des Gerichts bei der Strafzumessung.“2 Und die – mittlerweile im Schrifttum hoch umstrittene – Unanwendbarkeit des Art . 3 GG auf die Rechtsprechung verschiedener Gerichte3 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals im Hinblick auf die „Verschiedenartigkeit der Strafpraxis verschiedener Gerichte“ festgestellt .4 BVerfG und BGH sind der Auffassung, Art . 3 GG gebe lediglich einen Anspruch auf Anwendung des gesetzlichen 1 2 3 4
Gegebenenfalls noch unter Einbeziehung spezial- und generalpräventiver Aspekte i . S . d . Spielraumtheorie . BGH StraFo 2006, 500 = StV 2008, 295 mit Anm . Wolfgang Köberer; so auch jüngst BGH NJW 2011, 2597; vgl . aber auch BGH StV 2010, 677; siehe weiterhin zur vergleichenden Strafzumessung bei mehreren Tatbeteiligten Bruno Terhorst JR 1988, 272 ff . Vgl . dazu m . w . N . Rainer Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art . 3 I GG), Berlin 1993 . Michael Sachs, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd . IV/2, München 2011, S . 1503 mit Verweis auf BVerfGE 1, 332 (345), wobei dort mittelbar eine (im Bundesgebiet zu vollstreckenden) Entscheidung eines Gerichts der SBZ als gleichheitswidrig angegriffen wurde .
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Strafrahmens und Schutz vor willkürlicher Bestrafung, die aber grundsätzlich nicht durch einen Verweis auf die Spruchpraxis anderer oder desselben Gerichts bewiesen werden könne .5 Aber bei näherem Hinsehen stellt sich doch ein gewisses Unbehagen ein, sollte dies die letzte Erkenntnis in Sachen Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung sein: Koch/Rüßmann lehren uns in ihrem wunderbaren Buch „Juristische Begründungslehre“: „Der Jurist darf einen Fall nicht … als einzigartiges Ereignis behandeln.“6 Soll gerade das Strafzumessungsrecht die Ausnahme von dieser Regel sein? Karl Engisch gelangte nach einiger Reflexion zu dem Ergebnis: „Aber wir wissen, daß eine grenzenlose Individualisierung bei den Rechtsfolgen im allgemeinen doch nicht in Frage kommt .“7 2 unrecht und schuld als InkommensuraBle Grössen? Der Begriff der Schuld, wie er in § 46 Abs . 1 StGB auftaucht, ist insofern – ich will nicht sagen inadäquat – aber verführerisch: Er scheint der Objektsprache anzugehören,8 ist insofern isoliert steigerbar, so dass man assoziieren kann, es gehe bei der Strafzumessung allein um den „Kampf des guten Prinzips, mit dem Bösen, um die Herrschaft über den Menschen“, um den Titel des Zweiten Stücks von Kants Religionsschrift zu zitieren;9 ein solcher Kampf ist sicherlich inkommensurabel und höchstpersönlich . Indes, der Versuch einer Evaluierung innerer Kämpfe eines Menschen und Überwindung von Hemmschwellen, um ein Verbrechen zu begehen, ist für ein Strafverfahren allein schon wegen des umfassenden Schweigerechts des Beschuldigten aussichtslos und verwischt die Unterscheidung von Recht und Moral . Es erinnert an Kadi-Justiz, die Pawlowski beschreibt als den Versuch des Kadi, „das Herz der Beteiligten anzusehen“ .10
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Siehe die frühen Entscheidungen BVerfGE 1, 332 (345 f .); BGHSt 1, 183 (184) . Aber auch in der neueren Rechtsprechung lässt sich keine grundsätzliche Wende ausmachen . – Die Problematik des Gleichbehandlungsgebots und der Normvalenz von Art . 3 I GG in der Strafzumessung ist schon verschiedentlich behandelt worden, etwa von Walter Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, Tübingen 1960, S . 10 ff ., S . 61 ff .; Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessungsrecht, 2 . Aufl ., Köln 1974, S . 503 ff .; Winfried Hassemer, in: C. Pfeiffer/M. Oswald, Strafzumessung, Stuttgart 1989, S . 297 ff .; Gunther Arzt, in: W. Küper/J. Welp, Stree/Wessels-FS, Heidelberg 1993, S . 49 (55 ff .); Lothar Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, Berlin 1997, S . 147 ff .; Matthias Maurer, Komparative Strafzumessung, Berlin 2005, S . 199 ff ., passim; neuerdings Rudolf Mellinghoff, in: U. Neumann/F. Herzog, Hassemer-FS, Heidelberg 2010, S . 503 (515 ff .); Tatjana Hörnle, in: E. Schumann, Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, Berlin 2010, S . 105 (120 ff .) . Aber einer adäquaten Erfassung des Problems mangelt es meiner Auffassung nach an der bisher fehlenden normentheoretischen Rekonstruktion der Strafzumessungsentscheidung, siehe dazu skizzenhaft unten 2 . und 3 . sowie bereits Grosse-Wilde HRRS 2009, 363 . 6 Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S . 234 . 7 Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2 . Aufl . Heidelberg 1968, S . 218 . 8 Vgl . Ingeborg Puppe, in: U. Kindhäuser/U. Neumann/H.-U. Paeffgen, Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 3 . Aufl, Baden-Baden 2010, vor § 13 Rn .7 . 9 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) . 10 Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3 . Aufl ., Heidelberg 1999, Rn . 45 .
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Ersetzt man den Begriff der „Schuld“ durch den bis vor wenigen Jahrzehnten ebenso gebräuchlichen der „Zurechenbarkeit“ (so sprach die Vorgängernorm des § 20, § 51 a . F ., noch von „Zurechnungsfähigkeit“) oder auch „Vorwerfbarkeit“11/ Verantwortlichkeit,12 die der Metasprache angehören und nicht isoliert steigerbar sind (mehr als „zurechenbar“ bzw . „vorwerfbar“ gibt es nicht13), so klärt sich eher, worum es in der Strafzumessung geht, denn diese Begriffe verweisen auf das, was zugerechnet bzw . was einer Person vorgeworfen wird: das Unrecht einer Tat, so gebietet es jedenfalls das Tatschuldprinzip .14 So verstanden ist das verschuldete Unrecht die Grundlage der Zumessung der Strafe i . S . d . § 46 Abs . 1 Satz 1 StGB15 und Schuld wird streng als Relationsbegriff verstanden und nicht etwa selbstreferentiell zum Vorwurf gemacht („Jemand wird Schuld vorgeworfen“/„Jemand hat Schuld an seiner Schuld“) . Demgegenüber spielt die Imponderabilie „Täterpersönlichkeit“, zu deren „Vermessung“ generell-abstrakte Normsätze sicherlich inadäquat erscheinen, auf dem Boden der herrschenden Meinung und Rechtsprechung (Stichwort: Spielraum-/ Schuldrahmentheorie) eine geringere Rolle: Der in Betracht kommende „Schuldrahmen“ wird von der Tat-Schuld bestimmt, nicht von einer wie auch immer gearteten Charakter-/Lebensführungsschuld . Spezialpräventive Aspekte spielen nur innerhalb dieses Rahmens eine Rolle . Wenn aber Tatschuld wesentlich Tatunrecht ist, so lässt sich fragen, ob dieses nicht wenigstens vergleichbar ist . Dagegen könnte sprechen, ebenso gut wie man die Schuld einer Tat als höchstpersönliche und inkommensurable des Individuums X verstehen könne, so könne man das Unrecht einer Tat als das höchstpersönlich erlittene des jeweiligen Opfers Y verstehen . Aber eine solche Perspektive, die zudem nur auf Individualdelikte anwendbar ist, konfundiert das individuelle Leid eines Opfers mit dem Unrecht einer Tat, das einen Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstellt und damit eine gesellschaftliche Dimension aufweist .16 Dieses Unrecht steht sicherlich mehr als in der Strafbe-
11 So etwa Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11 . Aufl ., Berlin 1969, S . 138 f .; Kristian Kühl, in: K. Lackner/derselbe, Strafgesetzbuch, 27 . Aufl ., München 2011, vor § 13 Rn . 23 . 12 Vgl . Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd . 1, 4 . Aufl ., München 2006, § 19 Rn . 1 ff . 13 Siehe Puppe (Fn . 8), vor § 13 Rn . 16 a .E . 14 Kritisch (freilich im Kontext der Strafbegründungsschuld) aber Rainer Zaczyk, Schuld als Rechtsbegriff, ARSP Beiheft Nr . 74 (2000), 103 (106): „der Schuldvorwurf wird so zu einer bloßen Wiederholung des Unrechts, wie es in dem Ausdruck ‚Vorwerfbarkeit‘ auch anklingt .“ – Aber ein streng verstandenes Tatschuldprinzip hat gerade zum Credo, dass es eben das Unrecht ist und nicht ein ganz anderer Sachverhalt, der bei gegebener Schuld zum Vorwurf gemacht wird . 15 So grundsätzlich auch Eckard Horn, in: H.-J. Rudolphi/J. Wolter, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 7 . Aufl ., München 2001, § 46 Rn . 41 f ., freilich mit einem bestimmten, hier nicht geteilten Unrechtsbegriff; vgl . auch Hörnle JZ 1999, 1080 (1087 f .) . 16 Vgl . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 218: „Indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv-Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat .“ Sowie Anm . § 218: „Daß in Einem Mitgliede der Gesellschaft die anderen Alle verletzt sind, verändert die Natur des Verbrechens nicht nach seinem Begriffe, sondern nach der Seite der äußern Existenz, der Verletzung, die nun die Vorstellung und das Bewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft, nicht nur das Dasein des unmittelbar Verletzten trifft .“
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gründung einer Individualisierung offen17 (weil die Strafbegründungsnorm sich im Kontext der Strafzumessung verändert, s . u .), die aber nicht grenzenlos sein kann . Schon die Eigenlogik des StGB deutet auf eine Vergleichbarkeit von Unrecht hin, denn die Abwägung des § 34 StGB lässt sich in gewissen Fällen so umformulieren, dass einem Strafrichter geboten ist, das („Prima-facie“-)Unrecht der einen (dem Erhaltungsgut dienenden) Handlung A abzuwägen gegen dasjenige einer Handlung B, die voraussichtlich geschehen würde, würde A unterlassen .18 Andererseits könnte man hiergegen wiederum einwenden, dass es in der Strafzumessungsdogmatik nicht um die grobschlächtige Unterscheidung verschiedener Deliktsarten geht, für deren Gewichtung zueinander die unterschiedlichen gesetzlichen Strafrahmen ein Indiz bilden, sondern um den Vergleich von Tat-Individuen, die denselben Tatbestand erfüllen, also um einen nuancierteren Vergleich, als ihn § 34 StGB regelmäßig verlangt: Etwa – enthält das Strafmaß für eine Sachbeschädigung, begangen zur Zeit X an Ort Y durch Z, irgendeine normative Bindung für die Bestimmung des Strafmaßes einer anderen Sachbeschädigung? Dafür spricht, dass das Proprium von Rechtsanwendung das Entscheiden nach Regeln ist; um mit Günther Jakobs zu sprechen: „Eine noch so sehr um Einzelfallgerechtigkeit bemühte Rechtsprechung kommt nicht darum herum, die Maximen zu nennen, nach denen der Einzelfall entschieden werden soll . Geschieht dies, so erfolgt nicht etwa die Gewichtung des Einzelfalls pauschal, sondern die Gewichtungsgrundsätze werden offen und generell, wie es sich rechtsstaatlich gehört . Allein dem Einzelfall kann man die Entscheidungskriterien nur dann ablauschen, wenn man diesen zuvor vom bloßen Fall zur konkreten Ordnung stilisiert .“19
17 Im Kontext der Strafbegründung und auch Strafrahmenänderung kritisch sub specie § 226 Paeffgen/Grosse-Wilde, Über die Individualisierung tatbestandsmäßiger Erfolge – „Persönlicher Schadenseinschlag“ bei den Körperverletzungsdelikten, HRRS 2007, 363 . 18 Etwa: C sperrt den schlafenden Haustyrannen (Stichwort: Dauergefahr) ein (§ 239 StGB), um eine drohende gefährliche oder schwere Körperverletzung der Ehefrau zu verhindern . Das „Prima-facie“-Unrecht der Freiheitsberaubung wiegt wesentlich weniger als dasjenige der Körperverletzung, deshalb ist erstere erlaubt . – Die Parallele zu § 34 StGB deutet auch schon Axel Montenbruck, Abwägung und Umwertung, Berlin 1989, S . 74, an . Man könnte dagegen einwenden, dass § 34 StGB für die Vergleichbarkeit von Unrecht kein gutes Beispiel sei, weil er von Gefahren und Interessen spreche und doch erst am Ende der Interessen-Abwägungsprüfung feststehe, welche Handlung nun Recht und welche Unrecht ist . Aber dieses Argument ist zu positivistisch: Die philosophische Diskussion um die Legitimation des aus dem „übergesetzlichen“ Notstand entstandenen § 34 StGB zeigt, dass gerade Grundproblem dieses Instituts ist, dass Unrecht gegen Unrecht abgewogen wird, siehe etwa Wilfried Küper JZ 2005, 105 ff .; bereits bei Hegel heißt es (Vorlesungsnachschrift Hotho 1822/23, abgedruckt in: K.-H. Ilting, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831 . Band III, Stuttgart 1974, S . 403): „Es steht hier ein zwiefaches Unrecht gegenüber, und die Frage ist, welches als das größere anzusehn . Das geringere ist gegen das höhere ein Unrecht .“ 19 Jakobs JZ 1986, 1063 (1064); vgl . auch Hans-Ullrich Paeffgen, in: K. Geiß/K. Nehm/et al., BGH-FS IV, Köln 2000, S . 695, 703 in Fn . 43: „Rechtsanwendung heißt: Entscheiden nach Grundsätzen“ . Siehe aus der englischsprachigen Rechtsphilosophie etwa John Gardner, Current Legal Problems 53 (2000), 149 (165) mit Verweis auf H.L.A. Hart: „Probably the most one can say of the form of laws, as such, is that all of them take the form of rules . (…) It is in the nature of all laws to be rules – in other words, to hold themselves out as settling what is to be done on more than one occasion – and it is therefore in the nature of legal systems, as Hart memorably explained, to be systems of rules .“
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Dazu gibt es im modernen Recht eigentlich keine Alternative . Zugegebenermaßen gibt es auch in der zeitgenössischen Ethik vereinzelt Positionen, die als sog . „Situationsethik“ meinen, jedes moralische Urteil beruhe auf Einzelfallintuition .20 Aber eine solche Entscheidungspraxis entspricht nicht unserem Bild des Rechtsstaates i . S . v . Art . 20 Abs . 3 GG, in dem jede juridische Entscheidung unter dem Universalierbarkeitspostulat steht,21 mag auch die Strafzumessung der klassische Fall rechtlichen Entscheidens unter „normativer Unsicherheit“ sein .22 Das Entscheiden nach allgemeinen Regeln enthält bereits einen „Keim von Gerechtigkeit“, um eine berühmte Formulierung H.L.A. Harts zu zitieren .23 Man sieht also, es geht gar nicht darum, eine Tat in ihrer Totalität mit einer anderen zu vergleichen,24 sondern Regeln, nach denen man das Unrecht und die Schuld einer Tat bestimmt hat, miteinander zu vergleichen .25 Aber welche Regeln sind das bei der Strafzumessung? 3 PuPPes strafzumessunGsnormen-modell und reGelverGleIch Puppe hat dazu in ihrer Habilitation 1979 ein interessantes Modell entwickelt, das leider bis heute im Schrifttum praktisch ignoriert worden ist:26 20 Aber vielleicht nicht zufälligerweise entstammen diese meist der evangelischen Theologie, siehe überblicksweise Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin 2003, S . 107 f . Neuerdings en vogue, aber auch kontrovers diskutiert werden verschiedene Spielarten eines ethischen Partikularismus, der wenigstens in seiner extremen Form nicht nur universelle Prinzipien, sondern jegliche Verallgemeinerung für unerheblich für das moralische Urteilen hält . Siehe etwa zum amerikanischen Moralphilosophen Jonathan Dancy in diesem Sammelband noch ausführlich Norbert Paulo, Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz . 21 Siehe dazu Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a . M . 1983, S . 92 f .; 274; Koch/Rüßmann (Fn . 6), S . 113 f . Vgl . auch Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1994, S . 139 f . 22 Matthias Klatt/Johannes Schmidt, Spielräume im Öffentlichen Recht, Tübingen 2010, S . 48 . 23 Hart, The Concept of Law, 2 . Aufl ., Oxford 1994, S . 206; siehe zu einer Interpretation dieser tiefgründige Formulierung Leslie Green, The Germ of Justice, Legal Research Series, Paper No 60/2010, abrufbar unter: http://papers .ssrn .com/sol3/papers .cfm?abstract_id=1703008 24 Dies macht im übrigen auch nicht das anglo-amerikanische Präjudizienrecht, siehe dazu etwa Aleksander Peczenik, in: N. MacCormick/R. S. Summers, Interpreting Precedents, Aldershot 1997, S . 474: „An important point in this context is that the force and rationale of a precedent is the force of analogy between the cases . (…) One can logically reconstruct the principle of analogy between cases as demanding the creation of a precedent-based norm (a rule or a principle) . (…) For, surely, one cannot make sense of the idea that (a) two cases (the precedent case and the subsequent case) are analogous to each other, although (b) no norm can be discovered, or at least created, which tells us what makes these cases analogous . Analogy between cases requires a link between them, and this link cannot be anything other than a norm under which the cases can be subsumed .“ 25 In diese Richtung auch Larry Alexander/Kimberly Kessler Ferzan, Crime and Culpability, Cambridge 2009, S . 10, Schuld („desert“) sei selbst inkommensurabel, aber die Regeln, die die Schuld mitdeterminieren, seien kommensurabel . 26 Ingeborg Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen, Berlin 1979 . – Selbst Arbeiten, die die neuere verwaltungsrechtliche Literatur mit den Parallelarbeiten von Koch (siehe dazu zugleich) verwerten, übersehen leider Puppes bahnbrechende Strafzumessungsrekonstruktion, etwa Erick Gatgens, Ermessen und Willkür im Straf- und Strafverfahrensrecht, Frankfurt a . M . 2007 .
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Sie unterscheidet drei Phasen der Anwendung eines Strafgesetzes auf einen Einzelfall . Erstens die Feststellung der Anwendbarkeit eines Strafgesetzes auf einen Einzelfall (die Frage der Strafbarkeit), zweitens die Konkretisierung der Norm dieses Strafgesetzes im Hinblick auf den Unrechts- und Schuldgehalt der betreffenden Tat als Verwirklichung des Strafgesetzes und drittens die Anwendung der so konkretisierten Norm auf den in Rede stehenden Einzelfall .27 Während Schritt 1 und Schritt 3 in der Sache vertraut wirken (sie sind nichts als eine andere Form der Darstellung von Subsumtionsvorgängen), liegt das Revolutionäre in der zweiten Phase, in der der Tatbestand nicht als eine Norm, die Einzelfälle regelt, sondern als eine Normbzw. Satzfunktion erscheint, die Leerstellen für weitere Strafzumessungstatsachen enthält . „Die zweite Phase, die die richterliche Schuldbestimmung und die Strafzumessung umfasst, soweit sie an die Tatschuld und damit an das einzelne Strafgesetz gebunden ist, hat die Aufstellung einer im Vergleich zum Strafgesetz inhaltsreicheren und ihrer Rechtsfolge hinreichend bestimmten Norm zum Ziele . Hier geht es darum, weitere Bedingungen der Rechtsfolge in den Kontext der Strafnorm selbst einzuführen . (…) Das Ergebnis dieser Phase ist eine abstrakte Norm, die ihrer Form nach Allgemeingültigkeit beansprucht, obwohl sie auf den Einzelfall hin konzipiert ist . (…) Auf der Tatbestandsseite enthält diese Norm Beschreibungen von Klassen von Tatbestandsverwirklichungen, die sich in Unrecht und Schuld vollständig gleichen .“28
Dieser normentheoretische Entwurf der richterlichen Strafzumessungsentscheidung hat nun frappierende Ähnlichkeit mit einem Vorschlag zur Normstruktur des Verwaltungsermessens von H.-J. Koch, der freilich anders als Puppes Ideen mehr Beachtung in der verwaltungsrechtlichen Literatur gefunden hat: „Für Ermessensnormen ist charakteristisch, daß sie zur Ergänzung des gesetzlichen Tatbestandes ermächtigen . In den Tatbestand, der die Bedingungen enthält, bei deren Erfüllung die Rechtsfolge gilt, gehören auch diejenigen Bedingungen, die eine Behörde in Wahrnehmung einer Ermessensermächtigung und in Bindung an den Zweck der Ermessensermächtigung selbst entwickelt . Die Berechtigung zur Wahl einer Rechtsfolge (…) ist lediglich eine Funktion der Ermächtigung zur Tatbestandsergänzung .“29
Puppe wie Koch bevorzugen es also, Normen mit nicht hinreichend bestimmter Rechtsfolge als Einräumung einer Tatbestandsergänzungsbefugnis verbunden mit einer bestimmten Rechtsfolge zu interpretieren . Dabei unterscheiden sich Verwaltungsermessen und richterliche Strafzumessung u . a . darin, dass die Tatbestandsergänzungsaufgabe im Verwaltungsrecht an die jeweilige(n) allgemeine(n) Normzwecke gebunden ist (die häufig nicht näher gesetzlich fixiert sind), während § 46 Abs . 2 StGB bereits die entscheidenden Aspekte (wenn auch nicht erschöpfend) dem Strafrichter vorgibt . Allerdings halte ich es für illusorisch, eine Strafzumessungsnorm formulieren zu wollen, die die hinreichende Bedingung enthält, um auf der Rechtsfolgenseite eine numerische Strafgröße in Jahren und Monaten oder Tagessätzen zu erhalten; die Endstrafe soll ja auch, wenigstens nach dem Modell der Spielraumtheorie, erst nach Einbeziehung spezial- und gegebenenfalls generalpräventiver Aspekte ermittelt wer-
27 Puppe (Fn . 26), S . 68 ff . 28 Puppe (Fn . 26) S . 61 ff . 29 So prägnant Koch (Fn . 6), S . 88 f .; in der Sache genauso schon in derselbe, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, Frankfurt a . M . 1979, S . 126 ff .
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den . Aber eine Strafzumessungsnorm könnte beispielsweise einen Tatschuldrahmen, eine Schuldober- und/oder Untergrenze als Rechtsfolge enthalten . Nimmt man freilich die Strafzumessungsentscheidung noch etwas genauer unter die Lupe, so hat man die vom Richter zu bildenden Strafzumessungsnorm noch nicht adäquat erfasst, wenn man sie als ein bloßes „Zusammenlesen“ des BT-Tatbestandes mit den Merkmalen des § 46 Abs . 2 StGB versteht, etwa: „Wer eine andere Person aus verwerflicher Gesinnung körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit einer Mindeststrafe von X bestraft“;30 denn bei den Begriffen des § 46 Abs . 2 handelt es sich ausnahmslos um unbestimmte Rechtsbegriffe, die jeweils weiterer Konkretisierung bedürfen, um „subsumtionsfähig“ zu werden, etwa derart: „Wer eine andere Person aus Rassenhass körperlich misshandelt, …“ . Nimmt man weiterhin normtheoretisch an, dass die in der zweiten Phase gebildete, konkretisierte Norm eine unbestimmte Anzahl von Variablen/Leerstellen enthält oder – um es anschaulicher auszudrücken – immer eine „Angstklausel“/Ceteris paribus-Bedingung vorsieht, so verbleibt dem Strafrichter hinreichend Spielraum, allen Besonderheiten des Einzelfalles voll Rechnung zu tragen .31 In der Sache sind solche Prima facie-Regeln im Strafzumessungsrecht auch schon längst bekannt, allerdings nur bei der Strafrahmenänderung, nämlich in Gestalt der benannten RegelBeispiele . Jede Prima facie-Regel hat aber einen erheblich höheren Informationsgehalt und eine erheblich größere Steuerungswirkung als der diffuse Verweis auf die umfassende Würdigung aller Umstände, denn will der Richter von der Ausnahmeklausel Gebrauch machen und damit von der Prima facie-Regel abweichen (etwa: trotz Erfüllung eines benannten Regelbeispiels nicht zu einer Strafrahmenänderung zu gelangen), bürdet man ihm eine entsprechende Argumentationslast auf .32 30 Dies wäre ein Zusammenlesen des Merkmals der Gesinnung aus § 46 Abs . 2 und § 223 Abs . 1 StGB – ob es sich dabei um eine sachgerechte Strafzumessungserwägung handelt, sei hier dahingestellt, der Wortlaut des § 46 Abs . 2 ließe sie jedenfalls zu . 31 Folglich erübrigt sich auch ein beliebter Einwand, ein solches Strafzumessungsmodell würde dem „Taxenwesen“ wieder Vorschub leisten . Eine regelgeleitete Strafzumessung leistet der Normvalenz von Art . 20 Abs . 3 und Art . 3 I GG Vorschub und zwingt vor allem den Richter, eine Regel, also seine universalisierbare Entscheidungsmaxime oder eine Ausnahme davon zu formulieren, nach der er Tatunrecht bzw . Tatschuld evaluiert . 32 Insofern sind diese Strafzumessungsnormen keine strikten Konditionalprogramme mit einem Ja/Nein-Schema, sondern bloße Argumentationslastregeln . – Dazu ein Beispiel: Bis heute ist es richterrechtlich ungeklärt, ob die verschiedenen Vorsatzformen einen unterschiedlichen Unrechts- und Schuldgehalt aufweisen, zur absolut diffusen Rechtsprechung (die tlw . auch noch mit einem Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot § 46 Abs . 3 hantiert, so etwa BGH NStZ 2008, 624) siehe die Nw . bei Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, Berlin 1999, S . 260 f .; vgl . auch das niederschmetternde Resümee von Franke, in: W. Joecks/K. Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, München 2003, § 46 Rn . 31: „Die Divergenzen und Nuancen bestehen fort . Der Tatrichter bleibt darauf verwiesen, sich bei der Strafzumessung nicht von formaler, schematischer Betrachtungsweise leiten zu lassen, sondern die Umstände des Einzelfalles zu würdigen .“ Welches sollen aber die Kriterien sein, wenn die Rechtsprechung nicht willens und fähig ist, diese anzugeben? Es muss für diese Rechtsfrage, wenn nicht reine Kadijustiz herrschen soll, eine abstrakte Antwort der Form geben: Entweder die Vorsatzform ist belanglos (so etwa mit der Lehre von der Vorsatzgefahr Puppe [Fn . 8], § 15 Rn . 114, vgl . aber auch Rn . 80, 106; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2 . Aufl ., Berlin 1991, 8/8), oder sie ist es nicht (so bspw . für dolus directus 1. sowie 2. Grades einerseits, dolus eventualis andererseits Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung S . 263), sie ist es im Regelfall, oder sie ist es im Regelfall nicht; diese vier abstrakten Antworten können allgemeine Regeln für alle Delikte darstellen oder können für jede
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In der Strafzumessung verändern die Normen also ihr Wesen . Sie werden aber nicht einfach zur Sanktionsnorm . Sie mutieren zu einer Art Satzfunktion, zu einer offenen Maßstabsnorm, Tatbestandsmerkmale werden zu komparativen Begriffen, neue Tatbestandsmerkmal dürfen und müssen eingefügt werden; die jeweilige Norm des Besonderen Teil sowie § 46 StGB ermächtigen den Richter dazu . Dazu nochmals Puppe: „Es geht um die Präzisierung des Norminhalts selbst, der bei der klassischen Darstellung der Subsumtion in Form des modus ponens als Obersatz des Schlusses erscheint . Diesen Teil der Normbestimmung hat der Gesetzgeber für die Strafgesetze selbst dadurch (an) den Richter delegiert, daß er in seinen Strafgesetzen Rechtsfolgen angeordnet hat, die er selbst in §§ 38 ff . für nicht vollständig bestimmt erklärt . Das Ergebnis dieser Konkretisierung ist nicht wie das der Subsumtion eine konkrete, nur für den Einzelfall gültige Norm, sondern ein abstrakter Rechtssatz, der ebenso Allgemeingültigkeit beansprucht wie das Strafgesetz selbst .“33
In einem dritten Schritt treten spezialpräventive Aspekte (siehe § 46 I 2 StGB),34 die meiner Ansicht nach größtenteils nicht deduktiv-normentheoretisch abbildbar sind .35 Am Ende steht dann ein Urteil mit dem genauen Strafmaß, das aber – entgegen Kelsen, der ein Urteil als „individuelle Norm“ bezeichnet36 – keine individuelle Norm darstellt (die Urteilsgründe sind keine individuelle Norm, sie enthalten individualisierte Normen),37 dessen Urteilstenor man jedoch als Befehl, und wenn man jeden Sollenssatz als Norm bezeichnen will, als Norm an den Rechtsstab verstehen kann, die Sanktion zu vollstrecken . Die konkrete Endstrafe ist es demnach regelmäßig nicht, die mit einer anderen verglichen werden könnte,38 sondern gewisse, inferentiell aus den Strafzumessungserwägungen des Gerichts gezogene prima-facie Regeln39, die Unrecht und Schuld einer Tat determinieren . 4 reGelGeleItete strafzumessunG und art. 3 I GG Damit erweist sich die Bestimmung der Tatschuld als zugleich regelerzeugend wie regelgeleitet. Denn richtigerweise gelten diese Regeln, die ein Spruchkörper aufstellt, für
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einzelne Deliktsart, also BT-abhängig formuliert werden – aber sie müssen formuliert werden (siehe zur inhaltlichen Frage auch die instruktive, rechtsvergleichende Übersicht bei Carl-Friedrich Stuckenberg, Vorstudien zur Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, Berlin 2007, S . 435 ff .) . Puppe (Fn . 26), S . 63 . Und nach der Rechtsprechung ggf . auch generalpräventive . Die Spezialprävention spielt indes bei Strafmaßbestimmung keine große Rolle, wie Wolfgang Frisch zutreffend herausgestellt hat (derselbe, in: H.-J. Albrecht/F. Dünkel/et al., Günther Kaiser-FS Bd . I, Berlin 1998, S . 765 [784 f .]) weil außer bei einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe über zwei Jahren durch Strafart und Vollzug regelmäßig desozialisierende Wirkungen vermieden werden können . Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Aufl ., Wien 1960, S . 242 ff . Kritisch auch Eugenio Bulygin, in: A. Aarnio/S. L. Paulson/et al., Krawietz-FS, Berlin 1993, 317 (320) . Dies sei gegen Gunther Arzt gewendet, der sich fragt „Wie kann man Strafen vergleichen, wenn nicht nach ihrer Höhe?“, siehe derselbe (Fn . 5), S . 49 (57) . Dies setzt freilich voraus, dass die Gerichte ihre Strafzumessungsentscheidungen nicht mit Leerformeln wie der „Gesamtwürdigung aller Umstände“ oder der „kriminellen Energie“ des Täters begründen .
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ihn auch für den nächsten zur Entscheidung stehenden Fall, sonst wären sie keine Regeln . Aber eine solche Selbstbindung, die man aus Art . 3 I GG und/oder aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten kann, bewirkt keine absolute Bindung, sondern stellt nur ein Rechtfertigungsgebot auf,40 falls man eine Regel ändern oder verwerfen will .41 Eine Bindung für andere Gerichte (ggf . auch andere Spruchkörper desselben Gerichts) besteht indes nicht und muss auch nicht bestehen, wenn man prozessual diese Regeln als das behandeln würde, was sie tatsächlich sind, nämlich revisible Rechtsfragen . Dann würde sich nämlich mittelfristig durch Revisionen und Vorlagepflichten der OLGe gemäß § 121 Abs . 2 GVG eine einheitliche Rechtspraxis einstellen . Leider hat der 4 . Strafsenat des BGH in einer neueren Entscheidung genau dies nicht getan, als das OLG Naumburg ihm eine entsprechende Strafzumessungsnorm vorlegte und sah darin eine nicht vorlagefähige Tatfrage .42 Dadurch perpetuiert sich Rechtsungleichheit vor allem qua Rechtsunsicherheit mit diffusen Verweisen auf die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls . Zum vergleichbaren Problem der unterschiedlichen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe durch verschiedene Gerichte43 wird im öffentlich-rechtlichen Schrifttum aus dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip das Gebot gefolgert, dass immerhin Rechtseinheit durch höchstrichterliche Rechtsprechung langfristig hergestellt wird,44 was selbstredend nicht möglich ist, wenn die von den Untergerichten selbst aufgestellten Regeln als Tatfragen umklassifiziert werden . Dass das Bundesverfassungsgericht demgegenüber Art . 3 I GG nur ein Willkürverbot entnehmen will, ist der berechtigten funktionellrechtlich bedingten Zurückhaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Fachgerichten geschuldet, damit nicht jede Nichtbeachtung einer richterlichen Strafzumessungsnorm einen Art . 3 GG-Verstoß zur Folge hat und dadurch eine Verfassungsbeschwerde eröffnet . Dazu Scholz im Maunz/Dürig-Kommentar zum GG: „Es ist grob verfehlt, wenn man aus dieser Zurückhaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Gerichtsbarkeiten folgert, die Bedeutung des Art . 3 I für die Rechtspflege sei identisch mit dem Willkürverbot und erschöpfe sich darin .“45
Mit diesem normentheoretischen Modell werden zugleich die Grenzen aufgezeigt, die Art . 3 I GG bzw . eine regelgeleitete Strafzumessung hat: Eine Vergleichbarkeit der Strafmaßentscheidungen verschiedener Deliktsarten ist nicht gegeben und illusorisch . Eine Taxonomie von Strafen für Beleidigungen, Hausfriedensbrüche und Diebstähle gibt es nicht und soll es auch nicht geben, weil es sich nicht um „wesent40 Siehe Riggert (Fn . 3), S . 86 . 41 Alexy (Fn . 21), S . 335, spricht im Zusammenhang mit der Änderung von Präjudizien von einer Argumentationslastregel . 42 BGHSt 52, 84 mit zustimmender Anmerkung Jahn, JuS 2008, 371; ablehnend Grosse-Wilde, HRRS 2009, 363 . – Hörnle (Fn . 5), 105 (122) hat sich sub specie Revisionsrecht zu dieser (Nicht-) Entscheidung des 4 . Senats neuerdings eher neutral geäußert und an die heillose Überforderung der Rechtsmittelgerichte erinnert, wäre die Rechtsfolgenentscheidung vollumfänglich revisibel . – Indes, um eine vollumfängliche Revisibilität geht es nicht, sondern nur um solche Aspekte der Strafzumessungsentscheidung, die sich im Sinne einer prima-facie-Regel universalisieren lassen . 43 Vgl . dazu Sachs (Fn . 4) S . 1503 f . 44 Albert Bleckmann, JZ 1995, 685 (686 in Fn . 8) . 45 Rupert Scholz, in: R. Herzog/M. Herdegen/et al., Maunz/Dürig GG Kommentar Bd . 1, 60 . Aufl ., München 2010, Art . 3 Rn . 397 .
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lich Gleiches“ und nicht um dieselben Strafzumessungsnormen handelt .46 Für die Praxis wäre auch viel wichtiger, eine gleichmäßigere Bestrafung hinsichtlich derselben Deliktsart zu erreichen . Damit wird auch deutlich, dass der allgemeine Gleichheitssatz uns zwar gebietet, Gleiches gleich zu behandeln, uns aber nicht verbietet, auch Ungleiches gleich zu behandeln . Die Gründe nämlich, aus denen gegen verschiedene Personen genau die gleiche Rechtsfolge eintritt, z . B . eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 200 Euro, können recht verschieden sein .47 5 strafzumessunGsnormen als ex Post facto-normen – schuldprInzIp versus BestImmtheItsGeBot Diese eigentümlichen Strafzumessungsnormen stellen zugleich etwas dar, was man im Strafrecht prima vista für unmöglich halten würde: Es handelt sich um ex post facto- Normen, um Sollenssätze, die ggf . erst anhand der Tatsachen des zur Entscheidung stehenden Falles gebildet worden sind und auf diese Tatsachen geradezu angewiesen sind! Denn ein anderer, eminent wichtiger Sollenssatz, nämlich das Schuldprinzip gebietet geradezu, diese Sollenssätze aus einem Sein zu schöpfen, weil das Schuldprinzip verbietet, dass die genaue Strafe ex ante ohne Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten des Falles, also Tatsachen, feststeht . Dies hat das BVerfG in der Vermögensstrafe-Entscheidung klar ausgedrückt: „Im Blick auf die Besonderheiten des Einzelfalls kann nämlich regelmäßig erst der Richter die Angemessenheit der konkret bemessenen Strafe beurteilen . (…) Absolute Strafandrohungen begründen die Gefahr eines Konflikts mit dem verfassungsrechtlich gesicherten Schuldprinzip, weil sie dem Strafrichter eine Abmessung der Strafe an den Einzelheiten von Unrecht und Schuld nicht eröffnen; sie müssen gegebenenfalls verfassungskonform ausgelegt werden, damit
46 Das sei auch gegen Lehren von der tatproportionalen Strafzumessung gerichtet, die meinen, alle Individualdelikte durch eine (tlw . in fünf Kategorien unterteilte) Tatschwerebeurteilung anhand des Einschnitts in die Lebensqualität des Opfers vornehmen zu können (bzgl . des Erfolgsunrechts) (siehe Hörnle [Fn . 32], S . 226 ff . mit Verweis auf Andrew von Hirsch/Nils Jareborg, Oxford Journal of Legal Studies 1991, 1 ff .; zurückhaltender aber nun dieselbe [Fn . 5], S . 105 [112]) . Ich halte eine Ordinalskala für alle Delikte oder auch nur für Individualdelikte für überambitioniert . 47 Puppe, Vom Umgang mit Definitionen in der Jurisprudenz, in: dieselbe, Strafrechtsdogmatische Analysen, Göttingen 2006, S . 79 (85); ebenso Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt 1994, S . 361 in Fn . 21: „Deutet man den Satz ‚Gleiches ist gleich, Ungleiches ist ungleich zu behandeln‘ im Sinne eines Postulats universalistischer Entscheidungspraxis, so bereitet der zweite Teil dieses Satzes Probleme . Immer dann, wenn sowohl a als auch b einen Betrug begangen haben, sind a und b nach § 263 Abs . 1 StGB (…) insofern gleich zu behandeln, als beide mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen sind . In diesem Sinne gilt, daß Gleiches gleich zu behandeln ist . (…) Es gilt aber nicht, daß b stets dann, wenn er anders als a keinen Betrug begangen hat, also gegenüber a in Bezug auf § 263 Abs .1 StGB ungleich ist, anders als a zu behandeln ist . B kann zwar keinen Betrug, wohl aber eine Hehlerei begangen haben, und diese ist ebenso wie ein Betrug mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen . Bezogen auf Normen, die hinreichende, nicht aber notwendige Bedingungen für eine Rechtsfolge formulieren, gilt in der Interpretation als Postulat einer universalistischen Entscheidungspraxis also zwar der Satz ‚Gleiches ist gleich zu behandeln‘, nicht aber der Satz ‚Ungleiches ist ungleich zu behandeln‘ .“
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sichergestellt ist, dass auch in Grenzfällen keine unverhältnismäßigen, dem Unrecht und der Schuld nicht angemessenen, Strafen verhängt werden .“48
Dies bedeutet, nach einem System zu streben, das für jeden denkbaren oder undenkbaren Fall eine bestimmte Strafe vorab bestimmt, ist nicht nur widersinnig, sondern nach unserem Schuldverständnis kein anstrebenswertes Ideal . Und selbst das ALR mit seinen 1577 Paragraphen zum materiellen Strafrecht enthielt bei aller Kasuistik doch für bestimmte Delikte Strafrahmen und allgemeine Strafzumessungsnormen . Die Strafzumessungsnormen illustrieren aber nicht nur, dass die Annahme einer strikten Trennung einer Welt des Sollens von einer Welt des Seins übertrieben ist; sie verändern auch das Bild von dem, was wir ein Verbrechen nennen; dazu John Gardner: „Crime, some will say, is a purely legal category, and a crime is none other than action or activity which meets the conditions set by law for criminal conviction . (…) In fact, the problem is much more complicated than this . It is true that crimes are, in one (‚institutional‘) sense, just activities which meet the conditions for criminal conviction . But crime conviction is an all-ornothing business . (…) Where the rule of law is properly observed, criminal offences are defined as to facilitate exactly this kind of all-or-nothing decision-making . (…) The point is that, where the rule of law is observed, individual criminal offences are not defined in law so as to retain the topography of gravity for the sentencing stage, but rather so as to flatten that topography, so far as possible, for the all-or-nothing purposes of conviction or acquittal .“49
D . h ., dass es gar nicht der Sinn des gesetzgeberischen Handelns bei der Definition einer Straftat ist, das gesamte Unrecht einer möglichen Straftat anzugeben, sondern bloß seine Minimalbedingungen (das gleiche gilt für die strafrechtlichen Definitionen)50 . Man kann sich also bildlich den Unterschied von Strafbarkeit und Strafzumessung als die Veränderung eines zweidimensionalen Koordinatensystems in ein dreidimensionales vorstellen . Und Art . 103 Abs . 2 GG verhindert gerade nicht, dass wir uns dieses dreidimensionale Bild einer Straftat machen, also etwa neue Tatbestandsmerkmale in die Strafzumessungsnorm einfügen, weil sich Art . 103 Abs . 2 GG primär auf eine andere Norm mit einem anderen telos bezieht, nämlich diejenige, die der Gesetzgeber für die Frage der Strafbarkeit entwickelt hat .51 6 dIe strafzumessunG als resIduum der wIllkür Im recht Auch wenn diese normentheoretische Rekonstruktion der Strafzumessungsentscheidung über kurz oder lang zu einer gleichmäßigeren Strafenpraxis führen würde, 48 BVerfGE 105, 135 (154) . 49 Vgl . John Gardner, Crime: In Proportion and in Perspective, in derselbe: Offences and Defences, Oxford 2007, S . 213 (222 f .) . 50 „Deshalb denkt man bei der Definition der Körperverletzung vor allen Dingen an das Bespritzen mit Tripperwasser und das Abschneiden von Haaren“, Puppe, Juristische Methodenlehre für die Strafrechtshausarbeit, in: dieselbe (Fn . 47) S . 27 (33) . 51 Dass Art . 103 Abs . 2 GG daneben auch eine gewisse Normvalenz für die Strafzumessungsnorm enthält, sei zugestanden, diese erschöpft sich aber vor allem darin, dass der vorgegebene Strafrahmen nicht verlassen wird . Zur Normvalenz des Art . 103 Abs . 2 GG darüber hinaus siehe die Vermögensstrafe-Entscheidung BVerfGE 105, 135 (156 f .) vgl . aber auch die abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff .
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Thomas Grosse-Wilde
sorgt sie etwa auch dafür, dass der Willküraspekt vollständig aus der Strafzumessung eskamotiert würde? Meiner Auffassung nach: Nein . Zwar geben die richterrechtlich entwickelten Strafzumessungsnormen weitaus engere Schuldrahmen oder Schuldobergrenzen vor, als es die gesetzlichen Strafrahmen tun, aber numerische Strafmaße enthalten sie gewöhnlich nicht . Diesen haftet insofern ein inhärentes Maß an Willkür, an Dezisionismus an . – Wie sollte ein Richter reagieren, wenn er vom Verurteilten gefragt würde, warum er ihn zu 30 Tagessätzen und nicht 29 oder 2 Jahren und 4 Monaten und nicht 2 Jahre und 3 Monaten verurteilt habe?52 Hegel hat den Kernaspekt in § 214 seiner Rechtsphilosophie angesprochen:53 „Es lässt sich nicht vernünftig bestimmen noch durch die Anwendung einer aus dem Begriffe herkommenden Bestimmtheit entscheiden, ob für ein Vergehen eine Leibesstrafe von vierzig Streichen oder von vierzig weniger eins, noch ob eine Geldstrafe von fünf Talern oder aber vier Talern und dreiundzwanzig usf . Groschen, noch ob eine Gefängnisstrafe von einem Jahre oder von dreihundertundvierundsechzig usf . oder von einem Jahre und einem, zwei oder drei Tagen das Gerechte sei . Und doch ist schon Ein Streich zuviel, Ein Taler oder Ein Groschen, Eine Woche, Ein Tag Gefängnis zuviel oder zuwenig eine Ungerechtigkeit . – Die Vernunft ist es selbst, welche anerkennt, daß die Zufälligkeit, der Widerspruch und Schein ihre – aber beschränkte – Sphäre und Recht hat, und sich nicht bemüht, dergleichen Widersprüche ins Gleiche und Gerechte zu bringen; hier ist allein noch das Interesse der Verwirklichung, daß überhaupt bestimmt und entschieden sei, es sei, auf welche Weise es (innerhalb einer Grenze) wolle, vorhanden .“
Ich stimme dem bis auf eine Formulierung zu, nämlich derjenigen, dass schon ein Streich zuviel eine Ungerechtigkeit sei . Dies stimmt natürlich für Vergleichsfälle, etwa die nur minimal voneinander abweichenden Strafen zweier Mittäter mit gleichen Tatanteilen, ohne dass spezialpräventive Unterschiede oder Vorstrafen ein unterschiedliches Strafmaß erklären könnten, Art . 3 I GG . Aber diese Wendung suggeriert, es gebe i . S . e . kardinalen Proportionalität, wenn schon keinen rechtlichen, so einen außerrechtlichen moralischen Maßstab, der bestimmen könnte, dass 29 und nicht 30 Tagessätze die gerechte Strafe seien, also die Idee einer Punktstrafe . Ich würde dem entgegnen, dass dies gar keine moralische Frage ist: Tony Honoré hat diesen Gedanken in einem Aufsatztitel mit der provozierenden Inversion ausgedrückt als „The Dependence of Morality on Law“ .54 Welche Moral man sich auch vorstellen kann, sie ist eine unvollständige Sollensordnung, denn sie schweigt bspw ., ob es besser ist, ein Links- oder Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr zu implementieren, ob ein Hochhaus in der Nähe vom Kölner 52 Vgl . dazu schon Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S . 109: „Den Richter, der wissen will, warum er ein Jahr Gefängnis und nicht ein Jahr und einen Tag als Strafe festsetzt, auf die Grundsätze der General- und Spezialprävention verweisen, heißt einfach ihn zum besten halten .“ – Bei manchen Strafmaßen wird er eine rationale Antwort geben können, wenn numerische Grenzen zugleich rechtliche Folgen haben, wie die Eintragung in das polizeiliche Führungszeugnis ab 91 Tagessätzen, die fehlende Aussetzbarkeit einer Strafe zur Bewährung bei Strafen von mehr als 2 Jahren Freiheitsstrafe etc . Aber dies ist die Ausnahme, dann bleibt nur die Vorliebe für Dezimalzahlen . 53 Vgl . zu dieser für ihn so wichtigen Hegel-Stelle bereits Carl Schmitt (Fn . 52), S . 49 f . 54 Tony Honoré, Oxford Journal of Legal Studies, 1993 (Vol . 13), S . 1; zustimmend John Gardner, Ethics and Law, in: J. Skorupski, The Routledge Companion to Ethics, London 2010, 419 (422 f .) .
Gleichheit und Differenz in der Strafzumessung
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Dom 100 m oder 120 m hoch errichtet werden darf, und ob die Einkommenssteuer 42 oder 43 % betragen soll . „Morality on its own is incomplete and cannot provide a viable guide to what we are required to do in particular situations . (…) Taxation affords a good example . (…) Members of a community have in principle a moral obligation to pay taxes . But this obligation is incomplete or, if one prefers, inchoate, apart from law . It has no real content until the amount or rate of tax is fixed by an institutional decision, by law .“55 Nichts anderes gilt für die konkreten, numerischen Strafen in einem von Menschen gemachten Strafensystem .56
55 Honoré (Fn . 54), S . 1 (2 ff .) . 56 In diesem Sinne auch Ulfrid Neumann, in: H. Jung/derselbe, Festschrift für Ellscheid, Baden-Baden 1999, 118 (119), der insofern für die Strafzumessung seine ansonsten präferierte „regulative Idee“ der einzig richtigen Entscheidung (vgl . etwa derselbe, Wahrheit im Recht, Baden-Baden 2004, S . 37 ff .; derselbe, in: derselbe/F. Herzog, Hassemer-FS, Heidelberg 2010, 143 [149 f .]) ablehnt .
norbert paulo eIne partIkularIstIsche sIcht auf den allGemeInen GleIchheItssatz Der Beitrag hinterfragt das weithin akzeptierte Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Ausdruck der Gerechtigkeit, wenn auch nur der formalen Gerechtigkeit . Er zeigt auf, welche Unstimmigkeiten dieses Verständnis und die Prüfung einer Verletzung der so verstandenen Norm beinhalten . Dabei werden klassische Kritikpunkte an der Deutung des allgemeinen Gleichheitssatzes als Rechtssetzungsgleichheit durch Überlegungen aus der aktuellen philosophischen Diskussion um das Prinzip der Universalisierbarkeit und den ethischen Partikularismus ergänzt . Der Beitrag zeigt, dass die zwischen (vermeintlichen) antiken Formulierungen von Gerechtigkeitsforderungen und modernen politischen Vorstellungen mäandernden Argumentationsgänge nicht überzeugend sind und fordert im Ergebnis einen ehrlichen und transparenten Umgang mit Art . 3 I GG . Schließlich sagt der allgemeine Gleichheitssatz über die Regelanwendungsgleichheit hinaus nichts aus, wobei auch diese Aussage wichtig und in ihrer Umsetzung nicht trivial ist .
1 der allGemeIne GleIchheItssatz Der Kern der Gerechtigkeit wird verbreitet im Gleichheitsprinzip gesehen, welches rechtlich vor allem im allgemeinen Gleichheitssatz, in Deutschland in Art . 3 I GG, verortet wird . In der die ehrbaren historischen Vorläufer in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Fassung von 1793 (Art . 3), der Paulskirchenverfassung von 1849 (§ 137 III) und in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art . 109 I) aufnehmenden schlichten Feststellung alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich wird teilweise auch eine Mindestforderung der Gerechtigkeit, der sog . formalen Gerechtigkeit im Sinne Chaïm Perelmans, vermutet . Auffällig im Umgang mit Art . 3 I GG ist, dass kaum mehr auf den Normsatz1 selbst Bezug genommen, sondern unvermittelt auf nicht weiter erläuterte Gerechtigkeitsprinzipien zurückgegriffen wird .2 Es verwundert kaum, dass dieses Vorgehen zu vielen Unstimmigkeiten führt . Um diese aufzuzeigen, werde ich mich zunächst ausschließlich auf den Normsatz – Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – konzentrieren . Über die Kritik Hans Kelsens an dem Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Rechtssetzungsgleichheit werde ich zu Überlegungen zum Prinzip der Universalisierbarkeit und zu Implikationen der aktuellen Debatte in der Philosophie um den ethischen Partiku1
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Im Sinne der Theorie vom semantischen Normbegriff wird der Wortlaut einer positivierten Norm als Normsatz bezeichnet . Die darin enthaltene normative Aussage hingegen wird Norm genannt . Siehe zu dieser Theorie statt vieler Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a . M . 1986, S . 42 ff . Vgl . bspw . Lerke Osterloh, in: Sachs (Hrsg .), Grundgesetz – Kommentar, 4 . Aufl ., München 2007, Art . 3 Rn . 1 ff ., die in einem einzigen Satz unter Verweis auf Art . 1 III GG klarstellt, dass man sich mit dem Normsatz gar nicht auseinandersetzen müsse, um sodann auf die Idee der Gerechtigkeit als Gleichheit einzugehen . Nach Günter Dürig und Rupert Scholz, in: Herzog/Scholz/ Herdegen/Klein (Hrsg .), Maunz/Dürig, Grundgesetz – Kommentar, 60 . Lieferung, München 2010, Art . 3 I Rn . 4 „enthält die Aussage: „Alle Menschen sind … gleich“ [selbstverständlich] einen Rechtssatz, der wie jeder Rechtssatz zwischen Wert und Unwert“ unterscheide . Diese Feststellung bleibt in der ganzen Kommentierung zu Art . 3 GG die einzige Bezugnahme auf den Normsatz .
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larismus für das Verständnis des Gleichheitssatzes kommen . Diese Überlegungen führen zum einen zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung des BVerfG und die weit überwiegende Literatur sich auf viele verschiedene Normen beziehen, die sich fast alle weit vom Wortlaut, dem Normsatz, entfernt haben; zum anderen kann man im Ergebnis aber trotzdem aus partikularistischer Sicht dem vom BVerfG entwickelten Willkürverbot zustimmen, nicht hingegen der Neuen Formel . 1.1 Vor vs. in deM Gesetz: ForMale GerecHtiGkeit Was bedeutet nun aber die Formulierung alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich? Festzuhalten ist zunächst, dass der Normsatz keine egalitäre Gleichheitsnorm beinhaltet . Schließlich heißt es nicht alle Menschen sind gleich, sondern alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich . Warum heißt es aber vor und nicht in dem Gesetz? Einen Vergleich des allgemeinen Gleichheitssatzes zu einem möglichen Alternativnormsatz alle Menschen sind in dem Gesetz gleich hat bereits Hans Kelsen unternommen .3 Zu Recht stellt er zunächst klar, dass der Normsatz bereits ein bestehendes Gesetz voraussetzt . Art . 3 I GG kann damit begrifflich schon kein Ausschlusskriterium sein für Gesetze, in denen Menschen nach tatbestandlich festgesetzten Kriterien unterschiedlich behandelt werden . Vor diesem Gesetz sind Menschen trotzdem gleich, nur eben nicht in diesem Gesetz . „Gleichheit vor dem Gesetz kann bestehen, wenn auch keinerlei Gleichheit im Gesetz besteht, das heißt: wenn das Gesetz keine gleiche Behandlung vorschreibt . Wenn das Gesetz nur Männern, aber nicht Frauen ein Wahlrecht gewährt, also in dieser Beziehung keine Gleichheit im Gesetz besteht, kann doch das Prinzip der Gleichheit vor diesem Gesetz gewahrt werden .“4 Art . 3 I GG drückt eigentlich eine Selbstverständlichkeit aus, die man Regelanwendungsgleichheit nennen kann: Normen müssen gleich angewendet werden . Wenn dies nicht der Fall ist, werden sie falsch bzw . gar nicht angewendet . Anknüpfend an ein weit verbreitetes Verständnis kann man jedenfalls sagen, dass Normen und Regeln allgemeine Imperative („Jeder tue immer X, wenn Y!“) im Gegensatz zu singulären Imperativen („Tue jetzt X!“) sind .5 Nichts anderes meint Kelsen, wenn er sagt, jede Norm schreibe vor, „dass bestimmte Individuen unter bestimmten Umständen in bestimmter Weise behandelt werden sollen .“6 Im Anschluss v . a . an Chaïm Perelman wird dieser Zusammenhang auch als Idee der formalen Gerechtigkeit bezeichnet .7 Perelman hatte sechs verschiedene Gerechtig3
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Er bezieht sich zwar nicht auf eine bestimmte positiv-rechtliche Norm, spricht aber von der „’Gleichheit’, die man im juristischen Sprachgebrauch als Gleichheit vor dem Gesetz bezeichnet“, siehe Hans Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit – Anhang zu: Reine Rechtslehre, 2 . Aufl ., Wien 1960, S . 396 . Kelsen (Fn . 3), S . 396 (Hervorhebung im Original) . Siehe statt vieler nur Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin/New York 1984, S . 9 ff . Kelsen (Fn . 3), S . 146, 393 . Chaïm Perelman, Eine Studie über die Gerechtigkeit, in: ders ., Über die Gerechtigkeit, München 1967, S . 9–84 . Vgl . dazu Jörg Schroth, Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, Paderborn 2001, S . 201 ff . m . w . N . Ich folge Schroth in grundsätzlichen Punkten zur formalen Gerechtigkeit und zur Universalisierbarkeit .
Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz
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keitskonzeptionen untersucht8 und aus diesen die formale Gerechtigkeit als ein Element, das alle Konzeptionen teilen, als notwendige Bedingung für Gerechtigkeit destilliert .9 Die formale Gerechtigkeit einer Handlung setzt nach Perelman eine Regel voraus und ist relativ zu dieser Regel . Sie besteht in der richtigen Regelanwendung in Form eines logischen Syllogismus, unabhängig davon, ob die Regel selbst gerecht oder ungerecht ist .10 Weiter gehört dazu, dass die Regel auf alle Menschen, die von ihrem Wortlaut erfasst sind, angewendet wird . Formal ungerecht wäre es demnach aber, eine Handlung gar nicht aus einer Regel abzuleiten oder eine gerechte Regel zu verletzen . Kelsen erkennt – anders als Perelman – hierin keine Gerechtigkeitselemente, sondern wieder die Regelanwendungsgleichheit: „Was Perelman als ‚justice formelle’ bezeichnet, ist die so genannte ‚Gleichheit’ vor dem Gesetz, das ist die logisch korrekte Anwendung einer generellen Norm . […] Wenn, wie Perelman hier behauptet, das Prinzip der gleichen Behandlung der zu derselben Kategorie Gehörigen eine Forderung der Logik ist, ist es kein Prinzip der Gerechtigkeit, auch nicht einer formalen Gerechtigkeit .“11 Perelmans Kriterien formaler Gerechtigkeit treffen also auch auf die Gleichheit vor dem Gesetz, mithin auch auf Art . 3 I GG zu .12 Dies erkennt auch Perelman selbst, wenn er sagt, die formale Gerechtigkeit sei ein „Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen .“13 Eine Gemeinsamkeit bedarf besonderer Erwähnung: Art . 3 I GG sagt nichts aus über Sachverhalte, die nicht von einem Gesetz, einer Norm erfasst sind; dies wären Fragen der Gleichheit in dem Gesetz . Auch Perelmans formale Gerechtigkeit bezieht sich – was er zwar nicht ausdrücklich sagt, sich aber aus seiner Untersuchung indirekt ergibt – nur auf solche Situationen, in denen eine anwendbare Regel tatsächlich besteht . Die formale Gerechtigkeit sagt also nichts über Handlungen, die nicht aus einer Regel abgeleitet sind, weil es keine anwendbare Regel gibt . Da es aber auch gerechte Handlungen geben kann, die nicht aus einer anwendbaren Regel abgeleitet sind, handelt es sich bei der formalen Gerechtigkeit ersichtlich nicht um eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit .14 Die formale Gerechtigkeit nach Perelman deckt sich also weitgehend mit dem Regelbegriff und damit der Regelanwendungsgleichheit: Regeln sind auf alle gleich anzuwenden, nämlich nur nach ihren jeweiligen Regelmerkmalen . Da Art . 3 I GG 8 9 10 11 12 13 14
Perelman (Fn . 7), S . 16 ff .: Jedem das Gleiche; Jedem gemäß seinen Verdiensten; Jedem gemäß seinen Werken; Jedem gemäß seinen Bedürfnissen; Jedem gemäß seinem Rang; Jedem gemäß dem ihm durch Gesetz Zugeteilten . Zusammenfassend Perelman (Fn . 7), S . 84 . Vgl . Perelman (Fn . 7), S . 64; dazu Schroth (Fn . 7), S . 204 f . Kelsen (Fn . 3), S . 398 (dort Fn . 38, Hervorhebung im Original) . Zur faktischen Gleichsetzung von Art . 3 I GG mit einem allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken vgl . nur BVerfGE 3, 58 (135) . Perelman (Fn . 7), S . 28 . Dies ist unabhängig davon richtig, ob man die formale Gerechtigkeit als Element der Gerechtigkeit versteht (wie Perelman) oder nicht (wie Kelsen) . Schroth (Fn . 7), S . 209 differenziert innerhalb Perelmans System deshalb: eine Handlung sei nicht gerecht, wenn sie nicht aus einer Regel folgt, ungerecht dagegen, wenn sie eine bestehende Regel verletzt; er kommt zu dem Ergebnis, dass Perelmans Behauptung, „formale Gerechtigkeit sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit entweder inkonsistent, unplausibel oder trivial, d . h . ohne jede Relevanz, ist“, Schroth (Fn . 7), S . 211 .
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so gesehen aus theoretischer Sicht nichts Neues sagt, kann man die erste Norm, die der Normsatz des allgemeinen Gleichheitssatzes ausdrückt, so fassen: Regeln müssen angewendet werden . Dies klingt nüchterner, als es ist . Schließlich ist diese formale Gerechtigkeit, die Regelanwendungsgleichheit, ein wichtiges Element gesellschaftlicher Gerechtigkeit, dessen Festschreibung in einer Verfassung sinnvoll ist .15 Und es klingt auch trivialer, als es ist, beginnen doch gerade an diesem Punkt erst die Probleme der Auslegung und Anwendung von Regeln und Rechtsnormen, also die Debatten der Methodenlehre . Beides hat erhebliche Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit . 1.2 das Weite verständnis des allGeMeinen GleicHHeitssatzes Die bisherigen Überlegungen zur Frage, welche Norm der Normsatz des Art . 3 I GG ausdrückt, waren strikt auf den Wortlaut beschränkt . Art . 3 I GG hatte und hat aber eine nicht zu unterschätzende und über die bloße Regelanwendungsgleichheit weit hinausgehende politische und praktische Bedeutung, die sich auch in der allmählichen Ausdifferenzierung der speziellen Gleichheitssätze ausdrückt . Dies liegt an einem anderen, weiteren Verständnis von Art . 3 I GG, wie es in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis vorherrschend ist . Dieses Verständnis könnte eine Folge der verbreiteten Überzeugung sein, dass alle Menschen vom Recht oder den Institutionen des Rechts – in Gestalt der Legislative, Judikative und Exekutive – unparteiisch zu behandeln sind . Diese Überzeugung bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich zu behandeln wären . Es handelt sich um ein rein negatives Kriterium – schließlich ist nur gefordert, dass keine Parteilichkeit vorliegen darf –, welches noch mit positivem Gehalt gefüllt werden müsste . Man kann unparteiisch handeln, ohne dabei Gesetze anzuwenden .16 Zwar mag die Unparteilichkeitsforderung durchaus mit Gerechtigkeit zu tun haben . Ein Zusammenhang mit Art . 3 I GG ist aber kaum ersichtlich . Die in der ersten Norm zum Ausdruck kommende Regelanwendungsgleichheit erfordert natürlich auch eine schwache Form von Unparteilichkeit . Die darüber hinausgehende (stärkere) Forderung der Unparteilichkeit ergibt sich aber nicht aus Art . 3 I GG . Möglich wäre auch eine ganz andere Herangehensweise, die evtl . auch die weitergehende Forderung der Unparteilichkeit plausibilisiert: Wenn man den allgemeinen Gleichheitssatz weniger wörtlich als umgangssprachlich verstehen möchte, kann man Gesetz auch – wesentlich weiter – im Sinne von Recht verstehen, also wenigstens als Summe aller positiv-rechtlichen Regelungen . Vergleichen kann man dies mit einer Aussage wie „Der Blauwal ist ein großes Tier“ . In einer solchen Aussage kann Blauwal neben der Bezeichnung eines bestimmten Tieres auch eine Gruppenbezeichnung sein, etwa wie in „Blauwale sind große Tiere“ . In diesem Sinne könnte Gesetz also auch als Gruppenbezeichnung, als (alle) Gesetze oder eben als Recht verstanden werden . Darüber hinaus ist sogar auch ein Verständnis als über-positives 15 Dies hat etwa John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1979, S . 78, 265 ff . treffend bemerkt . Zu in diesen Bereich fallenden Ungleichheiten aus soziologischer und historischer Sicht siehe die Beiträge in Schlögl (Hrsg .), Ungleichheiten vor Gericht, Göttingen 2009 . 16 Siehe hierzu David Lyons, On Formal Justice, in: ders ., Moral aspects of legal theory, Cambridge 1993, S . 13–40, S . 34 ff .
Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz
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Naturrecht möglich . Letzteres scheint den meisten Abhandlungen zum allgemeinen Gleichheitssatz zugrunde zu liegen . Weniger umgangssprachlich, sondern eher kulturhistorisch kann man das Verständnis der Feststellung alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich als Verweis auf das Urteil Salomons nennen . In dieser biblischen Geschichte, die nicht erst seit Nicolas Poussins Verbildlichung zum abendländischen Kulturgut gehört, wenden sich die beiden Frauen, die sich darum streiten, welche von beiden die Mutter eines Kindes ist, an den König Salomon und stehen in Poussins Bild vor ihm . Salomon verkörpert als König das Gesetz bzw . das Recht und verkündet später sein sprichwörtliches, weises Urteil . Diese bildhafte Vorstellung der Menschen vor dem Gesetz lässt sich auch nachvollziehen bis zu Franz Kafkas Erzählung mit dem Titel Vor dem Gesetz: „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter . Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz …“ Der Eintritt wird dem Mann mal um mal verwährt, bis er schließlich kurz vor seinem Tod erfährt, dass dieser Eingang nur für ihn bestimmt war und nun geschlossen wird . Möglich erscheint auch, das Wort vor gar nicht so ernst zu nehmen und in den Normsatz statt einer Regelanwendungsgleichheit eine Regelsetzungsgleichheit bzw . eine Rechtssetzungsgleichheit an die also auch die Legislative gebunden ist, hineinzulesen,17 was der weit verstandenen umgangssprachlichen Umdeutung von Gesetz in Recht wohl entspricht . Dies war hinsichtlich der entsprechenden Fassungen in der Paulskirchenverfassung und der Weimarer Reichsverfassung durchaus noch umstritten; bei den Beratungen zum Grundgesetz wurde die Frage der Rechtssetzungsgleichheit wegen Art . 1 III GG aber als entschieden angesehen .18 Art . 1 III GG, der schließlich alle drei Staatsgewalten an die nachfolgenden Grundrechte binde, erfasse auch die Legislative und Art . 3 I GG . Daher nimmt man eine Rechtssetzungsgleichheit an .19 Dieses Argument wird bis heute vorgebracht und um die Überlegung ergänzt, dass dies auch gut ins Gesamtbild des Grundgesetzes passe, welches eher Misstrauen gegenüber der Legislative zum Ausdruck bringe .20 Teilweise wird diese Ansicht auch mit einer Art „Zusammenschau“ von Artt . 3 I und 1 III GG 17 Dies macht von Anfang an das BVerfG, vgl . BVerfGE 1, 14 (52) . Diese Linie wurde in Rechtsprechung und Literatur „schlicht akzeptiert“ (Alexy (Fn . 1), S . 359), vgl . auch Stefan Huster, Rechte und Ziele, Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, Berlin 1993, S . 18 . Zu dem Problem der Abgrenzung von Art . 3 I GG in dieser Lesart zu Art . 19 I 1 GG (Allgemeinheit des Gesetzes, Verbot des Einzelfallgesetzes) siehe Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, Tübingen 2009, S . 232 ff . 18 Siehe etwa Ekkehart Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg .), Alternativkommentar-GG, 3 . Aufl ., Neuwied 2001, Art . 3 I Rn . 8–10; Christian Starck, in: v . Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg .), Bonner GG-Kommentar, 4 . Aufl ., München 1999, Art . 3 I Rn . 2 . 19 Statt vieler Reinhold Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S . 7–36, 10 ff . und Jost Pietzcker, Rechtsvergleichende Aspekte des allgemeinen Gleichheitssatzes, in: Hendler/Ibler/ Martinez Soria (Hrsg .), „Für Sicherheit, für Europa“, Festschrift für Volkmar Götz zum 70 . Geburtstag, Göttingen 2005, S . 301–321, 302 ff . 20 So Alexy (Fn . 1), S . 358, 360 ff ., der dies für „schlagende Argumente“ hält und mit einer knappen Erwähnung von Platon und Aristoteles, nach denen gelte Gleiches ist gleich, Ungleiches ist ungleich zu behandeln, ohne merklichen Bruch vom Wortlaut des Art . 3 I GG zur Interpretation des (vermeintlichen) platonischen und aristotelischen Grundsatzes übergeht und sich im Folgenden um den eigentlichen Normsatz gar nicht mehr bemüht . Dieses Vorgehen ist umso kritischer zu sehen, wenn man liest, auf welche Äußerungen Platons und Aristoteles‘ Alexy verweist, siehe unten .
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begründet,21 die den Normsatz natürlich erheblich verschiebt . Die zweite mögliche Norm, die der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur, kann man etwa so fassen: Regeln müssen angewendet werden; alle Menschen sind von allen Staatsgewalten gleich zu behandeln. In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass neben der Regelanwendungs- auch die Rechtssetzungsgleichheit gemeint ist . Die Betrachtungsweise der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur entbehrt zwar nicht einer gewissen Plausibilität . Und auch aus politischer Sicht mag man sich kaum dagegen wenden . Jedoch bringt sie auch Probleme mit sich . Mir ist jedenfalls bei der kulturhistorischen Betrachtung nicht klar, wie man noch von einer Anwendung von Art . 3 I GG sprechen kann, oder was man unter einer Anwendung dann noch versteht . Schließlich ist auch im Verständnis der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur sein Inhalt, seine Bedeutung, die eigentliche Norm nicht aus dem Normsatz heraus verständlich . Woraus aber dann? Wie legt man einen Normsatz aus, über dessen Wortlaut man sich hinwegsetzten muss, um seinen Inhalt, seine Norm richtig zu ermitteln? Legt man den Normsatz aus, oder doch irgendein den jeweiligen Bedürfnissen angepasstes Gerechtigkeitsprinzip? Auch wenn der Wortlaut nicht das alleinige Kriterium der Auslegung und Anwendung ist, erfordern doch moralische wie rechtsstaatliche Erwägungen die Transparenz und Nachvollziehbarkeit normativer Überlegungen . Dies wiederum erfordert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Normsatz . Ob der Normsatz die absolute Grenze der Auslegung sein soll und wie man ihn überhaupt verlässlich ermittelt, sind andere, schwierige, aber nachgeordnete Fragen .22 Wegen der benannten Schwierigkeiten und dem mangelnden Ehrgeiz der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur, sich überhaupt mit dem Normsatz des Art . 3 I GG zu beschäftigen, blende ich für meine Zwecke die umgangssprachliche wie die kulturhistorische Betrachtungsweise zunächst aus und bleibe bei der Wortbedeutung von Art . 3 I GG, beim Verständnis als Regelanwendungsgleichheit . Dabei bin ich mir dessen bewusst, dass dieser Zweck ein begrenzter ist . Auf das weite Verständnis der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis komme ich zurück . 2 Ist GleIches GleIch und unGleIches unGleIch zu Behandeln? Schon früh hat sich in der Anwendung von Art . 3 I GG die Auffassung durchgesetzt, gleiche Fälle seien gleich zu behandeln .23 Dieser formale Überzeugungskern hat sich bis heute im Willkürverbot und der Neuen Formel des BVerfG, auf die ich unten näher eingehe, erhalten . Die damit ausgedrückte dritte mögliche Norm könnte man, in Verbindung mit der Rechtssetzungsgleichheit und der entsprechenden Ungleichbehandlungsforderung24, etwa so fassen: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten Gleiches gleich und Ungleiches ungleich (zu behandeln). 21 Diese Sicht vertreten Dürig/Scholz (Fn . 2), Art . 3 Rn . 3 ff . 22 Zur Theorie der Wortlautgrenze umfassend Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, BadenBaden 2004; zusammenfassend ders ., Die Wortlautgrenze, in: Lerch (Hrsg .), Die Sprache des Rechts, Band 2, Berlin 2005, S . 343–368 . 23 So ausdrücklich bspw . in BVerfGE 3, 58 (135) . 24 Siehe nur Kelsen (Fn . 3), S . 392 und H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1 Aufl ., Oxford 1961, S . 155 . Tatsächlich formulierte auch das BVerfG schon früh, dass weder wesentlich Gleiches
Eine partikularistische Sicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz
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Für die Forderung Gleiches sei gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird verbreitet auf die antike Philosophie verwiesen . Dies sei hier nur exemplarisch und kursorisch an Robert Alexys Bezugnahme auf Platon und Aristoteles25 kritisiert: „Es gibt nämlich zwei Gleichheiten […] Die eine von ihnen vermag bei den Ehrungen jede Stadt und jeder Gesetzgeber einzuführen, nämlich die nach Maß, Gewicht und Zahl gleiche, indem er sie mittels des Loses bei den Verteilungen herstellt . Die wahrste und beste Gleichheit aber ist nicht mehr so leicht für jeden einsichtig; denn sie beruht auf dem Urteil des Zeus, und den Menschen bietet sie nur geringe Hilfe; doch alles, was sie den Städten oder auch Privatleuten an Hilfe gewährt, das bewirkt lauter Gutes . Dem Größeren teilt sie nämlich mehr, dem Kleineren weniger zu und gibt so beiden das, was ihrer Natur angemessen ist“ .26
Von einem einfachen Gerechtigkeitsprinzip wie Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln ist bei Platon so keine Rede . Die Sache ist auch dort schon schwieriger . Bei Aristoteles hingegen kann man tatsächlich etwas ähnliches wie die stipulierte Forderung sehen, jedoch in einer deutlich anderen Formulierung, die auch anderen Interpretationen zugänglich ist und auch bei Aristoteles ziemlich unvermittelt erwähnt wird: „[A]lle halten zwar an einem bestimmten Rechtsprinzip fest, jedoch gelangen sie nur bis zu einem gewissen Punkte und bringen nicht eine Rechtsbegründung im eigentlichen Sinne und von allgemeiner Gültigkeit vor . So gibt es die Auffassung, Gerechtigkeit bestehe in Gleichheit, und sie besteht tatsächlich in Gleichheit, jedoch nicht für jedermann, sondern (nur) für die Gleichen . Und nach einer gewissen Auffassung ist Ungleichheit gerecht, und sie ist tatsächlich gerecht, aber nicht für alle, sondern (nur) für die Ungleichen .“27
Alexy verweist auch auf eine Stelle in Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik .28 Zwar geht es dort um Gerechtigkeit, Gleichheit, Angemessenheit und Proportion, nicht jedoch um ein Gerechtigkeitsprinzip wie Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln . Es findet sich also bei Alexys drei Verweisen lediglich ein vager, argumentativ nicht untermauerter Hinweis auf die in Anspruch genommene Forderung . Darauf die weitere „Auslegung“ des allgemeinen Gleichheitssatzes zu stützen, ist wenig überzeugend . 2.1 universalisierbarkeit Nicht nur das BVerfG sieht zwischen dieser Gleichbehandlungsforderung und der Regelanwendungsgleichheit keinen Unterschied .29 In der Tat haben beide Gleichheitsforderungen auch eine Gemeinsamkeit: Sie sind selbstverständlich und entziehen sich insofern auch jeder Kritik . Dass Regeln gleich angewendet werden müssen, steckt im Begriff der Regel als allgemeiner Imperativ . Zur Forderung, gleiche Fälle
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willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandelt werden dürfe, vgl . BVerfGE 4, 144 (155); 78, 104 (121) . Die Merkmale der wesentlichen Gleichheit und der Willkür blende ich hier noch aus . Alexy (Fn . 1), S . 360 (dort Fn . 15) . Gleiches könnte man auch bei anderen Autoren zeigen; Alexy verweist aber als einer der wenigsten überhaupt auf konkrete Textstellen . Platon, Gesetze, Buch VI, Band IX 2 der Werkausgabe, Göttingen 2003, 757 . Aristoteles, Politik, Buch III, Band 9 der Werkausgabe, Darmstadt 1991, Kapitel 9, 1280a . Auf Buch V, Kapitel 6, 1131a . Siehe etwa auch Richard M. Hare, Moralisches Denken, Frankfurt a . M . 1992, S . 221, Hart (Fn . 24), S . 156 und Peter Koller, Theorien des Rechts, Wien/Köln/Weimar 1992, S . 280 .
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gleich zu behandeln, muss man etwas mehr sagen: Sie ist äquivalent zum Prinzip der Universalisierbarkeit, wonach, wenn eine Handlung rechtlich richtig ist, auch jede andere Handlung, die der ersten in allen rechtlich relevanten Hinsichten gleicht, rechtlich richtig ist .30 Hierbei handelt sich um einen analytisch wahren Satz . Es ist nämlich ein Widerspruch, zu behaupten, zwei Handlungen hätten zwar die gleichen rechtlich relevanten Eigenschaften, seien aber rechtlich unterschiedlich zu beurteilen . Wenn sie rechtlich unterschiedlich zu beurteilen wären, müsste jedenfalls eine Handlung eine rechtlich relevante Eigenschaft haben, die die andere Handlung nicht hat . Alle Eigenschaften, die die rechtliche Beurteilung beeinflussen können, sind schließlich rechtlich relevant . Die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, dehnt die Gleichheit nicht aus auf Fälle, die ähnlich, vergleichbar, wesentlich gleich/ungleich usw . sind . Auch nimmt sie nicht Bezug auf Eigenschaften, aufgrund derer eine Handlung richtig ist . In der hier behandelten Formulierung sind gleiche Fälle tatsächlich nur solche, die sich in allen für eine Beurteilung relevanten, wenn nicht in allen Eigenschaften gleichen . Für die Formulierung, dass ungleiche Fälle ungleich zu behandeln sind, trifft die Äquivalenz zur Universalisierbarkeit auf andere Weise und nur bedingt zu . Zur Verdeutlichung könnte man etwa so formulieren: wenn eine Handlung rechtlich richtig ist, ist jede andere Handlung, die der ersten in wenigstens einer rechtlich relevanten Hinsicht nicht gleicht, nicht rechtlich richtig . Mit rechtlich richtig ist hier nicht gemeint, dass etwas erlaubt, also nicht verboten ist, sondern dass exakt die gleiche rechtliche Beurteilung vorliegt . Hierbei handelt es sich um ein negatives, abgrenzendes Kriterium . Wenn zwei Fälle vorliegen, die sich in wenigstens einer rechtlich relevanten Eigenschaft unterscheiden, sagt das Judiz über einen Fall – aus logischer Sicht – fast nichts über den anderen . Es ist nur eine Möglichkeit ausgeschlossen, nämlich dass beide Fälle exakt gleich zu beurteilen sind . Sie können nicht gleich zu beurteilen sein, weil sie nicht alle relevanten Eigenschaften teilen . Alle relevanten Eigenschaften müssen aber in den Gründen für ihre Beurteilung eine Rolle spielen . Anderenfalls haben nicht alle relevanten Gründe Eingang in den Beurteilungsprozess gefunden .31 Hinzuweisen ist hier noch auf ein anderes (vermeintliches) Universalisierbarkeitsprinzip, das leicht mit dem dargestellten verwechselt werden könnte, nämlich ein Prinzip, nach dem die Eigenschaften, die in einem Fall dessen rechtliche Qualität bestimmen, auch die rechtliche Qualität jedes anderen Falls, der dem ersten in relevanten Hinsichten ähnelt, bestimmen . Dieses vermeintliche Universalisierbarkeitsprinzip entspringt ei30 Für eine ähnliche Formulierung – bezogen auf die Moral – siehe Schroth (Fn . 7), S . 22 und ders ., Universalisierbarkeit und Partikularismus, in: Beckermann/Nimtz (Hrsg .), Argument und Analyse, Ausgewählte Sektionsvorträge des 4 . internationalen Kongresses der GAP, Paderborn 2002, S . 608–617, S . 610 . Aus Gründen der besseren sprachlichen Verständlichkeit habe ich die Universalisierung vereinfacht und rede einerseits von „gleich zu behandeln“ und andererseits von „rechtlich richtig“ . Dass der Zusammenhang trotzdem richtig ist, hat Schroth (Fn . 7), S . 227 gezeigt . 31 Siehe hierzu auch Hare (Fn . 29), S . 221, der davon ausgeht, dass, wenn zwei Fälle ungleich sind, die Ungleichbehandlungsforderung nicht sage, dass beide Fälle nicht gleich behandelt werden dürfen . Schließlich könnten die Unterschiede (moralisch) irrelevant sein . Diese Möglichkeit ist in meiner Formulierung durch die Einbeziehung „rechtlich relevanter“ Unterschiede ausgeschlossen .
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nem Argumentationsfehler32: Man geht zunächst davon aus, dass, wenn eine Handlung rechtlich richtig ist, auch jede andere Handlung, die der ersten in rechtlich relevanten Hinsichten gleicht, rechtlich richtig ist . Weiter meint man, die rechtlich relevanten Hinsichten seien diejenigen Eigenschaften, auf Grund deren die Handlung rechtlich richtig ist . Also seien alle Handlungen, welche die gleichen Eigenschaften haben, auf Grund deren die erste Handlung rechtlich richtig war, auch rechtlich richtig . Der Fehler liegt in der übergangenen Prämisse, dass, wenn eine Handlung die gleichen nicht-rechtlichen Eigenschaften hat, auf Grund deren eine andere Handlung rechtlich richtig ist, sich dann beide Handlungen in rechtlicher Hinsicht gleichen . Diese Prämisse ist falsch, weil die Handlung neben den Eigenschaften, die sie mit der anderen Handlung gemein hat, noch weitere (rechtlich relevante) Eigenschaften haben kann, die eine andere Bewertung erfordern . Dieses Prinzip ist also falsch . Es handelt sich um keine „echte“ Universalisierung . Insgesamt verdeutlicht die Äquivalenz zum Prinzip der Universalisierbarkeit also nochmals, dass die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, einen nur sehr begrenzten Anwendungsbereich hat . Außerdem zeigen die beiden Exkurse zur Formulierung des Prinzips für die Ungleichbehandlung sowie zur vermeintlichen Universalisierung, dass bei der Formulierung von Gleichheitsforderungen Vorsicht geboten ist . 2.2 zusaMMenHanG? Obschon also die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, äquivalent zum logisch geltenden Prinzip der Universalisierbarkeit ist und auch die Regelanwendungsgleichheit nicht bestritten wird, gibt es dennoch ein Problem: Universalisierbarkeit und Regelanwendungsgleichheit bedeuten weder das gleiche33, noch kann die eine durch die andere ausgelegt werden, wie es das BVerfG tut . Man kann schließlich alle gleichen Fälle gleich behandeln, ohne dabei überhaupt Regeln anzuwenden, sei es, dass es gar keine Regeln gibt, dass man sie nicht kennt oder dass man einfach nicht an sie denkt und sich eher zufällig regelkonform verhält . Ebenso kann man alle gleichen Fälle gleich behandeln und dabei bewusst bestehende Regeln außer Acht lassen, sie also gerade nicht anwenden, wie es die Regelanwendungsgleichheit verlangt, bspw . wenn sich Beamte in gleichen Situationen nach dem gleichen Muster bestechen lassen, auch wenn das Gesetz genau dies verbietet . Auch jede erstmalige Anwendung einer Regel fällt nicht unmittelbar unter den Satz, gleiche Fälle seien gleich zu behandeln . Schließlich gibt es bei der erstmaligen Anwendung noch kein 32 Ich folge hier Schroth (Fn . 30), S . 612 ff . (zum moralischen Universalisierbarkeitsprinzip bei Hare) . Schroth zeigt dort auch, dass sich der Partikularist Dancy genau gegen solche Universalisierbarkeitsprinzipien wendet, nicht etwa gegen das oben behandelte Prinzip, siehe auch Jonathan Dancy, Moral Reasons, Oxford 1993, S . 57, 88 ff . 33 So auch Lyons (Fn . 16), S . 28 ff . und Schroth (Fn . 7), S . 229 . Alexy (Fn . 1), S . 361 erkennt zwar, dass die Forderung, Gleiches sei gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln, dem Universalisierbarkeitsprinzip entspricht (was, wie gezeigt, nur teilweise zutrifft), dehnt diese Entsprechung aber zu weit aus, wenn er meint, sie beinhalte auch die formale Gerechtigkeit Perelmans und die Rechtsanwendungsgleichheit . Auch Hart (Fn . 24), S . 156 sieht keinen Unterschied zwischen der richtigen Anwendung einer Regel und der Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln .
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Vergleichspaar .34 Jedenfalls ist zwischen Universalisierbarkeit und Regelanwendungsgleichheit kein Zusammenhang ersichtlich, der es rechtfertigt, die eine durch die andere auszulegen oder gar beide gleichzusetzen .35 2.3 partikularisMus Eine weitere Herausforderung für die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, ist der in der aktuellen philosophischen Ethik viel diskutierte und am prominentesten von Jonathan Dancy vertretene ethische Partikularismus,36 der stark auf die Umstände jedes Einzelfalls, in dem eine ethische Entscheidung zu treffen ist, abstellt und meint, dass Ethik ganz ohne Prinzipien, ohne allgemeine Formulierungen und Universalisierungen37 auskommen muss und dies auch kann .38 Ob es sich bei einer partikularistischen Ethik überhaupt noch um eine Ethik handelt, hängt natürlich davon ab, ob man Verallgemeinerung und Universalisierung für notwendige Bestandteile von Ethik hält oder nicht .39 Die Partikularisten tun dies nicht . Programmatisch heißt es bei Dancy, die „Möglichkeit moralischen Denkens und Urteilens hängt nicht von der Existenz moralischer Prinzipien ab .“40 Wesentlich für diese Ansicht ist der sog . Holismus in der Theorie der Gründe: „Etwas, das in einem Fall einen Grund darstellt, kann in einem anderen Fall gar kein Grund sein oder sogar ein Grund für das Gegenteil .“41 Dieser Holismus ist dem sog . Atomismus entgegengesetzt: „Etwas, das in einem Fall einen Grund darstellt, muss auch in jedem anderen Fall einen Grund darstellen und seine Polarität bewahren .“42
34 Lyons (Fn . 16), S . 30 f . Zum gleichen Problem bei der Frage der Formulierung von Gerechtigkeitsprinzipien siehe Kelsen (Fn . 3), S . 393 . 35 Andere Interpretationsmöglichkeiten ergeben sich freilich, wenn man Art . 3 I GG nicht mit dem Wortlaut als Regelanwendungsprinzip, sondern kulturhistorisch versteht . In diesem Fall wäre man allerdings mit den oben genannten Fragen konfrontiert . 36 Ich kann hier nur eine Idee davon vermitteln, was Partikularismus bedeutet und wie Partikularisten argumentativ vorgehen . Einen leicht zugänglichen Überblick zum Partikularismus bietet Jonathan Dancy, Moral Particularism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand des Eintrags: 14 .01 .2009 . Natürlich gibt es verschiedene Ausprägungen des Partikularismus bei verschiedenen Autoren . Ich beziehe mich hier nur auf Dancy, dessen Spielart die bei weitem elaborierteste ist . Für einen Überblick über die Auseinandersetzung siehe die Beiträge in Lance/Potrč/ Strahovnik (Hrsg .), Challenging Moral Particularism, New York 2008 und Hooker/Little (Hrsg .), Moral Particularism, Oxford 2000 sowie aus der deutschsprachigen Literatur etwa Matthias Kiesselbach, Zwischen Partikularismus und Generalismus: Ethische Probleme als grammatische Spannungen, AZP 2010, S . 45 und Guido Löhrer, Moralische Gründe und Intuitionen – Worüber streiten ethische Generalisten und Partikularisten, AZP 2010, S . 67 . 37 Zur Unterscheidung Bernward Gesang, Kritik des Partikularismus, Paderborn 2000, S . 9 . 38 Kritisch hierzu bspw . Gesang (Fn . 37) . 39 Dazu überblicksartig Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2 . Aufl ., Berlin/ New York 2006, S . 24 ff . Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis bei Gesang (Fn . 37), S . 26 ff ., dass in der Entwicklung des Begriffs Ethik/Moral meist nur bestimmte Gruppen einbezogen und andere ausgeschlossen wurden und erst nach und nach der Anwendungsbereich erweitert, also Verallgemeinerungen vorgenommen wurden . 40 Jonathan Dancy, Ethics without Principles, Oxford 2004, S 7 . 41 Dancy (Fn . 40), S . 7 und 71 ff . 42 Dancy (Fn . 40), S . 7 .
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Vielleicht verdeutlichen Beispiele die Idee, die hinter dem Holismus steckt: Der Eindruck, dass vor mir etwas rot ist, ist normalerweise ein Grund anzunehmen, dass vor mir etwas Rotes ist . Wenn ich nun aber ebenfalls denke, eine Droge genommen zu haben, deren Wirkung darin besteht, dass alles Rote blau aussieht und alles Blaue rot, dann habe ich nun, wenn ich etwas Rotes vor mir sehe, Grund anzunehmen, dass vor mir etwas Blaues ist . Es ist vor allem nicht so, dass es einen Grund gibt, anzunehmen, dass vor mir etwas Rotes ist, der aber überwogen wird von einem anderen Grund . Mein farblicher Eindruck ist gar kein Grund mehr, anzunehmen, dass vor mir etwas Rotes ist . Dieses Beispiel43 aus der Erkenntnistheorie (aus welcher heraus Dancy den Partikularismus entwickelt hat) soll zeigen, dass auch Gründe kontextabhängig sind . Das gleiche Ziel verfolgt ein moralphilosophisches Beispiel44: Smith und Jones erben beide große Vermögen, wenn ihre jeweiligen Cousins sterben . Smith geht also ins Bad und ertränkt seinen hilflosen Cousin . Jones hat den gleichen Plan . Er geht ins Bad, um seinen Cousin zu töten . Als er ins Bad kommt, sieht er, dass sein Cousin offenbar in der Badewanne ausgerutscht ist, sich dabei den Kopf angeschlagen hat und nun zu ertrinken droht . Er könnte ihm helfen . Stattdessen lässt er ihn aber ertrinken, um an die Erbschaft zu kommen . Viele dürften keinen Unterschied in der moralischen Beurteilung von Smith und Jones sehen und beide gleichermaßen verurteilen, obschon Smith seinen Cousin getötet hat, während Jones den seinen sterben ließ . Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen45 scheint daher moralisch irrelevant zu sein . Dancy zielt mit dem Beispiel freilich darauf, zu zeigen, dass diese Argumentation falsch ist . Um das zu zeigen, genügt ein Gegenbeispiel: Wenn Smith in einer Situation ist, in der er nur ein Kind töten oder zwei Kinder sterben lassen kann, sollte er, so Dancy, lieber das eine Kind retten und die beiden anderen sterben lassen, als anders herum .46 Schließlich mache es einen Unterschied, ob Smith aktiv, wenn auch widerwillig, tötet, oder „nur“ einen schon begonnenen Sterbeprozess nicht aufhält, obwohl er dies zu gerne täte . In diesem Gegenbeispiel gibt es also einen moralisch relevanten Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen, ja die moralische Beurteilung hängt gerade von diesem Unterschied ab . Die gleiche Argumentationsweise führte also zu gegensätzlichen Ergebnissen . Dancy meint, damit zeigen zu können, dass man so gar nicht argumentieren sollte . Der Hintergrund ist auch hier, dass Eigenschaften je nach Kontext ihre „Polarität“ ändern, also je nach Kontext in verschiedene Richtungen weisen können . Soviel zum Holismus in der Theorie der Gründe . Der Zusammenhang mit der Diskussion um die Gleichheitsforderungen lässt sich unschwer erkennen: Forderungen wie die, gleiche Fälle gleich zu behandeln, folgen – wenn sie nicht, wie bisher, rein formal verstanden werden – dem atomistischen Modell und sind immer dem Risiko ausgesetzt, dem oben angesprochenen 43 Es ist u . a . in Dancy (Fn . 36), S . 4 f . (zitiert nach der Seitenzahl der Druckansicht) zu finden . 44 Siehe Dancy (Fn . 32), S . 88 ff . 45 Zur philosophischen Debatte siehe nur die Beiträge in Steinbock/Norcross (Hrsg .), Killing and letting die, 2 . Aufl ., Fortham 1994 . 46 Zur Frage der Abwägung von Leben aus philosophischer Sicht John Broome, Weighing Lives, Oxford 2004 . Natürlich muss man Dancy in dieser Einschätzung nicht folgen; gerade Konsequentialisten könnten die Sache anders beurteilen . Dancys Punkt ließe sich allerdings auch an anderen Beispielen zeigen .
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vermeintlichen Universalisierbarkeitsprinzip nachzugehen . Schließlich ist es der Atomismus, der nahe legt, anhand der Eigenschaften, die in einem Fall dessen rechtliche Qualität bestimmen, auch die rechtliche Qualität anderer Fälle zu beurteilen . 2.4 Materielle GleicHHeitsForderunG Bisher wurde die Gleichheitsforderung, einer häufig gebrauchten Formulierung folgend, formal verstanden . Möglich ist aber auch ein materielles Verständnis, das die Forderung in gewisser Weise qualifiziert . Verbreitet ist ein Verständnis, das ich als vierte Norm so formulieren möchte: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln) .47 Bei dieser materiellen Gleichheitsforderung handelt es sich offensichtlich nicht um die formale Gerechtigkeit, sondern um ein Gerechtigkeitsprinzip . Festzustellen ist schon hier, dass sich diese Formulierung nicht mehr in Einklang bringen lässt mit dem vorgeschlagenen formalen Verständnis von Art . 3 I GG als Regelanwendungsgleichheitsforderung, und weiter, dass die eigentlich interessante Frage, was die wesentliche Gleichheit oder Ungleichheit auszeichnet, durch diese Formeln nicht beantwortet wird . Interessant ist in diesem Zusammenhang zu sehen, wohin die Abkehr vom Wortlaut zu Gunsten einer teleologischen Interpretation führt: So wird angenommen, die vom BVerfG aufgestellten Forderungen, „Gleiches gleich“, „wesentlich Gleiches ungleich“ und „wesentlich Gleiches willkürlich ungleich“ zu behandeln, bedeuten genau dasselbe .48 Hinsichtlich der Ungleichbehandlungsforderung sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass sie sehr schwach ist . Sie sagt nur, dass wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln ist . Diese durch „wesentlich“ qualifizierte Form geht zwar weiter als die oben diskutierte Formulierung, ist aber dennoch in ihrer Wirkung sehr begrenzt . Ausgeschlossen ist nämlich auch bei wesentlich ungleichen Sachverhalten nur eine absolute Gleichbehandlung . Der Nachsatz ist nicht qualifiziert . Man darf also wesentlich Ungleiches fast identisch behandeln . 3 prüfunG der verletzunG von art. 3 I GG Der allgemeine Gleichheitssatz in Art . 3 I GG lautet: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich . Seit 1980 heißt es beim BVerfG mit der sog . Neuen Formel, dass Art . 3 I GG „dann verletzt [ist], wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“49 . Inzwischen spricht das BVerfG sogar von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung .50
47 Auf das hier außer Acht gelassene Element der Willkür komme ich zurück . 48 Siehe nur Alexy (Fn . 1), S . 365 ff ., 369 . 49 BVerfGE 55, 72 (88) . Es ist aber zu beachten, dass beide Senate des BVerfG unterschiedlich mit dieser Formel und dem Willkürverbot umgehen . 50 BVerfGE 118, 79 (100 f .) . Die Erwägungen innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen
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Umstritten ist, welche Funktion neben der Neuen Formel noch dem ursprünglichen Kriterium zukommt, dem sog . Willkürverbot, wonach der Gleichheitssatz erst verletzt ist, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt .“51 Vertreten wird bspw ., dass beide Formeln nebeneinander bestehen bleiben und zusammen einen einheitlichen Prüfungsmaßstab mit abgestuften Anforderungen darstellen .52 Ein strengerer Maßstab gelte etwa bei einer Verschiedenbehandlung, die an persönlichen Merkmalen anknüpft, auf die man selbst keinen Einfluss hat, bei Maßnahmen, die sich auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken, sowie bei Ungleichbehandlungen, die den in Art . 3 III GG genannten Diskriminierungsmerkmalen nahe sind . Bei der Unterscheidung des Prüfungsmaßstabes behauptet das BVerfG, sich neben dem „Sinn“ ausdrücklich auch am Wortlaut des Art . 3 I GG zu orientieren .53 Dies findet in der „Subsumtion“ dann aber tatsächlich nicht statt . Die rechtliche Auseinandersetzung mit Art . 3 I GG findet in zwei Konstellationen statt: Entweder wird jemand behandelt wie wenigstens ein anderer, obwohl er anders behandelt werden möchte . Oder jemand möchte wie wenigstens ein anderer behandelt werden, ohne dass dies schon der Fall wäre . Im ersten Fall will der Betroffene eine noch nicht bestehende Ungleichbehandlung, im zweiten Fall eine noch nicht bestehende Gleichbehandlung . In beiden Fällen will der Betroffene, dass er selbst anders behandelt wird . Die Prüfung einer Verletzung von Art . 3 I GG durchläuft zwei Stufen54: Auf der ersten Stufe wird gefragt, ob zwei Sachverhalte ungleich behandelt werden, obwohl sie wesentlich gleich sind . Hier werden Vergleichgruppen gebildet . Als wesentlich gleich werden bspw . Fahrrad- und Motorradfahrer verstanden, weil beide auf zwei Rädern mit nicht unerheblicher Geschwindigkeit am Straßenverkehr teilnehmen . Ungleich behandelt werden sie, weil nur die Motorradfahrer einen Schutzhelm tragen müssen .55 Auf der zweiten Stufe stellt sich dann die Frage, ob die festgestellte Ungleichbehandlung trotz Vergleichbarkeit der Sachverhalte gerechtfertigt werden kann .56 Erst auf der zweiten Stufe kommen die Neue Formel und das Willkürverbot zum Einsatz . Als Eingang in die Prüfung kommt aber auch der ersten Stufe eine große Bedeutung zu . Das BVerfG neigt dazu, wesentliche Gleichheiten innerhalb von Sachverhalts- und Regelungskomplexen großzügig anzunehmen, ist dagegen restriktiv, Gleichheiten, die solche Komplexe überschreiten, als wesentlich anzuerkennen . Schon auf der ersten Stufe neigt das BVerfG also zu Vereinfachungen .57
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dann den Besonderheiten von Art . 3 I GG angepasst werden, vgl . Marion Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S . 946, 947 f . BVerfGE 1, 14 (52) . So Albers (Fn . 50), S . 949; für die generelle Anwendung der Neuen Formel hingegen etwa Roman Herzog, in: ders ./Scholz/Herdegen/Klein (Hrsg .), Maunz/Dürig, Grundgesetz – Kommentar, 60 . Lieferung, München 2010, Anhang zu Art . 3 Rn . 10 . Etwa BVerfGE 88, 87 (96 f .) . Ich stelle die Stufen hier exemplarisch nur für den Wunsch des Betroffenen nach Gleichbehandlung dar . Für den Wunsch nach Ungleichbehandlung gilt entsprechendes . BVerfGE 59, 275 . Zur Rechtfertigungsebene siehe Uwe Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S . 174–211, 193 ff . Vgl . Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, Tübingen 2008, S . 148 f ., Oster-
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Eine Orientierung dieser ersten Prüfungsstufe am Wortlaut des Art . 3 I GG ist überdies nicht erkennbar . Sie stellt aber eine Folge des materiellen Verständnisses des Normsatzes dar . Um das nochmals zu verdeutlichen, könnte man die Neue Formel fiktiv als analytisch wahre Aussage verstehen, und zwar dann, wenn Art . 3 I GG wie folgt lautete: Ungleichbehandlung ist nur rechtmäßig, wenn sie gerechtfertigt ist. Ein so gefasster Art . 3 I GG wäre in der Tat „dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“58 . Von einem solchen Rechtfertigungsvorbehalt ist in Art . 3 I GG aber nicht die Rede . Er ist Folge der Auslegung der überwiegenden Rechtswissenschaft und Rechtspraxis und führt dazu, dass der allgemeine Gleichheitssatz im Sinne einer Argumentationslastregel genutzt wird .59 Auf der zweiten Prüfungsstufe wird davon ausgegangen, dass die Mitglieder der Vergleichsgruppen die für eine rechtliche Beurteilung relevanten Eigenschaften grundsätzlich teilen; schließlich hat man sie bereits auf der ersten Stufe für vergleichbar befunden . Eine Ungleichbehandlung will man nur dann zulassen, wenn sich Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht finden lassen, welche die ungleiche Behandlung rechtfertigen können, bzw . wenn sich irgendein nachvollziehbarer, sachlicher Differenzierungsgrund finden lässt . Im Hintergrund steht hier ersichtlich nicht mehr die (starke) Forderung, dass gleiche Fälle gleich zu behandeln sind, sondern die (schwächere) Forderung, dass wesentlich gleiche Fälle (nur) grundsätzlich gleich zu behandeln sind . Art . 3 I GG wird in dem Sinne, dass man von der Gebotenheit einer Gleichbehandlung ausgeht, als Argumentationslastregel zu Gunsten der Gleichbehandlung verstanden .60 Nach dem Gesagten kann man als fünfte Norm etwa formulieren: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln), wenn etwas anderes nicht gerechtfertigt ist . Hierin kommt nicht mehr der oben kritisierte Atomismus zur Anwendung, wie es in der dritten und vierten Norm der Fall ist . Schließlich ermöglicht es der Rechtfertigungsvorbehalt gerade, von der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung abzusehen . Gleichwohl handelt es sich noch nicht um eine holistische Position . Dies wird besonders deutlich, wenn man sich den Unterschied zwischen Willkürverbot und Neuer Formel vor Augen führt . Nach dem Willkürverbot ist die Gleichheitsfordeloh (Fn . 2), Art . 3 Rn . 27 (zum Ersten Senat des BVerfG) und 35 ff . (zum Zweiten Senat) und Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S . 778, 782, alle m . w . N . 58 BVerfGE 55, 72 (88) . 59 Hierzu eingehend Klaus Stern, Das Gebot zur Ungleichbehandlung, in: Maurer (Hrsg .), Das akzeptierte Grundgesetz, Festschrift für Günter Dürig zum 70 . Geburtstag, München 1990, S . 207–219, 212 ff . sowie – unterteilend in Differenzierungsverbote, -gebote und -erlaubnisse – Christian Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, in: Link (Hrsg .), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, Baden-Baden 1982, S . 51–73, 64 ff . 60 So ausdrücklich bspw . von Alexy (Fn . 1), S . 370, 372 m . w . N .; die Argumentationslastregel zu Gunsten der Gleichbehandlung sei im Übrigen ein allgemeines Rationalitätspostulat, siehe Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a . M . 1983, S . 242 f . und ders . (Fn . 1), S . 371, jeweils m . w . N . Adalbert Podlech, Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, S . 267 ff . weist auf die logischen Probleme der Argumentationslastregel hin und versteht sie selbst als Vermutung des Vorliegens tatsächlicher Gleichheit .
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rung relativ schwach, da jeder vernünftige, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund als Rechtfertigung für eine Gleichbehandlung bzw . Ungleichbehandlung genügt . Es müssen also Gründe vorliegen . An deren Qualität werden aber keine hohen Anforderungen gestellt . Dieses Verständnis von Art . 3 I GG liegt zwar nicht nahe am Wortlaut von Art . 3 I GG, wohl aber an der Position des Partikularismus: „Der Generalist kommt zu der Forderung, zwei [vergleichbare] Fälle gleich zu beurteilen, solange man kein Prinzip nennen kann, nach dem beide unterschieden werden können . Der Partikularist hingegen wird nur fordern, die Fälle gleich zu beurteilen, wenn gar kein Grund vorliegt, dies nicht zu tun .“61 Die im ersten Satz angesprochene generalistische Position kommt in der Neuen Formel zum Ausdruck, wird darin doch die Gleichheit gegenüber der Ungleichheit deutlich in den Vordergrund gestellt . Gefordert wird die Rechtfertigung jeder Ungleichbehandlung nach Art und Gewicht der Unterschiede zwischen den Normadressaten . Von einer Forderung, eine Gleichbehandlung ebenso zu rechtfertigen, ist keine Rede . Dieses Verhältnis zwischen Gleichbehandlung- und Ungleichbehandlungsforderung drückt sich auch bei Robert Alexy aus: „Wenn es keinen zureichenden Grund für die Erlaubtheit der Unleichbehandlung gibt, dann ist eine Gleichbehandlung geboten .“62 Und: „Wenn es einen zureichenden Grund für die Gebotenheit einer Ungleichbehandlung gibt, dann ist eine Ungleichbehandlung geboten .“63 Man kann es auch anders sagen: Eine Ungleichbehandlung ist nur erlaubt, wenn ein zureichender Grund für eine Ungleichbehandlung vorliegt . In allen anderen Fällen ist eine Gleichbehandlung geboten . Dieser Umgang mit Art . 3 I GG ist sehr konservativ und bietet einen entsprechend hohen Schutz vor Diskriminierungen . Das ist aus politischer Sicht auch zu begrüßen . Es darf aber nicht vergessen werden, dass die rechtliche Auseinandersetzung mit Art . 3 I GG – wenn man ihm auch die Funktion der Rechtssetzungsgleichheit zuspricht – in zwei Konstellationen stattfindet: Die eine ist die unerwünschte Diskriminierung . Die andere aber die Gleichbehandlung mit wenigstens einem anderen, obwohl man anders behandelt werden möchte; also gerade die erwünschte Diskriminierung . Diese Dimension tritt mit der Neuen Formel in den Hintergrund . Auch die Genese des Verständnisses von Art . 3 I GG als Argumentationslastregel zu Gunsten der Gleichbehandlung, das eine große Nähe zu den Normen zwei, drei, vier und fünf aufweist, ist schwer nachvollziehbar . Woher es kommt, bleibt offen, zumal es selbst der Grundlage, auf der es beruhen soll, nämlich der klassischen Forderung, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, nicht gerecht wird . Diese klassische Forderung gibt nämlich der Gleichheit kein Vorrecht vor der Ungleichheit . Diese Lesart von Art . 3 I GG ergibt sich auch nicht aus dessen Wortlaut . Positiv kann aber gesagt werden, dass im Normsatz von Ungleichbehandlung gar keine Rede ist, was einen gewissen Vorrang der Gleichbehandlung durchaus nahe legen könnte . Dies erkennend wird vorgeschlagen das Ungleichbehandlungsgebot gänzlich fallen zu lassen . Schließlich dürfe Art . 3 I GG nicht darauf hinaus laufen, dass begründet werden müsse, warum „die rechtliche Regelung so und nicht
61 Dancy (Fn . 36), S . 13 (zitiert nach der Seitenzahl der Druckansicht) . 62 Alexy (Fn . 1), S . 370 . 63 Alexy (Fn . 1), S . 372 .
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anders lauten muß .“64 Der Gleichheitssatz würde sonst zu einer „schlichten Forderung nach der Begründung von Normen werden .“65 4 erGeBnIs Die Diskussion um den allgemeinen Gleichheitssatz ist unüberschaubar, weswegen diese kurze, eklektische Untersuchung vieles nur andeuten konnte und bewusst – als kleines Gegengewicht zum überwiegenden Vorgehen in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis – einen kritischen Ausgangspunkt genommen und zunächst kaum konstruktive Vorschläge gemacht hat . Die Untersuchung hat sich am Normsatz des allgemeinen Gleichheitssatzes orientiert: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich . Dieser wurde gedeutet als Ausdruck einer Selbstverständlichkeit, nämlich der Regelanwendungsgleichheit und der (richtig verstandenen) formalen Gerechtigkeit, was in einer ersten Norm formuliert wurde: Regeln müssen angewendet werden . Davon ausgehend kamen die alternativen Deutungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in den Blick, die als umgangssprachlich und kulturhistorisch bezeichnet wurden, und welche neben der Regelanwendungsgleichheit die Rechtssetzungsgleichheit einbeziehen . Dies führte zur zweiten Norm: Regeln müssen angewendet werden; alle Menschen sind von allen Staatsgewalten gleich zu behandeln. Ein weiterer Schritt führte zur immer wieder auftauchenden Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, ausgedrückt in der dritten Norm: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten Gleiches gleich und Ungleiches ungleich (zu behandeln), deren antike Herkunft so deutlich nicht ist, wie es oft behauptet oder vermutet wird . Es wurde die Äquivalenz dieser Forderung zum Prinzip der Universalisierbarkeit dargelegt, um daran einen häufigen Fehler aufzuzeigen, nämlich der Gleichsetzung dieser Forderung mit der Regelanwendungsgleichheit . Weiter wurde gezeigt, wie beschränkt diese (formale) Gleichbehandlungsforderung ist und welche Schwierigkeiten bei der Formulierung einer entsprechenden Ungleichbehandlungsforderung auftreten . Die bis dahin vorgebrachte Kritik an der Gleichbehandlungsforderung wurde dann durch die skizzenhafte Einführung des ethischen Partikularismus und des Holismus weiter plausibilisiert . Anschließend wurde auf materielle Gleichbehandlungsforderungen Bezug genommen, die in der vierten Norm: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln), ausgedrückt wurden . Diese Norm wurde als ein Gerechtigkeitsprinzip (im Gegensatz zur formalen Gerechtigkeit) eingestuft und einige Probleme daran aufgezeigt . Zuletzt wurden anhand der Prüfung der Verletzung von Art . 3 I GG das Willkürverbot und die Neue Formel in ihrer Deutung als Argumentationslastregeln behandelt, was in der fünften Norm formuliert wurde: In und vor den Gesetzen ist von allen Staatsgewalten wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich (zu behandeln), wenn etwas anderes nicht gerechtfertigt ist . Es zeigten sich schließlich große Unterschiede zwischen Willkürverbot und Neuer Formel, wobei nur das (schwächere) Willkürverbot durch den Partikularismus gestützt wurde .
64 Podlech (Fn . 60), S . 57 (Hervorhebung im Original) . 65 Alexy (Fn . 1), S . 372 .
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Den konstruktiven Teil der Untersuchung kann man als Mahnung verstehen: Rechtswissenschaft und Rechtspraxis sollten deutlich machen, auf welch tönernen Füßen die weit verbreitete Auslegung und Anwendung von Art . 3 I GG steht . Nicht überzeugend sind die überwiegend zwischen (vermeintlichen) antiken Formulierungen von Gerechtigkeitsforderungen und modernen politischen Vorstellungen mäandernden Argumentationswege . Die Argumentationssprünge sind oft gewaltig . Überzeugender wäre es, zuzugestehen, dass Art . 3 I GG als Norm über die Regelanwendungsgleichheit hinaus nichts aussagt, und anzuerkennen, dass auch formale Gerechtigkeit wichtig und in ihrer Umsetzung nicht trivial ist . Bestrebungen, den in Art . 3 I GG verorteten Schutzgehalt in anderen Freiheitsrechten zu suchen, sind zu begrüßen . Wenn man eine weitere Auslegung befürwortet, sollte man jedenfalls transparent machen, mit welchen Annahmen und Überzeugungen man tatsächlich arbeitet, um den Normsatz auszulegen . Das sollte in einem Rechtsstaat eigentlich selbstverständlich sein .
tiM WiHl* eGalItärer mInImalkonstItutIonalIsmus. GleIchheIt als notwendIGe und hInreIchende BedInGunG des demokratIschen verfassunGsstaates Der hier skizzierte Konstitutionalismus ist egalitär, weil er auf der Gleichheit als analytischer Zentralkategorie aufbaut . Er ist minimal, weil er sich mit der Gleichheit bescheidet . Und er ist ein Konstitutionalismus, weil er die Grenze zwischen Recht und Politik problematisiert . Zunächst werden drei interne Typen der Gleichheit unterschieden, die jedes Menschenrecht strukturell kennzeichnen . Im äußeren Zusammenhang erweist sich die derart zergliederte Gleichheit als drittes von drei menschenrechtlichen Paradigmata neben dem Eigentum und der Meinungsfreiheit . Außer der inneren Strukturanalyse der Rechte und dem Versuch ihrer äußeren Hintergrundtypologisierung wird eine Zuordnung der strukturkonformen Kritikformen zu den Prinzipien des Rechtsstaates, der Demokratie und des Sozialstaates unternommen . Dieses Modell ermöglicht eine angepasste Positionsbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem idealen System des egalitären Minimalkonstitutionalismus, das die politisch gestaltbare Zukunft in den Mittelpunkt rückt . Die Gleichheit erweist sich intern als notwendige und extern als hinreichende Bedingung eines politischen Konstitutionalismus .
Jede gegenwärtige Verfassungstheorie, die in Rousseaus und Kants Schatten steht – und das sind die weitaus meisten –, nimmt ihren Ausgang beim Konzept der gleichen Freiheit . Den Primat in dieser eigentümlichen Kombination von Prinzipien, die andere Autoren auch schon in durchaus spannungsreichem Verhältnis gesehen haben (Alexis de Tocqueville1 oder Friedrich Julius Stahl zum Beispiel2), hat regelmäßig die Freiheit, sei es normativ3, sei es „nur“ begriffsanalytisch . Gleichheit erscheint als Verteilungsprinzip der Freiheit . Niemand käme auf der anderen Seite auf den Gedanken, Gleichheit nach dem Prinzip der Freiheit zu verteilen – zumindest vorderhand . Was sollte damit auch gemeint sein?4 Die prima facie Unmöglichkeit der Begriffsumkehrung lässt sich wohl auf die relative Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs zurückführen, der erst demokratisch oder autoritär-rationalistisch inhaltlich angereichert werden muss, um überhaupt verfassungstheoretischen Sinn zu ergeben . Das adjektivische Verteilungsprinzip hingegen muss fast schon aus syntaktischen Gründen qualitativ bestimmter sein . Freiheit ist offen und unbestimmt, Gleichheit ist geschlossen und hinreichend bestimmbar . So scheint es . Doch wie es scheint, so ist es nicht . Dass vielmehr die Gleichheit als gleichzeitig notwendiger, das heißt auch in gewissem Umfang defini* 1
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Herzlichen Dank an Markus Sehl, ohne den der Text nicht zustande gekommen wäre . Ihm ist es um die égalité des conditions zu tun, vgl . Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Paris 1835/40 . Stahl, Die Philosophie des Rechts, Berlin 1830 ff . Die Konstruktion eines Widerspruchs zwischen Freiheit und Gleichheit ist das Distinktionsmerkmal liberaler und konservativer Fortschrittskritik schlechthin; vgl . für die Gegenwart Bobbio, Rechts und Links, Berlin 2006 . So schon bei Rousseau: „la liberté ne peut subsister sans (l´égalité)“, Du contrat social, Paris 1762, II, 11 . Vgl . aber die beinahe Identität von Freiheit und Gleichheit in der griechischen Polis, in Gestalt der isonomia, Arendt, On revolution, New York 1963, S . 20 f . Dazu auch Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, Berlin 1980, S . 31 ff .; Nippel, Antike oder moderne Freiheit, Frankfurt 2008 .
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ter, und hinreichender, das heißt aber niemals völlig bestimmter, Zentralbegriff der Theorie demokratischer Verfassungen dienen sollte, möchte ich hier tentativ plausibel machen . Die Freiheit erscheint dann als Sekundärbegriff einer Verfassungstheorie, die sich im Prinzipiellen auf die Gleichheit konzentriert, um die Bestimmung der Freiheit in programmatischer Bescheidenheit weitgehend dem demokratischen Zufall zu überlassen . Dabei gehe ich in einem (gewiss ebenso programmatischen wie rhetorischen) Dreischritt vor . Zuerst werde ich einige Worte über die begriffsontologische Struktur demokratischer Freiheitsrechte verlieren (1 .) . Diese Strukturanalyse soll einen dreifach auf die Gleichheit bezogenen inneren Aufbau offenbaren und damit zu einer Positionsbestimmung der Gleichheit in einer Typologie der Rechte überleiten (2 .) . Drittens suche ich den Bogen zum Konstitutionalismusproblem zu schlagen, indem ich vorschlage, dessen Kernfrage nach dem Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten mit Bezug auf die dann skizzierte Gleichheitsvorstellung zu beantworten . Damit möchte ich eine Lösung des so genannten Problems der Gleichursprünglichkeit, wie es kanonisch von Habermas formuliert worden ist, nahe legen, die auf einer Temporalisierung der Kantischen Begrifflichkeit von transzendentalen und transzendenten Aussagen5 in Hegelianischer Absicht beruht (3 .) . In einem Ausblick können zum einen einige erste institutionelle Implikationen benannt werden, die von der „reinen“ Rechtsphilosophie zur Verfassungstheorie sensu stricto überleiten . Andererseits eröffnet sich vor dem Horizont der Temporalisierung eine neue Möglichkeit, den gegenwärtigen Sinn von Verfassungstheorie überhaupt zu bestimmen, nämlich im Dreieck der berühmten drei kantischen Fragen nach Wissenkönnen, Tunsollen und Hoffendürfen (4 .) . Ein wichtiger Referenzpunkt wird Habermas´ Rechtstheorie sein, über die man heute zwar in bestimmter Negation hinausgehen, hinter die man aber ohne konservative Absicht nicht zurück kann . 1 dIe GleIchheIt der freIheIt – das dreIfach eGalItäre demokratIsche freIheItsrecht Liberale Rechte6 wie das Eigentum, die Meinungsfreiheit oder das Recht auf Privatsphäre sind in dreifacher Hinsicht egalitär strukturiert7: Erstens sind sie begrifflich-formal Rechte und keine Privilegien . Sie kommen jedem Menschen ohne eine irgend geartete weitere Qualifikation zu, im Sinne einer rein arithmetischen Personen-Gleichheit bei Aristoteles8 . Inwiefern nur Menschen 5 6 7
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2 . Aufl ., Akademie-Ausgabe Bd . III, Berlin 1787, S . 235 f . Rechte betrachte ich hier vereinfachend als objektive Rechtsnormen, die sich politisch-soziologisch anders funktionalisieren lassen, aber keine spezifizierende rechtstheoretische Beschreibung jenseits einer gradualisierten Vagheitsdiagnose erfordern . Die im Folgenden vorgeschlagene Analyse entspricht nicht der Erläuterung der sog . Formbestimmungen des Rechts durch Habermas, vgl . ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, S . 143 ff ., die Kants Legalitätsbegriff durch sozialpsychologische Überlegungen zur postkonventionell-vernunftmoralischen Entlastungsfunktion des Rechts anreichert . Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b–1132b .
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Rechtsträger sein können oder ob ein Fall von Speziesismus vorliegt, tut hier nichts zur Sache; denn bezogen auf die epistemische Gattung sind die Rechte universal, zumindest im klassischen moralischen Verständnis politisch positivierter Rechte des Liberalismus, von dem ich hier ausgehe . Nach Montesquieu9, Rousseau10 und der Französischen Erklärung der Menschenrechte ist uns ein anderes Verständnis von liberalen Rechten schlechthin versagt . Die hier implizierte Gleichheit ist in den Rang einer konstitutiven Bedingung der Rechtsform überhaupt erhoben worden . Sie ist eine Bedingung der Möglichkeit subjektiver Rechte geworden und damit in Kantischer Begrifflichkeit ein transzendentales Apriori der Freiheitsrechte . Abstrahiert wird namentlich von jeder bedeutungsvollen Differenzierung menschlicher Identitäten . Ohne diese transzendentale Gleichheit der Identität aller Bürger oder Menschen11 existiert keine subjektive Freiheit im modernen Sinne . Ich werde von der notwendigen identitären Gleichheit als Transzendentalbedingung des demokratischen Freiheitsrechts sprechen . Diese verortet Rechte im deonto-logischen Vor-Raum symbolischer Formen und macht sie damit zu einer Instanz des philosophischen Sehens gemäß platonischer Rationalität . Zweitens existieren Rechte aber auch in der Zeit . Sie sind deshalb nicht schon dann hinreichend egalitär, wenn sie in einem idealen Sollensreich jedermann zustehen . Die richtige Grundintuition der Verfassungstheorie von Jürgen Habermas besteht gerade darin, dass liberale Rechte ohne republikanisch-demokratische Vermittlung, das heißt vorpolitisch überhaupt nicht existieren .12 Hier hat Hegels Wort von der „Ohnmacht des Sollens“ einmal mehr seinen guten Sinn . Es gilt nämlich insbesondere auch für ein moralistisches Fehlverständnis schon positivierter Rechte, nicht bloß für sittlich letzthin unfundierte moralische Postulate . Wenn sie in der Zeit existieren sollen, müssen Rechte gerade auch mit der Tatsache umgehen können, dass Menschen verschieden sind . Was Habermas erstmals in der Diskussion um Multikulturalismus und eine Politik der Anerkennung einräumt, dass im Begriff der staatsbürgerlichen Gleichheit sorgfältiger zwischen der Dimension der Diskriminierung als Exklusion aus einer Gemeinschaft (verwehrte Mitgliedschaft) und der sozialen Gerechtigkeit zu unterscheiden sei, verdient zugleich anders, höher und tiefer gehängt zu werden .13 Erstens muss schon zwischen der rechtstranszendentalen Gleichheit der Identität und der Gleichheit in der realen Verschiedenheit der Identitäten deutlich unterschieden werden .14 Die fehlende Äquivokation von Nichtprivilegierung und Nicht9 Montesquieu, De l´esprit des lois, Paris 1748, 8,3 . 10 Égalité morale, civile, légitime; vgl . dazu Dann, Gleichheit, in: Koselleck u . a ., Geschichtliche Grundbegriffe, Bd . 2, Stuttgart 1975, S . 1015 f . 11 Moderne Verfassungen tragen unabhängig von ihrer republikanischen Verankerung in einer Bürgergemeinschaft stets eine Universalisierungstendenz in sich, ohne dass damit gleich kosmopolitische Ansprüche einklagbar würden . 12 Das gilt völlig unbeschadet der Tatsache, dass der „deliberative“ demokratische Prozess des prozeduralistischen Rechtsparadigmas als Vermittlungsglied der liberalen und republikanischen Theorie epistemisch überoptimistisch ist und gerade durch die kognitiven Erwartungen an ihn zu expertokratischen Missverständnissen, wie sie Habermas selbst beklagt, hinreichend Anlass gibt . Siehe unten 3, 4 . 13 Habermas, Kulturelle Gleichbehandlung – und die Grenzen des Postmodernen Liberalismus, in: ders ., Philosophische Texte, Bd . 4, Frankfurt 2009, S . 236 f . 14 Hier mag auch die Hegelsche Dialektik vom Abstrakt-Universalen und Konkret-Partikularen
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diskriminierung durch Recht mag kontraintuitiv sein . Doch nicht jede Nichtprivilegierung wirkt auch nicht diskriminierend . Auch nach der Etablierung der modernen Rechtsform kann ein Recht inhärent ungleich sein, und zwar nicht allein in seiner Verteilungswirkung, sondern schon, um mit Habermas zu sprechen, in seiner Inklusionswirkung – oder, entsprechend der klassischen Trias nach Proudhon15, hinsichtlich der égalité civique et politique im Gegensatz zur erfüllten égalité des personnes einerseits, der unbeachteten égalité des conditions et des fortunes andererseits . Einen bereits vorderhand verdächtigen Kandidaten stellt in diesem Zusammenhang der Ehe- und Familienartikel des Grundgesetzes dar, der sogar explizit-intentional Identitäten diskriminiert . Andere Verfassungsartikel diskriminieren eher implizitintentional wie das Berufsgrundrecht (andere als Erwerbsarbeit, insbesondere durch Frauen) oder implizit-nichtintentional wie das Recht auf Religionsfreiheit (in der faktischen Privilegierung hergekommener Glaubensrichtungen) oder die Meinungsfreiheit (durch die faktische Verstärkung bestehender Ungleichheiten in der Artikulationschance zum Beispiel ethnischer Minderheiten) . Weitere Beispiele für die durch Rechte (kausal16) verwehrte Anerkennung von Identitäten ließen sich unschwer nennen . Zweitens betrifft die Gleichheit in der Differenz nicht nur den Mitgliedschaftsstatus als Staatsbürger . Die In- und Exklusionsrhetorik führt hier wie auch sonst in die Irre: Betroffen ist nicht ein Interesse an Kollektivität, sondern an Individualität . Es geht um nichts weniger als das instantiell Anerkennung heischende Authentizitätsideal der Moderne, das sich dank der Dialektik von Individualisierung und egalitärer Solidarisierung zunehmend im Wege nichtdiskriminierender Freiheitsrechte Geltung verschafft .17 Drittens ist aber auf der anderen Seite zu konstatieren, dass immer nur eine begrenzte, wenn auch tendenziell zunehmende Zahl von Identitäten rechtliche Anerkennung einfordern kann . Umverteilung, also soziale Gleichheit mag solche Anerkennungskonflikte oft begrenzen, was jedoch den analytischen Sinn der Unterscheidung nicht mindert .18 Wer also jeweils gemeint ist, wenn im Rechtstext von „jedem“ die Rede ist, ist alles andere als vorentschieden . Wer Eigentümer sein darf, wer seine Meinung frei äußern kann und wer sich ungestört ins Private zurückziehen möchte, ist von vielerlei faktischen Umständen abhängig, die nur teilweise autonom steuerbar sind . Wenn Rechte aber tatsächlich bestehen sollen, müssen sie auch auf die Gleichheit in der Differenz Acht geben . Statt um die Rechtsform geht es jetzt um das Rechtskriterium . Zu beachten ist, dass ich an dieser Stelle nichts über die reale oder wünschbare Verteilung von Freiheiten aussage . Mit dem Ausdruck „Kriterium“ wird an den etymolo-
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Anwendung finden . Allerdings wäre die zuletzt genannte transzendente Gleichheit ein Fall des „Konkret-Universalen“, dessen logische Widersprüchlichkeit hier gerade temporal aufgehoben wird . Die Anregung verdanke ich Upendra Baxi; s . auch ders., The Future of Human Rights, Oxford 2008, S . 167 ff . Vgl . Dann (Fn . 10), S . 1033 . Nicht in jedem Fall „zurechenbar“ . Der Stellenwert der Zurechenbarkeit für eine begriffsontologische Beschreibung der Rechte ist mir noch unklar . Vgl . auch Brunkhorst, Demokratie und Differenz, Frankfurt 1994 . Zu solchen Fragen Fraser/Honneth, Umverteilung oder Anerkennung?, Frankfurt 2003 .
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gischen Ursprung angeknüpft: krinein bedeutet „trennen“, im Gegensatz zur „Form“ als „Geformtsein“ ein Prozessbegriff . Dass Rechte diskriminierungsfrei jedem zustehen, lässt sich zum Teil sogar nur durch unterschiedliche Behandlung erreichen . Die Privatsphäre des Mannes kann ein Ort öffentlich zu thematisierenden Leidens der Frau sein, um ein klassisches Fallbeispiel aufzugreifen . Statt als durch Abwägung aufzulösender Konflikt zweier Freiheitsrechte lässt sich die Situation auch als Missachtung der rechtskriterialen Dimension eines Freiheitsrechtes deuten . Die demokratische Gesetzgebung, die das Recht auf Privatsphäre ausgestaltet und ihm damit jenseits der polemischen Emanzipationsfunktion erst zur wahren Existenz verhilft, kann nämlich diskriminierend wirken oder eben nicht . Die Beachtung der von mir so genannten differentiellen Gleichheit stellt die zweite Egalitätsbedingung der Freiheitsrechte dar . Statt um eine irgendwie metaphysischnoumenal gegebene Gleichheit wie auf der ersten Stufe geht es hier um eine Befreiung zur Gleichheit als historisch-phainomenalen Prozess . Die differentielle Gleichheit der Antidiskriminierung, die theoretisch auf beliebige Freiheitsrechte einwirken kann, besteht, um die Chance zum Anderssein offen zu halten . Sie trifft aber keine Vorentscheidung über die Verteilung der Freiheit . Insoweit ist sie ganz unbestimmt . Das gilt noch in anderer Hinsicht: Welche Kriterien eine in der Struktur subjektiver Rechte zu achtende Differenz begründen, ist historisch wandelbar .19 Das kann der Status als Jude oder Muslimin sein, als Frau oder als alter Mensch . Da diese historische Unbestimmtheit des Rechtskriteriums die abstrakte Rechtsform immer wieder neu transzendiert, werde ich von der differentiellen Gleichheit als Transzendenzbedingung des subjektiven Rechtes sprechen .20 Wichtig ist zu sehen, dass diese wandelbare kriteriale Differenzierung der Rechte tatsächlich ihrer internen Struktur eignet und nicht einfach extern neben dem Recht stehende historische Kontingenzen bezeichnet . Kontingenz muss gemäß dieser Rechtskonzeption schon in die Strukturbeschreibung des Rechts Eingang finden . Dieser immanenten Transzendenz der Rechte liegt zwar für mich ein begriffsrealistisches Verständnis von Rechten21 zugrunde; doch ist es unschädlich, von dieser konzeptionellen Vorentscheidung zu abstrahieren . Entscheidend ist bloß, dass der demokratische Prozess hier nicht konstitutionalistisch super-, sondern nur prä-determiniert ist: Die Demokratie kann sich einmal als Erkenntnisverfahren im besten alt-pragmatistischen Sinne bewähren22 – oder versagen (s . u . zu den institutionellen Folgerungen) . Jedenfalls begründet es schon die egalitäre Struktur der Rechte der liberalen Demokratie, dass sich jemand finden muss, der ermittelt, welche Diskriminierungen rechtskriterial wirksam sein müssen, damit die Freiheitsrechte nicht versteinern . Rechtspetrifizierung hat anti19 Zum umgekehrten Fall der Temporalität der Exklusionskriterien vom Wahlrecht s . auch Brandom, Towards reconciling two heroes: Habermas and Hegel, Manuskript 2009, Part two . 20 Dieser Ausdruck entspricht zudem mit seinem krypto-religiösen Beiklang der unter 4 . thematisierten Hoffnungsdimension der Rechte . 21 Lose inspiriert von Bruno Latours Konzept des „troisième“, vgl . ders ., Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt 2008, und ergänzt um die Einsicht, dass Rechte erst im begrifflich und historisch dialektischen Zusammenhang mit der Gesetzgebung „wahr“, d . h . existent werden . 22 Gemäß der umstrittenen Annahme einer politischen Implikation der pragmatistischen Erkenntnismethode; s . einerseits Hilary Putnam, andererseits Richard Rorty, dazu Westbrook, Liberal Democracy, in: Shook/Margolis, A Companion to Pragmatism, Chichester 2009, S . 290 .
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egalitäre Konsequenzen und untergräbt das Fundament der Demokratie selbst . Umgekehrt: Demokratie ermöglicht erst die Einlösung des Gleichheitsversprechens der liberalen Rechte in der Zeit . Die Demokratie ist der verzeitlichte Rechtsstaat (modern-egalitären Zuschnitts) . Während die formal-apriorische Präsumtion der identitären Gleichheit allerhöchstens die Anerkennung als biologischer Mensch (dessen nähere Definition doch besonders kontrovers bleibt) und die historisch-aposteriorische Antidiskriminierung der differentiellen Gleichheit die Anerkennung als im Anderssein gleicher Bürger mit sich bringt, ist die Anerkennung als (im weitesten Sinn) anders habender Bürger damit noch nicht gesichert . Der Zuweisungsgehalt der Freiheiten, also der Rechtsinhalt im Kontrast zu Rechtsform und Rechtskriterium, steht wiederum, drittens, unter einem strukturverschiedenen egalitären Postulat . Im egalitaristischen Kontinuum sind wir jetzt von der analytischen Notwendigkeit, der Seinsbedingung, über die historische Daseinsbedingung zur schwächsten Voraussetzung, dem moralischen Postulat, fortgeschritten . Die Bewegung ist zugleich eine vom reinen Sein23 über die Vermittlung von Sein und Sollen zum reinen Sollen . Es ist eben nicht mehr als (umstrittenerweise) moralisch geboten, dass Rechtsinhalte, vor allem das Eigentum, gleich verteilt werden . Hier ist offensichtlich der demokratische Prozess gefordert, den freilich niemand daran hindern kann noch sollte, sich eine „Verfassungsidentität“ zuzulegen, die es ihm jedenfalls gebietet, jeder Bürgerin die Subsistenz zu sichern, wie dies die Menschenwürde des Grundgesetzes leistet . Aber internes Strukturmoment der demokratischen Freiheitsrechte ist die soziale Gleichheit, also die Verteilungsfrage nicht . Wie ein Verfassungsstaat mit dem Eigentum und anderen Freiheiten als Verteilungsmassen umgeht, ist der Freiraum der demokratischen Politik . Die materialistische Ideologiekritik von Marx am gleichen bürgerlichen Freiheitsrecht24 wird eben traditionell allein von der politischen Linken geteilt, und auch das nur in unterschiedlicher Konsequenz . Nach allem wird deutlich, dass die in der juristischen Diskussion überkommene Differenzierung zwischen formaler und materialer Gleichheit mangels Trennschärfe wenig taugt . Denn sie vermischt in verunklarender Weise die verschiedenen Stufen miteinander . Manchmal bedeutet formale Gleichbehandlung Nichtprivilegierung, manchmal auch Nichtdiskriminierung . „Materiale Gleichheit“ kann ebenfalls sowohl Nichtdiskriminierung als auch nur soziale Gleichheit bezeichnen . Die dreifache Teilung des Gleichheitsbegriffs in Orientierung an der Struktur demokratischer subjektiver Rechte ist dagegen vorzuziehen, auch gegenüber einer marxistischen Rechtskritik, die sich zu Recht gegen versteinernde Essentialisierung und unpolitische Ökonomieblindheit wendet, ohne allerdings das Befreiungsmoment der permanenten Gleichheitsrevolution hinreichend zu würdigen, die sich nichts anderem als der Verschränkung von identitärer und differentieller Gleichheit in der Form des subjektiven Rechts verdankt25 .
23 Unter der begriffsrealistischen Prämisse . 24 Vgl . z . B . Marx, Zur Judenfrage, Paris 1844 . 25 Diese Missachtung der Emanzipation durch „Rechte gegen Recht“ erstaunt vor allem, weil der Marxismus eindeutig keine Gleichheits-, sondern eine Freiheitsphilosophie ist; vgl . dazu nur Marx, Kritik des Gothaer Programms, 1875 .
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2 dIe posItIon der GleIchheIt Im system der rechte Bisher wurde lediglich gezeigt, wie die Gleichheit dreifach in der Struktur der liberalen Rechte zum Tragen kommt: transzendental, transzendent und (extern) moralisch . Jedem dieser begriffsontologischen Elemente entspricht indes auch eine bestimmte Form der verfassungstheoretischen Kritik: Wer die identitäre Rechtspersonengleichheit einklagt, argumentiert intern . Er weist auf einen evident (zeitlos) bestehenden Widerspruch zwischen der sogar verschriftlichten Selbstbeschreibung eines Verfassungssystems und dessen tatsächlicher Gestalt hin . Wer die differentielle Anerkennungsgleichheit einfordert, folgt der Methode der immanenten Kritik, das heißt, er reflektiert auf die (abstrakt-universalen) egalitären Versprechen der Verfassung und sieht sie im zunehmenden Konflikt mit einer veränderten (konkret-partikularen) Wirklichkeit, deren neuen (konkret-universalen) Ansprüchen auf Anerkennung ehedem „untadelige“ Verfassungs- und Rechtssätze nicht mehr genügen .26 Dagegen kritisiert extern, wer von der Warte einer egalitaristischen Philosophie aus spricht .27 Als Vertreterin irgendeiner Spielart der Gleichverteilung (of what? Limited by what?) ergreift die Philosophin mit guten Gründen Position im politischen Prozess . Damit bewegt sie sich aber außerhalb der Sphäre dessen, was die Verfassung determinieren sollte . Hier gilt der von Rorty beschworene „Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“ .28 Wenn so der Rahmen abgesteckt ist, in dem eine egalitäre Verfassungstheorie legitimerweise einen Begründungsanspruch erheben kann, wird gleichzeitig deutlich, wohin dieser nicht ausgreifen sollte . Als Zentrum einer Verfassungstheorie verschlingt die Gleichheit die Rechtsinhalte der liberalen Freiheitsrechte des modernen Konstitutionalismus . Sie stabilisiert zwar uneingeschränkt deren Rechtsform und fordert die Freiheitsrechte mit der nötigen, demokratisch-epistemologisch begründeten Bescheidenheit samt der zu ihrer „Ausgestaltung“ ergangenen Gesetzgebung zur permanenten Rechtfertigung im Hinblick auf die Differenzsensibilität ihrer mannigfaltigen Rechtskriterien heraus . Aber was die Freiheitsrechte tatsächlich verbürgen sollen, wie sie Freiheit und Unfreiheit jenseits verbotener Ungleichbehandlung zu verteilen haben, dazu schweigt eine solche Verfassungstheorie beharrlich . Dies lässt sich auch mit der Stellung der Gleichheit im System der Rechte einer solchen Verfassungstheorie des egalitären Minimalkonstitutionalismus erklären . Dieses System ist konsequent verzeitlicht (temporalisiert): Es wählt drei paradigmatische Grundrechte aus, die ihm für die drei Zeitstufen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft repräsentativ erscheinen . Sie unterstellt dem Eigentum als Substanzrecht einen immanenten Vergangenheitsbezug, der Meinungsfreiheit als Recht der Bestreitung einen Gegenwartsbezug und der Gleichheit als hoffnungsvol26 So im begrifflichen Ansatz auch Brandom (Fn . 19) . 27 Die Differenzierung der drei Formen der Kritik übernehme ich dankbar von Rahel Jaeggi, Kritik der Lebensformen, bisher unveröff . Manuskript, 2010 . 28 Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders., Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988 .
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lem Telos-Recht eine Zukunftsorientierung . Plakativer physiko-politisch ließe sich das so ausdrücken: Das Eigentum ist statisch-konservativ, die Meinungsfreiheit labilliberal und die Gleichheit dynamisch-progressiv . Damit ist indessen nicht gesagt, dass diese Rechte nicht ihrerseits die verschiedenen temporalen Dimensionen aufweisen . Eher hat die Assoziation der Zeitstufen mit konkreten Rechten eine heuristische Funktion .29 Die Substantialität des Eigentums zeigt aber zumindest regulativ auf, dass Rechte zunächst einen unverfügbaren Kern haben sollten . Hiermit ist wiederum nichts über den Inhalt eines Rechts ausgesagt, sondern nur über dessen Struktur . Es ist gut möglich, dass sich analog zu dem vorhin dargestellten dreifachen Gleichheitsbezug der Freiheitsrechte ein solcher differenzierter Eigentumsbezug ausweisen lässt . Im Sinne des angedeuteten hegel-pragmatistischen Kontinuumsgedankens wäre dann ein transzendentaler Substanzkern, ein transzendenter Substanzhof und ein moralisch-politischer Kontingenzinhalt zu unterscheiden . So könnte man zum Beispiel für die Religionsfreiheit die überkommene Unterscheidung zwischen forum internum und forum externum präziser ausdifferenzieren, ohne weiter inhaltlich zu dieser Stellung zu nehmen . Ein ähnlicher Befund ergibt sich für die Meinungsfreiheit als Paradigma . Auch die Bestreitbarkeit kann als Aspekt verschiedenster Rechte begriffen werden . Das liberale Paradigma würde vor allem die strukturelle kommunikative Offenheit der Rechte hervorheben . Die Privatsphäre mag als Exempel dienen: Über einen unkommunikativen, solipsistischen Kern hinaus wird sie immer poröser; das nicht aufgrund einer Abwägung mit konfligierenden Rechten, sondern schon in der zunehmenden Intersubjektivität ihrer eigenen Struktur . Die Sphärentheorie ist vielleicht Ausdruck dieses Gedankens . Inwiefern die drei paradigmatischen Beschreibungen eines Rechts sich komplementär zueinander verhalten, wird sich erweisen müssen . Orthogonalität ist möglich30, Widersprüchlichkeit desgleichen . Widersprüche liefen zwar dem modernen Anspruch an systematisches Philosophieren zuwider; sie wären dennoch leicht demokratisch auflösbar . Denn die Gleichheit hat in der Konzeption einfach deshalb die Gesamtprärogative, weil die Zukunft immer Recht hat . „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht .“31 3 dIe verfassunG der GleIchheIt – eGalItärer konstItutIonalIsmus Eine Verfassung, welche die Gleichheit ins Zentrum rückt, ergreift weder Partei für die Demokratie noch für den Rechtsstaat . Lange hat man geglaubt, die Demokratie sei irgendwie gleichheitsaffiner, der Rechtsstaat irgendwie freiheitsgeneigter . Das trifft nicht zu .
29 Unabhängig von der Temporalisierung findet sich die Idee der Gleichheit als eines „grundrechtsrangigen Aspekts eines jeden subjektiven Rechts“ schon bei Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 2009, S . 167 . 30 Dank an Daniel Halberstam für die hilfreiche mathematische Metapher . 31 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848, Teil I .
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Es hat gute Gründe, dass die Demokratie selten ohne Attribut daherkommt . Am beliebtesten ist wohl die „liberale Demokratie“ . Sie fängt in treffender Diktion die Gegenintuition zu Carl Schmitts notorischer These des Inkompatibilismus von Rechtsstaat und Demokratie32 ein . Wenn man die extremen Positionen einer Verabsolutierung des Rechtsstaates wie etwa bei Hayek33 oder der Verabsolutierung der Demokratie wie bei Jefferson34 einmal beiseite lässt, ergeben sich immer noch unterschiedliche Möglichkeiten, das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten synthetisch zu bestimmen . Den wahrscheinlich am weitesten rezipierten Vorschlag zur Lösung dieses Zentralproblems des modernen Konstitutionalismus, dessen ursprüngliche Frage nach der gleichzeitigen Ermöglichung und Zähmung von Politik durch Recht35 so demokratisch reformuliert wurde, stellt die Gleichursprünglichkeitsthese von Jürgen Habermas dar .36 Allerdings finden sich bei Habermas zwei recht unterschiedliche Versionen dieser These: einerseits wird die Praxis der demokratischen Selbstbestimmung als eine Exhaustion37 der Idee der Rechtsstaatlichkeit begriffen . Andererseits spricht Habermas von „Ressourcen“, die Rechtsstaat und Demokratie füreinander darstellen, womit auch und gerade das materielle Ergebnis des Prozesses als Voraussetzung in den Blick genommen wird . Man könnte also die beiden Erzählungen einer materialen und einer materiellen Implikation voneinander unterscheiden .38 Nach beiden lässt sich der Scheinwiderspruch von Demokratie und Rechtsstaat vermeintlich so auflösen, dass den zwei Elementen jeweils eine spezifische Form von Autonomie zugeordnet wird, die diese derart zur Geltung bringen sollen, dass beide einander „ermöglichen“ . Außer der schon historisch, jedenfalls philosophisch zweifelhaften modernistischen Ableitung aus einem komplementären Ergänzungsverhältnis von Recht und Moral („Entlastungsfunktion“ unter Inkaufnahme des Zusammenbruchs der Identität von Adressaten- und Autorenstatus) ergibt sich aber ein weiteres Kardinalproblem: Was heißt „private“ Autonomie, was ist „öffentliche“ Autonomie eigentlich? Warum sind gerade private Rechte nötig, um die deliberative Rechtserzeugung zu ermöglichen? Und vor allem: welche? Was privat und was öffentlich sein soll, wird doch seinerseits vom demokratischen oder konstitutionalisierenden Prozess festgelegt . Es handelt sich hierbei sogar um das Zentralproblem liberaler Demokratien, das nur politisch-ideologisch, in der Zeit, immer wieder vorläufig gelöst werden kann . Deshalb verdiente auch die zur Begründung angegebene zentrale Be32 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1926 . 33 Hayek, Law, Legislation, and Liberty, Chicago 1978 . 34 Vgl . z . B . „the law of the majority is the natural law of every society of men“, Dumbauld, The Political Writings of Thomas Jefferson, New York 1955, S . 83 . 35 Möllers, Verfassung – Verfassunggebung – Konstitutionalisierung . Begriffe der Verfassung in Europa, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2 . A ., Berlin 2009, S . 227 ff . 36 Habermas (Fn . 7), S . 112 ff ., 472 ff .; ders., Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: Philosophische Texte, Bd . 4, Frankfurt 2009, S . 140 ff .; am ausgefeiltesten: ders., Rechtsstaat und Demokratie – Eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, a . a . O ., S . 152 ff . 37 Zu diesem Exhaustionsprinzip s . Reinhardt, Der Überschuss der Gerechtigkeit, Weilerswist 2009 . Im deutschen Verfassungsrecht, das sich von der Prinzipientheorie Dworkins und Alexys beeinflussen lässt, wird häufig implizit oder explizit mit einem „Optimierungsgebot“ gearbeitet, das allerdings liberal vereinseitigt und konfliktignorant daherkommt . 38 Vgl . einerseits Habermas, Rechtsstaat (Fn . 36), S . 173, andererseits S . 175 .
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hauptung, dass die eine Autonomie ohne die andere jeweils nicht existieren könne, einen größeren Erklärungsaufwand . Es ist durchaus bezeichnend, dass Habermas wiederholt das Beispiel feministischer Gleichstellungspolitiken heranzieht . Denn bei der Ausgestaltung der Gleichheitsrechte ist es klar, dass man sich zunächst über den Gegenstand einigen muss: In welcher Hinsicht verdienen Frauen Gleich- oder gerade Ungleichbehandlung? Das ist aber anscheinend bei den Freiheitsrechten anders: Die Art und das Maß der Einräumung eines Abwehr-, Teilhabe- oder Leistungsrechts gegen den Staat ist gewiss öffentlich bestimmbar, ohne dass den Bürgern ein solches Recht „überhaupt“ schon privat zustünde . Den indischen Bauern kann man sich lebhaft vorstellen, der kaum über private Autonomie in einem bedeutungsvollen Sinne verfügt und all seine Hoffnungen in die demokratische Politik legt – oder auch sich von dieser gerade zurückzieht . Es wird nicht deutlich, worin hier der „interne“ im Sinne von analytische Zusammenhang bestehen sollte; jenseits von interessanten empirischen Fragen, die von Habermas aber gerade nicht beantwortet werden . Wollte Habermas hingegen nur auf den doppelt objektiven Rechtscharakter von Rechten hinaus, wäre dieser Zusammenhang zwar intern, aber trivial . Die interne Verbindung von Rechtsstaat und Demokratie im philosophischen Sinne, vor aller empirischen Sozialpsychologie und Soziologie, wird man nicht in dem gutartigen Zirkel zweier aus guten demokratischen Gründen unbestimmter Autonomiebegriffe, sondern im Gleichheitsbegriff suchen müssen . Dies aber nicht in der Weise, wie Habermas es bei der Entfaltung seines Autonomiearguments vollführt: Er vermischt äußerst folgenreich die identitäre Gleichheit der Rechtsform („Es gibt kein Recht ohne die private Autonomie von Rechtspersonen überhaupt .“ einerseits) und die soziale Gleichheit („Darin spricht sich die Intuition aus, dass einerseits die Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie nur dann einen angemessenen Gebrauch machen können, wenn sie aufgrund einer gleichmäßig gesicherten privaten Autonomie hinreichend unabhängig sind“ andererseits) miteinander, ohne der differentiellen Gleichheit hinreichende Beachtung zu schenken .39 Er spielt das liberale und das sozialstaatliche Rechtsparadigma gegeneinander aus, indem er ihnen jeweils unterschiedliche Freiheitsbegriffe zuschreibt . Damit sind wir dann aber auf der Ebene der demokratisch-politischen Auseinandersetzung, vielleicht ganz im Sinne von Habermas´ stets nur rhetorisch verhohlener Neigung zum Republikanismus . Das relativiert im Vorbeigehen immerhin ganz zutreffend die Unterscheidung zwischen objektivem Recht und subjektiven Rechten, indem die Durchsetzung der privaten Freiheit auf die gleiche Ebene gehoben wird wie die Praxis der öffentlichen Freiheit . Trotzdem wäre es sinnvoll, die Transzendentalbedingung des demokratischen Freiheitsrechts als solche zum Ausgangspunkt zu nehmen . Die Transzendentalbedingung der identitären Gleichheit ist uneingeschränkt universalistisch . Ihre Universalisierung läuft als einzige tatsächlich auf einen strikten Universalismus der Rechte hinaus . In diesem Sinne füllt sie vollkommen klassischmodern einen komplementären logischen Raum, in dem sogar die approximative Verwirklichung von Unmöglichem gedacht werden kann . Freilich ist damit noch nicht zu viel gewonnen; bezieht sich dieser Universalismus doch nur auf die Rechtsform als solche . Immerhin ermöglicht er aber, die restlose Verwirklichung von Moral
39 Habermas (Fn . 36), Zusammenhang, S . 149 .
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in rechtlicher Sittlichkeit als reale Chance zu denken, weil jene als ein alternatives Sein ganz im Sinne des moralischen Konstruktivismus fingiert werden kann . Die Transzendentalbedingung ist wiederum scharf von der Transzendenzbedingung der Rechte zu trennen . Die Verwirklichung von Gleichberechtigung in der Zeit ist nie abschließbar und daher auch nicht tauglich als realisierbare regulative Idee in postkantianischem Verständnis .40 Eher verständlich wird sie in einem neohegelianischen Vokabular der Vermittlung von Sein und Sollen in demokratischer Sittlichkeit . Anders als die vollkommene soziale Gleichheit ist diese Gleichberechtigung indessen der Auftrag der Demokratie . Nicht der Rechtsstaat kann die Berücksichtigung der individuellen Differenzen sichern, sondern nur der demokratische Prozess . Man kann sagen: Wenn der Rechtsstaat wesentlich von der Identität lebt, dann besteht Demokratie hauptsächlich aus der Aufgabe der Unterscheidung . „Draw a distinction“ (G . S . Brown) wird das demokratische Motto schlechthin . Wenn das sinnvollerweise mit einer postmodernen Wendung in der politischen Theorie gemeint sein sollte – then be it . Post-postmodern ist diese Wendung in formaler Hinsicht, weil sie das „Paradox“ der Universalisierung durch Differenzierung mittels Temporalisierung aufhebt .41 Der Rechtsstaat ist als Gewährleistung von Identität in der Rechtsform die Transzendentalbedingung der Demokratie . Ohne die Abschaffung von Privilegien kann Demokratie nicht sein . Die Demokratie ist als Durchsetzung der Anerkennung von Differenz die Transzendenzbedingung des Rechtsstaates . Die formalen Gleichheitsgarantien des Rechtsstaates erhalten ihre Bedeutung nur durch ihre kontinuierliche demokratische Revision in der Zeit . Die transzendente Universalisierung ist allein ein demokratisches Projekt, wenn auch auf epistemischer Grundlage . Sie wird in unterschiedlichen Gesellschaften verschiedene Ergebnisse zeitigen . Kontingenz ist Bestandteil ihres Codes, der zukunftsoffen bleibt und die pluralistische Dimension der Demokratie einlöst, während der Monismus der Rechtsform die Bedingung der Möglichkeit der Demokratie bleibt . Durch diese Klarstellung wird es auch möglich, zwei weit verbreitete Missverständnisse der Gleichheit in der Verfassungstheorie aufzulösen: Wenn Identität als Transzendenzbedingung der Demokratie missverstanden wird, dann wird sie approximativ mit Homogenität gleichgesetzt, und es kommt zu dem so wirkmächtigen kategorial verfehlten, essentialistischen, anti-republikanischen Identitäts-/Homogenitätsdiskurs .42 Umgekehrt kann Gleichberechtigung als Transzendentalbedingung missdeutet werden, was zu ihrer Reduzierung auf die Sinnvariante der Gleichheit in der Rechtsform („Gleich-Berechtigung“) führt . Eine weitere Konsequenz des ausgebreiteten Ansatzes ist die klarere Differenzierung zwischen Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat . Wenn man sich jeweils auf 40 Vgl . zur Verwirklichung gleicher Freiheit Wellmer, Freiheitsmodelle in der modernen Welt, in: ders., Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt 1993, S . 52; Reinhardt, Kontrafaktische Annahmen, in: Bung/Valerius/Ziemann, Normativität und Rechtskritik, Stuttgart 2007, S . 226 ff . 41 Vielleicht ist das mit der Idee eines reiterative universalism gemeint, wie sie Michael Walzer formuliert hat, vgl . ders ., Nation and Universe, in: Thinking politically, New Haven 2009, S . 183 ff . 42 Unter anderem gegen Teile der Schmitt-Schule zu Recht Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, Berlin 2008 .
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die in Rede stehende Variante des Gleichheitsbegriffs besinnt, lassen sich die hybriden Konzepte der materialen Gleichheit, der substantiellen Demokratie oder des materiellen Rechtsstaates verabschieden . Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit werden in die Moralphilosophie und den demokratischen Prozess verwiesen .43 4 ausBlIck: dIe verfassunGstheorIe der GleIchheIt – eGalItärer mInImalkonstItutIonalIsmus Die Verfassungstheorie schlägt die Brücke zwischen politischer Philosophie und Verfassungsrecht .44 Das erlaubt ihr, politisch relativ naive rechtliche Vorschläge zu unterbreiten, die einer bestimmten philosophischen Konzeption der Verfassung entsprechen könnten . Die theoretische Idee eines egalitären Konstitutionalismus in der präsentierten Gestalt hat in der Verfassungspraxis minimalkonstitutionalistische Folgen . Was ist damit gemeint? Wenn der Rechtsstaat im wesentlichen die Rechtsform zu wahren hat, dann sollte es die primäre Aufgabe eines Verfassungsgerichts sein, genau das zu kontrollieren . Die Kontrolle des Privilegierungsverbots ist dabei aber kaum identisch mit der Exekution des Willkürverbots des Artikels 3 I Grundgesetz, der zum Lieblingsgrundrecht der Steuerrechtler verkommen zu sein scheint .45 Dessen Gehalt, der nach Luhmann heute in einem umfassenden Rationalitätsvorbehalt der Gesetzgebung liegt46, lässt sich wohl ohne größere Verluste auf das Einzelfallgesetzverbot einerseits, das Verbot der Diskriminierung anhand verdächtiger Kriterien (Artikel 3 III GG) andererseits reduzieren . Der zweite Punkt betrifft dann aber schon wieder die Rechtskriterien, die zuerst der demokratische Prozess definieren muss . Da es zumindest hier darum geht, einen „vernünftigen Konsens“ (Rawls) herzustellen, also die epistemische Dimension der Demokratie gefragt ist, sollte auf der zweiten Stufe mindestens eine Verfahrenskontrolle stattfinden . Es kann geschehen, dass der demokratische Prozess bei der Anwendung oder gar schon der Definition der Diskriminierungskriterien versagt . Dies darf dann im Rahmen der Normenkontrolle richterlich korrigiert werden . Anders als in der prominenten Theorie von John Hart Ely wird hier also nicht umfassend die Repräsentativität des demokratischen Verfahrens verstärkt47, sondern (nur) die Anerkennung aller Bürger als gleich in ihrem Anderssein gewährleistet . Dagegen fällt die Definition der Rechtsinhalte der Freiheitsrechte aus der Kompetenz des Verfassungsgerichts heraus . Hier ist bloß die Dimension der sozialen Gleichheit oder Gerechtigkeit betroffen, über die kein vernünftiger Konsens herzu43 Vielleicht sollte man auch wieder einmal „unbelastet von Weimar“, unbelastet vom „sozialen Rechtsstaat“ des verirrten Demokraten Hermann Heller neu beginnen . Vgl . Heller, Staatslehre, Leiden 1934 . 44 S . dazu ausführlich Möllers, Die drei Gewalten, Weilerswist 2009, Einleitung . 45 Vgl . nur die plausible Kritik von Lepsius am BVerfG-Urteil zur Pendlerpauschale, JZ 2009, S . 260 . Eine dezidiert andere Bewertung von Art . 3 I GG als sinnvolles Gebot normativer Gleichbehandlung individueller Interessen bei Huster, Rechte und Ziele, Berlin 1993 . 46 I . S . einer Begründungskontrolle der Staatsentscheidungen, in: Luhmann (Fn . 29), S . 162 ff . 47 Ely, Democracy and Distrust, Cambridge (MA) 1980 .
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stellen ist, sondern nur ein vernünftiger Dissens herrschen kann . Vernünftig nicht nur wegen der „Tatsache des Pluralismus“ der Gerechtigkeitsüberzeugungen, sondern auch, weil die ständige Aushandlung dieser Fragen das Elixier der Demokratie bildet . In der verfassungspolitischen Stoßrichtung befindet sich meine Konzeption damit im Einklang mit Ideen eines „political constitutionalism“ wie bei Richard Bellamy48 oder überhaupt einem aufgeklärten Political Turn der Verfassungstheorie49, der mit einer Tendenzwende zum „Politischen“ in Schmitts Sinne wenig gemein hat .50 Allerdings ist sie einerseits gleichheitszentrierter, andererseits auch durchaus offen für die Definition von kollektiven Identitäten in der Verfassung . Zwar sind diese in der Moderne eher suspekt; aber es ist nachvollziehbar, dass eine Gesellschaft im Hinblick auf einen Kernbereich von Freiheitsrechten nach der Gewissheit einer „Verfassungsidentität“ strebt . Das kann unter dem Grundgesetz der Menschenwürdekern der Freiheitsrechte sein, unter den EU-Verträgen der antidiskriminatorische Kern der Grundfreiheiten . Sobald wir über einen „relativen Wesensgehalt“ oder Abwägung zu sprechen beginnen, wird es allerdings heikel, ein wenig demokratisches Gremium zu befassen, auch aus Gründen der Wissensverteilung . Die Verfassungstheorie erhält unter der Prämisse des egalitären Minimalkonstitutionalismus eine neue Ausrichtung: Statt die ewigen kantischen Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ miteinander zu verbinden, wie Jürgen Habermas es in seinem diskursethischen Programm versucht, verschiebt sich der Akzent zur Frage „Was darf ich hoffen?“ – gemäß dem Schlachtruf Richard Rortys: „Hoffnung statt Erkenntnis“51 . Diese Hoffnung muss anders als bei Adorno, Benjamin oder Derrida52 eine bestimmte Hoffnung sein – eine Hoffnung in die demokratische Politik . Die demokratische Utopie ist dann nicht länger die Anarchie,53 sondern eine Lebensform von Gleichen .54
48 Bellamy, Political Constitutionalism: A republican defence of the constitutionality of democracy, Cambridge 2007 . 49 Programmatisch z . B . Waldron, Law and disagreement, Oxford 1999, S . 3 ff . 50 Wie überhaupt der „Linksschmittianismus“ etwa einer Chantal Mouffe am Ende wenig mit Schmitt gemeinsam hat . 51 Rorty, Philosophy and Social Hope, London 2000 . 52 Dort eine messianische Hoffnung auf Versöhnung mit dem Nicht-Identischen, vgl . Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Frankfurt 2004; Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt 2000; Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt 1991 etc . 53 Dafür in einer langen Traditionslinie etwa Kaufmann, in: Pauer-Studer/Nagl-Docekal, Freiheit, Gleichheit und Autonomie, Wien 2003, S . 274 ff . 54 Damit ist nicht die vorpolitische, nur ethische Polis-Lebensform des antiken Republikanismus angesprochen, gegen die sich Habermas zu Recht verwahrt, sondern ein anderes Tertium als sein rationalistisch aufgeladener Prozeduralismus; s . nur Habermas, Rechtsstaat (Fn . 36), S . 161 f .
MicHael GrünberGer* das prInzIp der personalen GleIchheIt. eIne skIzze des rechtfertIGunGsmodells von GleIchBehandlunGspflIchten prIvater akteure. Das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht im AGG bietet Anlass, über einen Perspektivenwechsel im Verhältnis von Privatautonomie und Gleichbehandlung nachzudenken . Nach der hier vertretenen These ist Gleichbehandlung der Grundsatz und Ungleichbehandlung die rechtfertigungsbedürftige, aber auch rechtfertigungsfähige Ausnahme . Die Präsumtion der Gleichheit führt dazu, dass alle Ungleichbehandlungen privater Akteure begründungspflichtig sind . Das macht es notwendig, ein Rechtfertigungsmodell zu entwickeln, in dem der Ausübung von Privatautonomie besondere Bedeutung zukommt . Dieses Modell ist gegen die Kritik aus der „Privatrechtsgesellschaft“ zu verteidigen .
1 eIn perspektIvenwechsel 1.1 die GleicHe recHtsFäHiGkeit aller Das Privatrecht teilt mit dem Grundsatz der gleichen Rechtsfähigkeit jedes Menschen das Grundpostulat der Gleichheitsidee . Noch im späten 18 . Jahrhundert war der „status“ der zentrale Begriff des Personenrechts .1 Damit wurde die rechtliche Stellung beschrieben, die ein Mensch in einer Gesellschaft aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe innehatte .2 Die allgemeine Rechtsfähigkeit löste ihn als Grundbegriff des Personenrechts ab3: „Jeder Mensch ist rechtsfähig .”4 und: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten . Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer sich darauf beziehenden Macht, wird […] nicht gestattet .”5 Was im Sächsischen BGB von 1863 noch ausgesprochen und im österreichischen ABGB *
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Der Beitrag markiert eine Momentaufnahme des von der DFG geförderten Projekts „Personale Gleichheit . Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Privatrecht“ . Seitdem sind die hier skizzierten Gesichtspunkte weiter entwickelt und ausgebaut worden und in die Habilitationsschrift des Verfassers (Köln, 2011) eingeflossen . Ein zeitgenössisches Beispiel ist Puchta, Lehrbuch für Institutionen–Vorlesungen, München 1829, S . 19–24; zum Römischen Recht vgl . Hausmaninger/Selb, Römisches Privatrecht, 3 . Aufl ., Wien 1985, S . 113; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 18 . Aufl ., München 2005, § 13 Rn . 1–3 . Aus der zeitgenössischen Literatur kritisch zum Begriff des status: Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd . II, Berlin 1840, S . 443–515; Feuerbach, Civilistische Versuche, Bd . I, Gießen 1803, S . 173–90 . Siehe Mehrhoff, Stichwort „Status“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg .), Handwörterbuch der Deutschen Rechtsgeschichte, Bd . IV, Berlin 1990, S . 61 . Coing, Europäisches Privatrecht, Bd . II, München 1989, S . 285; Rückert in: Historisch–kritischer Kommentar zum BGB, Schmoeckel/Rückert/Zimmermann (Hrsg .), Bd . I, Tübingen 2003 (zit .: HKK–BGB), Vor § 1 Rn . 39; Duve in: HKK BGB, Bd . I, 2003, §§ 1–14, Rn . 8 . § 30 Sächsisches BGB, GVBl . f . d . Königreich Sachsen, 1863, S . 1 . Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, Patent vom 1 .6 .1811, Justizgesetzessammlung 1804– 1816, Nr . 946 . S . 275 . In der Rechtswirklichkeit blieb die Ständeordnung jedoch bestehen, vgl . Grimm, Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller, in: Grimm (Hrsg .), Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a . M . 1987, S . 222–24 .
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noch begründet werden musste, wird in § 1 BGB als selbstverständlich vorausgesetzt . Danach ist jedes Rechtssubjekt, die „Person”, Träger von allen in einer Rechtsordnung möglichen Rechten und Pflichten . Darin lag ein emanzipatorischer, revolutionärer Akt, der die politische Natur des Privatrechts – jedenfalls in Deutschland bis zur Mitte des 19 . Jahrhunderts6 – verdeutlicht . Das bürgerliche Recht ist also diskriminierungsfeindlich angelegt7, weil alle Menschen rechtsfähig sind und „Person” sein können8, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Abstammung, Heimat und Herkunft, ihrer „Rasse“, Sprache, religiösen oder politischen Anschauungen, ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten .9 Erst der Grundsatz der formellen Gleichheit aller Menschen kann eine Privatrechtsordnung rechtfertigen, deren zentrale Säule das Konzept der Privatautonomie ist . Nur wenn im Prinzip jeder eine „Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft“10 lösen kann, überzeugt es, dass die Privatautonomie „das grundlegende Ordnungsprinzip des Privatrechts“11 ist . Die Rechtsgleichheit aller beteiligten Akteure soll zusammen mit der Vertragsfreiheit die individuelle Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft gewährleisten . Pointiert: Alle sind frei und gleich – denn alle haben gleiche Rechte, und diese Rechte können nur durch freie und gewillkürte Handlungen verändert werden .12 Die gleiche rechtliche Freiheit aller ist ein Leitprinzip des BGB13; sie baut auf die Privatautonomie als Freiheit zur individuellen Selbstbestimmung und auf die formale Rechtsgleichheit als Gleichheit in dieser Freiheit14 . Nach den modelltheoretischen Konzeptionen15 des bürgerlichen Sozialmodells16 oder der „Privatrechtsgesellschaft“17 beschränkt sich die Bedeutung des 6
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Vgl . dazu Grimm, Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung, in: Grimm (Fn . 5), S . 192 ff .; ders., Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: Grimm (Hrsg .), Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a . M . 1991, S . 67 ff .; Klippel, Das „natürliche Privatrecht“ im 19 . Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg .), Naturrecht im 19 . Jahrhundert, Goldbach 1997 . Grimm, Bürgerlichkeit im Recht, in: Grimm (Fn . 5) S . 32; Knieper, Gesetz und Geschichte, Baden–Baden 1996, S . 69 . Nachdrücklich Zeiller, Das natürliche Privat–Recht, 3 . Aufl ., Wien 1819, S . 65–69, 80–81 . So schon Zeiller, (Fn . 8) S . 65–69, 80–81 . Aus der modernen Literatur vgl . statt vieler Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2 . Aufl ., Tübingen 2006, Rn . 154 . Paulus, Ein Plädoyer für unscheinbare Normen, JuS 1994, 367 . Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9 . Aufl ., München 2004, § 1 Rn . 2 . Coing, Zur Geschichte des Begriffs „subjektives Recht“, in: Coing/Lawson/Grönfors (Hrsg .), Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, 1959, Frankfurt a . M ., S . 18; G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, München 1958, S . 103 . Rückert in: HKK BGB (Fn . 3), Vor § 1 Rn . 38, 47; Coester, Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, in: Heldrich/Prölss/Koller, FS Canaris, Bd . I, München 2007, S . 120 . Grimm, Zukunft der Verfassung, in: Grimm (Hrsg .), Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a . M . 1991, S . 70–72 . Das rechtshistorische Fundament dieser Aussagen ist in den letzten Jahren zunehmend zweifelhaft geworden, vgl . dazu Rückert in: HKK BGB, (Fn . 3) Vor § 1 Rn . 93–115 (grundlegend); Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, Tübingen 2001; Haferkamp in: HKK BGB (Fn . 3), Bd . II, Tübingen 2007, § 242 Rn . 26–87 . Der Begriff wurde geprägt von Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: Wieacker (Hrsg .), Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, Frankfurt a . M . 1974 . Der Begriff stammt von Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO (17) 1966, 75; dazu in jüngerer Zeit Canaris, Verfassungs– und europarechtliche Aspekte der Vertragsfrei-
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Gleichheitssatzes im Zivilrecht auf die formelle Gleichheit aller Privatrechtssubjekte . Innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Schranken18 ist die Privatautonomie das grundlegende Ordnungsprinzip im Verhältnis der Individuen untereinander .19 Eine wesentliche Erscheinungsform der Privatautonomie ist die Vertragsfreiheit, die in erster Linie Abschlussfreiheit ist .20 Diese umfasst auch die Freiheit der Partnerwahl und damit die Entscheidung, mit jemandem einen Vertrag abzuschließen oder ihn mit dieser Person gerade nicht abzuschließen .21 Die getroffene Entscheidung ist nach herkömmlichem Verständnis nicht begründungsbedürftig,22 weil sie von der Person getroffen wird in einem „Gebiet worin ihr Wille herrscht”23 . Die Rechtsgleichheit war für bestimmte Personengruppen jedoch eine „gebrochene Gleichheit”24, weil das Recht „Enklaven ungleichen Rechts”25 tolerierte oder selbst herstellte26 . Einerseits nämlich verschwindet im Laufe des 19 . Jahrhunderts „der Mensch” langsam hinter den Begriffen der „Person” und des „Rechtssubjekts“ .27 Das Privatrecht abstrahiert von der Individualität des Menschen, fasst ihn nur mehr als entstofflichtes Rechtssubjekt auf und schreibt diesem Subjekt dann gleiche Freiheit zu .28 Mit der Identifikation von Person und Mensch wurde die politische Absicht verfolgt, Standesunterschiede einzuebnen .29 Andererseits wird dieses „Rechtssubjekt“ im Privatrecht doch wieder als ein Mensch gesehen, der anders, meistens schlechter, behandelt wird, wenn es sich bei ihm – gesellschaftspolitisch gesprochen – um einen „Außenseiter”30 handelt: einen „negro […] of the African race”31 in den U .S .A . oder einen Juden32 oder eine Frau33 im Deutschland des 19 . Jahrhunderts .
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heit in der Privatrechtsgesellschaft in: FS Lerche, München 1993, S . 874–78; und die Beiträge von Riesenhuber, Grundmann und Picker in: Riesenhuber (Hrsg .), Privatrechtsgesellschaft, Tübingen, 2009 . Statt vieler: Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd . 2, 3 . Aufl ., Berlin 1979, S . 7–17 . Dazu, dass die Vertragsfreiheit in Deutschland auch im 19 . Jahrhundert nicht als schrankenlos verstanden wurde, siehe Rückert in: HKK BGB (Fn . 3), Vor § 1 Rn . 94–98 . Larenz/Wolf, (Fn . 11) § 1 Rn . 2 . Larenz/Wolf, (Fn . 11) § 34 Rn . 22; Bork, (Fn . 9) Rn . 661 . Bork, (Fn . 9) Rn . 661; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, Tübingen 1999, S . 67–69 . Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, 7 . Aufl ., Heidelberg 2003, Rn . 147a . Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd . I, Berlin 1840, S . 7 . Schwab, Frauenrechte und Naturrecht, in: Klippel, (Fn . 6), S . 83 . Grimm, (Fn . 7) S . 33 . Vgl . dazu auch Nickel, Gleichheit und Differenz, Baden–Baden 1999, S . 36–46 . Vgl . Hattenhauer, „Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs, JuS 1982, 405, 407–408 . Siehe Puchta, (Fn . 1), S . 19; vgl . zu Abstraktion und Entstofflichung auch Caroni, Privatrecht, Frankfurt a . M . 1988, S . 64–68 . Kritisch Otto, Personale Freiheit, München 1978, S . 8 („Reduzierung des Menschen“); Knieper, (Fn . 7), S . 58–61 (zum ideologisch geprägten Hintergrund) . Knieper, (Fn . 7), S . 56 . Dazu grundlegend aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Mayer, Außenseiter, Frankfurt a . M . 1981 . Scott v . Sandford, 60 U .S . 393 403 (1857) (Nachfahren von Sklaven afrikanischer Herkunft sind zwar Personen, aber nicht Bürger [citizen] der U .S .A .); aufgehoben durch das U .S . Const . amend . XIV, § 1 (1868) . Vgl . Savigny, System, Bd . II, Berlin 1840, S . 233–34 (zum Eheverbot zwischen Juden und Christen) . Vgl . dazu Schwab, (Fn . 24), S . 77 ff .; Vogel, Gleichheit und Ungleichheit in der ehelichen Vertragsgesellschaft – Widersprüche der Aufklärung, in: Gerhard (Hrsg .), Frauen in der Geschichte
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Diese Differenzierungen waren in den Augen der Zeitgenossen zulässig, weil darin „die natürliche Verschiedenheit des Geschlechts”34, der Religion oder der „Rassen”35 zum Ausdruck kam . Aus heutiger Perspektive weiß man, dass mit solchen, vermeintlich „natürlichen” Unterschieden der eigentliche soziale Bezug dieser Differenzierungen im Zivilrecht verdeckt wird .36 1.2 der sieGeszuG des nicHtdiskriMinierunGsGrundsatzes Die traditionelle Konzeption von Rechtsgleichheit als ausschließlich formale Gleichheit der Privatrechtssubjekte wird mittlerweile durch den „Grundsatz der Gleichbehandlung” überlagert . Ziel dieses Grundsatzes ist es, „Schutz vor Benachteiligung im Zivilrechtsverkehr”37 zu bieten . Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist in seiner Ausprägung als Diskriminierungsverbot mittlerweile ein fest verankertes Pinzip des Unionssrechts:38 „Nichtdiskriminierung ist ein Grundprinzip der Europäischen Union”, formuliert der Beschluss, mit dem das Jahr 2007 als das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle bestimmt wurde .39 Das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit in Art . 18 AEUV und die speziellen Diskriminierungsverbote zur Sicherung der Grundfreiheiten, das in Art . 157 AUEV niedergelegte Gebot der Entgeltgleichheit unabhängig vom Geschlecht und die bahnbrechende Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen40 verdeutlichen, dass Diskriminierungsschutz zu den traditionellen Regelungsmaterien der EU gehört .41 Auf der Kompetenzgrundlage des Art . 19 Abs . 1 AEUV bzw . des Art . 157 Abs . 4 AEUV sind in den letzten Jahren insgesamt sechs Richtlinien42 ergangen, die zusammen das
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des Rechts, München 1997, S . 265 ff .; Dölemeyer, Frau und Familie im Privatrecht des 19 . Jahrhunderts, in: Gerhard (Hrsg .), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997 . Planck, Die rechtliche Stellung der Frau nach dem bürgerlichen Gesetzbuche, 2 . Aufl ., Göttingen 1899, S . 5 . Vgl . Plessy v . Ferguson, 163 U .S . 537, 543 (1896) . Vgl . Pawlowski, (Fn . 22), Rn . 143 . Überschrift zu Abschnitt 3 des AGG . Grundlegend dazu EuGH, Urt . v . 22 .11 .2005, Rs . C–144/04 – Mangold v . Helm, Slg . 2005, I–9981, Rn . 74 f .; allgemein dazu Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, 1; Mahlmann, Gleichheitsschutz im Europäischen Rechtskreis, in: Mahlmann/Rudolf (Hrsg .), Gleichbehandlungsrecht, 2007, § 3 Rn . 1 ff . ABl . Nr . L 146 v . 31 .5 .2006, S . 1 . ABl . L 39 v . 14 .2 .1976, S . 40; tiefgreifend geändert durch Richtlinie 2002/73/EG, ABl . L 269 v . 5 .10 .2002, S . 15 . Bell, Anti–discrimination Law in Transition: the European Union and Racism, in: Kälin (Hrsg .), Das Verbot ethnisch–kultureller Diskriminierung, Basel 1999, S . 28–31; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, Berlin 2003, S . 268–94 . Richtlinie 2000/43/EG v . 29 .6 .2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl . EG Nr . L 180 v . 19 .7 .2000, S . 22; Richtlinie 2000/78/EG v . 27 .11 .2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl . EG Nr . L 303 v . 2 .12 .2000, S . 16; Richtlinie 2004/113/EG v . 13 .12 .2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl . EG Nr . L 373 v . 21 .12 .2004, S . 37; Richtlinie 2002/73/EG v . 23 .9 .2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG, aufgehoben und ersetzt durch die Richtlinie
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spezielle unionsrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht bilden . Der allen Richtlinien gemeinsame „Grundsatz der Gleichbehandlung” verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen, (sexuelle) Belästigungen, Anweisungen zu Diskriminierungen und nachteilige Behandlungen in Bezug auf eine erfolgte Diskriminierung . Die Richtlinien unterscheiden sich nach den jeweils erfassten Diskriminierungsmerkmalen (Rasse und ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung, Geschlecht) und in ihrem sachlichen Anwendungsbereich . Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)43 setzt diese Richtlinien in deutsches Recht um . Das AGG enthält in § 19 erstmals ein zivilrechtliches44 Benachteiligungsverbot: Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion45, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität ist bei der „Begründung, Durchführung und Beendigung bestimmter zivilrechtlicher Schuldverhältnisse” (§ 19 Abs . 1 AGG) unzulässig, wenn nicht ein sachlicher und verhältnismäßiger Grund die Differenzierung rechtfertigt (vgl . § 20 AGG) . Für „Massengeschäfte” (§ 19 Abs . 1 Nr . 1 Alt . 1 AGG), „massengeschäftsähnliche Rechtsgeschäfte” (§ 19 Abs . 1 Nr . 1 Alt . 2 AGG), privatrechtliche Versicherungen und, wenn es sich um eine Benachteiligung wegen Rasse und ethnischer Herkunft handelt, bei „sonstigen zivilrechtlichen Schuldverhältnissen” (§ 19 Abs . 2 AGG) ist der Grundsatz der Gleichbehandlung in seiner Ausgestaltung als Diskriminierungsverbot zu einem zentralen Bestandteil zivilrechtlicher Dogmatik geworden . Der Grundsatz der Gleichbehandlung markiert in seiner Ausprägung als Diskriminierungsverbot im AGG und im speziellen europäischen Nichtdiskriminierungsrecht einen Paradigmenwechsel im deutschen und europäischen Privatrecht . Man kann jetzt Privatrecht nicht mehr ausschließlich als Kombination von formaler Rechtsgleichheit der Privatrechtssubjekte und einer Privatautonomie konzipieren, die Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen grundsätzlich erlaubt . Die Ausübung von Freiheit ist mittlerweile begründungsbedürftig, wenn sie aufgrund von Merkmalen getroffen wird, die grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine Differenzierung herangezogen werden dürfen . Die Freiheit eines Privatrechtssubjekts vom Vertragsschluss mit dem „Anderen“ wird zugunsten der Freiheit dieses
2006/54/EG v . 5 .7 .2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, ABl . EG Nr . L 204 v . 26 .7 .2006, S . 23 . Die Richtlinien 75/117/EWG, 76/207/EWG (in der durch RL 2002/73EG geänderten Fassung), 86/378/EWG und 97/80/EG wurden gem . Art . 34 Abs . 1 dieser Richtlinie mit Wirkung vom 15 . August 2009 aufgehoben . Zuletzt erging die Richtlinie 2010/41/EU zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, ABl . EU Nr . L 180 v . 15 .7 .2010, S . 1 . 43 Art . 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v . 14 .8 .2006, BGBl . I v . 17 .8 .2006, S . 1897, in Kraft seit 18 .8 .2006 (vgl . Art . 4 des Gesetzes) . 44 Im Unterschied zum beschäftigungsrechtlichen Benachteiligungsverbot, das in den §§ 6–18 AGG erfasst wird . 45 Nicht jedoch der Weltanschauung . Anders als beim Benachteiligungsverbot für Beschäftigte, § 7 AGG, wurde beim zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot in § 19 Abs . 1 AGG bewusst darauf verzichtet, die ‚Weltanschauung‘ in den Katalog mit aufzunehmen, vgl . BT–Drs . 16/2022, S . 13 .
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„Anderen“ zum Vertragsschluss eingeschränkt .46 Zugleich verschiebt der Grundsatz der Gleichbehandlung die traditionelle Grenze zwischen den Sphären des Öffentlichen und des Privaten, weil er den Bereich der von staatlichen Eingriffen freizuhaltenden Privatsphäre enger zieht . Das macht es notwendig, eine politische Konzeption von Öffentlichkeit und Privatsphäre zu entwickeln, nach der die Geltung des Gleichbehandlungsanspruchs keine systemwidrige Intervention, sondern Funktionsvoraussetzung eines modernen Privatrechts ist . Das basiert auf einem Verständnis, nach dem Privatrecht und seine Grundbegriffe nicht ein für alle Mal feststehen, sondern offen gegenüber Interventionen des politischen Systems und dort wurzelnder Gleichheitsforderungen sind . Das neuzeitliche Projekt, die Freiheit und Gleichheit aller Personen zu gewährleisten,47 ist nicht abgeschlossen und verlangt von uns eine fortlaufende Neudefinition individueller Freiheitsräume . 1.3 das prinzip personaler GleicHHeit Das „Prinzip personaler Gleichheit“ ist ein Modell, mit dem der Grundsatz der Gleichbehandlung in koheränter und rational begründbarer Weise auf alle gleichbehandlungsrelevanten Sachverhalte im Privatrecht angewendet werden kann . Es geht über das im AGG enthaltene Konzept hinaus . Voraussetzung dafür ist ein methodischer Perspektivenwechsel: Nicht mehr die Gleichbehandlung ist begründungsbedürftig, sondern die Ungleichbehandlung .48 Ausschlaggebend dafür ist der außerrechtlich begründete und über das Unions- und Verfassungsrecht ins Privatrecht transformierte Anspruch jeder Person auf gleiche Behandlung . Aus dieser Präsumtion personaler Gleichheit folgt, dass jede Ungleichbehandlung eines Privatrechtssubjekts grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig ist . Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass sich der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht nicht auf Diskriminierungsverbote beschränkt . Ausgehend von der spezifisch unions- und verfassungsrechtlichen Prägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, gibt es auch im Zivilrecht einen systematischen Zusammenhang von allgemeinem Gleichbehandlungsanspruch und speziellen Diskriminierungsverboten . Das Gleichbehandlungsrecht muss auch im Zivilrecht vom allgemeinen Gleichheitssatz her rekonstruiert werden, um eine plausible Gesamtstruktur zu bilden .49 Ganz rudimentär stellt auch der Draft Common Frame of Reference diesen Zusammenhang her, wenn die Diskriminierungsverbote als „most obvious manifestation“ des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes („treating like alike“) aufgefasst werden .50 Darauf baut meine Hauptthese auf: Das geltende deutsche und europäische Zivilrecht enthalten einen Gleichbehandlungsgrundsatz, nach dem ein Privatrechtssubjekt die Ungleichbehandlung einer anderen Person grundsätzlich mit sachlichen Gründen zu rechtferti46 Schiek in: Schiek (Hrsg .), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), München 2007, Vorbem . zu § 19 ff . Rn . 12; vgl . auch von Bar/Clive (Hrsg .), Draft Common Frame of Reference, Bd . I, München 2009, 41 . 47 Dazu im Überblick Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, Berlin, 1980 . 48 Vgl . dazu den zutreffenden Ansatz bei Bachmann, Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Kapitalmarktrecht, ZHR (170) 2006, 144, 159 . 49 Vgl . Mahlmann in: Mahlmann/Rudolf, Gleichbehandlungsrecht, Baden-Baden 2007, § 3 Rn 17 . 50 von Bar/Clive, (Fn . 46), S . 53 .
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gen hat (allgemeines Gleichbehandlungsgebot) und in dem bestimmte Gründe eine Ungleichbehandlung grundsätzlich nicht zur rechtfertigen vermögen (Diskriminierungsverbot) . Damit wird auch der gemeinsame materielle Gerechtigkeitsgehalt beider Elemente des Gleichbehandlungsgrundsatzes deutlich gemacht: der (moralische) Anspruch auf Gleichbehandlung, der Ungleichbehandlungen nicht verbietet, aber für rechtfertigungsbedürftig erklärt . Auf der Tatbestandsebene differenziert das Modell zwischen zwei Formen der Ungleichbehandlung: 1 . Diskriminierung: eine ungleiche Behandlung, die unmittelbar oder mittelbar an bestimmte persönlichkeitsrelevante Merkmale (Diskriminierungsmerkmale) anknüpft, und 2 ., die sonstige ungleiche Behandlung: die Ungleichbehandlung knüpft nicht an ein Diskriminierungsmerkmal an . Diese Differenzierung wirkt sich auf die Anforderungen einer Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aus: Eine sonstige Ungleichbehandlung kann bei sachverhaltsbezogenen Ungleichbehandlungen mit jedem sachlichen Grund gerechtfertigt werden . Bei personenbezogenen Ungleichbehandlungen steigen die Rechtfertigungsanforderungen: es müssen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht sein, die eine solche Differenzierung zu rechtfertigen vermögen . Bei Diskriminierungen wird dagegen an Merkmale angeknüpft, die grundsätzlich nicht als Rechtfertigungsgrund für Differenzierungen herangezogen werden dürfen . Eine Rechtfertigung ist hier nur ausnahmsweise und mit strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips möglich . Auf der Rechtfertigungsebene sind die gegenläufigen Prinzipien zu berücksichtigen . Dazu zählen insbesondere die Freiheitsrechte des Diskriminierenden und damit die seine Willensfreiheit schützende Privatautonomie . Das Modell erlaubt es, diese Freiheiten – ihrer jeweiligen generellen und konkreten Bedeutung gemäß – bei der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu berücksichtigen . Ihre Wahrnehmung ist prinzipiell ein legitimes Ziel . Innerhalb der durchzuführenden Rechtfertigungsprüfung kommt den Freiheitsrechten – und damit der Privatautonomie – ein tendenziell entscheidendes Gewicht bei der Rechtfertigung von sonstigen, sachverhaltsbezogenen Ungleichbehandlungen zu, während sie Diskriminierungen nur rechtfertigen können, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen (verhältnismäßig) sind . Das Modell kann damit die tradierte Behauptung entkräften, Gleichbehandlungspflichten führten zum Ende der Privatautonomie . Es geht nicht um die Frage, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz als solcher überhaupt anwendbar ist51, sondern immer um die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen . Es ist also falsch, zu sagen, dass „ein Vertragsschluss auch aus unsachlichen Gründen abgelehnt werden” könne52 . Indem eine potentielle Partei von ihrer grundrechtlich gesicherten Privatautonomie Gebrauch macht, liegt darin ein möglicher sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung . Den Staat trifft ein Willkürverbot; für den Privaten ist willkürliches Handeln grundsätzlich eine Ausübung von Freiheitsrechten und kommt damit als Rechtfertigungsgrund einer Ungleichbehandlung in Betracht . Weil es aber darum gehen muss, die Freiheit aller Beteiligten unter dem Gesichtspunkt ihrer persönlichen Gleichheit zu schützen, kann die Willkür des Einzelnen nicht jede Un51 So aber Bachmann, (Fn . 48), S . 144, 159 f ., der diese Fragen nicht scharf genug trennt . 52 So Wackerbarth, Die Vermeidung einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme aus dem AGG (zivilrechtlicher Teil), ZIP 2007, S . 453, 455 .
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gleichbehandlung rechtfertigen . Es muss daher eine Rechtfertigungskonzeption entwickelt werden, die auf dem Grundgedanken von allgemeinen und reziproken Gründen basiert . 2 GerechtIGkeItsanforderunGen an prIvates verhalten Die Diskussion über den Gleichbehandlungsgrundsatz im Privatrecht ist auch „ein Streit um kontroverse Gerechtigkeitsanforderungen an privates Verhalten”53 . Der jeweilige Standpunkt zu dieser moralphilosophischen54 Frage bestimmt Vorverständnis und Methodenwahl der dogmatischen Auseinandersetzung über den Gleichbehandlungsanspruch . Eine moralische Begründung von Gleichbehandlungsansprüchen ist deshalb in einer rechtswissenschaftlichen Argumentation notwendig,55 um die grundsätzliche Kritik am Gleichbehandlungsrecht rational56 zu entkräften und um die vorpositiven Ordnungsvorstellungen offenzulegen,57 an denen sich die Anwendung und Fortentwicklung des geltenden Rechts orientieren sollen58 . Diese Begründung soll unter Rückgriff59 auf Fragestellungen erfolgen, die in der politischen Philosophie über Gerechtigkeit und Gleichheit diskutiert werden .60 Dem dort genannten Ziel, die „tieferen Grundlagen einer möglichen Übereinstimmung”61 in moralisch kontroversen Fragen herzustellen, kommt bei einem so umstrittenen Projekt wie dem Gleichbehandlungsgrundsatz im Zivilrecht besondere Bedeutung zu:62 Es gilt, eine konsensfähige Gleichheitskonzeption zu
53 Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL (64) 2005, S . 355, 360 . 54 Terminologisch folge ich einer Unterscheidung von Ethik und Moral, wie sie in Teilen der modernen politischen Philosophie vertreten wird: Ethik betrifft die Fragen des „guten Lebens“ und ist in pluralistischen Gesellschaften nur für das jeweilige Individuum gültig, das sich damit identifiziert; zur Moral zählen dagegen die Normen, die universale Gültigkeit beanspruchen; vgl . Forst, Ethik und Moral in: Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt a . M . 2007, 100–127; anders etwa Patzig, Ethik ohne Metaphysik, 2 . Aufl ., Göttingen 1983, S . 7, 10, der mit „Moral“ die bloß faktische Sozialmoral und mit „Ethik“ normative Gerechtigkeitskonzeptionen bezeichnet; sowie Mahlmann, Ethik, in: Mahlmann/Rudolf (Hrsg .), Gleichbehandlungsrecht, BadenBaden 2007, § 1 Rn . 6 ff . 55 Zutreffend der Diskussionsbeitrag von Steiger, VVDStRL 64 (2005), 407 f . gegen Britz, (Fn . 53) S . 355, 396–98 . 56 Der Begriff wird hier mit Esser „im Sinne von Ermöglichung von Konsens über Fragen der Gerechtigkeit innerhalb positiv vorgegebener gesellschaftlicher und gesetzlicher Institutionen“ verstanden, Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1972, S . 15 . 57 Zu dieser Voraussetzung juristischer Tätigkeit mit Nachdruck auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd . I, 9 . Aufl ., Berlin 2004, S . 246–47 . 58 Vgl . zur Bedeutung normativer Gerechtigkeitsgehalte für die Rechtsanwendung Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, Baden-Baden 2000, S . 32–38; dazu auch Dworkin, Law‘s Empire, Cambridge, Mass . 1986, S . 166 . 59 Zum methodischen Ansatz vgl . Alexy, The Nature of Legal Philosophy, 17 Ratio Juris 156, 160–61 . 60 Grundlegend: Rawls, A Theory of Justice, Revised Ed ., Cambridge, Mass . 1999; aus neuerer Zeit Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 2004 . 61 Gosepath, (Fn . 60) S . 19 . Vgl . auch Rawls, Justice as Fairness, Cambridge, Mass . 2001, S . 2 . 62 Zur Bedeutung der politischen Philosophie für die juristische Dogmatik des Gleichheitssatzes
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formulieren, in der die Antinomie von Freiheit und Gleichheit der Person ausgeglichen werden kann .63 2.1 der MoraliscHe ansprucH auF GleicHbeHandlunG Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Versuch einer rechtsphilosophischen Rechtfertigung von Gleichbehandlungspflichten im Privatrecht . Die Behauptung, dass Nichtdiskriminierungsrecht schon grundsätzlich nicht auf Gleichheit beruhen kann,64 kann schon im Ausgangspunkt nicht überzeugen .65 Mit ihr konkurrieren überlegene Ansätze:66 liberale Rechtfertigungsversuche mit dem Gedanken der Nachteilszufügung oder der verteilenden Gerechtigkeit,67 der Gedanke der sozialen Inklusion,68 der partizipativen Demokratie,69 des Modells des „social citizenship”70, der Kategorie der Identität71 oder der ökonomischen Analyse des Rechts72 . Diese Ansätze enthalten jeweils einen zutreffenden Kern . Weil sie aber auf Nichtdiskriminierungsrecht fokussiert sind, können sie den notwendigen Versuch einer allgemeinen Gleichbehandlungspflicht nicht plausibel erklären . Deshalb schlage ich vor, im „moralischen Gleichbehandlungsanspruch” eine Legitimationsgrundlage für den Gleichbehandlungsgrundsatz als Rechtsprinzip zu sehen . Nach dem moralischen Gleichbehandlungsanspruch73 verletzt jede nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung den moralischen Anspruch einer Person, von der politisch verfassten Gemeinschaft als solcher („Staat”) oder von jeder anderen Personen im sozialen Verkehr („Gesellschaft”),74 als freie und gleiche Person behandelt zu
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siehe auch Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, Berlin 2006, S . 467–509 . Siehe zum möglichen Programm einer solchen Gleichheitskonzeption Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 10 ff . Holmes, Anti-Discrimination Rights Without Equality, 68 Mod . L . Rev . 175 (2005) . Vgl . dazu Britz, (Fn . 53) 355, 389–393 (Diskriminierungsverbot als eigenständiges Gleichheitsrecht) . Vgl . dazu Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 18 ff .; Schiek, (Fn . 46), Einl . Rn . 41–58 . Vgl . dazu Gardner, Liberals and Unlawful Discrimination, 9 Oxford J . L . Stud . 1–21 (1989) und ders., Discrimination as Injustice, 16 Oxford J . Legal Studies 353–367 (1996) . Collins, Discrimination, Equality and Social Inclusion, 66 Mod . L . Rev . 16–43 (2003) . Siehe dazu grundlegend für die U .S .–amerikanische Verfassungstheorie Ely, Democracy and Distrust, Cambridge, Mass . 1980, S . 73–104, 135–180, Bezug nehmend auf U .S . vs . Carolene Products Co ., 304 U .S . 144, 152 (1938), Footnote 4 (dazu Powell, Carolene Products Revisited, 82 Colum . L . Rev . 1087 (1982)) . Bell, Anti–Discrimination, Oxford 2002, S . 6–31; Nickel, (Fn . 26) S . 51–66, beide in Anlehnung an Marshall, Citizenship and social class, in: Pierson/Castles (Hrsg .), The Welfare State, Oxford 2001, S . 32 . Dazu kritisch Schiek, (Fn . 46), Einl . Rn . 47–48 . So Engert, Allied by Surprise? The Economical Case For an Anti-Discrimination Statute, 4 German L .J . 685 (2003); siehe auch Kirchner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz: ein ökonomischer Ansatz, in: Leible/Schlachter (Hrsg .), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, München 2006, S . 37; ganz ablehnend dagegen: Epstein, Forbidden Grounds: The Case Against Employment Discrimination Laws, Cambridge, Mass . 1992 . Vgl . dazu allgemein Gosepath, (Fn . 60) S . 128–131, 171–173 . Sehr kritisch dazu Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, Tübingen 2006, S . 36–37 . Zur Problematik der beiden Komplementärbegriffe „Staat–Gesellschaft“ vgl . statt aller Zumban-
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werden („right to treatment as an equal“75) . Aus der allgemein akzeptierten Prämisse von der „Wertgleichheit der Menschen”76 als freie und gleiche Personen77 folgt ein moralischer Anspruch auf gleiche Behandlung . Gleiche Behandlung bedeutet, dass alle Personen, die sich deskriptiv voneinander unterscheiden mögen, vom Normadressaten als Gleiche in Bezug auf eine bestimmte Handlung zu behandeln sind .78 Wenn eine Person eine Entscheidung gegenüber einer anderen Person trifft, kann diese aufgrund ihres moralischen Gleichbehandlungsanspruchs eine Begründung dafür verlangen . Damit wird die Rechtfertigung zur zentralen Kategorie des Gleichbehandlungsanspruchs: Gleichbehandlung ist also ein „Recht auf Rechtfertigung”79 . Die Rechtfertigung der ungleichen Behandlung kann sich in einer pluralistischen Gesellschaft80 nur auf allgemeine und reziproke Gründe stützen (Prinzip der gegenseitigen Rechtfertigung)81 . Reziprok sind die Gründe, wenn eine Person von der anderen nicht mehr verlangt, als sie selbst zuzugestehen bereit ist, und allgemein sind sie, wenn sie von allen davon Betroffenen akzeptiert werden können .82 Mit dem moralischen Anspruch auf Gleichbehandlung lassen sich Maßnahmen gegen die „präferenzbedingte“ Diskriminierung83 aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale begründen . Solche Diskriminierungen basieren auf dem Gedanken „der Ab- und Ausgrenzung, der Gegenüberstellung von einem ‘Wir’ und dem ‘Anderen’”84 . In der gewollten Ungleichbehandlung des „Anderen” findet sich implizit die Annahme eines Wertunterschiedes zwischen den Personen .85 Diese Differenzierung ist nicht rechtfertigungsfähig, weil sie sich nicht auf allgemeine und reziproke Gründe stützen lässt . Das zeigt sich deutlich, wenn man mit dem Rawl’schen „Gedankenexperiment”86 einen hypothetischen Zustand entwirft, in dem alle Perso-
sen, Ordnungsmuster im modernen Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden 2000, S . 127–44 . 75 Dworkin, Reverse Discrimination, in: Dworkin (Hrsg .), Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass . 1978, S . 227; Dworkin, What Rights Do We Have?, in: Dworkin (Hrsg .), Taking Rights Seriously, 1978, S . 273, allerdings beschränkt auf das Verhältnis zum Staat, vgl . Dworkin, The Roots of Justice, in: Wesche/Zanetti (Hrsg .), Dworkin in der Diskussion/Dworkin – un débat/ Dworkin – Debating Dworkin, Paderborn 1999, S . 50, 89–90 . Zur Bedeutung für die Dogmatik zum allgemeinen Gleichheitssatz siehe Huster, Rechte und Ziele, Berlin 1993, S . 41–44 . 76 Geteilt von Befürwortern – Mahlmann, (Fn . 54) § 1 Rn . 11 – wie Gegnern des Nichtdiskriminierungsrechts – vgl . nur Repgen, Antidiskriminierung, in: Isensee (Hrsg .), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, Berlin 2007, S . 29–31 . 77 Zum moralphilosophischen Personenbegriff vgl . Rawls, (Fn . 60), S . 441–49; Gosepath, (Fn . 60), S . 131–44; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1994, S . 48–54, 349–354, 395–401 . 78 Gosepath, (Fn . 60), S . 129–34 . 79 Der Begriff stammt von Forst, vgl . nur Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt a . M . 2007 . 80 Zum Zusammenhang zwischen pluralistischen Gesellschaftsformen und Antidiskriminierungsrecht schon Nickel, (Fn . 26), S . 16–26 und Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 56 ff . 81 Zu verschiedenen Konzeptionen des Rechtfertigungsgedankens vgl . Forst, (Fn . 77), S . 133–36, 266–306; ders., (Fn . 79), S . 9 ff . und Gosepath, (Fn . 60), S . 13–14, 144–158 . 82 Forst, (Fn . 77), S . 68; ders., (Fn . 79), S . 15 . 83 Grundlegend zur Unterscheidung Becker, The Economics of Discrimination, 2nd ed ., Chicago 1971; zu den verschiedenen Arten und Gründen solcher Diskriminierung näher Alexander, What Makes Wrongful Discrimination Wrong? Biases, Preferences, Stereotypes and Proxies, 141 U . Pa . L . Rev 149, 157–67 (1992) . 84 Fishan, Diskriminierung zwischen Mythos und Moderne, Rechtstheorie (37) 2006, 67, 68 . 85 Gosepath, (Fn . 60), S . 168–71 . 86 Rawls, (Fn . 61), S . 17 .
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nen mit einem „Schleier des Nichtwissens” versehen und gleich situiert87 sind .88 Dieser Schleier verbirgt ihnen alle Informationen über die persönlichen Merkmale der Personen, die sie vertreten, und sorgt dafür, dass sie nicht wissen, zu welcher Gruppe jene gehören werden . In diesem Zustand wird eine rational89 agierende Person einer Ungleichbehandlung, die auf persönlichen Merkmalen beruht, nicht zustimmen können, weil sie am Ende dazu führen kann, dass die von ihnen vertretenen Personen diskriminiert werden90 . Zweifelhaft ist aber, ob dieser Ansatz auch Maßnahmen gegen die „instrumentale“ Diskriminierung91 oder die Zulässigkeit „positiver Maßnahmen“ (affirmative action oder reverse discrimination)92 rechtfertigen kann .93 Eine instrumentale Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung nicht auf persönlichen (herabsetzenden) Präferenzen oder Wertungen beruht, der Handelnde diese vielmehr – wie in Fällen der statistischen Diskriminierung94 – als „proxy trait“ verwendet, um ein – nicht notwendig nur aus seiner Sicht – rationales Fernziel zu erreichen .95 Positive Maßnahmen führen dazu, dass der Anspruch auf diskriminierungsfreie (gleiche) Behandlung einer Person hinter der Herstellung faktischer Gleichheit einer in der Vergangenheit diskriminierten Gruppe zurücktreten muss .96 Vom Handelnden bzw . von der dritten Person wird im Ergebnis ein „Sonderopfer” verlangt,97 das im Konflikt mit dem Grundsatz der reziproken Rechtfertigung steht . Das „Prinzip der Verantwortung”98 könnte hier einen möglichen Erklärungsansatz bieten . Die zu diskutierenden Maßnahmen reagieren auf Folgeerscheinungen sozio-ökonomischer Ungleichheiten, für die die Gesellschaft subsidiär verantwortlich ist, weil sich – anders als bei der präferenzbedingten Diskriminierung – kein unmittelbar Verantwort87 Rawls verwendet dafür den passenden Begriff „symmetrically situated“, vgl nur Rawls, Political Liberalism, New York 2005, S . 79 . 88 Zu diesem Gedankenexperiment grundlegend Rawls, (Fn . 60), S . 118–23; Rawls, (Fn . 61), S . 15– 16; Rawls, (Fn . 87), S . 24–25 . Zur Kritik vgl . statt vieler Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, S . 68–171; Steinvorth, Gleiche Freiheit, Berlin 1999, S . 84–114 . Das Modell wird hier in einer stark vereinfachten Form verwendet; es kommt hier zum einen weder auf die „original position“ im Rawl’schen Sinn an, noch auf die von ihm vorgenommenen Differenzierungen auf den nachfolgenden Ebenen, vgl . dazu Rawls, (Fn . 60), S . 171–76 . 89 Dazu näher Rawls, (Fn . 60), S . 123–26 . Der Begriff wird hier verstanden i . S . v . ‚rational‘ und nicht von ‚reasonable‘ (vernünftig), vgl . zur Differenzierung Rawls, (Fn . 61), S . 6–7 . 90 I . E . auch Huster in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Stand: 31 . Ergänzungslieferung, Bd . I, 2011, Art . 3 Rn . 126 . 91 In der Begrifflichkeit folge ich hier Dammann, Grenzen zulässiger Diskriminierung, Berlin 2005, S . 95–107 . Die Unterscheidung verläuft teilweise parallel zur Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung, ist aber damit nicht identisch; vgl . dazu Somek, Rechtliches Wissen, Frankfurt a . M . 2006, S . 217–227 . 92 Vgl . den kurzen Problemüberblick bei Mahlmann, (Fn . 54), § 1 Rn . 46 ff . 93 Diese Bedenken werden deutlich sichtbar etwa bei Coester, (Fn . 13), S . 127–28 . 94 Dazu grundlegend Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs . Generalisierung, Tübingen 2008, S . 15 ff . 95 Vgl . Dammann, (Fn . 91), S . 102; Alexander (Fn . 83), S . 167–173 . 96 Schiek (Fn . 46), § 5 Rn . 1 . 97 Vgl . Pfeiffer, Antinomien im Gleichbehandlungsrecht in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg .) FS Canaris, Bd . I, München 2007, S . 983–84; Lobinger, Vertragsfreiheit, in: Isensee (Hrsg .), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, Berlin 2007, S . 154–58 . 98 Zum Folgenden Gosepath, (Fn . 60), S . 54–62, 366–381; grundlegend Rawls, (Fn . 87), S . 189 („social division of responsibility“); zur Anwendung im Nichtdiskriminierungsrecht vgl . Somek, Equality and Constitutional Indeterminacy, 7 ELJ 171, 179–180 (2001) .
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licher benennen lässt . Wird ein Einzelner zur Beseitigung dieser Folgen in Anspruch genommen, ist diese ungleiche Behandlung mit der mittelbaren (politischen, nicht persönlichen) Verantwortung zu rechtfertigen, die er als Mitglied der Gesellschaft99 für die Veränderung von veränderbaren Zuständen hat . Bei instrumentalen Diskriminierungen ist diese Verantwortlichkeit graduell höher, weil der Handelnde mit seinem Verhalten zur Perpetuierung eines Zustandes beiträgt, der aufgrund einer getroffenen politischen Entscheidung geändert werden soll . Anders sind dagegen „positive Maßnahmen” in privatrechtlichen Beziehungen zu rechtfertigen . Wie im Verhältnis Staat-Bürger streitet für sie das Argument, dass vor dem Hintergrund der historisch entstandenen, sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft „equal treatment” zu einer Perpetuierung bestehender Zustände100, zum „Paradoxon der Gleichheit“101 führt .102 Zusätzlich lassen sie sich im Privatrecht auch mit der privatautonom getroffenen Entscheidung des Handelnden rechtfertigen, die zusammen mit ihrer gleichheitsfördernden Wirkung die ungleiche Behandlung des davon Betroffenen zu rechtfertigen vermag . 2.2 GleicHHeitsansprücHe und der scHutz der privatspHäre Lässt sich der Gleichbehandlungsanspruch als moralisches Prinzip begründen, stellt sich für den Juristen die entscheidende Frage, ob sich daraus auch eine Rechtspflicht zur Gleichbehandlung konstruieren lässt . Die Gegenposition beruft sich auf zwei Argumente: Eine Pflicht zur Gleichbehandlung im Privatrecht unterlaufe (1 .) die Trennung von Recht und Moral sowie (2 .) von Öffentlichkeit und Privatsphäre und sei deshalb freiheitszerstörend . Das „Trennungsargument” hat wenig Überzeugungskraft . Ihm liegt eine „regionale Aufteilung der Zuständigkeiten von Moral und Recht nach privaten und öffentlichen Handlungsbereichen”103 zugrunde, die weder moralphilosophisch104 noch rechtstheoretisch begründet werden kann . Der Verweis auf die positivistische Trennungsthese von Recht und Gerechtigkeit105 stützt das Argument nicht . Nach positivistischer Auffassung106 ist es durchaus möglich, dass moralische Prinzipien durch
99 Ablehnend zur Verantwortungszurechnung an die Gesellschaft Ladeur, (Fn . 73), S . 80 . 100 Vgl . dazu Dworkin, (Fn . 75); Dworkin, Law‘s Empire, 1986, S . 381–97 . 101 Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a . M . 1994, S . 378–80 . 102 Der Satz: „The way to stop discrimination on the basis of race is to stop discriminating on the basis of race .“ (Parents Involved In Community Schools v . Seattle School District No 1, 551 U .S . 701, 748 (2007)(Roberts, C .J .)) ist falsch, weil er die historische Komplexität des Problems negiert; vgl . dagegen die ausführliche Analyse der historischen Fakten im Minderheitsvotum Parents Involved In Community Schools v . Seattle School District No 1, 551 U .S . at 803 (Breyer, J ., diss .) . 103 Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a . M . 1994, S . 141 . 104 Vgl . dazu Habermas, a . a . O .; Gosepath, (Fn . 60), S . 171–75 . 105 Vgl . dazu Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 4 . Aufl ., Freiburg/München 2004, 15 ff .; zuletzt ausführlich zum Problemkreis Auer, Normativer Positivismus – Positivistisches Naturrecht in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg .), FS Canaris, Bd . II, München 2007, 931–62; Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, Tübingen S . 10–29 . 106 Zur Vieldeutigkeit dieses Begriffs Auer, (Fn . 105), S . 935–38, 949–54 .
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Normen des positiven Rechts in das Recht inkorporiert werden können .107 Der Einwand fungiert eigentlich als Platzhalter für andere Bedenken .108 Es geht um den Stellenwert, den man der moralischen Pflicht zur Gleichbehandlung zumisst .109 Moralnormen werden in komplexen Gesellschaften nämlich erst dann zu effektiven Steuerungsinstrumenten, wenn sie in die Form von Rechtsnormen gegossen werden .110 Gewichtiger ist der zweite Aspekt der Kritik: der Verlust von Freiheit, der mit einem Gleichbehandlungsregime einhergeht, das die Trennung von Staat und Gesellschaft verwischt111 und damit in die „Privatsphäre” der Person eindringt .112 Diesem Einwand liegt ein normativer Privatheitsbegriff zugrunde .113 Wie die geschichtliche Erfahrung mit Nichtdiskriminierungsrecht lehrt und die feministische Kritik114 deutlich macht, dient „Privatheit” vielfach dazu, die Neuverteilung von Handlungsmöglichkeiten dem politischen Diskurs zu entziehen und die existierende Verteilung unter besonderen verfassungsrechtlichen Schutz zu stellen . Was zur öffentlichen und was zur privaten Sphäre zählt, ist selbst eine politische Entscheidung .115 Die Privatsphäre ist deshalb ein taugliches Argumentationsmodell zur Beschränkung des Gleichbehandlungsanspruchs nur dann, wenn sie als politische Konzeption begriffen wird und der von ihr erfasste Bereich reziprok und allgemein gerechtfertigt werden kann . Dieser politischen Konzeption der Privatsphäre geht es darum, die Gleichheitsansprüche aller Personen mit der (negativen) Freiheit116 des Individuums zu vereinbaren .117 Diese Konzeption muss erkennen, dass das Recht zwei Aspekte der Privatrechtsperson schützt:118 Einerseits haben wir als „Rechtspersonen”119 einen Anspruch, als freie und gleiche Personen behandelt zu werden, der gerade auch gegenüber gesellschaftlichen Organisationseinheiten (Vertragsbeziehungen, Vereinigungen, Familie) 107 Vgl . Hart, The Concept of Law, 2nd ed ., Oxford 1994, S . 185–86; Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2 . Aufl, Baden-Baden 1990, S . 160; Colemann, The Practice of Principle, Oxford 2001, S . 103 ff . 108 So die Vermutung bei Britz, (Fn . 53), S . 355, 396–97 . Vgl . auch Somek, (Fn . 91), S . 213–214: „Jede gesellschaftliche Grundstruktur enthält begrifflich eine Entscheidung darüber, welche Art von Diskriminierung als zulässig erachtet wird und welche nicht .“ 109 Deutlich artikuliert etwa von Picker, Antidiskriminierungsgesetz? – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie, JZ 2002, 880; ders., Antidiskriminierung als Zivilrechtsprogramm, JZ 2003, 540 f . 110 Habermas, (Fn . 103), S . 141 . 111 Statt aller Säcker, „Vernunft statt Freiheit“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, ZRP 2002, 286, 287; Lobinger, (Fn . 97), S . 113–19 . 112 Statt aller Säcker, Fundamente der Privatrechtsgesellschaft nach dem Antidiskriminierungsgesetz, ZG 2005, 154, 157 . 113 Vgl . dazu aus verfassungsrechtlicher Perspektive Britz, (Fn . 53), 355, 370–76 . 114 Instruktiv Olsen, Constitutional Law: Feminist Critiques of the Public/Private Distinction, 10 Const . Comm . 319 (1993); Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt a . M . 2001, S . 41 ff . 115 Frankenberg, Die Verfassung der Republik, Frankfur a . M . 1997, S . 42–44; Britz, (Fn . 53), S . 355, 371–73 . 116 Dazu grundlegend Berlin, Two Concepts of Liberty, in: Hardy (Hrsg .), Liberty, 2002, S . 166 . 117 Vgl . dazu Rössler, (Fn . 114), S . 144 ff . 118 Ich folge hier Rawls, (Fn . 87) S . 466–74 (im Anschluss an feministische Kritik, vgl . Okin, Justice, Gender, and the Family, New York 1989) und Forst, (Fn . 77), S . 349–62 . 119 Dazu Forst, (Fn . 77), S . 35–54 . Rawls, (Fn . 87), S . 29–35 spricht von der ‚politischen Konzeption‘ der Person .
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besteht . Andererseits sind wir auch „ethische Person”120 und benötigen für die Herausbildung unserer Identität einen notwendigen Freiraum innerhalb dieser Institutionen, um unseren eigenen und unterschiedlichen ethischen Auffassungen nachgehen zu können . Da sich demokratische Gesellschaften durch eine große Anzahl unterschiedlicher philosophischer, ethischer, religiöser und politischer Anschauungen auszeichnen (Pluralismus)121, und es daher unterschiedliche ethische Konzeptionen des Guten122 gibt, braucht es einen Bereich, dessen Zugang nur die jeweilige Person nach ihren selbstbestimmten und nicht rechtfertigungsbedürftigen Maßstäben kontrolliert .123 Diese Aufgabe übernimmt der Begriff der „Privatsphäre” . Es sind deshalb angemessene Kriterien zu entwickeln, die den unterschiedlichen „Kontexten der Gleichheit”124 im Spannungsfeld zwischen öffentlichem und privatem Handeln Rechnung tragen . 2.3 die politiscHe natur des privatrecHts Die grundsätzliche Kritik am Nichtdiskriminierungsrecht beruht letztlich auf einer – wenn auch entgegengesetzten – moralischen Position, der Ansicht nämlich, dass private Diskriminierung als Freiheitsgebrauch grundsätzlich zulässig sei . Gleiches gilt für den Einwand, es handle sich bei Maßnahmen gegen instrumentale Diskriminierungen um eine Gesellschaftsveränderung mittels Zivilrecht, mithin also um eine politische Inanspruchnahme des Privatrechts .125 Dahinter steht möglicherweise ein modelltheorethisches Verständnis der „Privatrechtsgesellschaft“ mit folgender Charakterisierung: vorpolitische Grundordnung; strenge Dichotomie zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, wobei das erstere interventionistisch, fremdbestimmend und umverteilend sei, während das Privatrecht für Freiheit und Selbstbestimmung stehe und seinerseits gesellschaftspolitisch neutral sei126 . Ob eine solche, hier vereinfacht dargestellte Konzeption überzeugen kann, ist zweifelhaft .127 Sie muss sich dem gewichtigen Einwand stellen, dass die gesellschaftspolitische Neutralität des Privatrechts – zugespitzt formuliert – ein Mythos128 und diese Konzeption des120 Forst, (Fn . 77), S . 35–54; Rawls spricht plastisch von den ‚nonpolitical attachments and commitments‘, Rawls, (Fn . 87), S . 31 . 121 Grundlegend Rawls, (Fn . 87), S . 3–4, 36 . Zum Begriff des „ethischen Pluralismus“ vgl . Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002, S . 5–10 . 122 Vgl . zur Erläuterung dieser Begriffe Forst, (Fn . 77), S . 52–54 . 123 Vgl . zum Begriff der Zugangskontrolle Rössler, (Fn . 114), S . 23 ff . 124 Der Begriff ist an Forst, (Fn . 77), angelehnt . 125 Pfeiffer, (Fn . 97), S . 983–84 . Sehr kritisch auch Lobinger, (Fn . 97), S . 122–24, 164–67 . 126 Aus neuester Zeit Herresthal, Die Folgen der Europäischen Integration für die Privatrechtsgesellschaft in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg .), FS Canaris, Bd . II, München 2007, S . 1108–12; Lobinger, (Fn . 97), S . 151–53; Picker, Die Privatrechtsgesellschaft und ihr Privatrecht, in: Riesenhuber, a . a . O ., S . 207 ff ., 255 ff . Ein ähnliches, in seiner Stoßrichtigung aber über die Diskriminierungsthematik weit hinausreichendes Verständnis der ‚Mißachtung der Eigenrationalität des Privaten‘ (S . 80) findet sich bei Ladeur, (Fn . 73), S . 76–84 und passim . 127 Siehe auch die gleichheitsfreundliche Konzeption der „Privatrechtsgesellschaft“ bei Grundmann, Europa- und wirtschaftsrechtliche Grundlagen der Privatrechtsgesellschaft, in: Riesenhuber, a . a . O ., S . 105, 120 ff .; Coester, (Fn . 13), S . 115, 121 ff . 128 So Caruso, The Missing View of the Cathedral: The Private Law Paradigm of Europan Legal Integraton, 3 ELJ 3 (1997); vgl . auch Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der
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halb eine verschleierte gesellschaftspolitische Theorie sei129 . Der Rekurs auf die – vor allem historisch zu erklärende130 – Dichotomie zwischen den Rechtsgebieten birgt die Gefahr, die Offenheit des Privatrechts für den demokratischen Prozess131 und die Bedeutung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte gerade auch für das Privatrecht zu vernachlässigen . Es ist ein wiederkehrendes Phänomen, die „Privatrechtsgesellschaft” gegen Reformtendenzen im Zivilrecht in Stellung zu bringen .132 Weil dem Privatrecht eine politische Rolle zukommen kann,133 muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass beide Positionen – Intervention oder Nicht-Intervention bei Ungleichbehandlungen in privatrechtlich organisierten Beziehungen – politischer Natur sind .134 Hat man diesen Aspekt offen gelegt, muss sich die hier kritisierte Konzeption der „Privatrechtsgesellschaft” inhaltlichen Einwänden stellen:135 Zum einen wird die Rationalität für ein gesellschaftliches Subsystem – den Markt – auf alle anderen Teilsysteme als maßgeblich übertragen, was seinerseits rechtfertigungsbedürftig ist136 . Zum anderen werden dabei zwei Funktionen des Privatrechts nicht ausreichend getrennt137: (1 .) Privatrecht stellt das Instrumentarium zur Verfügung, die Rechtsbeziehungen der Privatrechtssubjekte untereinander zu regeln (Privatrecht als Recht der Gesellschaft); (2 .) es dient der Ausgestaltung und dem rechtlichen Schutz der Privatsphäre . Die Differenzierungen im sachlichen Anwendungsbereich des geltenden Nichtdiskriminierungsrechts verdeutlichen diese Differenzierung: „Massengeschäfte” gehören danach zur öffentlichen Sphäre, anhand „Schuldverhältnisse, bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis […] begründet wird” (§ 19 Abs . 5 AGG) soll dagegen die Privatsphäre dem Zugriff des Diskriminie-
Entstehung des modernen Staates, in: Hoffmann–Riem u . a . (Hrsg .), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, Baden-Baden 1996, S . 54–59 . 129 Damm, Risikosteuerung im Zivilrecht, in: Hoffmann–Riem, a . a . O ., S . 139 . Vgl . auch Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens, München 1974, S . 35–37 . 130 Dazu Bullinger, Öffentliches Recht, Stuttgart 1968; Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland in: Grimm (Hrsg .), Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S . 84 ff .; Caroni, (Fn . 28), S . 101–25; Schröder, Privatrecht und öffentliches Recht in: FS Gernhuber, Tübingen 1993, 962–74; Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht, in: Hoffmann–Riem, a . a . O . 131 Vgl . dazu die Kritik bei Stolleis, Auferstanden aus der Wende: Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Recht?, RJ (11) 1992, 500 . 132 Vgl . Damm, Privatautonomie und Verbraucherschutz – Legalstruktur und Realstruktur von Autonomiekonzepten, VersR 1999, 129 . 133 Zur politischen Funktion des Privatrechts siehe auch Raiser, Grundgesetz und Privatrechtsordnung (1966), in: Raiser (Hrsg .), Die Aufgabe des Privatrechts, Frankfurt a . M . 1977, S . 164 . Nachdrücklich auch Wiethölter, Rechtswissenschaft, (Nachdruck der Originalausgabe 1968), 1986, S . 179–81 und passim; zur kritischen Einordnung dieses Ansatzes und zur Zeitbedingtheit Laudenklos/Rohls/Wolf, Resümee, in: Rückert (Hrsg .), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, Baden-Baden 1997, S . 330–31 . 134 Vgl . Köndgen, Selbstbindung, Tübingen 1981, S . 134 . 135 Kritisch auch Britz, (Fn . 53), S . 355, 374–75 . 136 So die Kritik von Teubner, Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Kübler (Hrsg .), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, Frankfurt a . M . 1985, S . 333; kritisch auch schon Raiser, Die Zukunft des Privatrechts (1971), in: Raiser (Hrsg .), Die Aufgabe des Privatrechts, Frankfurt a . M . 1977, S . 221 f . 137 Grundlegend zur Idee der ‚Funktionsbereiche‘ im Privatrecht Raiser, (Fn . 136), S . 224–29, der allerdings eine andere Einteilung vorschlägt .
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rungsverbots entzogen werden138 . Notwendig ist also eine liberale Konzeption des Privatrechts,139 nach der die Geltung des Gleichbehandlungsanspruchs nicht eine systemwidrige Intervention, sondern grundlegende Voraussetzung eines funktionsfähigen Privatrechts ist .
138 Vgl . Erwägungsgrund 4, RL 2000/43/EG und Erwägungsgrund 3, RL 2004/113/EG . 139 Dazu Gerstenberg, Gesellschaftliche und private Autonomiesphären und Regulierung durch Privatrecht: Von der Privatautonomie zur deliberativen Autonomie, in: Seehafer/Köck/Grundmannn/Krebs (Hrsg .), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1993, Stuttgart 1994, 25 ff .
tilMann altWicker rechtsethIsche rekonstruktIon des dIskrImInIerunGsverBots Das Problem der Diskriminierung wird bislang zu selten zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung gemacht . Gerade die neuen, subtileren Formen der Diskriminierung, die das Nichtdiskriminierungsrecht besonders beschäftigen, finden kaum Beachtung in der Ethik bzw . politischen Philosophie . Zugleich greifen aber juristische Ansätze oft zu unmethodisch auf ethische Prinzipien wie Menschenwürde, Inklusion oder Gerechtigkeit zurück, um den Zweck des Nichtdiskriminierungsrechts zu bestimmen . In diesem Beitrag wird mit der „rechtsethischen Rekonstruktion“ ein methodischer Vorschlag gemacht, wie eine deskriptive Rechtsethik sich des Diskriminierungsproblems annehmen könnte . Dabei werden die grundlegenden Urteile einer Letztentscheidungsinstanz auf ihr rechtsethisches Prinzip hin untersucht . Rekonstruiert man die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts am Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), so erweisen sich letztlich nur Gerechtigkeitsprinzipien als taugliche rechtsethische Prinzipien . Im Ergebnis wird festgehalten, dass bei Diskriminierungen Mittel des So-Sein-Könnens verkürzt bzw . ungerecht verteilt werden .
1 eInleItunG Das Problem der „Diskriminierung“ steht in unmittelbarer Beziehung zum Themenkomplex von „Gleichheit und Differenz“ . Das Modell des Nichtdiskriminierungsrechts ist – neben dem des allgemeinen Gleichheitsrechts – ein dogmatischer Behandlungsmodus, mit welchem menschenrechtliche Gleichheitsprobleme im Recht gelöst werden .1 Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Beobachtung, dass das Problem der Diskriminierung (zu) selten zum Gegenstand philosophischer Rückfrage gemacht wird . Es gibt mit anderen Worten keine umfassende Philosophie der Nichtdiskriminierung .2 Insbesondere hat die philosophische Durchdringung des Diskriminierungsproblems mit der rechtlichen bislang nicht schritthalten können . Dabei hat das Modell der Nichtdiskriminierung im letzten Jahrzehnt sowohl im nationalen Recht (z . B . im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz), aber auch im Europarecht (z . B . Richtlinien zur Gleichbehandlung)3 und im Völkerrecht (z . B . Art . 14 EMRK und Art . 1 Prot . 12 EMRK) beständig an Praxisbedeutung gewonnen . Der politische Stellenwert des 1 2
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Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten beider Modelle sowie zu deren jeweiligen Vorzügen vgl . Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, Berlin [u . a .] 2011, S . 49 ff . Eine Ausnahme bildet Hellman, When Is Discrimination Wrong?, Cambridge/Mass . 2008 . Einzelne Aspekte werden behandelt bei Arneson, What Is Wrongful Discrimination?, San Diego Law Review 2006 (43), S . 775–807; Heinrichs, What is discrimination and when is it morally wrong?, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2007 (12), S . 97–114; Horta, Discrimination in Terms of Moral Exclusion, Theoria 2010 (76), S . 314–332; Lippert-Rasmussen, Discrimination and the Aim of Proportional Representation, Politics, Philosophy and Economics 2008 (7), S . 159–182; Moreau, What is Discrimination?, Philosophy and Public Affairs, 2010 (38), S . 143– 179 . S . z . B . RL 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl . 2000 L 180/22; RL 2000/78/EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl . 2000 L 303/16; RL 2004/113/ EG zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl . 2004 L 373/37 .
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Nichtdiskriminierungsthemas steht angesichts der gegenwärtigen Debatten zur Integration von Migranten, Menschen mit Behinderungen, Andersgläubigen, um nur einige zu nennen, außer Frage . Die Sensibilisierung für Probleme der Diskriminierung scheint in unseren Gesellschaften zuzunehmen . Mit diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die Kluft zwischen dem Nichtdiskriminierungsrecht und dessen ethischer Durchdringung zu verringern . Ziel ist es, einige Schlüsselfragen einer Philosophie der Nichtdiskriminierung zu formulieren und einen Lösungsansatz vorzuschlagen . Dabei soll wie folgt vorgegangen werden: Die deutliche Ausdifferenzierung des Modells der Nichtdiskriminierung in den letzten Jahren führt zu Praxisungewissheiten, die eine ethische Aufklärung nahelegen (2 .) . Die intendierte Vermittlung von Recht und Ethik ist Sache einer Rechtsethik . Diese bedarf einer Methode, die hier als „rechtsethische Rekonstruktion“ vorgestellt werden soll (3 .) . In der rechtsethischen Rekonstruktion der Nichtdiskriminierung stellen sich einige Schlüsselfragen, auf die im letzten Abschnitt eingegangen wird . Dazu gehören u . a . die Probleme, worin das ethische Prinzip der Nichtdiskriminierung besteht, und wie Diskriminierung durch Private ethisch analysiert werden kann (4 .) . 2 praxIsunGewIssheIten und fehlen eIner phIlosophIe der nIchtdIskrImInIerunG Diskriminierung ist kein neues Phänomen . Zu jeder Zeit und in jeder Epoche gab es Menschen, die wegen eines personenbezogenen Differenzierungsgrunds, z . B . dem des Geschlechts, der ethnischen Herkunft oder der Religion, schlechter als andere behandelt wurden und werden . Neu – jedenfalls im Vergleich mit den meisten Freiheitsrechten – ist das menschenrechtliche Diskriminierungsverbot . Die ersten Diskriminierungsverbote tauchten in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts zunächst in der U .S .-amerikanischen Gesetzgebung und Rechtsprechung auf . Heute finden sich Diskriminierungsverbote in nahezu jedem Grund- und Menschenrechtskatalog .4 Manche Diskriminierungen, deren Zeuge wir werden, lösen heftige Gefühle moralischer Empörung aus: Man denke beispielsweise an den bekannt gewordenen Runderlass des französischen Innenministeriums, in dem die Präfekten aufgefordert werden, „systematisch“ unzulässige Lager (von Einwanderern) in Frankreich zu „zerstören“, und zwar „zuerst die der Roma“ .5 Im Grundsatz besteht international Einigkeit darüber, dass solche Diskriminierungen die Verletzung eines elementaren Menschenrechts darstellen . Dies kann nicht verwundern: Unter den Bedingungen der heutigen politisch-sozialen Vernunft können Ungleichbehandlungen nicht mehr mit Wertunterschieden zwischen Personen begründet werden . Man spricht insofern von einer „Moral der gleichen Achtung“ .6 Verstöße dagegen, etwa wenn die RomaEigenschaft einer Person als Anknüpfungspunkt für eine Schlechterbehandlung genommen wird, stellen in einer gebräuchlichen Terminologie sogenannte „primäre 4 5 6
Zur Geschichte des Rechtsbegriffs der Diskriminierung näher Altwicker (Fn . 1), S . 103 ff . „EU erwägt Strafverfahren gegen Frankreich“, FAZ-Online v . 14 .10 .2010, http://www .faz .net/-01hu90 (letzter Aufruf: 6 .3 .2011) . Vgl . Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 2004, S . 154 ff .
Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots
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Diskriminierungen“ (Ernst Tugendhat) dar .7 Um eine „primäre Diskriminierung“ handelte es sich etwa auch in dem berüchtigten Fall des U .S . Supreme Court, Plessy v. Ferguson (1896)8, in dem es um das Verbot für Afro-Amerikaner ging, in Eisenbahnabteilen für Weiße zu sitzen . Das Modell der Nichtdiskriminierung hat in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Ausdifferenzierungen erfahren . Neben den verpönten, direkten Diskriminierungen sind nunmehr auch subtilere Arten der Diskriminierung anerkannt: Etwa wenn in einem Fitnesstest für Feuerwehrleute ein Mindestniveau vorgeschrieben wird, das in der Praxis nur von Männern, nicht aber von Frauen erreicht wird .9 Bisweilen beschweren sich aber auch die Männer: Etwa wenn aufgrund einer behördlichen Auswahlpraxis regelmäßig mehr Männer als Frauen zum Schöffendienst herangezogen werden .10 Eine andere Form subtiler Diskriminierung liegt vor, wenn die Diskriminierung nicht vom Staat, sondern von Privaten ausgeht, und sich der Staat in dieser Situation nicht schützend vor den Einzelnen stellt . So lag es beispielsweise in folgendem Fall: In einem Testament bestimmte eine Erblasserin, dass ihr künftiger Erbe selbst wiederum nur an ein Kind oder Enkel weitervererben dürfte, der aus einer „gesetzlich anerkannten und kirchlich geschlossenen Eheverbindung“ hervorgegangen sei .11 Hier wollte man also in gutbürgerlicher Manier den antizipierten künftigen Fehltritten der eigenen Kinder vorbeugen . Darf der Staat ein solches Testament als wirksam behandeln oder liegt eine Diskriminierung gegen uneheliche Kinder vor? Zu Recht wird man in den erwähnten Fallen bemerken, dass sich unsere moralische Empörung hier in Grenzen hält . Es handelt sich – wiederum in der Terminologie Tugendhats – um sog . „sekundäre Diskriminationen“, bei denen der Staat gerade keinen vorausliegenden Wertunterschied zwischen Personen macht .12 Es sind diese „sekundären Diskriminationen“, die in der gegenwärtigen Dogmatik des nationalen und internationalen Menschenrechtsschutzes besonders umstritten sind . Gerade im Bereich der „sekundären Diskriminationen“ bestehen große Praxisunsicherheiten . So taucht immer wieder die Frage auf, ob – außer der Ungleichheit als Resultat eines Verhaltens – auch noch ein Diskriminierungsbewusstsein zu fordern sei . Um im Beispiel zu bleiben: Muss die weibliche Feuerwehranwärterin nachweisen, dass den Verantwortlichen die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen bewusst war, oder genügt es, dass sie lediglich das Resultat der Tests, dass nämlich wesentlich weniger Frauen als Männer eingestellt werden, darlegt? Ein andere Praxisungewissheit besteht darin, dass die Reichweite des Diskriminierungsverbots unklar ist: Sollen auch Diskriminierungen durch Private unterbunden werden? Im obigen Beispiel ist zu fragen, ob der Erblasser uneheliche Kinder seines Erben von der gewillkürten Erbfolge ausschließen durfte bzw . ob der Staat diese Verfügung als unwirksam behandeln musste .
Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1994, S . 375 . U .S . Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U .S . 537 (1896) . Canadian Supreme Court, British Columbia (Public Service Employee Relations Commission) v. BCGSEU, [1999] 3 S .C .R . 3 . 10 EGMR, 20 .6 .2006, Zarb Adami, Nr . 17209/02 . 11 EGMR, 13 .07 .2004, Pla und Puncernau, Nr . 69498/01 = NJW 2005, S . 875 ff . 12 Tugendhat, (Fn . 7), S . 378 . 7 8 9
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Hier geht es um Fragen, auf die die Praxis immer wieder Antworten geben muss, ohne dass der Normtext der Diskriminierungsverbote besonders hilfreich wäre . Oft heißt es dort nur lapidar: Der Genuss bestimmter Rechte ist ohne Diskriminierung aufgrund bestimmter „verdächtiger“ Differenzierungsgründe (wie z . B . Herkunft, Religion, Geschlecht) zu gewährleisten .13 Gerade bei Gleichheitsgrundrechten ist die dogmatische Anleitung durch den Normtext also meistens sehr gering . Zudem trifft man bei der Anwendung des Diskriminierungsverbots sehr schnell auf Probleme, die über die Dogmatik und ihre Möglichkeiten hinausweisen, etwa, wenn man sich die Frage stellt, worin das Gemeinsame der „verdächtigen“ Differenzierungsgründe besteht . Mit dieser Frage, was „hinter“ dem Diskriminierungsverbot „steckt“, wird eine Frage gestellt, die in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie fällt . Wie eingangs bereits erwähnt, gibt es gegenwärtig keine umfassende Philosophie der Nichtdiskriminierung . Das muss einigermaßen überraschen, denn an philosophischen Konzeptionen zum verwandten Problem der Gleichheit mangelt es bekanntlich nicht . Der Egalitarismus ist nach wie vor eine stark präsente Strömung der politischen Philosophie der Gegenwart . Hier sei nur auf John Rawls‘ Grundgüterkonzeption verwiesen, auf Ronald Dworkins Ressourcengleichheit oder Amartya Sens Fähigkeitengleichheit . Bislang wird die Nichtdiskriminierung, wenn die Philosophie diese – neben dem Gleichheitsproblem – überhaupt als ein eigenständiges Problem wahrnimmt, bloß themenspezifisch behandelt: So gibt es Ansätze zu einer Philosophie der Nichtdiskriminierung von Seiten der Philosophie des Feminismus oder der philosophischen Behandlung von Minderheitenfragen .14 Neben der thematischen Beschränkung besteht in der Philosophie die Tendenz, den Diskriminierungsbegriff auf die Erscheinungsform der „primären“ Diskriminierung zu konzentrieren, d . h . auf Fälle, in denen eine Schlechterbehandlung Ausdruck eines Wertunterschiedes zwischen Personen ist .15 Die Beschränkung der philosophischen Konzeptionen auf „primäre Diskriminierungen“ hat zur Folge, dass sich das Problem gerechtfertigter, personenbezogener Ungleichbehandlung oft gar nicht stellt . Zugleich sind es aber gerade die personenbezogenen Ungleichbehandlungen, die keinen Wertunterschied zwischen Personen machen, die im Recht besondere Schwierigkeiten bereiten . Überspitzt formuliert: Erst wenn die Philosophie die Möglichkeit gerechtfertigter Ungleichbehandlung aufgrund eines personenbezogenen Differenzierungsgrunds konzeptionell berücksichtigen kann, wird sie für das Recht interessant . Die thematisch-begriffliche Selbstbeschränkung der Ethik macht einer Rechtswissenschaft, die von der Philosophie ethische Aufklärung erwartet, das Leben schwer: Als Dialogpartnerin drängt sich die Philosophie offenkundig gerade in dem juristisch besonders umstrittenen und wenig klaren Bereich der subtilen „sekundären Diskrimination“ nicht auf . Dennoch muss man hier nicht haltmachen, sondern man kann sich fragen, wie Recht und Philosophie beim Problem der Diskriminierung miteinander in Verbindung treten können . Mit anderen Worten: Eine gewinnbringende Vermittlung zwi13 Vgl . etwa Art . 14 EMRK, Art . 2 Abs . 1 IPbpR . 14 Vgl . Shrage, Equal opportunity, in: A.M. Jaggar/I.M. Young, A Companion to Feminist Philosophy, Oxford 2000, S . 559 ff .; Stone, An Introduction to Feminist Philosophy, Cambridge 2007; Kymlicka, Multicultural Citizenship, Oxford 1995 . 15 Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990, S . 196 .
Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots
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schen Recht und Philosophie bedarf hinsichtlich des Diskriminierungsproblems einer methodischen Vorbereitung, die im folgenden Abschnitt skizziert werden soll . 3 rekonstruktIon als rechtsethIsche methode Der Entwurf einer Philosophie der Nichtdiskriminierung ist Sache der Philosophie, genauer der Rechtsethik . Es lassen sich grob zwei Ansätze zur Rechtsethik unterscheiden:16 Erstens kann Rechtsethik „normativ“ betrieben werden . Eine normative Rechtsethik trifft Aussagen über das Sein-Sollen des Rechts, gestützt auf moralische Normen oder Prinzipien . Zweitens kann Rechtsethik aber auch, wie hier, deskriptiv verstanden werden . In diesem Verständnis handelt es sich um denjenigen Teil der Rechtsphilosophie, der Aussagen über die ethische Verfasstheit des Rechts trifft und dabei systematisierend und klärend wirkt . Ziel eines deskriptiven Ansatzes ist die Aufklärung des Rechts über seinen ethischen Gehalt und die in ihm wirkenden ethischen Prinzipien, nicht aber, Aussagen über den moralisch gesollten Inhalt zu treffen . Ein deskriptiver Ansatz der Rechtsethik geht davon aus, dass zu den Aufgaben des Rechtsphilosophen die Verbesserung der Rechtspraxis durch philosophische Orientierung gehört . Dabei werden die Autonomie des Rechts und die grundsätzliche Trennung von Recht und Moral anerkannt: Wir sollten keine Rechtsurteile mit dem Rawlsschen Maximin-Prinzip begründen oder UN-Sicherheitsratsmaßnahmen gegen Nordkorea auf § 60 der Kantischen Rechtslehre stützen, in welchem vom Recht gegen den „ungerechten Feind“ die Rede ist . Vielmehr geht es um ein ethisches Aufklärungsprojekt: Ein Recht, das um seine rechtsethischen Prinzipien weiß und sich zu diesen Grundlagen verhält, ist ein „verbessertes“ Recht . Wie sieht das Vorgehen einer deskriptiven Rechtsethik aus? Hierfür soll die Methode der rechtsethischen Rekonstruktion vorgeschlagen und deren methodische Prämissen kurz vorgestellt werden: (1) Erstens handelt es sich um eine Methode der Philosophie . Manchmal hat man den Eindruck, dass die Philosophie gleichsam als „Steinbruch“ der Jurisprudenz gebraucht wird . So werden gerade in der Debatte um Gleichheit und Nichtdiskriminierung mehr oder weniger kontrolliert Prinzipien der Menschenwürde, der Inklusion oder der Gerechtigkeit als rechtsethische Prinzipien behauptet . Bisweilen sollte man sich aber nicht nur über die Autonomie des Rechts, sondern auch über das Eigenrecht des philosophischen Gedankens im Klaren sein: Eine philosophische Aufklärung des Rechts ohne eine Kontext- und Herkunftsbetrachtung der angenommenen Prinzipien bleibt unvollständig, ja sie wäre dem Verdacht der subjektiven Selektion und der bloßen Autoritätsleihe ausgesetzt . Eine rechtsethische Rekonstruktion muss daher zunächst den ideen- und begriffsgeschichtlichen Kontext eines Prinzips wie dem der Menschenwürde oder der Gerechtigkeit beleuchten und auf dieser Basis den konsensfähigen Minimalgehalt des Prinzips herausarbeiten . Bei der rechtsethischen Rekonstruktion handelt es sich anders gesagt nicht um eine Methode des Rechts . Ihr Gegenstand ist – anders als bei der juristischen Ausle16 Vgl . zu dieser Unterscheidung Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt 2010, S . 109 f .
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gung – nicht eine Rechtsnorm als solche, sondern die interpretierte Norm, die als eine bestimmte soziale Praxis aufgefasst wird, nämlich als die soziale Praxis des Rechts . Die soziale Praxis des Rechts, nicht die Norm, wird rechtsethisch rekonstruiert . Die Methode verfährt rekonstruktiv, indem sie auf ethische Grundsätze reflektiert, die in dieser sozialen Praxis vorhanden, wirksam sind . Worin besteht die rechtsethisch zu rekonstruierende Rechtspraxis? Nicht jedes Verhalten, welches von Rechtsanwendern im Hinblick auf eine geltende Norm vorgenommen wird, kann als Teil der relevanten Rechtspraxis angesehen werden . Das wäre eine empirische Absurdität und würde zur argumentativen Zirkularität führen . Die relevante Rechtspraxis besteht vielmehr in erster Linie in den grundlegenden, für verbindlich gehaltenen Interpretationen der Norm durch eine Letztentscheidungsinstanz, die im Falle des Rechts also in den grundlegenden Entscheidungen („Leiturteilen“ oder englisch leading cases/landmark decisions) bestehen . Man könnte auch an ein quantitatives Kriterium denken: Eine grundlegende Entscheidung ist eine solche, die die Letztentscheidungsinstanz selbst am häufigsten zitiert bzw . der Argumentation zu einem bestimmten Rechtsproblem regelmäßig zugrunde legt . (2) Zweitens muss sich eine deskriptive Rechtstheorie, deren Ziel die Verbesserung von Rechtspraxis ist, nicht nur des ideen- und begriffsgeschichtlichen Kontextes des ethischen Prinzips vergewissern . Erforderlich ist weiterhin auch ein Überblick über die rechtlichen Phänomene der beobachteten Praxis selbst . Nicht selten besteht das Problem nicht nur in einer Untertheoretisierung der Praxis, sondern auch in einer Praxisvergessenheit der Theorie . Um erfolgreich Aufklärung leisten zu können, bedarf es eines Durchgangs der Praxis selbst, bevor zu ethischen Prinzipien dieser Praxis gelangt werden kann . In diesem Sinne verfährt die rechtsethische Rekonstruktion „induktiv“ . (3) Drittens folgen aus dem Zweck der Rekonstruktionsmethode, der ethischen Aufklärung der Rechtspraxis, Anforderungen an rechtsethische Prinzipien, denen diese genügen müssen, damit sie als taugliche Prinzipien dieser Praxis infrage kommen . So ist eine Rekonstruktion nur dann erfolgreich, wenn es dem rechtsethischen Prinzip gelingt, den Zweck („das Worumwillen“) der beobachteten sozialen Praxis anzugeben (Kriterium der Adäquanz) . Die Rekonstruktion der grundlegenden Entscheidungen einer Letztentscheidungsinstanz führt sodann im besten Falle zu einem rechtsethischen Prinzip, unter welchem sich die soziale Praxis in einem einheitlichen Verstehenszusammenhang beschreiben lässt (Kriterium der Kohärenz) . Schließlich darf von einem rechtsethischen Prinzip erwartet werden, dass in seinem Licht gewisse Merkmale dieser Praxis als wesentlich, andere als bloß zufällig gekennzeichnet werden können (Kriterium der konzeptionellen Orientierung) . (4) Viertens ist der Status der so angenommenen rechtsethischen Prinzipien zu klären . Die Rekonstruktionsmethode betrachtet eine bestimmte soziale Praxis, die hier in den grundlegenden Entscheidungen zum Nichtdiskriminierungsrecht erblickt wird, aus der Perspektive der Rechtsethik . Bei einem solchen Vorgehen ist Vollständigkeit und Universalisierung weder möglich noch intendiert: Die Rekonstruktionsmethode führt zu schwach-normativen rechtsethischen Prinzipien . Sie kann formulieren, welches unter mehreren möglichen rechtsethischen Prinzipien für eine bestimmte Praxis der Nichtdiskriminierung, etwa die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), zu einem bestimmten Stand der Entwicklung vorzugswürdig ist . Dies hängt nämlich davon ab, ob sich das Prinzip unter den Krite-
Rechtsethische Rekonstruktion des Diskriminierungsverbots
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rien der Adäquanz, Kohärenz und der konzeptionellen Orientierung als taugliches Prinzip erweist . Sie macht keine Universalaussage über eine gute Nichtdiskriminierungspraxis „an sich“ . Die Rekonstruktionsmethode geht davon aus, dass sich die beobachtete Praxis verändern kann . Dies hat Folgen für das zugrunde liegende rechtsethische Prinzip . Dennoch weist die Methode Kritikpotenzial auf: Mit der Rekonstruktionsmethode lassen sich einzelne Urteile kritisieren, die nicht im Einklang mit dem rechtsethischen Prinzip stehen, das den grundlegenden Entscheidungen innewohnt . Sie kann insbesondere Wertungswidersprüche aufdecken . (5) Fünftens sind die vielfältigen theoretischen Anleihen, die die rechtsethische Rekonstruktionsmethode macht, aufzudecken . Die vorgeschlagene Methode fügt sich in eine common law-Philosophie ein, die induktiv vorgeht und auf der Suche nach dem Prinzipiellen in der Besonderheit ist . Auch besteht eine gewisse Nähe zur Methode der „konzeptionellen Analyse“ des U .S .-amerikanischen Rechtsphilosophen Jules Coleman .17 Wie in Colemans Theorie geht es um eine kohärente Beschreibung der Rechtspraxis und nicht um deren moralische Rechtfertigung . Schließlich stützt sich die Rekonstruktionsmethode auch auf das Theorie-Praxis-Verständnis bei Aristoteles: Die grundlegenden Entscheidungen einer Letztentscheidungsinstanz werden hier in Analogie zu den aristotelischen endoxa, den bewährten Meinungen über eine wohlausgerichtete Praxis, verstanden .18 Wie in Aristoteles‘ Ethik handelt es sich bei der rechtsethischen Rekonstruktion um eine Theorie über eine schon bestehende, funktionierende soziale Praxis . Auch ist ihr Ziel nicht der Entwurf eines idealen Nichtdiskriminierungsrechts, sondern die Sichtbarmachung der – noch verbesserbaren und stets anfälligen – Vernünftigkeit einer bestehenden Rechtspraxis . 4 schlüsselfraGen eIner rechtsethIschen rekonstruktIon des dIskrImInIerunGsverBots Welches ist das einer bestimmten Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts innewohnende rechtsethische Prinzip? Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für drängende Fragen der Praxis ziehen? Diesen Problemen soll im abschließenden vierten Teil nachgegangen werden . Vorausgeschickt werden muss, dass die Anwendung der Methode der rechtsethischen Rekonstruktion nahelegt, sich auf eine Letztentscheidungsinstanz zu beschränken . Nur die soziale Praxis einer Letztentscheidungsinstanz stellt an sich selbst einen Kohärenzanspruch, der für diese Methode wesentlich ist . Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts des EGMR . 4.1 GerecHtiGkeit oder MenscHenWürde? Die entscheidende Frage einer Rechtsethik der Nichtdiskriminierung lautet: Unter welchem Prinzip ist die konventionsrechtliche Praxis der Nichtdiskriminierung rechtsethisch am besten rekonstruierbar? 17 Coleman, The Practice of Principle, Oxford 2001 . 18 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VII 1, 1145b 2 ff .
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In Bezug auf die Nichtdiskriminierung werden als rechtsethische Prinzipien vor allem das der Menschenwürde, der Inklusion oder der Gerechtigkeit vorgeschlagen . Ein Vorgehen nach der Rekonstruktionsmethode verlangt dabei zunächst die Herausarbeitung eines konsensfähigen Minimalgehalts des jeweiligen rechtsethischen Prinzips . Wegen einer Wechselwirkung zwischen rechtsethischem Prinzip und beobachteter Praxis muss dieser Minimalgehalt aber modifiziert und dem Sachproblem angepasst werden . Theorie und Praxis treten an dieser Stelle gleichsam in einen Dialog, der beide beeinflussen kann . Nimmt man zum Beispiel an, die Menschenwürde stelle das rechtsethische Prinzip des Diskriminierungsverbots dar, ist Folgendenes zur Tauglichkeit dieses Prinzips zu sagen: Viele Urteile gegen Staaten wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot der EMRK kann man als eine Reaktion auf eine Menschenwürdeverletzung rekonstruieren, etwa wenn jemandem wegen seiner tschetschenischen Abstammung das ihm eigentlich zustehende Freizügigkeits- bzw . Aufenthaltsrecht verwehrt wird .19 Das Menschenwürdeprinzip bietet eine adäquate Zweckbestimmung an für große Teile der relevanten Rechtspraxis, der grundlegenden Entscheidungen der betrachteten Letztentscheidungsinstanz . Die Menschenwürde besitzt hier eine intuitive Überzeugungskraft: Die Fälle demütigender Ungleichbehandlung, etwa wenn Menschen einer anderen „Kaste“ zugerechnet werden und dann keine Möglichkeit haben, auch nur elementare Grundbedürfnisse wie Nahrung, Bildung und Wohnung zu befriedigen, sind sicherlich als Menschenwürdeverletzungen rekonstruierbar . Aber das Unternehmen einer rechtsethischen Rekonstruktion verlangt mehr als nur intuitive Plausibilität . Problematisch wird es, wenn man die subtilen Formen der Diskriminierung berücksichtigt: Kann man die Höherbelastung von Männern mit Schöffendiensten als ein Menschenwürdeproblem rekonstruieren? Das erscheint fraglich . Woran liegt das? Mit der Methode der rechtsethischen Rekonstruktion ist zu fragen, ob das rechtsethische Prinzip der Menschenwürde den Kriterien der Adäquanz, der Kohärenzstiftung und der konzeptionellen Orientierung genügt . Für das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot muss das verneint werden . Das Menschenwürdeprinzip ist nicht ausreichend in der Lage, die subtileren Formen der Diskriminierung rechtsethisch zu erfassen . Dies hängt vor allem damit zusammen, dass bei den subtileren Erscheinungsformen der Diskriminierung eine output-Betrachtung, also eine Betrachtung von den Ergebnissen eines Verhaltens her, erforderlich ist . Auf ein Diskriminierungsbewusstsein soll es in diesen Fällen zu Recht nicht ankommen: Dann aber bestände das Problem, nicht-intentionale Menschenwürdeverletzungen annehmen zu müssen, was sich zumindest mit einem Minimalverständnis von Menschenwürdeverletzungen nicht verträgt .20 Auch ist die Menschenwürde ein absoluter Begriff, der in sich keine relationale Struktur abbilden kann . Die Menschenwürde setzt einen absoluten Referenzpunkt, während der Nichtdiskriminierungsbegriff eine relationale Struktur vorgibt: A wird im Vergleich zu B (wegen eines personenbezogenen Merkmals X in Bezug auf das Gut Y) schlechter behandelt . In Fragen der Nichtdiskriminierung ist damit nach einem rechtsethischen Prinzip zu suchen, das sowohl nicht-intentionale Verletzungen berücksichtigen als auch 19 EGMR, 13 .12 .2005, Timishev, Nr . 55762/00, Rn . 50 ff . 20 Zu einem Minimalverständnis von Menschenwürde vgl . McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, EJIL 2008 (19), S . 655–724, S . 675 ff .
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in sich eine relationale Struktur abbilden kann . Eine dritte Anforderung kommt hinzu, die hier nur angedeutet werden kann: Das rechtsethische Prinzip muss sowohl die Individual- wie auch die Gruppenbezogenheit von Diskriminierung erfassen können . Diese letzte Anforderung führt letztlich zur Untauglichkeit des Inklusionsprinzips als rechtsethischem Prinzip der Nichtdiskriminierung . Nach hier vertretener Ansicht erfüllen allein Prinzipien der Gerechtigkeit die oben dargelegten Anforderungen, die die Rekonstruktionsmethode an ein rechtsethisches Prinzip der Nichtdiskriminierung stellt . Auch in Bezug auf die Gerechtigkeit bedürfte es der vorgängigen Klärung des Minimalgehalts, was den Rahmen dieses Beitrags allerdings sprengen würde .21 Wichtig ist, dass sich aus einem Grundverständnis des Gerechtigkeitsbegriffs zwei rechtsethische Prinzipien, das der korrektiven und das der distributiven Gerechtigkeit, destillieren lassen, die eine Bewertung von Güterzuständen auch nach nicht-intentionalen Verletzungen ermöglichen, eine relationale Struktur22 aufweisen und die Individual- und Gruppenbezogenheit der Diskriminierung erfassen können . Angewandt auf den Kontext des Rechts ergibt sich, dass das Prinzip der korrektiven Gerechtigkeit Verhaltens- und Rechtspflichten als Nichtschädigungspflichten betrachtet: Wenn ich durch mein zurechenbares Verhalten dem anderen etwas von seinen Gütern genommen habe, bin ich unter der Bedingung strikter arithmetischer Gleichheit verpflichtet, den Güterzustand vor der Wegnahme wiederherzustellen . Hier spielen Kategorien wie Absicht, Unrecht, Zurechnung und Verschulden eine Rolle .23 Die Verletzung des arithmetischen Gleichheitsverhältnisses des korrektiven Gerechtigkeitsprinzips ist ein ungerechtes „Verkürzen“ von etwas . Das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit betrifft demgegenüber das Verteilen von Gütern und Lasten . Hier sind Kategorien wie Verteilungsgegenstand, Verteilungsverpflichteter, Verteilungssphären, Selbstverantwortung und gerechtfertigte Ungleichheiten einschlägig . Die Verletzung des geometrischen Gleichheitsverhältnisses des distributiven Gerechtigkeitsprinzips kann als ungerechtes „Verteilen“ von etwas bezeichnet werden . Das gesuchte rechtsethische Prinzip der Nichtdiskriminierung ist also in Prinzipien der korrektiven und distributiven Gerechtigkeit formulierbar . 4.2 GerecHtiGkeit und so-sein-können Bei Diskriminierungen handelt es sich um „gestörte“ Gleichheitsverhältnisse . Struktur und Gehalt dieser Gleichheitsverhältnisse ergeben sich aus Gerechtigkeitsprinzipien, wie oben dargelegt wurde . Die rechtsethische Rekonstruktionsmethode will die den rechtsethischen Prinzipien der Gerechtigkeit eigentümliche Vernünftigkeit für ein Verständnis des Diskriminierungsproblems nutzbar machen . Somit ist zu prüfen, was sich ergibt, wenn man die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts unter den beiden Gerechtigkeitsprinzipien rekonstruiert .
21 Zur Gerechtigkeit vgl . ausführlich Altwicker (Fn . 1), S . 458 ff . 22 Zur Relationalität des Gerechtigkeitsbegriffs vgl . schon Aristoteles, Nikomachische Ethik V 3, 1130a 1: „Gerechtigkeit ist ‚des anderen Gut‘“ . 23 Vgl . Jules Coleman, The Practice of Principle: In Defence of a Pragmatist Approach to Legal Theory, Oxford 2001, p . 9 f .
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Dafür müssen die beiden Gerechtigkeitsprinzipien und die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts in einen engeren Dialog gebracht werden, der beide beeinflusst . Auf Seiten der Rechtsethik wird die Ebene der Prinzipien der Gerechtigkeit verlassen zugunsten einer spezifischen, anwendungsbezogenen Gerechtigkeitskonzeption . In Frage steht, was der Zweck der Nichtdiskriminierungspraxis ist, sofern man diese unter Gerechtigkeitsprinzipien rekonstruiert: Was ist das, was im Fall der Diskriminierung ungerecht „verkürzt“ bzw . „verteilt“ wird? In der hier vorgeschlagenen diskriminierungsspezifischen Gerechtigkeitskonzeption bezieht sich die Gerechtigkeit auf die (formale) Gleichheit der Mittel des So-Sein-Könnens von Personen . Unter den „Mitteln des So-Sein-Könnens“ werden diejenigen (materiellen und immateriellen) Güter verstanden, die Bedingung für die Verwirklichung des eigenen Lebensplans sind .24 Der Begriff des Mittels unterstreicht den wichtigen Aspekt der Selbstverantwortung für das eigene So-Sein25 und den Aspekt der Befähigung (empowerment), die diese Güter verleihen . Diese anwendungsbezogene Gerechtigkeitskonzeption geht davon aus, dass formale Gleichheit hinsichtlich der Mittel des So-Sein-Könnens „gerecht“ ist, d . h . Ungleichheiten hinsichtlich dieser Mittel, die durch Verkürzung oder Änderungen in der Verteilung zustande kommen, rechtfertigungsbedürftig sind . Wichtig ist, dass diese diskriminierungsspezifische Gerechtigkeitskonzeption zunächst nur auf Diskriminierungen durch Hoheitsträger Anwendung finden kann .26 Worin bestehen diese Mittel des So-Sein-Könnens? Im Ausgangspunkt ist klar, dass es – in Ermangelung einer objektiven, allgemein anerkannten Theorie des SoSeins von Personen – eine abschließende Liste diesbezüglicher Mittel nicht gibt, noch jemals geben kann . Unbestritten ist aber ebenso, dass dem Recht im Zusammenhang mit dem So-Sein-Können von Personen Bedeutung zukommt: Das Recht und seine Anwendung haben So-Sein-Könnens-Relevanz . Indem Gerichte wie der EGMR über gerechtfertigte Ungleichheiten entscheiden, befinden sie immer auch über die (gerechte) Verkürzung und Verteilung von Mittel des So-Sein-Könnens . Was So-Sein in einem rechtlichen Anwendungskontext bedeuten kann, ist näher auszudifferenzieren . Hier kann das nur angedeutet werden . Zu unterscheiden sind drei Gruppen von Mitteln des So-Sein-Könnens: Erstens sind alle (Grund-) Rechte und sonstigen subjektiven Rechte, die menschliche Freiheit sichern, wie die Freiheit der Kommunikation, des Eigentums oder der Familiengründung, erfasst . All diese Rechte dienen der Möglichkeit der Selbstbestimmung in lebensplanrelevanten Kontexten . Mittel des So-Sein-Könnens ist zweitens auch das Interesse an der nachteillosen Belassung im eigenen So-Sein, also die Freiheit, so zu sein, wie ich bin und wie ich sein will .27 So hat man beispielsweise ein legitimes Interesse daran, seine Religion 24 Zu den „Mitteln des So-Sein-Könnens“ vgl . näher Altwicker (Fn . 1), S . 466 ff . 25 Die Verantwortung für das So-Sein-Können des Einzelnen obliegt weder primär noch allein dem Staat, sondern in erster Linie dem Einzelnen selbst, vgl . Axer, Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung?, VVDStRL 2009 (68), S . 177–218, S . 185) . 26 Der Grund ist, dass nur in öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen der Ausgangspunkt bei einer formalen Gleichheit von Mitteln des So-Sein-Könnens gemacht werden kann . Zum Problem der Gleichheit von Mitteln des So-Sein-Könnens in Privatbeziehungen s . unten 4 .3 . 27 Dies knüpft an Überlegungen von Alexander Somek an (vgl . ders., Rationalität und Diskriminierung . Zur Bindung der Gesetzgebung an das Gleichheitsrecht, Wien [u . a .] 2001, S . 382 ff .) .
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wegen veränderter Arbeitszeiten nicht aufgeben zu müssen . Die Nichtanknüpfung von Nachteilen an „verdächtige“ Differenzierungsgründe wie Rasse, ethnische Herkunft oder Geschlecht ist selbst als ein Mittel des So-Sein-Könnens anzusehen . Schließlich gehören, drittens, auch weitere individuelle Interessen und faktische Begünstigungen des Einzelnen zu den Mitteln des So-Sein-Könnens . Diese sind zwar nicht Gegenstand subjektiver Rechte, liegen aber im weiteren Sinne im Bereich staatlicher Verantwortung bzw . Beeinflussbarkeit und stellen wichtige Reflexbegünstigungen für den Einzelnen dar, wie z . B . das individuelle Interesse an der Gewährleistung einer stabilen Sicherheitslage in einem Staat . Hierbei handelt es sich um „sonstige“ Mittel des So-Sein-Könnens . Eine diskriminierungsspezifische Gerechtigkeitskonzeption ist z . B . sensibel für Beeinträchtigungen durch menschlich veranlasste Umweltveränderungen (z . B . Trinkwasserverschmutzung), die sich nur zulasten bestimmter sozialer Gruppen auswirken, während andere verschont bleiben .28 Sonstige Mittel des So-Sein-Könnens sind daher z . B . Maßnahmen zur Herbeiführung, der Ermöglichung oder der Erleichterung des So-Sein-Könnens, wie etwa die Verstärkung der Polizeipräsenz auf öffentlichen Straßen, die Einrichtung von CheckPoints und gesicherter Zonen, Umweltschutzmaßnahmen, Wohnungsbeschaffungsmaßnahmen und ggf . staatliche Kompensation . Bei den sonstigen Mitteln des SoSein-Könnens spielen soziale Anschauungen, Veränderungen der Technik und der Fortschritt der Wissenschaften allgemein eine wichtige Rolle . Von Bedeutung ist, dass dieser Bereich rechtsethisch erschlossen wird, dass es hier zu relevanten Ungleichheiten kommen kann, für die das Diskriminierungsverbot die richtige rechtliche Antwort ist . Dieser Bereich ist letztlich unabgeschlossen . Er wird fortentwickelt durch die Letztentscheidungsinstanz, die sich – um einem Essentialismus zu entgehen – wiederum auf eine rechtsvergleichende Argumentation stützen kann: Wenn etwa viele bedeutende Höchstgerichte in dem Interesse an einer sauberen Umwelt ein Mittel des So-Sein-Könnens erblicken, dann ist dessen Annahme im konkreten Fall nicht ein bloßer Essentialismus . Die Rede von den Mitteln des So-Sein-Könnens greift Aspekte des „Fähigkeitenansatzes“ („capability approach“) von Amartya Sen und Martha Nussbaum auf .29 Auch die Mittel des So-Sein-Könnens haben Bedeutung für die Freiheit einer Person . Allerdings handelt es sich – neben Rechten wie z . B . der Meinungsfreiheit – durchaus auch um (zumindest teilweise quantifizierbare) Güter, wie z . B . den Anspruch auf Elterngeld . Zudem sind „Mittel“ konkreter als „Fähigkeiten“ . Schließlich kann im Rechtskontext der Mittelbegriff eine größere Plausibilität in Anspruch nehmen als der der Fähigkeiten . Die Mittel des So-Sein-Könnens haben zweifellos auch einen Bezug zum kantischen Würdebegriff, indem sie freiheitsermöglichend wirken . Allerdings ist der Begriff der Mittel des So-Sein-Könnens weiter, indem er nicht nur die Selbstbestimmung des Subjekts im Ethischen, sondern ein umfassendes, individuelles Selbst-Sein-Können vor Augen hat, z . B . auch in ästhetischer, sozialer und emotionaler Hinsicht . Jetzt kann der Gedankengang abgeschlossen werden mit folgender Bestimmung des Zwecks der konventionsrechtlichen Praxis der Nichtdiskriminierung: Diskrimi28 Vgl . Taillant, Environmental Discrimination, Yearbook of Human Rights & Environment 2008 (8), S . 239–251 . 29 Vgl . näher Altwicker (Fn . 24), S . 472 und S . 21 ff .
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nierungen sind Gerechtigkeitsverletzungen, indem hier (auf ethisch nicht gerechtfertigte Weise)30 Mittel des So-Sein-Könnens verkürzt bzw . ungerecht verteilt werden . In rechtsethischer Betrachtung bezweckt die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts unter der EMRK, den Einzelnen vor der ungerechten (ethisch nicht gerechtfertigten) Verkürzung bzw . der ungerechten (ethisch nicht gerechtfertigten) Verteilung der Mittel des So-Sein-Könnens zu schützen . 4.3 Grenzen der diskriMinierunGsspeziFiscHen GerecHtiGkeitskonzeption Im letzten Abschnitt soll auf eine entscheidende Grenze der hier vorgeschlagenen diskriminierungsspezifischen Gerechtigkeitskonzeption eingegangen werden . Diese Grenze wird offenbar, wenn man das Problem der Diskriminierung durch Private rechtsethisch rekonstruiert . Die Diskriminierung durch Private stellt gegenwärtig eines der am meisten diskutierten, aber auch schwierigsten Probleme des Nichtdiskriminierungsrechts dar . Die rechtsethische Rekonstruktionsmethode nimmt den Ausgang bei der beobachtbaren Praxis, hier den grundlegenden Entscheidungen des EGMR, die Diskriminierungen durch Private zum Gegenstand haben . Da vor dem EGMR nur Staaten Grundrechtsverpflichtete sind, nicht aber Private, muss die Frage lauten: Wie lässt sich die Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts, nach der die Vertragsstaaten verpflichtet sind, Private vor der Diskriminierung durch andere Private zu schützen, rechtsethisch rekonstruieren? Wenn man – wie hier – davon ausgeht, dass diese Praxis des Nichtdiskriminierungsrechts am besten unter Gerechtigkeitsprinzipien rechtsethisch rekonstruiert werden kann, stellt sich zunächst die Frage, unter welchem der beiden Gerechtigkeitsprinzipien sich dieser Ausschnitt des Nichtdiskriminierungsrechts erfassen lässt . Hier liegt ein distributives Gerechtigkeitsprinzip nahe: Es geht bei dem Unterlassen von Schutz vor Diskriminierung durch andere Private nicht um eigene, staatliche Nichtschädigungspflichten (wie bei dem korrektiven Gerechtigkeitsprinzip), sondern um die mangelhafte Gewährleistung einer diskriminierungsfreien Umgebung . Das staatliche Hinwirken auf eine diskriminierungsfreie Umgebung ist als ein (sonstiges) Mittel des So-Sein-Könnens anzusehen . Die Gleichheit der Mittel des SoSein-Könnens – der Gegenstand der diskriminierungsspezifischen Konzeption der Gerechtigkeit – verlangt ein proaktives Eintreten des Staates dort, wo zivilgesellschaftliche Kräfte regelmäßig versagen oder unzureichend sind . Sicher ist, dass Private die Mittel des So-Sein-Könnens eines anderen Privaten zumindest in ungerechter Weise verkürzen können, etwa indem der Vermieter in einer Anzeige ausdrücklich darauf hinweist, nur an Heterosexuelle zu vermieten . An dieser Stelle wird die angesprochene Grenze der diskriminierungsspezifischen Gerechtigkeitskonzeption deutlich: Konflikte zwischen ungleichartigen Mitteln des So30 Worin die ethische Nichtrechtfertigung besteht, interessiert eine rechtsethische Rekonstruktion nicht primär . Es handelt sich um eine ethische (im Unterschied zu einer rechtsethischen Frage) . In der Ethik wird zur Nichtrechtfertigung Folgendes diskutiert: Die Ungerechtigkeit von Diskriminierung besteht entweder in dem erwähnten Verstoß gegen eine Moral der gleichen Achtung oder darin, dass die Ungleichbehandlung nicht auf den ethisch akzeptablen Gründen des Bedürfnisses, des Verdienstes oder des erworbenen Rechts beruht (vgl . dazu näher Altwicker [Fn . 24], S . 473 f .) .
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Sein-Könnens, d . h . hier die Belassung im So-Sein des einen (im Beispiel: Homosexualität des Mieters) und das Freiheitsinteresse des anderen (im Beispiel: Privatautonomie des Vermieters), sind mit dieser Konzeption nicht auflösbar . Eine Gewichtung der unterschiedlichen Mittel des So-Sein-Könnens kann diese Konzeption nicht anbieten . Diese Begrenzung ist kein Makel: Eine deskriptive Rechtsethik kann und will der Rechtsdogmatik das Geschäft der Abwägung und Argumentation nicht abnehmen . Es geht ihr vielmehr darum, eine komplexitätsangemessene ethische Sprache und Darstellung für die juristischen Probleme der Diskriminierung anzubieten und auf diese Weise klärend zu wirken .
paWel polaczuk theorIe der GerechtIGkeIt von John rawls. GrundrIss der krItIk Das Ziel meiner Ausführungen ist es, einen meist übersehenen Aspekt der Konstruktion der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls kritisch zu analysieren . Die Konstruktion knüpft an einen Zusammenhang intuitiver Ansichten über Gerechtigkeit mit der Idee des Gesellschaftsvertrages an . In seinen Erläuterungen zur Letztausgabe der „Theorie der Gerechtigkeit“ wird die Anfangssituation, der Kern von Rawls´ Gerechtigkeitstheorie, indes zu einem Beweis degradiert . Das stärkt die Bedeutung der grundlegenden Struktur der Theorie . Die Folgen dieser Theoriekonstruktion sind zum einen die formale Selbstbezogenheit der Theorie und zum anderen deren materielle Geschlossenheit . Sie ist nicht offen für Probleme, die unter verschiedenen sozialen Umständen ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit erwecken .
1 eInleItunG Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls gehört anscheinend zu den bedeutendsten Errungenschaften der gegenwärtigen Rechtsphilosophie, denn das Interesse an ihr ist ungebrochen . Zahlreiche Perspektiven, aus denen sie beleuchtet werden kann, tragen dazu bei . Die Qualität von Justice as Fairness erweckte allerdings schon nach der Erstausgabe dieses Werkes zahlreiche Zweifel .1 Man betonte, dass das Theoriegebäude von Rawls lediglich eine Doktrin sei, die auf eine politische Praxis hin ausgerichtet bleibe . Denn sofern der Begriff „Theorie“ mit der ihr zustehenden Achtung ausgelegt werde, bedeute er „eine Sammlung von geordneten Behauptungen über ein Fragment der Wirklichkeit . Eine so verstandene Theorie formuliert das Hauptwerk (von Rawls) nicht . Es formuliert weder eine Theorie von gesellschaftlichen Erscheinungen, die sich unter dem auf Mitglieder der Gesellschaft wirkenden Einfluss eines Musters von gerechten zwischenmenschlichen Beziehungen gestaltet, noch eine geordnete psychologische Theorie, die sich auf die mit den Mustern eines gerechten Handelns verbundenen Erlebnisse bezieht .“2
Rawls ist es bis zur letzten Ausgabe seines Hauptwerkes nicht gelungen, eine Theorie einer der erwähnten Arten zu formulieren . Er nimmt keine „semiotische Analyse“ der Begriffsapparatur aus dem untersuchten Bereich vor und stellt „oft Behauptungen einer nicht im geringsten analytischen Natur“ auf, die zur Grundlage weiterer Argumente für das von ihm propagierte Gerechtigkeitskonzept werden .3 Dies ist darauf zurückzuführen, dass in einer rein theoretisch angelegten Argumentation hinsichtlich der Gerechtigkeit kaum ein Anspruch auf politische und institutionelle Umsetzung erhoben werden könnte . Mit dem Wort „Gerechtigkeit“ sind meistens starke Intuitionen verbunden . Demnach sei „das Propagieren einer gewissen Auffassungsweise des Begriffes ‚Gerechtigkeit‘ keine Aufgabe semiotischer Natur“, sondern der Parteinahme, im gegebenen Fall „zugunsten der Erfassung von Gerechtigkeit als
1 2 3
Vgl . Ziembiñski, Allgemeine Gerechtigkeitstheorie von Rawls, ETYKA 1974 (13), S . 237–240 . Ziembinski (Fn . 1), S . 237 . Ziembinski (Fn . 1), S . 237 f .
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eines allgemein abgestimmten oder akzeptierten Konzeptes, nach dem gesellschaftliche Beziehungen geordnet werden .“4 Die Argumentationsmethode von Rawls wurzelt in der vorstehend skizzierten Überlegung .5 Ausgangspunkt seiner Ausführungen sind Überzeugungen intuitiver Art . Deren Rang kommt auch in Vorbehalten hinsichtlich der Bedeutung von Grundbegriffen zum Ausdruck . In der Theorie von Rawls spielen sie „keine besondere Rolle“ . Sie sind nur Hilfswerkzeuge, die ermöglichen, die Grundstruktur der Theorie und Wechselbeziehungen zwischen ihren Elementen zu erklären .6 Intuitive Ansichten über Gerechtigkeit sind somit ein wesentlicher Bestandteil der Theorie und markieren gedankliche Übergänge in der Argumentation von Rawls . Allerdings versucht er in der Letztausgabe seines Hauptwerkes, theoretische Elemente durch vorgenommene Änderungen sowie Erläuterungen zu stärken, die der Argumentationsstruktur einen stringenteren Charakter verleihen .7 Sein Augenmerk richtet sich dort mit verstärkter Intensität auf eine theoretische Begründung, wodurch der Bereich der Parteinahme überschritten wird . Im vorliegenden Aufsatz wird diese Denkbewegung samt der dazugehörenden Methode einer Kritik unterzogen und als eine Entwicklung gewertet, die zur Selbstbezogenheit der Gerechtigkeitstheorie führt . Nachdem Hintergrund und Ziel meiner Analyse abgesteckt sind, soll das ihr zugrunde liegende Verständnis der Begriffe „Theorie“ sowie „Konzeption“ der Gerechtigkeit geklärt und vorläufig begründet werden . Ich nehme an, dass eine auf Grundsätze gestützte Gerechtigkeitskonzeption ein Ergebnis der „Theorie“ ist . Die Theorie hat ihren Ursprung in intuitiven Ansichten und geht über das allgemeine Verstehen der Gerechtigkeit hinaus .8 In der so konzipierten Beziehung ist die Theorie – in welcher intuitive Ansichten ineinander greifen – breiter aufgefasst als die Konzeption der Gerechtigkeit . Das lässt sich durch einige Passagen aus den Schlussbemerkungen in der Theorie der Gerechtigkeit belegen . Rawls bezieht sich dort auf die Gliederung seiner Ausführungen und legt dar, dass seine Argumentation sich aus drei Teilen zusammensetze . Im ersten Teil seien wesentliche Elemente der theoretischen Struktur enthalten .9 Ich werde hierauf zur Entfaltung und Auswertung der Argumentationsstruktur von Rawls eingehen . Meine weiteren Argumente stellen hingegen eine Begründung dessen dar, was ich im Lichte der zitierten Aussage von Rawls für möglich halte . Im Schrifttum wird Rawls’ Anliegen über die Bedingungen der Anfangssituation, den Schleier des Nichtwissens, erläutert, von welchen ausgehend Prinzipien der Gerechtigkeit bestimmt und inhaltlich erwogen werden . Ein solch profiliertes Bild betrifft die Konzeption der Gerechtigkeit . Denn es bedarf keiner Verdeutlichung der Struktur der Theorie, die im Lichte meiner Analyse als deren Voraussetzung anzusehen ist . Ein weiterer Beleg ist mit einem Gedankengang von Rawls verbunden, in dem er auf Bedingungen der Anfangssituation Bezug nimmt . – Rawls´ Ausführungen integrieren verschiedene Theorieelemente dermaßen flexibel, dass ihre gegenseitige 4 5 6 7 8 9
Ziembinski (Fn . 1), S . 237 . Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 2 Aufl ., Warschau 2009, S . 20 ff . Rawls (Fn . 5), S . 94 ff . Vgl . Rawls (Fn . 5), S . 19, 25 ff ., S . 811, 824 ff . Rawls (Fn . 5), S . 38 ff . Rawls (Fn . 5), S . 813, 814 ff .
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Verwiesenheit verschleiert wird . Es ist hinzuzufügen, dass die Konzeption und die Theorie schlussendlich ineinander fließen . Das ist die Folge der theoretischen Begründung der Konzeption, in der Rawls auf den Gerechtigkeitssinn abstellt . 2 arGumentatIon Ich fange mit der so genannten richtigen Rolle der Konzeption der Gerechtigkeit an . Sie ist – hinsichtlich der Konstruktionsmethode – ein charakteristisches Element der Theorie . In der richtigen Rolle der Konzeption fallen intuitive Ansichten über Gerechtigkeit mit den Grundbegriffen zusammen – genauer gesagt mit einer Annahme der Theorie der Gerechtigkeit, die zugleich ein Argument für die Hauptidee der Theorie ist . Diese verwickelte Beziehung ermöglicht, den Konstruktionsmechanismus einzelner Elemente der Theorie vor Augen zu führen . Denn der oben angedeutete Zusammenhang fördert die Richtung des von Rawls angenommenen Gedankengangs zu Tage . Rawls bezeichnet die Gerechtigkeit als die erste Tugend öffentlicher Institutionen und hält fest, dass sie eine kompromisslose Tugend menschlichen Handelns sei . Diese Feststellung drückt einfachste Vorahnungen aus, die wir der Gerechtigkeit gegenüber empfinden und die bestimmte Faktoren als moralisch bedeutsam hervorheben .10 Ihnen zu Folge wollen wir etwa nicht, dass die durch Gerechtigkeit garantierten Rechte zum Gegenstand eines politischen Feilschens oder einer Interessenschätzung werden . Rawls setzt weiterhin voraus, dass die Gesellschaft eine Vereinigung von Menschen ist, deren gegenseitige Beziehungen Gegenstand gewisser Verhaltensregeln sind, die man als bindend anerkennt . Diese Regeln ermöglichen ein gemeinsames Kooperationssystem . Das Hauptproblem liegt darin, dass in der Gesellschaft sowohl eine Gemeinsamkeit der Interessen vorliegen kann, wenn eine Kooperation allen ein besseres Leben ermöglicht, als auch Interessenkonflikte auftreten können, weil es den Gesellschaftsmitgliedern nicht gleichgültig ist, wie die Vorteile verteilt werden, die aus ihrer Zusammenarbeit erwachsen . Die Kooperationsteilnehmer können somit sowohl nach übereinstimmenden, als auch nach auseinanderstrebenden Interessen handeln .11 Diese kommen in konkurrierenden Ansprüchen zum Ausdruck, jene entspringen aus potentiellen Vorteilen der Kooperation .12 Rawls argumentiert daher für die Annahme bestimmter Gerechtigkeitsprinzipien, die Gegenstand einer Vereinbarung über angemessene Anteile bei der Verteilung werden und so das Wohl der Kooperationsteilnehmer fördern sollen . Die Vereinbarung scheint möglich zu sein, da jeder versteht, dass das Vorhandensein von Grundsätzen nötig ist und deshalb bereit ist, sie anzunehmen . Davon zeugt die Tatsache, dass Vorahnungen über Gerechtigkeit allgemein sind . Intuitive Ansichten sind demnach offen für eine Deutung und lassen sich in eine Konzeption der Gerechtigkeit integrieren, die unterschiedliche Überzeugungen in einem Bestand von zusammenhängenden Grundsätzen in Einklang bringt . 10 Rawls (Fn . 5), S . 97 ff . 11 Rawls (Fn . 5), S . 46, 47 ff ., S . 201, 202 ff . 12 Rawls (Fn . 5), S . 195 ff .
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Die obige Charakteristik hat gezeigt, dass Rawls intuitive Überzeugungen von Gerechtigkeit mit der Annahme verbindet, dass die Gesellschaft eine Vereinigung von Menschen ist, die im Rahmen eines Kooperationssystems funktioniert . Die Implikationen dieser Konstruktionsmethode erlauben, die richtige Rolle der Konzeption der Gerechtigkeit zu klären . Rawls behauptet, dass die richtige Rolle der Konzeption der Gerechtigkeit auf der Bestimmung von Verteilungsanteilen beruht . Er knüpft allerdings an die Hauptidee der Gerechtigkeitstheorie an, nämlich die Idee des Gesellschaftsvertrages . Die Konzeption hat daher ebenfalls eine Vereinbarung angemessener Anteile bei der Verteilung gedanklich möglich zu machen . Denn das Bestehen intuitiver Ansichten über Gerechtigkeit ist kein zureichender Grund für die Geltung eines gemeinsamen Bestandes von Gerechtigkeitsprinzipien, in welchem solche Ansichten in Übereinstimmung gebracht werden . Auf diesen Aspekt macht Rawls in seinen späteren Erläuterungen aufmerksam . Die Bedeutung der Anfangssituation, in der Gerechtigkeitsprinzipien angeblich vereinbarungsgemäß Geltung erlangen, wird dort zu einem Beweis verkürzt, den Rawls nur unter gewissen Voraussetzungen zur Begründung von Prinzipien zulässt .13 Die Bestimmung und Begründung dieser Voraussetzungen samt der Begründung dazugehörender Wahlbedingungen erfolgt innerhalb der theoretischen Grundstruktur . Die Konstruktion der richtigen Rolle der Konzeption offenbart die Richtung des Gedankengangs von Rawls innerhalb der Theorie . Man sieht, dass auf ihr die Begründung der Konzeption lastet . Ich habe allerdings auch behauptet, dass die Konstruktion dieses Theorieelements einen grundlegenden Mechanismus veranschaulicht, nach dem die Struktur der Theorie kreiert ist . Ihre Elemente werden in zumindest ähnlicher Weise konstruiert . Rawls integriert intuitive Ansichten bzw . Bedingungen, in denen diese Ansichten entstehen, auf der Ebene der Theorie . Einige Elemente der Theorie sind dabei „reine Elemente“, in welche intuitive Ansichten bzw . die erwähnten Bedingungen mittelbar transponiert werden . Sie bilden den Kern der Theorie . Ich habe hier die sog . Anfangssituation im Sinn, die einen Bezug auf intuitive Ansichten bzw . Bedingungen ihrer Entstehung (welche in anderen Elementen der Theorie integriert sind) mittelbar aufrechterhält . Diese Anmerkungen lassen sich auch auf folgende Argumente stützen . Die richtige Rolle der Konzeption wird von Rawls bereits ganz zu Beginn erörtert und als einleitende Frage behandelt . Der Umstand, dass sie nur eine einleitende Frage (für die Grundstruktur der Theorie) ist, hat seinen Grund in der intuitiven und allgemeinen Überzeugung von dem Vorrang der Gerechtigkeit . Wenn wir der Tugend der Gerechtigkeit einen Vorrang einräumen, ist aber noch nicht entschieden, welche Konzeption der Gerechtigkeit wir vorziehen . In der Theorie hängen die entsprechenden Präferenzen von vielen Faktoren ab . Außer formalen Gründen geht es in einer Theorie, die von intuitiven Ansichten ausgeht und zugleich auf der Idee der rationalen Wahl basiert, um materielle Faktoren, dank deren eine Konzeption als gut befunden werden kann . Bei solchen Theorien geht es schlicht um die Absorption vielfältiger Probleme, die in der Gesellschaftsordnung auftreten . Sie sollen möglichst breit in die Theorie integriert werden . Das resultiert in der von mir bereits vorausgesetzten Folge, dass intuitive Ansichten in Theorieelemente ineinander grei-
13 Vgl . Rawls (Fn . 5), S . 815, 817 ff .
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fen und meist zu einem unabwendbaren Schritt führen – zum Einbeziehen jener Bedingungen, in denen sich die intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit gestalten . Damit der Sinn dieser Anmerkung klarer wird, kann man feststellen, dass tatsächliche und nicht ganz offen gelegte Bedingungen von der Ebene ihres Zusammenhangs mit den intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit in eine (theoretisch verfasste) Sphäre verschoben werden, in der die Prinzipien bestimmt werden sollen .14 In dieser Sphäre werden zugleich die Bedingungen der Anfangssituation, d . h . die Wahlbedingungen der Rawls’schen Gerechtigkeitsgrundsätze begründet . Auf Grund der Feststellungen, die die Struktur der Theorie betreffen, bedeutet das aber nicht nur, dass diese durch jene Elemente mitgestaltet wird, die zum Zweck der Begründung von Wahlbedingungen und Prinzipien eingeführt werden . Vielmehr kann man diese Feststellung in eine allgemeinere Form fassen, die der vorstehend erwähnten Eigenschaft von Theorien wie dieser Rechnung trägt, indem man behauptet, dass sich die Theorie aus den Elementen zusammensetzt, welche die Konzeption begründen und auf ihre Wahl richtungsweisend wirken . Hinter dieser an und für sich nicht bedenklichen Behauptung steckt die von Rawls letztendlich offen gelegte Überlegung, dass die tatsächliche Wahl der Prinzipien in einer der Begründung der Konzeption zugeordneten, theoretisch gefassten Wirklichkeit erfolgt . Das meint Rawls wahrscheinlich, wenn er festhält, dass die Theorie der Gerechtigkeit ihre Unterstützung selbst generieren soll .15 Folge dessen ist eine formale Geschlossenheit der Gerechtigkeitstheorie . Sie löst lediglich diejenigen Probleme, die die Theorie erblickt hat . Ein gutes Beispiel dafür (für das Ineinandergreifen intuitiver Ansichten in die Theorie sowie für dessen Konsequenzen) ist die gesellschaftliche Grundstruktur, die als Begründung der Wahlbedingungen konzipiert wird . Rawls geht hier davon aus, dass die Konzeption der Gerechtigkeit kein Bewertungsinstrument für die Organisation der gesamten Gesellschaftsordnung zu sein braucht . Er beruft sich auf eine intuitive Ansicht, dass das Vorliegen eines bestimmten Maßes an Übereinstimmung darüber, ob etwas gerecht oder ungerecht sei, von Bedeutung für den Bestand der Gesellschaft miteinander vereinigter Menschen ist . Das veranlasst ihn zur alleinigen Berücksichtigung jenes Teiles der sozialen Wirklichkeit, dessen gerechte Organisation der Gemeinschaft Dauer verleihen soll . Folge ist eine quantitative Reduktion der relevanten Gesellschaftsstrukturen, und zwar bis auf denjenigen Teil des Kooperationssystems, in welchem Ausgangspositionen aller bestimmt werden .16 Die Gründe, aus denen Rawls die Regeln und Tätigkeit von Privatgesellschaften oder engeren Gesellschaftsgruppen usw . aus der Grundstruktur ausschließt, sind allerdings nicht intuitiv . Einer von ihnen ist ein Derivat der Hauptidee der Theorie, nämlich der Idee einer öffentlichen Wahl, der die erwähnten Tätigkeiten, Regeln oder Umgangsformen von engeren Gruppen nicht unterliegen . Die sogenannte Grundstruktur umfasst demnach nur grundlegende und strukturelle Lebensbedingungen . Nur diese sind Gegenstand der Gerechtigkeitsgrundsätze, die das Erreichen des Wohls im ganzen System der Zusammenarbeit ermöglichen sollen . Das hat Rawls im Sinn, wenn er feststellt, dass die Konzeption der Gerechtigkeit die Deutung der Rolle ist, welche Gerechtigkeits14 Rawls (Fn . 5), S . 157, 158 ff . 15 Rawls (Fn . 5), S . 201 ff . 16 Rawls (Fn . 5), S . 34 ff .
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prinzipien innerhalb der gesellschaftlichen Grundstruktur haben, und dass Folgen der Grundstruktur tief greifend (richtiger – weit reichend) sind . Wir wissen allerdings nicht, und wegen der formalen Sebstbezogenheit der Theorie werden wir nie erfahren, ob in der Grundstruktur die Vorteile aus dem gesamten Kooperationssystem oder nur aus dem öffentlichen und institutionellen Teil verteilt werden, was für die Präferenz zugunsten der angebotenen Konzeption nicht ohne Bedeutung ist . Eine weitere Frage, die sich im Lichte dieser Überlegungen aufdrängt, bezieht sich auf die Qualität dessen, was ich als theoretisch gefasste Sphäre bezeichnet habe . Hier lassen sich Folgen des skizzierten Konstruktionsmechanismus´ aufzeigen, der zwischen intuitiven Ansichten und der Hauptidee der Theorie ausgedehnt ist . Die Antwort auf die gestellte Frage bedarf eines Qualitätsmaßstabes . In diesem Zusammenhang ist erneut darauf aufmerksam zu machen, dass Rawls einfachsten Vorahnungen den Vorrang vor anderen Tugenden sowie einen allgemeinen Charakter zuschreibt . Die Hauptidee der Theorie hat er hingegen argumentativ in der Annahme verankert, dass die Gesellschaft eine Vereinigung von Menschen sei, deren Organisation auf Institutionen (schlicht: Regeln) basiert .17 Zu bemerken ist, dass intuitive Ansichten eine Verallgemeinerung der Konzeption erzwingen . Die Grundsätze der Gerechtigkeit müssen Hauptbedingungen der Vereinigung von Menschen sein, da die Gerechtigkeit nach unseren Vorahnungen eine kompromisslose Tugend ist . Wie sich Grundsätze als Hauptbedingungen bewähren sollen, ergibt sich aus der Hauptidee der Gerechtigkeitstheorie . Erstens sollen sie alle weiteren Vereinbarungen regulieren, d . h . alle Formen der möglichen Zusammenarbeit bestimmen . Zweitens haben sie eine Kritik und eine Reform der Institutionen aus der Sicht der Gerechtigkeit anzuleiten .18 Der erste Punkt weist deutlich auf das von mir nicht in Frage gestellte Erfordernis der Allgemeinheit von Prinzipien, der zweite aber führt zur Steigerung der Abstraktheit der in der Anfangssituation zustande gekommenen Vereinbarung . Rawls stellt nämlich fest, dass die Bewertung von Institutionen einer Analyse bedarf . Die Bewertung beruht auf einer Reihe von hypothetischen Vereinbarungen, die die Quelle von Regeln sind . Der Anfang der Rekonstruktion dieser Vereinbarungsreihe ist der Vertrag, der in der Anfangssituation abgeschlossen wurde . Die Wahlbedingungen, unter denen der Vertrag zustande kommt, haben demnach sehr abstrakt zu sein, damit die gegenständliche Rekonstruktion möglich ist . Das Typische an dieser aus den Vertragstheorien bekannten Maßgabe, das der mit einer gewissen Kontinuität der Beziehungen aufgeladene Begriff des natürlichen Zustandes ausdrückt, wird von Rawls aufgegeben . Es geht um die Beziehungen zwischen moralischen Subjekten und Gegebenheiten dieser Beziehungen, die samt der Charakteristik rationaler Personen in den traditionellen Vertragstheorien in der Kategorie des rationalen Handelns erfasst werden . Das Hauptproblem dabei ist nicht, dass eine rationale Wahl in solch allgemeinen Bedingungen der Anfangssituation nicht rational sein kann, sondern vielmehr, dass in der Anfangssituation, in der Wahlbedingungen in die Charakteristik von dort verorteten Subjekten eingehen, nicht viel davon übrigbleibt, was den Beziehungen zwischen moralischen Subjekten entspricht, obwohl eine Charakteristik dieser Beziehungen im Lichte des Nichtwissens der Parteien über sich selbst und über 17 Rawls (Fn . 5), S . 46 f ., S . 201, 202 ff . 18 Rawls (Fn . 5), S . 40, 42 ff .
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ihre Lage denknotwendig erscheint . Dass eine solche Charakteristik unausweichlich ist, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass Rawls von intuitiven Ansichten samt den mit ihnen verhafteten Bedingungen ausgeht, unter denen zwischenmenschliche Beziehungen entstehen . Deren Charakteristik wird aber aus der Konzeption durch eine weitgehende Verallgemeinerung der Wahlbedingungen eliminiert .19 Diesem Vorwurf trat Rawls mit dem Argument entgegen, dass die Konzeption lediglich eine Beweisfunktion habe . Demzufolge wäre die erforderliche qualitative Charakteristik in Elementen der Theorie zu suchen . Wenn das angeführte Argument von Rawls entfaltet wird, stellt sich heraus, dass die grundlegenden und strukturellen Gegebenheiten in zweierlei Hinsicht zu lesen sind: sowohl als Charakteristik der Bedingungen, in denen sich intuitive Ansichten gestalten, als auch als Charakteristik von Beziehungen zwischen Menschen, die ausschließlich kooperieren und die Gerechtigkeit nicht mehr als persönliche Tugend betrachten . Es ist demnach schwer zu erklären, wie die einfachsten Vorahnungen, die gegenüber der Gerechtigkeit empfunden werden, irgendwelche Faktoren als moralisch bedeutsam hervorbringen können, mit denen man auf nicht-kooperative Beziehungen Bezug nehmen könnte . Man sieht dies deutlicher in den sog . Gegebenheiten der Gerechtigkeit . Vom Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Grundstruktur her, welche objektivierte Bedingungen umfasst, kann man die Gegebenheiten der Gerechtigkeit für einen gewissen Ersatz für detaillierte Bedingungen halten, die mit der Vorahnung verbunden sind . Sie sind Bedingungen, die einer Gerechtigkeitserfahrung näher sind als diejenigen, die in der Konstruktion der gesellschaftlichen Grundstruktur aufgefasst sind . Rawls nennt sie daher Hintergrundbedingungen, die die Rolle der Gerechtigkeit definieren, und er betont, dass sie mit keiner konkreten moralischen Theorie verbunden sind, zugleich aber als Hinweis für die Vorahnung wirken .20 Im Lichte dieser Bedingungen manifestiert sich eine zwischenmenschliche Kooperation als möglich und zugleich notwendig . Rawls weist hier auf eine körperliche und geistige Ähnlichkeit der Mitglieder einer Kooperation hin, die bewirkt, dass keines von ihnen über den Rest dominieren kann, und ferner auf die Bedingung eines mäßigen Mangels . Die natürlichen Ressourcen und die Ressourcen anderer Art genügen nicht, damit die Kooperationssysteme überflüssig werden . Andererseits sind die Umstände nicht dermaßen unzulänglich, dass die Kooperation zum Scheitern verurteilt wäre, auch wenn sie die Befriedigung aller Bedürfnisse nicht möglich machen .21 Die Gegebenheiten der Gerechtigkeit werden des Weiteren durch Interessen und Bedürfnisse gekennzeichnet . Sie sind sich ungefähr ähnlich, was eine gegenseitige Kooperation ermöglicht, die für die Beteiligten vorteilhaft ist . Es soll hinzugefügt werden, dass sich diese Interessen direkt auf Einzelwesen beziehen, was Rawls als ein Interesse an sich selbst auslegt . Eine Gegebenheit der Gerechtigkeit ist auch, dass jeder seinen eigenen Lebensplan besitzt, der als der Verwirklichung würdig angesehen wird, obwohl diese Verwirklichung zum Streit um die natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen führt . Die Gegebenheiten der Gerechtigkeit umfassen auch Umstände, die in eine Annahme hinsichtlich des Wissens, Denkens und der Meinung aufgenommen wurden . Die Kooperationssubjekte sind durch Mängel in 19 Rawls (Fn . 5), S . 157, 158 ff . 20 Rawls (Fn . 5), S . 199 ff ., S . 212 ff . 21 Rawls (Fn . 5), S . 211, 214 ff .
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dem Sinn belastet, dass deren Wissen unvollständig bleibt, ihr Denkvermögen beschränkt ist und ihre Meinungen Ängsten, Vorurteilen und einem starken Engagement für die eigenen Angelegenheiten ausgesetzt sind . Manche dieser Mängel, so Rawls, würden aus moralischen Unzulänglichkeiten, Selbstsucht oder Vernachlässigungen herrühren . Doch können sie größerenteils als ein Bestandteil des menschlichen Daseins gelten .22 Die Qualität der erwogenen Elemente bezeugt, dass sie das Vorhaben widerspiegeln, die Charakteristik der wirklichen Beziehungen und Gegebenheiten, in denen sich intuitive Ansichten gestalten, durch Ausschluss bestimmter Beziehungen zu reduzieren . Die Reduktion erfolgt aber auch durch weitgehende Objektivierung . Um das Maß der Objektivierung der erwogenen Gegebenheiten zu veranschaulichen, kann man sich auf jenen Teil der Ausführungen von Rawls berufen, in dem sich das Vorhaben offenbart, das der Konstruktion aller Bedingungen zugrunde liegt . Rawls bezieht die Entscheidung über den Vorzug auf eine zufällig gewählte Person . Wenn sie – nach einer angemessenen Überlegung – eine gewisse Konzeption der Gerechtigkeit gegenüber einer anderen vorzieht, dann werden es alle tun, und man kann eine einmütige Übereinstimmung erreichen .23 Es stellt sich also heraus, dass Rawls die Beziehungen zwischen Teilnehmern der Zusammenarbeit infolge der Umdeutung der sozialen Wirklichkeit minimalisiert . Eine analoge Anmerkung könnte man in Bezug auf andere Elemente formulieren . – Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Denkbewegung einen intuitiven Anfang nimmt . Die geschilderte Objektivierung ist an die Allgemeinheit der Wahlbedingungen gekoppelt, diese hingegen wird durch intuitive Ansichten über Gerechtigkeit erzwungen . Wir bekommen einen im hohen Grade abstrakten Vertrag unter Preisgabe einer materiell umgreifenden Charakteristik von zwischenmenschlichen Beziehungen sowie von Gegebenheiten, die die Erfahrung der Gerechtigkeit gestalten . Aus dieser Erfahrung aber entspringen die intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit . Selbst wenn der intuitive Charakter der Ansichten über Gerechtigkeit diesen Zusammenhang gewissermaßen lockert, werden seine Glieder jedoch durch den angelegten theoretischen Maßstab (Vereinbarung) gänzlich voneinander abgekoppelt . Die Charakteristik von zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Gegebenheiten wird in die Theorie gerückt . 3 schlussBemerkunGen Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Aussagen von Rawls verweisen . Er begann mit den intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit, da diese auf wesentliche moralische Aspekte hinweisen . Nach Rawls sei auch das mit den intuitiven Ansichten eng verbundene Vertrauen am größten . Ich führe diese Äußerungen aus zweierlei Gründen an . Erstens, um den Schwierigkeitsgrad zu veranschaulichen, dem die gelieferte Begründung gerecht werden sollte . Damit ist meine Kritik zugleich gemildert . Ein zweiter Grund ist mit der Denkrichtung verbunden, in der Rawls versucht, intuitive Ansichten über die Gerechtigkeit in eine hypothetische Situation zu überführen . 22 Rawls (Fn . 5), S . 184, 195, 197 ff . 23 Rawls (Fn . 5), S . 212 ff .
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Wenn man dieses Vorhaben nur aus dem Blickwinkel der Ursprungslage einschätzen würde, die der Anfangssituation vorangestellt wird, also auf eine der traditionellen Theorie des Vertrags nahe Weise, könnte man Zweifel hegen . Denn Bedingungen der Gerechtigkeitserfahrung sind komplex, sogar dann, wenn wir Gerechtigkeit nur auf Institutionen beziehen . Rawls konzentriert sich dagegen auf Einschränkungen und positive Determinanten . Er wandelt jene Bedingungen, die unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit erwecken oder die für die Gerechtigkeit hinderlich sind, in solche um, die uns positiv determinieren . Seine Wahlbedingungen dürfen demzufolge nicht dieselben sein wie Gegebenheiten unserer Erfahrung . Wir werden sie also tatsächlich nicht so leicht akzeptieren und den unter ihnen vereinbarten Grundsätzen Vertrauen schenken wie vergleichsweise unsere intuitiven Ansichten über Gerechtigkeit . Rawls ist sich dessen bewusst, indem er für viele Aspekte der Konzeption gewisse (sie) fördernde Argumente einführt .24 Er kommt auf dieses Problem auch in solch seltsamen Bemerkungen zu sprechen, wie der, dass die Anfangssituation ein intuitiver Begriff sei . Intuition sei – was immer das auch bedeuten mag – ein Mittel, das erlaubt, den zu verfolgenden Zweck aus der Distanz zu betrachten .25
24 Vgl . Rawls (Fn . 5), S . 54 ff . 25 Rawls (Fn . 5), S . 54 ff .
II unparteIlIchkeIt und unIversalIsIerunG luzern 2011
klaus MatHis unparteIlIchkeIt 1 eInleItunG Das Gebot der Unparteilichkeit spielt sowohl in der Ethik als auch im Recht eine bedeutende Rolle . In der Ethik gilt Unparteilichkeit neben Universalisierung als Charakteristikum des idealen übergeordneten Standpunktes der Moral, von dem aus die handelnde Person von ihren Interessen, Absichten und Urteilen zu abstrahieren vermag .1 Im Recht bedeutet Unparteilichkeit die Unvoreingenommenheit der Gerichte bzw . die Neutralität der Rechtsprechung . Mittels Unvereinbarkeiten von Ämtern und Ausstandsregelungen oder Grundsätzen wie „audiatur et altera pars“ wird im Rechtsstaat dem Prinzip der Unparteilichkeit Nachachtung verschafft . Im Folgenden soll die Rolle der Unparteilichkeit in der Ethik und im Recht näher erörtert werden, wobei zum einen die Frage aufgeworfen wird, wie sich im alltäglichen Leben Unparteilichkeit mit Freundschaft vereinbaren lässt, und zum anderen, ob ein empathischer Richter unparteilich sein kann . 2 unparteIlIchkeIt In der ethIk In der Ethik hat sich Unparteilichkeit historisch in drei Überlegungsschritten als ein Grundbegriff etabliert: Erstens über die Vorstellung, dass es eines Standpunktes der Interesselosigkeit bedarf, damit die Verallgemeinerung von subjektiven moralischen Urteilen gelingt (Hume), zweitens über die Bestimmung dieses interesselosen Standpunktes als die Perspektive des wohlwollenden, wohl informierten und unparteiischen Beobachters (Smith), und schliesslich über die Vorstellung der moralischen Rechtfertigung, wobei sich eine deontologische (Kant) und eine utilitaristische Tradition (Bentham) unterscheiden lassen .2 David Hume weist in „An Inquiry concerning the Principles of Morals“ auf den Unterschied zwischen dem bloss subjektiven Standpunkt und der unpersönlichen, intersubjektiven Sichtweise hin . Wenn ich jemanden meinen Feind nenne, ist das etwas anderes, als wenn ich ihn als böse bezeichne . Durch den Übergang vom persönlichen zum öffentlichen Standpunkt drückt man aus, wie die bescholtene Person ganz allgemein von der Gesellschaft wahrgenommen wird:3 „When a man denominates another his enemy, his rival, his antagonist, his adversary, he is understood to speak the language of self-love, and to express sentiments, peculiar to himself, and arising from his particular circumstances and situation . But when he bestows on any man the epithets of vicious or odious or depraved, he then speaks another language, and expresses sentiments, in which, he expects, all his audience are to concur with him . He must here, therefore, 1 2 3
Elif Özmen, Unparteilichkeit, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg .), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd . 2, Berlin 2008, S . 1376–1380, S . 1376 . Özmen (Fn . 1), S . 1376 . David Wiggins, Universalizability, Impartiality, Truth, in: ders ., Needs, Values, Truth, 3 . Aufl ., Oxford 1998, S . 59–86, S . 60 .
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Klaus Mathis depart from his private and particular situation, and must choose a point of view, common to him with others: He must move some universal principle of the human frame, and touch a string, to which all mankind have an accord and symphony .“4
In Adam Smiths Ethik dient das Prinzip des unparteiischen Beobachters („impartial spectator“) der moralischen Qualifikation des eigenen Verhaltens wie auch des Verhaltens anderer . Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sympathie („sympathy“, „fellow-feeling“) im Sinne von Mitgefühl . In der Sympathie sieht Smith die Wurzel derjenigen Prinzipien, die den Menschen dazu bestimmen, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen . Es sei die Fähigkeit, Gefühle und Gedanken anderer mit Hilfe der Vorstellungskraft im eigenen Inneren mitzuempfinden: „By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and we become in some measure the same person with him […] .“5
Nimmt man am Schicksal des anderen teil, tritt man wie ein aussenstehender Beobachter auf, der in der Lage ist, das Verhalten des anderen zu beurteilen, indem man sich vorstellt, was man selbst in einer ähnlichen Lage empfinden würde . Anhand der gleichen Grundsätze bildet man sich auch eine Meinung über das eigene Verhalten .6 Die Fähigkeit des Mitfühlens ist nach Smith die Voraussetzung jeder moralischen Wertung und Beurteilung .7 Mit Sympathie meint er jedoch weder eine inhaltliche Tugend noch irgendeine Form von Altruismus, sondern das rein formale Vermögen, sich wechselseitig ineinander einzufühlen bzw . einen Rollentausch vorzunehmen .8 Dank dieser allgemeinmenschlichen Neigung zur Unparteilichkeit sorgt der unparteiische Beobachter in uns für die Einhaltung der grundlegenden sozialen Spielregeln, tritt als entscheidende Instanz bei der Beurteilung des eigenen Verhaltens auf und ist Hauptakteur bei der Herausbildung der allgemeinen Regeln der Moral .9 Der Kategorische Imperativ von Kant – so etwa in der meist verwendeten Formulierung „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde .“10 – erfordert einen Standpunkt der reinen praktischen Vernunft, von dem aus die formale, d . h . von den Interessen und Absichten als auch von den Wirkungen der Handlungen absehende Übereinstimmung der Handlungsmaxime mit dem allgemeinen Gesetz geprüft werden kann .11 David Hume, An Inquiry concerning the Principles of Morals, hrsg . von Tom L. Beauchamp, Oxford 1998, Kapitel 9 Teil 1 Abs . 6 . 5 Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, hrsg . von Knud Haakonssen, Cambridge 2002, Teil I Abschnitt i Kapitel I Abs . 2 . 6 Horst Claus Recktenwald, Über Adam Smiths „The Theory of Moral Sentiments“: Vademecum zu einem frühen Klassiker, Düsseldorf 1986, S . 22 f . 7 Walther Eckstein, Zur wissenschaftlichen Bewertung der „Theorie der ethischen Gefühle“, in: Horst Claus Recktenwald (Hrsg .), Ethik, Wirtschaft und Staat: Adam Smiths politische Ökonomie heute, Darmstadt 1985, S . 127 . 8 Heinz-Dieter Kittsteiner, Ethik und Theologie: Das Problem der „unsichtbaren Hand“ bei Adam Smith, in: Franz-Xaver Kaufmann/Hans-Günter Krüsselberg (Hrsg .), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt a . M . 1984, S . 41–73, S . 45 . 9 Georg Johannes Andree, Sympathie und Unparteilichkeit: Adam Smiths System der natürlichen Moralität, Paderborn 2003, S . 113 f . 10 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd . IV, Berlin 1968, S . 421 . 11 Özmen (Fn . 1), S . 1376 . 4
Unparteilichkeit
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Kant erklärt den Kategorischen Imperativ anhand verschiedener Beispiele, so etwa mithilfe des falschen Versprechens: Die Maxime „[W]enn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen .“ erweist sich als nicht universalisierbar, als hierdurch ein Widerspruch entstünde, „[d]enn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde .“12 Massgeblich ist demnach allein der bei der Universalisierung entstehende Widerspruch, wobei die mit den entsprechenden Handlungen einhergehenden negativen empirischen Folgen unbeachtlich bleiben . Ganz anders gestaltet sich die utilitaristische Ethik, bei der sich der Gratifikationswert einer Handlung aus der Differenz aus Freude („pleasure“) und Schmerz oder Leid („pain“) aller Betroffenen ergibt .13 Jeremy Bentham definiert in seinem Hauptwerk „An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ das Utilitätsprinzip deshalb wie folgt: „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question: or, what is the same thing in other words, to promote or to oppose that happiness . I say of every action whatsoever; and therefore not only of every action of a private individual, but of every measure of government .“14
Der utilitaristische Nutzenkalkül verlangt in unparteilicher Weise, dass das Glück und Unglück jeder einzelnen – einschliesslich der eigenen – Person in gleicher Weise berücksichtigt wird .15 Nach der utilitaristischen Ethik lassen sich moralisch verbindliche Handlungsanweisungen jedoch – im Gegensatz zum Kategorischen Imperativ – nicht rein deduktiv gewinnen . In erster Linie sind empirische Kenntnisse erforderlich, nämlich Kenntnisse über die Folgen einer Handlung und die Bedeutung dieser Folgen für die Wohlfahrt der Gesellschaft .16 Die Richtigkeit des Utilitätsprinzips ist für Bentham evident, weil es dem Menschen von Natur aus eingegeben sei . Es zu beweisen, sei zwar unmöglich, aber auch unnötig . Doch könne es in keinem Fall widerlegt werden .17 In den modernen Gerechtigkeitstheorien spielt die Unparteilichkeit namentlich bei John Rawls eine wichtige Rolle . In „A Theory of Justice“ werden die Parteien im Urzustand mit dem Kunstgriff des Schleiers des Nichtwissens („veil of ignorance“) gezwungen, einen unparteilichen Standpunkt einzunehmen, um sich für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu entscheiden:
12 Kant (Fn . 10), S . 422 . 13 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg . von J. H. Burns/H. L. A. Hart, Oxford 1996, Kapitel I Abs . 1 . 14 Bentham (Fn . 13), Kapitel I Abs . 2 . 15 Özmen (Fn . 1), S . 1376 . 16 Otfried Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik: Klassische und zeitgenössische Texte, 2 . Aufl ., Tübingen 1992, S . 12 . 17 Bentham (Fn . 13), Kapitel I, Abs . 11 f .
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Klaus Mathis „[T]he parties do not know certain kinds of particular facts . First of all, no one knows his place in society, his class position or social status; nor does he know his fortune in the distribution of natural assets and abilities, his intelligence and strength, and the like .“18
Damit also die Entscheidung nicht zum Vorteil der eigenen Person oder Gruppe gefällt wird, verfügen die Parteien im Urzustand zwar über ein allgemeines Wissen – etwa über wirtschaftliche, soziale, politische oder psychologische Zusammenhänge, d . h . über sozialwissenschaftliches Wissen –, aber sie kennen weder ihre wirtschaftliche oder gesellschaftliche Lage noch ihre natürlichen Talente und Fähigkeiten . Indem derartige Sonderbedingungen als Entscheidungsgrund ausfallen, gibt der Schleier des Nichtwissens dem Kern der Gerechtigkeit, der Unparteilichkeit, eine operationale Bestimmung .19 Kritische Einwände gegen die Unparteilichkeit als konstitutives Element einer Gerechtigkeitstheorie werden etwa aus kommunitaristischer Perspektive vorgebracht . Für den Kommunitarismus ist ein abstrakter Standpunkt der Unparteilichkeit, der sich den lebensweltlichen, durch Traditionen, Gewohnheiten und kulturellen Identitäten geprägten Milieus verschliesst, eine Unmöglichkeit . Nicht die Rechtfertigung von Unparteilichkeit als gerechtigkeitskonstitutierendes Prinzip, sondern das Verständnis der anthropologischen, historischen und kulturellen Grundlagen von gesellschaftlich etablierten Vorstellungen von Gerechtigkeit müssten am Anfang der Theoriebildung stehen (so etwa Alasdair MacIntyre, Michael Sandel oder Michael Walzer) .20 Auch Seyla Benhabib bezweifelt, dass der konturlose Mensch hinter dem Schleier des Nichtwissens überhaupt fähig ist, den Standpunkt des Anderen einzunehmen . Es bestehe ja gar kein Unterschied zwischen dem Selbst und dem Anderen . Sie ersetzt deshalb den verallgemeinerten Anderen durch den konkreten Anderen: Will man den Anderen verstehen, muss man mehr – nicht weniger – über ihn wissen . Man könne, so Benhabib, moralisch relevante Situationen nicht unabhängig vom Wissen über die Geschichte, Charakterzüge, Wünsche und Verhaltensweisen der Handelnden beurteilen .21 Es wird jedoch noch grundsätzlichere Kritik gegen Ethiken vorgebracht, die auf der Idee der Unparteilichkeit basieren . John Cottingham etwa moniert, dass mit einer Moral etwas nicht stimmen könne, die es gebiete, persönliche Eigenschaften und besondere Nähe wie Verwandtschaft oder Freundschaft für moralisch irrelevant zu erklären .22 Auch Derek Parfit glaubt, dass im persönlichen Leben die spezielle Beziehung zu bestimmten Personen moralisch berücksichtigt werden dürfe . So sei es zunächst sicherlich erlaubt, seinen eigenen Interessen besonderes Gewicht beizumessen . Auch könne man nicht verlangen, dass man anderen helfen müsse, wenn dies ein zu grosses Opfer erfordere . Es müsse auch zulässig sein, den Interessen nahestehender Personen – wie etwa Eltern oder Kindern – Priorität einzuräumen .23 18 John Rawls, A Theory of Justice, 2 . Aufl ., Cambridge 1999, S . 118 . 19 Otfried Höffe, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg .), John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 1998, S . 3–26, S . 20 . 20 Özmen (Fn . 1), S . 1379 . 21 Seyla Benhabib, Selbst im Kontext: Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt a . M . 1995, S . 180 ff . 22 Siehe John Cottingham, Ethics and Impartiality, Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 1983 (43), S . 83–99, S . 88 . 23 Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984, S . 485 .
Unparteilichkeit
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John Hardwig hält die traditionellen Ethiken nicht nur für unvollständig, sondern für grundsätzlich falsch konzipiert, da sie im Kontext persönlicher Beziehungen nicht sinnvoll anwendbar seien .24 Die Kantische Ethik beispielsweise entpersonalisiere alle persönlichen Beziehungen . Sie gehe von der falschen Dichotomie aus, dass man entweder seine eigenen Ziele verfolge und andere als Mittel zum Zweck reduziere, oder dass man andere mit ihren eigenen Zwecken respektiere . Zusätzlich zu eigenen Zwecken und Zwecken anderer sei es jedoch auch möglich, dass eine ganz bestimmte Person einer meiner Zwecke sei . Der Utilitarismus andererseits betrachte persönliche Beziehungen, wenn er sie überhaupt als eigenes Gut berücksichtige, bloss als ein Mittel, um das höchste Gut, die Glückseligkeit, zu befördern . Beide Ethiken seien daher ungeeignet, persönliche Beziehungen adäquat zu berücksichtigen und in diesem Kontext befriedigende Antworten zu geben .25 Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Unparteilichkeit mit Blick auf die anthropologischen Vorgegebenheiten eine schwierige Voraussetzung sei, da niemand aus seiner Haut heraus könne und daher zumindest unbewusst immer zuerst Partei für sich selbst ergreife . Es wird in diesem Zusammenhang auch an ein altes somalisches Sprichwort erinnert: „Ich und Somalia gegen die Welt; ich und mein Clan gegen Somalia; ich und meine Familie gegen den Clan; ich und mein Bruder gegen die Familie; ich gegen meinen Bruder .“26
Diese damit zum Ausdruck gebrachte abgestufte Sympathie lässt sich auch wie folgt formulieren: Zuerst komme ich, dann kommt mein Bruder und meine Familie, dann unsere Sippe und danach erst unser Volk – und zusammen treten wir gegen den Rest der Welt an .27 Es fragt sich deshalb, ob eine Ethik, die in allen Bereichen des Lebens stets vollkommene Unparteilichkeit verlangt, nicht realitätsfremd ist und die Menschen hoffnungslos überfordert . Die Kontroverse zwischen Befürwortern und Kritikern einer Ethik der Unparteilichkeit lässt sich erheblich entschärfen, wenn man Unparteilichkeit auf einer ersten und einer zweiten Stufe unterscheidet . Die Befürworter verteidigen in der Regel die Unparteilichkeit der zweiten Stufe: Sie stellt hier einen Test für moralische und rechtliche Regeln einer gerechten Gesellschaft dar . Die Kritiker beziehen sich hingegen meistens auf die Unparteilichkeit der ersten Stufe: Unparteilichkeit als Verhaltensmaxime im alltäglichen Leben .28 Diese zweistufige Konstruktion lässt sich sehr schön in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit veranschaulichen: Der Schleier des Nichtwissens blendet zwar persönliche Eigenschaften wie Rasse oder Geschlecht aus, aber die Parteien im Urzustand könnten ohne weiteres die persönliche Maxime haben,
24 John Hardwig, In Search of an Ethics of Personal Relationships, in: George Graham/Hugh Lafollette (Hrsg .), Person to Person, Philadelphia 1989, S . 63–81, S . 64 . 25 Hardwig (Fn . 24), S . 70 f . 26 Max Baumann, Recht und Ethik: Dimensionen einer kommunikativen Rechtstheorie, in: Sandra Hotz/Klaus Mathis (Hrsg .), Recht, Moral und Faktizität: Festschrift für Walter Ott, Zürich/ St . Gallen 2008, S . 121–132, S . 127 . 27 Franz M. Wuketits, Bioethik, München 2006, S . 35 . 28 Brian Barry, Justice as Impartiality, Oxford 1995, S . 11, S . 77 und S . 194 . Zu dieser Unterscheidung siehe auch Susan Mendus, Impartiality in Moral and Political Philosophy, Oxford 2002, S . 55 ff .
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Klaus Mathis
dass jedes Individuum seinen eigenen Wünschen und Interessen ein besonderes Gewicht beimessen darf .29 Die Quintessenz dieser Überlegungen ist, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit und damit auch der Unparteilichkeit, die für die Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft geschaffen worden sind, nicht unbedingt auf moralische Fragen des persönlichen Lebens anwendbar sind .30 Der unparteiliche Standpunkt ist sicherlich erforderlich für die Gestaltung einer gerechten gesellschaftlichen Grundordnung, er ist aber nicht unbedingt notwendig, um ein gutes Leben zu definieren, wie dieses in persönlichen Beziehungen, der Nächstenliebe, der Familie oder der Freundschaft zum Ausdruck kommt .31 Nach Aristoteles ist die Freundschaft („philia“) für das Leben das Notwendigste32 und deshalb noch wichtiger als die vollkommenste aller Tugenden, die Gerechtigkeit („dikaiosyne“)33, und damit auch als die Unparteilichkeit . Wie für jede Tugend gilt auch für sie, dass sie durch wiederholtes Handeln zur Gewohnheit werden muss .34 Wie gezeigt wurde, lässt sich Freundschaft mit einer differenzierten Konzeption der Unparteilichkeit durchaus vereinbaren .35 3 unparteIlIchkeIt Im recht Die Idee der Unparteilichkeit spielt auch im modernen Rechtsstaat eine wichtige Rolle . So sah etwa Max Weber in seiner Analyse der Bürokratie im Gebot der Unparteilichkeit eine der primären Tugenden des Staatsbeamten . Bürokratische und damit rationale Herrschaft charakterisiert sich nach Weber u . a . durch „die Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit: sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft, daher ohne ‚Liebe‘ und ‚Enthusiasmus‘, unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe; ‚ohne Ansehen der Person‘, formal gleich für ‚jedermann‘, d . h . jeden in gleicher faktischer Lage befindlichen Interessenten, waltet der ideale Beamte seines Amtes .“36
Gustav Radbruch hat diese Auffassung für den Richter mit Blick auf die Rechtssicherheit und die gleichförmige Anwendung der Gesetze noch auf die Spitze getrieben: 29 Cottingham (Fn . 22), S . 84 . 30 Zum Umgang mit diesem Spannungsverhältnis siehe auch die Studie von Elif Özmen, Moral, Rationalität und gelungenes Leben, Paderborn 2005 . Zur gesamten Thematik siehe ferner die Beiträge in Brian Feltham/John Cottingham (Hrsg .), Partiality and Impartiality: Morality, Special Relationships, and the Wider World, Oxford/New York 2010 . 31 Thomas E. Hill, Dignity and Practical Reason in Kant’s Moral Theory, Ithaca/London 1992, S . 238 f . 32 Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg . von Günther Bien, 4 . Aufl ., Hamburg 1985, 8 . Buch 1 . Kapitel 1155a . 33 Aristoteles (Fn . 32), 5 . Buch 3 . Kapitel 1129b . 34 Aristoteles (Fn . 32), 2 . Buch 1 . Kapitel 1103a . 35 Für eine eingehendere Darstellung der Moralphilosophie von Adam Smith, von Jeremy Benthams Utilitarismus und der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls siehe die Kapitel 5, 6 und 7 in Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, 3 . Aufl ., Berlin 2009; bzw . ders., Efficiency Instead of Justice? Searching for the Philosophical Foundations of the Economic Analysis of Law, New York 2009 . 36 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5 . Aufl ., Tübingen 1980, S . 129 .
Unparteilichkeit
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„Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lässt […] .“37
Eine richterliche Entscheidung erfüllt die Unparteilichkeitsforderung einerseits durch Einhaltung der positivrechtlich normierten Verfahrensstandards und der Auswahl und Anwendung der sachlich gerechtfertigten materiellen Regeln sowie andererseits durch die Berücksichtigung der relevanten sachlichen Gesichtspunkte einer Anwendungssituation . Absolute Objektivität kann dabei jedoch nicht gefordert werden, da der Richter seine eigene Persönlichkeit nicht ausblenden kann . Könnte in der Bestimmung des Richtigen das Moment der persönlichen Entscheidung eliminiert werden, wäre also das Richtige in einem absoluten Sinne objektiv gegeben, wäre die Forderung nach Unparteilichkeit sinnlos .38 Ein Urteil erhält das Prädikat der Unparteilichkeit, wenn es gegenüber allen betroffenen Parteien sachlich gerechtfertigt werden kann . Nicht mehr rechtfertigen lässt es sich dann, wenn es die Interessen einer Partei zum Nachteil der anderen Partei ungleich stärker gewichtet, ohne dass dafür sachliche Gründe angeführt werden können .39 „Empathetic Judging“, wie vom damaligen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama im Wahlkampf proklamiert, löste in der amerikanischen Juristenwelt heftige Diskussionen aus . Obama sagte, er wünsche sich im obersten Gericht der Vereinigten Staaten Personen mit Herz und Empathie, die in der Lage seien, sich in sozial schwächer Gestellte einzufühlen: „[W]e need somebody who’s got the heart, the empathy, to recognize what it’s like to be a young teenage mom [… and] to understand what it’s like to be poor, or African-American, or gay, or disabled, or old .“40
Es fragt sich natürlich, ob ein solcher Richter noch unparteilich urteilen kann . Hat er nicht einfach nüchtern das Recht anzuwenden, ohne sich in die betroffenen Parteien einzufühlen? In diese Richtung weist etwa die Stellungnahme von Jessica Weisner: „Lady Justice doesn’t have empathy for anyone . She rules strictly based upon the law and that’s really the only way that our system can function properly under the Constitution .“41
Um das Verhältnis von Empathie und Unparteilichkeit genauer zu reflektieren, ist zunächst zu klären, was unter „Empathie“ zu verstehen ist . In der heutigen Psychologie bezeichnet sie die Kompetenz, sich in andere hineinzuversetzen . Im Englischen spricht man auch von „conceptual perspective taking“ . Damit meint man die Fähigkeit, andere als Personen mit eigenen Zielen, Interessen und Fähigkeiten wahrzunehmen .42 Es kann dabei ein emotionaler von einem kognitiven Aspekt der Em37 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, 2 . Aufl ., Heidelberg 2003, S . 84 . 38 Georg Lohmann, Unparteilichkeit der Moral, in: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hrsg .), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a . M . 2001, S . 434–455, S . 447 f . 39 Lohmann (Fn . 38), S . 454 . 40 Senator Barack Obama, zit . nach Bandes (Fn . 44), S . 135 . 41 Jessica Weisner, zit . nach Bandes (Fn . 44), S . 138 . 42 Lynne N. Henderson, Legality and Empathy, Michigan Law Review 1987 (85), S . 1574–1654, S . 1581 .
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Klaus Mathis
pathie unterschieden werden: Emotionale Empathie lässt uns fühlen, was ein anderer fühlt, kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt .43 Susan A . Bandes findet es irreführend, darüber zu diskutieren, ob Richter Empathie haben sollen oder nicht . Es sei eine Tatsache, dass sie mit eigenen Gefühlen auf die Gefühle der Parteien reagieren würden . Entscheidend sei vielmehr, dass sich Richter über die eigene Fähigkeit zur Empathie, deren Grenzen und allfällige „blinde Flecken“ Rechenschaft ablegen würden .44 Ähnlich argumentiert auch Lynne N . Henderson . Sie weist dabei auf die Problematik hin, dass man für Personen aus der gleichen gesellschaftlichen Gruppe eher Empathie entwickle .45 Man spricht in diesem Zusammenhang von Urteilsverzerrungen, sog . „biases“ . Martin L . Hoffmann erwähnt den „familiarity bias“ und den „here-and-now bias“ . Einerseits ist man empathischer gegenüber Personen, die einem vertrauter sind, andererseits ist die Empathie zu Personen besonders stark, die räumlich und zeitlich in unmittelbarer Nähe sind . Der „familiarity bias“ lässt sich noch in „in-group-bias“, „friendship bias“ und „similarity bias“ unterteilen: Man ist empathischer gegenüber Gruppenmitgliedern (z . B . Angehörigen der gleichen Ethnie) sowie Freunden und Personen, die einem hinsichtlich bestimmter Merkmale ähnlich sind (z . B . gleiches Geschlecht) .46 Empathie kann daher in der Tat eine Gefahr für die Unparteilichkeit richterlicher Urteile darstellen, vor allem dann, wenn der Richter die eigenen Gefühle nicht kritisch reflektiert . Noch gefährlicher ist jedoch ein Leugnen der Empathie, da man auf diese Weise deren Gefahren ausblendet und von seinem eigenen, engstirnigen Standpunkt ausgeht, den man irrigerweise für den allgemeinen hält .47 Die bewusste Auseinandersetzung mit den Absichten und Interessen der Parteien sowie den eigenen Vorurteilen ist nämlich einerseits eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Urteil seine ihm zugedachte Funktion wahrnehmen kann, nämlich einen Ausgleich zwischen den sich widerstreitenden Interessen der Verfahrensbeteiligten zu schaffen .48 Andererseits legt der empathische Richter auch Rechenschaft darüber ab, wie sich dieser Vorgang auf seine eigene Gefühlswelt auswirkt . Empathie in der Rechtsanwendung bedeutet daher nicht, dass der Richter private Absichten, Interessen oder Vorurteile direkt in sein Urteil einfliessen lässt oder gar als solche zum Urteil erhebt .49 Empathie, verstanden als kognitive Kompetenz, kann ihm im Gegenteil helfen, die nötige abgeklärte Distanz zu den Interessen und Zielen der Parteien und zu seinen eigenen Gefühlen zu entwickeln und zu wahren .50 43 Paul Ekman, Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, 2 . Aufl ., Heidelberg 2010, S . 249 . 44 Susan A. Bandes, Empathetic Judging and the Rule of Law, Cardozo Law Review De Novo 2009 (133), S . 133–148, S . 135 . 45 Henderson (Fn . 42), S . 1584 . 46 Martin L. Hoffmann, Empathy and Moral Development: Implications for Caring and Justice, Cambridge 2000, S . 206 ff . 47 Kim McLane Wardlaw, Umpires, Empathy, and Activism: Lessons from Judge Cardozo, Notre Dame Law Review 2010 (85), S . 1629–1662, S . 119 f . 48 Catherine O’Grady, Empathy and Perspective in Judging: The Honorable William C . Canby, Jr ., Arizona State Law Journal 2001 (33), S . 4–33, S . 9 ff . 49 McLane Wardlaw (Fn . 47), S . 117 f . 50 Zu dieser und einer verwandten Thematik siehe Klaus Mathis/Fabian Diriwächter, Is the Rationality of Judicial Judgements Jeopardized by Cognitive Biases and Empathy?, in: Klaus Mathis (Hrsg .), Efficiency, Sustainability, and Justice to Future Generations, New York 2011, S . 55–73 .
Julia Hänni unIversalIsIerunG 1 eInführunG Der Ausdruck universal, ein Begriff, der sowohl lateinisch (universalis) als auch griechisch (καθολικός, katholikós) überliefert ist, bezieht sich auf eine Gesamtheit, d . h . auf ein Ganzes: Eine über die Vielheit der Erlebnis- und Erfahrungsperspektiven hinausgehende Bezugnahme auf die Einheit oder eine einheitliche Weise von Legitimation ethischer Prinzipien bildet die Grundlage der Moral . Für die universalistische Denkweise kommt demnach allgemeingültigen ethischen Prinzipien eine stärkere Legitimationskraft zu als partikularen Moralbegründungen; damit verbunden ist die Annahme, dass erst die Bezugnahme auf ein Einheitsprinzip gerechte Lösungen für ethische, aber auch rechtliche Grundfragen herbeiführen kann: Universal gültige ethische Prinzipien sind gerecht, gleich – oder nach weiteren Kriterien der Vernunft – auf konkrete Rechtsfälle anzuwenden sowie für die Bildung normativer Ordnungen heranzuziehen . Die Notwendigkeit einer universalen, inklusivistischen Ethik wird im 20 . Jahrhundert wieder in eine deutliche Aktualität gebracht durch die Erfahrungen von Faschismus und Rassismus sowie die menschheitsbedrohenden Nebenwirkungen technischer Entwicklungen (z . B . die ökologische Krise) .1 Aber auch die zunehmende internationale Verflechtung (Globalisierung) erfordert die Herausbildung universaler Gerechtigkeitskriterien und steht – eine eigene historische Selbstgerechtigkeit überwindend2 – vor der Herausforderung, relativistische Vorwürfe wie die einer eurozentristischen oder kulturimperialistischen Haltung entkräften zu müssen .3 Die Diskussion darüber, ob es Allgemeinbegriffe bzw . allgemeine ethische Prinzipien gibt, die aller Partikularität übergeordnet sind, reicht zurück bis in die Antike .4 Seit der Spätantike wurden unter dem Begriff Universalien Gattungsbegriffe gesucht, die erst das Hervorgehen von Einzeldingen und Partikularitäten erklären konnten .5 Als entsprechende Gattungsbegriffe galten im Lauf der Auseinandersetzungen sehr unterschiedliche ontologische Prinzipien oder ethische Normen: Neben den Ideen im Sinne Platons waren dies vor allem Regeln, Tugenden oder Werte . 1 2 3
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Horst Gronke, Universalismus, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg .), Metzler Philosophie Lexikon, 2 . Aufl ., Stuttgart 1999, S . 618 . Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 2010, § 29 Rz . 4 . In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass gerade auch kulturrelativistische Argumente von Regimes dazu verwendet werden, die eigene repressive Ordnung durchzusetzen, die „in einem tiefen Sinn eine spezifische Kultur verkörpere“ und daher nicht aus menschenrechtlicher Sicht kritisiert werden könne; vgl . dazu Mahlmann (Fn . 2), § 29 Rz . 8, und auch die geforderte „Beweislastumkehr“ bei Tobias Zürcher, in diesem Band . Grundlage der Diskussion um die Universalien im Mittelalter ist die von Boethius ins Latein übersetzte „Isagoge“ des Porphyrios, in der eine schematische Darstellung der Ordnung von Begriffen nach dem Grad ihrer Allgemeinheit (erstmals) vorgenommen wird; Porphyre, Isagoge, trad . par J . Tricot, Paris 1947 . Vgl . dazu die Übersicht bei Alain de Libera, Der Universalienstreit . Von Platon bis zum Ende des Mittelalters, übers . v . Konrad Honsel, München 2005 .
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Durch das Postulat der Allgemeingültigkeit jener Kategorien stand und steht der Universalismus einem allgemeinen Relativismus und Subjektivismus entgegen, indem er für den Nachweis der moralischen Richtigkeit von Handlungsanweisungen auf ein überindividuelles und transkulturelles, insofern universal gültiges Prinzip rekurriert .6 Staatsphilosophisch zugewendet hat die universalistische Betrachtungsweise als Zweck des Handelns eine Gesamtheit oder Gemeinschaft (Volk, Staat, Menschheit) im Blick, ohne dass dabei die Bedeutung des Einzelnen notwendigerweise vermindert würde: Die universalistische Denkweise erfordert vielmehr, die einzelnen Subjekte, aber auch das zerstreute Einzelwissen über die Dinge zu einem Ganzen, zu einem System zusammenzuführen; das Wahre ist im Sinne Hegels „das Ganze“ .7 Die universalistische Betrachtungsweise steht dem Relativismus auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht entgegen . Gerade mit Blick auf die international zunehmende institutionelle Verflechtung und die damit einhergehende Tendenz der Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsordnungen wird die Kompetenz erforderlich, universale Grundlagen für die Ausbildung normativer Ordnungen neu zu reflektieren . Die universalistische Denkweise geht daher – die epistemologischen Grenzen der Erkenntnis berücksichtigend – davon aus, dass gestützt auf die normative Erkenntniskraft des Menschen Kriterien von praktischer Einsicht existieren, die universalistische Theorien und moralische Urteile als überzeugend oder eben nicht überzeugend zu qualifizieren vermögen .8 Vor diesem Hintergrund soll in dieser kurzen Einleitung insbesondere thematisiert werden, welche strukturellen Eigenheiten der universalistischen Argumentationsweise zugrunde liegen und in welchem Mass die Universalisierung als Eigenheit der juristischen Denkweise verstanden werden kann . Im Weiteren soll danach gefragt werden, welche universalistischen Prinzipien als Geltungsgrundlage des Rechts herangezogen werden können, um so universalistische Tendenzen, die sich in der aktuellen Rechtsentwicklung auch in institutioneller Hinsicht zeigen, zu erklären . 2 unIversalIsIerunG als eIGenheIt der JurIstIschen arGumentatIon Die Frage, ob die Universalisierung als eine Grundlage der juristischen Argumentation verstanden werden kann, ist bereits auf einen ersten Blick grundsätzlich zu bejahen: Das Gerechtigkeitspostulat der Universalisierung zeigt sich gewissermassen als Einheitsprinzip in der Rechtsanwendung, indem alle rechtsanwendenden Behörden gehalten sind, gleich gelagerte Fälle in gleicher Weise zu beurteilen . Es ist demnach ein Grundgebot der Rechtsfindung, eine konkrete Situation nach einem Mass-
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Gronke (Fn . 1), S . 618 . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg . v . Johann Schulze, 2 . Aufl ., Berlin 1841, Vorrede, S . 15 . Hegel vertrat in seiner praktischen Philosophie eine dezidiert universalistische Position (ohne auf den Begriff des Universalismus Bezug zu nehmen), wohingegen er hinsichtlich der Moralphilosophie eine universalistische Begründung ablehnte; dazu Gerhard Schweppenhäuser, Die Antinomie des Universalismus . Zum moralphilosophischen Diskurs der Moderne, Würzburg 2005, S . 22 . Vgl . Mahlmann (Fn . 2), § 29 Rz . 13 .
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stab der Einheitlichkeit zu beurteilen, der auf all jene Sachverhalte angewendet werden soll, für die es keine Rechtfertigung des Abweichens gibt . Wenn z . B . das Schweizerische Bundesgericht in Anwendung des Gleichheitsgebots nach Art . 8 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) festhält, dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln ist,9 so nimmt es für die Subsumtion unter den Gleichheitsartikel einen universalisierenden Bezug: Alle Personen, die sich in einer gleichen oder juristisch als analog zu beurteilenden Situation befinden, sind gleich zu behandeln . Das Bundesgericht ist durch das Gleichheitsgebot an den Massstab der Einheitlichkeit gebunden; bei jeder Differenzierung in vergleichbaren Situationen – und ebenso bei jeder Gleichbehandlung in unterschiedlichen Sachverhalten – ist ihm eine spezielle Begründungspflicht auferlegt . Die Gerichte haben mit Bezug auf das Gleichheitsgebot jegliche Abweichung von der Generalisierung oder Universalisierung des Anspruchs für alle Rechtsunterworfenen im konkreten Fall spezifisch zu begründen . 3 dreI charakterIstIka der unIversalIsIerBarkeIt Bereits am Beispiel der Rechtsprechung zum Gleichheitsgebot nach Art . 8 der schweizerischen Bundesverfassung lassen sich wesentliche Elemente, aber auch wesentliche Probleme der Argumentationsstruktur der Universalisierbarkeit erkennen . Als Charakteristika für die Argumentationsfigur erweisen sich zunächst drei Elemente als wesentlich: Erstens ist die Universalisierbarkeit ein grundlegendes Instrument zur Verfolgung des Ziels, Menschen im Sinne von Kant nicht als Mittel, sondern als Zweck zu behandeln, indem allen Menschen alle Rechte oder Grundrechte gleichermassen zustehen sollen . Von einem generalisierten Anspruch auf Gleichbehandlung wird ausgegangen, denn „alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ .10 Zum Ausdruck gebracht wird damit eine Kompetenz zur Mitbetroffenheit, also die Fähigkeit, Handlungen und Zustände von anderen Personen repräsentativ ernst zu nehmen . Die Universalisierbarkeit verfolgt in diesem Sinne eine Anerkennung aller Menschen als gleichberechtigte Rechtssubjekte und beinhaltet damit ein Bekenntnis zum Menschen im Sinne der humanitas . Gleichermassen – und dies ist ein zweites Charakteristikum – zeigt sich de facto, dass die Argumentationsform der Universalisierung, gerade durch ihre einheitlichumfassende Bezugnahme, auf Verschiedenartigkeit, Polarität oder Partikularität stösst, die eine gewisse Antinomik dieser Argumentationsform selbst zutage bringt .11 Denn gerade wenn eine herrschende soziale Anschauung durch Generalisierung (ohne Differenzierung) durchgesetzt werden sollte, hat sie sich wiederholt als Gefährdung von Menschenrechten erwiesen . Ein Beispiel hierzu ist die bis 1972 praktizierte Wegnahme von Kindern Fahrender durch eine vom Bund unterstützte Organisation, mit dem Zweck der Förderung 9 Zum Beispiel BGE 105 V 280, 281; 117 Ia 257, 259; 123 II 9, 11 . 10 Art . 8 Abs . 1 BV . 11 Dazu Schweppenhäuser (Fn . 7), insb . S . 93 ff .
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des Kindeswohls durch eine Anpassung der Erziehung an die damals vorherrschende mehrheitsgesellschaftliche Lebensweise . Die intendierte Erziehung der Kinder erwies sich in der Folge als Verstoss gegen das Recht und der Bund hatte Entschädigungen zu leisten .12 Das Beispiel zeigt, dass Differenzierungsgebote oder -möglichkeiten, die sich auf unterschiedliche Lebensverhältnisse und Besonderheiten von Situationen beziehen, als Teil des Universalisierungsgrundsatzes oder als Öffnungsklausel hierzu verstanden werden müssen; diese Polarität oder Antinomik erscheint als eine Eigenheit des Gerechtigkeitspostulats selbst . Genau an diesem Punkt zeigt sich auch ein drittes Kriterium, nämlich das Kriterium der Bewertung durch die Rechtsanwender: Die Gewichtung und Entscheidung, welche Norm wann generalisiert und auf weitere Sachverhalte angewendet werden soll, erfordert Abwägung und Bewertung . Die Bewertung, ob ein sachlicher Grund vorliegt, der eine Differenzierung gebietet, stützt das Schweizerische Bundesgericht auf die „anerkannten Grundsätze der geltenden Rechts- und Staatsordnung“ oder auf die „herrschenden Anschauungen und Zeitverhältnisse“ ab .13 Dass das letztere Kriterium problematisch ist und rechtsphilosophischer Reflexion bedarf, hat das oben genannte Beispiel zur Wegnahme von Kindern Fahrender gezeigt . 4 unIversalIstIsche theorIen der rechtsphIlosophIe Um einen Geltungsanspruch zu erheben, der sowohl eine partikularistische Gewährung von Grundrechten überwindet als auch über kontingente Rechtssysteme hinausgeht, sind universalistische Moralprinzipien typischerweise so zu formulieren, dass sie vom konkreten Inhalt des moralischen Handelns absehen . Dem Handeln ist demnach eine Verfahrensregel zugrunde zu legen, die inhaltsneutral ist, um Normen zu überprüfen, die selbst bereits einen Inhaltsbezug aufweisen .14 Der Universalismus in der politischen Philosophie der Gegenwart ist stark im rationalen Naturrechtsdenken der Aufklärung verwurzelt; und obwohl die kantische Ethik den Begriff des Universalismus noch nicht kennt, kann sie als Paradigma der universalistischen Moralbegründung bezeichnet werden .15 Der Grundsatz der Universalisierung findet sich bei Kant in der Form des kategorischen Imperativs . Die Formel „[…] handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“16 wird als das geeignete Instrument vorgeschlagen, um die Übereinstimmung von subjektiven 12 Vgl . dazu Walter Leimgruber/Thomas Meier/Roger Sablonier, Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse . Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv, erstellt durch die BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern, hrsg . vom Schweizerischen Bundesarchiv, Bern 1998, S . 11 ff . 13 BGE 122 I 349 E . 4b und BGE 114 Ia 1 E . 3, E . 8 . 14 Typischerweise sind solche Moralprinzipien rational, normativ und deontologisch, d . h . nicht konsequentialistisch; vgl . Schweppenhäuser (Fn . 7), S . 26 f . 15 Schweppenhäuser (Fn . 7), S . 22 . 16 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (MdS), Werke in sechs Bänden, Bd . 4, hrsg . v . Wilhelm Weischedel, 6 . Aufl ., Darmstadt 2005, BA 52, S . 51; oder auch – die Formulierungen des kategorischen Imperativs sind bekanntlich gleichwertig –: „Handle so, dass du die Menschheit,
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Willens-Maximen mit einer uneingeschränkten Allgemeingültigkeit herzustellen und an der Idee eines allgemeinen Gesetzes zu überprüfen . Das Moralprinzip Kants wird der Selbstanforderung der universalistischen Ethik gerecht, sich ein inhaltsneutrales (aber nicht inhaltsloses!) allgemeines Verfahrensprinzip zugrunde zu legen, indem Kant durch die genannte Formel auf ein Prinzip der Universalisierung stösst, das er als die Arbeitsweise unserer praktischen Vernunft selbst erkennt .17 Eine Universalisierung erfolgt auch mit Rückgriff auf die analytische Sprachphilosophie und den Pragmatismus, etwa bei Karl-Otto Apel oder bei Jürgen Habermas’ Diskursethik, bei der eine Universalisierung aufgrund der idealen Sprechsituation, des herrschaftsfreien Diskurses, erfolgen soll .18 Indem sich eine Norm als argumentativ konsenswürdig erweist, soll der allgemeine moralische Konsens definiert werden .19 Auch Systemtheoretiker definieren das Moralprinzip im Sinne der Universalität des Geltungsanspruchs . Nach Luhmann wird der Geltungsanspruch einer Aussage durch das Verbot, sich selbst vom Geltungsanspruch auszunehmen, universal . Das Subjekt kann sich nicht selbst von der Verbindlichkeit einer Handlungsmaxime befreien, die es im Allgemeinen als richtig anerkennt . Luhmann statuiert demnach das Verbot der Selbstexemtion als das heimliche Grundprinzip der Moral .20 Diese Forderung nach Universalisierbarkeit bzw . nach Generalisierung (generalization) wird insbesondere auch von der angelsächsischen Ethik im Sinne eines Fairnessgebots erhoben . Diese Idee spiegelt sich etwa in der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, in der die Parteien schon im fiktiven vorgesellschaftlichen Urzustand mit dem Kunstgriff des Schleiers des Nichtwissens gezwungen werden, einen unparteilichen Standpunkt einzunehmen, um über Gerechtigkeitsprinzipien zu entscheiden, die der realen Gesellschaftsordnung zugrunde gelegt werden sollen .21
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sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest“; MdS, BA 67, S . 61 . Vgl . Arno Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 2003, S . 63 . Zur inhaltlichen Bestimmtheit des kategorischen Imperativs Julia Hänni, Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung, Diss ., Berlin 2011, S . 39 ff ., 157 ff . Habermas geht aus von der Universalisierung idealer Geltungsansprüche, die aus der Konsensorientierung methodologisch rekonstruiert werden sollen; Red., Universalismus, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg .), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd . 11, Basel 2001, S . 204 ff ., 206 . Das von Habermas vorgeschlagene Universalisierungsprinzip U stellt für ihn das diskursethische Moralprinzip dar . Der Universalisierungsgrundsatz nach Habermas besagt, dass „eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden können“; Jürgen Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders ., Die Einbeziehung des Anderen . Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a . M . 1996, S . 11 ff ., 60; dazu Boris Rähme, Konsens, in: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H . Werner (Hrsg .), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S . 404 ff ., 405 . Diskursethiker argumentieren entsprechend, dass das Moralprinzip nicht nur die Intuitionen einer bestimmten Kultur ausdrückt, sondern allgemein gilt; Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a . M . 1991, S . 12 . Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik . Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd . 4, Frankfurt a . M . 1980, S . 29 . John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, 10 . Aufl ., Frankfurt
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In materieller Hinsicht finden sich Hinweise auf universelle Gerechtigkeitspostulate im Sinne von interkultureller Übereinstimmung, etwa nach Kriterien der Tauschgerechtigkeit nach der goldenen Regel . Entsprechende Elemente finden sich sowohl im Hinduismus22, im Konfuzianismus, im Alten23 und Neuen Testament24 und schliesslich auch im Koran .25 Festzustellen sind auch allgemein geteilte Bedürfnisse, beispielsweise nach materiellen oder immateriellen Gütern wie Nahrung, physischer und psychischer Unverletztheit, Freiheit oder Achtung, die kulturübergreifend wirksam sind .26 Als universelle Gerechtigkeitspostulate gelten auch Elemente der Unparteilichkeit, indem es in sämtlichen Kulturen als ungerecht empfunden wird, eine Person für eine Tat zu verurteilen, die sie nicht begangen hat .27 5 unIversalIsIerunG rechtsstaatlIcher elemente: konzept oder faktIzItät? Eine aktuelle Forderung des universalistischen Rechtsverständnisses besteht auch hinsichtlich der Ausgestaltung rechtsstaatlicher Elemente . Dazu gehört beispielweise die Diskussion über ein nicht entsprechend der nationalstaatlichen Sichtweise konzipiertes Demokratieverständnis .28 Im Rahmen der EU stützt sich dieses Verständnis etwa auf eine Ebenen übergreifende Parlamentarisierung in Form der Unionsbürgerschaft ab, sodass nicht der Staat als Voraussetzung für Demokratie, sondern Demokratie (allmählich) als Grundbedingung für die Entwicklung überstaatlicher, supranationaler Organisationen zu verstehen ist .29 Auch hier zeigt sich eine Form von Universalisierung, indem ein staatspolitischer Begriff wie Demokratie durch die Erweiterung ihres Eigenverständnisses in die überstaatliche Ebene, in supranationale Strukturen, hineinwächst und dort zu einem wichtigen Legitimationskriterium wird .30
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a . M . 1998, S . 159 ff . Mahabharata XIII, Vers 5571 . Tob 4,16 . Mt 7,12; Lk 6,31 . Daniela Kühne, Recht und Kultur in Konflikt? Normativität und kulturelle Philosophie in der Frage der Menschenrechte, in: Edward Schramm/Wibke Frey/Lorenz Kähler/Sabine MüllerMall/Friederike Wapler (Hrsg .), Konflikte im Recht – Recht der Konflikte . Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Tübingen und Göttingen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP Beiheft Nr . 125, Stuttgart 2010, S . 97 ff ., 107 . Dazu Mahlmann (Fn . 2), § 29 Rz . 7 . Bzw . bei einer Sippenhaft: wenn die betreffende Person mit der Tat nicht in Beziehung gebracht werden kann . Vgl . dazu die weiteren Beispiele bei Walter Ott, Grundriss-Skriptum Rechtsphilosophie, 6 . Aufl ., Zürich 2007, S . 65 ff . Dazu Seyla Benhabib, Kosmopolitismus und Demokratie . Eine Debatte mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka, hrsg . v . Robert Post, übersetzt von Thomas Atzert, insb . S . 43 ff . Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass sich die Unionsbürgerschaft juristisch aus der Staatszugehörigkeit eines Mitgliedstaates und insofern aus nationalstaatlichen Elementen ableitet; Art . 20 Abs . 1 AEUV; ABl EU 2008 C 115, S . 56 ff . Dazu Jan Hauke Plassmann, Demokratie und Staat im Konflikt? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon aus interdisziplinärer Perspektive, Ancilla Iuris, er-
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In diesem Zusammenhang ist auch auf einen Aspekt hinzuweisen, den man „Unvermeidbarkeit von Universalismus“ nennen könnte . Die Frage danach, ob Universalismus sein soll, kann seit längerer Zeit das Problem der Universalisierbarkeit und das Erfordernis für Juristinnen und Juristen, sich mit dieser auseinanderzusetzen, selbst nicht mehr ausreichend erfassen . Denn die Frage nach Universalisierbarkeit kann sich nicht darauf beschränken, ob universale Gerechtigkeitsprinzipien oder Handlungsanweisungen sein sollen – sondern ist zu einem beträchtlichen Masse auch eine retrospektive Betrachtung über das Ausmass beispielsweise der bereits erfolgten Ausbreitung des rationalen Weltverständnisses der westlichen Kultur geworden . Die retrospektive Betrachtung ist paradoxerweise gerade bei politischen Entscheidungen des Gesetzgebers keine Seltenheit, da faktische Gegebenheiten die Verbreitung einer Norm in vielen Fällen bereits bewirken können . Etwa ein Beschluss im Rahmen der Vereinten Nationen für smart sanctions beliess dem schweizerischen Gesetzgeber de facto auch schon vor dem UNO-Beitritt keinen Raum der Reflexion, ob gegen Personen gerichtete Wirtschaftssanktionen im Allgemeinen überhaupt sinnvoll seien, und de facto konnte der schweizerische Gesetzgeber auch nicht darüber entscheiden, welche Personen durch die Sanktionen konkret betroffen sein sollten .31 Zum Universalisierungsgrundsatz gehört demnach auch die anachronistische Betrachtungsweise einer Dichotomie zwischen Faktizität und Konzept . 6 fazIt und ausBlIck Zum Abschluss dieser Einleitung möchte ich zurückzukommen auf die Frage, in welchen Formen sich die Universalisierbarkeit als Eigenheit der juristischen Denkweise zu verstehen gibt und welche Anforderungen aus ihr, aber auch durch sie erwachsen . Indem eine Entscheidung im Einzelfall vertretbar und immer auch in dem Mass universalisierbar sein muss, dass alle im Wesentlichen gleich gelagerten Fälle mit erfasst werden können, erweist sich das Kriterium der Universalisierbarkeit als Wesensmerkmal des Rechts, und zwar mit Bezug auf die Rechtssicherheit, aber auch darüber hinaus: Durch die Universalisierbarkeit von Ansprüchen soll die Einheit der Rechtsordnung gewahrt werden . Der Grundsatz der Universalisierbarkeit des Rechts wird mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit noch verdeutlicht, da damit das Gebot umfasst wird, dass staatliche Organe sich nicht selbst vom Recht ausnehmen können; es steht im Widerspruch zur scheint 2011; Jörn Reinhardt, Reiterativer Universalismus, in: Carsten Bäcker/Matthias Klatt/ Sabrina Zucca-Soest (Hrsg .), Recht, Sprache, Gesellschaft, Akademiekonferenz im Rahmen des Forums Junge Wissenschaft, 14 .–16 . Juli 2011 Hamburg, Tübingen 2011 (im Erscheinen) . 31 Mit dem UNO-Beitritt 2002 ist die Umsetzung der vom Sicherheitsrat erlassenen nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen für die Schweiz völkerrechtlich verbindlich geworden . In der Praxis ergaben sich daraus nur wenige Änderungen, da die Schweiz solche Massnahmen schon seit Beginn der 90-er Jahre in autonomer Weise nachvollzog: vgl . dazu die Übersicht des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) http://www .seco .admin .ch/themen/00513/00620/ index .html; zuletzt besucht am 31 .7 .2011 .
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Universalität von Normen, wenn eigene Handlungsweisen willkürlich vom sonst eingeforderten rechtsstaatlichen Verhalten ausgenommen werden . Als Moralprinzip im Recht ist der Universalismus Ausdruck einer Form von Mitbetroffenheit, die eine Verbindung oder eine Fähigkeit beinhaltet, Handlungen und Zustände anderer Personen repräsentativ ernst zu nehmen und in eine Beziehung zu Gut oder Schlecht zu setzen .32 Die universalistische Denkweise hat demnach zum Ziel, die grundlegende Bedingung, dass „alle Menschen unter einem gewissen, distanzierten Blickwinkel ‚gleich‘ sind“, festzuhalten .33 Gleichermassen impliziert dieses Moralprinzip, dass es allgemeine Verfahrensprinzipien gibt, so den kategorischen Imperativ Kants oder den Kunstgriff des Schleiers des Nichtwissens bei Rawls, um eine universalistische Moral zu begründen und um „allgemeingültige Massstäbe für die Richtigkeit einer Gesellschaftsverfassung“ festzuhalten .34 Andererseits erweist sich die Universalisierung gerade in gesellschaftspolitischen Debatten nicht nur als Instrument der Egalisierung, sondern auch der Nivellierung, wie das Beispiel der Wegnahme von Kindern Fahrender gezeigt hat .35 Das rechtliche Festhalten der generell herrschenden positiven Sozialmoral führt oftmals zu einer gleichförmigen Mehrheitsmeinung und statuiert eine political correctness, die ihrerseits das Grundrecht der freien Meinungsäusserung massiv bedrohen kann . Bereits von Savigny sprach von der „unbeschreiblichen Gewalt, welche die blosse Idee der Gleichförmigkeit nach allen Richtungen nun schon so lange in Europa ausübt“,36 und trat diesem Universalismus mit einem dezidierten Partikularismus entgegen . Die Tendenz, dass sich Rechtssysteme gerade im europäischen Kontext als offen erweisen und sich stark vereinheitlichten, überholt ein Stück weit die Frage, ob Universalisierung überhaupt sein soll . Im Vordergrund stehen verschiedene Arten flankierender Massnahmen, die beschreiben, wie die bereits weit fortgeschrittene Harmonisierung von Rechtsbestimmungen ausgestaltet werden kann, um die Partikularität der einzelnen Gesellschaften und Kulturen zu wahren . Gerade in diesem Zusammenhang ist auch abzuwägen, in welchem Mass die westliche Rechtskultur nivellierend gegenüber anderen Rechtskulturen wirkt oder ob sie Errungenschaften für Menschen, etwa ein „Recht, Rechte zu haben“,37 an andere Rechtskulturen weitergeben kann . Und genau hier stellt sich die zentrale Frage, wie dem Problem eines universalen, aber unabhängigen, neutralen Moralprinzips begegnet werden kann . Trotz der Schwierigkeit, wie überhaupt ein rechtlich-universelles Moralprinzip zu definieren 32 Matthias Kettner, Moral, in: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H . Werner (Hrsg .), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S . 410 ff ., 412 . 33 Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus: Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen 1997, S . 15 f . 34 Tönnies (Fn . 33), S . 15 f . 35 Oben, S . 143 f . 36 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S . 41 . 37 „Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen“; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft . Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 9 . Aufl ., München 2003, S . 641 .
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sei, ohne eine bestimmte Moral vorauszusetzen und damit unzulässig zu privilegieren, sollte daraus kein denkerischer Stillstand resultieren . Vielmehr besteht das Erfordernis der Transparenz: Vorgeschlagene universalistische Moralprinzipien sind als das zu verstehen, was kompetente Sprecher als Moralprinzip entdecken . Diese induktive Moralbeschreibung bleibt erfahrungsoffen, revidierbar, modifizierbar . Die Rechtfertigungsfrage und die Beurteilung von Handlungsprinzipien können nur wiederum durch ein ethisches Urteilsvermögen erfolgen, das sich seinerseits kritisch-offen hinterfragen lässt und sich darum bemüht, seine Handlungsaxiome transparent zu machen . Auch vor dem Hintergrund der universalistischen Denkweise zeigt sich die Ausbildung moralischer Sensibilität und moralischen Urteilsvermögens als unverzichtbares Korrelat rechtlicher Theoriebildung .38
38 Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner, Einleitung, in: dies . (Hrsg .), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S . 15 .
Frederik von Harbou* anspruch und anthropoloGIe: unparteIlIchkeIt und unIversalIsmus als rechtsethIsche herausforderunGen Unparteilichkeit und Universalismus werden hier im Sinne einer kosmopolitischen Ethik verstanden, deren Geltung nicht problematisiert wird . Vielmehr wird der Frage nachgegangen, wie es um die Realisierung des kosmopolitischen Anspruchs bestellt ist . Es zeigt sich, dass Tendenzen zu Parteilichkeit und Partikularismus kulturübergreifend zu beobachtende Phänomene sind . Eine Erklärung hierfür bietet die Altruismusforschung der Evolutionären Psychologie . Die Erkenntnisse dieser Disziplin, die eine entwicklungsgeschichtliche Deutung von Dispositionen der menschlichen Psyche versucht, sind aufgrund methodologischer Defizite stets kritisch zu hinterfragen; ihre Aussagen hinsichtlich des vorliegenden Gegenstands sind aber letztlich hinreichend plausibel . Aus den (empirischen) Erkenntnissen der Evolutionären Psychologie folgen jedoch unmittelbar keine (normativen) Aussagen zur Geltung oder Nicht-Geltung einer kosmopolitischen Ethik, andernfalls handelte es sich um einen naturalistischen Fehlschluss . Das Wissen einer naturwissenschaftlich informierten Anthropologie ist damit aber nicht wertlos für Ethik und Rechtsphilosophie: Neben einer instrumentellen Nutzung dieser Erkenntnisse, können sie auch eine kritische Perspektive auf bestimmte moralische Intuitionen eröffnen .
1 eInleItunG Unparteilichkeit und Universalismus stellen zumindest seit der Aufklärung zentrale Elemente einer jeden mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit auftretenden Ethik sowie hierauf basierender Rechtssysteme dar . Doch was genau ist hierunter zu verstehen? Der Begriff der Unparteilichkeit bildet einen Gegenbegriff zur Voreingenommenheit zu (Un)Gunsten einzelner Individuen oder ganzer Gruppen und kann als neutraler Standpunkt definiert werden, wie er insbesondere vom Richter in der juristischen Entscheidungssituation gefordert wird .1 Universalität bezeichnet als Gegenbegriff zu Partikularität die Allgemeingültigkeit von Normen . Beide Begriffe konvergieren in der Forderung nach einer unterschiedslosen Anwendung moralischer (und, zumindest im Fall der Menschenrechte, rechtlicher) Massstäbe, wie sie von Immanuel Kant mit dem Kategorischen Imperativ formuliert wurde .2 Der abstrakte Anspruch auf Allgemeingültigkeit bleibt dabei allerdings interpretationsbedürftig: Schliesslich – dies zeigen historische Erfahrungen, etwa der Ausschluss afroamerikanischer Sklaven von den Freiheitsgarantien der amerikanischen Verfassung – bleibt offen, auf welche Personengesamtheit sich die unterschiedslos zu behandelnde „Allgemeinheit“ bezieht . Dieser problematische Aspekt der Begriffe der Unparteilichkeit und Universalität soll hier jedoch nicht vertieft behandelt werden . Vielmehr wollen wir zur Konkretisierung dieser Normen ein kosmopolitisches
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Meinen Kollegen Peter Gailhofer und Marlis Henze danke ich herzlich für ihre hilfreichen Anmerkungen im Vorfeld der Luzerner Tagung . Vgl . auch die Beschreibung der utilitaristischen Konzeption des „unparteiischen mitfühlenden Beobachters“ bei John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1979, S . 213 f . Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 17 . Aufl ., Frankfurt a . M . 2005, BA 52 .
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Verständnis zugrunde legen:3 Für die Geltung ethischer und menschenrechtlicher Normen wird danach allein an das Menschsein ohne weitere Qualifikationen, wie insbesondere Herkunft oder Nationalität (aber auch Geschlecht, politische, religiöse, sexuelle Orientierung usw .), angeknüpft . Die normative Berechtigung einer solchen kosmopolitischen Ethik soll dabei vorausgesetzt und nicht weiter problematisiert werden . Es ergäbe sich somit auf Grundlage dieses kosmopolitischen Verständnisses der Begriffe Unparteilichkeit und Universalität die normative Forderung, moralische und rechtliche Massstäbe gleichermassen auf alle Mitglieder der menschlichen Gattung ohne Berücksichtigung ihrer besonderen Merkmale, wie etwa Herkunft oder Nationalität, anzuwenden . Soweit ist der „Anspruch“ formuliert, den wir an ethische Normensysteme mit den Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität stellen . Wie aber ist es um die empirisch beobachtbaren Fähigkeiten des Menschen bestellt, diese normativen Ansprüche einzulösen? Die Beantwortung dieser Frage soll im folgenden Teil 2 mit einer kritischen Darstellung insbesondere evolutionswissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Hypothesen zum Phänomen der Anwendung verschiedener moralischer Standards anhand von Gruppenzugehörigkeiten (sog . „Kleingruppenmoral“) versucht werden . Es wird sich dabei zeigen, dass die Annahme der Existenz „evolutionärer Fallen“4 auf dem Weg zur Durchsetzung einer kosmopolitischen Ethik durchaus berechtigt erscheint . Was aber folgt hieraus für unser Verständnis der normativen Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität? Diese Frage soll im Teil 3 beantwortet werden . Zunächst wird der Frage nachzugehen sein, ob sich geltungstheoretische Konsequenzen ergeben, sodann sollen mögliche praktische Implikationen der empirischen Erkenntnisse für eine kosmopolitische Ethik angedeutet werden . 2 kleInGruppenmoral: phänomen und evolutIonspsycholoGIsche erklärunGsversuche Aussagen über „den Menschen“ zu formulieren, ist philosophisch in mehrfacher Hinsicht gefährlich . Es gilt dabei nicht nur, den schmalen Grat zwischen metaphysischer Überhöhung und naturalistischem Reduktionismus behutsam abzuschreiten . Es droht auch immer eine essentialistische Festschreibung des menschlichen „Wesens“, welche die historische und kulturelle Wandlungsfähigkeit des Menschen verkennt und damit im schlechtesten Fall blossen Vorurteilen das Wort redet . Paradoxerweise machen aber gerade auch die Kritiker einer jeden philosophischen Anthropologie, welche den Menschen z . B . mit Richard Rorty als das „flexible, proteische, sich selbst gestaltende Tier“5 betrachten, deutlich, dass ein (zumindest implizites) 3
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Für eine frühe kosmopolitische Konzeption vgl . Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 1995, S . 21 ff ., der das Weltbürgerrecht allerdings noch auf die Regeln der Gastfreundschaft einschränkte; für eine aktuelle kosmopolitische Ethik vgl . etwa Kwame Anthony Appiah, Der Kosmopolit, München 2009 . Gerhard Vollmer, Gibt es einen sozialen Mesokosmos?, in: Volker Gerhardt/Julian Nida-Rümelin, Evolution in Natur und Kultur, Berlin/New York 2010, S . 241–260, S . 251 . Richard Rorty, Human Rights, Rationality and Sentimentality, in: Stephen Shute/Susan Hurley, On Human Rights, New York 1993, S . 111–134, S . 115 (Übers .: FvH) .
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Verständnis von der Natur des Menschen – und sei es als das instinktarme und wandlungsfähige „Mängelwesen“6 – zur „Selbstverständigung“ und als „Orientierungswissen“ unhintergehbar ist .7 Im Folgenden soll nicht versucht werden, ein umfassendes Bild des Menschen zu zeichnen, sondern vielmehr ein einzelnes Phänomen, nämlich die Tendenz zur Bildung einer Kleingruppenmoral, zu explizieren . Im Sinne einer zeitgemässen, biologisch informierten, Anthropologie sollen evolutionswissenschaftliche Erkenntnisse über den Menschen aufgenommen werden, ohne dabei einem, die Eigenständigkeit der kulturgeschichtlichen Dimension sowie der rationalen Kompetenz des Menschen leugnenden, reduktiven Naturalismus zu verfallen . 2.1 erscHeinunGsForMen der kleinGruppenMoral Wenn wir nach Akzeptanz und Verwirklichung der in der Einleitung skizzierten Ideale einer kosmopolitischen Ethik in unseren gegenwärtigen Rechts- und Moralsystemen fragen, so lässt sich zunächst konstatieren, dass es heute weltweit eine Vielzahl von Regelungen gibt, welche – häufig bereits auf der Ebene der Verfassung – Gleichheit, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Menschen, zumeist als Bürger eines Staates, einfordern .8 Konkretisiert werden diese Forderungen nach sozialer Inklusion in zunehmendem Masse durch Antidiskriminierungsgesetze .9 Daneben existiert eine bedeutende Zahl nationaler und internationaler Institutionen und Organisationen, welche sich die Bekämpfung von ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen zum Ziel gesetzt haben, so etwa der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) . Der Grad der Verwirklichung der Gleichheits- und Nichtdiskriminierungsnormen in der sozialen Realität mag äusserst schwer zu bestimmen sein .10 Angesichts der Vielzahl staatlicher und nicht-staatlicher Bemühungen auf diesem Gebiet können wir aber von der Tendenz zu einem Abbau von Diskriminierungen ausgehen, ohne dass dies eine unsere Argumentation tragende Annahme darstellen würde . Auf der anderen Seite aber gibt es nach wie vor unzählige Fälle ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen von Menschen . Die Diskriminierung anhand der ZugeArnold Gehlen, Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 14 . Aufl ., Wiebelsheim 2004, S . 20, S . 56; vgl . auch Christian Illies, Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter: Zur Konvergenz von Moral und Natur, Frankfurt a . M . 2006, S . 19 f . 7 Christian Thies, Einführung in die Philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, S . 21 . 8 Für die internationale Konstellation sei hier allein auf Art . 1 und 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verwiesen . 9 Z . B . die EG-Richtlinie 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, welche, neben drei weiteren Richtlinien, dem deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zugrunde liegt . 10 Auch die Jahresberichte des CERD erlauben keine Aussagen über quantitative Veränderungen, da sie sich jeweils auf die Situation in anderen Ländern als im Vorjahr beziehen . Die Berichte sind abrufbar unter: http://tb .ohchr .org/default .aspx?ConvType=17&docType=36 (Zugriff: 20 .06 .2011) . Für die Zukunft wären Langzeitstudien wünschenswert, möglicherweise aufbauend auf der kürzlich erschienenen Untersuchung von Hubert Rottleuthner/Matthias Mahlmann, Diskriminierung in Deutschland: Vermutungen und Fakten, Baden-Baden 2011 . 6
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hörigkeit bzw . Nichtzugehörigkeit zu bestimmten Gruppen – welche häufig mit den Begriffen Ethnozentrismus und Xenophobie beschrieben wird – scheint dabei sowohl ein überzeitliches als auch ein in lokaler Hinsicht universelles Phänomen darzustellen . In historischer Perspektive lassen sich z . B . bereits dem Alten Testament Passagen entnehmen, welche ausdrücklich zwischen der (erlaubten) Versklavung von Mitgliedern fremder Gruppen und der (verbotenen) Versklavung von Mitgliedern der eigenen Gruppe unterscheiden . So heisst es in Levitikus:11 „Wenn ein Bruder bei dir verarmt und sich dir verkauft, darfst du ihm keine Sklavenarbeit auferlegen; er soll dir wie ein Lohnarbeiter oder ein Halbbürger gelten und bei dir bis zum Jubeljahr arbeiten . Dann soll er von dir frei weggehen, er und seine Kinder, […] sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird . Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen . […] Die Sklaven und Sklavinnen, die euch gehören sollen, kauft von den Völkern, die rings um euch wohnen; von ihnen könnt ihr Sklaven und Sklavinnen erwerben . […] Sie sollen euer Eigentum sein und ihr dürft sie euren Söhnen vererben, damit diese sie als dauerndes Eigentum besitzen; ihr sollt sie als Sklaven haben . Aber was eure Brüder, die Israeliten, angeht, so soll keiner über den andern mit Gewalt herrschen .“
Ähnliche Gebote lassen sich auch den zentralen religiösen Texten anderer Religion en entnehmen .12 Neben der Religionszugehörigkeit tauchen als abgrenzende Kriterien in der Geschichte zudem immer wieder (vermeintliche) Ethnie, Sprache und – mit dem Aufkommen des modernen Staats – Nationalität auf . Der Nationalismus stellt sich dabei als ideologische Untermauerung und Zuspitzung der Identifikation mit der eigenen Gruppe der „Landsmänner“ und „-frauen“ unter gleichzeitiger Abwertung Angehöriger fremder Nationen dar . Seine extremsten Ausprägungen dürfte die Praxis der Ab- und Ausgrenzung aber in der Ideologie des Rassismus gefunden haben, welche u . a . zur Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus, der Sklaverei in Nordamerika, der Begehung von Verbrechen an Juden, Sinti und Roma sowie weiteren Minderheiten durch das NS-Regime in Deutschland und des Apartheidregimes in Südafrika diente . Doch auch heute sind Diskriminierungen, insbesondere aufgrund ethnischer oder religiöser Merkmale, auf der ganzen Welt verbreitet . Es liesse sich hier eine schier endlose Liste angeben, welche bei der Ausweisung von Angehörigen der Sinti und Roma aus Frankreich 201013 und der Anzahl der jährlich begangenen fremdenfeindlich motivierten Delikte in Deutschland anfängt14 und bis hin zu innerafrikanischen Konflikten reicht, etwa die seit 2003 andauernde Krise in der sudanesischen Region Darfur . Deutliche Tendenzen zur Diskriminierung aufgrund der Herkunft und Religion lassen sich aber auch im heutigen politischen Diskurs der Schweiz 11 3 . Buch Mose, S . 25, S . 39–46, zit . nach der Einheitsübersetzung . 12 Vgl . etwa Sure 3:118–120 des Koran . 13 Vgl . die Stellungnahme von Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, vom 14 .9 .2010: „I personally have been appalled by a situation which gave the impression that people are being removed from a Member State of the European Union just because they belong to a certain ethnic minority .“, European Commission, Justice, Newsroom, Sept . 2010, http://ec .europa .eu/justice/news/intro/news_201009_en .htm (Zugriff: 06 .02 .2011) . 14 Im deutschen Verfassungsschutzbericht sind für das Jahr 2009 18 .750 rechtsextremistische Straftaten, darunter 351 fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten, registriert, vgl . Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2009, S . 38, S . 40, abrufbar unter: http://www .verfassungsschutz .de/de/publikationen/(Zugriff: 06 .02 .2011) .
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verzeichnen . Auffällig sind hier die z . T . unmittelbar auf Abgrenzung zielenden Werbungen für bestimmte Volksinitiativen, insbesondere die beiden Initiativen „gegen den Bau von Minaretten“ (2007–2009) und „für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ (2007–2010) . Gruppenspezifische Differenzierungen schlagen sich dabei, wie im Beispiel der beiden vorgenannten (letztlich erfolgreichen) Initiativen, zuweilen auch im positiven Recht nieder .15 Die Tendenz zu Parteilichkeit und zur selektiven Anwendung moralischer und rechtlicher Normen scheint damit ein (zeitlich und örtlich) universelles Phänomen zu sein . Die verschiedenen erwähnten Erscheinungsformen können dabei unter dem Topos der „Kleingruppen-“ oder „Nahbereichsmoral“ zusammengefasst werden . Es scheint einen doppelten moralischen Standard zur Beurteilung von Mitgliedern der Eigengruppe (in-group) bzw . der Fremdgruppe (out-group) zu geben: Normen, welche zu Vertrauen, Hilfsbereitschaft und Kooperation anhalten, gelten dabei zunächst nur im Verhältnis der Gruppenmitglieder untereinander, gegenüber Fremden kehren sich die Beziehungen häufig gar zu Misstrauen und Feindseligkeit um .16 So kommen auch zahlreiche sozialpsychologische Untersuchungen zu dem Befund: „[P]eople in all cultures are more likely to help someone they define as a member of their in-group, the group with which an individual indentifies . People everywhere are less likely to help someone they perceive to be a member of an out-group, a group with which they do not identify“ .17 2.2 erklärunGsversucHe: das proGraMM der evolutionären psycHoloGie Soweit wir einmal die Existenz von Tendenzen zu Parteilichkeit und selektiver Anwendung moralischer Standards anhand der Gruppenzugehörigkeit konstatiert haben, lässt sich weiter fragen: Warum kann dieses Phänomen zeit- und kulturübergreifend beobachtet werden? Antworten auf diese Frage versucht die Evolutionäre Psychologie im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Entstehung altruistischer Verhaltensweisen zu geben . Bevor wir uns aber der Herangehensweise der Evolutionären Psychologie zuwenden, sollte ein kurzer Blick auf die beiden Vorläufer dieser Strömung geworfen werden: Ethologie und Soziobiologie . Dass sich das Prinzip der natürlichen Selektion nicht nur auf die Erklärung anatomischer und physiologischer Eigenschaften von Lebewesen, sondern auch auf erbliches Verhalten anwenden lässt, wurde bereits von Charles Darwin formuliert .18 Im 20 . Jahrhundert wurde das Projekt einer evolutionswissenschaftlichen Verhaltenslehre dann zunächst durch Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen, später auch durch Irenäus Eibl-Eibesfeldt, unter den Namen Verhaltensbiologie und Ethologie 15 So heißt es etwa in Art . 72 Abs . 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft nunmehr: „Der Bau von Minaretten ist verboten .“ 16 Vgl . auch Eckart Voland, Soziobiologie: Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz, 3 . Aufl ., Heidelberg 2009, S . 93; Gerhard Vollmer, Der Turm von Hanoi: Evolutionäre Ethik, in: Franz J. Wetz, Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, Stuttgart 2008, S . 124–151, S . 140 . 17 Elliot Aronson/Timothy Wilson/Robin Akert, Social Psychology, 7 . Aufl ., Boston u . a . 2010, S . 365 . 18 Vgl . etwa das 5 . Kapitel von Charles Darwin, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, New York/London 2006, S . 867 ff .
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fortgeführt . Ziel war dabei zunächst die Beschreibung von Instinkthandlungen als genetisch fixierte Verhaltensprogramme . Nach der klassischen Ethologie würden solche Verhaltensweisen positiv selektioniert, die einen stammesgeschichtlichen Anpassungsvorteil der Art mit sich bringen .19 Aus der klassischen Ethologie ging durch eine Reihe von Entwicklungen in den 1960er und 70er Jahren die Soziobiologie hervor . Eine scharfe Abgrenzung von Ethologie und Soziobiologie erscheint zwar kaum möglich, doch zeichnet sich letztere durch eine Konzentration auf tierisches und menschliches Sozialverhalten – insbesondere Kooperation und Konkurrenzverhalten – unter dem Paradigma der natürlichen Selektion anhand der sog . Gesamtfitness aus . Der Begriff der Gesamtfitness (inclusive fitness) geht auf William D . Hamilton zurück . Dieser konnte 1964 zeigen, dass die klassische Auffassung der (direkten) evolutionären Fitness – möglichst viele eigene Nachkommen zu besitzen, die das fortpflanzungsfähige Alter erreichen – zu eng ist und um das Konzept der indirekten Fitness mittels Verwandtenselektion (kin selection), die Erhöhung der Fortpflanzungschancen eines Verwandten, erweitert werden muss: Der genetische Gesamterfolg berechnet sich demnach aus der Summe der Gene, die durch eigene Nachkommen übermittelt und der eigenen Gene, die durch Verwandte an die nächste Generation weitergegeben werden .20 Die besondere Bedeutung der Arbeit Hamiltons’ liegt darin, den Blick weg von der Art oder Gruppe und hin zu den Genen als Replikatoren und damit Einheiten der Selektion gelenkt zu haben .21 Auf Hamiltons Werk aufbauend, formulierte der Biologe George C . Williams in seinem Buch Adaptation and Natural Selection 1966 dann auch eine umfassende Zurückweisung der vormals herrschenden Theorie der Gruppenselektion: Ein Verhalten setzt sich nicht (primär) deshalb durch, weil es der Arterhaltung, sondern weil es dem Individuum dient . Eine Selbstaufopferung zugunsten der Gruppe müsste nämlich zunächst innerhalb der Gruppe gegenüber alternativen Verhaltensweisen bestehen können – dies aber erscheint unplausibel, denn es würden ja gerade die Gene derjenigen Mitglieder weitergetragen, die sich nicht aufopfern .22 Obgleich das 1975 publizierte Werk von Edward O . Wilson, Sociobiology: The New Synthesis keine fundamental neuen Erkenntnisse enthielt und eher eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse darstellte, wurde es nicht nur für die Strömung der Soziobiologie namensgebend, sondern löste auch heftige akademische und öffentliche Kontroversen aus, die wohl in erster Linie auf den Widerspruch zwischen dem von Wilson formulierten umfassenden Erklärungsanspruch und dem weitgehenden Mangel an empirischen Belegen zurückgeführt werden kann .23 19 Illies (Fn . 6), S . 95 . 20 S . William Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour: I & II, Journal of Theoretical Biology 1964 (7), S . 1–16, S . 17–52; vgl . zur Übersicht David Buss, Evolutionary Psychology: The New Science of the Mind, 3 . Aufl ., Boston u . a . 2008, S . 13 . 21 Popularisiert wurde diese Vorstellung vom „egoistischen Gen“ 1976 durch das gleichnamige Buch von Dawkins, der den einzelnen Organismus nunmehr als „Vehikel“ zur Reproduktion der Gene begreift, s . Richard Dawkins, The Selfish Gene, 30th anniversary ed ., Oxford/New York 2006, S . 254 . 22 S . aber zur gegenwärtigen Renaissance der Theorie der Gruppenselektion Fn . 26 . 23 Insbesondere das letzte Kapitel von Sociobiology, in welchem Wilson ankündigt, die neue Disziplin werde Psychologie und Soziologie ersetzen sowie zu einer mechanistischen Erklärung des Menschen führen, bleibt hoch umstritten . Vgl . Buss (Fn . 20), S . 17; Illies (Fn . 6), S . 99 .
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Im Laufe der 1980er Jahre ging die Soziobiologie dann zu einem grossen Teil in die Evolutionäre Psychologie über . Während die Soziobiologie auf die Erklärung von beobachtbaren Verhaltensweisen gerichtet ist, werden im Rahmen der Evolutionären Psychologie die Fragestellungen der Evolutionstheorie auf die psychischen Prozesse, welche diesen Verhaltensweisen zugrunde liegen, angewendet .24 Ein wichtiger Unterschied zur Soziobiologie besteht daher in der Art der Erklärung: „Eine soziobiologische Erklärung einer Verhaltensweise versucht zu zeigen, warum sie im gegenwärtigen Fitnessinteresse der Beteiligten ist; eine evolutionspsychologische Erklärung strebt nach der Identifikation von evolutionär selektionierten psychischen Dispositionen, in einer bestimmten Weise zu handeln, auch wenn diese gegenwärtig keine Selektionsvorteile mehr mit sich bringen .“25 Kennzeichnend für die Evolutionäre Psychologie gegenüber der Soziobiologie ist zudem die Konzentration auf den Menschen als Forschungsgegenstand, wenn auch zuweilen Erkenntnisse über Tiere, insbesondere Primaten, zur Erklärung der Entwicklung der menschlichen Psyche herangezogen werden . Wie nun aber erklärt die Evolutionäre Psychologie die beschriebenen menschlichen Tendenzen zur Bildung einer Kleingruppenmoral? Diese Frage verweist zunächst auf die Erklärung moralischer – im biologischen Kontext (notwendig verkürzend): altruistischer – Verhaltensweisen allgemein . Die Erklärung von Altruismus als Ergebnis der Entwicklungsgeschichte stellt dabei ein zentrales Thema und eine der grössten Herausforderungen der Evolutionären Psychologie dar . Schliesslich scheint selbstloses Verhalten als Verschwendung von Ressourcen auf den ersten Blick der grundlegenden Hypothese des „survival of the fittest“ zu widersprechen . Aus evolutionstheoretischer Perspektive kann altruistisches Verhalten nur dann erklärt werden, wenn es gleichwohl (einst) einen Selektionsvorteil darstellt(e) . Zur Lösung des über einen langen Zeitraum für die Evolutionsbiologie scheinbar unerklärlichen „Problems“ des Altruismus sind heute insbesondere zwei Modelle weithin anerkannt: Das bereits angesprochene Prinzip der Verwandtenselektion sowie die Theorie des „reziproken Altruismus“ .26 Das Prinzip der Verwandtenselektion liefert eine plausible und darüber hinaus empirisch wohlfundierte Theorie, wie und warum die natürliche Selektion Organismen bevorzugt, die sich ihren Familienmitgliedern gegenüber uneigennützig verhalten .27 Zur Erklärung altruistischen Verhaltens gegenüber Nichtverwandten bedarf dieses Modell aber einer Ergänzung .
24 Richard Joyce, The Evolution of Morality, Cambridge 2007, S . 5 . 25 Illies (Fn . 6), S . 100 (Hervorhebung hinzugefügt) . 26 In den vergangenen Jahren ist es daneben zu einer Renaissance der Theorie der Gruppenselektion im Rahmen einer „multilevel selection theory“ gekommen, vgl . insbesondere David Wilson, Evolution, Morality and Human Potential, in: Steven J. Scher/Frederick Rauscher, Evolutionary Psychology: Alernative Approaches, Boston u . a . 2003, S . 55–70, S . 60 ff . Es handelt sich dabei zwar um einen vielversprechenden Ansatz, doch erkennen auch die Vertreter der Theorie der Multilevel-Selektion das Primat der Verwandtenselektion an . Vgl . für eine Kritik der Theorie der Gruppenselektion Voland (Fn . 16), S . 7–9 . Für zwei weitere Ansätze zur Erklärung der Entstehung altruistischen Verhaltens vgl . Detlef Fetchenhauer/Hans-Werner Bierhoff, Altruismus aus evolutionstheoretischer Perspektive, Zeitschrift für Sozialpsychologie 2004, S . 131–141 . 27 Buss (Fn . 20), S . 235 ff .; Joyce (Fn . 24), S . 21 .
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Nach der Theorie des reziproken Altruismus, die vor allem auf die Arbeiten von Robert Trivers in den frühen 1970er Jahren zurückgeht,28 können Adaptionen für helfendes Verhalten gegenüber Nichtverwandten dann entstehen, wenn die Erwartung besteht, dass diese Zuwendungen in der Zukunft erwidert werden .29 Auf die volle Ausschöpfung der persönlichen Ressourcen wird also kurzfristig verzichtet, wobei dieser Verzicht durch ein Revanchieren der Gegenseite bei anderer Gelegenheit ausgeglichen wird .30 Das Entstehen reziprok altruistischer Verhaltensweisen soll dabei insbesondere von drei Voraussetzungen abhängen: (1) ein günstiges KostenNutzen-Verhältnis, d . h . geringe Kosten für den Helfer und hoher Nutzen für den Hilfeempfänger; (2) eine hohe zeitliche Beständigkeit von Interaktionsbeziehungen, wie sie insbesondere in kleinen und stabilen Gruppen vorliegt; (3) die Fähigkeit zur Identifikation von nichtkooperativen Gruppenmitgliedern („Betrügern“) .31 Reziprok altruistisches Verhalten konnte unter verschiedenen Tierarten beobachtet werden .32 Allgemein anerkannt ist jedenfalls das Vorliegen reziproken Altruismus unter Menschenaffen – insbesondere bei Fellpflege und Nahrungsteilung: Vorangegangene Leistungen werden hier oft erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgeglichen; Folge unterlassener Kooperationsbereitschaft sind nicht selten „moralische Aggression“ und Bestrafung .33 Als Prinzipien, welche einen evolutionären Selektionsvorteil darstellen, erscheint die Annahme plausibel, dass Verwandtenselektion und reziproker Altruismus auch für die Entwicklung menschlicher altruistischer Verhaltensweisen ausschlaggebend waren . Wieso aber hat sich auf dieser Grundlage anscheinend (noch) keine allgemeine Tendenz zu universalistischer moralischer Inklusion, stattdessen aber die beschriebene Disposition zu einer Kleingruppenmoral, entwickelt? Eine Erklärung hierfür kann in den Lebensumständen der Mitglieder der Gattung Homo zur Zeit der genetischen Prägung ihres Sozialverhaltens gefunden werden . Aufgrund von Fossilienfunden wird allgemein angenommen, dass sich die genetische Ausstattung des Menschen zumindest seit dem Auftreten des Cro-MagnonMenschen vor 40 .000 Jahren nicht mehr wesentlich verändert hat . Damit kann also von einer stammesgeschichtlichen Prägung des Menschen auf ein soziales Gefüge (einen „sozialen Mesokosmos“), wie es während der Steinzeit bestand, ausgegangen werden .34 Wie aber sah dieses soziale Gefüge aus? Für fast 2 Millionen Jahre lebten unsere Vorfahren in Jäger- und Sammlergemeinschaften und waren durch ihre nomadische Lebensform und das Fehlen von Landwirtschaft auf eine bescheidene Anzahl von Mitgliedern begrenzt . Erst mit der neolithischen Revolution, dem Auf-
28 Robert Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 1971 (1), S . 35–57; vgl . auch Buss (Fn . 20), S . 17 . 29 Es handelt sich demnach im weiteren Sinn um eine Form der Kooperation oder des Tauschs, wobei die Gegenleistung nicht zeitgleich erfolgt . Vgl . Buss (Fn . 20), S . 265 . Zur Abgrenzung von anderen Formen kooperativen Verhaltens vgl . Voland (Fn . 16), S . 69 ff . 30 Voland (Fn . 16), S . 70 . 31 Fetchenhauer/Bierhoff (Fn . 26), S . 134 . 32 Ob es sich bei den ursprünglich (und auch heute noch häufig) angeführten Fällen – z . B . das Verhältnis von Putzerfisch und Wirt – tatsächlich um Fälle reziproken Altruismus handelt, ist jedoch umstritten . 33 Voland (Fn . 16), S . 77 ff . 34 Vollmer (Fn . 4), S . 242 .
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kommen von Ackerbau und Viehzucht, um 10 .000 v . Chr . wurden die Menschen sesshaft, bildeten erste Dorfgemeinschaften und Städte .35 Ein wichtiges Merkmal des sozialen Mesokosmos ist damit die Anzahl der Gruppenmitglieder . Nach Schätzungen lag diese bei etwa 80 bis 150, jedenfalls aber maximal wenigen hundert persönlich bekannten, zu einem erheblichen Teil verwandten, Individuen .36 Damit erfüllten die sozialen Gefüge der Jäger- und Sammlergemeinschaften die Bedingungen für altruistisches Verhalten nach den Theorien der kin selection und des reziproken Altruismus . Selbst Kritiker der gegenwärtigen Ausrichtung der Evolutionären Psychologie auf das „egoistische Gen“, wie etwa David Sloan Wilson, erkennen an: „There is little doubt that we are psychologically adapted as a species to interact in small face-to-face groups of no more than a few hundred individuals .“37 Inwieweit es über die erwähnten Prinzipien der kin selection und des reziproken Altruismus weitere genetische Faktoren für die Entwicklung einer Kleingruppenorientierung gibt, soll hier offen gelassen werden . Verschiedene Theorien wurden formuliert, die eine Tendenz zu „ethnischem Nepotismus“ aufgrund genetischer Ähnlichkeiten zwischen Gruppenmitgliedern annehmen .38 Diese bleiben jedoch umstritten . Da eine Identifizierung der Gruppenzugehörigkeit sehr häufig anhand anderer Kriterien als der gemeinsamen Ethnie vorgenommen wird – z . B . eine geteilte Religions- oder Altersgruppenzugehörigkeit – spricht vieles dafür, dass hier in erster Linie kulturelle Faktoren eine Rolle spielen . 2.3 kritik der evolutionären psycHoloGie Obgleich die fundamentalen Kontroversen um die evolutionswissenschaftliche Beschreibung menschlichen Verhaltens bereits in den 1970er Jahren stattfanden und die Evolutionäre Psychologie seither vermehrt wissenschaftliche Anerkennung findet, bleiben verschiedene grundlegende Aspekte dieses Forschungszweigs umstritten . Hier sollen drei zentrale Einwände angesprochen werden: der Vorwurf der methodologischen Schwäche, die Kritik am Adaptionismus sowie der Vorwurf eines genetischen Determinismus . Zuweilen wird der Einwand erhoben, dass bereits die Methoden der Evolutionären Psychologie defizitär seien und damit den „Nachweis für genetische Anlagen der menschlichen Verhaltensweisen […] schuldig [bleiben]“ .39 Den experimentellen Naturwissenschaften vergleichbare Beweismethoden (im Sinne der Wiederholbarkeit und Vorhersagbarkeit) können historische Erklärungen tatsächlich nicht bieten 35 Thomas Junker, Die Evolution des Menschen, München 2006, S . 107 ff . 36 Vollmer (Fn . 16), S . 140; vgl . auch den Eintrag in der Encyclopedia Britannica Online „social behaviour, animal“, bearb . von Janis Dickinson/Walter Koenig (Zugriff: 09 .02 .2011) . 37 Wilson (Fn . 26), S . 67 . An dieser Stelle sei Prof . Dr . Werner Egli (Luzern) für seinen freundlichen Hinweis auf alternative Ansätze gedankt, konkret auf Jürg Helbling, Theorie der Wildbeutergesellschaft: Eine ethnosoziologische Studie, Frankfurt a . M . 1987 . 38 Vgl . zur Übersicht Kevin McDonald, An Integrative Evolutionary Perspective on Ethnicity: Politics and the Life Sciences, Long Beach 2001, S . 67–79 . 39 Matthias Mahlmann, Rationalismus in der praktischen Theorie: Normentheorie und praktische Kompetenz, 2 . Aufl ., Baden-Baden 2009, S . 256 .
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– dies gilt allerdings für die gesamten Evolutions-, wie auch die Geschichtswissenschaften . Tatsächlich sind evolutionspsychologische Hypothesen gegenüber evolutionären Erklärungen anatomischer Entwicklungen insofern schwächer, als sie sich auf Verhaltensweisen beziehen und diese selbst naturgemäss keine Fossilien hinterlassen . Zur Kompensation dieses Mangels können aber z . B . archäologische Funde herangezogen werden, welche Anhaltspunkte für bestimmte Verhaltensweisen und damit indirekt für psychische Dispositionen bieten .40 Eine der wichtigsten Erkenntnisquellen – und häufig der Ausgangspunkt für evolutionspsychologische Hypothesen – ist aber die Beobachtung kulturübergreifender Verhaltensuniversalien beim Menschen .41 Allerdings ist zu beachten, dass „der Rückgriff auf kulturelle Universalien kein Schlüssel zur menschlichen Natur [ist]“ .42 Denn selbstverständlich können sich gewisse Verhaltensweisen aus rein praktischen Erfordernissen oder auch bloss zufällig auf kultureller (statt auf genetischer) Ebene parallel in verschiedenen Gesellschaften ausbilden . Der kulturelle Einfluss auf die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen lässt sich jedoch durch Mensch-Tier-Homologien weitgehend isolieren . Da die Evolution keine „Sprünge“ kennt, können Vergleiche mit anderen Tierarten herangezogen werden, insbesondere mit Primaten .43 Wichtig ist insgesamt zu beachten, dass die Methoden der Evolutionären Psychologie nicht in isolierter Anwendung, sondern erst im Zusammenspiel hinreichend verlässliche Aussagen erlauben . Wenn ein menschliches Verhalten etwa sowohl über Kulturgrenzen hinweg als Universalie beobachtet werden kann, zudem bei bestimmten Primaten vorliegt und mit archäologischen Erkenntnissen über die Lebensbedingungen zur Zeit der genetischen Prägung des Menschen übereinstimmt, liegt der Schluss auf eine genetische Disposition zu einer solchen Verhaltensweise sehr nahe . Als besonders einflussreich erwies sich darüber hinaus die 1979 von Stephen J . Gould und Richard Lewontin formulierte Kritik am adaptionistischen Programm der Evolutionswissenschaften .44 Dass neben der Anpassung auch andere Faktoren im Prozess der Evolution eine Rolle spielen, wurde bereits von Darwin bemerkt,45 seither jedoch, so die Kritik von Gould und Lewontin, weitgehend vernachlässigt . Drei Kategorien von Evolutionsfaktoren – Adaptionen, Nebenprodukte von Adaptionen sowie blosser Zufall (z . B . Gendrift) – sind heute allgemein anerkannt . Hypothesen über die Evolution bestimmter Merkmale als Adaptionen sind vor diesem Hintergrund immer kritisch zu hinterfragen . Allerdings lassen sich auch plausible 40 41 42 43
Für einen allgemeinen Überblick über die Methoden vgl . Buss (Fn . 20), S . 59 ff . Vgl . etwa Joyce (Fn . 24), S . 5; Vollmer (Fn . 4), S . 242 . Mahlmann (Fn . 39), S . 257 . Es gilt dabei jedoch zu beachten, dass sich die Entwicklungslinien des modernen Menschen und unseres nächsten lebenden Verwandten, des Schimpansen, bereits vor 5–8 Mio . Jahren getrennt haben . Daher sind entsprechende Daten mit Vorsicht zu interpretieren . Gleichwohl legen Verhaltensmuster, die sowohl kulturübergreifend beim Menschen als auch bei Primaten beobachtet werden, einen gemeinsamen evolutionären Ursprung sehr nahe: Ein analoger Einwand wäre schließlich bezüglich der Entwicklungsgeschichte anatomischer Eigenschaften, z . B . zwei Augen und zwei Hände mit je fünf Fingern zu besitzen, verstörend . 44 Stephen Gould/Richard Lewontin, The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique Of The Adaptationist Programme: Proceedings Of The Royal Society of London, London 1979, S . 581–598 . 45 Charles Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection, 6 . Aufl ., New York 1909, S . 519; vgl . auch Gould/Lewontin (Fn . 44), S . 589 .
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Kriterien für die jeweilige Zuordnung zu einer der genannten Kategorien angeben, insbesondere die Funktionalität zur Lösung elementarer Überlebens- und Reproduktionsprobleme .46 Adaptionen können zudem, aufgrund der sehr langen Entwicklungszeiträume und der selektiven Vorteile, die sie gewähren, weiterhin als die primären Evolutionsfaktoren betrachtet werden .47 Ein dritter Einwand gegen die Evolutionäre Psychologie betrifft die Frage, inwieweit diese das Bild einer Determination des Menschen durch dessen genetische Anlagen zeichnet und damit sowohl die Möglichkeit individueller Entscheidungsfreiheit als auch die Bedeutung kultureller Entwicklungen ausblendet .48 Tatsächlich scheint einem Forschungsprogramm, welches nach kausalen, entwicklungshistorischen Erklärungen für psychische Dispositionen des Menschen sucht, die Gefahr, einem genetischen Determinismus das Wort zu reden, inhärent . Gleichwohl werden kulturelle und rationale Faktoren kaum je von Evolutionspsychologen geleugnet . Inwieweit entwicklungsgeschichtliche Anlagen gegenüber kulturellen Lernprozessen und individuellen Entscheidungen wirksam sind, ist ja gerade die zentrale – und ergebnisoffene – Forschungsfrage der Evolutionären Psychologie . Die Kritik ist gleichwohl nützlich, da sie noch einmal verdeutlicht, dass es sich bei den beschriebenen Phänomenen keineswegs um unausweichliche Determinationen handelt, sondern Menschen aufgrund ihrer kulturellen Errungenschaften und rationalen Fähigkeiten immer auch zur Transzendenz bestimmter Muster in der Lage sind . Statt von genetischen Determinationen sollte daher konsequent nur von Dispositionen oder Potentialen die Rede sein .49 Je nach äusseren Umständen und dem Mass einer rationalen Korrektur können sich Potentiale dann zu aktuellen Einstellungen und Verhaltensweisen verdichten – oder auch nicht . Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Kritik der Evolutionären Psychologie aufgrund der genannten Defizite zwar keine Verwerfung des gesamten Forschungsprogramms, wohl aber eine kritische Hinterfragung ihrer einzelnen Forschungsresultate erforderlich macht . Hinsichtlich der hier behandelten Ausbildung altruistischer Verhaltensweisen erscheinen die evolutionspsychologischen Erklärungen einer überlebensfunktionalen menschlichen Verhaltensuniversalie, welche im Einklang mit den Lebensbedingungen zur Zeit der genetischen Prägung des Menschen steht und sich darüber hinaus in ähnlicher Form auch bei Tieren beobachten lässt, aber als hinreichend plausibel .
46 Ein Beispiel stellen Nabelschnur und Bauchnabel dar: Während die Nabelschnur aufgrund ihrer überlebenswichtigen Funktion als Adaption betrachtet werden kann, ist der Bauchnabel als notwendiges Nebenprodukt dieser Anpassungsleistung (aber nicht als eigenständige Adaption) und die spezifische Form eines individuellen Bauchnabels wiederum als reines Zufallsprodukt anzusehen . S . Buss (Fn . 20), S . 39 ff . 47 Buss (Fn . 20), S . 42 . 48 Mahlmann (Fn . 39), S . 264 . 49 So auch, mit einer weiterführenden Diskussion: Wilson (Fn . 26), S . 64 ff .
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3 ImplIkatIonen für unser verständnIs von unparteIlIchkeIt und unIversalItät Was folgt nun in normativer Hinsicht aus der Annahme genetischer Dispositionen zu einer Kleingruppenmoral? Sollten wir unsere kosmopolitische Ethik und die mit ihr verknüpften Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität aufgeben, da sie anscheinend unseren Anlagen nicht optimal entsprechen? Dass eine solche Verknüpfung der Evolutionstheorie mit der Ethik, wie sie insbesondere von der sog . (normativen) Evolutionären Ethik vorgenommen wurde, einen gravierenden „Kurzschluss“ darstellen würde und daher völlig zu Recht einen denkbar schlechten Ruf geniesst,50 hat sowohl historische als auch theoretische Gründe . Das Erheben (vermeintlicher!) evolutionärer Selektionsprinzipien – wie das Streben nach „Arterhaltung“ – zu Normen der Ethik sowie gesellschaftlicher Organisation findet sich in den Werken zahlreicher Philosophen und Biologen des 19 . und 20 . Jahrhunderts, wie etwa Herbert Spencer, Thomas Henry Huxley, Ernst Haeckel und z . T . auch Konrad Lorenz . In ihrer Umsetzung zeitigten diese Vorstellungen in der Form einer von der Ideologie des Sozialdarwinismus geleiteten Politik im 20 . Jahrhundert katastrophale Konsequenzen . Sie dienten der Rechtfertigung einer rassistischen Ideologie, rücksichtsloser Expansionsbestrebungen sowie grausamer Verbrechen, wie etwa der Euthanasie im Nationalsozialismus .51 Doch wurde das Programm der Evolutionären Ethik nicht nur durch diese historischen Auswüchse diskreditiert, sondern zuvor bereits durch George Edward Moores Principia Ethica (1903) auch in theoretischer Hinsicht eindrucksvoll widerlegt . Moore reformulierte dabei die bereits in David Humes Frühwerk, dem Treatise of Human Nature (1739–40), enthaltene Einsicht der logischen Unmöglichkeit der Ableitung eines Sollens aus einem Sein .52 Moore hüllte nun „Humes Gesetz“ in ein neues, begriffsanalytisches, Gewand: Danach liesse sich die Bedeutung des Wortes „gut“ (im absoluten, nicht im instrumentellen Sinn verstanden) unmöglich ohne Verlust auf einen anderen Begriff reduzieren . Jede in der Geschichte der Ethik vorgenommene Identifikation des „Guten“ mit einem bestimmten (deskriptiven) Kriterium, z . B . dem Glück (oder auch der Nützlichkeit) im Utilitarismus, begehe unweigerlich einen „naturalistischen Fehlschluss“ .53 Moore begründet dies mit dem sog . Open Question-Argument: Wäre eine Identifikation des „Guten“ mit einem anderen Begriff möglich, so wäre die Frage, ob dieses Kriterium (z . B . das Glück) „gut“ sei, tautologisch, zumindest aber trivial . Dies aber ist nicht der Fall: Die Frage, ob (das Erstreben von) Glück gut ist, ist nicht gleichbedeutend mit der Frage, ob Glück Glück ist . Es lässt sich also, gleich welcher Massstab an das „Gute“ angelegt wird, immer wieder fragen, ob dieses Kriterium seinerseits „gut“ ist . Jeder Versuch, „gut“
50 Besonders prägnant formuliert hat dies Michael Ruse, Evolutionary Naturalism, London 1995, S . 233: „Evolutionary ethics is one of those subjects with a bad philosophical smell . Everybody knows (or ‘knows’) that it has been the excuse for some of the worst kinds of fallacious arguments in the philosophical workbook .“ 51 Für einen kritischen Überblick s . Paul Farber, Temptations of Evolutionary Ethics, Berkeley u . a . 1994; für eine weitere historische Diskussion vgl . Ruse (Fn . 50), S . 223 ff . 52 David Hume, A Treatise of Human Nature, Oxford 2008, SB 469 . 53 George Edward Moore, Principia Ethica, Cambridge 2002, S . 62 .
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abschliessend zu definieren, ist damit nach Moore als naturalistischer Fehlschluss zum Scheitern verurteilt .54 Beim Argument des naturalistischen Fehlschlusses handelt es sich um einen (der wenigen) sehr weit anerkannten Lehrsätze innerhalb der Philosophie; selbst der wohl bedeutendste Angriff auf ihn, John Searles sprachphilosophische Kritik, mit der er den „naturalistic fallacy“ in einen „naturalistic fallacy fallacy“ zu wenden versuchte,55 vermag nicht zu überzeugen; richtet sich aber auch bereits nur gegen die besondere Situation des „Versprechens“ (in der nicht-reflexiven Verbform) . Es ist daher festzuhalten, dass aus Erkenntnissen über die evolutionären Grundlagen der Moral keinesfalls unmittelbar ethische Gehalte abgeleitet werden sollten . Es bleibt damit also die Kluft zwischen unseren genetischen Dispositionen und dem Anspruch an eine kosmopolitische Ethik zu konstatieren . Wenn nun aber kein direkter Zusammenhang zwischen genetischen Anlagen und der Geltung einer Ethik besteht, können evolutionswissenschaftliche Erkenntnisse dann überhaupt einen Wert für Ethik und Rechtsphilosophie, im Besonderen für die normativen Forderungen nach Unparteilichkeit und Universalität, besitzen? Zwei mögliche Anknüpfungspunkte kommen hier in Betracht: Ein instrumenteller Nutzen der Erkenntnisse sowie die Eröffnung einer kritischen Perspektive . Zunächst kann zwischen einer prinzipiellen und einer instrumentellen Dimension der Ethik unterschieden werden . Eine in diesem Sinn prinzipielle Seite der Ethik formuliert kategorische Imperative, sie stellt Normen auf ohne besondere Rücksicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten . Hier haben wir eine kosmopolitische Ethik zugrunde gelegt . Wir haben bereits gesehen, dass sich deren kategorische Imperative – wie diejenigen einer jeden anderen Ethik – nicht aus empirischen Erkenntnissen ableiten (oder durch diese widerlegen) lassen . Was aber gilt für die instrumentelle Seite der Ethik? Hierunter sind hypothetische Imperative zu verstehen, die bereits auf der Akzeptanz grundlegender Normen aufbauen und nur die Bedingungen einer optimalen Erfüllung dieser Normen angeben . In unserem Fall stellt sich also die Frage, wie wir eine optimale Realisierung der Normen der Unparteilichkeit und Universalität erreichen können . Hierfür aber scheinen die Erkenntnisse über genetische Dispositionen zur Bildung einer Kleingruppenmoral durchaus gewinnbringend . Hier sollen nur zwei Beispiele für eine solche instrumentelle Nutzung des Wissens genannt werden . Zunächst lässt sich etwa annehmen, dass zur Beförderung der Menschenrechte gerade auf Mechanismen der Identifikation und Gruppenzugehörigkeit Wert gelegt werden sollte . Wenn das fundamentale Problem der Durchsetzung der Menschenrechte weniger in der prinzipiellen Anerkennung der Berechtigung der Menschenrechte als solcher, als vielmehr in deren Reichweite, d . h . der Frage, für wen sie gelten sollen, liegt, dann sollte eine Strategie zur Förderung dieser Rechte in erster Linie auf eine Inklusion ausgegrenzter Minderheiten setzen . Als weitere instrumentelle Anpassung kommt auch eine verstärkte Anwendung des Prinzips der Subsidiarität in Betracht: Wenn sich nämlich Interaktions- und Vertrauensverhältnisse primär innerhalb von Kleingruppen konstituieren, dann scheint es im Sinne der Effizienz auch sinnvoll zu sein – ohne Abstriche hinsichtlich 54 Vgl . zum Open-Question-Argument Moore (Fn . 53), S . 68 . 55 John Searle, How to Derive “Ought” from “Is”, The Philosophical Review 1964, S . 43–58 .
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der erstrebten normativen Ziele zu machen –, möglichst viele Gestaltungskompetenzen auf lokaler Ebene zu belassen anstatt sie zu zentralisieren . Zuletzt besteht eine weitere Funktion evolutionswissenschaftlicher Erkenntnisse für Ethik und Rechtsphilosophie in ihrem kritischen Potential .56 Diese Erkenntnisse können uns nämlich dazu bringen, die gegenwärtige normative Berechtigung bestimmter ethischer Intuitionen als Produkte der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu hinterfragen . Sie ermöglichen somit auch eine rationale Transzendierung moralischer Intuitionen und die Bildung eines kohärenten und konsistenten Normensystems . Auf diesem Weg können sie – ganz im Gegensatz zum Determinismusvorwurf, der gegen die Evolutionäre Psychologie erhoben wird – gerade zu einer Loslösung von bislang unhinterfragten Einstellungen führen . Erst das Wissen um die „Fallen der Evolution“ mag uns davon abhalten, in sie hinein zu laufen .
56 Dies gilt allerdings nur, soweit bereits eine entsprechende grundsätzliche Orientierung an einer kosmopolitischen Ethik vorliegt; andernfalls besteht die Gefahr, dass evolutionswissenschaftliche Erkenntnisse im Gegenteil apologetisch, etwa zur Rechtfertigung bestehender Ungleichbehandlungen, missbraucht werden .
sabrina zucca-soest zur unIversalItät von normen Die Universalität von Normen formuliert ein höchst voraussetzungsvolles Prinzip . Umstritten ist, ob Universalität als ethisches Prinzip zur Begründung und Legitimation von Recht gesetzt werden kann und/oder soll . Denn faktisches Recht wirkt als funktionale Umsetzung von normativen Werten und Normen sozialer Gemeinschaften . Es erlangt dann Geltungskraft, wenn es von mindestens einem Teil der Gemeinschaft anerkannt wird . Während diese Normen sich in ihrer historischen Kontingenz und bezüglich der kulturellen Gegebenheiten von partikularen Gemeinschaften unterscheiden, müssen universelle Normen dagegen in allen Kulturen Geltungskraft begründen können . Um dieser Problematik begegnen zu können, wird der metatheoretisch gesetzte normativ-faktische Zugang im Gegensatz zum sprachphilosophisch begründeten, normativ-universalistischen konzeptualisiert . Nach ersterem führt die komplexe Interaktion der Gemeinschaftsmitglieder zu Recht als einem kontingenten sozialem Ergebnis, das so Stetigkeit und dadurch eine Zunahme an Geltungskraft erfährt . Nach letzterem ist die normative Kraft von Werten und Normen rational begründbar und von daher in ihrer Entstehung nachkonstruierbar wie auch erneuerbar . Anhand des universalpragmatischen Ansatzes wird eine Möglichkeit der rationalen, normativen und intersubjektiv verfassten Begründung der Universalität von Normen nachgezeichnet .
1 BeGründBarkeIt von unIversellen normen Die Universalität bzw . Universalisierung von Normen formuliert einen höchst voraussetzungsvollen Anspruch . Bereits die Begründung bzw . Rechtfertigung der Rechtsnorm einer konkreten Rechtsordnung erweist sich als komplex . Umso voraussetzungsvoller ist es, wenn eine Norm1 universelle Geltung2 beanspruchen können soll . Universelle Normen, als allgemeinere moralische Handlungsorientierungen, stehen in einem vielschichtigen Verhältnis zu faktischen Rechtsnormen partikularer Rechtsordnungen . Denn faktisches Recht wirkt als funktionale Umsetzung moralischer Normen,3 die wiederum in einem engen Verhältnis zu der mit ihnen verbundenen Rechtsgemeinschaft stehen . Normen im Sinne allgemeiner Handlungsorientierungen können deskriptiv und präskriptiv4 begründet werden . Während ersteres eingelebte, faktisch konstatierbare Handlungsregeln5 fokussiert, umfasst letzteres solche Handlungsorientierungen, und zwar als reale Möglichkeit des Sollens, für die ein 1 2
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Zum hier verwendeten Normbegriff siehe Kapitel 1 .3 Normen und Werte . Vgl . Günter Nooke, Universalität der Menschenrechte – Zur Rettung einer Idee, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal?, Freiburg 2008, S . 16–46; vgl . auch Georg Lohmann, Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal?, Freiburg 2008, S . 47–60 . Bezogen auf das Völkerrecht vgl . u . a . Thomas Cottier, Das Völkerrecht im Spannungsfeld von Nationalstaatlichkeit und Universalität, ZfP 2010, S . 156–169, S . 156; vgl . auch Rolf Zimmermann, Zur Begründung der Universalität von Menschenrechten, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, Berlin 2008, S . 17–31 . Vgl . Friedrich Kambartel, Norm, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004; Wilhelm Vossenkuhl, Normativ Deskriptiv, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007 . Vgl . das Konzept der „normativen Kraft des Faktischen“ bei Max Weber und Georg Jellinek .
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moralischer Rechtfertigungsanspruch6 erhoben wird . Die konkrete Rechtsnorm eines Rechtssystems wie auch die allgemeine moralische Norm als Handlungsorientierung erlangt dann Geltungskraft, wenn sie von mindestens einem Teil der Gemeinschaft, die diesem Normensystem unterworfen ist, anerkannt wird . Bereits an dieser Stelle sieht man sich mit einer Reihe fundamentaler Fragen konfrontiert: Widersprechen universelle Normen nicht dem Eigenrecht der Kulturen? Oder sind universelle Normen etwas, das jeder Kultur eigen ist? Und wenn ja, was ist es, dass allen Kulturen eigen ist und aus dem sich universelle Normen als Grundlage für konkrete Rechtsnormen speisen sollen? Diese fundamentalen Problemzusammenhänge erfordern eine Konkretisierung des Zugangs auf ebenso grundlegender methodologischer Ebene . Um der umrissenen Problematik von der Begründung universeller Normen begegnen zu können, muss daher zunächst in der hier gebotenen Kürze darauf eingegangen werden, in welchem Sinne die Begriffe Begründung, Universalität und Normen in diesem Beitrag Verwendung finden . 1.1 zur beGründbarkeit Der Begriff Begründung ist ein häufig synonym mit Rechtfertigung verwendeter Terminus .7 In der praktischen Philosophie wird der Begriff Rechtfertigung für die Begründung von praktischen Orientierungen, insbesondere Zwecksetzungen und (moralischen) Handlungsregeln verwendet .8 Auf das Problem, ob sich Sätze dieser Art überhaupt in einem rationalen Sinne rechtfertigen lassen,9 kann hier nur verwiesen werden . Festzuhalten bleibt, dass im Positivismusstreit die Position vertreten wird, dass bei einer Argumentation für oder gegen praktische Orientierungen letztendlich auf Dezisionen oder subjektive Werthaltungen10 als letzte Voraussetzungen zurückgegriffen werden muss . Hingegen sind Bemühungen um Verfahren und Bedingungen einer transsubjektiven und eben universellen Begründung von Handlungsorientierungen davon strikt zu scheiden .11 Ob partikular oder universell, es muss eine zustimmungsfähige (rationale) Begründung bzw . Rechtfertigung der Normen vorliegen, denn diese gewinnen nur durch die Anerkennung der Normunterworfenen an Geltungskraft . Dementsprechend gilt eine theoretische Behauptung (Aussage) oder praktische (normative) Orientierung genau dann als begründet, wenn sie gegenüber allen vernünftig argumentierenden Gesprächspartnern zur Zustimmung gebracht werden kann .12 Die Einsicht, dass ein begründeter (theoretischer oder praktischer) Satz vorliegt, wird durch Ausarbeitung eines Argumentationsverfahrens für beliebige rationale Dialoge, der so genannten Begründung, gewonnen .13 Begründungen lassen sich 6 7 8 9 10 11 12 13
Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . Friedrich Kambartel, Rechtfertigung, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 510 . Kambartel (Fn . 8), S . 510 . Vgl . Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt a . M . 2005; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3 . Aufl ., Kronberg 1976 . Kambartel (Fn . 8), S . 510 . Friedrich Kambartel, Begründung, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar, S . 272 . Kambartel (Fn . 12), S . 272 .
Zur Universalität von Normen
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demnach als rationale Argumentationsverfahren beschreiben . Eine solche Konzeptualisierung von Begründung bzw . Rechtfertigung enthält drei zu nennende Kriterien vernünftiger Argumentation, die die Rede von Begründung erst ermöglichen:14 (1) Ein rationaler Dialog ist unvoreingenommen, d . h ., jeder Teilnehmer ist bereit, die von ihm explizit vorgeschlagenen oder stillschweigend vorausgesetzten Orientierungen zurückzustellen, soweit sie nicht gemeinsam erarbeiteter Zustimmung fähig sind . (2) Ein rationaler Dialog ist zwanglos, d . h ., in ihm treten keine Zustimmungs- oder Ablehnungsakte auf, die lediglich auf damit verbundene offene oder verschleierte Zwänge (Sanktionserwartungen) zurückzuführen sind . (3) Ein rationaler Dialog ist nicht persuasiv, d . h ., in ihm wird Gemeinsamkeit nicht auf Grund der Argumentationsschwächen einiger Teilnehmer zugunsten anderer Teilnehmer erschlichen . Die Begründbarkeit von Normen umschließt in ihrer Art und Weise also bestimmte (Argumentations)Logiken, die bereits die Grenzen der Geltungskraft beschreiben . Normen müssen begründet sein, wenn sie anerkannt sein sollen . Das bedeutet nicht, dass Normen nicht auch durch Sozialisation und alltägliche Anwendung Geltungskraft erlangen können .15 Wird diese Norm strittig, müssen Begründungen im Diskurs angeführt werden . Werden universelle Normen begründet, müssen die Bedingungen des rationalen Begründungsprozesses alle Teilnehmer umfassen können, damit die Norm an Verallgemeinerbarkeit gegenüber allen Teilnehmern wie auch durch alle Teilnehmer gewinnen kann . Dies kann jedoch in unterschiedlicher Weise konzeptualisiert werden . 1.2 MoraliscHe universalisierunG und etHiscHe universalität Dem Begriff der Universalität bzw . Universalisierung könnte ein eigener Beitrag gewidmet werden, so umfangreich gestalten sich die verschiedenen theoretischen Konzeptionen . Hier soll im Folgenden lediglich aufgezeigt werden, inwiefern die Universalisierung bzw. Universalität von Normen, verstanden als normativ-moralische Handlungsorientierungen, diesem Beitrag zu Grunde gelegt wird . Der Begriff der Universalisierung fußt auf einer langen Historie und findet insbesondere in der Anknüpfung an die Moralphilosophie von Immanuel Kant seinen Niederschlag, dessen kategorischer Imperativ in seinen unterschiedlichen Rezeptionen häufig als paradigmatisch für Formen der ethischen Universalisierung angesehen wird .16 Dies lässt sich auch dann konstatieren, wenn die verschiedenen Anknüpfungen an den kategorischen Imperativ äußerst verschieden ausfallen und nach wie vor Gegenpositionen17 zu universalistischen Moralbegriffen bestehen .
14 Kambartel (Fn . 12), S . 272 . 15 Vgl . u . a . Julian Nida-Rümelin, Ethische Begründung, in: Stephan Sellmaier/Erasmus Mayr (Hrsg.), Normativität, Geltung und Verpflichtung, Stuttgart 2011, S . 35–56 . 16 Vgl . Reiner Wimmer, Universalisierung, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 200 . 17 Vgl . exemplarisch als aktuelle Gegenposition Alasair MacIntyre/Stanley Hauerwas, Changing Perspectives in Moral Philosophy, Notre Dame/London 1983 .
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In den moralphilosophischen und metaethischen Debatten seit etwa 1960 treten neben „Universalisierung“ und „Universalisierbarkeit“ Begriffe wie „Verallgemeinerung“, „Verallgemeinerbarkeit“ oder „Verallgemeinerungsfähigkeit“ moralischer Ausdrücke und Urteile .18 Während Universalisierung ein Terminus für Verfahren der Verallgemeinerung von Handlungsorientierungen19 darstellt, wird der Terminus Universalität in seinem ethischen Gebrauch zur Kennzeichnung von Begriffen praktischer Geltung gebraucht .20 Die deskriptive Lesart von Moral beschreibt faktische handlungsanleitende Regeln, während die normative Lesart den Fokus auf das Warum jener moralischen Orientierungen legt, die als gerechtfertigt beurteilt, eben als vernünftig begründet anerkannt werden können .21 Eine ethische Universalität22 zielt demnach auf die praktische Geltung von Moral als handlungsanleitender Institution23 . „Während die angelsächsische Diskussion um die Universalisierung sich in metaethischer Perspektive der begrifflichen Logik moralischer Ausdrücke und Urteile zuwendet und Universalisierung als Herstellen von Konsistenz versteht und in normativ-ethischer Perspektive nach materialen Normen und Prinzipien Ausschau hält, die der Forderung nach inhaltlicher Universalisierung entsprechen, widmet sich die moralphilosophische Debatte im deutschsprachigen Raum darüber hinaus der Grundlegungsproblematik der Ethik, und hier vor allem der Frage nach der Art der Rationalität […] des moralischen und des ethischen Diskurses .“24
In diesem Sinne gewinnen moralische Argumente dem universalistischen Moralverständnis nach ihre Geltung also nicht durch Ableitung aus Wertungen, die auf bestimmte Personen, Kulturen oder Traditionen beschränkten sind; vielmehr sollen sie auf einer allgemeiner angelegten, einsichtigen Grundlage stehen .25 Insbesondere lässt sich dies anhand der richtungsweisenden metaethischen Position von Richard Mervyn Hare und der hieran anknüpfenden aber darüber hinaus gehenden diskursethischen Position von Habermas nachzeichnen . Denn gerade diese allgemein einsichtige Grundlage macht Hare zur Voraussetzung moralischen Begründens schlechthin: „Es gibt im Grunde nur zwei Regeln für das moralische Begründen; sie entsprechen den zwei Merkmalen moralischer Urteile, […] nämlich der Präskriptivität und der Universalisierbarkeit . Wenn wir in einem konkreten Fall in der Frage, was wir tun sollten, zu entscheiden versuchen, dann halten wir dabei […] nach einer Handlung Ausschau, auf die wir uns selbst festlegen können (Präskriptivität), von der wir aber auch zugleich bereit sind, sie als Beispiel für einen Handlungsgrundsatz zu akzeptieren, der auch für andere in ähnlichen Umständen als Vorschrift zu 18 Vgl . Wimmer (Fn . 16), S . 200 . 19 Friedrich Kambartel, Universalisierung, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 413 . 20 Friedrich Kambartel, Universalität, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 414 . 21 Vgl . Friedrich Kambartel, Moral, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 932 f . 22 Vgl . Friedrich Kambartel, Ethik, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 592 ff . 23 Bei dem hier zu Grunde gelegten Institutionenbegriff handelt es sich um einen weitgefassten, nachdem Institutionen als verfestigte gesellschaftliche Strukturen verstanden werden . Vgl . hierzu James G. March/Johan P. Olson, The Logic of Appropriateness, in: Michael Moran/Martin Rein/Robert E. Goodin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Public Policy, Oxford 2006, S . 689–708 . 24 Vgl . Wimmer (Fn . 16), S . 200 . 25 Kambartel (Fn . 20), S . 414 .
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gelten hat (Universalisierbarkeit) . Wenn wir uns irgendeinen Handlungsvorschlag ansehen und finden, dass seine Universalisierung Vorschriften ergibt, die wir nicht akzeptieren können, weisen wir diese Handlung als eine Lösung für unser moralisches Problem zurück – wenn wir die Vorschrift nicht universalisieren können, kann sie kein sollte werden .“26
Ebenso fordert Habermas nur solche Normen moralisch zu nennen, die im strikten Sinne universalisierbar sind, also nicht über soziale Räume und historische Zeiten variieren .27 Dieser moraltheoretische Sprachgebrauch deckt sich dabei nicht mit dem deskriptiven Sprachgebrauch des Soziologen oder des Historikers, der auch die epochen- und kulturspezifischen Regeln als moralische Regeln beschreibt, welche für Angehörige als solche gelten .28 Moralische, also universelle Normen können sich hiernach nicht dadurch konstituieren, dass eine partikulare Gemeinschaft sie für handlungsorientierend hält . „Universalistisch nennen wir eine Ethik [als praktische Geltung moralischer Handlungsorientierung], die behauptet, dass dieses (oder ein ähnliches) Moralprinzip nicht nur die Intuitionen einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrückt, sondern allgemein gilt . Nur eine Begründung des Moralprinzips, die ja nicht schon durch den Hinweis auf ein Faktum der Vernunft geleistet wird, kann den Verdacht auf einen ethnozentristischen Fehlschluss entkräften .“29
Die Universalität ethischer Handlungsorientierungen und ihre praktische Geltung kann also an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft werden . Gemein ist universalistischen Normen der Anspruch, unabhängig von der Partikularität einzelner Gemeinschaften Geltungskraft erlangen zu können . Ein moraltheoretisches Sollen, also eine ethisch-universalistische Norm, kann nur durch die Universalisierbarkeit, also der Verallgemeinerbarkeit auch der möglichen Folgen der normativen Vorschrift, begründet werden . 1.3 norMen und Werte Die zahlreichen definitorischen Varianten30 und Überschneidungen der Begriffe Norm und Wert erzeugen im Diskurs immer wieder Unübersichtlichkeiten . Die Vieldeutigkeit dieser Grundbegriffe ergibt sich u . a . bereits aus den unterschiedlichen historischen Verwendungsweisen .31 Orientierend lässt sich eine empirisch-deskriptive von einer normativ-moralischen Lesart unterscheiden, die jeweils wiederum in verschiedene Konzeptionen zu unterteilen ist . Als quantitatives Ergebnis von Wertungen lassen sich Werte deskriptiv erforschen . Der Fokus liegt hier auf den
Richard Mervyn Hare, Freiheit und Vernunft, Frankfurt a . M . 1973, S . 108 f . Jürgen Habermas, Diskursethik, Frankfurt a . M . 2009, S . 60 . Habermas (Fn . 27), S . 60 . Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1992, S . 12 . Vgl . Kurt Seelmann, Werte: Zu Ursprung und Verwendung eines in der Ethik beliebten Begriffs, in: Michael Fischer/Kurt Seelmann (Hrsg.), Ethik im transdisziplinären Sprachgebrauch, Frankfurt a . M . 2008, S . 111 . 31 Norbert Anwander, Werte, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2008, S . 1472 ff . 26 27 28 29 30
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Vorstellungen, die Individuen oder Gruppen in ihrem Urteilen und Handeln leiten32 und die deshalb für diese Aktoren kennzeichnend sind .33 Diese Ergebnisse von Wertungen – nämlich die bevorzugte Handlung – wird insofern zum Thema (moral)philosophischer Überlegungen, als die faktischen Wertungen im Rahmen einiger werttheoretischer Konzeptionen auch die Gründe für weitere Wertungen liefern; z . B . als allgemein übliche Wertungen in einer bestimmten Situation .34 In diesem Sinne können Werte als Gegenkonzept zur Kantischen Pflichtethik gelten, denn Pflichten ergeben sich nur aus Vernunftüberlegungen und gelten für sich, d . h . vor derartigen Überlegungen .35 Über die Vieldeutigkeit des Wertbegriffs hinaus scheinen Werte, insbesondere als quantitatives Ergebnis von Wertungen eine besondere Nähe zu den Wertenden bzw . Wertkonstituierenden zu haben, die sich durch die Begrenztheit der partikularen Wertgemeinschaft auszeichnet . Um als Norm gelten zu können, muss zu den wie auch immer konstituierten Werten eine Handlungsaufforderung bzw . ein –verbot hinzutreten . Auch wenn einige definitorische Überschneidungen zwischen Wert- und Normbegriff bestehen, macht eine moraltheoretische Lesart von Normen, eine (Rechtfertigungs-)Argumentation notwendig; so werden Normen synonym mit moralischen Werturteilen verwandt, die häufig wiederum unter Einschränkung auf den Fall prinzipieller oder allgemeiner Orientierungen genutzt werden .36 Normen beschreiben hiernach nicht beliebige Regeln oder etablierte Handlungsweisen, sondern lediglich solche Orientierungen, für die ein moralischer Rechtfertigungsanspruch erhoben wird .37 Verschärft wird der Anspruch einer moralischen Rechtfertigung durch den Universalitätsaspekt von Normen, denn eine universalistische Begründung kann sich nicht auf die starke kulturell gebundene Ethik einer partikularen Gemeinschaft stützen . Für Habermas besteht der Unterschied zwischen Werten und Normen in eben diesem Anspruch der Universalität . Die Nichtunterscheidung von Werten und Normen gefährdet nach Habermas die universalistische Auffassung von Moral, denn diese Unterscheidung macht es erst möglich, universelle Normen zu ermitteln, die nicht von einer bestimmten Kultur abhängig sind – wohingegen gemeinschaftliche Wertvorstellungen und Traditionen, wie Keuschheit oder bestimmte Zeremonien nicht als universelle Normen tauglich sind .38 Den kulturellen Werten stehen also universelle Normen gegenüber .39 Habermas unterscheidet anhand von vier Zuschreibungen zwischen Werten und Normen: „Normen und Werte unterscheiden sich [also] erstens durch ihre Bezüge zu obligatorischem, bzw . teleologischem Handeln; zweitens durch die binäre bzw . graduelle Kodierung ihres Geltungsanspruchs; drittens durch ihre absolute bzw . relative Verbindlichkeit und viertens durch 32 Anwander (Fn . 31), S . 1472 ff . 33 Vgl . auch Clyde Kluckhohn, Values and Value – Orientations in the Theory of Action, in: Talcott Parsons/Edward Shils (Hrsg.), Toward a Generals Theory of Action, Cambridge 1952 . 34 Oswald Schwemmer, Wert (moralisch), in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 662 . 35 Schwemmer (Fn . 34), S . 662 . 36 Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . 37 Kambartel (Fn . 4), S . 1030 . 38 Jürgen Habermas, Werte und Normen: Ein Kommentar zu Hilary Putnams Kantischem Pragmatismus, in: Marie-Luise Raters/Markus Willaschek (Hrsg.), Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt a . M . 2002, S . 280–305, S . 299 . 39 Habermas (Fn . 38), S . 296 .
Zur Universalität von Normen
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die Kriterien, denen der Zusammenhang von Norm- bzw . Wertsystemen genügen muss . Weil sich Normen und Werte in diesen logischen Eigenschaften unterscheiden, ergeben sich folgenreiche Differenzen auch für ihre Anwendung . Ob ich im Einzelfall mein Handeln durch Normen oder durch Werte bestimmen lasse, hat eine jeweils andere Art von Handlungsorientierung zur Folge . […] Im Lichte von Normen lässt sich entscheiden, was zu tun geboten ist, im Horizont von Werten, welches Verhalten sich empfiehlt .“40
Universelle Normen müssen demnach eine Materie im gleichmäßigen Interesse Aller regeln – Werte hingegen bilden in der Konfiguration mit anderen Werten eine symbolische Ordnung, in der sich Identität und Lebensform einer partikularen Rechtsgemeinschaft ausdrücken .41 Die Universalität von Normen hängt hier also davon ab, ob sie die Anerkennung der ihnen Unterworfenen erlangen kann, was wiederum durch eine Berücksichtigung der gleichmäßigen Interessen Aller konstituiert werden soll . Auf diesem Wege können Normen ihre Sollgeltung erlangen . 2 zweI BeGründunGskateGorIen Die Materie von universellen Normen scheint sich unlösbar auf zwei antipodische Positionen zu verteilen . Denn die Frage nach der Universalität von Normen spitzt den grundsätzlichen Dissens der sich gegenüberstehenden Zugänge42 relativistischer (normativ-faktischer) und universeller (normativ-universalistischer) Art zu . Die Frage nach der Universalität von Normen befindet sich im „Widerstreit zwischen universalistischen und relativistischen Konzeptionen der Ethik . […] In einer schwachen Fassung behaupten sie, für ihre Normen universalistische Gründe anführen zu können, d . h . solche, welche bei Vertretern aller Kulturen und Zeiten Anerkennung verdienen . […] Die anderen vertreten einen relativistischen Standpunkt . Sie bestreiten die Möglichkeit, universale Normen begründen [zu können], und anerkennen nur kulturbedingte, wandelbare Werte . Für sie können Normen weder universell gültig sein noch für konkrete Situationen universalistisch begründet werden . Alles Normative ist kulturell und situativ .“43
Beide Zugänge lassen sich mit einem kurzen Blick auf ihre jeweilige metaethische Verortung veranschaulichen . Metaebene ist hier diejenige Ebene, auf der das Kriterium gewonnen wird, wann etwas sich als von allgemeiner Verbindlichkeit – somit als Sollgeltung überhaupt – erweist . In Bezug auf die Begründbarkeit von moralischen Urteilen gewinnt die Systematik der metaethischen Ebene besondere Bedeutung . Denn die Aufgabe der Metaethik44 in all ihren facettenreichen Optionen besteht darin, Erklärungsmodelle für die Analyse moralischer Urteile an die Hand zu geben .45 Insofern sie diese Aufgabe erfüllt, gewinnt sie für unsere moralische Praxis an 40 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1992, S . 311 f . 41 Habermas (Fn . 40), S . 312 . 42 Eine ausführliche Diskussion beider metatheoretischer Kategorien kann in der noch erfolgenden Publikation der Dissertation der Autorin nachvollzogen werden . 43 Philippe Mastronardi, Universalisierung: Ein Prozess interrationaler Verständigung, ZfP 2010, S . 187–206, S . 187 . 44 Vgl . auch Max Baumann, Recht und Ethik – Dimensionen einer kommunikativen Rechtstheorie, in: Sandra Hotz/Klaus Mathis (Hrsg.), Recht, Moral und Faktizität, Zürich/St . Gallen 2008, S . 126 ff . 45 Günther Grewendorf/Georg Meggle, Zur Struktur des metaethischen Diskurses, Frankfurt a . M . 1974, S . 9 .
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Relevanz .46 Die sprachphilosophisch orientierte Metaethik fragt nicht nach den Prinzipien moralischen Handelns etwa wie bei Kant, in Bezug auf ein intelligibles Ich, sondern versucht durch eine Analyse der Sprache der Moral, Auskunft über moralische Begriffe und Kategorien zu erhalten, indem sie Bedeutung und Funktion von in moralischer Absicht verwendeten Wörtern, Urteilen und Argumentationen untersucht .47 Ethik ist in diesem Sinne die logische Untersuchung der Moralsprache .48 Die Funktion moralischer Grundsätze liegt darin, Verhalten zu bestimmen .49 Die verschiedenen metaethischen Theorien stimmen darin überein, dass sie eine vom Standpunkt des neutralen Beobachters aus mögliche Beschreibung der Sprache der Moral postulieren .50 In diesem Sinne soll die Metaethik auch auf dem Boden pluralistischer Moralphilosophien eine wissenschaftliche (intersubjektive) Beschäftigung mit Fragen der Ethik ermöglichen .51 Im Fokus liegt also die Sprache der Moral, die durch unterschiedliche Herangehensweisen analysiert wird . Die Ergebnisse der sprachanalytischen Untersuchungen differieren dabei insbesondere in Bezug auf den kategorialen Status, der moralischen Wörtern und Urteilen zugeschrieben wird .52 In Bezug auf die Universalität von Normen im Spannungsfeld von Relativismus und Universalismus scheint sich die Problematik im Bereich der Metaethik im Verhältnis der kognitivistischen und nonkognitivistischen Ansätze widerzuspiegeln . Denn während die „Kognitivisten“ unter den Metaethikern behaupten, die Sprache der Moral bringe eine rationale Tätigkeit des Menschen zum Ausdruck, vertreten die „Nonkognitivisten“ die These, moralisches Sprechen signalisiere ein irrationales, ausschließlich durch Gefühle gesteuertes Verhalten des Menschen .53 Die Behauptung der sich in der Sprache der Moral zum Ausdruck bringenden Rationalität wird von den Metaethikern unterschiedlich begründet .54 Ohne sich in die Vielfalt der Ansätze der Vertreter dieser beiden Positionen vertiefen zu wollen, können doch beide Grundkategorien hinsichtlich ihrer Gegensätzlichkeit umrissen werden . 2.1 norMativ-FaktiscHe ansätze einer nonkoGnitivistiscHen perspektive Die nonkognitivistische Perspektive legt ihren Fokus auf den Bericht darüber, welche Antworten von jemandem auf moralische Fragen gegeben werden .55 Moralische Urteile werden aus der Beobachterperspektive beschrieben und befinden sich hier in deskriptiven Kontext-Bedingungen und ihr Geltungskriterium ist demnach sehr
46 Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 9 . 47 Vgl . Hasso Hofmann, Legalität, Legitimität, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 161 . 48 Richard Mervyn Hare, Die Sprache der Moral, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1997, S . 13 . 49 Hare (Fn . 48), S . 19 . 50 Vgl . Annemarie Pieper, Metatheorie, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 1168 . 51 Friedrich Kambartel, Metaethik, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 864 . 52 Vgl . Pieper (Fn . 50), S . 1168 . 53 Vgl . Pieper (Fn . 50), S . 1168 . 54 Vgl . Pieper (Fn . 50), S . 1169 . 55 Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 .
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wohl falsifizierbar .56 Ob Sätze moralischer Art „wahr“57 sind, hängt hier davon ab, welche moralischen Ansichten tatsächlich vertreten werden .58 Das Berichten von tatsächlich vorliegenden moralischen Ansichten kann aus dieser deskriptiven Perspektive heraus keine moralische Verpflichtung begründen .59 Spiegelt man die Materie universeller Normen auf die metaethische Ebene, so lässt sich der normativ-universalistische Zugang augenscheinlich der präskriptiven Perspektive und der normativ-faktische Zugang der deskriptiven Ebene zuordnen . Im Bereich der Metaethik60 lassen sich deskriptive und präskriptive Perspektiven in Bezug auf Moralurteile nachzeichnen, die jeweils ihren eigenen Erkenntnishorizont und ihre eigenen logischen Ableitungen mit sich bringen . Innerhalb beider Zugänge bestehen, wie auch Mastronardi61 konstatiert, stärkere und schwächere Positionen . Um universelle Normen einem normativ-partikularen Verständnis nach begründen zu können, müsste eine globale kulturelle Gemeinschaft bestehen, auf die sich die Rechtfertigungsanforderungen beziehen . Da dies weder real noch anstrebbar scheint, verneinen Vertreter dieser Perspektive die Möglichkeit universalistischer Normen . Auch die Ansätze, die an das Konzept der normativen Kraft des Faktischen anschliessen, müssen dem partikularen Geltungsanspruch von Normen verhaftet bleiben . Denn auch wenn die innere verpflichtende Kraft, die die Überzeugung von dem Faktischen zu etwas Normativem führt, und in diesem Sinne als sittliche Norm62 verstanden wird, so ist der Grund der normativen Kraft des Faktischen nicht in einer bewussten oder unbewussten Vernünftigkeit zu suchen . Vielmehr wird der Grund aus dem Wirken der menschlichen Natur einer kulturell verfestigten partikularen Gemeinschaft63 gewonnen . 2.2 norMativ-universalistiscHe ansätze einer koGnitivistiscHen perspektive Die kognitivistische Perspektive legt ihren Fokus auf das, was wir meinen, wenn wir moralische Fragen stellen bzw . beantworten .64 Angenommen wird hier eine Intentionalität der Sprache und damit zugleich ein möglicher Rationalitätsanspruch der Sprachverwendung . Es geht um die Bedeutung von inhaltlichen moralischen Schlussfolgerungen, die nicht falsifizierbar sind, sondern deren Geltungskriterium als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt eingesehen werden kann .65 Es handelt sich also um einen normativen Bedeutungskontext66, dem die „präskriptive“ metaethische Position zu Grunde liegt . Mit „präskriptiv“ wird eine vorschreibende oder emp-
56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 f . Vgl . auch Manfred Harth, Werte und Wahrheit, Paderborn, 2008, S . 9 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Vgl . Ansätze aus den Bereichen des Emotivismus, Intuitionismus, Subjektivismus, Naturalismus, Kontraktualismus . Vgl . Mastronardi (Fn . 43), S . 187 ff . Jellinek (Fn . 10), S . 338 f . Jellinek (Fn . 10), S . 343; ebenso Weber (Fn . 10), S . 157, S . 564 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 .
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fehlende Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken (z . B . „gut“, „richtig“) benannt .67 Die Bedeutung der wertenden Ausdrücke lässt sich, dem präskriptiven Ansatz nach, auch nicht von wahren Beschreibungen von Gegenständen oder Handlungen ableiten .68 In diesem Sinn können auch moralische Urteile als Tatsachenfeststellungen oder einer Begründung fähig und in diesem Sinne als Erkenntnis (Good Reason Approach) verstanden werden .69 Ob moralische Urteile als „wahr“ gelten, hängt davon ab, welche Bedeutung bestimmte Wörter und Äußerungen haben .70 Eine Verbindlichkeit im moralischen Sinn entsteht hier also, wenn ihr Gehalt mit einem Kriterium der Normativität (z . B . kategorischer Imperativ) legitimierbar ist .71 Nach dem normativ-universalistischen Ansatz, als Basis der Diskursethik, ist die normative Geltungskraft von Normen rational begründbar . Denn dieser Kategorie liegt die Vorstellung einer „Vernunft“ zu Grunde, die unabdingbar auf „Wahrheitsansprüche“ bezogen ist, die unter Bedingungen moderner Gesellschaften rational begründbar sein müssen . Diese Grundannahmen bilden die Basis für eine universelle Geltungskraft von Normen (Prinzip der allgemeinen Sollgeltung) . Die Positionen der Diskursethik, die von einer universal geltenden Verständigungsrationalität ausgeht, trifft eine besondere Begründungslast .72 Denn die große Frage, die zu beantworten bleibt, ist die, ob es gelingt, diesen Vernunftbegriff aus den metaphysischen Verstrickungen zu lösen, dennoch einen Ort zu benennen, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen und zugleich diese Prozesse in der sozialen Realität zu verankern . 3 dIe unIversalpraGmatIsche BeGründunG von normen Die Universalpragmatik von Habermas skizziert ein ebensolches prozedurales Vernunftverfahren,73 in dem normative Geltungsansprüche begründet und deren Anerkennung rational motiviert werden können soll . Hier soll der universalpragmatische Ansatz von Habermas nicht in Gänze rekonstruiert, aber auf die Geltung und Begründung universeller Normen zugespitzt werden . Nach Habermas gilt das Diskursmodell als Inbegriff der sozialkognitiven Voraussetzungen für einen universalen, alle bloß lokalen Umstände und traditionellen Ordnungen überschreitenden Diskurs .74 Denn die Transformation von Fragen des guten und richtigen Lebens in Fragen der Gerechtigkeit setzt die Traditionsgeltung des jeweiligen lebensweltlichen Kontextes außer Kraft .75 Die Hintergrundgewissheiten der faktisch eingewöhnten Lebensformen und Lebensentwürfe dürfen nicht mehr als fraglos gültiger Kontext 67 Vgl . Wilhelm Vossenkuhl, Präskriptiv, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 1265 . 68 Vgl . Vossenkuhl (Fn . 67), S . 1265 . 69 Kambartel (Fn . 51), S . 864 f . 70 Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 . 71 Grewendorf/Meggle (Fn . 45), S . 7 f . 72 Mastronardi (Fn . 43), S . 187 . 73 Herbert Ganslandt, Legalität, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 562 ff . 74 Habermas (Fn . 29), S . 60 . 75 Habermas (Fn . 29), S . 33 .
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vorausgesetzt werden .76 Nur so kann die Begrenztheit partikularer Geltungsansprüche überwunden werden . Die Universalpragmatik hat die Aufgabe, so Habermas, universale Bedingungen möglicher Verständigung zu identifizieren und nachzukonstruieren .77 Dieser zunächst intuitiv metatheoretische Zugang zu Verständigung gewinnt erst im Gesamtzusammenhang einer Gesellschaftstheorie die mit ihm zugleich gesetzte umfassende Struktur . Denn Universalpragmatik stützt sich auf ein normativ gehaltvolles Konzept von Verständigung, operiert mit diskursiv einlösbaren Geltungsansprüchen und formalpragmatischen Weltunterstellungen und bezieht das Verständnis von Sprechakten auf die Bedingungen ihrer rationalen Akzeptabilität .78 Vor diesem Hintergrund muss jede formalistische Ethik, so Habermas, ein Prinzip angeben können, das grundsätzlich erlaubt, über strittige moralisch-praktische Fragen ein rational motiviertes Einverständnis herbeizuführen .79 Er bietet hierfür den Universalisierungsgrundsatz (U) an, der als Argumentationsregel verstanden werden soll: Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können .80 Hinzu tritt der diskursethische Grundsatz (D), nach dem jede gültige Norm die Zustimmung aller Betroffenen finden können müsste, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen würden .81 Hiernach kann eine Moral also nur dann universalistisch genannt werden, wenn sie nur solche Normen gelten lässt, die jeweils die wohlerwogene und ungezwungene Zustimmung aller Betroffenen finden könnten .82 Gemäß den grundsätzlichen Kriterien von Begründungen83 kann diese zwanglose Zustimmung nur über das Vehikel guter Gründe erreicht werden . Eben dies macht den reflexiven Charakter des Diskurses aus – er darf nicht nur als ein alle potentiell Betroffenen umspannendes Netz kommunikativen Handelns vorgestellt werden, sondern als Reflexionsform kommunikativen Handelns – eben als Argumentation .84 In jeder tatsächlich durchgeführten Argumentation kommen die Teilnehmer selbst nicht umhin, als eine auch virtuelle Teilnehmer mit einbeziehende Projektion vorzunehmen .85 In Argumentationen müssen die Teilnehmer pragmatisch voraussetzen, dass im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt .86 Diskurse sind durch formalpragmatisch bestimmte Kommunikations-voraussetzungen strukturiert . Die normativ anspruchsvollen und nicht hintergehbaren Kommunikationsvoraussetzungen der Argumentationspraxis haben den Sinn einer 76 Habermas (Fn . 29), S . 33 . 77 Jürgen Habermas, Was heisst Universalpragmatik?, in: ders ., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a . M . 1995, S . 353 . 78 Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a . M . 2004, S . 7 . 79 Habermas (Fn . 29), S . 31 . 80 Habermas (Fn . 29), S . 31 f . 81 Habermas (Fn . 29), S . 32 . 82 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a . M . 1985, S . 50 . 83 Vgl . 1 .1 zur Begründbarkeit . 84 Habermas (Fn . 29), S . 60 f . 85 Habermas (Fn . 29), S . 61 . 86 Habermas (Fn . 29), S . 61 .
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strukturellen Nötigung zu unparteilicher Urteilsbildung .87 Denn die Argumentation bleibt das einzige verfügbare Medium der Wahrheitsvergewisserung, weil sich anders problematisch gewordene Wahrheitsansprüche nicht prüfen lassen .88 Der Übergang von Moral zu Recht verlangt deshalb einen entsprechenden Wechsel von den symmetrisch verschränkten Perspektiven der Achtung und Wertschätzung der Autonomie des jeweils Anderen zu den Ansprüchen auf Anerkennung und Wertschätzung der jeweils eigenen Autonomie vonseiten des Anderen . So wird der geforderte intersubjektiv zu veranschlagende Perspektivenwechsel vorgenommen, der notwendig vorausgesetzt wird, um zu einer unparteilichen Urteilsbildung zu kommen . Normative Geltungsansprüche sind demnach auf die intersubjektive Anerkennung durch Sprecher und Hörer angelegt und können nur mit Gründen – also diskursiv – eingelöst werden .89 Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass jede gültige Norm der Bedingung genügen muss, die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können muss .90 Nach Habermas bildet die Universalpragmatik den Rahmen für die Erzeugung von rational begründbarem und intersubjektiv anerkanntem – also legitimen Recht . Dieses Konzept der Universalpragmatik gilt dabei in allen Kulturen und Sprachen gleichermaßen – eben universal . 4 unIverselle normen – eIne utopIe? Die Begründung von universellen Normen erfordert wie aufgezeigt fundamentale und damit auch methodologische Positionierungen . Ob der Fokus auf universellen Normen als allgemeine moralische Handlungsorientierungen oder auf konkreten Rechtsnormen wie den Menschenrechten liegt – die größte Kritik scheint die Realität selbst zu schreiben . Denn ungeachtet der plausibelsten theoretischen Herleitungen, der Höhenunterschied zwischen universellen Normen wie den Menschenrechten und der Realität ihrer Durchsetzung stellt uns immer wieder schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen . Es stellt sich die Frage, ob angesichts der großen Voraussetzungen und der Schwierigkeit der realen Umsetzung, universelle Normen als negative Utopie, als unerreichbare Vision festgehalten werden müssen? Die Kennzeichnung Utopie ist seit Thomas Morus zum einschlägigen Begriff für den Schauplatz eines visionären idealen Gemeinwesens91 geworden . Und auch im weiteren Verlauf blieb utopisches Denken in den explizit normativen und revolutionären Schriften92 zu finden . Gleichzeitig fanden viele revolutionäre Ideen mit ei87 Habermas (Fn . 29), S . 51 . 88 Habermas (Fn . 29), S . 51 . 89 Jürgen Habermas, Zwecktätigkeit und Verständigung: Ein pragmatischer Begriff der Rationalität, in: Herbert Stachowiak (Hrsg.), Pragmatik: Handbuch pragmatischen Denkens: Bd . III: Allgemeine philosophische Pragmatik, Hamburg 1989, S . 32–59, S . 47 . 90 Habermas (Fn . 27), S . 60 . 91 Ulrich Dierse, Utopie, in: Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2007, S . 510 . 92 Herbert R. Ganslandt, Utopie, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wis-
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ner zeitlichen Verschiebung ihren Niederschlag in den nachfolgenden Gesellschaften . Utopien scheinen also nicht zwangsläufig dem Wünschenswerten verschrieben zu bleiben . Inwiefern kann also die Utopie von der Universalität von Normen auf unsere soziale Wirklichkeit einwirken? Die große Schwierigkeit von universalistischen Positionen93 bildet, wie gesehen, die Abstraktion von der partikularen Gemeinschaft . Gerade dies versucht der universalpragmatische Ansatz durch den Perspektivenwechsel und den Standpunkt der Unparteilichkeit im kommunikativen Handeln zu konstituieren . Die U-topia als der „noch nicht Ort“ von universalen Normen wird mit der möglichen Wirklichkeit des Aushandelns von Gründen als reale Möglichkeit des Sollens festgehalten . „Nur unter den Kommunikationsvoraussetzungen eines universell erweiterten Diskurses, an dem alle möglicherweise Betroffenen teilnehmen und in dem sie in hypothetischer Einstellung zu den jeweils problematisch gewordenen Geltungsansprüchen von Normen und Handlungsweisen mit Argumenten Stellung nehmen könnten, konstituiert sich die höher stufige Intersubjektivität einer Verschränkung der Perspektive eines jeden mit den Perspektiven aller . Dieser Standpunkt der Unparteilichkeit sprengt die Subjektivität der je eigenen Teilnehmerperspektive, ohne den Anschluss an die performative Einstellung der Teilnehmer zu verlieren .“94
Dies ist insbesondere auch im Hinblick auf die Konstituierung konkreter Rechtsnormen zu verstehen . Denn im sozialen Raum besteht natürlich überall und immer ein Gefälle zwischen Normen und tatsächlichem Verhalten .95 Die problematisch gewordenen Normen finden in ihrem permanenten Diskurs aber auf vielfältige Weise Einzug in die faktischen Rechtsordnungen . Ebenso verhält es sich mit der Menschenwürde als moralischer Quelle und kodifizierten Menschrechten als faktischer Niederschlag . Mit der Positivierung des ersten Menschenrechts ist eine Rechtspflicht zur Realisierung überschießender moralischer Gehalte erzeugt worden, die sich in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat .96 Unabhängig von der faktischen Umsetzung werden wir mit ihren Inhalten konfrontiert . So zieht mit dieser überschießenden Idee der Gerechtigkeit auch eine problematische Spannung in die politische und gesellschaftliche Realität ein .97 Dies zeigt sich an der Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen: der Widerspruch zwischen der Verbreitung der Menschenrechtsrhetorik auf der einen, ihrem Missbrauch als Legitimationshilfe für die übliche Machtpolitik auf der anderen Seite .98 Und dennoch bilden die Menschenrechte insofern eine realistische Utopie, als sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten Bilder eines kollektiven Glücks vorgaukeln, sondern das ideale Ziel einer senschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004, S . 463 . 93 Vgl . Beat Sitter-Liver, Universale moralische Prinzipien und Normen: Ein naiver Traum?, ZfP 2010, S . 141–155 . 94 Habermas (Fn . 29), S . 113 . 95 Jürgen Habermas, Das utopische Gefälle: Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, Blätter für deutsche und internationale Politik 2010, S . 43–53, S . 51; vgl . auch Heiner Bielefeldt, Menschenrechtlicher Universalismus ohne eurozentristische Verkürzung, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal?, Freiburg 2008, S . 98–141; vgl . ebenso Georg Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a . M . 1998, S . 62–95 . 96 Habermas (Fn . 95), S . 52 . 97 Habermas (Fn . 95), S . 52 . 98 Habermas (Fn . 95), S . 52 .
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gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten selber verankern .99 Die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die mit der Positivierung der Menschenrechte in die Wirklichkeit selbst einbricht, konfrontiert uns heute mit der Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten .100 In diesem Sinne haben Utopien sehr wohl eine praktische Funktion, nämlich insoweit sie in sozialen Bewegungen als Orientierungen eingehen .101 Man stelle sich nur die Frage, inwiefern die Vorstellung eines geeinten Europas im Sinne der Europäischen Union noch vor 60 Jahren als utopisch galt . Auch wenn man einer „realistischen Utopie“ die fehlende Durchschlagskraft vorhalten kann, so verliert der Anspruch von Habermas, nämlich die Ausbuchstabierung eines Begründungskonzeptes, eines Maßstabes zur Gewinnung und damit Beurteilung von universellen Normen eine notwendige und immanent wichtige Grundlage für die Anerkennung von Menschenrechten102 und anderer Konkretisierungen von universellen Normen nicht an Gewicht . Dieser Fundamentalanspruch bleibt auch bei dem kritischen Hinweis von Mastronardi, dass auch die allgemeine Begründungspflicht und Überzeugungslast für Argumente im Diskurs auch für Kriterien der Ethik gelte,103 bestehen . Auch wenn das kommunikative – eben in Diskursen je neu reflexiv gewordene – Handeln bezüglich der Durchsetzung von Menschenrechten nur selten zum Tragen kommt, so ist es dennoch dem permanenten Diskurs ethnozentristischer Interventionen vorzuziehen . Und auch wenn die Idee der Durchsetzung der Menschenrechte, als eine Konkretisierung universeller Normen, eine – nur als Möglichkeit kommunikativen Handelns aufgezeigte – Utopie ist, so ist dies vielleicht der Ansporn, diese Möglichkeit auch konkret werden zu lassen und tatsächlich einen Topos zu finden .
99 Habermas (Fn . 95), S . 52 . 100 Habermas (Fn . 95), S . 53 . 101 Habermas (Fn . 82), S . 74 . 102 Habermas (Fn . 95), S . 53 . 103 Mastronardi (Fn . 43), S . 203 .
tarek naGuib* postkateGorIale ‚GleIchheIt und dIfferenz‘: antIdIskrImInIerunGsrecht ohne kateGorIen denken!? Das geltende Antidiskriminierungsrecht hat kaum bestreitbar bedeutende Fortschritte im Kampf gegen soziale Ungleichheiten bewirkt . Andererseits trägt es in seiner gegenwärtigen Aufstellung dazu bei – und das mag absurd klingen – Stigmata und Ausgrenzung zu zementieren . Grund: Es operiert konzeptionell in Normalisierungs-Kategorien und nährt dadurch die kraftvolle Tendenz dominanter Gruppen, Gleichheit und Differenz aus der Perspektive der herrschenden Verhältnisse zu bewerten . Kategorien wie z . B . Behinderung, Geschlecht, Ethnie, Rasse, Alter, fahrende Lebensform, Religion, soziale Stellung und sexuelle Orientierung werden nicht konsequent als verwobene, in asymmetrischen Machtstrukturen eingebettete soziale Konstruktionen begriffen, sondern nicht selten – bewusst oder unbewusst – (re-)naturalisiert . Weil dem so ist, benötigt der kategorisierungs- und identifizierungsmächtige Rechtsstaat – will er denn diskriminierungsschutzrechtlich glaubwürdig sein – einen wirkmächtigen Reflexions- und Korrekturmechanismus . Hierfür schlage ich das theoretische „Transformations-Konzept“ der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ vor .
1 proBlemstellunG: üBerwIndunG von essentIalIsmen Im Geltenden antIdIskrImInIerunGsrecht Der differenzierte Umgang mit ‚Gleichheit und Differenz‘ gehört theoretisch zur Kernkompetenz des Antidiskriminierungsrechts, ist aber praktisch dessen grösste Herausforderung . Beispiele aus der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung zeigen, dass immer wieder (quasi-)essentialistische Fehlschlüsse (re-)formuliert werden .1 Naturalisierungen und Kulturalisierungen sind latent in verfassungs- und gesetzesrechtlichen Diskriminierungskategorien eingeschrieben und fliessen auch deshalb in Prämissen und Argumentationsmuster von Gerichtsurteilen und rechtspolitische Antidiskriminierungspostulaten ein, dies oft kaschiert hinter stereotypen und mit Vorurteilen behafteten Tatsachenbehauptungen und Alltagstheorien .2 Dabei unterliegt sowohl die Bewertung von Differenz als auch diejenige von Gleichheit diskriminierenden Kategorisierungen . Diese manifestieren sich in der Regel zwar subtil, graben sich aber gerade deswegen – verstärkt durch die beachtliche symbolische Gewalt des Staates3 – wirkmächtig noch tiefer in das mit Stigmata und Ausgrenzungen besetzte *
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Ich bedanke mich herzlich bei Doris Liebscher für ihre höchst bereichernden und zahlreichen kritischen Anmerkungen . Doris Liebscher ist Mitbegründerin des Antidiskriminierungsbüros Sachsen, promoviert zu Ambivalenzen des Begriffs „Rasse“ im deutschen Recht an der Humboldt Universität Berlin und publiziert regelmässig zu Antidiskriminierungsrecht und -pädagogik, zu Extremismus und Demokratietheorien . Beispiele dazu werden weiter hinten diskutiert (vgl . Abschnitte 3 .1 und 3 .2) . Zu einer Untersuchung deutscher Gerichtsurteile zum Antidiskriminierungsrecht siehe Alexander Klose, Stereotypen, Vorurteile, Diskriminierungen: Tatsachenbehauptungen in Urteilen zum Gleichbehandlungsrecht (voraussichtliche Publikation im 2011) . Zur symbolischen Gewalt des Staates siehe Pierre Bourdieu, Language and Symbolic Power, Cambridge 1991; vgl . weiter Michel Foucault, Die „Gouvernementalität“ (Vortrag), in: Daniel Defert/ François Ewald, Schriften in vier Bänden = Dits et écrits . Bd . 3, Frankfurt a . M . 2003, S . 796–823; James C. Scott, Seeing like a State: How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have failed, New Haven 1998, S . 76 ff .
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interdependente und verwobene Geflecht gesellschaftlicher Strukturen, Diskurse und Identifizierungsmuster .4 Die übergeordnete Ursache dieses wirkmächtigen „antidiskriminierungsrechtlichen“ essentialistischen Fehlschlusses ist in den Wissens- und Machtstrukturen zu verorten . Sie zeigen sich namentlich darin, dass „wir“ – d . h . diejenigen, die den Schutz vor Diskriminierung definieren – vor problematischen Kategorisierungen der „anderen“ – d . h . die vor Diskriminierung zu schützenden – deshalb nicht gefeit sind, weil „wir“ die „anderen“ in der Regel aus der Perspektive blinder Flecken weisser5 oder anderweitig herrschender Dominanz beurteilen . Daher benötigen „wir“ Vorkehrungen, die uns helfen, Antidiskriminierungsrecht so zu konzipieren, dass es auch in der Rechtswirklichkeit seinen Namen verdient . Die zentralen Ziele sind: rechtsbegriffliche Essentialisierungsrisiken tief zu halten, die Dominanz in der Praxis des Rechtsstabes offenzulegen und in der Anwendung des Rechts so gut als möglich zu verhindern – dies zwecks Machtverlust des „Wir“ zugunsten des „Anderen“ für ein „Gemeinsames“ .6 Eine potentielle Hilfestellung, die uns nachhaltig die Richtung weisen kann, bietet der theoretische Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ . Der von der auf Antidiskriminierungs- und Gleichheitsrecht spezialisierten Juristin und Rechtsoziologin Susanne Baer erstmals in den deutschsprachigen Rechtswissenschaften im Zusammenhang mit dem Antidiskriminierungsrecht formulierte Begriff7 der Postkategorialität zielt darauf ab, Antidiskriminierungsrecht als Recht gegen Stigmatisierung, Ausgrenzung und „Ismen“ zu begreifen, ein Recht also, das nicht bei den Diskriminierungsbetroffenen (als „Opfer“) ansetzt, sondern sich an gesellschaftlichen Hierarchisierungen („Strukturen“ und „Täter“) und an individuellen Fähigkeiten bzw . Einschränkungen orientiert . Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘ verpflichtet den Gesetzgeber und die rechtsanwendenden Behörden, Antidiskriminierungsrecht ohne stereotype Differenz- und Gleichheitskategorien zu denken . Im Sinne von Judith Butler versteht sich der Ansatz als eine sprachpolitische Verdichtung von anti-essentialistischem (bzw . anti-hierarchischem) Wissen durch subversive und interventionistische Resignifizierung8 des geltenden kategorialen in ein künftiges 4 5
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Zur Wechselwirkung von Differenzkategorien auf der Strukturebene, der diskursiven Repräsentationsebene und der Ebene der Identifikation siehe Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, insb . S . 79–97 . Weiss bzw . nichtweiss oder Schwarz bezeichnet nicht zwingend die Hautfarbe, sondern auch eine kulturalisierte Rassifizierung . Gemeint sind Menschen, die von Rassismus und weisser hegemonialer Macht (negativ) betroffen sind . Um diese sichtbar zu machen, werden die Begriffe weiss und schwarz in diesem Text als Worte kursiv geschrieben . Hingegen wird weiss im Gegensatz zu Schwarz klein geschrieben, weil zwar auch diese Kategorie eine soziale Konstruktion ist, aber klein um eine Abgrenzung zu Schwarz zu vollziehen, das von grossen Teilen der ‚Schwarzen‘ bzw . People of Colour als politisch-emanzipatorische Selbstzuschreibung verwendet wird . Vgl . hierzu auch Nora Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, KJ 2009, S . 353–363, S . 353; Maureen Maisha Eggers, Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weissseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S . 13 . Vgl . hierzu auch die Vorschläge in Susanne Baer, Chancen und Risiken positiver Massnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts und drei Orientierungen für die Zukunft, Dossier Positive Massnahmen: Von Antidiskriminierung zu Diversity, Online-Publikation: http:// migration-boell .de/web/diversity/48_2635 .asp, Juli 2010 (Zugriff: 27 . April 2011) . Baer (Fn . 6) . Subversive und interventionistische Resignifizierung meint nach Judith Butler in Anlehnung an
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anti- bzw . postkategoriales Antidiskriminierungsrecht – es ist also ein Konzept, das nach erfolgter Mission seine Bedeutung verliert (Transformationskonzept) . Der vorliegende Beitrag entwickelt den Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ (2 . Theorie: Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘) . Auf dieser Grundlage werden Beispiele essentialistischer Fehlschlüsse im geltenden schweizerischen Antidiskriminierungsrecht identifiziert und dekonstruiert9 (3 . Praxis: Beispiele essentialistischer Fehlschlüsse) . Als rechtspolitischer Ausblick formuliert der Beitrag ein Fazit mit – aus in Thesen formulierten empirischen Erkenntnissen resultierenden – Vorschlägen für eine theoretisch fundierte antidiskriminierungsrechtliche Praxis und Politik (4 . Fazit und Ausblick in Thesen) . 2 theorIe: postkateGorIale ‚GleIchheIt und dIfferenz‘ „Wie gelingt es, Menschen ‚positiv‘ zu adressieren, ohne das Negative damit immer wieder festzuschreiben?“, so die zentrale Frage von Susanne Baer in ihrem kritischen Beitrag zu positiven Massnahmen zur Beseitigung von strukturellen Diskriminierungen über die Förderung spezifischer Gruppen .10 Gruppenrechte – so ihre Ausgangsposition – „essentialisieren Differenz und Ungleichheiten . Wer Menschen in Gruppen einteilt, reduziert sie auf ein Merkmal oder eine Eigenschaft, homogenisiert also Menschen, die einiges, aber nie alles gemeinsam haben . Wer sich an Gruppen orientiert, tendiert dazu, kollektive Identitätskonzepte als Identitätspolitiken zu verfestigen“ .11 Baer schlägt daher vor, weniger in Opferkategorien zu denken, sondern Antidiskriminierungsmassnahmen „postkategorial“ zu begreifen und ebenso Täter_innen12 und Struktur ins Visier zu nehmen . John L . Austin die bewusste und politisch intendierte Umschreibung wirkmächtiger Einschreibungen von Konventionen in Begriffen . Vgl . hierzu Judith Butler, Hass spricht: Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, etwa S . 218 . 9 Dies im Sinne der Tradition der Critical Legal Studies etc ., die in Anlehnung an Jacques Derridas Konzept der Dekonstruktion der Gerechtigkeit mittels Feinanalyse der herrschenden Dogmatik die im Recht eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen . Vgl . hierzu etwa Thomas-Michael Seibert, Dekonstruktion der Gerechtigkeit: Nietzsche und Derrida, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S . 29–55, insb . S . 43–48; Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc ., in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S . 97–116 . Mit dem die „Theorie“ der „Critical Legal Studies“ ergänzenden „etc .“ soll die Heterogenität der rechtspolitischen und -kritischen Bewegung dargestellt werden, die sich mit Ausnahme der machtkritischen Intention kaum auf einen klaren theoretischen und methodischen Nenner bringen lässt . 10 Baer (Fn . 6) . 11 Baer (Fn . 6) . 12 Ich benutze den Unterstrich _ in Anlehnung an Steffen Kitty Hermanns Vorschlag, dass mit dem _ all jene Menschen erneut in die Sprache eingeschrieben werden sollen, die entweder von der zweigeschlechtlichen Ordnung (Frau – Mann) ausgeschlossen werden oder aber nicht Teil von ihr sein wollen: „Mit Hilfe des _ sollen all jene Subjekte wieder in die Sprache eingeschrieben werden, die gewaltsam von ihr verleugnet werden .“ (Steffen Kitty Herrmann, „Queer(e) Gestalten: Praktiken der Derealisierung von Geschlecht“, in: Haschemin Yekani/Beatrice Michaelis, Quer durch die Geisteswissenschaften: Perspektive der Queer Theory, Berlin 2005, S . 53–72, insb . S . 64)
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Nun aber von vorne: Was bedeutet Gleichheit und Differenz im Antidiskriminierungsrecht? Sowohl die herrschende Rechtsdogmatik als auch die kritische Rechtssoziologie haben hierzu relevante Meinungen . Und wie lässt sich daraus der Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ entwickeln? Dies mit dem Ziel, das Antidiskriminierungsrecht richtig (d . h . gerecht, wirksam und konstruktiv) aufzustellen . 2.1 ‚GleicHHeit und diFFerenz‘ in der doGMatik des antidiskriMinierunGsrecHts „Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich“ zu behandeln, so der rechtsgleichheitsdogmatische Meta-Grundsatz .13 Abweichungen davon sind rechtlich nur dann zulässig, wenn sachliche Gründe vorliegen . Daran anschliessend unterstellen Diskriminierungsverbote als „besonders strenge Gleichheitssätze“ Benachteiligungen von Menschen aufgrund spezifischer Dimensionen14 vergleichsweise strengeren Rechtfertigungsmassstäben .15 Die besondere Rechtfertigungsstrenge legitimiert sich aufgrund der historischen bzw . gegenwärtigen Stigmatisierung und Ausgrenzung bestimmter sozialer „Gruppen“, die von Gleichheitsverstössen besonders hart getroffen werden .16 Ausgehend vom Prinzip der Gleichheit aller Menschen verlangt der Nichtdiskriminierungsgrundsatz eine differenzierte Betrachtung der Gleichheit und der Differenz – dies vor dem Hintergrund der sozial konstruierten Differenz-„Realitäten“ . Unzulässig ist demnach neben der direkten auch die indirekte Diskriminierung, d . h . neutrales Verhalten wonach faktisch Ungleiches mit nachteiliger Wirkung gleichbehandelt wird .17 Dies bedeutet: Diskriminierungsverbote betrachten Menschen als gleich in ihrem individuellen Da- und Sosein,18 und zugleich berücksichtigen sie allfällige biologische und sozial konstruierte Differenzen mit dem Ziel, diese vernünftig zu beurteilen .19
13 Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz: Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4 . Aufl ., Bern 2008, S . 645 . Aus der Rechtsprechung siehe unter vielen BGE 132 II 485 E . 6 .3 .1, S . 503 f . 14 Analytisch unpräzise auch Gründe oder Merkmale genannt (vgl . hierzu die Erklärung in Tarek Naguib, Antidiskriminierungsrecht im Vergleich: Schweiz – Europäische Union, Jusletter 21 . März 2011, Fn . 8) . 15 Walter Kälin/Martina Caroni, Das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen der ethnisch-kulturellen Herkunft, in: Walter Kälin, Das Verbot ethnisch-kultureller Diskriminierung: Verfassungs- und menschenrechtliche Aspekte, ZSR-Beiheft 1999 (29), S . 67–97, S . 78 . 16 Anne Peters, Diskriminierungsverbote, in: Detlef Merten/Hans J. Papier, Handbuch der Grundrechte: Grundrechte in der Schweiz und Liechtenstein, Zürich 2007, S . 255–299, Rz . 7 . Aus der Rechtsprechung siehe unter vielen BGE 130 I 352 E . 6 .1 .1, S . 357 . 17 Zu den Unterschieden der direkten und indirekten Diskriminierung siehe Andreas Rieder, Form oder Effekt? Art . 8 Abs . 2 BV und die ungleichen Auswirkungen staatlichen Handelns, Bern 2008, S . 210 ff . 18 Übernommen von Regina Aebi-Müller, Die „Persönlichkeit“ im Sinne von Art . 28 ZGB, in: Thomas Geiser/Thomas Koller/Ruth Reusser/Hans P. Walter/Wolfgang Wiegand, Festschrift Heinz Hausheer, Bern 2002, S . 99–116, S . 113 ff . 19 Wobei auch die scheinbar biologischen Differenzen letztlich massgeblich sozial konstruierte
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Hier lässt sich etwa das Beispiel des Anspruchs auf Grundschulunterricht20 eines gehörlosen Kindes anfügen . Demnach bedeutet der formal gleiche Anspruch auf Grundschulunterricht gerade nicht, dass dieser auch tatsächlich gleich wie bei einem hörenden Kind realisiert werden kann . Denn die Differenz des individuellen Da- und Soseins eines nicht hörenden Kindes – die sich einerseits in der biologischen und funktionalen „Gehörlosigkeit“ zeigt, und sich andererseits in der sozial konstruierten Kommunikationsbehinderung wegen strukturellen Defiziten an der Schule manifestiert21 – verlangt eine differenzierte Berücksichtigung . Konkret resultiert daraus ein Anspruch des nicht hörenden Kindes auf eine Gebärdendolmetschung .
Daran anschliessend wird in der rechtsdogmatischen Debatte kontrovers diskutiert, ob Diskriminierungsverbote auf einem symmetrischen oder einem asymmetrischen Diskriminierungsverständnis beruhen .22 Demnach werden Diskriminierungsverbote entweder als Anknüpfungs- oder als Benachteiligungsverbote begriffen .23 Konkret geht es um die Frage, inwiefern neben den strukturell benachteiligten Menschen (wie z . B . Frauen, Trans*personen, Menschen mit Behinderung, Fahrende, Zwitter, Muslime, Homosexuelle) auch nicht oder weniger benachteiligte Menschen (wie z . B . Männer, Menschen ohne Behinderung, Sesshafte, Christen, Heterosexuelle) davon erfasst werden – bzw . ob diese gleichheitsrechtlich gleich oder eben different zu beurteilen sind . Sowohl das Anknüpfungs- als auch das Benachteiligungsverbot haben Vor- und Nachteile .24 Problematisch an beiden Schutzrichtungen ist, dass sie sich zu stark auf die „Opfer“ fokussieren und dadurch die Strukturen bzw . die Diskriminatoren vernachlässigen . Daher sind sie – so absurd dies klingen mag – mitverantwortlich für die Zementierung diskriminierender Strukturen, auch wenn sie einiges zum Guten gewendet haben .25 Folgerichtig plädieren Susanne Baer, Susan Emmenegger und Ute Sacksofsky in Anlehnung an Catharine MacKinnon dafür, Antidiskriminierungsrecht als Recht gegen asymmetrische Machtverhältnisse zu betrachten und dabei aus einer anti-hierarchischen Perspektive zu denken, um den Blick auf die Ungleichheiten als Verhältnisse zu richten .26 Beispielsweise berücksichtigen Hierarchisierungsverbote im Gegensatz zu den Anknüpfungs- und Benachteiligungsverboten die Realität von Hierarchien im Rechtsverfahren . Konkret beachtet das Hierarchisierungsverbot im Rahmen eines Zivilprozesses wegen sexueller Belästigung die
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sind (Vgl . hierzu Judith Butler, Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt a . M . 2009, insb . S . 281 ff .) . Zum Anspruch auf Grundschulunterricht siehe Müller/Schefer (Fn . 13), S . 781–800, insb . S . 790 f . Wobei nach vorliegender Auffassung die biologisch-funktionale Behinderung letztlich Resultat der behinderten (bzw . behindernden) strukturellen Beschaffenheit der Gesellschaft ist (vgl . hierzu Abschnitt 3 .2) . Zum Stand der Diskussion in der Schweiz siehe Alexandra Dengg, Symmetrisches oder asymmetrisches Diskriminierungsverständnis: Gefahr der Stereotypisierung benachteiligter Gruppen, Jusletter 17 . Mai 2010 . Müller/Schefer (Fn . 13), S . 687 ff . Vgl . hierzu Müller/Schefer (Fn . 13), S . 687 ff . Baer (Fn . 6) . Susanne Baer, Würde oder Gleichheit?: Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Baden-Baden 1995; Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2 . Aufl ., Baden-Baden 1996; Susan Emmenegger, Feministische Kritik des Vertragsrechts: Eine Untersuchung zum schweizerischen Schuldvertrags- und Eherecht, Fribourg 1999 .
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Tarek Naguib Schwierigkeiten der belästigten Klägerin ihre Betroffenheit zu artikulieren und sich dagegen zu wehren indem es in einem Verfahren eine Herabsetzung des Beweismasses auf ein blosses Glaubhaftmachen verlangt .27
2.2 ‚GleicHHeit und diFFerenz‘ in der kritiscHen recHtssozioloGie 2 .2 .1 Gleichheits-/Differenz-Ansätze Die kritische Debatte zu ‚Gleichheit und Differenz‘ hat ihren Ursprung in der feministischen Rechtskritik und ihrem Nachdenken über das Verständnis von Geschlecht und Geschlechterdifferenz .28 Das anfängliche Ziel feministischer Rechtskritik war es, rechtlich zementierte Ungleichheiten der Frauen über formale Gleichheitsgebote im Sinne eines Gleichheitsverständnisses nach Aristoteles29 auszugleichen bzw . die individuellen Möglichkeiten der Frauen an diejenigen der Männer anzugleichen . Wobei als „Massstab der für die Bestimmung von Gleichheit erforderlichen Vergleichbarkeit (…) die (rechtliche und gesellschaftliche) Stellung von Männern herangezogen“ wird .30 Gleichheit bedeutet demnach gleiche Möglichkeiten im Berufs- und Privatleben – so etwa beispielhaft und konkret: gleiche Rechte beim Zugang zur (aktuell männlich konstruierten und strukturierten) Karriere . Dieses Streben nach Angleichung findet aber auch innerhalb gleichheitstheoretischer Positionen Kritik . So erklärt etwa Ute Gerhard in ihrem Ansatz „Gleichheit ohne Angleichung“, dass der Gleichheitsbegriff selbst impliziere, dass Gleichbehandlung nicht zur Angleichung führen dürfe, sondern weibliche Differenzen – biologische und gesellschaftliche – berücksichtigen müsse .31 Diese differenztheoretische Perspektive begreift die Stellung der Frau als ökonomisch und sozial ungleich und verwirft die in der gleichheitstheoretischen Perspektive übernommene patriarchale Abwertung des Weiblichen . Gleichheit bedeutet demnach im Gegensatz zur gleichheitstheoretischen Perspektive Gleichwertigkeit in den Möglichkeiten des Berufs- und Privatlebens – so etwa beispielhaft und konkret: eine gleichwertige Berücksichtigung der „weiblichen“ (als aktuell weiblich konstruierte) Solidarität und der „männlichen“ (als aktuell männlich konstruierte) Effizienz im Rahmen von Beförderungen . Diese feministisch formulierte Kritik rund um ‚Gleichheit und Differenz‘- Diskurse lässt sich auch auf andere Diskriminierungsdimensionen übertragen . Weitet frau die Perspektive des kritischen Blickes aus, lässt sich ‚Gleichheit und Differenz‘ als eine alle Dimensionen übergreifende strukturelle Fragestellung thematisieren . 27 Emmenegger (Fn . 26), S . 183 . 28 Für einen Überblick zu den Anfängen der Debatte und ihrer Entwicklung siehe Andrea Maihofer, Gleichheit und/oder Differenz? Zum Verlauf einer Debatte, in: Eva Kreisky/Birgit Sauer, Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, Opladen 1998, S . 155–176 . 29 Aristoteles, Nikomachische Ethik (übersetzt von Eugen Rolfes, Leipzig 1911), Fünftes Buch, 1130b, 1131a . 30 Sarah Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas FischerLescano, Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S . 157–178, S . 160 . 31 Differenzfeministinnen argumentieren, dass die „typisch weiblichen“ Eigenschaften und Fähigkeiten ebenso Anerkennung verdienten wie die typisch männlichen . Manche vertreten darüber hinaus die Auffassung, nur an den „weiblichen Eigenschafen“ könnte die Welt genesen, die an der Vorherrschaft krankt .
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Dies gilt etwa rund um die Frage der ‚Gleichheit und Differenz‘ von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Religionen und Lebensformen und solchen Menschen mit Behinderung im Vergleich zu solchen ohne Behinderung, solchen in der binären Geschlechterdichotomie scheinbar originär eindeutigen und solchen nicht eindeutigen Geschlechts . Gleich sind die betroffenen Menschen insofern, als eine stereotype Unterscheidung nicht zulässig ist . Die jeweilige Dimensionen spezifische Differenz wiederum zeigt sich in den unterschiedlichen biologischen und sozialen Wirklichkeiten, wobei erstere durch letztere massgeblich mitgeprägt sind . Ältere Menschen sind nicht etwa weniger leistungsfähig, ebensowenig wie Menschen mit und im Vergleich zu solchen ohne Behinderung . Auch junge Menschen sind nicht einfach weniger erfahren als ältere . Weiter ist es falsch, hinsichtlich der Fähigkeit, ein Kind zu seinem Wohle zu erziehen, zwischen gleich- oder unterschiedlich geschlechtlichen Eltern zu unterscheiden . Ebenso unsinnig ist die Differenzierung geschlechtsspezifischer Aufgaben oder die Verbindung frauendiskriminierender Praktiken mit spezifischen ethnisierten „Zugehörigkeiten“ . Dennoch ist es eine (überwiegend sozial hergestellte und nicht etwa natürliche) Realität, dass gehörlose Menschen beeinträchtigt sind im „Hören“, fahrende Menschen kein Interesse an der derzeitigen herrschenden Lebensform haben, Menschen aus verschiedenen Kulturen unterschiedliche Kommunikationskodices und Vorstellungen von Zusammenleben erlernten und Frauen statistisch betrachtet über weniger Flexibilität verfügen, weil sie stärker Sorge-/Pflege-Verantwortung übernehmen (müssen) .
‚Gleichheits- und Differenz‘- theoretisch differenziertes Denken verlangt daher ein gleichwertiges Berücksichtigen von Differenzen, dies obwohl – oder gerade weil – diese Differenzen nach vorliegender Auffassung letztlich ausschliesslich konstruiert sind – d . h . im Verhältnis zu bestehenden gesellschaftlichen (Sub-)Strukturen im aktuell herrschenden Raum und zur momentan herrschenden Zeit vergleichsweise vor- oder nachteilig dastehen, dies entgegen einer vermeintlichen Natur der Menschenkategorien (die mehr oder weniger als menschlich gelten) . Denn historisch besteht immer die Möglichkeit, diese strukturellen Relationen zu verändern – d . h . Differenz- in Gleichheitsbeziehungen zu transformieren –, vorausgesetzt es besteht ein Wille und die Ressourcen werden angemessen verteilt .32 2 .2 .2 Kritik an Gleichheits-/Differenz-Ansätzen Problematisch an Gleichheits-/Differenz-Ansätzen ist – so zunächst aus feministischer Perspektive betrachtet –, „dass sie in ihrer Struktur in den gesellschaftlich und auch rechtlich vorherrschenden binären Geschlechterverhältnissen verbleiben“ .33 Differenz sei auch in diesen feministischen Ansätzen nur als „das Andere des Einen und damit die Zweiheit nur über die Einheit und nie ohne hierarchische Abwertung“34 gedacht . Mann und Frau werden als Dichotomie begriffen, so bleiben sie einerseits unter sich hierarchisierend und andererseits in sich natürlich ausschliesslich, d . h . ausgrenzend für weitere Geschlechtermodelle (Trans*personen35) . Judith Butler geht in ihrer m . E . zutreffenden Analyse gar soweit, anstatt das soziale vom biologischen 32 33 34 35
Vgl . hierzu die Beispiele hinten, Abschnitte 3 .1 und 3 .2 . Elsuni (Fn . 30), S . 168 . Elsuni (Fn . 30), S . 168 . Vgl . zum Begriff Trans*personen und zur Diskriminierung von Trans*gender und zwischengeschlechtlichen Menschen und deren rechtlicher Situation Jannik Franzen/Arn Sauer, Diskriminie-
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Geschlecht abzuheben, das biologische Geschlecht (inkl . der Zweigeschlechtlichkeit) als Effekt des sozialen zu sehen .36 Die problematische Essentialisierung von geschlechtsbezogenen Gleichheits-/Differenzkategorien und die Abwertung des Einen im Vergleich zum Andern manifestiert sich auch in der asymmetrischen Dichotomie weiterer Diskriminierungsdimensionen wie etwa behindert/nichtbehindert, richtiges Alter/zu hohes bzw . zu niedriges Alter, Mehrheitsreligion(en)/Minderheitsreligion(en), sesshaft/fahrend, hetero-/homosexuell, autochthone Ethnie/allochthone Ethnie . So wird statisches Kategoriendenken etwa in der Tradition der verschiedenen Richtungen und Fortentwicklungen der Critical Legal Studies etc . – insbesondere in der Debatte über Intersektionalität der Critical Race Theory – immer wieder von neuem und an unterschiedlichsten sozialen Kategorien dekonstruiert .37 Auch Susanne Baer kritisiert, dass Kategorien als etwas biologisch oder kulturell fixiertes betrachtet werden: „Unheilvolle Verknüpfung phänotypischer Merkmale mit sozialen Deutungen ist jedenfalls für den Rassismus und Antisemitismus mit Blick auf die ihn fundierenden naturalisierenden Rassenlehren anerkannt . Auch sexuelle Orientierung oder Identität ist lange naturalisiert und als Krankheit pathologisiert worden . Desgleichen lässt sich die Tendenz zur Naturalisierung beim Alter beobachten, obwohl die Alternsforschung deutlich zeigt, wie unterschiedlich sich ebendies auf Menschen auswirkt . Schliesslich lässt sich am Begriff der Behinderung gut erkennen, wie problematisch Naturalisierungen sind, wenn sie ‚Behinderung‘ pauschal pathologisieren und fixieren, soweit dem medizinischen Modell gefolgt wird, anstatt auf Behinderungen von Menschen unterschiedlicher Befähigung abzuheben .“38
Die historische Falle der Gleichheits-/Differenz-Debatte liegt also in der Essentialisierung von Kategorien durch den Fokus auf Differenz und Gleichheit, obwohl es weder Differenz noch Gleichheit eindeutig gibt . So wird etwa diskursiv – also vermittelt über Sprache – von zwei oder mehreren natürlichen, homogenen und unüberbrückbaren Identitäten, Kulturen, Klassen, Körper etc . mit gegensätzlichen Qualitäten ausgegangen . Diese in die Begriffe eingeschriebenen Konventionen verfestigen sich wirkmächtig in den Strukturen – also in konkreten rechtlichen und gesellschaftlichen Ungleichheitsbeziehungen – als auch in der „Identitätsbildung“ der betroffenen Kategorienzugehörigen (gemeint sind Analysekategorien) . Und auch umgekehrt zwingen essentialistische Strukturen die Sprache zur Reproduktion derselben .39 Strukturell und grundsätzlich betrachtet, wirken hier Essentialismen in
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rung von Trans*personen, insbesondere im Arbeitsleben, hrsg . von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Berlin 2010, http://www .antidiskriminierungsstelle .de/RedaktionBMFSFJ/RedationADS/PDF-Anlagen/ 20101214_transExpertise,property=pdf,bereich=ads,sprache=de,rwb=true .pdf . (Zugriff: 07 .03 .2011) . Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (Titel der Originalausgabe: Gender Trouble), Frankfurt a . M . 1991 (im Original: 1990), insb . S . 32 ff . Vgl . hierzu etwa Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Anti-Discrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, S . 139, University of Chicago Legal Forum, Chicago 1989, S . 139–167; Dies ., Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, Stanford Law Review 1991, S . 1241–1299 . Susanne Baer, Ungleichheit der Gleichheiten? Zur Hierarchisierung von Diskriminierungsverboten, in: Eckart Klein/Christoph Menke, Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, Berlin 2008, S . 421–450, S . 439 . So etwa indem das Personenstandsrecht die Zweigeschlechtlichkeit vorschreibt .
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Strukturen, Diskursen und Identifikationen auf Diskriminierung bzw . Ungleichheit zementierende, unheilvolle Art und Weise zusammen .40 „Kategorien“ als Praxiskategorie sind also keine biologisch-genetische Gegebenheit oder kulturell fixierte Einheit, sondern wirkmächtiges Resultat geschichtlich sozialer Konstruktion, die Personen als das „Andere“ rassifiziert und anderweitig sozial klassifiziert . Menschen werden anhand von Bedeutungsträgerinnen, d . h . bestimmten kulturellen, körperlichen, geistigen, sozialen Merkmalen oder anderen persönlichen Eigenschaften als differenten, hierarchisierten Gruppen zugehörig festgeschrieben . Formuliert man den Ansatz in Anlehnung an Judith Butler kann gesagt werden, dass jede biologische und kulturelle Differenz stets ein Effekt sozialer Konstruktion darstellt . Ein gehörloser Mensch ist nicht einfach nicht hörend und damit anders, vielmehr manifestiert sich die Behinderung in den behinderten Strukturen, die nicht auf gehörlose Menschen ausgerichtet sind . Auch zeigt sich das Historische an einer Behinderung bei sehbehinderten Menschen, die vor Erfindung der Brille in ihrem Blick behindert waren, seither jedoch „problemlos“ sehen können; so ist es denn auch kein Zufall, dass Brillenträger_innen sich selbst kaum als behindert bezeichnen . Schliesslich lässt sich hier auch das Beispiel der Erfindung des Flugzeuges anbringen, das den Grad der Mobilitätsbehinderung aller Menschen für einen beachtlichen Anteil der Menschheit – diejenigen, die sich das Fliegen leisten können – massgeblich reduzierte .
2.3 postkateGoriale ‚GleicHHeit und diFFerenz‘ An diese Kritik der Gleichheits-/Differenz-Ansätze schliesst das Konzept der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ an . Postkategorial meint die Markierung von Prozessen, die Differenz konstruieren und zugleich existierende konstruierte Differenz ignorieren . Daher kann postkategoriales Recht auch nicht gänzlich auf Differenz implizierende Analysekategorien verzichten . Hingegen vermeidet ‚Gleichheit und Differenz‘ im postkategorialen Sinne – so gut es eben geht – sowohl die Schwächen des Gleichheits- als auch diejenigen des Differenzkonzeptes . Eine postkategorial gedachte ‚Gleichheit und Differenz‘ anerkennt den Menschen im differenten individuellen „Da- und Sosein“ als gleichwertig different, und allesamt unter gleichzeitiger Berücksichtigung der historischen spezifischen Differenz der tatsächlichen kulturellen und natürlichen – aber ebenso konstruierten – Differenzen . Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘ unterläuft ebenso wie das sprachphilosophische Konzept der différance et Iteration von Jacques Derrida41 und das Konzept der Performativität von John L. Austin und Judith Butler42 die Stillegung und Vereindeutigung von Differenz . Dieser „neue“ Blick ist naiv und kritisch hinterfragend40 Winker/Degele (Fn . 4), S . 68 ff . 41 Jacques Derrida, „Die différance“, in: Ders ., Die différance: Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S . 110–149, S . 139; Ders ., Positionen: Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpettea, in: Peter Engelmann, Positionen: Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Wien 1986; zusammenfassend siehe Franziska Rauchut, Wie queer ist Queer?: Sprachphilosophie Reflexionen zur deutschsprachigen akademischen „Queer“-Debatte, Königstein im Taunus 2008, S . 33–37 . 42 John L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962, S . 38; Judith Butler, Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S . 309 .
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differenziert zugleich . Naiv im Sinne von einer Stillegung von Differenz unter gleichzeitiger Offenheit gegenüber (potentiellen) tatsächlichen – bzw . konstruierten – Differenzen, ohne diese zu bewerten . Ein postkategoriales Verständnis von Gleichheit und Differenz verabschiedet ex ante ein Denken in Differenzkategorien ex post, berücksichtig jedoch zugleich den sozial realen Prozess der Kategorisierung von Differenzen . Beispielsweise unterscheidet sich der aus einem postkategorialen Blickwinkel betrachtete Mensch mit Behinderung nicht vom Menschen ohne Behinderung (Stillegung von Differenz) . Doch zugleich weiss das postkategoriale Auge, dass ein Mensch mit Behinderung möglicherweise nicht in derselben Situation ist wie ein Mensch ohne Behinderung (Offenheit gegenüber Differenz) . Dies wiederum bedeutet aber nicht, dass der postkategoriale Betrachter diese Differenzen insofern bewertet, als er sie zum Massstab seines Handelns definiert (Nichtbewertung der Differenz) . Zum Massstab des Handelns werden sie erst dann, wenn sie glaubhaft – d . h . sozialwissenschaftlich plausibel – Diskriminierung beseitigen .
Nun, möglicherweise scheint das Konzept der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ auf den ersten Blick weder neu noch besonders hilfreich zu sein . Begreift man das Konzept jedoch als einen fiktiven und zugleich realen kritischen Reflexionsraum, der die subjektive Beurteilung von Ungleichheitssachverhalten – etwa durch eine Richterin – ex ante – d . h . im Zeitpunkt der Beurteilung – rückblickend – also im Zeitpunkt der eingetretenen Ergebnisse des Urteils – einer nochmaligen Betrachtung unterzieht . Und geht man dabei davon aus, dass nicht die Kategorie für die Beurteilung relevant sein darf, sondern die reale Hierarchisierung . Dann erlebt man den Ansatz möglicherweise als hilfreichen Resonanzraum der kritischen Hinterfragung der eigenen antidiskriminierungsrechtlichen aber dennoch dominanten Perspektive: Postkategoriales Recht denkt ex ante vom Ergebnis (ex post) aus, indem es von der formalen Gleichheit ausgeht, materielle Gleichheit anstrebt und zugleich den Prozess dazwischen angemessen markiert . In den Worten von Susanne Baer43 fragt der postkategoriale Blick nicht nach Opferkategorien, die es zu unterstützen gilt, sondern danach, wo, bei wem und wie es ansetzen soll, damit es auch wirkt, ohne zu Differenzen zu fantasieren und zugleich konstruierte – aber deshalb nicht weniger reale – Differenzen und Kategorisierungen zu ignorieren. Es kritisiert die eigenen weissen Flecken, verhindert Gruppismus44 und Dominanzverhalten . Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘ führt daher konsequent zu einer Politik der Ermächtigung, der Gestaltung von Entscheidungen und der Gestaltung von Verhältnissen .45 Es denkt alles gemeinsam mit und gestaltet Gemeinsames daraus . Individuelle Fähigkeiten werden gefördert, soziale Einschränkungen attackiert .
43 Baer (Fn . 6) . 44 Der in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig anzutreffende „Gruppismus“ (groupism) bezeichnet nach Rogers Brubaker „die Tendenz, abgegrenzte Gruppen als fundamentale Analyseeinheiten (und grundlegende Konstituenten der gesellschaftlichen Welt) zu benutzen“ (Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen [Originalausgabe: „Ethnicity without Groups“], in: Ders ., Ethniziät ohne Gruppen, Hamburg 2007 [Originalausgabe: Cambridge, Mass ./London 2004], S . 11 und insb . S . 16–45) . Zu den problematischen Auswirkungen des „Gruppismus“ im Antidiskriminierungsrecht siehe Baer (Fn . 6) . 45 Zum Konzept siehe Baer (Fn . 6) .
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3 praxIs: BeIspIele essentIalIstIscher fehlschlüsse Die folgenden Beispiele veranschaulichen: Das geltende Antidiskriminierungsrecht verfügt noch über problematische Essentialismen . Zwar verpflichten Völker- und Verfassungsrecht (Menschenrechte und Grundrechte) die Staatsgewalt zu einem postkategorialen Blick auf Gleichheit und Differenz . Dies verhindert jedoch de facto nicht, dass sowohl in Rechtserlassen als auch in Gerichtsurteilen harte und weiche Essentialismen fortgeschrieben werden . 3.1 GrundprobleM: praxis-kateGorien in recHtserlassen Essentialismen in Rechtserlassen zeigen sich – wenn auch mit graduellen Unterschieden – in zweierlei typischer Ausführung: Einerseits gibt es den diskriminierenden Rechtserlass (harter gesetzgeberischer Essentialismus) .46 Andererseits – und dies ist hier von Interesse – manifestiert sich der gesetzgeberische Essentialismus auch auf weiche Art und Weise, konkret durch die Benennung der Diskriminierungskategorie ohne oder nur mit mangelhafter Markierung des Prozesses und des Status der Kategorisierung . Weich ist er deshalb, weil er keine offene Diskriminierung darstellt, sondern – im Gegenteil – diskriminierungsschutzrechtlich intendiert ist . Essentialistisch ist er, weil durch die begrifflich-kategoriale Reproduktion ein in den jeweiligen Kategorien – fälschlicherweise – natürlich Wesenhaftes und dadurch die gesellschaftlichen Stigmatisierungen, „Ismen“ und Ausgrenzung in der Rechtswirklichkeit weitergeschrieben werden . Zu den bedeutenden weichen gesetzgeberischen Essentialismen des schweizerischen Rechts etwa gehören die verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote (Art . 8 Abs . 2 BV47), das strafrechtliche Verbot der Rassendiskriminierung (Art . 261bis StGB, 171c MStG) und (weniger problematisch) das gleichstellungsrechtliche Diskriminierungsverbot im Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Art . 3 GlG48) . So darf gemäss Art . 8 Abs . 2 BV niemand diskriminiert werden, „namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung“ . Weiter stellen Art . 261bis StGB49 bzw . 171c MStG50 verschiedene Handlungen „wegen der Rasse, der Ethnie und der Religion“ unter Strafe . Schliesslich dürfen gemäss Art . 3 Abs . 1 GlG Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht wegen ihres Geschlechts direkt oder indirekt benachteiligt werden .
46 Z . B . sind Personen, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben, weder zur Adoption noch zu fortpflanzungsmedizinischen Verfahren zugelassen . Die Schweizer Landesregierung begründet dies im Wesentlichen damit „dass jedes Kind einen Vater und eine Mutter hat, die für die Entwicklung des Kindes ihre spezifische Bedeutung haben“ (BBl 02 .090 1320) . Gleichgeschlechtliche Eltern sind also gemäss Gesetzgeber dem Wohle des Kindes widernatürlich . 47 SR 101 . 48 SR 151 .1 . 49 SR 311 .0 . 50 SR 321 .0 .
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Die Benennung der Kategorien in Rechtserlassen gibt in der rechtswissenschaftlichen Literatur und Praxis noch kaum zu denken . Im Gegenteil: sie ist gewünscht, denn mit der Explizierung von Kategorien werde ja gerade bezweckt, die Stigmatisierung zu bekämpfen bzw . überhaupt ein Einfallstor für das spezifisch strenge Gleichheitsgebot zu haben, so der Tenor .51 Aus der Perspektive des Diskriminierungsschutzes ist diese Auffassung zu überdenken, um so mehr als man bis anhin auch keinen Bedarf rechtssoziologischer empirischer Daten formuliert hat, die aufzeigen, dass die Benennung für die Bekämpfung von Diskriminierung tatsächlich auch notwendig ist . Demgegenüber lässt sich die Diskriminierung zementierende Wirkmächtigkeit dieser rechtswissenschaftlichen Konvention durchaus anhand von Beispielen illustrieren . Besonders deutlich wird dies an einem Entscheid der Staatsanwaltschaft Solothurn, die zu beurteilen hatte, ob ein Diskobetreiber, der zwei jungen Männern aus dem Kosovo mit den Worten „Im Moment werden keine Personen aus dem Balkan reingelassen“ den Einlass in den Club verwehrte, eine Diskriminierung begangen hatte . Sie verneinte dies – und dieser Schluss ist das Groteske – im Grunde trotz „präziser“ Analyse: „Offensichtlich können die Balkanvölker nicht einer Religionsgemeinschaft oder einer rassischen Gruppe zugeordnet werden, sodann fallen sie auch nicht unter den Begriff der Ethnie . Ethnische Gruppen definierten sich über gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames System von Einstellungen und Verhaltensnormen (Sprache, Tradition, Brauchtum) . Gerade diese Voraussetzungen seien bei den Balkanvölkern offenkundig nicht erfüllt .“
Eine solche Fehlentscheidung lässt sich nicht einfach mit dem Argument bagatellisieren, dass Fehlentscheidungen letztlich ein Faktum der Jurisprudenz sind . Zwar ist dem so, doch gerade im Antidiskriminierungsrecht sind solch fehlerhafte Beurteilungen besonders problematisch und müssten aus der Perspektive der Pflicht eines wirksamen Schutzes heraus besondere Beachtung finden – so wäre insbesondere nach den dem Diskriminierungsschutz immanenten homogenisierenden Ursachen zu forschen . Und diese sind vorhanden! So zeigt sich auch weiter hinten, dass Urteile letztlich auf unterschiedliche Art und Weisen Stigmata zementieren können . Denn Fakt ist,52 dass in der herrschenden Auffassung innerhalb der Gesellschaft die Kategorien Rasse, Geschlecht, Alter, soziale Stellung, Ethnie, Religion etc . mit zahlreichen Stereotypen und Vorurteilen behaftet sind, deren potentielle Wirkmächtigkeit auch auf die Jurisprudenz (gerade deswegen!) in den Rechtswissenschaften nicht einfach ignoriert werden darf . Zwar zeigt sich in der allgemein gültigen Formel des Bundesgerichts zum Diskriminierungsbegriff ein durchaus differenzierter Umgang mit der Problematik der Kategorisierung . Doch stellt sich das Problem der Essentialisierung grundsätzlich und immer wieder neu . So stehen nach Doris Liebscher Gerichte beispielsweise „vor der Herausforderung, ‚Rasse‘ als soziale Konstruktion sichtbar zu machen, um rassistischen Kategorisierungen und Hierarchisierungen die Legitimationsgrundlage zu entnehmen“ . Dadurch bestehe aber die Gefahr, dass tradierte rassistische Wissensbestände im Rechtsdiskurs wirkmächtig bleiben und Recht, das mit der Intention ge-
51 Müller/Schefer (Fn . 13), S . 710 ff . 52 Siehe auch Abschnitt 2 .2 .2 .
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setzt wurde, rassistische Diskriminierung zu verhindern, selbst rassistische Kategorisierungen stabilisiere .53 Die wirkmächtige Einschreibung von Konventionen in Begriffe, wie dies von John L. Austin und Judith Butler spezifisch herausgearbeitet wurde, lässt sich gerade auch in deren Umschreibung54 verdeutlichen . Begriffe sind lebendige Wesen, vermitteln Wissen, transportieren dieses in die gesellschaftlichen Strukturen und wirken auf die Selbstidentifikation von Menschen . Gerade bei Diskriminierungen sind Begriffe daher nicht zu unterschätzen, weil deren Bedeutung letztlich über Ein- oder Ausschluss entscheiden . Die konkrete Relevanz dieser Umschreibung für verfassungsrechtliche und gesetzliche Diskriminierungskategorien lässt sich etwa anhand einer historischen Betrachtung der Diskriminierungsdimension der „Behinderung“ im schweizerischen Recht darstellen . So wohnt im Begriff der „körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung“ in Artikel 8 Abs . 2 BV, der im Jahr 2000 in Kraft getreten ist, noch die historische Last der einseitigen Einschreibung der Konvention inne, Behinderung als eine biologische und funktionale Störung zu betrachten – sie zu naturalisieren . Bereits 2004 erweiterte dann das Behindertengleichstellungsgesetz den Behindertenbegriff um die soziale Komponente, indem es einen Mensch mit Behinderung als eine Person definiert, „der es eine voraussichtlich dauernde körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben“ (Art . 2 Abs . 1 BehiG) . Mit einer allfälligen Unterzeichnung und Ratifizierung der UNO-Behindertenkonvention (aus dem Jahr 2006) durch den schweizerischen Gesetzgeber müsste der Fokus der Behindertengleichstellung gar noch stärker auf den Abbau beeinträchtigender gesellschaftlicher Strukturen gelegt werden55 (Behinderung als soziale Konstruktion) .
Die beispielhafte gesetzgeberische Entwicklung ist Teil einer subversiven (bzw . interventionistischen) Resignifizierung56 des Begriffes der Behinderung . Sie illustriert – und das meint historische Konstruiertheit von „Identitätskategorien“ – die Umschreibung einer Begriffsbedeutung durch deren Destabilisierung von begrifflich eingeschriebenen herrschenden Konventionen . Aktueller Inhalt dieses performativen Aktes ist die Wandlung weg von den Behinderten als konstruierte Problemkategorie, die es zu behandeln gilt (Objekte), hin zu gleichberechtigten Akteuren (Subjekte), die keineswegs eine natürliche Kategorie darstellen, sondern letztlich aus Individuen besteht, die ein Stigma tragen . Auch das folgende Beispiel aus der Gerichtspraxis macht deutlich, dass Diskriminierungs-Opfer-Kategorien die schlechtere Lösung sind, um Diskriminierung sichtbar zu machen und zu bekämpfen . Sie verlangen nach einer für jede Diskriminierungskategorie spezifische historische Dekonstruktion .
53 Doris Liebscher, „Race does not exist . But it kills people“: Ambivalenzen des Begriffs „Rasse“ im Deutschen Antidiskriminierungsrecht: Referat im Rahmen der Werkstattgespräche des Law & Society Institute Berlin, Humboldt-Universität Berlin, 22 . Juni 2010 . 54 Zum Begriff der subversiven Resignifizierung siehe Fn . 8 in Abschnitt 1 . 55 Walter Kälin/Jörg Künzli/Judith Wyttenbach/Annina Schneider/Sabiha Akagündüz, Mögliche Konsequenzen einer Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz: Gutachten zuhanden des Generalsekretariats GS-EDI, Bern 2008, insb . S . 14 . 56 Zum Begriff siehe Fn . 8 in Abschnitt 1 .
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3.2 Fallbeispiel: naturalistiscHe kateGorie ‚beHinderunG‘ (bGe 130 i 352) In einem Urteil aus dem Jahr 2004 hatte das Bundesgericht darüber zu entscheiden, ob die Einschulung eines Kindes mit Behinderung in die Sonderschule einen Verstoss gegen das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung darstellt . Die beiden zuständigen Schulräte lehnten es ab, den Knaben in die Einführungsklasse einer Regelschule einzuschulen . In letzter Instanz hielt das Bundesgericht in seiner Urteilsbegründung fest, dass das Diskriminierungsverbot und das Behindertengleichstellungsgesetz als allgemein gehaltene Bestimmungen nicht dazu führen könnten, dass der Beschwerdeführer – entgegen seinen Interessen und seinem Wohl – in die Einführungsklasse eingeschult werde .57 Die Argumentation erscheint auf den ersten Blick vernünftig, erst in einer detaillierten Dekonstruktion der Begründung werden deren problematische Züge ersichtlich . So geht das Bundesgericht meines Erachtens von einem essentialistischen Begriff der Behinderung aus, indem es im Grundsatz die Nichtintegration als Möglichkeit zum Wohle des Kindes zu weit offen lässt . Zwar ist die Bezugnahme auf das Wohl des Kindes sinnvoll und erscheint auch menschenrechtlich fundiert, ebenso muss es vor dem Hintergrund des effektiv Möglichen aufgrund der defizitären schulischen Strukturen beurteilt werden . Fehlgeleitet bleibt die Argumentation aber, weil hier implizit eine essentialistische Trennung zwischen dem Wohl des behinderten Kindes und dem Wohl des nicht behinderten Kindes vermittelt wird . Postkategorial gedacht wäre es demgegenüber angemessen, die formelhafte Unterscheidung der zwei Kindeswohlkategorien „behindertes Kind“ einerseits und „nicht behindertes Kind“ andererseits als stereotyp und empirisch widerlegt zu bezeichnen . Eine scheinbare Dichotomie zwischen dem behinderten und dem nicht behinderten Kind fusst in eine naturalistische Konstruktion . Abnormal ist also nicht das Kind mit Behinderung, sondern die behindernden Bedingungen an der Schule bzw . in der Gesellschaft . Eine solche Betrachtung hätte eine Verschiebung in der juristischen Argumentation zur Folge: Konkret würde dies nämlich bedeuten, dass die Nichtintegration eines Kindes mit Behinderung vermutungsweise gegen das (de iure) Wohl dieses Kindes verstösst . Im Anschluss daran wäre dann zu prüfen, ob zur de facto Gewährleistung des Kindeswohl in concreto – aufgrund strukturell benachteiligender Aufstellung der konkreten schulischen Strukturen – ein unverhältnismässiger Aufwand betrieben werden müsste bzw . Drittinteressen auf unverhältnismässige Art und Weise beeinträchtigt sind und damit eine Ungleichbehandlung – nota bene: zulasten des Wohles des Kindes – ausnahmsweise als gerechtfertigt erscheint – zumindest nach geltendem Recht . Eine derartige Argumentation ist keineswegs nur theoretisch, dies auch wenn sie möglicherweise zum selben Ergebnis führt . So wird dadurch Behinderung/Nichtbehinderung nicht mehr stereotyp als Dichotomie normal/abnormal gedacht, sondern vielmehr wird der inklusive Charakter der Gesellschaft betont, nämlich dass auf der Basis des faktischen individuellen Da- und Soseins die Gesellschaft gemeinsam gestaltet wird . Dies führt langfristig zu einem Umdenken im Recht gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderung bzw . dadurch – und umgekehrt – zu einer 57 Siehe insb . Erw . 6 .1 .2 .
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Umgestaltung in den gesellschaftlichen Diskursen, Strukturen und Identifizierungsprozessen . 4 fazIt und ausBlIck In thesen Das geltende Antidiskriminierungsrecht markiert Kategorien, in der Hoffnung, dadurch essentialistische Diskriminierung wirksam zu bekämpfen . Nun kann aber aufgrund der vorliegenden skizzenhaften theoretischen und angetippten empirischen Untersuchung glaubwürdig die These vertreten werden, dass Kategorien im Antidiskriminierungsrecht auf problematische Weise wirkmächtig sind . Sie zementieren diskriminierende Wissensbestände in den geltenden Strukturen und Identifikationsmustern durch sprachliche Repräsentation eben solcher in die Kategorien eingeschriebene naturalistische und kulturalistische Stereotypen . Dies gilt auch – und das ist besonders bedenkenswert – für den Diskurs des positiven Antidiskriminierungsrechts, der vorwiegend aus der Perspektive der weissen, heteronormativen, männlichen, nichtbehinderten, alterslosen, christlich geprägten, sesshaften etc. Dominanz geführt wird . Plakativ als Problem-These formuliert: Die geltende Antidiskriminierungspraxis reproduziert die Essentialismen, die sie zu beseitigen sucht . Weil dem so ist, bedarf es dringend eines bewussten Umgangs mit den Essentialisierungs-Fallen . Und dies wird mit dem sprachpolitischen Ansatz der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ vorgeschlagen . Er weist drei Stossrichtungen auf: Erstes bezweckt er eine Grundsatzkritik an der defizitären Wirkung, Wirksamkeit und Gerechtigkeit des geltenden positiven Antidiskriminierungsrechts . Zweitens dient der Ansatz als Instrument der Rechtsetzung und Rechtsanwendung, mit Differenz- und Gleichheitskategorien kritischer, d . h . gesellschaftlich tiefgründiger umzugehen, Essentialismen zu erkennen, zu benennen und nicht zu reproduzieren . Drittens ist er ein sprachpolitisches Transformations-Projekt mit dem Ziel, stigmatisierende Konventionen in den Kategorien historisch umzudeuten (z . B . Rassismus statt Rassen) . Somit lässt sich aus problemanalytischer Perspektive das Fazit formulieren: Antidiskriminierungsrecht ist ohne essentialistische Kategorien zu denken! Rechtspolitisch konkret führt diese Schlussfolgerung zwar zweifellos in ein ambitioniertes Unterfangen, wie auch Doris Liebscher festhält,58 die in Bezug auf das Merkmal „Rasse“ im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und in Art . 3 Abs . 2 Grundgesetz die Ersetzung durch die Termini „rassistisch“, „rassistische Diskriminierung“ oder „aus rassistischen Gründen“ diskutiert . Rechtspraktisch operationalisierbar gedacht, schlage ich daher mit Einführung der postkategorialen ‚Gleichheit und Differenz‘ ein Essentialisierungsverbot und ein Verbot des Essentialisierungsrisikos vor . Die zwei Verbote nehmen sowohl den Gesetzgeber als auch den Rechtsanwender in die Pflicht . Konkret heisst dies: Der Gesetzgeber unterlässt es, Diskriminierungsdimensionen wie Alter, Behinderung, Rasse, Geschlecht, sexuelle Identität, Lebensform, soziale Stellung etc . unreflektiert in 58 Doris Liebscher, Neue Horizonte: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz und europäische Antidiskriminierungsrichtlinien“, in: Lena Foljanty/Ulrike Lembke (Hrsg .), Feministische Rechtswissenschaft: Ein Studienbuch, 2 . Aufl ., Nomos 2011 .
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Rechtstexten zu verankern . Statt dessen markiert er Kategorien als Stigmatisierungs- und Hierarchisierungsprozesse . Dies realisiert der Gesetzgeber primär, indem er nicht von „Diskriminierung wegen (…)“, sondern von stigmatisierender oder sozialer Diskriminierung wie etwa „rassistischer, sexistischer, klassistischer, abilistischer oder ageistischer Diskriminierung“ spricht . Wo eine Benennung des Stigmatisierungs- bzw . Hierarchisierungsprozesses über eine Begrifflichkeit praktisch nicht eindeutig möglich ist – bzw . sie in der gegenwärtigen historischen Realität allenfalls falsch oder missverstanden werden –, nimmt der Gesetzgeber eine Definition des Diskriminierungsprozesses vor, wie sie etwa im Zusammenhang mit der Diskriminierungsdimension „Behinderung“ in der UNOBehindertenkonvention vorgenommen wurde . Auf dieser Grundlage kann etwa Art . 8 Abs . 2 BV folgendermaßen umformuliert werden: Aktuelle Version: Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung . Vorschlag: Jede soziale Diskriminierung ist untersagt . Dazu gehören etwa rassistische Diskriminierung, sexistische Diskriminierung, heteronormative Diskriminierung, ageistische Diskriminierung, klassistische Diskriminierung oder abilistische Diskriminierung . Vorschlag für eine ergänzende Definition am Beispiel der abilistischen Diskriminierung: Eine abilistische Diskriminierung bezeichnet jede Benachteiligung einer Person, verursacht durch das Zusammenspiel von Umweltbarrieren und Eigenschaften der Person, welche die Überwindung der Barrieren nachhaltig erschweren oder unmöglich machen .
Eine solche Lösung erlaubt eine flexible Ausrichtung der Antidiskriminierungsrechtspraxis auf gesellschaftliche Prozesse und auf komplexe Diskriminierungskonstellationen (z . B . mehrdimensionale Diskriminierungen) . Beispielsweise, so Liebscher, könnten Frauen einer bestimmten Generation, die in der DDR aufgewachsen sind und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, das Recht nutzen, ohne sich als „Ossi-Ethnie“ konstruieren zu müssen . Oder Menschen, die an Bahnhöfen in Gruppen Alkohol konsumieren, könnten sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgreich vor Gericht vor diskriminierenden Rayonverboten – die massgeblich Ergebnis und Teil komplexer gesellschaftlicher Stigmatisierungsprozesse sind – schützen, ohne sich als Personen gemeinsamer Lebensform – mit tatsächlich nicht vorhandenen, die Kategorie „Lebensform“ determinierenden Merkmalen – konstruieren bzw . „beweisen“ zu müssen .59
59 Vgl . hierzu BGE 132 I 49 .
till ziMMerMann dIe rollentauschproBe Im strafrecht Der Aufsatz behandelt die Frage, wie das ethische Gedankenexperiment eines fiktiven Rollentauschs durchgeführt werden muss und welchen Nutzen die Strafrechtswissenschaft hieraus zu ziehen vermag . Anhand eines vertragstheoretischen Begründungsmodells wird zunächst gezeigt, dass das SichHineinversetzen in die Interessenlage eines anderen die zentrale Überlegung bei der Erzeugung universalisierbarer (strafrechtlicher) Normen bildet . Am Beispiel des „klassischen“ Rollentauschproblems der Erfahrbarkeitsbedingung beim Tötungsdelikt wird sodann die These begründet, dass es bei der Rollentauschprobe auf die Zukunftsperspektive einer 1 . Person Singular ankommt . Die entscheidenden Fragen bei der rechtlichen Auflösung von Interessenkonflikten lauten demnach „Könnte auch Ich eines Tages in eine solche Position geraten?“ und, falls ja, „Was wünschte Ich mir, von meinem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet, wenn Ich tatsächlich in diese Lage geriete?“ . Mithilfe dieser Überlegung werden schließlich Fundamentalprobleme des Strafrechts – der Zweck des Strafens sowie die Grenzen des Schutzes menschlichen Lebens – neu auszuleuchten versucht .
1 eInleItunG 1.1 „das straFrecHt Muss seine traGenden Grundsätze auF das FundaMent der etHik stellen“1 Der Strafrechtswissenschaftler muss sich mit der ethischen Richtigkeit des Rechts befassen . Dies möglicherweise bereits deshalb, weil er der Auffassung anhängt, dass extrem ungerechte Regeln ihren Charakter als Rechtsnormen verlieren und daher nicht angewendet werden dürfen .2 Doch auch als Anhänger einer rechtspositivistischen Gegenauffassung stellt sich ihm bei der Gesetzesanwendung die Frage nach der gerechtesten Auslegungsmöglichkeit .3 In jeden Fall aber muss er Farbe bekennen, wenn er im politischen Diskurs über das Recht der Zukunft als Experte zum „richtigen Recht“ Stellung beziehen soll .4 Ohne irgendeine Gerechtigkeitstheorie in der Hinterhand geht es also nicht . 1.2 die rollentauscHprobe in raWls’ kontraktualisMus Welcher Gerechtigkeitstheorie der Strafrechtler sich bedient, ist offen . Als Gewährsmänner trifft man in Deutschland am häufigsten auf Immanuel Kant5 und Georg 1 2 3 4 5
Reinhard Merkel, Zaungäste?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M., Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt a . M . 1995, S . 171–196, S . 174 . Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, S . 105–108, S . 107; Karl Larenz, Richtiges Recht: Grundzüge einer Rechtsethik, München 1978, S . 20 f .; BGH NJW 1995, S . 2728–2732, S . 2730 f . Herbert L.A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, Harvard Law Review 1957/58, S . 593–629, S . 608; Norbert Hoerster, Was ist Recht?, München 2006, S . 128 . Vgl . Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 2 . Aufl ., Berlin 1992, S . 177 f . Kristian Kühl, Strafrecht und Moral in Bewegung, in: Hans-Ullrich Paeffgen et al., Strafrechtswissenschaft als Analyse und Rekonstruktion: Festschrift für Ingeborg Puppe, Berlin 2010, S . 653– 667; Joachim Hruschka, Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts, in: Hans Kudlich/Franz
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Wilhelm Friedrich Hegel6 . Zunehmender Popularität erfreut sich jedoch auch die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls .7 Diesem zufolge sind die Grundstrukturen einer Gesellschaftsordnung dann gerecht, wenn sie sich analytisch als Grundsätze rekonstruieren lassen, auf die sich rationale bzw . vernünftige Personen unter fairen Verhandlungsbedingungen einigen würden .8 Zentraler Baustein in Rawls’ vertragstheoretischer Gerechtigkeitstheorie ist ein innovatives Instrument zur Erzeugung jener fairen Verhandlungsbedingungen, die als Garant für die Erzeugung universalisierbarer Normen unverzichtbar sind – der „Schleier des Nichtwissens“ .9 Dieser bewirkt, dass keine der Verhandlungsparteien über ihre zukünftige Stellung in der Gesellschaft Kenntnis hat, sodass die Entscheidungen über das gesellschaftsvertragliche Regelwerk unter Ungewissheit getroffen werden müssen . Mit diesem Kunstgriff zwingt Rawls die Kontrahenten zur Teilnahme an einem fiktiven doppelten Rollentausch; zur Lösung potentieller Interessenskonflikte muss jede Seite des Konflikts sozusagen probehalber eingenommen, gedanklich durchgespielt und sodann mit der eigenen Interessenlage abgeglichen werden . Weil die Parteien nicht wissen, ob sie schwach oder stark sein werden, vereinbaren sie ein allgemeines Tötungsverbot (denn die Aussicht, als Schwacher getötet zu werden, ist bedrohlicher als die Beschränkung, als Starker auf das gelegentliche Töten anderer verzichten zu müssen) .10 Und weil die Parteien nicht wissen, ob sie arm oder reich sein werden, verabreden sie ein Diebstahlsverbot,11 verbunden mit konzedierenden Regelungen über ein staatlich garantiertes Existenzminimum (denn die Aussicht, als Besitzender tagtäglich Hab und Gut verteidigen zu müssen, ist jedenfalls dann unangenehmer als die Aussicht, als Habenichts auf den Zugriff fremden Eigentums verzichten zu müssen, sofern zumindest das nackte Überleben in jedem Fall gewährleistet wird) .12 Und so weiter .13 Jeder einzelne Vertragspartner muss also
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Streng, Strafrechtspraxis und Reform: Festschrift für Heinz Stöckel, Berlin 2010, S . 77–92; Katrin Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, Berlin 2005 . Siehe auch Fn . 35 . Wilfried Küper, Von Kant zu Hegel: Das Legitimationsproblem des rechtfertigenden Notstandes und die freiheitsphilosophischen Notrechtslehren, JZ 2005, S . 105–115; Michael Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, Berlin u . a . 2001; Wolfgang Schild, „Das Recht erhält die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen .“ Zu Hegels Theorie der Strafrechtsinstitution, in: Paeffgen et al. (Fn . 5), S . 77–90 . Siehe etwa Henning Radtke, Überlegungen zum Verhältnis vom „zivilen Ungehorsam“ zur „Gewissenstat“, GA 2000, S . 19–39; Tatjana Hörnle, Menschenwürde und Lebensschutz, ARSP 2003 (89), S . 318–338, S . 323 ff .; Sven Thomas, Das allgemeine Schädigungsverbot des § 266 Abs . 1 StGB, in: Regina Michalke et al., Festschrift für Rainer Hamm, Berlin 2008, S . 767–782, S . 772 ff . John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1979; ders., Gerechtigkeit als Fairness: Ein Neuentwurf, Frankfurt a . M . 2006 . Dazu Christian Schmid, Der Schleier des Nichtwissens, in: Carsten Bäcker/Stefan Baufeld, Objektivität und Flexibilität im Recht, ARSP-Beiheft 2005 (103), S . 51–59 . Rawls (Fn . 8), TdG, S . 82 spricht lediglich von der „Unverletzlichkeit der Person“ . Eine detaillierte kontraktualistische Lebensrechtsbegründung findet sich bei Norbert Hoerster, Ethik und Interesse, Stuttgart 2003, S . 163–167 . Krit . dazu Vuko Andrić, Eine Kritik an Norbert Hoersters Theorie der Normenvertretung, ZphF 2010 (64), S . 62–83, S . 69 ff . Dazu etwa Hoerster (Fn . 3), S . 98 f . Rawls (Fn . 8), TdG, S . 309 f . Siehe auch Norbert Hoerster, Rechtsethik ohne Metaphysik, JZ 1982, S . 265–272, S . 271 . Freilich wird hier nicht übersehen, dass Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als Anleitung für die Schaffung gesellschaftlicher Institutionen konzipiert ist; ob sie darüber hinaus im Sinne einer all-
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vor seiner Unterschrift Sonderinteressen schleifen und einen Interessenkompromiss mit sich selber aushandeln (intrapersonale Interessenabwägung) .14 Freilich ist hierbei infolge möglicher Selbstbetroffenheit die Vereinbarung von solchen Normen ausgeschlossen, die eine individuelle Unzumutbarkeit für den Betroffenen zur Folge hätten .15 1.3 die rollentauscHprobe in anderen etHikModellen Selbstverständlich ist das Rollentauschverfahren keine exklusiv rawlsianische Domäne . Nahezu alle Ethikmodelle die mit menschlichen Bedürfnissen und Interessen argumentieren, laufen auf vergleichbare Gedankenexperimente hinaus – bspw . die skeptizistische Universalisierungstheorie Mackies,16 die hypothetisch kontraktualistischen Interessentheorien,17 der Präferenzutilitarismus,18 eine diskurstheoretische Herangehensweise19 oder die Anwendung der Goldenen Regel .20 Die nachfolgenden Ausführungen behandeln daher modellübergreifend relevante Fragestellungen . Dass hier gleichwohl anhand eines neo-kontraktualistischen Grundmodells à la Rawls zu veranschaulichen versucht wird, hat vor allem zwei Gründe . Erstens ist gerade das Vertragsmodell bei den Strafrechtlern auf besonders fruchtbaren Boden gefallen; vermutlich hängt dies damit zusammen, dass einerseits die Vertragsfigur
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gemeinen Moralphilosophie auch zur Lösung (rechts-)ethischer Detailfragen tauglich ist, hat Rawls ausdrücklich offen gelassen hat (in Justice as Fairness: Political not Metaphysical, Philosophy & Public Affairs 1985 [14], S . 223–252, S . 225) . Die strafrechtliche Rezeption bejaht diese Frage indes stillschweigend . Zum Kompromiss-Charakter der auf rationalem Eigeninteresse basierenden Normen siehe Hoerster (Fn . 10), S . 179; John Mackie, Ethik: Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart 1983, S . 118; Peter Stemmer, Moralischer Kontraktualismus, ZphF 2002 (56), S . 1–21, S . 3; Richard M. Hare, Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Frankfurt a . M . 1992, S . 169 f . Vgl . Rawls (Fn . 8), TdG, S . 202 . Dies verkennend Günther Jakobs, Kaschierte Ausnahme, in: Knut Amelung/Hans-Ludwig Günther/Hans-Heiner Kühne, Festschrift für Volker Krey, Stuttgart 2010, S . 207–220, S . 216 Fn . 26; Mackie (Fn . 14), S . 120 f . Mackie (Fn . 14) spricht bzgl . seines Modells von einem Rollentausch (S . 114) und betont, dass „[d]ie Grundidee von John Rawls’ Theorie der ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ [nur] eine andere Weise dar[stellt], zu etwa demselben Ergebnis zu gelangen“ . Etwa Norbert Hoerster, Moralbegründung ohne Metaphysik, Erkenntnis 1983 (19), S . 225–238; ders . (Fn . 3), S . 162 ff .; Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer, Berlin/New York 2000, S . 80 ff .; ders . (Fn . 14), S . 1 ff . Siehe auch Armin Engländer, Rechtsbegründung durch aufgeklärtes Eigeninteresse, JuS 2002, S . 535–540 . Deutlich Hare (Fn . 14), S . 145: „Es ist erforderlich, dass wir uns vergewissern, dass wir die universelle Anwendung [einer] Vorschrift akzeptieren können . Und dies schließt ein, dass wir sie auch dann anwenden würden, wenn wir in der Lage des anderen wären .“ Hierzu etwa Jan-R. Sieckmann, Abwägung von Rechten, ARSP 1995 (81), S . 164–184, S . 181 mit Fn . 74 . Vgl . Hans Reiner, Die „Goldene Regel“, ZphF 1948 (3), S . 74–105, S . 83 („Ausgehend von den eigenen Gefühlen oder Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen […] sollen wir uns in den anderen ‚einfühlen‘, d . h . uns an seine Stelle versetzen .“) . Siehe auch Günter Spendel, Die Goldene Regel als Rechtsprinzip, in: Josef Esser/Hans Thieme, Festschrift für Fritz von Hippel, Tübingen 1967, S . 491–516; Neil Duxbury, Golden Rule Reasoning, Moral Judgment and Law, Notre Dame Law Review 2009 (84), S . 1529–1605 .
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den Juristen besonders vertraut ist, und dass andererseits der Schleier des Nichtwissens bzw . der Vertrag über ein gesellschaftliches Regelwerk keine allzu hohen Abstraktionen von dem realen „Schatten der Zukunft“21 bzw . der demokratischen Gesetzgebung darstellen .22 Und zum zweiten sind die für einen Rechtsethiker bedeutsamen Fragen der Praxistauglichkeit eines rollentauschbasierenden Normbegründungsmodells – hiervon wird später noch zu handeln sein – insbesondere auf der Basis der interessentheoretischen Kontrakttheorie Hoersters23 erforscht worden, sodass dessen Modell sich hier in besonderem Maße zur Exemplifizierung eignet .24 Im Folgenden seien zunächst einige strafrechtliche Anwendungsbeispiele der Rollentauschprobe vorgestellt . Sodann werden spezifische Probleme aufgezeigt, die im Anschluss an die Auseinandersetzung mit kontraktualismuskritischen Einwänden einen Lösungsvorschlag erfahren . 2 dIe rollentauschproBe Im strafrecht 2.1 der recHtFertiGende notstand Mithilfe der Rollentauschprobe lässt sich nachweisen, dass und warum es, entgegen Kant,25 einer Regel über den rechtfertigenden Notstand bedarf – also einer notlagebedingten Ausnahme bestehender Verbote .26 Sollte die Rechtsordnung ausnahmsweise den Diebstahl eines Brotes erlauben, wenn nur so der unverschuldete Hungertod eines Menschen abgewendet werden kann? Die Antwort nach erfolgter Rollentauschprobe fällt bejahend aus . Denn infolge des Hineinversetzens in die Interessenlagen von „Brotbesitzer“ und „Verhungerndem“ ergibt sich folgende Überlegung: „Lieber esse und damit vernichte ich meinen Sachwert Brotlaib, als dass mich der Hungertod das Leben kostet .“27 Ergo heiligt hier der Zweck die Mittel, sodass die Rechtsordnung eine Ausnahmeerlaubnis vorsehen sollte . 21 Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, 6 . Aufl ., München 2005, S . 11 . 22 Dies zeigt sich deutlich an der BVerfG-Entscheidung zum Länderfinanzausgleich (NJW 2000, S . 1097–1104, S . 1098): „Auch wenn sich nicht ein allgemeiner ‚Schleier des Nichtwissens‘ über die Entscheidungen der Abgeordneten breiten lässt, kann die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes eine institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten, die einen Maßstab entwickelt, ohne dabei den konkreten Anwendungsfall schon voraussehen zu können .“ Dazu krit . Josef Franz Lindner, Das BVerfG, der Länderfinanzausgleich und der „Schleier des Nichtwissens“, NJW 2000, S . 3757–3760 . 23 Hoerster selbst bezeichnet sein Modell als vertragstheoretisch ([Fn . 10], S . 183 f .); ihm ist der Vertrag Metapher für die Intersubjektivität eigeninteressebasierender Normen . 24 Zur Kompatibilität des interessentheoretischen Ansatzes mit dem Rawlsschen Urzustands-Gedankenexperiment siehe Lothar Fritze, Die Tötung Unschuldiger: Ein Dogma auf dem Prüfstand, Berlin/New York 2004, S . 31 ff .; Till Zimmermann, Rettungstötungen, Baden-Baden 2009, S . 80 . 25 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1990, S . 74 . 26 Rekonstruktionen des rechtfertigenden Notstands als Rechtsinstitut unter Verweis auf Rawls finden sich z . B . bei Merkel (Fn . 1), S . 183 ff .; Frank Meyer, Die Problematik des Nötigungsnotstands auf der Grundlage eines Solidaritätsprinzips, GA 2004, S . 356–369, S . 366 Fn . 81; ähnlich Armin Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, Tübingen 2008, S . 92–95; krit . Pawlik (Fn . 6), S . 69 ff . 27 Zimmermann (Fn . 24), S . 55 f .; Hoerster (Fn . 10), S . 207 .
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Freilich rekonstruiert dieses Gedankenexperiment aus deutscher und schweizerischer Sicht lediglich die seit 1975 bzw . 2007 geltende Gesetzeslage; in diesen Ländern gewähren an Interessenabwägungen geknüpfte Vorschriften ausdrücklich ein Not-Recht .28 Anders verhält es sich in Österreich, wo eine solche Regel nicht existiert und man sich stattdessen mit einem genuin ethisch begründeten übergesetzlichen Notstand behilft29 – im Gegensatz wiederum zum anglo-amerikanischen Rechtsraum, wo der rechtfertigende Notstand als eine angeblich subtile Form von Kommunismus teilweise radikal abgelehnt wird .30 2.2 die recHtlicHe beHandlunG der GeFaHrGeMeinscHaFt Auch lässt sich mithilfe des Rollentausch-Gedankenexperiments eine Lösung entwickeln für die Notsituation eines vom Untergang bedrohten überfüllten Rettungsboots .31 In dieser Gefahrgemeinschaft lautet die Überlegung der Vertragspartner hinter dem Schleier des Nichtwissens, die sich gedankenexperimentell in das Boot begeben: Müssen wir alle ohnehin bald sterben, dann wäre es klug, Lose zu ziehen und wenigstens einige von uns zu retten, indem andere von uns geopfert, sprich: über Bord geworfen werden .32 Die solchermaßen begründete Erlaubnis zur Vornahme einer Rettungstötung lässt sich verallgemeinern33 – und bspw . in einer nach wie vor aktuellen Debatte zur Rechtfertigung einer Norm anführen, die den Abschuss eines von Selbstmord-Terroristen entführten Passagierflugzeugs erlaubt .34 (Während in Deutschland das BVerfG mit seinem kantianisch begründeten obiter dictum zur in § 14 III Luftsicherheitsgesetz geregelten Abschussbefugnis35 immerhin einen vorläufigen Schlusspunkt gesetzt hat,36 ist die Diskussion um die entspre28 In Deutschland § 34 StGB, in der Schweiz Art . 17 StGB . 29 Dazu Peter Lewisch, in: Franz Höpfel/Eckart Ratz, Wiener Kommentar zum [österreichischen] Strafgesetzbuch, 2 . Aufl ., Wien 2003, Nachbem . § 3 Rn . 19, 23 . 30 Siehe z . B . George Christie, The Defense of Necessity Considered From the Legal and Moral Points of View, Duke Law Review 1999 (48), S . 985–1042, S . 1006 ff . 31 Das historische Vorbild dieses Szenarios ist die Entscheidung U .S . vs . Holmes (1842), Wallace Junior 1, 26 Fed . Cas ., S . 360–369 . 32 Weyma Lübbe, Lebensnotstand – Ende der Normativität?, in: Thomas Buchheim/Rolf Schönberger/ Walter Schweidler, Die Normativität des Wirklichen: Über die Grenze zwischen Sein und Sollen: Robert Spaemann zum 75 . Geburtstag, Stuttgart 2002, S . 312–333, S . 327 f .; Zimmermann (Fn . 24), S . 410 ff .; ferner auch Bernhard Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, Berlin 2002, S . 11 f . mit Fn . 23 . Zum Losen als Auswahlmethode Klaus Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, Köln u . a . 1989, S . 342 ff . 33 Ausführlich Zimmermann (Fn . 24), S . 375 ff . 34 Für eine Abschusserlaubnis auf rawlsianischer Basis Tatjana Hörnle, Töten, um viele Leben zu retten: Schwierige Notstandsfälle aus moralphilosophischer und strafrechtlicher Sicht, in: Holm Putzke et al., Strafrecht zwischen System und Telos: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S . 564–570, S . 555; Stefan Huster, Zählen Zahlen?, Merkur 2004 (58), S . 1047–1050, S . 1047; Zimmermann (Fn . 24), S . 401 . Mit einem Sozialkontrakt Rousseauscher Provenienz argumentierend Janina Gauder, Das abverlangte Lebensopfer, Baden-Baden 2010, S . 222 ff . 35 BVerfG NJW 2006, S . 751–761, S . 758 . 36 Seither haben sich für die (strafrechtliche) Erlaubtheit des Abschusses de lege lata (!) ausgesprochen OVG Münster NZWehrr 2009, S . 39–41, S . 40 f .; Manuel Ladiges, Die notstandsbedingte Tötung von Unbeteiligten im Fall des § 14 Abs . 3 LuftSiG, ZIS 2008, S . 129–140, S . 135 ff .; Klaus Rogall, Ist der Abschuss gekaperter Flugzeuge widerrechtlich?, NStZ 2008, S . 1–5, S . 2 ff .;
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chende Regelung im schweizerischen Recht [Art . 9 III, 14 I Verordnung über die Wahrung der Lufthoheit] gerade erst im Entstehen begriffen .37) . 2.3 der entscHuldiGende notstand Ferner ist auch der entschuldigende Notstand38 mithilfe der Rollentauschprobe als eine Art gesellschaftsvertragliche Ausstiegsklausel rekonstruiert worden .39 In Fällen, in denen dem Einzelnen aufgrund unglücklicher Fügung die Beeinträchtigung fundamentaler Interessen droht, wird niemand ihm einen Schuldvorwurf dafür machen, dieser Gefahr auf Kosten seiner Mitmenschen entronnen zu sein: Bricht im Kino ein Feuer aus und lässt die Menschen panisch zum Ausgang flüchten, darf selbstverständlich niemand auf dem rettenden Weg nach draußen seine Mitmenschen zu Tode trampeln . Aber wer es dennoch tut, dem wird die Gesellschaft verzeihen; man wird Verständnis dafür aufbringen, dass jemand sich in dieser Ausnahmesituation für kurze Zeit „durch die Hintertür in den gesellschaftlichen Urzustand“40 – den Krieg aller gegen alle – verabschiedet hat, um seine eigene Haut um (fast) jeden Preis zu retten .41 Der Grund für diese Nachsicht ist einleuchtend: Wer sich gedankenexperimentell in akute Todesgefahr begibt, kann nicht behaupten, er hätte an Stelle des Gefährdeten anders gehandelt .42 Die Tat kann also ausnahmsweise „aus der Notsituation und am Täter vorbei erklärt werden .“43
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Hans Joachim Hirsch, Defensiver Notstand gegenüber ohnehin Verlorenen, in: Michael Hettinger et al., Festschrift für Wilfried Küper, Heidelberg 2007, S . 149–172, S . 171; Jakobs (Fn . 15), S . 217 . Dagegen Hans-Ludwig Günther, Defensivnotstand und Tötungsrecht, in: Martin Böse/Detlev Sternberg-Lieben, Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts: Festschrift für Knut Amelung, Berlin 2009, S . 147–157, S . 153; Franz Streng, Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter?, in: Kudlich/Streng (Fn . 5), S . 135–157, S . 155 f .; Claus Roxin, Der Abschuss gekaperter Flugzeuge zur Rettung von Menschenleben, ZIS 2011, S . 552–563, S . 561 . Siehe einerseits Helen Keller/Lucy Keller, Der Abschuss ziviler Flugzeuge ist unzulässig, NZZ 21 .1 .2007, S . 9; andererseits Roland Müller, Darf die Schweizer Luftwaffe Zivilflugzeuge abschiessen?, plädoyer 24 (2006), Heft 3, S . 29; Stefan Vogel, Zulässigkeit des Abschusses entführter Zivilflugzeuge zum Schutz von Drittpersonen, Sicherheit & Recht 2009, S . 96–105, S . 103 . Geregelt in § 35 dStGB, Art . 18 schweizStGB, § 10 I öStGB . Zu einem darüber hinausgehenden übergesetzlichen entschuldigenden Notstand Zimmermann (Fn . 24), S . 263 ff . Bernsmann (Fn . 32), S . 254 ff .; Joachim Renzikowski, Entschuldigung im Notstand, Jahrbuch für Recht und Ethik 2003 (11), S . 269–285, S . 276 ff .; Carsten Momsen, in: Bernd von HeintschelHeinegg, Strafgesetzbuch: Kommentar, München 2010, § 35 Rn . 6 f .; ders ., Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, Baden-Baden 2006, S . 168 ff .; Zimmermann (Fn . 24), S . 227 ff .; krit . Klaus Rogall, in: Hans-Joachim Rudolphi/Eckard Horn/Erich Samson, Systematischer Kommentar zum StGB, 7 ./8 . Aufl ., Köln 2010, § 35 Rn . 7, 9 . Renzikowski (Fn . 39), S . 280 . Ähnlich Weyma Lübbe, Einleitung, in: dies ., Tödliche Entscheidung, Paderborn 2004, S . 7–28, S . 22 . Umstritten ist lediglich, ob die Entschuldigung auch in Fällen eines krassen quantitativen Missverhältnisses gilt (etwa: Tötung von 50 Menschen, um dadurch sich selbst zu retten) . Näher dazu Zimmermann (Fn . 24), S . 251 mit Fn . 950 . Vgl . auch § 10 I öStGB, der eine Entschuldigung an die Voraussetzung knüpft, dass „in der Lage des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war .“ Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2 . Aufl ., Berlin 1991, 20 . Abschn . Rn . 41 .
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2.4 der person-status siaMesiscHer zWillinGe Ethisch und rechtlich wenig geklärt ist die Frage, ob es einem Chirurgen erlaubt ist, siamesische Zwillinge mit einseitig tödlicher Wirkung zu trennen, wenn anderenfalls beide Zwillinge sterben müssten .44 Manche bestreiten, dass es sich beim tödlichen Abtrennen des einen Zwillings überhaupt um die strafrechtlich relevante Tötung einer Person handelt; vielmehr würden lediglich einer „Gesamtperson“ überzählige Körperteile amputiert .45 Dass das nicht richtig ist, erweist die Rollentauschprobe: Verfügt der fusionierte „Gesamtkörper“ über zwei separate Gehirne, dann lässt es sich probehalber in jede einzelne dieser zwei getrennten Bewusstseinssphären hineinversetzen; es handelt sich also um den Interessenkonflikt zweier Personen .46 Dass dieser Konflikt sich möglicherweise nach den Grundsätzen der Situation des überfüllten Rettungsboots lösen lässt, liegt auf der Hand .47 So viel zu einigen Anwendungsmöglichkeiten der Rollentauschprobe . 3 anwendunGsschwIerIGkeIten 3.1 die erFaHrbarkeitsbedinGunG Probleme bei der Durchführung des Gedankenexperiments ergeben sich bei näherer Betrachtung der Versuchsanordnung . Wie – so eine bis hierher ausgesparte Frage – hat man sich den Rollentausch im Detail vorzustellen? Was genau bedeutet es, sich hierfür in die Position einer Konfliktpartei „hineinversetzen“ zu müssen? Schwierigkeiten bereitet insbesondere die sog . Erfahrbarkeitsbedingung .48 Gemeint ist damit die Nachvollziehbarkeit des Verlusts, den jemand erleidet, falls seine Interessen frustriert werden .49 3.2 die diskontinuität von beWussteinszuständen Es mag ohne weiteres Gegenstand unserer Vorstellung sein, was es bedeutet, einen Sachwert zu verlieren oder wie es sich anfühlt, Opfer einer Körperverletzung oder Freiheitsberaubung zu werden . Wie aber verhält es sich in folgendem Fall: Ein Un44 Siehe hierzu den realen Fall Re A, Court of Appeal Civil Division All England Law Reports 4/2000, S . 961–1070 . Näher dazu Reinhard Merkel, Die chirurgische Trennung so genannter siamesischer Zwillinge, in: Claus Roxin/Ulrich Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 4 . Aufl ., Stuttgart u . a . 2010, S . 603–639; George J. Annas, The Limits of Law at the Limits of Life, Connecticut Law Review 2001 (33), S . 1275–1296 . 45 Vgl . Spiegel online-Meldung 20 .02 .2005, „Ärzte entfernen Kleinkind zweiten Kopf “ . 46 Jan C. Joerden, Menschenleben, Stuttgart 2003, S . 123 f . (auf der Basis der Goldenen Regel) . I . E . Ebenso Merkel (Fn . 44), S . 607 f .; Arnd Koch, Strafbarkeit der Trennung siamesischer Zwillinge?, GA 2011, S . 129–144, S . 129 f . 47 Ausführlich Zimmermann (Fn . 24), S . 471 ff . 48 Der Begriff stammt von Anton Leist, Eine Frage des Lebens: Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung, Frankfurt a . M ./New York 1990, S . 79 . 49 Für das Recht hat bereits 1956 Heinrich Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155, S . 85–134, S . 134 auf das Erfordernis der Erfahrbarkeit hingewiesen .
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fallopfer wird in ein künstliches Koma versetzt, aus dem es Wochen später in genesenem Zustand wieder erwachen wird . Sollte es nun bei Strafandrohung verboten sein, den Komapatienten unterdessen zu töten, obwohl sich dadurch erhebliche Kosten im Gesundheitswesen einsparen ließen? Intuitiv – bzw . nach geltender Rechtslage – würde eine solche Tötung als strafwürdiges Unrecht qualifiziert .50 Ob das Rollentauschexperiment zu demselben Ergebnis gelangt, ist weniger eindeutig . Untauglich gestaltete sich zunächst der Versuch, das dem Getöteten widerfahrene Unrecht qua Sich-Hineinversetzen in die tote Person nachzuvollziehen;51 der Tote ist wie jeder leblose Gegenstand bar eigener Interessen und darum nicht im Sinne einer subjektiven Interessensfrustration beschwert .52 Aber auch die rollentauschmäßige „Befragung“ der Interessenslage des Komatösen im Zeitpunkt unmittelbar vor der Tötung ist wenig ergiebig . Der Versuch, sich in einen Komapatienten hineinzuversetzen, um dessen Interessenlage auszuloten, gestaltet sich äußerst diffizil; er dürfte mit der Feststellung enden, dass der Komatöse in seinem Zustand zumindest über keine aktuell gehabten Interessen verfügt .53 Dieser Befund, der übrigens auch auf lediglich schlafende Personen zutrifft, stellt Rollentauschtheoretiker vor ein handfestes Problem . Um sub specie Tötungsverbot ein abwegiges Ergebnis zu vermeiden – scil . Straflosigkeit mangels Interessenverletzung! –, wird deshalb auf eine ad hoc-Modifikation des Gedankenexperiments zurückgegriffen: Dem Komapatienten (bzw . Schlafenden) wird im Zeitpunkt der Tötung ein Interesse an seinem Weiterleben schlicht unterstellt – und zwar unter Berufung entweder auf seinen zukunftsgerichteten Lebenswillen vor dem Bewusstseinsverlust54 oder seinen mutmaßlichen retrospektiven Willen nach seinem Wiedererwachen .55 In jedem Fall muss aber auf die Erfahrbarkeitsbedingung verzichtet werden;56 in der moral- und rechtsphilosophischen Debatte wird dieser scheinbare innere Bruch mit der eigenen Prämisse als be-
50 Statt vieler Roland Kipke, Mensch und Person, Berlin 2001, S . 37; Eberhard Schockenhoff, Pro Speziesargument, in: Gregor Damschen/Dieter Schönecker, Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin/New York 2003, S . 11–33, S . 18 . 51 Reinhard Merkel, Früheuthanasie, Baden-Baden 2001, S . 198 . 52 Näher zu dem sog . Problem des Subjekts Thomas Nagel, Death, Noûs 1970 (4), S . 73–80; Anthony Brueckner/John M. Fischer, Why is Death Bad?, Philosophical Studies 1986 (50), S . 213–221; Jeff McMahan, Death and the Value of Life, Ethics 1988 (99), S . 32–61; Fred Feldman, Some Puzzles About the Evil of Death, Philosophical Review 1991 (2), S . 205–227; Harry Silverstein, The Evil of Death, Journal of Philosophy 1980 (77), S . 401–424; Julius Schälike, Der Wert des Lebens und die Ethik des Tötens, ZphF 2010 (64), S . 357–377 . Kurzüberblick bei Ralph Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, Köln u . a . 2004, S . 55 ff . 53 Ähnlich Nagel (Fn . 52), S . 75 . 54 So Nagel (Fn . 52), S . 74 f .; Norbert Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1995, S . 76 ff .; ders ., Hat der Nasciturus ein Interesse am Überleben?, ARSP 1990 (76), S . 255–257, S . 256; Merkel (Fn . 51), S . 455; Michael Tooley, Abortion and Infanticide, Philosophy & Public Affairs 1972 (2), S . 37–65, S . 48 f .; Jeff McMahan, The Ethics of Killing, New York 2002, S . 67 . Aus utilitaristischer Perspektive ebenso Peter Singer, Praktische Ethik, 2 . Aufl ., Stuttgart 1994, S . 133; Dieter Birnbacher, Das Dilemma des Personenbegriffs, in: Peter Strasser/Edgar Starz, Personsein aus bioethischer Sicht, ARSP-Beiheft 1997 (73), S . 9–25, S . 20 . 55 Gregor Damschen/Dieter Schönecker, In dubio pro embryone: Neue Argumente zum moralischen Status menschlicher Embryonen, in: dies . (Fn . 50), S . 187–267, S . 232 f . 56 Merkel (Fn . 51), S . 449 mit Fn . 120 .
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sonders starkes Argument gegen jede Art von interessebasierenden Normbegründungsmodellen betrachtet .57 3.3 das probleM potentieller interessen Noch problematischer verhält es sich mit dem medizinisch nicht-indizierten Schwangerschaftsabbruch . Wiewohl das Strafrecht in Deutschland,58 in der Schweiz59 und in Österreich60 einen frühzeitigen Abbruch nach vorhergehender Beratung für straflos erklärt, bleibt die Rechtsfolge unklar; der Gesetzeswortlaut lässt im Ergebnis jeweils offen, ob die Abtreibung erlaubt ist61 – und damit Ungeborenen das Lebensrecht abgesprochen wird – oder aber, ob der Eingriff verboten und lediglich aus Rücksicht auf die Zwangslage der Schwangeren straflos gestellt ist .62 Wer es unternimmt, diese in vielerlei Hinsicht relevante Frage (Stichworte: zivilrechtliche Wirksamkeit ärztlicher Honorarvereinbarungen?;63 Befugnis zur Notrechtsausübung?;64 normative Präjudizierung hinsichtlich der Erlaubtheit von embryonenverbrauchender Präimplantationsdiagnostik?65) mithilfe der Rollentauschprobe zu beantworten, der 57 Kipke (Fn . 50), S . 39 f .; Ralf Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, Tübingen 2007, S . 62 ff .; ders ., Der Embryo ist Rechtsperson, nicht Sache, ZfL 2006, S . 34–42, S . 35; Ingelfinger (Fn . 52), S . 78 ff .; Jörg Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, Berlin 2004, S . 154 Fn . 414; Michael Pawlik, Fürs Töten reicht es nicht: Rezension zu Merkel: Früheuthanasie, FAZ 31 .05 .2001, S . 60; Robert Spaemann, Sterbehilfe ist nur ein anderes Wort für Töten, ZfL 2005, S . 119–121, S . 120; Herbert Tröndle, Zum Begriff des Menschseins, NJW 1991, S . 2542– 2543, S . 2542 . 58 § 218a I StGB: der Tatbestand ist „nicht verwirklicht“ . 59 Art . 119 II StGB: die Tat „ist straflos“ . 60 § 97 I Nr . 1 StGB: die Tat ist „nicht strafbar“ . 61 So Jakobs, Lebensschutz durch Pflichtberatung?, Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e . V . zu Köln 2000 (17), S . 17–38, S . 34 ff .; Reinhard Merkel, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen, Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch Bd . 2, 3 . Aufl ., Baden-Baden 2010, § 218a Rn . 63; Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 58 . Aufl ., München 2011, § 218a Rn . 5 . Aus österreichischer Perspektive Diethelm Kienapfel/Valentin Schroll, Studienbuch Strafrecht: Besonderer Teil Bd . I, 2 . Aufl ., Wien 2008, § 97; aus schweizerischer Sicht Thomas Fingerhuth, in: Stefan Trechsel et al., Schweizerisches StGB: Praxiskommentar, Zürich/St . Gallen 2008, Art . 119 Rn . 6 . 62 In diesem Sinne Helmut Satzger, Der Schwangerschaftsabbruch, Jura 2008, S . 424–434, S . 430; Walter Gropp, in: Bernd von Heintschel-Heinegg, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Bd . 1, München 2003, § 218a Rn . 10 f .; ebenso für das österreichische Recht Maria Eder-Rieder, in: Höpfel/Ratz (Fn . 29), 23 . Lfg ., § 97 Rn . 3; Kurt Schmoller, in: Otto Triffterer/Christian Rosbaud/ Hubert Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1 . Lfg ., Wien 1992, § 97 Rn . 20 . 63 Dazu Bernd-Rüdiger Kern, in: Adolf Laufs/Bernd-Rüdiger Kern, Handbuch des Arztrechts, 4 . Aufl ., München 2010, § 38 Rn . 37 Fn . 6; Schmoller (Fn . 62), § 97 Rn . 21 . 64 Gegen Notrechtsbefugnis Helmut Satzger, Der Schutz ungeborenen Lebens durch Rettungshandlungen Dritter, JuS 1997, S . 800–805, S . 803; Thomas Hillenkamp, Zum Notwehrrecht des Arztes gegen „Abtreibungsgegner“, in: Putzke et al. (Fn . 34), S . 483–502, S . 500 f . Für das Bestehen eines Notrechts zugunsten des Ungeborenen Heiko Lesch, Notwehrrecht und Beratungsschutz, Paderborn u . a . 2000, S . 72 f .; Herbert Tröndle, Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, NJW 1995, S . 3009–3019, S . 3011 . 65 Vgl . Reinhard Merkel, Lebensrecht und Gentest schließen sich aus, FAZ 03 .08 .2010, S . 30: „Wenn […] § 218a erlaubt, die Schwangerschaft abzubrechen […] dann mutet es absurd an, die PID bei Strafe zu verbieten .“ Ähnlich BGH NJW 2010, S . 2672–2677, S . 2674 f .; Hans-Georg Dederer, Zur
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ist vor die Aufgabe gestellt, sich in die Lage eines Ungeborenen hineinzuversetzen, um zu erforschen, „was man als Embryo wollen würde“66 . Hierzu bemerkt Bernhard Schlink: „Gefoltert werden, als Schwarzer im Südafrika der Apartheid oder als Frau im Afghanistan unter den Taliban leben, […], wegen Krankheit oder im Alter nur noch dank medizinischer Apparate leben, behindert sein – wir können uns einfühlen . […] Aber in eine befruchtete Eizelle können wir uns schlechterdings nicht einfühlen .“67
Grund für diese Feststellung ist offenbar, dass ein Embryo mangels der neuronalen Voraussetzungen hierfür noch keine zukunftsgerichteten Interessen hat und damit auch nicht über Ich-Bewusstsein verfügt .68 Das Problem besteht also darin, dass es an einem aktuellen Interessensträger und damit an einer qua Rollentausch stellvertretend einnehmbaren Binnenperspektive des Eingriffsadressaten fehlt .69 Welche Schlüsse müssen Kontrakt-(bzw . Interessen-)Theoretiker hieraus ziehen? Einige – unter ihnen auch der frühe Rawls70 – wollen geborenes und ungeborenes Leben gleichbehandelt sehen, da der Schleier des Nichtwissens auch den Umstand verdunkle, ob man nach Vertragsschluss den bereits geborenen Menschen oder erst einer künftigen Generation angehören werden wird .71 Mit diesem simplen Phantasma entfernt man sich allerdings zu weit von der notwendigerweise interessensgebundenen Ausgangsposition kontraktualistischer Normbegründung .72 Komplexere Lösungsversuche gehen dahin, anhand ähnlicher Kriterien zu entscheiden wie beim
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Straflosigkeit der Präimplantationsdiagnostik, MedR 2010, S . 819–822, S . 822; andersherum Schmoller (Fn . 62), a . a . O .: „[D]er rechtliche Schutz extrakorporaler Embryonen, etwa gegenüber einer verbrauchenden Forschung [lässt sich] nur dann sinnvoll erklären, wenn man gleichzeitig davon ausgeht, dass intrakorporale Embryonen […] ebenfalls grundsätzlich rechtlich geschützt sind .“ Dietmar von der Pfordten, Lebensrecht für die menschliche Leibesfrucht, JuS 1989, S . 774 f ., S . 774 . Schlink (Fn . 32), S . 16 . Das Zitat ist ausdrücklich nur auf Zygoten bezogen . Tooley (Fn . 54), S . 63; Norbert Hoerster, Haben Föten ein Lebensinteresse?, ARSP 1991 (77), S . 385–395, S . 388 f .; einschränkend Merkel (Fn . 51), S . 456 ff . Vgl . Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, Stuttgart 2002, S . 107: „[Es] ist … kaum zu verstehen, wie man sich überhaupt in irgendein Lebewesen ‚hineinversetzen‘ kann, das … gar keine … Interessen hat .“ Rawls (Fn . 8), TdG, S . 160: „Die Menschen im Urzustand wissen auch nicht, zu welcher Generation sie gehören .“ (woraus James Sterba, Abortion, Distant People, and Future Generations, Journal of Philosophy 1980 [77], S . 424–440, S . 439 auf ein Abtreibungsverbot schließt) . In Politischer Liberalismus, Frankfurt a . M . 2003, S . 349 Fn . 32 hat Rawls die Abtreibung jedoch als gerechtes Ergebnis einer „vernünftigen Abwägung“ bezeichnet, ehe er sich zuletzt (The Idea of Public Reason Revisited, Chicago Law Review 1997 [64], S . 765–807, S . 798 Fn . 80) für moralisch ratlos erklärt hat . Ausführlich zur normativen Position Ungeborener in Rawls’ Werk Williamson Evers, Rawls and Children, Journal of Libertarian Studies 1978 (2), S . 109–114; Luke Milligan, A Theory of Stability, Boston Law Review 2007 (87), S . 1177–1230 . Dietmar von der Pfordten, Gibt es Argumente für ein Lebensrecht des Nasciturus?, ARSP 1990 (76), S . 69–82, S . 79 f .; Bernd Schünemann, Quo vadis § 218 StGB?, ZRP 1991, S . 379–392, S . 385 . I . E . ebenso auf der Basis der Goldenen Regel Joachim Hruschka, Zum Lebensrecht des Foetus in rechtsethischer Sicht, JZ 1991, S . 507–509, S . 508; Richard M. Hare, Abortion and the Golden Rule, Philosophy & Public Affairs 1975 (4), S . 201–222, S . 208 . Genauer: Die hier kritisierten Ansichten benennen keinen Grund dafür, weshalb man (noch) nicht gehabte Interessen bei der Normgenerierung überhaupt berücksichtigen sollte; sie lassen also eine Vorfrage aus und gelangen daher über ein Postulat nicht hinaus . Ähnlich die Kritik von Konstantinos Papageorgiou, Interessen, moralische Berücksichtigung und das „Lebensrecht des
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Komapatienten . Entscheidend für das Lebensrecht des Ungeborenen sei also entweder, ob dieses später einmal ein rückwirkendes Lebensinteresse haben wird (dies wäre zu bejahen),73 oder aber, ob es im Vorfeld der Abtreibung ein zukunftsgerichtetes Interesse am Überleben gehabt hat (was zu verneinen wäre) .74 Statt bereits an dieser Stelle einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten, sei dieser vorerst vertagt und stattdessen zunächst auf einen populären Fundamentaleinwand gegen kontraktualistische Rechtsethiken hingewiesen; dessen anschließende Entkräftung wird dann zur Lösung der hiesigen Fragestellung hinführen . 4 der eInwand der praxIstauGlIchkeIt 4.1 der einWand der praxistauGlicHkeit kontraktualistiscH beGründeter norMen Der Einwand lautet, dass aus dem Gedankenexperiment eines „fiktive[n] Vertrag[s] fiktiver Naturzustandsakteure“ keine Verpflichtungen für wirkliche Menschen erwachsen .75 Konkret: Da man es bei konsequenter Handhabung der vertragstheoretischen Prämissen auch nach Lüftung des Nichtwissens-Schleiers immer noch mit rationalen Egoisten zu tun hat, kann man nicht einfach zur Annahme strikter Gesetzesbefolgung übergehen; vielmehr müsse sich das Modell auch hier an der zukunftsfixierten individuellen Nutzenmaximierung messen lassen . Dann aber sei auch in der Rechtswirklichkeit allein das aktuelle Interesse des Normunterworfenen handlungsleitend – was im Ergebnis dazu führe, dass sich doch niemand an die vormals qua Rollentauschprobe generierten, gesellschaftsvertraglich vereinbarten Restriktionen halten und stattdessen jedermann sich klugheitsbedingt der sozialen Trittbrettfahrerei verschreiben würde .76 Dieser Einwand ist von Jan C . Joerden77 so gründlich ausbuchstabiert worden, dass es sich lohnt, seine Kritik im Wortlaut wiederzugeben:
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Nasciturus“, ARSP 1992 (78), S . 108–117, S . 112 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 85; Singer (Fn . 54), S . 37 (jew . zu Rawls) . So von der Pfordten (Fn . 71), S . 774; ders ., Verdienen nur zukünftige Interessen Schutz, die sich tatsächlich realisieren?, ARSP 1990 (76), S . 257–260, S . 258; Anton Leist, Lebensganzes oder Lebenswunsch?, ARSP 1992 (78), S . 94–103, S . 102; Oliver Hallich, Das Argument der Existenzverhinderung in der Abtreibungsdebatte, ZphF 2010 (64), S . 216–238, S . 220 ff . Mit Einschränkungen auch Merkel (Fn . 51), S . 460–509 ff ., der empfindungsfähigen Ungeborenen unter Hinweis auf deren Potential zu Ich-Bewusstsein ein Lebensinteresse „zuschreibt“ . Hierzu kritisch Dieter Birnbacher, Rezension zu Merkel: Früheuthanasie, ARSP 2001 (87), S . 587–590, S . 590; Norbert Hoerster, Kompromisslösungen zum Menschenrecht des Embryos auf Leben?, JuS 2003, S . 529–532, S . 531 f . Birnbacher (Fn . 54), S . 20; McMahan (Fn . 54), S . 170 f . Armin Engländer, Die Lehren vom Gesellschaftsvertrag, Jura 2002, S . 381–386, S . 386 . Ähnlich Stemmer (Fn . 14), S . 4; Lindner (Fn . 22), S . 3760 . Pawlik (Fn . 6), S . 69 f .; Küper (Fn . 6), S . 110 . Freilich lässt sich dieser Einwand auch auf andere interessenbasierende Ethikmodelle übertragen: Warum sollte man zur Befolgung der Goldenen Regel, einem Prinzip der Nutzenmaximierung usw . verpflichtet sein? Jan C. Joerden, Nochmals: Rechtsethik ohne Metaphysik, JZ 1982, S . 670–674, S . 671 ff . (mit Replik Norbert Hoerster, Schlusswort, JZ 1982, S . 714–716) . Der Text ist hier insoweit modifiziert, als Joerden statt „vertraglich“ den Begriff „intersubjektiv begründet“ verwendet; zur Austauschbarkeit dieser Begriffe im hiesigen Kontext siehe Fn . 23 .
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Till Zimmermann „[D]ie Begründung von Normen [kann] nicht allein so verstanden werden, dass sie für den einzelnen Normunterworfenen einen Grund abgibt, der es sinnvoll für ihn erscheinen lässt, die Aufstellung der jeweiligen Norm zu befürworten . Denn dann […] lieferte die Normbegründung noch lange kein zwingendes Argument, sich auch aktuell ihr gemäß zu verhalten . […] Versetzen wir uns dazu in den Mitmenschen M, der sein eigenes Überleben für wichtiger hält, als die Möglichkeit, gelegentlich einen anderen Mitmenschen zu töten . Dieser hat ohne Zweifel ein starkes Interesse daran, dass eine generelle Norm geschaffen wird, die das (beliebige) Töten verbietet . […] Doch stellt sich nun die Frage – die Inkraftsetzung des Tötungsverbots sei vorausgesetzt –, wie die Interessenlage aussieht, wenn M sich aktuell in eine Situation gestellt sieht, in der er z . B . [die Frau F] umbringen möchte und dies auch tun könnte, und sich nun fragt, ob er dem Tötungsverbot aktuell Folge leisten oder nicht viel besser [F] das Leben nehmen sollte . Was ist es jetzt, das für M die Norm [vertraglich] begründet? Was hindert den M eigentlich, die eben noch akzeptierte ‚[gesellschaftsvertragliche] Begründung‘ über Bord zu werfen und seinen aktuellen Interessen (Tötung [der F]) zu folgen? Nicht überzeugend ist die Antwort, M müsse, wenn er [die F] töten würde, befürchten, demnächst ebenfalls umgebracht zu werden, da durch seinen Normverstoß die Norm außer Kraft geriete, und nun auch M täglich mit seinem Tode rechnen müsste . Denn es ist offensichtlich, dass die faktische Geltung einer Norm nie eine absolute ist, sondern stets Ausnahmen erleiden wird, woraus umgekehrt folgt, dass eine Ausnahme die faktische Geltung einer Regel nicht in Frage stellt . M könnte also sehr gut damit rechnen, dass er sowohl die Vorteile der einst auch von ihm akzeptierten Regel nutzen, als auch seine Interessen in Bezug auf die Tötung [der F] verfolgen könnte . Was also mag es sein, das den M gleichwohl von der Tötung [der F] abhalten könnte? Bei einem konsequent zu Ende gedachten subjektivistischen Ansatz: Nichts! Im Gegenteil: Da es ja für die ‚Begründung‘ der Norm nur auf die Interessenlage des jeweiligen Individuums ankommt, ist kein Grund ersichtlich, warum das betreffende Individuum nicht jederzeit aus dem Verband der ‚Normbegründer‘, das soll heißen aus dem Verband derjenigen, für die aufgrund ihrer Interessenlage die jeweilige Norm ‚[gesellschaftsvertraglich] begründet‘ ist, sollte aussteigen können, wenn sich seine Interessenlage geändert hat . […] [Daher] gilt für jeden Mitmenschen, für den die jeweilige Norm (hier das Tötungsverbot) einmal ‚[vertraglich] begründet‘ war, dass es nichts gibt, das ihn davon abhalten könnte, sich außerhalb der in Kraft gesetzten Norm zu stellen und sie sozusagen nun von außen zu betrachten […] . So kann M durchaus seine aktuellen Interessen verfolgen (und [F] töten) sowie möglicherweise zugleich noch den Schutz des ‚[kontraktualistisch] begründeten‘ Tötungsverbotes genießen, ohne dass aus der [vertraglichen] Begründung dieses Tötungsverbotes auch nur ein Argument fließen würde, das seinem Verhalten entgegengehalten werden könnte .“
4.2 die soziale kontrolle als norMstabilisator Dieser Einwand ist aber nur zum Teil richtig . Zutreffend ist, dass ein (hypothetischer) Gesellschaftsvertrag, der sich bei der Mahnung an seine Einhaltung auf den Fairness-Appell an die Kontraktpartner beschränkt, in der Realität scheitert; denn selbst aus einem weit verbreiteten Normgeltungsinteresse erwächst aus verschiedenen Gründen noch kein ausreichendes Normbefolgungsinteresse .78 Was der v . g . Einwand jedoch nicht mit ins Kalkül zieht, ist der Aspekt sozialer Kontrolle . Diese sorgt für die Beachtung der Vertragsregeln auch in der Realität, indem sie den unfairen Abweichler mit einer Sanktionsdrohung belegt . Damit wird ihm nämlich ein weiterer, qua Rollentauschprobe Wirksamkeit entfaltender Klug-
78 Siehe nur Hoerster (Fn . 10), S . 221 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 95 . Zur Differenzierung zwischen Normgeltungs- und Normbefolgungsinteresse Engländer (Fn . 26), S . 94 f .
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heitsgrund zur Beachtung der universalisierbaren Regeln an die Hand gegeben .79 Die Funktion der sozialen Kontrolleure übernehmen dabei alle Bürger, die sich – weil von einem konkreten Interessenkonflikt nicht tangiert – nach wie vor mit dem ausgehandelten Regelwerk identifizieren und deshalb seine Durchsetzung im Einzelfall forcieren .80 Die Regeln des Gesellschaftsvertrags sind in der Realität also deshalb stabil, weil bei einem auftretenden Konflikt die konkret involvierten Parteien von der Masse ihrer konkret unbeteiligten Mitbürger durch Sanktionsandrohung zur Regelbefolgung angehalten werden . Auf das aktuelle Interesse der konkreten Konfliktparteien (am Bestand oder auch nur der Befolgung der Norm) kommt es also gar nicht an; entscheidend ist vielmehr allein der nach wie vor bestehende (Minimal-)Konsens zwischen (fast) allen Außenstehenden .81 In Bezug auf das v . g . Beispiel Joerdens ergibt sich daraus Folgendes: Für die Frage, ob M die F straflos töten darf, ist das Interesse des potentiellen Mörders M irrelevant . Entscheidend ist, ob die sozialen Kontrolleure in Gestalt der konkret von dem Widerstreit zwischen Ms Tötungsinteresse und Fs Lebensinteresse unbeteiligten Mitbürger in ihrem Eigeninteresse nach wie vor eine Regel akzeptieren, die das willkürliche Töten von Menschen verbietet . Für ein solches Verbot werden die Außenstehenden deshalb eintreten, weil sie sich, erstens, vorstellen können, selbst einmal in die Opferrolle der F geraten zu können und, zweitens, weil ihre gegenwärtige Furcht, künftig einmal Mordopfer zu werden, größer ist als ihre Sorge, künftig nicht nach Lust und Laune morden zu können . Neben diese durch und durch rational motivierten Sanktionierungsinteressen tritt zudem verstärkend ein genuines Vergeltungsbedürfnis82 (wobei Strawson darauf hingewiesen hat, dass jene retributiven Emotionen als „stellvertretende“ Gefühlsreaktion auf das Leiden des persönlichen Betroffenen ebenfalls auf einer Rollentauschprobe beruhen83) . Aus diesen Gründen werden Mörder wie Herr M bestraft – und der Gesellschaftsvertrag bleibt in der Praxis stabil . 4.3 das straFrecHt als norMstabilisator Die wichtigsten Moralnormen werden im Interesse ihrer Effektivität in den robusteren Geltungsmodus des Strafrechts überführt . Dieses bildet sozusagen die Veredelung der (an die Staatsmacht delegierten) sozialen Kontrolle . Das Strafrecht schreckt 79 Vgl . Hare (Fn . 14), S . 155: „Wenn aus der Vorstellung, ich selbst sei derjenige, der bestraft würde, logisch folgt, dass ich gegen sein Bestraftwerden jetzt eine Aversion habe, die der gleicht, die er dann haben wird, so erklärt das, warum ich es vermeide, das Verbrechen zu begehen, für das er bestraft würde .“ 80 Hoerster (Fn . 77), S . 715; ders . (Fn . 17), S . 235 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 99 ff .; ders . (Fn . 14), S . 6 ff . Siehe auch Engländer (Fn . 26), S . 86 f . 81 Ausführlich dazu Zimmermann (Fn . 24), S . 80–86 . 82 Empirisch Özgür Gürerk et al., The Competetive Advantage of Sanctioning Institutions, Science 2006 (312), S . 108–110; Tania Singer et al ., Empathic Neural Responses are Modulated by the Perceived Fairness of Others, Nature 2006 (439), S . 466–469 . Zum Zusammenhang zwischen retributiven Emotionen und Strafe Edward Westermarck, The Origin and Development of the Moral Ideas, Vol . I, New York 1906, S . 168–201 . 83 Peter Strawson, Freiheit und Übelnehmen, in: Ulrich Pothast, Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a . M . 1978, S . 201–233, S . 217 . Weiterführend Stemmer (Fn . 17), S . 128 ff .
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Till Zimmermann
wirksam ab mit seiner glaubhaft vorgetragenen Botschaft „Verbrechen lohnt sich nicht“ (negative Generalprävention) .84 Und es wirkt zugleich erzieherisch, indem es dem Rechtsbrecher sein Versagen, das zur Normakzeptanz führende Rollentauschverfahren mit entsprechenden Schlussfolgerungen durchgeführt zu haben, nachhaltig vor Augen führt, indem es ihn zwangsweise in die Rolle des Opfers versetzt (positive Spezialprävention);85 es ist kaum Zufall, dass die erste zivilisierte Strafform, die Spiegelstrafe gemäß dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“,86 eine ZwangsRollentauschprobe gewesen ist . 5 dIe korrekte versuchsanordnunG 5.1 die zukunFtsbezoGene icH-perspektivität des rollentauscHs Aus diesen Überlegungen lässt sich die korrekte Versuchsanordnung für das Rollentauschexperiment ableiten . Kommt es auf die aktuelle Interessenlage der Streitbeteiligten nicht an, sondern stattdessen auf die Zukunftsplanung einer konfliktunbeteiligten Durchschnittsperson,87 dann geht es bei der Rollentauschprobe ausschließlich um die Zukunftsperspektive einer 1 . Person Singular . Für die Beurteilung des normativen Gewichts einer Rechtsposition innerhalb einer Kollisionslage sind somit entscheidend die Antworten auf zwei hintereinander geschaltete Fragen . Erstens: Könnte auch Ich eines Tages in eine solche Position geraten?88 Und, falls ja, zweitens: Was wünschte Ich mir, von meinem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet, wenn Ich tatsächlich in diese Lage geriete? Für die Rollentauschprobe folgt daraus, dass zwar gedankenexperimentell die Binnenperspektive eines anderen eingenommen, dabei jedoch als Bewertungsmaßstab die aktuelle Interessenslage des Beobachters zugrunde gelegt wird .89 Auf der 84 Anders Rawls (Fn . 8), TdG, S . 271 f ., S . 302 f . der die praktische Wirksamkeit des Gesellschaftsvertrags allein durch das Problem der Vorleistungspflichtigkeit (dazu Pawlik [Fn . 6], S . 71 ff .; Stemmer [Fn . 17], S . 96 f .) gefährdet sieht und daher Strafe nur unter dem Gesichtspunkt der positiven Generalprävention für erforderlich hält . 85 Ausführlichere Skizzen einer neo-kontraktualistischen Straftheorie finden sich bei Hoerster (Fn . 3), S . 106–113; Zimmermann (Fn . 24), S . 89–91 . 86 Zum Wiedervergeltungsprinzip Udo Ebert, Talion und Spiegelung im Strafrecht, in: Wilfried Küper, Festschrift für Karl Lackner, Berlin/New York 1987, S . 399–422 . 87 Dazu, dass der Minimalkonsens innerhalb der Bevölkerungsmehrheit prinzipiell gleichbedeutend ist mit dem intrapersonalen Interessenkompromiss irgendeiner Durchschnittsperson, siehe Rawls (Fn . 8), TdG, S . 162 . 88 Selbstverständlich kann niemand in exakt dieselbe Lage wie das aktuelle Opfer geraten . Es genügt eine Vergleichbarkeit insofern, als eine im Eigeninteresse begründbare eigennamenunabhängige und praxistaugliche Regel notwendig so formuliert sein müsste, dass sie den vorliegenden Fall mitumfasst . 89 Dieser Punkt ist bekanntlich umstritten . Eine a . A . vertritt z . B . Dieter Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a . M . 2006, S . 233 f ., der einen imaginären Rollentausch nur dann für ethisch aussagekräftig hält, „wenn derjenige, der sich in die Rolle des anderen hineinversetzt, sich die Interessen des anderen zu Eigen macht, statt seine eigenen Interessen in die imaginär angenommene Rolle ‚mitzunehmen‘ .“ Die Verschiedenheit menschlicher Interessen wird im Vertragsmodell aber bereits dadurch berücksichtigt, dass ein Konsens überhaupt nur in Bezug auf gleichgerichtete Interessen zustande kommt; Sonderinteressen werden entweder qua
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Basis dieser Feststellung ist nun auf die offen gelassenen Fragen nach dem Lebensrecht von Komapatient und befruchteter Eizelle zurückzukommen . 5.2 die lösunG des probleMs des diskontinuierlicHen beWusstseins Führt man das Rollentauschexperiment in der hier vorgeschlagenen Versuchsanordnung in Bezug auf den reversibel Komatösen durch, so ist dessen Lebensrecht nicht fraglich . Denn: Kann auch Ich, der Durchschnittsbürger, eines Tages in ein solches Koma fallen? – Gewiss . Und würde Ich dann, von meinem jetzigen Standpunkt aus beurteilt, wünschen, in diesem Falle bis zum Wiedererwachen am Leben zu bleiben? – Gewiss; denn auf das Erleben einer möglichst langen Lebenszeit lege Ich bei der Planung meiner eigenen Zukunft allergrößten Wert .90 Das Problem, dass die Tötung eines Komapatienten (bzw . eines Schlafenden) bei diesem zu keiner erfahrbaren Frustration seines Lebensinteresses führt, ist also gar keines . Denn der nichtkomatöse (bzw . wache) Durchschnittsbürger empfindet es von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet als potentielle Bedrohung seines Lebensinteresses, könnte er künftig im Koma (bzw . im nächsten Schlaf) straffrei getötet werden .91 Es wird bei der Rollentauschprobe also das eigene aktuelle Lebensinteresse gedanklich auf künftige Zustände vorübergehender Bewusstseinslosigkeit projiziert (und somit auch die hypothetische eigene Tötung als Unrecht stellvertretend erfahrbar92) . Vor diesem Hintergrund erscheint es übrigens auch weniger esoterisch, als es zunächst anmutet, wenn der BGH beim Heimtückemord die Figur der „mit in den Schlaf genommenen Arglosigkeit“ bemüht .93
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intrasubjektiver Interessenabwägung bis zur Mehrheitsfähigkeit geschliffen (s . oben 1 .2 .) oder sie bleiben im Normsystem unberücksichtigt . Innerhalb des auf diese Weise vertragstheoretisch generierten Normsystems besteht weder Grund noch Möglichkeit einer weitergehenden Universalisierung . Siehe nur Merkel (Fn . 51), S . 439; McMahan (Fn . 52), S . 41; Leonard Sumner, A Matter of Life and Death, Noûs 1976 (10), S . 145–171, S . 145 . Ausdrücklich in Bezug auf das hiesige Bsp . Hoerster (Fn . 68), S . 392 f .; Stemmer (Fn . 17), S . 260 f . Weil andererseits dem nicht-mehr-Erlebenkönnen ein solcher Stellenwert nicht eingeräumt wird (dazu bereits Nagel [Fn . 52], S . 74; Sumner, a . a . O ., S . 155 ff .), erscheint es folgerichtig, das endgültige Erlöschen jeglicher (Ich-)Bewusstseinsfähigkeit (sog . Hirntod, vgl . § 3 II Nr . 2 dTPG) als Ende des subjektiv-rechtlich schützenswerten Lebens anzuerkennen; näher Reinhard Merkel, Hirntod und kein Ende, Jura 1999, S . 113–122; Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a . M . 1998, S . 101 ff . Zimmermann (Fn . 24), S . 436 f . mit Fn . 1770 . Vgl . Ingelfinger (Fn . 52), S . 59: Wenn „ganz unbefangen vom ‚Opfer‘ einer Tötung gesprochen und damit vorausgesetzt [wird], dass der Tote das Subjekt des Schadens ist […] hat man damit nicht etwa die Leiche im Sinn . Gemeint ist vielmehr der einst vitale Mensch, den man gleichsam als Lebenden weiterdenkt .“ . BGH NJW 2003, S . 2464–2468, S . 2466 . Dazu, dass diese Rspr . aus anderen Gründen problematisch ist, siehe Wilfried Küper, „Heimtücke“ als Mordmerkmal: Probleme und Strukturen, JuS 2000, S . 740–747, S . 745 f .
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5.3 die lösunG des probleMs potentieller interesssen Zu einem anderen Ergebnis gelangt man in Bezug auf Embryonen . Hier scheitert der Versuch einer Lebensrechtsbegründung bereits auf der ersten Stufe der Rollentauschprobe . Die Frage, ob Ich künftig in die Position des Ungeborenen geraten könnte, wird verneint, weil Ich über das Ich-bewusstseinslose Embryonenstadium bereits für immer hinaus gelangt bin .94 Wenn es aber aus diesem Grunde niemanden gibt, auf den von der Erlaubtheit der Abtreibung eine originäre Bedrohungswirkung für das eigene Leben ausgehen könnte, dann gibt es für niemanden einen Grund, dem Ungeborenen ein subjektives Recht auf Leben zuzuschreiben .95 Vertragstheoretisch gesprochen sind Ungeborene daher kontraktunfähig .96 Freilich ist damit nicht gesagt, dass es nicht andere Gründe dafür gibt, das Leben Ungeborener rechtlich zu schützen .97 Nur handelt es sich dann um einen rechtlichen Schutz, der nicht mit der probehalber eingenommenen Binnenperspektive des Embryos begründbar ist . Daraus folgt, dass der Lebensschutz Ungeborener lediglich genuin altruistisch begründet werden kann .98 Es geht dabei dann nicht mehr um den Schutz des Lebensinteresses des Embryos, sondern um den Schutz des gesellschaftlichen Interesses am Leben des Embryos;99 kontraktualistisch gesprochen handelt es sich hierbei um eine gesellschaftsvertragliche Klausel mit Schutzwirkung zugunsten Dritter .100 Deren Schutzqualität unterscheidet sich gegenüber subjektiven Schutzpositionen durch ihre prinzipielle Abwägbarkeit mit anderen Interessen .101 Dogmatisch betrachtet (nicht inhaltlich!) ist der Schutz des Lebens von Embryonen damit angesiedelt in der Nähe der Verbote, grundlos Wirbeltiere zu töten, seltene Pflanzen zu zerstören oder pietätlosen Umgang mit menschlichen Leichnamen zu pflegen .102 94 Vgl . Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995, S . 227 f . 95 Zu den Gründen, warum ab dem Zeitpunkt der Geburt sofort ein vollwertiges Lebensrecht für das Neugeborene entsteht, siehe Zimmermann (Fn . 24), S . 466–471 . 96 Merkel (Fn . 51), S . 515 ff . 97 Verkannt von Herbert Tröndle, Die Rechtsphilosophie Norbert Hoersters und die Abtreibungsdebatte, GA 1995, S . 249–260, S . 257 . 98 Ausdrücklich in Bezug auf Rawls Johann Braun, Rechtsphilosophie im 20 . Jahrhundert: Die Rückkehr der Gerechtigkeit, München 2001, S . 135 . Aus interessentheoretischer Perspektive Hoerster (Fn . 69), S . 109–118; Eric Hilgendorf, Überlebensinteresse und Recht auf Leben, in: Strasser/Starz (Fn . 54), S . 90–108, S . 101 . 99 Kurt Seelmann, Haben Embryonen Menschenwürde? Überlegungen aus juristischer Sicht, in: Matthias Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a . M . 2004, S . 63–80, S . 75 f . Eingehend Zimmermann (Fn . 24), S . 440–445 . 100 Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, JZ 1996, S . 1145–1155, S . 1154; Hörnle (Fn . 7), S . 337 . Dem Streit, ob ein altruistisch begründeter (objektiv-)rechtlicher Schutzstatus als „(abgestuftes, vermindertes, anwartschaftliches etc .) Lebensrecht“ bezeichnet werden kann (so – in Übereinstimmung mit § 219 I 3 dStGB – Mackie [Fn . 14], S . 254; Hilgendorf [Fn . 98], S . 106; Hörnle, a . a . O ., S . 336) oder nicht (so Norbert Hoerster, Ein „verringertes“ Lebensrecht zur Legitimation der Fristenregelung?, NJW 1997, S . 773– 775; Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo, München 2002, S . 155 f .), kommt letztlich allein terminologische Bedeutung zu . 101 Ausführlich Merkel (Fn . 100), S . 143 ff . 102 Norbert Hoerster, Ein Recht auf Ausbildung künftiger Wünsche?, ARSP 1992 (78), S . 104–107, S . 105; Joerden (Fn . 46), S . 55; Merkel (Fn . 100), S . 139 Fn . 186; Birnbacher (Fn . 54), S . 14; vgl . auch Günther Jakobs, Rechtmäßige Abtreibung von Personen?, JR 2000, S . 406: „Die Leibes-
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frucht wird […] als Gut verwaltet (wie ja auch andere sehr hohe Güter verwaltet werden, die keine Personen sind, etwa Frieden, Kulturgüter, Umweltgüter etc .), aber eben ohne eigene Rechte geltend machen zu können .“
luca lanGensand* rIchterauswahl – auswIrkunGen auf dIe rIchterlIche unaBhänGIGkeIt Das typische Schweizer Modell der Richterauswahl ist geprägt von einer einflussreichen Stellung der politischen Parteien . Faktisch sind es die grossen Parteien, welche die Richterinnen und Richter aufgrund politischer Kriterien auswählen . Aufgrund der kurzen Amtsperioden verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl ist es den Parteien zudem möglich, erheblichen Druck auf die Gerichte auszuüben . Mittels Rückgriff auf Überlegungen aus der normativen Ethik zur Unparteilichkeit sollen Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit im Allgemeinen und das Auswahlverfahren der Richterschaft im Besonderen hergeleitet werden . Anhand dieser Kriterien soll aufgezeigt werden, inwiefern das Schweizer Auswahlmodell modifizierungsbedürftig ist .
1 BeGrIffsklärunG 1.1 unparteilicHkeit Unparteilichkeit wird in der Alltagssprache für die Beschreibung einer neutralen Urteilsperspektive verwendet .1 Der unparteiisch Urteilende – beispielsweise der Schiedsrichter in einem Fussballspiel – soll alle in eine Streitsache involvierten Parteien fair behandeln und keine Seite bevorzugen oder benachteiligen . Davon zu unterscheiden sind ein spezifisch philosophischer und ein spezifisch juristischer Begriff der Unparteilichkeit . In der normativen Ethik gilt Unparteilichkeit neben Universalisierung als wesentliches Charakteristikum des idealen übergeordneten Standpunktes der Moral, von dem aus eine völlig objektive Betrachtungsweise möglich sein soll .2 In der Rechtswissenschaft ist mit Unparteilichkeit in erster Linie die Unparteilichkeit der Gerichte angesprochen .3 Das bereits im römischen Recht4 bekannte Postulat der richterlichen Unparteilichkeit verlangt, dass die Richterin in die Behandlung und Entscheidung des konkreten Falles keine sachfremden oder unsachlichen Elemente einfliessen lassen und unvoreingenommen und unparteiisch entscheiden soll .5
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Der Autor dankt Karin Zinsli (MLaw) für die vielen wertvollen Anregungen . Vgl . Elif Özmen, Unparteilichkeit, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg .), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd . 2, Berlin 2008, S . 1376; Ofer Raban, Modern Legal Theory and Judicial Impartiality, London 2003, S . 1 . Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2 . Aufl ., Düsseldorf 2006, S . 413 ff .; Özmen (Fn. 1), s. 1376 f.; näheres dazu hinten unter 3 . Joachim Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters, Tübingen 1980, S . 9; Raban (Fn . 1), S . 1; Özmen (Fn. 1), s. 1376. Siehe die Nachweise bei Riedel (Fn . 3), S . 9 . Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, s. 55; Riedel (Fn . 3), S . 9 .
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1.2 ricHterlicHe unabHänGiGkeit Richterliche Unparteilichkeit ist nicht gleichzusetzen mit richterlicher Unabhängigkeit . Erstgenannte stellt nur einen (wenn auch zentralen) Aspekt des umfassenden Rechtsgrundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit dar .6 Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gilt als allgemein verbreiteter verfassungsrechtlicher Standard .7 In der Schweizerischen Bundesverfassung ist die richterliche Unabhängigkeit an zwei Stellen geregelt . Art . 30 Abs . 1 BV garantiert die richterliche Unabhängigkeit als Grundrecht . Zusätzlich ist die richterliche Unabhängigkeit in Art . 191 c BV als Organisationsgrundsatz verankert . Auf der internationalen Ebene ist die richterliche Unabhängigkeit an verschiedensten Stellen zu finden: neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem UNO-Pakt II kennen beispielsweise auch die Afrikanische, die Amerikanische und die Europäische Menschenrechtskonvention eine Garantie der richterlichen Unabhängigkeit .8 Zum besseren Verständnis der einzelnen Ansprüche kann die richterliche Unabhängigkeit nach schweizerischem Verständnis grob zweigeteilt werden: in einen institutionenbezogenen und in einen personenbezogenen Teilgehalt .9 Institutionelle richterliche Unabhängigkeit bedeutet Unabhängigkeit der Gerichte von den anderen Staatsgewalten . Sie lässt sich auf das Rechtsstaatsprinzip zurückführen .10 Der eigentliche Kern der richterlichen Unabhängigkeit findet sich jedoch in ihrem personenbezogenen Gehalt, in der persönlichen Unabhängigkeit der einzelnen Richterinnen und Richter .11 Hier widerspiegelt sich das Postulat der richterlichen Unparteilichkeit . Die einzelnen Richterinnen und Richter sollen in der konkreten Entscheidfindung frei von jeglichen sachfremden Einflüssen und völlig unvoreingenommen und unparteiisch urteilen .12 1.3 ricHterausWaHl Falls sachfremde Einflüsse durch andere staatliche Institutionen zu erwarten sind, ist zuerst einmal die institutionelle Komponente der richterlichen Unabhängigkeit anKiener (Fn . 5), s. 52 f . Kiener (Fn . 5), s. 1, mit weiteren Nachweisen; Axel Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, Tübingen 2006, S . 150 . 8 Art . 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10 . Dezember 1948; Art . 14 Ziff . 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16 . Dezember 1966; Art . 26 der Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27 . Juni 1981; Art . 8 Abs . 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention vom 22 . November 1969; Art . 6 Ziff . 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten . 9 Kiener (Fn . 5), s. 52 f .; Thomas Stadelmann, Aspekte richterlicher Unabhängigkeit in der Schweiz: de iure und de facto, abrufbar unter http://www .gewaltenteilung .de/stadelmann .htm (Zugriff: 27 . April 2011); René A. Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2 . Aufl ., Basel 2009, S . 555 . 10 Kiener (Fn . 5), S . 55; Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S . 9; Kurt Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960, S . 56 f . 11 Kiener (Fn . 5), s. 13. 12 Kiener (Fn . 5), s. 13; Riedel (Fn . 3), S . 9; Rhinow/Schefer (Fn . 9), S . 596; BGE 114 Ia 50 E . 3b und c, S . 54 f . 6 7
Richterauswahl
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gesprochen . Es sind die in institutioneller Hinsicht notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit die Rechtsprechung nicht durch andere staatliche Behörden beeinflusst wird .13 So verhält es sich auch bei der Richterauswahl .14 Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verlangt, dass die Richterinnen und Richter ihre Arbeit völlig unabhängig von ihrem Wahlorgan verrichten .15 Es ist jedoch naheliegend und auch völlig unbestritten, dass das Verfahren der Richterauswahl zu Abhängigkeiten führt .16 Je nach Wahlorgan, Gewichtung der Auswahlkriterien und Amtsdauer können diese Abhängigkeiten aber sehr unterschiedlich stark ausfallen . Je stärker die Abhängigkeiten sind, desto grösser ist die Gefahr der Beeinträchtigung der Unparteilichkeit der einzelnen Richterinnen und Richter .17 Die Modalitäten der Richterauswahl sind demnach so zu regeln, dass nicht nur die institutionelle richterliche Unabhängigkeit bestmöglich verwirklicht und gesichert wird, sondern letztlich insbesondere die Einflüsse auf die richterliche Unparteilichkeit so schadlos wie möglich sind . 2 rIchterauswahl In der schweIz Das Auswahlverfahren für die Gerichte des Bundes und der Kantone gestaltet sich im Grossen und Ganzen sehr einheitlich, so dass von einem typischen Schweizer Auswahlmodell gesprochen werden kann . Im Folgenden soll dieses Schweizer Modell anhand der drei Modalitäten Wahlorgan, Auswahlkriterien und Amtsperiode genauer umschrieben werden . Zuerst erfolgt eine Beschreibung der normativen Ausgestaltung der Auswahlverfahren . Anschliessend sollen die faktischen Gegebenheiten der Richterauswahl aufgezeigt werden . 2.1 de iure Typisches Wahlorgan für die Gerichte ist in der Schweiz die Legislative .18 Die traditionellen Volkswahlen sind vor allem für die untersten kantonalen, in kleinen Kantonen auch für die oberen Gerichte, nach wie vor die Regel .19 Die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts werden durch das Parlament bestimmt .20 Die kantonalen Parlamente sind mittlerweile auch für die Mehrheit der oberen kantonalen Gerichte Wahlorgan .21 Stadelmann (Fn . 9); Kiener (Fn . 5), s. 13. Kiener (Fn . 5), s. 255. Kiener (Fn . 5), s. 255. Kiener (Fn . 5), s. 255; Stadelmann (Fn . 9) . Vgl . Rhinow/Schefer (Fn . 9), S . 555 . Vgl . Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter, Übersicht über die Stellung der Richterinnen und Richter in der Schweiz (nachfolgend: Übersicht SVR), abrufbar unter http://www .svrasm .ch/pdf/stellung_der_richter_d .pdf (Zugriff: 27 . April 2011) . 19 Vgl . Übersicht SVR . 20 Siehe Art . 168 BV, Art . 5 Bundesgesetz über das Bundesverwaltungsgericht (VGG, SR 173 .32) sowie Art . 42 Abs . 1 Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes (StBOG, SR 173 .71) . 21 Vgl . Übersicht SVR . 13 14 15 16 17 18
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Die Wahl durch das Volk oder dessen parlamentarische Vertretung soll der richterlichen Tätigkeit zu einer besonderen demokratischen Legitimation verhelfen und eine volksverbundene Justiz fördern .22 Das Ideal der im Volk verwurzelten Richterschaft schlägt sich auch bezüglich der Auswahlkriterien nieder: Das Richteramt soll jeder Bürgerin und jedem Bürger zugänglich sein .23 Für viele Richterstellen bildet denn auch die Aktivbürgerschaft die einzig gesetzlich geregelte Wahlvoraussetzung .24 Sachliche Anforderungen, wie eine juristische Ausbildung, ausreichend Berufserfahrung oder soziale Kompetenz fehlen in der Schweiz auf gesetzlicher Ebene weitgehend . Richterinnen und Richter werden in der Schweiz in der Regel auf eine Amtsperiode von vier Jahren gewählt, in seltenen Fällen beträgt die Amtsdauer drei oder sechs Jahre .25 Nach Ablauf der Amtszeit müssen sich die Richterinnen und Richter der Wiederwahl stellen . Die kurzen Amtsperioden und das Erfordernis der Wiederwahl erklären sich ebenfalls durch eine besondere Gewichtung des Demokratieprinzips .26 Die richterliche Tätigkeit soll immer wieder aufs Neue durch das Volk oder dessen parlamentarische Vertretung legitimiert werden .27 2.2 de Facto Faktisch obliegt die Auswahl der Richterinnen und Richter unabhängig von der Wahlbehörde in fast allen Fällen den politischen Parteien .28 In den meisten Gerichtsbezirken werden die Richtersitze im Sinne der parteipolitischen Kräfteverhältnisse unter den im Parlament vertretenen Parteien aufgeteilt .29 Kandidatinnen und Kandidaten für frei werdende Richterstellen werden durch diejenige Partei, die gemäss freiwilligem Proporz an der Reihe ist, vorgängig ausgewählt und der offiziellen Wahlbehörde zur Wahl vorgeschlagen .30 Eine eigentliche Wahl durch das Volk oder das Parlament findet oft gar nicht statt, weil nach dem parteiinternen Auswahlverfahren in der Regel nur so viele Kandidierende vorgeschlagen werden, wie Richterstellen zu besetzen sind .31 Das Fehlen gesetzlich vorgeschriebener sachlicher Auswahlkriterien stärkt diese dominante Stellung der politischen Parteien zusätzlich . Die Parteien sind weitgehend frei, die Kandidierenden aufgrund politischer Kriterien zu beurteilen . Es wird 22 Kiener (Fn . 5), s. 256 f . 23 Martin Killias, Richterauswahl nach „fachlichen“ statt „politischen“ Kriterien, in: René Schuhmacher (Hrsg .), Geschlossene Gesellschaft?, Zürich 1993, S . 171–174, S . 173 . 24 Vgl . Übersicht SVR . 25 Vgl . Übersicht SVR . 26 Kiener (Fn . 5), s. 281; Stadelmann (Fn . 9); Regina Kiener, Sind Richter trotz Wiederwahl unabhängig?, plädoyer 19 (2001), Heft 5, S . 37 . 27 Stadelmann (Fn . 9). 28 Vgl . Übersicht SVR; Karl Spühler, Der Richter und die Politik, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins 130 (1994), s. 31 f .; Stadelmann (Fn . 9); Stefan Pöder, Richterwahlen: Öffentliche Tagung in Luzern vom 7 . November 2003, Anwaltsrevue 7 (2004), Heft 3, S . 104; Mark M. Livschitz, Die Richterwahl im Kanton Zürich, Zürich 2002, S . 248 ff . und S . 255 . 29 Vgl . Übersicht SVR; Kiener (Fn . 5), s. 269. 30 Vgl . Übersicht SVR . 31 Tschentscher (Fn . 7), S . 273 f .; Livschitz (Fn . 28), S . 249, S . 255 .
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zwar von Seiten der politischen Parteien betont, dass auch sachliche Kriterien im Auswahlverfahren berücksichtigt würden . Doch es muss festgehalten werden, dass die Auswahlverfahren der Parteien oft nicht nachvollziehbar und untransparent sind .32 Politische Kriterien spielen bei der Auswahl der Kandidierenden ohne Zweifel eine sehr zentrale Rolle .33 Zudem ist die Mitgliedschaft in einer Partei eine in der Regel unabdingbare Voraussetzung für ein Richteramt .34 Damit verbunden sind für die allermeisten Richterinnen und Richter eine an ihre jeweilige Partei zu entrichtende jährliche Abgabe, die je nach Partei sehr hoch sein kann .35 Die kurzen Amtsperioden verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl führen zu einer erhöhten Abhängigkeit der Gerichte von den Wahlbehörden und faktisch in vielen Fällen vor allem von den politischen Parteien .36 Das Wahlorgan oder eben in erster Linie die politischen Parteien bestimmen nach sehr kurzer Zeit immer wieder über die berufliche Zukunft der einzelnen Richterinnen und Richter . Das birgt die Gefahr in sich, dass von Seiten des Wahlorgans oder der Parteien die Rechtsprechung zu beeinflussen versucht wird . Die Druckversuche im Zusammenhang mit den bundesgerichtlichen Entscheiden zum Einbürgerungsverfahren oder zur Antirassismus-Strafnorm belegen, dass diese Gefahr keine rein theoretische ist .37 2.3 kritik Unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Richterauswahl in der Schweiz zu beanstanden . Die Thematik der Richterauswahl bildet denn auch immer wieder Gegenstand rechtswissenschaftlicher Auseinandersetzungen in der Schweiz . Mehrheitlich werden der starke Einfluss der Parteien und das Erfordernis der Wiederwahl nach kurzer Amtszeit bemängelt und eine Modifizierung des Auswahlsystems als notwendig erachtet .38 Die Kritik lässt sich unter dem Stichwort der Politisierung der Richterauswahl zusammenfassen . Es gibt jedoch auch gewichtige Gegenstimmen die sich für das Schweizer Auswahlmodell stark machen und in der politisierten Richterauswahl viele positive Aspekte sehen .39 Auf die Argumente der Befürworter der Politisierung 32 Livschitz (Fn . 28), S . 255; Stadelmann (Fn . 9) . 33 Spühler (Fn . 28), s. 31 f .; Kiener (Fn . 5), s. 269 ff .; Livschitz (Fn . 28), S . 255; Pöder (Fn . 28), s. 104 f .; Hansjörg Seiler, Richter als Parteivertreter, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz ins Blickfeld: Ausgewählte Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 17–27, S . 17 f . 34 Nicolas Queloz, Relations entre juges et partis politiques: s’agit-il de corruption?, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz ins Blickfeld: Ausgewählte Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 41–52, S . 46; Kiener (Fn . 5), s. 269 ff .; Pöder (Fn . 28), s. 104 f . 35 Bis zu fünf Prozent des Jahresgehalts oder bis zu 15 000 Schweizer Franken . Vgl . dazu Übersicht SVR . 36 Kiener (Fn . 26), S . 39 f .; Kiener (Fn . 5), S . 285 ff .; Stadelmann (Fn . 9) . 37 Vgl . NZZ 29 .08 .2004, S . 1, S . 15; vgl . für weitere Nachweise Kiener (Fn . 5), S . 241 . 38 Stadelmann (Fn . 9); Queloz (Fn . 34), S . 46 f .; Kiener (Fn . 5), s. 267 ff . und s. 285 ff .; Hans Peter Walter, Interne richterliche Unabhängigkeit, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz ins Blickfeld: Ausgewählte Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 83– 101, s. 99 ff .; Spühler (Fn . 28), S . 31 ff . und S . 37 . 39 So etwa Seiler (Fn . 33) und Killias (Fn . 24) . Dezidiert zustimmend Peter Albrecht, Richter als (po-
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wird später noch einzugehen sein .40 Zunächst sollen unter Rückgriff auf Überlegungen aus der normativen Ethik zur Unparteilichkeit Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit hergeleitet werden, die wiederum Folgerungen für die konkrete Ausgestaltung des Auswahlverfahrens ermöglichen sollen . 3 unparteIlIchkeIt In der ethIk – folGerunGen für dIe rIchterlIche unparteIlIchkeIt 3.1 unparteilicHkeit in der etHik Durch David Hume und Adam Smith wird Unparteilichkeit im 18 . Jahrhundert zu einem Grundbegriff der normativen Ethik .41 Adam Smith entwirft das Gedankenkonstrukt des wohlwollenden und wohlinformierten idealen Beobachters, dessen Bewertungen überperspektivisch und unparteiisch sind .42 Dieser ideale Beobachter hat sich emanzipiert von den natürlichen Täuschungen der Selbstliebe und ist allen Wesen gleich nah .43 Der Begriff der Unparteilichkeit nimmt seither in vielen ethischen Theorien einen zentralen Platz ein . Auffallend ist dabei die Engführung von Unparteilichkeit und Gerechtigkeit: Mittels Unparteilichkeit soll eine völlig objektive Betrachtungsweise ermöglicht werden, von der aus gerechte Urteile gefällt werden können .44 Diese Vorstellung ist auch im juristischen Begriff der Unparteilichkeit anzutreffen .45 Unparteilichkeit im juristischen Sinne war und ist stets eng verknüpft mit grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen, soll doch durch sie seit alters her vor allem eines erreicht werden: gerechte und faire Gerichtsverfahren, die keine Partei benachteiligen oder bevorzugen und im Ergebnis zu gerechten Urteilen führen .46 Es liegt deshalb nahe, für eine Untersuchung der richterlichen Unparteilichkeit auf Kriterien der Unparteilichkeit der Ethik zurückzugreifen . Die von Dieter Birnbacher mit Rückgriff auf Richard Brandt vorgenommene Rekonstruktion des idealen Beobachters bei Adam Smith dient uns dabei als Ausgangslage .47 Dieser ideale Beobachter hat folgende Bedingungen zu erfüllen:48 a) Der ideale Beobachter muss erwachsen, gesund und nicht psychisch gestört sein . b) Er muss über die Handlungen, ihre Hintergründe und Umstände sowie über ihre Konsequenzen umfassend informiert sein . c) Er muss bei seinem Urteil seine Fähigkeit zur Empathie, seine Intelligenz und seine lebhafte Vorstellungskraft einsetzen . Er muss in einer gelassenen Stim-
40 41 42 43 44 45 46 47 48
litische) Parteivertreter?, in: Peter Albrecht/Stephan Gass (Hrsg .), Justiz ins Blickfeld: Ausgewählte Beiträge aus der Schweizer Richterzeitung 2005–2008, Bern 2009, S . 29–39 . Siehe unter 5 . Özmen (Fn. 1), s. 1376. Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S . 177 ff .; Amartya Sen, The Idea of Justice, London 2009, S . 124 ff .; Özmen (Fn. 1), s. 1376; Birnbacher (Fn . 2), s. 415 f . Smith (Fn . 42), S . 177 ff .; Birnbacher (Fn . 2), s. 416; Sen (Fn . 42), S . 125 f . Özmen (Fn. 1), s. 1376 ff . Özmen (Fn. 1), s. 1376 ff . Özmen (Fn. 1), s. 1376; riedel (Fn . 3), S . 9 . Birnbacher (Fn . 2), s. 416; Richard Brandt, Ethical Theory, Englewood Cliffs 1959, S . 173 f . Birnbacher (Fn . 2), s. 416 .
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mung sein, d . h . frei von Affekten wie Ärger, Angst, Kummer, Euphorie oder Depression . Er muss so unparteiisch wie möglich urteilen . 3.2 FolGerunGen Für die ricHterlicHe unparteilicHkeit Vor dem Hintergrund des Verfassungsgrundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit lassen sich aus den Überlegungen zum idealen Beobachter verschiedene Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit herleiten: a) Fachliche Qualifikation49 ist eine unerlässliche Voraussetzung für unparteiisches juristisches Entscheiden . Sie dient der bestmöglichen Ausrichtung des Urteils am Recht und verhindert die Berücksichtigung sachfremder und unsachlicher Kriterien . Richter soll nur werden können, wer über fundierte Kenntnisse des Rechts und der juristischen Methodik verfügt und dem Sachverhalt die für die Entscheidfindung wesentlichen Informationen entnehmen kann . Juristischen Laien fällt die Abwehr sachfremder Einflüsse schwer, weshalb sie wenig geeignet sind für Richterstellen . b) Ebenfalls unabdingbar für eine unparteiische Rechtsprechung ist eine besondere soziale Kompetenz50 . Angesprochen sind Eigenschaften wie Menschenkenntnis, Selbstkenntnis, Einfühlungsvermögen, Realitätssinn und eine gewisse Lebenserfahrung . Von grosser Bedeutung in diesem Zusammenhang ist zudem die Fähigkeit zur Emanzipation von eigenen Positionen und Vorverständnissen . c) Jegliche Abhängigkeiten sind der richterlichen Unparteilichkeit schädlich . Die Möglichkeit der Ausübung von Druck auf die einzelnen Richterinnen und Richter sowohl durch gerichtsexterne als auch durch gerichtsinterne Kräfte ist zu verhindern . 4 folGerunGen für dIe rIchterauswahl 4.1 iM allGeMeinen Der Rückgriff auf die Theorie des idealen Beobachters und die daraus hergeleiteten Kriterien für die richterliche Unparteilichkeit lassen bestimmte Folgerungen für das Verfahren der Richterauswahl zu: a) Die Richterinnen und Richter sind in erster Linie aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation und ihrer sozialen Kompetenz zu beurteilen . Das Verfahren der Auswahl sollte sich deshalb an vorgegebenen sachlichen Auswahlkriterien orientieren . b) Die Wahlbehörde sollte über genügend fachliche Kompetenz verfügen, um die Richterinnen und Richter hinsichtlich der sachlichen Auswahlkriterien bewerten zu können . c) Die Richterinnen und Richter dürfen nicht in Abhängigkeiten gegenüber der Wahlbehörde verfallen . Es ist zu verhindern, dass von externer oder interner 49 Vgl . Kiener (Fn . 5), S . 263 ff . 50 Vgl . Kiener (Fn . 5), S . 265 f .; Livschitz (Fn . 28), S . 263 f .
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Seite Druck auf die Gerichte oder die einzelnen Richterinnen und Richter ausgeübt werden kann . Das typische Schweizer Auswahlmodell kommt diesen Anforderungen nur ungenügend nach . Die das Wahlverfahren dominierenden politischen Parteien betonen zwar, dass sie auch sachliche Kriterien in der Auswahl berücksichtigen würden, doch wird auch von den Befürwortern des vorherrschenden Modells nicht bestritten, dass sich die Richterauswahl primär an politischen Kriterien orientiert .51 Die Sicherstellung einer fachlich und sozial kompetenten Richterschaft wird dadurch erschwert . Diese Politisierung der Justiz führt sodann insbesondere in Verbindung mit den kurzen Amtsperioden und dem Erfordernis der Wiederwahl zu übermässigen Abhängigkeiten .52 Das schweizerische Modell ist deshalb in verschiedener Hinsicht modifizierungsbedürftig . 4.2 ausWaHlkriterien Die Kriterien der fachlichen Qualifikation und der sozialen Kompetenz sind zwingend als die massgebenden Auswahlkriterien gesetzlich festzulegen . Auch wenn sachliche Kriterien de facto zumeist immerhin mitberücksichtigt werden, ist eine rechtliche Verankerung unabdingbar, um diesen Kriterien zu der ihnen gebührenden vorrangigen Stellung im Auswahlverfahren zu verhelfen . Darüber hinaus ist gleichzeitig gesetzlich anzuordnen, dass keine sachfremden Kriterien, insbesondere keine politischen Kriterien, herangezogen werden dürfen für die Richterauswahl . Durch diese Massnahmen kann einer Politisierung meines Erachtens bereits erheblich vorgebeugt werden . 4.3 WaHlorGan Die Gefahr der Politisierung lässt sich jedoch auch durch die konsequente und kompetente Anwendung sachlicher Kriterien nicht aus der Welt schaffen . Unabhängig vom Wahlorgan drängt sich deshalb zunächst die Entmachtung der Parteien auf . Die vorgängige Kandidatenauswahl durch die Parteien sollte in jedem Fall aufgegeben werden . Sodann ist ein Wahlorgan einzusetzen, das so gut wie möglich für die konsequente und kompetente Berücksichtigung der sachlichen Kriterien sorgen kann . Gleichzeitig sollen durch das Wahlorgan keine Abhängigkeiten entstehen können und jegliche Möglichkeit der Ausübung von Druck ist zu verhindern . Nachfolgend sollen verschiedene mögliche Wahlorgane bezüglich dieser Kriterien beurteilt werden .
51 Seiler (Fn . 33), s. 23 ff .; Albrecht (Fn . 39), S . 35 . 52 Stadelmann (Fn . 9); Kiener (Fn . 26), S . 40; Kiener (Fn . 5), S . 269 ff ., S . 285 ff .; Queloz (Fn . 34), S . 46 f .; Spühler (Fn . 28), S . 31 f .
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4 .3 .1 Volk Eine Volkswahl der Richterschaft ist hinsichtlich der Sicherstellung der fachlichen und sozialen Qualifikation der Richterschaft wenig geeignet . Das Wahlorgan ist erstens zu gross, als dass eine sachliche Auseinandersetzung und Beratung bezüglich der einzelnen Bewerbungen stattfinden könnte . Zweitens darf angezweifelt werden, ob sich die Aktivbürgerschaft als fachlich genügend kompetent erweist, um eine sachliche Bewertung vorzunehmen . Ebenfalls ungeeignet scheint die Volkswahl, insbesondere bei kurzen Amtsperioden und dem Wiederwahlerfordernis, hinsichtlich der Verhinderung von Abhängigkeiten und des Ausübens von Druck auf die einzelnen Richterinnen und Richter . Öffentliche Empörung ist ein sehr effizientes Mittel des Drucks . 4 .3 .2 Parlament Das Parlament ist sicher besser geeignet als das Volk, die fachliche und soziale Qualifikation der Gerichte zu garantieren .53 Allerdings könnten je nach Grösse des Parlaments auch hier Schwierigkeiten entstehen bei der vertieften sachlichen Auseinandersetzung mit den Kandidierenden . Auch ist nicht per se gewährleistet, dass das Parlament überhaupt über die notwendige Fachkompetenz verfügt . Das Hauptproblem beim Parlament als Wahlorgan besteht meines Erachtens aber darin, dass es sich um eine Behörde handelt, die primär durch parteipolitische Auseinandersetzungen und Interessenpolitik geprägt ist . Selbst bei gesetzlich klar definierten Auswahlverfahren nach sachlichen Kriterien wird die Gefahr einer verdeckten (partei-) politischen Einflussnahme auf die Gerichte bei diesem Wahlorgan stets sehr hoch sein .54 4 .3 .3 Exekutive Die Berücksichtigung sachlicher Kriterien sollte bei einer Wahl durch die Exekutive relativ gut gewährleistet sein, da es sich um ein individuell überblickbares Gremium handelt, das zudem auf Expertenwissen aus der Verwaltung zurückgreifen kann .55 Doch auch die Wahl durch die Exekutive bringt die bereits beim Parlament angesprochene problematische politische Komponente mit sich . Insbesondere in Regierungssystemen, die nach dem Oppositionsprinzip funktionieren, erscheint die Auswahl durch die Exekutive als sehr ungeeignet zur Sicherstellung der richterlichen Unabhängigkeit . Da die Justiz gerade auch die wichtige Aufgabe hat, Konflikte zwischen der Regierung bzw . Verwaltung und den Bürgern als unabhängige Instanz zu entscheiden, stellt eine Wahl der Richterschaft durch die Exekutive ebenfalls eine grosse Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit dar .56
53 Kiener (Fn . 5), S . 257 . 54 Kiener (Fn . 5), s. 257 f .; Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, Tübingen 2006, S . 391 f . 55 Kiener (Fn . 5), S . 259 . 56 Stadelmann (Fn . 9); Kiener (Fn . 5), S . 258 f .
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4 .3 .4 Gerichte Die Auswahl durch die Gerichte selbst, die sogenannte Kooptation oder richterliche Selbstergänzung, ist sehr zu begrüssen hinsichtlich der Sicherstellung einer fachlich und sozial kompetenten Richterschaft . Die Kooptation bewahrt ausserdem die Unabhängigkeit der Justiz vor Einmischungen anderer Behörden und Parteien und kann so einer Politisierung Vorschub leisten . Sie kann jedoch im Gegenzug das Entstehen gerichtsinterner Hierarchien und Abhängigkeiten fördern .57 Weil Richterinnen und Richter auch durch gerichtsinternen Druck an Unparteilichkeit einbüssen können, scheint die Kooptation nicht vollumfänglich geeignet zur Sicherstellung der richterlichen Unparteilichkeit . Problematisch ist insbesondere die fehlende Kontrolle durch externe Kräfte . 4 .3 .5 Richterwahlausschüsse Diejenigen Wahlorgane, die für eine bessere Berücksichtigung sachlicher Kriterien stehen, bergen die Gefahr einer erheblichen Politisierung oder der Entstehung gerichtsinterner Abhängigkeiten in sich . Wünschenswert wäre demnach eine Wahlbehörde, die einerseits sicherstellt, dass nur fachlich qualifizierte und sozial kompetente Richterinnen und Richter gewählt werden, andererseits jedoch keine übermässigen Abhängigkeiten begründet und eine adäquate externe Kontrolle zulässt . Richterwahlausschüsse, bestehend aus verschiedenen fachlich versierten Personen, scheinen diesen Ansprüchen relativ gut zu entsprechen . Über die Zusammensetzung dieser Behörde lässt sich freilich streiten . Anzustreben wäre eine ausgeglichene Besetzung aus qualifizierten Personen der Richterschaft, der Anwaltschaft sowie der Rechtswissenschaft . Denkbar wäre auch der Beizug politischer oder zivilgesellschaftlicher Vertreter, sozusagen als gesellschaftliches Korrektiv zum Fachwissen der Juristen . Durch die Mitwirkung politischer und gesellschaftlicher Kräfte würde auch die demokratische Legitimation mitberücksichtigt . Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass nicht nur die grossen Parteien sondern auch Vertreter kleinerer Parteien und insbesondere auch Vertreter von nicht-parlamentarischen, zivilgesellschaftlichen Interessenverbindungen, wie bspw . Flüchtlingswerken oder Umweltverbänden, berücksichtigt würden . Die Einführung von Richterwahlausschüssen wird in der Schweiz kaum diskutiert . Dies ist angesichts der aufgezeigten Vorteile dieses Wahlorgans sehr zu bedauern . Prüfenswert ist die Einführung von Richterwahlausschüssen auf jeden Fall . 4.4 aMtsdauer Ebenfalls zwingend modifizierungsbedürftig ist das System der kurzen Amtsperioden und der Wiederwahl . Der Möglichkeit der Druckausübung wird durch diese schweizerische Besonderheit erheblich Vorschub geleistet .58 Eine Wahl auf Lebenszeit scheint die richterliche Unparteilichkeit ideal abzusichern .59 Doch gerade im 57 Kiener (Fn . 5), S . 260 . 58 Kiener (Fn . 26), S . 39 f .; Kiener (Fn . 5), S . 285 ff .; Stadelmann (Fn . 9) . 59 Spühler (Fn . 28), S . 29 .
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Fall einer politischen Wahlbehörde kann die Wahl auf Lebenszeit dazu führen, dass die Wahlorgane versteckt politische Kriterien in ihre Entscheidung einfliessen lassen, um den Gang der Rechtsprechung längerfristig in gewünschte Bahnen zu lenken .60 Eine Wahl auf Lebenszeit wäre in der Schweiz aufgrund der tief sitzenden Furcht vor einer elitären und abgeschotteten Richterkaste61 ohnehin kaum durchsetzbar . Zumindest eine Verlängerung der Amtsperioden scheint dagegen dringend angebracht . Denkbar wäre auch die Wahl auf eine einmalige, relativ lange Amtszeit von 10 bis 20 Jahren, wodurch das Ärgernis der Wiederwahl wegfallen würde . 5 arGumente für eIne polItIsIerte JustIz In der dominanten Stellung der Parteien und der besonderen Gewichtung politischer Auswahlkriterien sehen einzelne Autoren gerade besondere Vorzüge des Schweizerischen Modells gegenüber anderen Auswahlverfahren .62 Von dieser Seite wird nicht geleugnet, dass die politischen Parteien einen erheblichen Einfluss auf die Richterauswahl haben, mithin eine Politisierung der Richterauswahl stattfindet . Es wird aber bestritten, dass diese Politisierung negative Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit haben soll . Im Gegenteil sei die politische Vertretung der Gerichte nicht nur nicht schädlich, sondern nützlich und sinnvoll .63 Die Argumente für eine politisierte Justiz lassen sich folgendermassen zusammenfassen: Da die richterliche Tätigkeit immer auch eine schöpferische Komponente beinhalte und der Richter in vielen Fällen sozusagen zum Ersatzgesetzgeber mutiere, sei ein stures Festhalten am Ideal einer unpolitischen Justiz realitätsfremd .64 Weil nun Rechtsprechung eine eminent politische Tätigkeit sei, soll diese auch besonders demokratisch legitimiert werden .65 Die Wahl durch das Volk oder das Parlament sei der beste Weg, diese Legitimation herzustellen .66 Weil die politischen Parteien sozusagen das Bindeglied zwischen Bürgern und Staat darstellten, die demokratische Legitimation folglich durch die Parteien vermittelt werde, sei es logisch und sachgerecht, dass gerade die Parteien erheblichen Einfluss auf die Wahl der Richter nehmen würden .67 Eine Orientierung am Parteienproporz würde zudem sicherstellen, dass alle in der Gesellschaft vorhandenen politischen Anschauungen im Gericht vertreten wären .68 Zu drei Hauptargumenten für eine politisierte Richterauswahl soll abschliessend Stellung genommen werden .
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Braun (Fn . 54), S . 391 f . Killias (Fn . 24), S . 173 . Albrecht (Fn . 39), S . 35; Killias (Fn . 24), s. 173; Seiler (Fn . 33), S . 23 f . Seiler (Fn . 33), S . 18 . Seiler (Fn . 33), S . 20 f . Albrecht (Fn . 39), S . 35; Seiler (Fn . 33), S . 22 . Seiler (Fn . 33), S . 23 . Albrecht (Fn . 39), S . 35; Seiler (Fn . 33), S . 23 . Killias (Fn . 24), S . 174; Seiler (Fn . 33), S . 24 .
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5.1 recHtsprecHunG als eMinent politiscHe tätiGkeit? Es ist grundsätzlich zu bestreiten, dass richterliche Entscheidfindung eine eminent politische Tätigkeit ist . Auch wenn es zutrifft, dass die Rechtsfindung nicht völlig normdeterminiert ist, sondern in vielen Fällen auch Normkonkretisierung und Norm erweiterung betrieben wird, haben sich Richterinnen und Richter primär stets an Wortlaut und Sinn des Gesetzes und an den Grundwerten der Rechtsordnung zu orientieren .69 Sie können auch im Falle eines Ermessensspielraums nicht einfach beliebig politische Wertungen vornehmen .70 Die richterliche Entscheidfindung ist eine normgeleitete Tätigkeit und in erster Linie eine eminent rechtliche Tätigkeit . 5.2 politiscHe ricHterscHaFt? Jeder Richter und jede Richterin verfügt ohne Zweifel über eine eigene Weltanschauung und über eigene politische und soziale Wertmassstäbe . Alleine deshalb das Ideal der unpolitischen Richterschaft aufzugeben, wäre jedoch ein schwerwiegender Fehler . Ideale sind da, um sich nach ihnen zu richten, ihnen bestmöglich zu entsprechen und in selbstkritischer Reflexion stets an einer noch besseren Entsprechung zu arbeiten . Idealen kann nie völlig entsprochen werden, sie sind folglich nicht alleine deshalb aufzugeben, weil ihre Verwirklichung als unmöglich erscheint . Ziel des Ideals der unpolitischen Richterschaft ist also nicht die völlige Entpolitisierung der einzelnen Richter . Vielmehr soll jeder einzelne Richter und jede einzelne Richterin diesem Ideal bestmöglich zu entsprechen versuchen und stets bedacht sein, keine politischen Kriterien in die Entscheidfindung einfliessen zu lassen . Dies bedeutet nicht, dass die Richterinnen keine politische Meinung vertreten dürfen, nur soll diese Meinung keinen unsachlichen Einfluss auf die Entscheidfindung haben . Als eminent wichtig stellen sich hierbei besondere soziale Kompetenzen heraus, wie die Kenntnis der eigenen Ansichten und Wertungen und die Fähigkeit, so gut wie möglich von diesen Vorbelastungen zu abstrahieren .71 Das führt uns wieder zum idealen Beobachter der Ethik, der von jeglicher Art der Voreingenommenheit abstrahieren kann . Ebenfalls unabdingbar ist in diesem Zusammenhang eine besondere fachliche Qualifikation, durch welche eine konsequente Ausrichtung am Recht und an den darin enthaltenen Grundwerten sichergestellt werden soll . 5.3 leGitiMation durcH parteien? Die demokratische Legitimation der Rechtsprechung ergibt sich aus ihrer Rückführbarkeit auf das demokratisch erlassene Recht .72 Eine zusätzliche besondere demo69 Franz Hasenböhler, Richter und Gesetzgeber in der Schweiz, in: Richard Frank (Hrsg .), Unabhängigkeit und Bindungen des Richters in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz: Ergebnisse einer internationalen Richtertagung, 2 . Aufl ., Basel/Frankfurt a . M . 1997, S . 99–117, S . 109 . 70 Livschitz (Fn . 28), S . 262 . 71 Kiener (Fn . 5), S . 265 f . 72 Livschitz (Fn . 28), S . 261 .
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kratische Legitimation durch das Wahlorgan ist unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit nicht notwendig .73 Darüber hinaus muss aber auch ernsthaft bezweifelt werden, dass die gewünschte demokratische Legitimation gerade durch die politischen Parteien gewährleistet wird . Solange sich eine Mehrheit der Bevölkerung nicht mit einer politischen Partei identifizieren kann, ist die Behauptung, die Richterauswahl durch die Parteien ermögliche eine ausgeglichene Vertretung aller relevanten politischen und weltanschaulichen Strömungen in den Gerichten, sehr gewagt .74 Zudem würde der Einzelne in der Praxis wohl nie vor einem in politischer Hinsicht völlig ausgeglichenen Gericht stehen . Gerichte zeichnen sich durch kleine Spruchkörper aus, nicht selten wird auch im Einzelrichterverfahren entschieden . Folglich scheitert eine ausgeglichene Besetzung der Gerichte hinsichtlich aller in der Gesellschaft vorhandenen politischen und sozialen Anschauungen bereits an der begrenzten Grösse der Spruchkörper . 6 schlussfolGerunG Um dem Verfassungsgrundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gerecht zu werden, sind die Richterauswahlverfahren in der Schweiz in verschiedener Hinsicht zu modifizieren . Erstens sind sachliche Auswahlkriterien gesetzlich zu verankern, die ermöglichen, dass nur fachlich und sozial besonders kompetente Personen in die Gerichte gewählt werden . Sodann sind Wahlorgane einzusetzen, die so gut wie möglich für eine kompetente Anwendung dieser Auswahlkriterien sorgen und keinen Druck auf die Richterinnen und Richter ausüben können . In dieser Hinsicht ist insbesondere die Errichtung von Richterwahlausschüssen zu prüfen . Und nicht zuletzt sollte das System der kurzen Amtsperioden verbunden mit dem Erfordernis der Wiederwahl aufgegeben werden .
73 Livschitz (Fn . 28), S . 261 f . 74 Vgl . die Nachweise bei Livschitz (Fn . 28), S . 260 ff .
tobias scHaFFner* unIverselle GleIchheIt In huGo GrotIus’ lehre vom natürlIchen prIvatrecht Dieser Beitrag argumentiert unter Bezugnahme auf die Rechtsphilosophie Hugo Grotius’ (1583– 1645), dass es ein materielles ethisches Prinzip gibt, welches das Recht notwendigerweise anstrebt: das Ziel, den Rechtsfrieden zu erhalten . Der Rechtsfrieden ist zugleich ein kollektives Ziel der Bevölkerung und ein individuelles Ziel jedes Einzelnen . Zur Orientierung auf dieses Ziel dient dem Einzelnen unter anderem das Gebot, die natürlichen Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit aller anderen Menschen zu achten . Unter dem Aspekt dieser natürlichen Rechte sind alle Menschen gleich, es handelt sich also um eine universelle Gleichheit . Der Schutz dieser Gleichheit durch das Privatrecht (und Strafrecht) vermag nur deshalb universell zu sein, weil das Privatrecht von gewissen persönlichen Eigenschaften wie Alter oder Staatsangehörigkeit absieht, d . h . von Eigenschaften, welche Eignungskriterien für die politischen Rechte des öffentlichen Rechts darstellen . Die Einteilung des Rechts in Privatrecht und öffentliches Recht erscheint letztlich selbst als eine notwendige Voraussetzung, um das Ziel der universellen Gleichheit und damit des Rechtsfriedens zu garantieren .
1 eInleItunG Dieser Beitrag zur Tagung „Unparteilichkeit und Universalisierung“ untersucht das dem natürlichen Privatrecht zugrundeliegende Prinzip der Gleichheit . Dies macht eine Klärung des Verhältnisses zwischen Privatrecht einerseits und Strafrecht und öffentlichem Recht andererseits erforderlich . Dabei will ich folgenden Fragen nachgehen: Gibt es ein materielles ethisches Prinzip, das in allen drei dieser Rechtsbereiche gilt? Oder haben diese Rechtsbereiche nur ihre Quelle in der Gesetzgebung, ihre Rechtsform, gemeinsam? Falls es ein solches Prinzip gibt, ist es in dem Sinn universell, dass es für jede Rechtsordnung gilt? Und in welchem Verhältnis steht das privatrechtliche Gleichheitsprinzip zu ihm? Ich werde mich im ersten Teil (Ziff . 2) zunächst der den drei Rechtsbereichen (scheinbar) gemeinsamen Rechtsform oder -quelle zuwenden, wobei ich mich aus Platzgründen auf eine kritische Diskussion des Gesetzesvoluntarismus beschränke (Ziff . 2 .1) . Dieser sieht in der Rechtsquelle die einzige universelle Eigenschaft des Rechts: Alles Recht gründet im Willen des Gesetzgebers . Wie ich unter Rückgriff auf die Naturrechtslehre von Hugo Grotius (1583–1645) zeigen werde, gibt es auch ein materielles ethisches Prinzip, welches alle Rechtsgebiete überspannt: das Rechtsziel des Gemeinwohls (Ziff . 2 .2) . Diese Behauptung macht eine kurze Auseinandersetzung mit dem analytischen Rechtspositivismus H .L .A . Harts erforderlich, denn dieser weist die Identifizierung des Rechts unter Bezugnahme auf ein ethisches Prinzip wie das Gemeinwohl zurück (Ziff . 2 .3) . Wie sich zeigen lässt, sind Harts und Grotius’ unterschiedliche Auffassungen über das Ziel des Rechts letztlich auf ein unterschiedliches Verständnis der Aufgabe der Rechtsphilosophie zurückzuführen *
Ich möchte mich bei den Organisatoren der Tagung, Herrn Prof . Dr . Klaus Mathis und Frau Dr . Julia Hänni, den TagungsteilnehmerInnen, meinen Doktoratsbetreuern, Herrn Dr . Nigel Simmonds und Frau Dr . Amanda Perreau-Saussine, meinem Freund Christoph Haar und meiner Partnerin Stephanie Motz für Anregungen und Kritik bedanken .
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(Ziff . 2 .4) . Für Grotius ist die Rechtsphilosophie Teil der praktischen Philosophie und damit primär am menschlichen Handeln interessiert . Bei der Suche nach einem ethischen Prinzip, welches die Rechtsbereiche umspannt und universelle Geltung beanspruchen kann, ist die Grotianische Auffassung der Rechtsphilosophie aus zwei Gründen vorzuziehen . Der erste betrifft die Art von ethischen Prinzipien des Rechts, nach denen wir suchen: Prinzip – lateinisch principium – bedeutet bei Grotius, anders als im heutigen juristischen Sprachgebrauch, nicht etwa Regel einer höheren Abstraktionsstufe, sondern Anfang oder Ausgangspunkt . Das principium im Sinne von Ausgangspunkt besteht in der praktischen Philosophie, zu der für Grotius auch das Recht gehört, in einem anzustrebenden Handlungsziel . Das dem Einzelnen vom Recht universell vorgeschriebene Handlungsziel (principium) besteht in der Achtung und Förderung des Gemeinwohls und des Respekts der natürlichen Rechte aller Menschen (Ziff . 3) . Zweitens ist die Unterteilung des Rechts in verschiedene Rechtsbereiche für Grotius nicht eine kontingente, also lediglich mögliche Einteilung, sondern eine unabdingbare, d . h . moralisch notwendige Voraussetzung, um das Ziel des Gemeinwohls zu verwirklichen (Ziff . 4) . Das Gemeinwohl eines Staates umfasst das individuelle Wohl jedes einzelnen Bürgers und Fremden auf dem Staatsgebiet .1 Das individuelle Wohl bedarf mindestens des Schutzes vor Verletzung der Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit2 und Aneignung lebensnotwendiger Güter durch andere Privatpersonen . Der Schutz dieser Rechte ist nur effektiv, wenn er unabhängig von persönlichen Eigenschaften wie der politischen und religiösen Zugehörigkeit, der Tugendhaftigkeit, des Reichtums, des Geschlechts und Alters des Einzelnen besteht .3 Mindestens gewisse dieser persönlichen Eigenschaften sind jedoch für das öffentliche Recht gerade entscheidend . Es berechtigt beispielsweise nur Mündige zur politischen Wahl, während im Privat- und Strafrecht Unmündige genau gleich gegen Körperverletzungen geschützt sind wie Mündige . Damit das Recht alle Menschen gleich schützen kann, müssen somit jene Rechtsbereiche, welche den Schutz gewähren (d . h . das Privat- und Strafrecht), vom öffentlichen Recht, in dem gewisse persönliche Eigenschaften wie Alter oder Staatsangehörigkeit entscheidend sind, abgekoppelt werden . Nur dank dieser Abkoppelung und der Einschränkung auf einen Lebensbereich kann das natürliche Privatrecht allen Menschen die im Titel erwähnte universelle Gleichheit garantieren . Wir wollen uns nun also zuerst dem Gesetzesvoluntarismus und damit der Problematik widmen, wie angesichts der Macht des Gesetzgebers, die Substanz des Rechts jederzeit ändern zu können, universelle Norminhalte überhaupt möglich
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Vgl . Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis (1625), neu übersetzt durch Walter Schätzel, Tübingen 1950, Buch I Kapitel IV § iv und Buch III Kapitel III §§ ii .1 und ii .2, wo Grotius sagt, der Staat bestehe aus Gerichten und anderen Institutionen „wodurch die Fremden [exteri] und die {Bürger unter sich}[privati inter se] ihr Recht verfolgen können .“) . Geschweifte Klammern, d . h . {}, zeigen an, dass ich die von mir verwendete Übersetzung an diesen Stellen korrigiert oder verbessert habe . Freiheit im Sinne von nicht der Autorität einer anderen Privatperson unterworfen sein, d . h . kein Sklave sein, vgl . Hugo Grotius, Inleidinge tot de Hollandsche-Rechtsgeleerdheid, Den Haag 1631, Buch III Kapitel 1 § 12 und Kapitel 35; ders . (Fn . 1), Buch II Kapitel XVII § ii . Für die Liste dieser Rechte vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel II §§ i .4 und i .5 .
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sind . Die leichte Veränderbarkeit des Rechts suggeriert, dass nur die Rechtsform, nicht der Rechtsinhalt universell ist . 2 form des rechts versus zweck des rechts 2.1 GesetzesvoluntarisMus und die ForM des recHts Der Gesetzesvoluntarismus erachtet alles als Recht, was der Gesetzgeber (in den meisten Ländern heute ein Parlament) unter Beachtung des Gesetzgebungsprozesses als seinen Willen ausdrückt . Eine extreme Variante des Gesetzesvoluntarismus postuliert zusätzlich, dass lediglich jene Normen, die der staatliche Gesetzgeber erlassen hat, Recht sind . Eine Norm ist Rechtsnorm nicht aufgrund ihres Zwecks oder Inhalts, sondern aufgrund ihres Ursprungs im Gesetzgebungsverfahren und letztlich im Willen des Gesetzgebers . Der extreme Gesetzesvoluntarismus anerkennt keine andere Rechtsquelle neben dem Willen des Gesetzgebers . (Zum wahren Kern des moderaten Gesetzesvoluntarismus siehe Ziff . 3 .3, insb . Punkt (2) .) Das zweite Postulat hat eine tief greifende Folge für die Jurisprudenz: Es resultiert daraus, dass es methodisch falsch wäre, zur Ermittlung des Rechts den Inhalt und Zweck einer Norm zu berücksichtigen, es sei denn, gewisse inhaltliche Schranken (z . B . Menschen- und Grundrechte) seien Voraussetzungen zur Erlassung gültiger Gesetze, wobei diese Schranken letztlich auch nur im Willen eines Gesetzgebers (u . U . eines supranationalen Gesetzgebers oder der Parteien an einem völkerrechtlichen Vertrag) gründen und damit durch neuerlichen Willensentscheid wieder abgeschafft werden könnten . Für den Gesetzesvoluntarismus zählt also letztlich nur der Ursprung der Rechtsnorm .4 Was bedeutet dies für das Tagungsthema der Universalisierung? Aus der Sicht des extremen Gesetzesvoluntarismus ist es durchaus möglich, dass gewisse innerstaatliche Normen zu einem bestimmten Zeitpunkt universell – also in allen Ländern – anerkannt sind, auch wenn vor dem Hintergrund der sich in den Rechtsordnung niederschlagenden kulturellen Unterschiede vielleicht zu vermuten wäre, dass eine solche inhaltliche Übereinstimmung nur ein marginales Phänomen darstellt .5 Da aus voluntaristischer Sicht zum Erlass von Rechtsnormen die Befolgung von prozeduralen Normen genügt, weist eine universelle inhaltliche Übereinstimmung innerstaatlicher Normen nicht auf eine tieferliegende, für das moralische Leben bedeutungsvolle Ursache hin, sondern ist rein zufällig und, weil sie sich jederzeit wieder auflösen könnte, letztlich von geringem Interesse . Unter Ziff . 3 dieses Beitrags werde ich anhand von Grotius’ Naturrechtslehre zeigen, dass es eine tieferliegende Ursache hinter universellen Normen gibt . Der voluntaristische Fokus auf den Gesetzgebungsprozess und die unbestreitbaren inhaltlichen Unterschiede des Rechts von einer Rechtsordnungen zur nächsten 4 5
Gesetzesvoluntarismus impliziert nicht notwendigerweise Gesetzesgehorsam, denn vom Rechtscharakter einer Norm allein kann nicht geschlossen werden, dass eine moralische Pflicht besteht, die Norm zu befolgen . Ich konzentriere mich hier auf innerstaatliche Normen, weil supranationale Gesetzgebung für alle beteiligten Länder die gleichen, universellen Normen schafft (von vereinbarten Opt-OutMöglichkeiten abgesehen) und daher für unsere philosophischen Zwecke uninteressant ist .
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sind sicherlich mitverantwortlich für die Tendenz der Rechtsphilosophie, sich auf die Form des Rechts statt auf seinen Inhalt zu konzentrieren . Letzten Endes ist es jedoch die eingangs erwähnte herkömmliche Einteilung des Rechts in verschiedene Rechtsbereiche innerhalb jeder Rechtsordnung, welche dem Rechtsphilosophen den Schluss nahelegt, dass die einzige Gemeinsamkeit dieser Rechtsbereiche in ihrer Quelle liegt: Sie entstammen alle dem Willen desselben Gesetzgebers . Denn was hat Privatrecht mit öffentlichem Recht und diese beiden mit dem Strafrecht schon gemeinsam? Es scheint ausschliesslich die Rechtsquelle (und nicht etwa ein übergeordnetes ethisches Prinzip) zu sein, welche es rechtfertigt, die verschiedenen Rechtsbereiche alle dem Oberbegriff Recht unterzuordnen . Dieser Schluss ist jedoch (wenn überhaupt) nur für das Recht des Kodifikationszeitalters zulässig: Erst ab Ende des 18 . Jahrhunderts beginnen die europäischen Staaten das nationale Recht zu kodifizieren und ihm damit eine einheitliche Quelle zu geben! 2.2 das ziel des staatlicHen recHts in der naturrecHtsleHre Die Rechtsgeschichte hält gerade hier eine der wichtigsten Lehren für die Rechtsphilosophie bereit: Wenn Privatrecht, Strafrecht und öffentliches Recht bereits vor der Kodifikation durch nationale Gesetzgeber und trotz ihres heterogenen Inhalts von einem Gesichtspunkt als eine Einheit aufgefasst wurden, als zugehörig zum Recht, dann müssen sie etwas anderes gemeinsam haben als ihre Form . Was ist diese andere Gemeinsamkeit? Für den Naturrechtler ist es das Ziel (oder der Zweck) .6 Das Ziel des staatlichen Rechts ist für Grotius das Gemeinwohl (lat . bonum commune), welches für ihn aus zwei Teilzielen besteht: (1) einem für das Gemeinwohl zwingend notwendigen Teilziel, des Rechtsfriedens, welches Grotius auf verschiedene Arten beschreibt: Genuss des Rechts (lat . fruitio iuris), jedem das Seine erhalten (suum cuique salvum esse), öffentlicher Frieden und Ordnung (lat . pax publica et ordo), öffentliche Ruhe (lat . tranquillitas publica) und (2) einem das Gemeinwohl lediglich fördernden Teilziel (Notwendigkeit zur Verbesserung, necessitas ad melius, statt zwingender Notwendigkeit, necessitas simplex): der Verbesserung oder Vervollkommnung des gemeinsamen Nutzens der Bevölkerung (lat . utilitas communis) .7 Hierzu ausführlicher unter Ziff . 3 .3, insb . Punkt (2) . Diese Unterscheidung innerhalb des Gemeinwohls zwischen notwendigem und förderlichem Teilziel ist für das Thema der Universalisierung des Rechts von grundlegender Bedeutung, denn die Notwendigkeit des ersten Teilzieles, des Rechtsfriedens, führt dazu, dass dieser Aspekt des Gemeinwohls von allen Gesellschaften (also 6 7
Ich ziehe den Begriff Ziel dem heute etwas herkömmlicheren Begriff Zweck vor, weil damit klarer zum Ausdruck kommt, dass Recht dem Menschen als Orientierung auf Handlungsziele dient, siehe Ziff . 3 unten . Für die in der heutigen Literatur kaum beachtete Unterscheidung zwischen notwendigem und bloss förderlichem Teilziel vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § xiv und Grotius (Fn . 16) Kapitel 4 § 5 . Es sollte klar sein, dass was notwendig ist auch förderlich ist, nicht aber alles was förderlich ist auch notwendig ist . Grotius folgt Francisco Suarez, De Legibus (1612), Madrid 1971, Buch I Kapitel III §§ 1, 3 und Kapitel VII § 15, wo Suarez auf Thomas von Aquin, Summa Theologiae, geschrieben 1265–1274, Prima Secundae Quaestio 95 Art . 3 Corpus verweist . Die Unterscheidung ist auch in anderem Zusammenhang wichtig, vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel VI § viii (zur Veräusserung eines Teils des Territoriums) und Buch II Kapitel XXII § vi .
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universell) erstrebt wird . Wie auch immer das zweite Teilziel, die Vervollkommnung des Gemeinwohls, von einer Gesellschaft ausgestaltet wird, sie wird zunächst versuchen, die Wahrung des Rechtsfriedens zu sichern und für alle Zeiten aufrecht zu erhalten .8 Freilich lässt auch der Schutz des Rechtsfriedens einem Staat einen gewissen Spielraum, so dass die Notwendigkeit dieser Voraussetzung allein noch nicht erklärt, weshalb es universelle Grundsätze gibt . Wenn man nun aber noch hinzunimmt, dass für Grotius der Rechtsfrieden darin besteht, jedem seine Rechte – insbesondere seine Rechte auf lebensnotwendige Güter – zu erhalten, kommen wir universellen Grundsätzen näher . Die einzelnen Schritte hierzu werde ich unter Ziffer 3 .3 . ausführen . Im Gegensatz zur Notwendigkeit der Grundsätze, welche zum ersten Teilziel führen, gibt es unzählige Möglichkeiten, wie das Ziel der Vervollkommnung des Gemeinwohls aufgefasst werden kann, und noch mehr Möglichkeiten, mit welchen Mitteln dies geschehen soll . Wo eine solche Wahlfreiheit besteht, handelt es sich um Willensrecht – der Begriff weist auf den Willensentscheid hin, mit dem eine mögliche Ausgestaltung des Ziels bzw . ein mögliches Mittel ausgewählt wird . Wiederum mit Blick auf das Thema der Universalisierung sollten wir festhalten, dass es aufgrund der Wahlmöglichkeiten viel seltener der Fall ist, dass eine willensrechtliche Norm universell oder beinahe universell beachtet wird (vgl . Ziff . 3 .3) . Es ist das aus notwendigen und bloss förderlichen Teilzielen zusammengesetzte Gemeinwohl, welches als ethisches Prinzip das Recht und damit die Rechtsbereiche zusammenhält . Ein Einwand gegen diese Aussage zeichnet sich ab: Was ist mit ungerechten Rechtsordnungen? Ist es in diesen Fällen sinnvoll das Recht unter Rückbeziehung auf das Gemeinwohl zu erklären? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst festzuhalten, dass für den Naturrechtler sowohl ungerechtes wie auch gerechtes Recht über sein Ziel identifiziert wird . Er bedient sich dabei einer Unterscheidung zwischen Recht im eigentlichen Sinn und Recht im uneigentlichen Sinn .9 Wo das Recht, genauer das von Menschen gesetzte, also positive Recht, nicht das Wohl der ganzen Bevölkerung (Gemeinwohl) verfolgt, sondern lediglich dem Wohl des Tyrannen und seines Regimes dient und auch nur diesen Rechtsschutz gewährt, spricht der Naturrechtler von Recht im uneigentlichen Sinn .10 Im Gegensatz dazu zielt das Recht im eigentlichen Sinn auf das Gemeinwohl, also auf ein ethisches Ziel .
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Grotius verweist auf die Wahrung der öffentlichen Ruhe ausdrücklich als universelles Ziel (lat . finis universalis), vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel IV § iv .2 . 9 Für Finnis’ Gebrauch von Recht im eigentlichen Sinn („focal“ oder „central case of law“) und Recht im uneigentlichen Sinn, vgl . John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 2011, Kapitel 1 . Grotius zieht folgende Parallele: Wir können ungerechtes Recht in dem Sinn Recht nennen, in dem wir die Abbildung eines Mannes einen Mann nennen, vgl . Hugo Grotius, De Aequitate, Indulgentia et Facilitate, Übersetzung im Anhang von Herbert Schotte, Die Aequitas bei Hugo Grotius, Köln 1963 . 10 Vgl . John Finnis, The Truth in Legal Positivism, in: Robert P. George, The Autonomy of Law: Essays on Legal Positivism, Oxford 1996, S . 195–214 .
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2.3 der zWeck des recHts iM analytiscHen recHtspositivisMus Die Unterscheidung zwischen Recht im eigentlichen Sinn und Recht im uneigentlichen Sinn und die Identifikation des Ziels des Rechts im eigentlichen Sinn als Gemeinwohl wird die analytischen Rechtspositivisten aufhorchen lassen . Hart hat diese für das Naturrecht charakteristische Unterscheidung zwischen verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Recht zurückgewiesen .11 Er erkannte dem Recht zwar ein universelles Ziel zu, jedoch ein minimales, moralisch neutrales Ziel: das Überleben („survival“) .12 Dieses Ziel ist moralisch neutral, weil es sich auch dann noch um Recht im weiten, positivistischen Sinn handelt, wenn es lediglich auf das Überleben einer tyrannischen Führungsschicht abzielt, also z . B . nur dieser Schicht ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt . Wie wir sogleich sehen werden, ist das Ziel, welches Hart dem Recht zuschreibt, nur aus seinem Verständnis der Aufgabe der Rechtsphilosophie zu erklären, und dieses Verständnis ist nicht unumstritten .13 Harts Grund für die Annahme eines weiten, moralisch neutralen Rechtsbegriffs ist allgemein bekannt und soll hier deshalb nur ganz kurz wiedergegeben werden . Hart wollte damit einem unkritischen Rechts- oder Gesetzesgehorsam vorbeugen, der dazu führt, dass Bürger und Beamte dem Gesetzgeber blind folgen . Harts moralisch neutraler Rechtsbegriff soll garantieren, dass bei der Identifikation einer Norm als gültige Rechtsnorm keine moralische Wertung vorgenommen werden muss . Damit kann selbst äusserst ungerechtes Recht noch gültiges Recht sein, so dass allein aus der Erkenntnis, dass es sich bei einer Norm um eine gültige Rechtsnorm handelt, nicht geschlossen werden kann, dass auch eine moralische Pflicht besteht, diese zu befolgen . Die Unterscheidung der Naturrechtler zwischen Recht im eigentlichen Sinn und Recht im uneigentlichen Sinn würde für Hart nur Verwirrung stiften: Folgte man der Unterscheidung, könnte man nicht mehr einfach nur von Recht (im weiten, moralisch neutralen Sinn) sprechen, sondern müsste jedes Mal präzisieren, ob von Recht im eigentlichen Sinn die Rede ist (was moralisches Gewicht hat) oder von Recht im uneigentlichen Sinn (also moralisch verwerflichem Recht) . 2.4 Hart und Grotius zur auFGabe der recHtspHilosopie Der Rechtspositivist verweist Bürger und Beamte auf eine andere Disziplin, die Moralphilosophie, um zu klären, ob sie eine moralische Pflicht haben, eine gültige Rechtsnorm zu befolgen .14 In dieser Haltung des Rechtspositivisten zeigt sich deut11 Siehe Harts Einleitung in Herbert L.A. Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S . 10 f . Ich verdanke diesen Punkt Amanda Perreau-Saussine . 12 Vgl . Herbert L.A. Hart, The Concept of Law, 2 . Aufl ., Oxford 1994, Kapitel IX „2 . The Minimum Content of Natural Law” (insb . S . 191) . 13 Es ist das Verdienst Nigel Simmonds’, herausgestellt zu haben, dass Hart die grundlegende Bedeutung des Rechtszwecks für seine Rechtsdefinition und damit für die rule of recognition verschleiert, indem er die Idee des Rechtszwecks erst bei der Diskussion des notwendigen Minimalinhalts des Naturrechts einführt, vgl . Nigel Simmonds, Central Issues in Jurisprudence, 3 . Aufl ., London 2008, S . 178 f ., S . 184–191 und S . 250–252 . 14 Vgl . Hart (Fn . 12), S . 210 .
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lich, dass er seine Disziplin nicht als Teil der auf Handlung orientierten, praktischen Philosophie versteht oder wenn, dann nur in der einen praktischen Anweisung: Allein vom Schluss, dass eine Norm Rechtsnorm ist, darf für das Handeln nichts gefolgert werden . Die Hauptaufgabe der Rechtsphilosophie besteht für den analytischen Rechtspositivismus in der Klärung von Begriffen . Wie wir unter Ziff . 4 sehen werden, kann der Rechtspositivist aber – gerade weil er die Moral in eine separate Disziplin verweist –, begriffliche Unterscheidungen wie jene in Privatrecht und öffentliches Recht nicht erklären . Selbst abgesehen von diesem Punkt, erscheint aus naturrechtlicher Sicht Harts Auffassung der Rechtsphilosophie unnötig limitiert . Denn wenn auch der Rechtspositivist seine Erklärung des Rechts nur vor dem Hintergrund eines Zieles des Rechts – das Ziel des Überlebens – verständlich machen kann und dieses Minimalziel mit einer bestimmten Auffassung der Aufgabe der Rechtsphilosophie zusammenhängt, wenn sich weiter alle vernünftigen Menschen über das ethische Ziel eines minimalen Schutzes für alle Menschen einig sind – was selbst Hart ausserhalb der für ihn moralisch neutralen Rechtsdefinition akzeptierte (!),15 dann gibt es keinen Grund, den Aufgabenbereich der Rechtsphilosophie nicht auf ethische Fragestellungen auszudehnen . Natürlich sind sich die Menschen nicht einig, was unter dem ethischen Ziel des Gemeinwohls alles zu verstehen ist . Diese Uneinigkeit über die Vervollkommnung des Gemeinwohls sollte den Rechtsphilosophen jedoch nicht davon abhalten, zu untersuchen, welche Ziele das staatliche Recht notwendigerweise erstreben muss, um die Voraussetzungen für das individuelle gute Leben und das wie auch immer ausgestaltete höhere Gemeinwohl zu schaffen . Damit scheint es gerechtfertigt, tiefer in die Rechtsphilosophie einzutauchen, wie sie Hugo Grotius verstanden hat . Dazu müssen wir zuerst sein Verständnis des Begriffs Prinzip klären (Ziff . 3 .1), zweitens müssen wir erörtern, welche Prinzipien für ihn universelle Geltung haben (Ziff . 3 .2), und drittens unter diesen spezifisch rechtliche Prinzipien ausfindig machen (Ziff . 3 .3), denn es sind diese rechtlichen Prinzipien, welche das notwendige Teilziel des Rechtsfriedens prägen . 3 GrotIus’ teleoloGIsche rechtsphIlosophIe 3.1 prinzip als ziel und als reGel Was versteht Grotius unter natürlichem Prinzip? Die Auseinandersetzung mit dem Begriff Prinzip erlaubt uns, einer naiven Erwartung vorzubeugen: Die Naturrechtslehre bezweckt nicht, uns zu einem geheimen Ort zu führen, wo wir ein in Stein gemeisseltes Naturgesetz vorfinden . Aufschluss über die Art von Prinzip, nach der wir suchen, gibt uns der lateinische Begriff für Prinzip – principium – dessen sich Grotius bedient . Anders als in unserem heutigen juristischen Sprachgebrauch bedeutet principium nicht generell-abstrakte Regel (zu dieser Bedeutung vgl . Ziff . 3 .1 in fine), sondern Anfang oder Ausgangspunkt des menschlichen Handelns . 15 Vgl . Hart (Fn . 12), S . 200 und S . 206 . Hart anerkennt die Idee genereller natürlicher, d . h . nicht von Menschen geschaffenen, Rechte auch in seinem erstmals 1955 veröffentlichten Aufsatz ‚Are there any natural rights?‘, in: Jeremy Waldron (Hrsg .), Theories of Rights, Oxford 1984, S . 77–90 .
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Für den Menschen stellen die Handlungsziele (lat . finis) den Ausgangspunkt für sein Handeln dar .16 Wenn wir beratschlagen (lat . deliberatio oder consilium), was wir tun sollen, gehen wir von einem oder mehreren möglichen Handlungszielen aus (Ausgangspunkt) . Wir fragen uns, welches Ziel wir verfolgen sollen, und mit welchen Mitteln und Handlungen wir dieses Ziel erreichen .17 Dieser innerliche Beratschlagungsprozess ist der Bereich der praktischen Vernunft (lat . prudentia) .18 In einem weiteren, innerlichen Schritt entscheiden wir uns für ein Ziel (lat . electio), auf das wir unsere Absicht richten (lat . intentio), dann wählen wir die Mittel oder weitere Zwischenziele, die uns zum beabsichtigten Ziel führen . Nun setzen wir unseren Entschluss in die Tat um: die tätliche Ausführung (lat . executio) unserer Entscheidungen in Verfolgung des Zieles beginnt . Hier dreht sich die Reihenfolge um: Anders als im Beratschlagungsprozess, wo das Ziel zuerst kommt und die Mittel folgen, ergreifen wir in der Ausführung zuerst die Mittel und Handlungen, die uns zum Ziel führen, das Ziel erreichen wir zuletzt (wenn überhaupt) .19 Dazu ein Beispiel: Ich werde angegriffen . Mein Handlungsziel ist es, zu überleben (Selbsterhalt) . Ich überlege, wie ich dem Angriff entkomme und realisiere, dass sich zwei Lösungen (Mittel) bieten: entweder den Angreifer niederschlagen oder entfliehen . Ich entscheide mich, zu fliehen . Jetzt beginnt die Ausführung (executio): Ich renne los, hänge meinen Verfolger ab und entkomme schliesslich . Mein beabsichtigtes Ziel ist erreicht, ich habe überlebt . Einige Bemerkungen zur Stellung des Prinzips in der Handlungstheorie . Gemäss Grotius haben wir ein letztes Ziel – ein höchstes Gut (lat . summum bonum), in Verfolgung dessen wir alles andere tun, inklusive der von den Tugenden vorgeschriebenen Ziele, die wir sowohl um ihrer selbst willen, als auch in Verfolgung des höchsten Guts, erstreben .20 Für Grotius besteht das letzte Ziel in unserer liebenden Vereinigung mit Gott, die in diesem Leben zwar beginnen kann, aber erst im nächsten Leben zur Vervollkommnung gelangt . Wir sind also etwa barmherzig sowohl, weil wir die Barmherzigkeit als moralisches Ziel ansehen, als auch aus Liebe zu Gott . Genau so wie der Rechtsfrieden ist auch die Barmherzigkeit ein Zwischenziel, oder genauer ein relatives Selbstziel, d . h . ein Ziel, das wir sowohl um seiner selbst willen als auch in Verfolgung des letzten Zieles, erstreben . Grotius folgt also einer auf den Tugenden basierenden eudämonistischen Ethik . Grotius ist sich bewusst, dass es bereits unter heidnischen (d . h . antiken) Philosophen – genau so wie unter den Christen seiner Zeit – höchst umstritten war, worin das höchste Gut besteht . Gerade diese Einsicht hat ihn veranlasst, eine Naturrechtslehre zu entwickeln, für die das letzte Ziel nicht genauer definiert werden muss . Seine Naturrechtslehre geht stattdessen von einem blossen Zwischenziel aus – dem 16 Die zwei wichtigsten Passagen, auf welchen die Ausführungen im Text aufbauen, sind Hugo Grotius, De imperio summarum potestatum circa sacra, ins Englische übersetzt von Harm-Jan van Dam, Leiden 2001, Kapitel V § 1 (siehe auch § 2 und § 7); und Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XXIV § v .1 und § vi . 17 Es gibt natürlich Routinehandlungen, die wir vornehmen, ohne dass wir lange über Ziele und Mittel beratschlagen . Dies soll uns hier nicht weiter kümmern . 18 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XXIV § v . 19 Dass Grotius diese Sicht teilt, ergibt sich aus seinem De veritate religionis christianae, Buch II § IX (konsultierte Ausgabe: Opera omnia theologica, Basel 1732, Vol . IV, S . 37) . 20 Vgl . Hugo Grotius, Meletius sive De iis quae inter Christianos conveniunt Epistola, ins Englische übersetzt von Guillaume H.M. Posthumus Meyjes, Leiden 1988, Kapitel II §§ 13–15 .
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Schutz des Rechtsfriedens – einem Zwischenziel, welches erstrebt werden muss, was auch immer der Einzelne als letztes Ziel annimmt .21 Auch etwa der Hedonist respektiert den Rechtsfrieden in Verfolgung eines weiteren Ziels, des ungestörten Lustgewinns . Es ist daher schlichtweg falsch und irreführend, wenn Hart glaubt, die Naturrechtslehre zurückweisen zu können, weil das letzte sittliche Ziel äusserst umstritten ist .22 Das Zwischenziel des Rechtsfriedens ist auch dann noch notwendig, wenn es für ein nicht-christliches letztes Ziel verfolgt wird . Die Stärke der Naturrechtslehre liegt genau darin, dass sie das staatliche Recht mit einem für alle notwendigen Zwischenziel identifiziert, welches zu individuellen und kollektiven letzten Zielen beiträgt, ohne von ihnen aufgehoben zu werden. Das lateinische principium kann nun aber neben Handlungsziel auch, wie heute üblich, generell-abstrakte Handlungsregel bedeuten . Wie hängen diese beiden Bedeutungen von principium zusammen? Grotius gibt eine Antwort auf diese Frage in seinem Traktat über die Billigkeit (De Aequitate), also jener Tugend, welche uns anhält, eine Ausnahme von einer allzu rigiden Regel zu machen . „Dass diese Tugend [i .e . die Billigkeit] aber vonnöten ist, zeigt folgender Schluss . Da der unstete und kaum fassliche Geist des Menschen zu dem Ziel, wohin die Natur führt [finem, quo eo vera natura ducit], nur unter Zuhilfenahme gewisser straffer Regeln [regulae] geleitet werden kann, die man ihrerseits wieder den Prinzipien eben dieser Natur entnehmen müsste, – da diese Regeln aber, um die Menschen zu ihrer Beachtung zu zwingen, begrenzt sein müssten, während die Materie der Dinge und Handlungen selbst unbegrenzt ist: so folgt aus alledem, dass sich oft vieles ereignet, auf das die Regeln nicht passen . In diesen Fällen galt es, nicht den Regeln zu folgen, sondern die Vorstellung und den Plan dessen, der sie gegeben hatte, zu berücksichtigen . Das bedeutet so viel wie: alles nach den Prinzipien der Natur {aus}zurichten .“23 [Hervorhebungen durch TS]
Diese Passage ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung für unsere Zwecke . Erstens macht Grotius hier ausdrücklich die Verbindung zwischen unseren natürlichen Zielen (zu diesen Ziff . 3 .2 unten) und Handlungsregeln: Die Handlungsregeln dienen lediglich als Richtschnur, die uns in der Verfolgung unserer Handlungsziele dringend notwendige Orientierung gibt . Zweitens erklärt er, wieso Regeln problematisch sind: Sie sind begrenzt während die Umstände, auf die wir in der Wirklichkeit treffen, unbegrenzt sind . Die Handlungsregeln sind deshalb lediglich ungefähre Richtlinien, letztlich zählt das Handlungsziel . Um die Dimension der Rechtsprinzipen als Handlungsziel – nicht nur als Handlungsregel – zu verstehen, ist es wichtig zwischen innerer, ethischer Perspektive und äusserer, rechtlicher Perspektive zu unterscheiden . Von der inneren Perspektive der eudämonistischen Ethik aus gesehen, gebietet das Recht dem nach Glückseligkeit strebenden Menschen nicht nur gewisse äussere moralische Handlungen (z . B . die Rechte der anderen zu respektieren), sondern auch (sogar primär, wie wir unter Ziffer 3 .2 und 3 .3 sehen werden) gewisse moralische Handlungsziele oder -motive . Gleichsam verbietet es die Verfolgung gewisser unmoralischer Handlungsziele, nicht nur gewisser äusserer Handlungen . 21 Dies hat Heinrich Rommen mit aller wünschenswerten Klarheit für Francisco Suarez herausgestellt, vgl . Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S . J ., München/Gladbach 1926, S . 23 . 22 Vgl . Hart (Fn . 12), S . 191 . 23 Vgl . Grotius (Fn . 9), I § 5 .
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Von der äusseren Perspektive des Staates (Beamten und Richter) oder Dritter (inkl . Anwälte) aus gesehen, schreiben die Rechtsprinzipien dem Rechtssubjekt im allgemeinen nur äussere Handlungen vor, während das Handlungsziel (das Motiv des Handelnden) für die rechtliche Beurteilung unerheblich bleibt .24 Ob ich den angerichteten Schaden begleiche, weil ich mich vor rechtlichen Sanktionen hüten will (schlechtes Motiv), oder weil mir die Gerechtigkeit ein echtes Anliegen ist (gutes Motiv), spielt für den Staat keine Rolle; in der Tat hat der Staat sich für meine sich nicht in äusseren Akten manifestierende Gesinnung nicht zu interessieren .25 Im Gegensatz zum Moralphilosophen ist der Jurist also geradezu angehalten, unter „Rechtsprinzip“ nicht Prinzip im Sinne von Handlungsziel, sondern im Sinne von Handlungsregel, und nur so zu verstehen . Die Eigenschaft des Rechts, vom Handlungsziel abzusehen, verfolgt selbst ein ethisches Ziel: Es spielt für das potentielle Opfer einer Rechtsverletzung keine Rolle, aus welchem Motiv seine Rechte verletzt werden . Für das Opfer zählt nur der Schutz vor Rechtsverletzungen, und dieser Schutz ist besser gewährt, wenn er nicht von bestimmten Handlungszielen abhängig gemacht wird, sondern bedingungslos gilt . Und was für den Schutz vor einzelnen Rechtsverletzungen gilt, gilt umso mehr für den Schutz des Rechtsfriedens generell . Nur darf aus der Tatsache, dass Ethik und Recht hier aus einem ethischen Grund divergieren, nicht geschlossen werden, dass das Handlungsziel für das Naturrecht nie von Bedeutung ist . Wie wir sogleich sehen werden, lassen sich die naturrechtlichen Prinzipien nur verstehen, wenn sie als moralische Handlungsziele für die praktische Beratschlagung aufgefasst werden . 3.2 natürlicHe prinzipien als universelle anFanGspunkte Wenn wir nach universellen Prinzipien (Zielen) suchen, dann müssen wir uns, Grotius folgend, nach Handlungszielen umsehen, die allen Menschen aufgrund ihrer Natur gemeinsam sind, und damit universell . Da die Menschen – zumindest für die Philosophen der Frühen Neuzeit – einen Teil ihrer Natur mit den Tieren teilen, darf es uns nicht überraschen, dass wir Menschen auch einen Teil unserer Handlungsziele mit den Tieren teilen .26 Das erste solche Handlungsziel haben wir bereits angetroffen: das Ziel des Selbsterhalts . Dieses Ziel ist allen Menschen und Tieren gemeinsam, wie Grotius, Cicero zitierend, festhält: „{Erste} Natur nennt er [i .e . Cicero] es, dass ein Tier von seiner Geburt ab für sich sorgt und strebt, sich und seinen Zustand zu erhalten, und das, was zur Erhaltung dieses Zustandes beiträgt, aufsucht; ferner, dass es den Tod und die Dinge verabscheut, welche ihm Untergang zu bringen scheinen .“27
24 Vgl . Grotius (Fn . 1), insb . § 44 Prolegomena und Buch II Kapitel XXII § xvii . Zum Unterschied mit dem göttlichen Recht, für welches die Gesinnung des Handelnden relevant ist, siehe ders. (Fn . 1), Buch I Kapitel II § vi .4 . Ich sehe hier von der Rolle des Motivs für das Strafrecht und den Rechtsmissbrauch ab: Es geht um den Schutz an sich . 25 Vgl . Grotius (Fn . 16), Kapitel III § 1 . 26 Vgl . Grotius (Fn . 1), § 6 Prolegomena: „[D]er Mensch ist {sicherlich} ein {Tier}, aber das höchste der {Tiere}“ . 27 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel II § i . Eine Variation von Ciceros Argument findet sich in Thomas von Aquin (Fn . 7), Prima Secundae Quaestio 94 Artikel 2 Corpus .
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Es ist wichtig, dieses Zitat auf die Methode hin zu untersuchen, mit der Grotius die natürlichen Prinzipien identifiziert . Die natürlichen Neigungen der Tiere (Menschen inbegriffen) wie Hunger, Durst und Angst orientieren sie auf eines ihrer essentiellen natürlichen Ziele, den Selbsterhalt (der mit Harts Überleben gleichzusetzen ist) . Hunger und Durst veranlassen Tiere wie Menschen nach Nahrung zu suchen, weil sie das Ziel des Selbsterhalts als etwas Gutes erkennen . Und ähnlich verhält es sich mit der Angst, die uns unterrichtet, bei einem Angriff zu fliehen oder uns zu verteidigen, also ein Übel zu meiden, was wiederum nur vor dem Hintergrund des Ziels, sich selbst zu erhalten, Sinn macht . Man sollte sich den Selbsterhalt nicht als passiven Zustand, sondern als Aktivität vorstellen . Wir haben das Potential, uns selber zu erhalten . Die Verwirklichung dieses Potentials besteht im aktiven Streben nach Selbsterhalt . Die natürliche Neigung auf das Ziel des Selbsterhalts richten Mensch und Tier auf ihr eigenes Wohl aus . Das zweite natürliche Ziel, das ihnen gemeinsam ist, richtet sie auf das Wohl ihrer Spezies und/oder anderer Artgenossen aus . Der sexuelle Trieb orientiert sowohl Menschen wie auch Tiere auf den Erhalt der eigenen Spezies (durch Fortpflanzung) . Die Menschen und gewisse Tiere sind zudem durch einen sozialen Trieb (lat . appetitus socialis) auf das Ziel ausgerichtet, ihre Artgenossen zu respektieren und ihr Wohl zu fördern . Beim Menschen ist das Potential, um dieses Ziel zu erreichen, jedoch viel ausgeprägt als bei den Tieren .28 Dies nicht zuletzt, weil die Menschen ein drittes Potential und Ziel haben, das ihrer Natur allein eigen ist, der Gebrauch der Vernunft . Für die folgende Untersuchung sind zwei Punkte wichtig: (1) Der Mensch ist bereits qua Tier (lat . animal) von Natur aus nicht nur auf sein eigenes Wohl, Selbsterhalt, sondern auch auf das Wohl anderer, seien es Nachkommen oder Mitmenschen, ausgerichtet; (2) der Mensch qua vernünftiges Tier (lat . animal rationalis) verfolgt alle seine Ziele unter Gebrauch seiner Vernunft . Im Gegensatz zum Menschen folgen die Tiere ihren natürlichen Neigungen nach Selbsterhalt und Erhalt der Spezies instinktiv .29 Dieser Unterschied ist wichtig, um die Aussage zu verstehen, dass die natürlichen Neigungen (lat . passiones oder inclinationes) wie Hunger oder Angst, vor allem aber der soziale Trieb, Tiere und Menschen auf ihr jeweiliges Wohl ausrichten . Auf der einen Seite gründet das Naturrecht nicht auf Vernunft allein, die Vernunft bedarf der Ausrichtung auf das eigene Wohl und das Wohl anderer durch die natürlichen (teilweise animalischen) Triebe . Auf der anderen Seite nehmen nur beim Menschen Selbsterhalt, Erhalt der Spezies, Respekt und Fürsorge für andere und Vernunft die Stellung eines principium im Sinne der oben skizzierten Handlungstheorie ein, d . h . die Stellung eines Handlungszieles, von dem die Beratschlagung (deliberatio) ausgeht . Dabei sollte klar sein, (i) dass der Mensch freilich auch entgegen seiner natürlichen Ziele handeln kann: Der Wille kann sich immer gegen das Gute entscheiden und das Böse wählen; (ii) und dass die Vernunft unser Verständnis dieser Handlungsziele und der möglichen Mittel, diese zu verfolgen, verfeinert (lat . determinatio), sowohl in eigenständiger Überlegung als auch in den Interpretationen unserer und anderer Kulturen (was die grosse kulturelle Vielfalt erklärt) . 28 Vgl . Grotius (Fn . 1), § 7 Prolegomena . 29 Instruktiv ist Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § xi; vgl . auch § 7 Prolegomena .
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Weiter ist zu beachten, dass Grotius, Cicero folgend, das Ziel des Selbsterhalts braucht, um aus der Sicht jeder Person die eigenen natürlichen (für den Selbsterhalt unentbehrlichen) Rechte auf Leben, Leib, Freiheit und die Aneignung lebensnotwendiger Güter zu rechtfertigen . Und auch das Recht auf Verteidigung dieser Rechte basiert auf dem Ziel der Selbsterhaltung (Recht auf Selbstverteidigung) . Ich spreche hier von den eigenen Rechten auf diese Güter (im Sinne von Hohfeldschen Privilegien, engl . privileges30), weil das Ziel meines eigenen Selbsterhalts – auf alle Fälle für sich allein genommen – nicht meine Pflicht, die Rechte der anderen Menschen zu respektieren, rechtfertigen kann: Ergreift etwa mein Gefährte beim Schiffbruch auf offener See zuerst eine Planke, die nur einen von uns trägt, bedeutet mein Respekt seines Besitzes an der Planke möglicherweise meinen Untergang . Mein Respekt für diese Rechtspflicht kann also nicht im Ziel meines Selbsterhalts begründet sein, zumindest nicht nur .31 3.3 universelle, speziFiscH recHtlicHe natürlicHe prinzipien Wie dieses Beispiel veranschaulicht, ist unsere Pflicht, die Rechte anderer Menschen und ihre Güter zu respektieren, in erster Linie nicht auf unser eigenes Wohl (Selbsterhalt), sondern auf das individuelle Wohl dieser anderen Menschen ausgerichtet . Unsere Rechtspflichten sind also generell-abstrakte Regeln, die uns anleiten, wie wir unser natürliches Ziel, andere zu respektieren und ihnen Gutes zu tun, verwirklichen sollen, d . h ., wie wir gerecht handeln (zur Tugend der ausgleichenden Gerechtigkeit siehe Ziff . 3 .4 unten) . Die Verfolgung unserer Ziele vervollkommnet uns selbst . Anderen Gutes zu tun ist also in zweiter Linie für unser eigenes, individuelles Wohl förderlich . In dritter Linie trägt mein Respekt der Rechte anderer Menschen und ihr Respekt meiner Rechte und jener aller anderer Menschen zu einem kollektiven Gut bei: dem Rechtsfrieden, den wir als notwendiges Teilziel des Gemeinwohls identifiziert haben (Ziff . 2 .2 oben) . Diese Erkenntnis hat einen Einfluss auf das eudämonistische Verständnis der Rechtspflicht . Rechtspflicht bedeutet hier nicht Pflicht im deontologischen Sinn („Tue dies, weil es Deine Pflicht ist“) noch im Sinn einer Verpflichtung, die uns von einem Vorgesetzten auferlegt wird . Stattdessen zeigt der Begriff Pflicht hier die moralische Notwendigkeit einer Handlung zur Verwirklichung eines oder auch mehrerer unserer Ziele an .32 Wir haben gesehen, dass anderen Gutes zu tun, eines unserer natürlichen Ziele ist . Mit der Charakterisierung dieses Ziels als natürliches Ziel bring Grotius zum Ausdruck, dass es für das gute Leben unter anderem notwendig (d . h . unabdingbar) 30 Vgl . Wesley Newcomb Hohfeld, Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasonoing, Yale Law Journal 1913/14 (23), S . 16–59, insb . S . 26 zum Privileg (Recht) auf Selbstverteidigung . 31 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel II § viii . 32 Vgl . Finnis (Fn . 9), S . 54 f . („[E]s ist die Vernunft, die Handlungsziele erfasst und die Mittel zu diesen Zielen identifiziert und die Notwendigkeit dieser Mittel begreift; und dies ist die Quelle der Verpflichtungen“ [meine Übersetzung]) . Diese Umschreibung von Pflicht differenziert nicht zwischen strikter Notwendigkeit (necessitas simplex) und dem, was zur Erreichung des Zieles bloss förderlich ist (necessitas ad melius) .
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ist, anderen Gutes zu tun . Wie wir alle wissen, gibt es unzählige mögliche Arten, in denen wir als Einzelmenschen oder als Gesellschaft anderen Gutes tun können (z . B . Freundschaft, Grosszügigkeit, aber auch Gerechtigkeit) . Moralisch notwendig ist also vorerst nur das ganz generelle Ziel, anderen Gutes zu tun . Die spezifische Ausgestaltung (lat . determinatio) dieses individuellen Ziels ist, genau wie das kollektive Ziel des Gemeinwohls (vgl . Ziff . 2 .2 oben), aufgeteilt in notwendige und lediglich förderliche Teilziele und notwendige und lediglich förderliche Handlungen oder Mittel, die zu diesen Teilzielen führen . Als naturrechtlich vorgeschrieben gelten nur jene Handlungen oder Unterlassungen, welche zur Erreichung eines natürlichen Zwecks zwingend notwendig sind . Wo der Ausgestaltung der Teilziele und/oder der Mittel zu ihrer Erreichung ein Spielraum überlassen ist, handelt es sich nicht um Naturrecht, sondern um Willensrecht (ius voluntarium) . Es lassen sich grob drei Gruppen von Fällen unterscheiden . (1) Manchmal haben wir die freie Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, um anderen Gutes zu tun, aus denen wir zwingend eine Möglichkeit wählen müssen, weil es sich um einen notwendigen (d . h . unentbehrlichen) Aspekt des Ziels handelt . Hier wirken moralische Notwendigkeit – eine Möglichkeit muss gewählt werden – und die freie Wahl (lat . electio) einer dieser Möglichkeiten zusammen . Beispielsweise hat der Staat das notwendige Ziel, die Bevölkerung gegen Angriffe und Verbrechen zu schützen: Dieser Schutz ist nicht eine bloss mögliche Art, der Bevölkerung Gutes zu tun, vielmehr ist dieser Schutz ein unabdingbarer Aspekt des Staatszieles . Zu seiner Realisierung braucht der Staat – zumindest so wie sich die Welt Grotius und uns präsentiert – notwendigerweise eine Armee (ähnliches gilt für Verbrechen und die Polizei) . Die Wahl zwischen Berufs-, Miliz- oder gemischter Armee ist frei: Alle drei Möglichkeiten können das Ziel erreichen und jede hat Vor- und Nachteile . Die Wahl der Heeresform gründet letztlich also im Willen des Gesetzgebers, der im Willensrecht Ausdruck findet . Würde eine Regierung auf die Aufstellung einer Armee ganz verzichten, so würde sie das Gemeinwohl vernachlässigen, und damit moralisch schlecht handeln . Das zeigt, dass es sich hier um eine Kombination zwischen Natur- und Willensrecht handelt . Mit Blick auf das Thema der Universalisierung sei angemerkt, dass in dieser Gruppe das Ziel universell gilt, die gewählten Mittel (Regeln) zur Verfolgung des Ziels werden jedoch nur selten universell sein, weil eine Wahl zwischen verschiedenen Mitteln besteht . 33 (2) Eine zweite Gruppe von Fällen betrifft nicht zwingend notwendige (d . h . entbehrliche) Aspekte des (für sich genommen notwendigen) Zieles, anderen Gutes zu tun . In diesen Fällen wäre es für das Gemeinwohl zwar förderlich, wenn der Staat Mittel zur Verfolgung des Zieles ergreifen würde, gleichzeitig wäre es aber moralisch nicht verwerflich, wenn er es unterliesse, dieses entbehrliche Teilziel zu verfolgen (Fall der Supererogation): Es handelt sich hier also um das nicht-notwendige Teilziel des Gemeinwohls, das wir unter Ziff . 2 .2 als Vervollkommnung des Gemeinwohls bezeichnet haben (lat . utilitas communis) . Beispiele für diesen Aspekt des Gemeinwohls wären etwa der Vaterschaftsurlaub oder die staatliche Altersvorsorge, wobei die genaue Grenze zwischen notwendigen und lediglich förderlichen Teilzielen um33 Alle wählen dann das selbe Mittel, wenn sie den überragenden Nutzen dieses einen Mittels einsehen, vgl . Suarez (Fn . 7), Buch II Kapitel 19 § 5 und § 7 (Bsp: Einführung der Botschafter in internationalen Beziehungen) und § 9 .
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stritten ist . In dieser Gruppe gibt es kaum universelle Regeln, da die Förderung des Gemeinwohls im freien Willen des Gesetzgebers liegt . Hierin liegt der wahre Kern des Gesetzesvoluntarismus (Ziff . 2 .1) . (3) In einer dritten Kategorie von Situationen schliesslich haben wir gar keine Wahl zwischen verschiedenen Mitteln: Eine und nur eine Handlung (oder das Unterlassen einer solchen) ist notwendig, um das Wohl der anderen zu fördern, oder wenigstens nicht zu beeinträchtigen . Es ist diese letzte Kategorie, welche reines Naturrecht darstellt . Hier sind alle Regeln universell; nur aufgrund eines Irrtums weichen gewisse Gesellschaften ab .34 Um welche Regeln handelt es sich? Unsere Vernunft hilft uns einzusehen, dass alle anderen Menschen ebenfalls notwendigerweise Güter wie Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit brauchen . In dieser Hinsicht sind wir alle gleich – hier nähern wir uns also der im Titel des Aufsatzes genannten universellen Gleichheit . Die Notwendigkeit der Güter, wie Leben und körperliche Unversehrtheit für die anderen Menschen, bestimmt zwingend, was ich tun muss, um den Weg zu meinem natürlichen Ziel der Fürsorge für die anderen Menschen nicht zu verlassen: Ich muss notwendigerweise ihre Rechte auf diese notwendigen Güter respektieren . Dieser Respekt ihrer natürlichen Rechte ist das Mindeste, was ich für ihr Wohl tun kann: dieses Wohl nicht beeinträchtigen . Dies zu verleugnen, würde bedeuten, uns selbst Gewalt anzutun, weil wir damit unser eigenes Ziel des Respekts und der Fürsorge für andere verfehlen .35 Gleichzeitig trägt die Verfolgung meines individuellen Ziels, die Rechte der anderen Menschen auf ihre lebensnotwendigen Güter zu respektieren, zur Verwirklichung eines notwendigen kollektiven Ziels bei, dem Schutz des Rechtsfriedens . Zur Erkenntnis dieser naturrechtlichen Regeln kann zumindest theoretisch jeder Mensch gelangen, der über die natürlichen Ziele des Menschen und die notwendigen Handlungen zu deren Verwirklichung nachdenkt, ohne Rückgriff auf positive Gesetze und Praxis, also a priori . Gerade aufgrund ihrer moralischen Notwendigkeit ist der menschlichen Gesetzgeber (und Gott in den Zehn Geboten) jedoch geneigt, diese Verbote im positiven Recht zu wiederholen, um sie für alle zu verdeutlichen und zu bekräftigen . So verbietet (praktisch) jede positive Rechtsordnung Mord, Körperverletzung und Diebstahl . Dies ermöglicht den Beweis des Naturrechts mittels der a posteriori Methode . Wie Grotius ausführt, kann man „mit grosser Wahrscheinlichkeit das Naturrechtliche einer Bestimmung daraus ableite[n], dass es bei allen Völkern oder bei allen gesitteten Völkern dafür gehalten wird . Denn eine allgemein beobachtete Wirkung (effectus univeralis) setzt eine allgemeine Ursache (causa universalis) voraus; der Grund einer solchen allgemeinen Meinung kann aber wohl nur in dem gefunden werden, was man den gesunden Menschenverstand nennt .“36
Entgegen dem Gesetzesvoluntarismus, welcher hinter einer inhaltlichen Übereinstimmung von positivrechtlichen Normen keine tieferliegende Ursache sieht (vgl . Ziff . 2 .1), ist für einen Naturrechtler wie Grotius eine solche zu vermuten .
34 Dies hat Francisco Suarez mit der für ihn charakteristischen Schärfe herausgestrichen, vgl . Suarez (Fn . 7), Buch II Kapitel 19 § 2 . 35 Vgl . Grotius (Fn . 1), § 39 Prolegomena . 36 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § xii .
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3.4 universelle GleicHHeit und universelles privatrecHt Wir haben nun die Grundlagen gelegt, um die im Titel dieses Aufsatzes angesprochene Idee der universellen Gleichheit im natürlichen Privatrecht zu erklären . Wie Grotius klarstellt, handelt es sich dabei nicht um Gleichheit in jeglicher Hinsicht . Gleichheit ist hier Gleichheit unter dem Aspekt subjektiver Rechte; zunächst nur natürlicher subjektiver Rechte . Alle haben die gleichen natürlichen Rechte auf die lebensnotwendigen Güter, und gegenüber allen gilt das Verbot, diese Rechte zu verletzen, gleich . Die Idee der Gleichheit erfährt nun aber eine Erweiterung von gleichen natürlichen Rechten auf Leben, Leib und Freiheit,37 auf positive Rechte . Zu den positiven Rechten gehören all jene Rechte, die zur Erreichung unserer natürlichen Ziele nicht zwingend notwendig, sondern (lediglich) förderlich (necessitas ad melius oder utilitas) sind . Das paradigmatische Beispiel hierfür ist das Recht auf Privateigentum . Für Grotius hatte von Natur aus, d . h . vor der Einführung des Privateigentums, jeder von uns ein natürliches Recht, sich lebensnotwendige Güter anzueignen während die (noch) nicht angeeigneten Güter im gemeinen Besitz aller Menschen verblieben . Als sich die Erdbewohner nicht mehr mit dem spontanen Ertrag der Erde begnügten, sondern anfingen, diese zu bebauen, teilten sie zunächst Arbeit und Ertrag auf . Später teilten sie die kollektiv gehaltenen Felder durch Gewohnheitsrecht in Privateigentum ein, so dass jeder sein eigenes Feld bestellte . Dies trug zum Gemeinwohl bei, weil damit eine ungerechte Aufteilung der Arbeit auf den kollektiven Feldern und/oder des Ertrags vermieden wurde .38 Für Grotius wurde die Institution des Privateigentum also durch Willensrecht geschaffen; das subjektive Recht am Privateigentum steht jedoch unter naturrechtlichem Schutz . Hier wirken also Naturrecht und Willensrecht (ius voluntarium) zusammen .39 Diese Ergänzung der natürlichen Rechte durch positive Rechte ist wichtig für das Verständnis der privatrechtlichen Gleichheitsidee, denn indem diese eine Erweiterung erfährt wird sie schwerer fassbar . Während die natürlichen Rechte in unserer Natur gründen und damit jeder von uns genau gleich viele Rechte auf gleich viele Güter hat, nämlich Leben, Körper und Freiheit, haben manche von uns mehr und andere weniger Eigentum, und damit mehr oder weniger positive Rechte, die aber alle gleich vor Übergriffen geschützt sind . Wie Grotius in seiner Einleitung ins holländische Privatrecht ausdrücklich bemerkt, ist es nicht der Zweck des Privatrechts, alle gleich reich zu machen .40 Trotz des ungleichen Reichtums gehören auch die Rechte auf Privateigentum zur Idee der Gleichheit, im Sinne von gleichem Schutz für alle und, wie wir sogleich sehen werden, Ausgleich des Schadens an Privateigentum . Das Gebot, die Rechte der anderen zu respektieren, reflektiert die römische Definition der Gerechtigkeit: suum cuique tribuere, jedem ist das Seine zu erhalten . Für Grotius handelt es sich dabei um eine bestimmte Form der Gerechtigkeit, nämlich um die ausgleichende Gerechtigkeit (Grotius bezeichnet sie als iustitia expletrix) . Wie 37 Grotius erwähnt auch die Ehre, vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XVII und Buch I Kapitel II § v .7, z . B . Schutz vor Vergewaltigung, vgl . Buch II Kapitel I § vii . 38 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel II § ii, insbesondere § ii .4 und § ii .5 . 39 Zum letzten Punkt siehe insbesondere Grotius (Fn . 1), Buch I Kapitel I § x .4 und x .7 40 Vgl . Grotius (Fn . 2), Buch III Kapitel I § 14 .
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jede andere Tugend, verlangt auch die ausgleichende Gerechtigkeit die Einhaltung der Tugendmitte . Die Rolle der natürlichen und willensrechtlichen subjektiven Rechte ist es nun, dem Handelnden anzuzeigen, wo diese Tugendmitte liegt . Wer die subjektiven Rechte der anderen Menschen respektiert, beachtet die Tugendmitte der ausgleichenden Gerechtigkeit . Wer ein Recht eines anderen Menschen verletzt – was für den Juristen eine Rechtsverletzung (lat . iniuria) darstellt –, überschreitet die Tugendmitte und begeht, was der Tugendethiker das Laster der Ungerechtigkeit nennt . Dieses Überschreiten der Tugendmitte wird von Grotius (Aquin folgend) als Verursachung einer Ungleichheit (lat . inaequalitas) zwischen dem Rechtsverletzer und dem Opfer interpretiert . Der Name der ausgleichenden Gerechtigkeit leitet sich aus ihrer Funktion ab, vom Rechtsverletzer den Ausgleich der von ihm verursachten Ungleichheit zu verlangen . Das natürliche Privatrecht stützt sich auf die ausgleichende Gerechtigkeit, indem es sowohl die Verhinderung solcher Ungleichheit zwischen Privatpersonen als auch die Wiederherstellung der Gleichheit, wo diese durch eine Rechtsverletzung beeinträchtigt wurde, verlangt . Beide Funktionen, Verhinderung von Ungleichheit und Wiederherstellung von Gleichheit, leisten einen notwendigen Beitrag zum kollektiven Ziel der Wahrung des Rechtsfriedens . Eine Gesellschaft, in der laufend Rechtsverletzungen (z . B . Mord und Diebstahl) geschehen oder solche Ungerechtigkeit nicht ausgeglichen wird, ist eine Gesellschaft ohne Rechtsfrieden . Auf das Ziel, die Gleichheit und damit den Rechtsfrieden zu erhalten, orientieren uns die folgenden tragenden Grundsätze des Rechts (zum Verhältnis zwischen Grundsatz (Regel) und Ziel vgl . das De Aequitate Zitat oben, Ziff . 3 .1): „Diese von uns hier nur roh bezeichnete, der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man recht eigentlich mit dem Namen Recht bezeichnet . Dazu gehört, dass (1) man sich des fremden Guts enthält und (2) es ersetzt, wenn man etwas davon besitzt oder genommen hat, ferner (3) die Verbindlichkeit, gegebene Versprechen zu erfüllen, (4) der Ersatz des durch unsere Schuld veranlassten Schadens und (5) die Wiedervergeltung unter den Menschen durch die Strafe .“41
Von diesen fünf Grundsätzen (lat . praecepta) habe ich den ersten unter der Bezeichnung des Respekts der Rechte der anderen Menschen ausführlich besprochen . Die nächsten drei Grundsätze sind tragende Grundsätze des Privatrechts . Der zweite Grundsatz, der besagt, dass, wer fremde Gegenstände in seinem Besitz hat, diese an seinen Eigentümer zurückzugeben muss, ist ein zentraler Grundsatz des Sachenrechts . Für Grotius haben die Menschen mit der Institution des Eigentums auch die Pflicht eingeführt, fremdes Eigentum unaufgefordert an seinen Eigentümer zurückzugeben, denn „das Eigentum [wurde] dazu eingeführt […], dass die Gleichheit so weit gewahrt werde, dass jeder das Seine [suum] {habe}“ .42 Der dritte Grundsatz begründet das natürliche Vertragsrecht, gemäss dem Verträge mit gegenseitigen Verpflichtungen die Gleichheit der ausgetauschten Leistungen und anderer Bedingungen erfordern .43 Dies soll garantieren, dass die Parteien vor und nach Ausführung des Vertrages gleich (reich) sind . Der vierte Grundsatz begründet das Haftpflichtrecht . Es bezweckt, die durch rechtsverletzende Handlung 41 Vgl . Grotius (Fn . 1), § 8 Prolegomena . 42 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel X, die zitierte Passage findet sich in § ii . 43 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XI und XII; zur Gleichheit insb . §§ viii–xiii .
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verursachte Ungleichheit, d . h . den Schaden, wieder auszugleichen .44 Die Grundsätze eins und drei zielen also darauf ab zu verhindern, dass eine Ungleichheit entsteht, die Grundsätze zwei und vier zielen darauf ab, eine entstandene Ungleichheit zwischen Privatpersonen wieder auszugleichen . Für alle vier Grundsätze ist die Idee der Gleichheit entscheidend . Der fünfte und letzte der oben zitierten Grundsätze, die Vergeltung von Unrecht durch Strafe, begründet das natürliche Strafrecht, gehört also zu einem anderen Rechtsbereich als das Privatrecht . Dies führt uns zurück zur eingangs (vgl . Ziff . 1) angedeuteten Auffassung von Grotius, dass die Einteilung des Rechts in Rechtsbereiche nicht kontingent sondern moralisch notwendig ist . 4 dIe eInteIlunG des rechts In rechtsBereIche Wir haben bisher gesehen, dass das natürliche Privatrecht zum universellen ethischen Ziel (Prinzip) des Schutzes des Rechtsfriedens und damit zum Gemeinwohl beiträgt . Der Beitrag des Privatrechts ist zur Erreichung dieser Ziele notwendig, aber für sich allein keineswegs hinreichend . Zur Sicherung des Rechtsfriedens sind neben dem Privatrecht auch das Strafrecht und das öffentliche Recht notwendig . Jeder dieser drei Rechtsbereiche leistet einen anderen notwendigen Beitrag, um den Rechtsfrieden zu erhalten, wobei der Beitrag jedes Bereichs für sich genommen zur Erreichung des Ziels nicht ausreicht . Für Grotius erklärt sich die Notwendigkeit, das Recht in Rechtsbereiche einzuteilen, dadurch, dass jeder Beitrag notwendig, jedoch mit unterschiedlichen Bedingungen und Zwischenzielen verknüpft ist . Dies will ich an der Einteilung des Rechts in (1) Privatrecht (genauer Haftpflichtrecht) und Strafrecht; und (2) in Privatrecht und öffentliches Recht, veranschaulichen . (1) Die Einteilung des Rechts in Haftpflichtrecht und Strafrecht erklärt sich aus drei komplementären Gründen: (i) Nicht jedes strafrechtliche Delikt verursacht einen Schaden . Zu denken ist gemäss Grotius nicht nur an Delikte, die keinen Schaden verursachen, wie z . B . Suizid oder sexuelle Handlungen mit Tieren, sondern auch an inhärent schädigende Delikte, die im Versuch scheitern bevor der Schaden eintritt .45 Wo ein Delikt keinen Schaden verursacht, entsteht keine Schadenersatzpflicht, doch kann die Bestrafung des Delikts notwendig sein, um den Rechtsfrieden zu erhalten . (ii) Gleichzeitig wird nicht jeder Schaden, der nach einem Ausgleich verlangt, durch ein Verbrechen verursacht . (iii) Boshafte Menschen können mit Schadensbegleichung allein nicht von Verbrechen abgehalten werden . Um dies zu erreichen sind Strafen notwendig .46 Aufgrund dieser unterschiedlichen Bedürfnisse des moralischen Lebens sind sowohl die Sanktionen im weiten Sinn des Haftpflichtrechts als auch jene des Strafrechts notwendig, aber je für sich allein genommen zur Sicherung des Rechtsfriedens nicht hinreichend . Dies erklärt die Notwendigkeit der Einteilung des Rechts in Strafrecht und Privatrecht (Haftpflichtrecht) .47 Mit Blick 44 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kapitel XVII . 45 Zum ersten Grotius (Fn . 1), Buch II Kap . § xli; zum zweiten ders. (Fn . 1), Buch II Kap . I § xvi und Kap . XX, § xxxix . 46 Deshalb enthält De Jure Belli ac Pacis zwei eigene Kapitel zum Strafrecht, vgl . Grotius (Fn . 1), insb . Kap . XX §§ i, iv–ix und xx . 47 Vgl . Grotius (Fn . 2), Buch III Kapitel xxxii §§ 7–10; ders. (Fn . 1), Buch II Kapitel XX § xxxviii;
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auf den Titel des Aufsatzes sei hinzugefügt, dass die Gleichheitsidee des Privatrechts eine gewisse Universalität der Regeln erlaubt: Während das Strafmass beispielsweise für Diebstahl von Land zu Land verschieden ausfällt, ist die Pflicht das gestohlene Gut zurückzugeben (oder Schadenersatz zu leisten) und damit die privatrechtliche Gleichheit wieder herzustellen, überall ein und die selbe . (2) Wie in der Einleitung (vgl . Ziff . 1) erwähnt, ist der universelle Rechtsschutz des Privatrechts nur erzielbar, wenn es von gewissen persönlichen Eigenschaften, die in anderem Zusammenhang entscheidend sind, abstrahiert . Um diese Abstraktion von persönlichen Eigenschaften, mein Beispiel war die Mündigkeit als Kriterium für politische Rechte, zu erreichen, ist es notwendig, das Privatrecht (und da, wo es Privatpersonen und nicht etwa den Staatsapparat schützt, das Strafrecht) vom öffentlichen Recht zu trennen . Nur dank dieser Aufteilung kann der Schutz der privatrechtlichen Gleichheit auf alle Menschen (egal welchen Alters, Geschlechts, Staatsangehörigkeit, etc .) ausgedehnt, d . h ., universalisiert, werden . Weshalb sind diese persönlichen Eigenschaften im öffentlichen Recht relevant, währenddem sie im Privatrecht unberücksichtigt bleiben? Im öffentlichen Recht bestimmen gewisse persönlichen Eigenschaften, wer als Kandidat für ein politisches Amt geeignet ist . Auch wir halten nicht jeden Menschen für geeignet, politisch mitzureden . Kinder sind beispielsweise von politischen Ämtern ausgeschlossen, weil es ihnen an Vernunft fehlt . Gleichzeitig benötigen gerade Kinder den Rechtsschutz durch Privat- und Strafrecht . Und selbstverständlich gibt es noch weitere rechtliche Eignungskriterien für Ämter, wie etwa die Staatsangehörigkeit, von welchen der privat- und strafrechtliche Schutz subjektiver Rechte absieht . In Grotius’ Zeit sind die rechtlichen Kriterien der Eignung für politische Rechte und Macht noch umstrittener als bei uns . Verfechter der Monarchie und Tugendaristokratie sind sich zwar einig, dass es eine Regierung braucht, streiten sich aber darüber, ob Geburt oder Tugendhaftigkeit das entscheidende Kriterium für die Regierungsbeteiligung sein soll . Grotius erachtet die Institution der Regierung als eine moralische Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens, während die Wahl der Eignungskriterien, und damit einer bestimmten Regierungsform, nicht moralisch notwendig ist .48 Solange die Regierung das Gemeinwohl fördert, sind die Bürger frei, eine Monarchie, eine Tugendaristokratie oder eine Demokratie zu wählen . Das bezeugt, dass die Institution der Regierung an sich auf Naturrecht gründet, während die Regierungsform im Willensrecht, wenn man so will, im Gesellschaftsvertrag geregelt ist .49 Der Streit über die beste Regierungsform ist für Grotius ein Streit über die richtige Auffassung von austeilender Gerechtigkeit: Ausgeteilt wird politische Macht . Mit jeder dieser Regierungs- oder Staatsformen ist ein anderes persönliches Eignungskriterium (noble Geburt, Tugendhaftigkeit, Mündigkeit und Bürgerrecht) und
Edwin Rabbie (Hrsg .), De satisfactione Christi, übersetzt von Hotze Mulder, Assen/Maastricht 1990, Kap . II §§ 9–11, wo Grotius auf Domingo de Soto, De iustitia et iure, Salamanca 1556, Buch IV Quaestio 6 Artikel 1 verweist . 48 Zur Notwendigkeit der Regierung vgl . Grotius (Fn . 1), Buch I Kap . IV § ii; zur Begründung der Regierungsform im Willen, vgl . Buch I Kap . III § xvii .2 . 49 Hierzu beachtenswert Rommen (Fn . 21), S . 246 (Regierungsform nur im menschlichen Recht begründet), ebenso S . 183, vgl . weiter S . 218 und S . 177 ff .
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damit eine andere Auffassung von austeilender Gerechtigkeit verbunden .50 Im Gegensatz dazu sieht das auf der ausgleichenden Gerechtigkeit basierende natürliche Privatrecht von diesen Eignungskriterien ab: Es sieht nur den Menschen – ob Bürger, Kind oder Fremder – und bietet ihm Schutz vor Rechtsverletzungen . Dies erklärt, weshalb die universelle Gleichheit das zentrale Prinzip (Ziel) von Grotius’ natürlichem Privatrecht darstellt . Zusammenfassend können wir im Hinblick auf die eingangs gestellten Fragen Folgendes festhalten: (i) Es gibt ein ethisches Prinzip (Ziel), welches das ganze Recht im eigentlichen Sinn umspannt, das Gemeinwohl, dessen notwendiges Teilziel in der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens besteht . (ii) Die Einteilung des Rechts in Rechtsbereiche ist nicht kontingent, sondern zur Wahrung des Rechtsfriedens selbst notwendig . (iii) Die universelle Gleichheit aller Menschen, d . h ., die Gleichheit von subjektiven Rechten, gilt für Grotius nur innerhalb der Rechtsbereiche des natürlichen Privat- und Strafrechts, während im öffentlichen Recht die Menschen aufgrund von bestimmten Eignungskriterien als ungleich erachtet werden . Die Leserin oder der Leser wird sich fragen, wie es sich denn mit den Menschen- oder Grundrechten verhält, die der Einzelne gegenüber dem Staat hat . Für Grotius basiert das Verhältnis zwischen Staat und Individuum nicht auf Gleichheit . Vielmehr ist der Staat, wo er das Gemeinwohl verfolgt, dem Individuum übergeordnet, er hat ein ius eminens, ein höheres Recht, über die Individuen .51 Er kann beispielsweise zur Abwendung eines Angriffs einen einzelnen Bürger an einen übermächtigen Feind ausliefern; dem Bürger fehlt hier ein subjektives Abwehrrecht gegen den Staat .52 Diesen drei Punkten sollte eine Warnung folgen: Aus der Erkenntnis, dass das Recht als Ganzes, also die drei Rechtsbereiche Privatrecht, Strafrecht und öffentliches Recht, je für sich einen notwendigen aber nicht hinreichenden Beitrag zum Gemeinwohl leisten, darf nicht geschlossen werden, dass das Recht als Ganzes einen hinreichenden Beitrag zu diesem Ziel liefert . Es ist der grosse Vorteil einer Rechtsphilosophie, die sich als Teil der praktischen Philosophie versteht, zu erkennen, dass der Philosoph von Problemen auszugehen hat, in unserem Fall von der Problematik, den Rechtsfrieden zu sichern . Wer von diesem praktischen Problem anstatt von abstrakten Begriffen ausgeht, wird sehen, dass es neben dem Beitrag des Rechts auch jenem der auf den Tugenden basierenden eudämonistischen Ethik bedarf, um das Gemeinwohl zu sichern und zu fördern . Es muss einer künftigen Untersuchung überlassen bleiben, aufzuzeigen, wie aus der Perspektive des Gemeinwohls Recht und Ethik als Einheit erscheinen, und in welchem Verhältnis das Zwischenziel des Rechtsfriedens zum letzten Ziel menschlichen Daseins steht .
50 Hierzu vgl . de Soto (Fn . 47), Buch III Quaestio V Art . 2, wo Soto Thomas von Aquin (Fn . 7), Prima Secundae Quaestio 105 Art . 1 Corpus kommentiert . 51 Absolute Menschenrechte, beispielsweise das Folterverbot, könnte der Staat gemäss Grotius wahrscheinlich durch Willensrecht einführen . 52 Vgl . Grotius (Fn . 1), Buch II Kap . XXV § iii .
MaGdalena HoFFMann* völker Im urzustand: zu rawls’ BeGründunG seInes ‚rechts der völker‘ In seiner Monographie ‚The Law of Peoples‘ operiert John Rawls gleich mehrfach mit seinem Denkmodell eines Urzustands, um acht Grundsätze des Rechts und der Gerechtigkeit auf internationaler Ebene zu begründen: Zunächst gibt es einen Urzustand liberaler Völker, anschließend einen Urzustand von sog . achtbaren Völkern – von beiden Völkergruppen werden laut Rawls dieselben Grundsätze angenommen, obwohl das ‚Design‘ der beiden Urzustände unterschiedlich ist . Diese Argumentation von Rawls unterziehe ich einer genaueren Prüfung, wobei ich zum Ergebnis komme, dass sie nicht zu überzeugen vermag, da Rawls nicht begründen kann, warum sich liberale Völker mit dem bescheidenen Menschenrechtskatalog der achtbaren Völker zufrieden geben sollten . Im Anschluss daran diskutiere ich zwei Alternativsazenarien, die ebenfalls zu den acht Grundsätzen führen würden . Obwohl ich Rawls’ Begründung der acht Grundsätze letztlich zurückweise, schließe ich mit einer Würdigung seines Ansatzes, da er mit seinem Urzustandsmodell eine normative Begründung des Rechts vorlegt, in der die für die Legitimität des Rechts nötige Unparteilichkeit garantiert ist .
1 eInführunG John Rawls hat im Jahr 1999 mit seinem Werk The Law of Peoples1 die von Vielen erhoffte Übertragung seiner Theory of Justice2 auf die internationale Ebene vorgelegt – wenn auch nicht in der erwarteten Form . Anstatt seine beiden Gerechtigkeitsprinzipien, darunter das vieldiskutierte Differenzprinzip, auf den globalen Maßstab zu übertragen, beschränkte sich Rawls darauf, mittels zweier internationaler Urzustände acht Prinzipien zu formulieren, die das Fundament für den Umgang in einer wohlgeordneten Gesellschaft von liberalen und sog . achtbaren (decent) Völkern bilden und als ‚Eckpfeiler‘ einer liberalen Außenpolitik fungieren sollen . Auch wenn die thematische Breite dieses Werkes anerkannt wurde, war dessen Aufnahme nicht positiv . Insbesondere von kosmopolitisch argumentierenden Autoren wie Charles Beitz3 und Thomas Pogge4 wurde Rawls die Vernachlässigung der individuellen Ansprüche von Menschen sowie die Negierung der Verteilungsproble-
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Den Herausgebern dieses Tagungsbandes, insbesondere Prof . Dr . Klaus Mathis, möchte ich herzlich dafür danken, dass sie mir die Möglichkeit geben, diesen Aufsatz zu publizieren, obwohl ich wegen eines Unfalls an der Tagung nicht vortragen konnte . John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge 1999 (dt . Übersetzung: John Rawls, Das Recht der Völker, übersetzt von Wilfried Hinsch, Berlin/New York 2002) . Im Folgenden entnehme ich die Zitate und alle Belege zwecks besseren Leseflusses der Übersetzung . John Rawls, A Theory of Justice, 2 . Aufl ., Oxford 1999 (dt . Übersetzung: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, 10 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1998) . Charles Beitz, Rawls’s Law of Peoples, Ethics 2000 (110), S . 669–696 . Thomas Pogge, An Egalitarian Law of Peoples, Philosophy & Public Affairs 1994 (23), S . 195–224 . Dieser Aufsatz bezieht sich zwar auf einen Aufsatz von Rawls aus dem Jahr 1993, da aber Rawls darin die zentralen Ideen von The Law of Peoples bereits skizziert hat, ist Pogges Kritik daran auch auf die spätere Monographie anwendbar .
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matik vorgeworfen .5 An so gut wie allen Aspekten des Law of Peoples wurde Kritik geübt: An den Voraussetzungen, am Konzept, am Anspruch .6 In dem vorliegenden Beitrag möchte ich Rawls for the sake of argument viele seiner Prämissen zugestehen und mich allein auf seine Begründung der acht Grundsätze, die das Ergebnis der beiden Urzustände sein sollen, konzentrieren und prüfen, ob seine Argumentation innerhalb seiner eigenen Konstruktion überzeugt .7 Dieser Fokus bringt es mit sich, dass viele kontroverse Punkte von mir unberücksichtigt bleiben – diese sind bereits ausführlich in zahlreichen Publikationen diskutiert worden . Rawls’ Argumentation hingegen ist meines Erachtens noch nicht hinreichend analysiert worden . Der Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil widme ich mich der Rekonstruktion von Rawls’ Begründung, im zweiten Teil gehe ich zur Diskussion seiner Argumentation über, die letztlich nicht überzeugen kann . In diesem Kontext werde ich zwei Alternativszenarien erörtern, die ebenfalls zu denselben Prinzipien führen würden . Trotz meiner Vorbehalte gegenüber dem Rawlsschen Ansatz möchte ich diesen Text mit einer Würdigung abschließen, da ich in dem Urzustandsargument – wenn auch nicht in der von Rawls präsentierten Form – die philosophisch vielversprechendste Begründungsform von Rechtsgrundsätzen sehe . Das hängt insbesondere mit der dem Urzustand inhärenten Unparteilichkeit zusammen . Bevor ich mit der Rekonstruktion von Rawls’ Argumentation beginne, möchte ich noch einige grundsätzliche Informationen zu The Law of Peoples vorausschicken . Rawls versteht sein Werk als eine „bestimmte politische Konzeption des Rechten und der Gerechtigkeit, die sich auf die Grundsätze und Normen des internationalen Rechts und internationaler Praktiken“8 bezieht . Damit verbindet er den Anspruch, eine gerechte Gesellschaft von Völkern zu begründen, deren Beziehungen untereinander durch rechtliche Prinzipien normiert werden, die das Ergebnis einer fairen Ausgangsposition sind . Eine solche Gesellschaft bezeichnet er als „realistische Utopie“ – hinter diesem Oxymoron versteckt sich das Anliegen, Aufschluss über die Grenzen des Machbaren geben zu wollen: Das Machbare liegt nach Rawls durchaus jenseits des jetzigen Zustands (Utopie), ohne aber unendlich ins Imaginäre ausweitbar zu sein (realistisch) . Gleichzeitig bildet die realistische Utopie den Rahmen der 5
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Mit dem Vorwurf, dass Rawls die individuellen Ansprüche von Menschen missachte, wenn er Völker statt Individuen als Akteure im Urzustand auftreten lässt, eng verbunden ist die Kritik an seiner Tolerierung achtbarer Völker, die ihre Bürger nicht als Individuen wahrnehmen . Vgl . Kok-Chor Tan, Liberal Toleration in Rawls’s Law of Peoples, Ethics 1998 (108), S . 276–295; vgl . Luis Cabrera, Toleration and Tyranny in Rawls’s Law of Peoples, Polity 2001 (34), S . 163–179 . Zur Kritik an den Voraussetzungen gehört etwa der Vorwurf, dass Rawls Völker als Akteure auftreten lässt . Vgl . Allen Buchanan, Rawls’s Law of Peoples: Rules for a Vanished Westphalian World, Ethics 2000 (110), S . 697–721, S . 698 ff . Die Kritik am Konzept betrifft vor allem seine Konstruktion der idealen Theorie als „realistische Utopie“, vgl . Andrew Kuper, Rawlsian Global Justice, Political Theory 2000 (28), S . 640–674, S . 659 . Rawls’ Anspruch wird vor allem hinsichtlich der fehlenden Berücksichtigung eines globalen Differenzprinzips kritisiert, vgl . Beitz (Fn . 3); Pogge (Fn . 4); Buchanan (Fn . 6) . Zu den Prämissen, die ich Rawls zugestehe, gehört z . B ., dass ich in der Analyse seiner Argumentation ebenfalls davon ausgehe, dass es einen Unterschied zwischen Völkern und Staaten gibt und dass Völker die relevanten Akteure einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker innerhalb der idealen Theorie sind . Rawls (Fn . 1), S . 1 .
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idealen Theorie, während die nichtideale Theorie die Schurkenstaaten und die belasteten Gesellschaften umfasst .9 Akteure der idealen Theorie, der gerechten Völkergesellschaft, sind die liberalen Völker sowie die achtbaren Völker, wobei letztere zwar Demokratiedefizite aufweisen, aber dennoch hinreichend ‚anständig‘ sind, um als Partner anerkannt zu werden . Rawls benutzt die Bezeichnung „Volk“ sehr spezifisch: Es handelt sich dabei um eine künstliche Abgrenzung zum Begriff des „Staats“, der nach Rawls bloß von Eigeninteresse getrieben ist, während Völker über eine nicht nur rationale, sondern auch über eine vernünftige Natur verfügen, die sie erst kooperationsfähig zu fairen Bedingungen macht .10 2 rekonstruktIon von rawls’ arGumentatIon 2.1 der urzustand als GedankenexperiMent Mit seinem Denkmodell eines Urzustands reiht sich Rawls in die Tradition der Vertragstheorie ein . Grundlage jeder Vertragstheorie ist eine hypothetische Ausgangsposition, zu deren Überwindung die Beteiligten gute Gründe haben und die in einen sog . Gesellschaftsvertrag mündet . Dieser Vertrag kann einerseits zur Legitimation staatlicher Herrschaft dienen (z . B . bei Hobbes oder Locke), andererseits Prinzipien politischer und sozialer Gerechtigkeit begründen wie es bei Rawls der Fall ist . Welcher Art und welchen Inhalts der Gesellschaftsvertrag ist, hängt von der Beschreibung der ursprünglichen Situation ab, oder anders formuliert: Die Konstruktion des Anfangszustands bestimmt das Ergebnis, die getroffene Übereinkunft . Die Begründungskraft der Übereinkunft speist sich nämlich aus der Notwendigkeit, mit der sich diese Vereinbarung aus der Ausgangsposition ergibt . Aus diesem Grunde verdient der Anfangszustand, der die argumentative Last trägt, besondere Beachtung . Rawls bezeichnet die Ausgangsposition als „Urzustand“, der eine Situation der Gleichheit der Beteiligten darstellt und so definiert ist, dass der Beschluss als fair gilt, so dass reine Verfahrensgerechtigkeit herrscht . Insgesamt nennt Rawls fünf Merkmale, die gegeben sein müssen, damit die Übereinkunft als gerecht im Sinne von fair bezeichnet werden kann:11 Die Parteien müssen: 1) in fairer Weise die Bürger repräsentieren, d . h . sie müssen sich in einer gleichen, symmetrischen Position befinden; 2) rational sein; 3) über einen angemessenen Gegenstandsbereich verhandeln;
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Vgl . Teil III: Nichtideale Theorie in Rawls (Fn . 1), S . 111–149 . Die nichtideale Theorie beschäftigt sich mit der fehlenden Konformität von Schurkenstaaten und belasteten Gesellschaften mit dem Recht der Völker . Die Schurkenstaaten verweigern die Konformität aufgrund ihrer aggressiven Natur, während belastete Gesellschaften wegen mangelnder politischer Kultur und wirtschaftlich-sozial maroden Strukturen zur Befolgung des Rechts der Völker nicht in der Lage sind . 10 Vgl . Rawls (Fn . 1), § 2 . 11 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 34 . Die hier aufgeführten Strukturmerkmale beziehen sich auf den Urzustand einer liberalen Gesellschaft .
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4) ihre Entscheidung aus angemessenen Gründen fällen, d . h . aus solchen Gründen, die der Schleier des Nichtwissens12 zulässt; 5) sowie aus Gründen, die die grundlegenden Interessen der zu Vertretenden widerspiegeln . Wenn diese Merkmale erfüllt sind, dann ist laut Rawls Unparteilichkeit garantiert, da der Urzustand als Situation der Gleichheit quasi Unparteilichkeit ist: „Ein unparteiisches Urteil, so können wir sagen, ist ein solches, das den Grundsätzen entspricht, die im Urzustand beschlossen würden .“13 Der Schleier des Nichtwissens ist mit seiner Verhüllung individueller Eigenschaften maßgeblich daran beteiligt; ebenso gewährleistet er die Einmütigkeit im Ergebnis: Da keine Partei wegen fehlender Kenntnisse ihre Stellung zu ihrem Vorteil nutzen kann, erübrigen sich Verhandlungen und Koalitionen im Urzustand . 2.2 die beiden urzustände: die ausGanGsposition Auch in The Law of Peoples operiert Rawls mit seinem Modell eines Urzustands, das er gleich zweifach anwendet: Zunächst bei den liberalen Völkern, anschließend bei den achtbaren Völkern . Dieses gesonderte Vorgehen hat Rawls damit begründet, dass liberale und achtbare Völker erst auf der Grundlage der verabschiedeten Prinzipien als Gleiche konzipiert werden könnten – vorher sei daran nicht zu denken, da es noch keine Regeln der Kooperation gäbe . Welche Probleme mit diesem Vorgehen verbunden sind, werde ich im nachfolgenden Diskussionsteil erörtern . An dieser Stelle konzentriere ich mich zunächst darauf, Rawls’ Argumentation zu rekonstruieren, indem ich zuerst den Urzustand unter liberalen Völkern darstelle . Anschließend gehe ich auf den Urzustand unter achtbaren Völkern ein, bevor ich danach das Ergebnis dieser beiden Urzustände, die acht Rechtsgrundsätze, aus den beiden Urzuständen herzuleiten versuche . 2 .2 .1 Der Urzustand unter liberalen Völkern Im Urzustand unter liberalen Völkern haben sich deren Repräsentanten über die Prinzipien ihres Umgangs zu verständigen . Bei diesem Urzustand wendet Rawls die allgemeinen Strukturmerkmale des internen Urzustands (s . die Auflistung in 2 .1) schablonenhaft an, indem er sich an ihnen orientiert und prüft, ob sie in derselben Art und Weise auf den Urzustand liberaler Völker passen . Differenzen ergeben sich daher nicht in der Übertragung, sondern allein in der ‚Zuschneidung‘ der Merkmale auf die neuen Parteien und den neuen Verhandlungsgegenstand .14 Diesem Vor gehen liegt die Annahme zugrunde, dass es eine Analogie zwischen dem internen Urzustand einer liberalen Gesellschaft gibt und dem Urzustand unter liberalen Völkern .
12 Der Schleier des Nichtwissens garantiert, dass im Urzustand niemand seine Position in der Gesellschaft kennt sowie andere individuelle ‚Ausstattungen‘ wie Talente, Intelligenz, Körperkraft etc . Wegen der Unkenntnis dieser Faktoren beurteilen die Parteien die Grundsätze nur nach allgemeinen Gesichtspunkten . Vgl . zum Schleier des Nichtwissens Rawls (Fn . 2), S . 159–166 . 13 Rawls (Fn . 2), S . 217 . 14 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 36 .
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Dieser Analogie entsprechend, liegen die fünf genannten Strukturmerkmale beim Urzustand unter liberalen Völkern ebenfalls vor:15 1) Die Parteien – die Vertreter liberaler Völker – sind frei und gleich positioniert . Die grundlegende Eigenschaft der Symmetrie sieht Rawls also durch die faire Anordnung gewahrt . 2) Die Völker sind als rational konzipiert; ihre Vertreter haben die Aufgabe, diejenigen Völkerrechtsprinzipien auszuwählen, die den grundlegenden Interessen (die durch die liberalen Gerechtigkeitsgrundsätze zum Ausdruck kommen) der Völker entsprechen . 3) Die Repräsentanten der liberalen Völker beraten über den angemessenen Verhandlungsgegenstand, und zwar über den Inhalt des Rechts der Völker . 4) Die Spezifizierung der Prinzipien erfolgt aus vernünftigen Gründen, indem der Schleier des Nichtwissens garantiert, dass jegliche Vorteilnahme durch die Kenntnis individueller Besonderheiten ausgeschlossen ist . Bei diesem modifizierten Schleier des Nichtwissens verschwinden alle Kenntnisse über die Besonderheiten des jeweiligen Volkes wie die Größe des Territoriums, der Bevölkerung, seiner Leistungskraft, das Ausmaß natürlicher Ressourcen oder der Stand seiner ökonomischen Entwicklung . 5) Bei der Auswahl/Annahme der Grundsätze lassen sich die Vertreter der liberalen Völker von deren fundamentalen Interessen leiten . Diese bestehen in der Sicherung einer Gerechtigkeitskonzeption, die das Ergebnis des internen Urzustands ist . Zu einer solchen liberalen Gerechtigkeitskonzeption gehören konstitutionelle Rechte und Freiheiten, die Überzeugung, dass diese Priorität besitzen, sowie die Garantie von Grundgütern, die den effektiven Gebrauch dieser Rechte und Freiheiten sicherstellen sollen . Obwohl Rawls stark um die Analogie zwischen dem internen Urzustand und dem unter liberalen Völkern bemüht ist, weist er selbst auf drei Unterschiede hin: Zu einem hat ein liberales Volk als solches keine „umfassende Konzeption des Guten“, da es sich essentiell durch einen vernünftigen Pluralismus auszeichnet, der ein solches einheitliches Bekenntnis ausschließt . Zum anderen werden die fundamentalen Interessen eines liberalen Volkes durch seine Gerechtigkeitskonzeption bestimmt, während es beim Bürger seine eigene „Konzeption des Guten“ ist . Drittens haben die Bürger im internen Urzustand die Wahl zwischen Prinzipien, während sich die Vertreter der liberalen Völker darauf beschränken müssen, vorgegebene Prinzipien zu spezifizieren und zu interpretieren . 2 .2 .2 Der Urzustand unter achtbaren Völkern Mit Hilfe eines erneuten Urzustands, diesmal zwischen achtbaren Völkern, versucht Rawls zu zeigen, dass auch diese die von den liberalen Völkern bereits angenommenen Prinzipien akzeptieren würden, so dass von einer gemeinsamen Basis die Rede sein kann . Anders als bei der Erweiterung des internen Zustands auf die liberalen Völker kann sich Rawls nun nicht auf eine Analogie zwischen Bürgern und Völkern stützen und dementsprechend die Merkmale schablonenhaft übertragen . Wegen eines unterschiedlichen Personenkonzepts kann es nämlich keinen internen Urzustand der achtbaren Völker geben . Der Konstruktion des Urzustands ist es inhä15 Die nachfolgende Auflistung ist entnommen aus Rawls (Fn . 1), S . 37 ff .
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rent, dass es eine symmetrische Anordnung von freien und gleichen Akteuren gibt – jedes Individuum ist gleichgestellt, was bei den achtbaren Völkern nicht gegeben ist, da die Personen nicht als gleichgestellte Individuen, sondern als Mitglieder einer Gruppe wahrgenommen werden .16 Wenn aber dasselbe Vorgehen wie bei den liberalen Völkern aus den besagten Gründen ausgeschlossen ist, wie wird dann die Annahme der Prinzipien begründet? Rawls löst dieses Problem, indem er die achtbaren Völker mit Hilfe von zwei Kriterien definiert, welche dann die Begründungslast tragen .17 Das erste Kriterium orientiert sich an ‚außenpolitischen‘ Merkmalen, während das zweite Kriterium strukturimmanente Inhalte formuliert . Das erste Kriterium besagt, dass ein achtbares Volk über eine friedliche Grundeinstellung verfügt, die sich in der Absage an eine aggressive Politik und dem Streben nach einem friedlichen Völkerumgang ausdrückt . Außenpolitische Ziele eines achtbaren Volkes werden allein auf friedlichem Wege verfolgt (z . B . durch Diplomatie, Handel etc .) . Zudem verzichtet ein achtbares Volk – obwohl es sich intern an einer umfassenden Lehre orientiert – auf ‚missionarische‘ Einflussnahme gegenüber anderen Völkern . Stattdessen respektiert es die politische Unabhängigkeit anderer Völker . Das zweite Kriterium, das unterschiedliche Aspekte der Binnenstruktur betrifft, lässt sich wie folgt aufteilen: a) Bedeutung von Menschenrechten; b) Rechtssystem; c) Verantwortliche des Rechtssystems . Zu a): Ein achtbares Volk gewährt seinen Mitgliedern ein bestimmtes Set an Menschenrechten . Folgende Rechte listet Rawls auf: Recht auf Leben, im Sinne einer grundlegenden Sicherheit und eines gesicherten Existenzminimums; Recht auf Freiheit, wobei zum einen die Freiheit von Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit darunter subsumiert wird, zum anderen wird darunter ein bestimmtes Maß an gedanklicher Freiheit verstanden, das rudimentäre Religionsfreiheit sowie Gedankenfreiheit umfasst . Ferner werden noch das Recht auf persönliches Eigentum sowie das Recht der formalen Gleichheit genannt, womit gemeint ist, dass gleiche Fälle gleich behandelt werden müssten . Die aufgeführten Menschenrechte sind für Rawls Ausdruck von universellen Menschenrechten, die nicht als spezifisch westlich oder liberal gekennzeichnet werden dürfen . Im Gegensatz zu liberalen Völkern sind aber politische Teilhaberechte in einem achtbaren Volk nicht gegeben . Die Teilkriterien b) und c) betreffen das Rechtssystem eines achtbaren Volkes, das sich an einer gemeinwohlorientierten Idee von Gerechtigkeit orientiert . Anders als bei liberalen Völkern werden die Menschen nämlich nicht als Bürger mit gleichen, individuellen Rechten und Freiheiten wahrgenommen, sondern als Mitglieder einer Gruppe . Damit trotz dieses korporatistischen Charakters eine minimale Form von Legitimität bewahrt bleibt, muss laut Rawls garantiert sein, dass alle Gruppen (und damit indirekt auch alle Mitglieder) in Form einer etablierten Prozedur der Konsultation an der Entscheidungsfindung teilhaben und auch abweichende Positionen von den Verantwortlichen berücksichtigt werden . Der möglichen Unterdrückung einer bestimmten Personengruppe (z . B . Frauen) soll dadurch begegnet werden, dass die Mehrheit ihrer Vertreter von der betroffenen Personengruppe selbst 16 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 79 . 17 Die Beschreibung der beiden Kriterien erfolgt in Rawls (Fn . 1), S . 79 ff .
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gewählt werden muss . Ein solches Repräsentationssystem bezeichnet Rawls als „Konsultationshierarchie“ . Zentral ist dabei für Rawls, dass es sowohl auf Seiten der Gruppenmitglieder als auch auf Seiten der Verantwortlichen (z . B . Richter) eine Identifikation mit der gemeinwohlorientierten Idee von Gerechtigkeit gibt, damit Deformationen wie der Eindruck von Zwang und Fremdbestimmung bei den Mitgliedern und Korruption sowie Machtmissbrauch bei den Verantwortlichen ausgeschlossen sind . Stattdessen soll die Orientierung an der gemeinwohlorientierten Idee von Gerechtigkeit sicherstellen, dass es eine inhärente Anerkennung der jeweiligen Pflichten gibt, wodurch ein „achtbares System politischer und sozialer Kooperation“ entsteht .18 2.3 die acHt prinzipien: das erGebnis Bei den acht Prinzipien, die das Resultat der jeweiligen Urzustände sind, handelt es sich um bekannte und traditionelle Grundsätze, die der Geschichte und dem völkerrechtlichen Umgang entnommen worden sind .19 Die acht Prinzipien lauten: 1 . Völker sind frei und unabhängig und ihre Freiheit und Unabhängigkeit müssen von anderen Völkern geachtet werden . 2 . Völker müssen Verträge und eingegangene Verpflichtungen erfüllen . 3 . Völker sind gleich und müssen an Übereinkünften, die sie binden sollen, beteiligt sein . 4 . Völkern obliegt eine Pflicht der Nichteinmischung . 5 . Völker haben das Recht auf Selbstverteidigung, aber kein Recht, Kriege aus anderen Gründen als denen der Selbstverteidigung zu führen . 6 . Völker müssen die Menschenrechte achten .20 7 . Völker müssen, wenn sie Kriege führen, bestimmte Einschränkungen beachten . 8 . Völker sind verpflichtet, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen Bedingungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare politische und soziale Ordnung haben . Bei dieser Liste erhebt Rawls keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit – es ist durchaus denkbar, dass noch weitere Grundsätze hinzugefügt werden .21 Ferner mag ihr Anwendungsbereich variieren; Rawls weist etwa darauf hin, dass der 6 . und 7 . Grundsatz in einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker insofern überflüssig seien, als diese Völker keine Kriege untereinander führen würden (7 . Prinzip) und als die Respektierung basaler Menschenrechte zu ihrem Wesen dazugehöre .22 Zentral sei aber, dass die wohlgeordneten Völker bereit seien, „sich von gewissen elementaren Grundsätzen der politischen Gerechtigkeit leiten zu lassen“ .23 Diese lapidaren Kommen18 Rawls (Fn . 1), S . 81 . 19 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 41 . Die nachfolgende Auflistung der Grundsätze ist derselben Seite entnommen . 20 Wenn von Menschenrechten im Kontext der acht Grundsätze die Rede ist, dann ist darunter das bescheidene Set von Menschenrechten zu verstehen, das auch von achtbaren Völkern respektiert wird . Siehe die Auflistung in 2 .2 .2 im Kontext des zweiten Kriteriums der Achtbarkeit . 21 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 41 . 22 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 41 . 23 Rawls (Fn . 1), S . 41 .
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tare seitens Rawls irritieren allerdings, da sie Unsicherheit bezüglich des Verhandlungsgegenstands, dem Inhalt des Rechts der Völker, schüren: Gemäß dem Vertragsargument müsste sich das Ergebnis des Urzustands zwingend aus dessen Szenario ergeben – jedes Hinzufügen oder Weglassen wäre daher nicht mehr durch das Vertragsargument gedeckt und müsste anderweitig begründet werden . Für den Moment möchte ich nur festhalten, dass sich hier ein ernstes Problem für Rawls verbirgt, das im Diskussionsteil näher ausgeführt wird . Es stellt sich nun aber die Frage, wie diese Prinzipien aus den Urzuständen hergeleitet sein sollen . Betrachten wir zunächst den Urzustand unter liberalen Völkern: Die Verabschiedung der Prinzipien 1–5 und 7 leuchtet aus folgenden Gründen ein:24 Im Urzustand herrscht Symmetrie, d . h . die Parteien sind zueinander als frei und gleich positioniert . Es ist offensichtlich, dass jede der Parteien ein virulentes Interesse daran hat, diese Ausgangsposition nicht zu gefährden, was auch in der Verabschiedung entsprechender Prinzipien zum Ausdruck kommt . Das erste Völkerrechtsprinzip, das die Freiheit und Unabhängigkeit – kurz: Souveränität – der Völker unterstreicht und wechselseitigen Respekt vor dieser Tatsache einfordert, kann somit als unmittelbare Übertragung des Symmetrieverhältnisses verstanden werden . Auch das dritte Völkerrechtsprinzip, in dem der Gleichheitsgrundsatz festgelegt wird, entspricht der Konzeption des Urzustands als Ausdruck von Symmetrie . Der Schleier des Nichtwissens verstärkt die Gleichheitsbedingung noch, indem er alle besonderen ‚Ausstattungen‘ eines Volkes verbirgt . Aufgrund dieser Unkenntnis ist es keinem Volk möglich, sie in irgendeiner Art auszuspielen . Partikularinteressen werden ausgeschaltet, um alle Völker auf einer allgemeinen Ebene als Rechtssubjekte wahrnehmen zu können . Vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit und Gleichheit der Völker ist das vierte Prinzip, das des Interventionsverbots, eine logische Konsequenz . Es verdeutlicht den Respekt vor eben dieser Unabhängigkeit und Gleichheit . In diesem Kontext ist auch das fünfte Prinzip, das Krieg nur aus Gründen der Selbstverteidigung erlaubt, zu nennen . Der Schutz der eigenen Unabhängigkeit, Freiheit und Gleichheit ist legitim, schließlich muss auch den fundamentalen Interessen der Völker entsprochen werden . Alle anderen Maßnahmen wie Angriffskriege, Okkupation oder Sezessionskriege besitzen keine Legitimität, da mit ihnen stets die Verletzung der Unabhängigkeit und Gleichheit eines anderen Volkes verbunden ist . Damit ist das völkerrechtliche ius ad bellum allein auf die Selbstverteidigung beschränkt . Das völkerrechtliche ius in bello, das die Rechtsbedingungen im Krieg festlegt, findet seinen Niederschlag im siebten Prinzip, das bestimmte Restriktionen in der Kriegsführung bestimmt . Das zweite Prinzip, Ausdruck des bekannten Völkerrechtsgrundsatzes pacta sunt servanda, lässt sich aus der Vernünftigkeit der Parteien ableiten, die deren Kooperationsbereitschaft unterstreicht . Probleme bereiten allerdings der 6 . (Menschenrechte) und der 8 . (Pflicht zur Assistenz25) Rechtsgrundsatz, da sich bei ihnen die Frage stellt, warum liberale Völker diese in der genannten Form annehmen sollten – schließlich sind in den von 24 Vgl . die Begründung von Victoria Costa in M. Victoria Costa, Human Rights and the Global Original Position Argument, Journal of Social Philosophy 2005 (36), S . 49–61, S . 52 . Die Herleitung der Prinzipien 6 und 8 bereiten ihm ebenfalls Mühe . 25 Die Pflicht zur Assistenz bezieht sich auf belastete Gesellschaften und ist nicht mit einer Art Nothilfe bei Naturkatastrophen u . ä . zu verwechseln . Vielmehr sollen belastete Gesellschaften mittels der Unterstützung beim Aufbau einer tragfähigen politischen Kultur und sozialen sowie
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Rawls genannten Menschenrechten politische Teilhaberechte nicht enthalten und die Pflicht zur Assistenz bezieht sich auf belastete Gesellschaften, die gar nicht Teil der Völkergesellschaft sind . Auf diese Probleme, die auch mit dem unklaren Status des Verhandlungsgegenstands zusammenhängen, gehe ich im Diskussionsteil ein . Rawls zufolge nehmen die achtbaren Völker genau dieselben Grundsätze an wie die liberalen Völker .26 Bei den achtbaren Völkern führt Rawls das auf deren System der Kooperation, zusammen mit dem Kriterium der Friedfertigkeit, zurück . Da die achtbaren Völker die Integrität anderer Völker respektieren, können sie die symmetrische Positionierung im Urzustand als fair akzeptieren, woraus sich – wie bei den liberalen Völkern – die Annahme des ersten, dritten, vierten, fünften und siebten Prinzips ergibt . Ihre Kooperationsfähigkeit und Achtbarkeit garantieren ferner, dass sie Verträge und Verpflichtungen erfüllen (2 . Grundsatz) sowie auch das vorgegebene Set an Menschenrechten akzeptieren (6 . Grundsatz) . All dies wird durch den Schleier des Nichtwissens noch verstärkt . Allerdings stellt sich auch hier die Frage, warum sie den achten Grundsatz annehmen sollten (Pflicht zur Assistenz) . 3 dIskussIon von rawls’ arGumentatIon Bei der Herleitung der acht Prinzipien ist deutlich geworden, dass die Begründung des sechsten (Menschenrechte) und achten (Pflicht zur Assistenz) Grundsatzes Fragen aufwirft . Im Vergleich zu der ausgesprochen detaillierten Herleitung der Gerechtigkeitsprinzipien in der Theorie der Gerechtigkeit wirkt Rawls’ Argumentation in The Law of Peoples skizzenhaft, unfertig und stipulativ, so dass man als Leser mit nicht vollends befriedigenden Erklärungen zurückgelassen wird . In diesem Diskussionsteil möchte ich zumindest eine Begründungslücke schließen, indem ich mich im Folgenden ausführlicher mit der Frage beschäftige, warum sich die liberalen Völker in ihrem Urzustand – laut Rawls – auf die Einhaltung von „besonders dringlichen“ Menschenrechten verpflichten, obwohl darin keine politischen Teilhaberechte etc . enthalten sind . Auch wenn die Annahme der Pflicht zur Assistenz ebenso begründungswürdig ist, werde ich auf diese Diskussion verzichten müssen, weil sie den Rahmen dieses Aufsatzes inhaltlich sprengen würde . Damit verbunden wäre nämlich die ganze umfangreiche Debatte darüber, ob mangelnde politische Kultur oder die ungleiche Verteilung von Ressourcen hauptursächlich für die Situation von belasteten Gesellschaften ist sowie die Frage, ob die Parteien im Urzustand nicht eher eine Art Differenzprinzip anstelle der Pflicht zur Assistenz wählen würden . Ferner würde die Erörterung des achten Prinzips das Verhältnis zwischen idealer und nichtidealer Theorie bei Rawls berühren, was insofern außerhalb meines Interesses liegt, als ich mich auf Rawls’ Begründung der Prinzipien innerhalb der idealen Theorie, innerhalb der Gesellschaft wohlgeordneter Völker, konzentrieren möchte .
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dazu befähigt werden, ebenfalls ein Mitglied der wohlgeordneten Völkergesellschaft zu werden . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 131–140 . 26 Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 84 .
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3.1 liberale völker und MenscHenrecHte Der Grund für die Frage nach der Annahme des sechsten Grundsatzes durch die liberalen Völker ist, dass Rawls unter den darin genannten Menschenrechten nur eine Klasse von „besonders dringlichen“27 Menschenrechten versteht, die viele Rechte nicht enthält, die liberale Demokratien in ihren Gesellschaften garantieren . Unter diese „besonders dringlichen“ Menschenrechte subsumiert Rawls die „Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Freiheit (aber nicht die gleiche Freiheit) des Gewissens und die Sicherheit ethnischer Gruppen vor Massenmord und Genozid .“28 An anderer Stelle ergänzt Rawls noch das Recht auf Leben (d . h . auf das für die eigene Subsistenz und Sicherheit Nötige) sowie das Recht auf persönliches Eigentum und auf formale Gleichheit, wonach gleiche Fälle gleichbehandelt werden sollen .29 Diese Klasse dringlicher Menschenrechte stellt für Rawls die Teilmenge dar, die von liberalen Demokratien und achtbaren Konsultationshierarchien gleichermaßen anerkannt wird . Darüber hinausgehende Menschenrechte wie das Wahlrecht, Versammlungsfreiheit, vollumfängliche Gewissensfreiheit etc ., die liberale Demokratien ihren Bürgern einräumen, klassifiziert Rawls als „Verfassungsrechte“, da sie durch das politische System des Liberalismus bestimmt seien . Nicht wenige Autoren werfen Rawls vor, dass er damit hinter dem notwendigen (und allgemein anerkannten) Standard von Menschenrechten zurückgeblieben sei und mehr preisgegeben hätte als nötig .30 Rawls scheint diese Kritik antizipiert zu haben, denn er beginnt den Paragraphen, in dem er sich mit der Funktion von Menschenrechten im Recht der Völker auseinandersetzt, mit der Frage „Ist das Recht der Völker hinreichend liberal?“31 . Rawls beantwortet diese Frage an der genannten Stelle nicht . Es ist jedoch aufgrund der Gesamtkonzeption seines Werks offensichtlich, dass ihm zufolge liberale Völker durch die Tatsache, dass auch achtbare Völker die acht Grundsätze annehmen, darin bestärkt werden, dass diese der Toleranz würdig sind und entsprechend als Kooperationspartner in Frage kommen . Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob das Argument des Urzustands unter liberalen Völkern tatsächlich die Verabschiedung des sechsten Rechtsgrundsatzes in der von Rawls vorgesehenen Form zulässt . Wenn wir uns die Ausgangssituation vor Augen führen, dann werden die Repräsentanten liberaler Demokratien mit der Aufgabe konfrontiert, auf der Basis der vorgelegten Rechtsgrundsätze zu entscheiden, ob diese als Eckpfeiler ihrer Außenpolitik taugen und ob sie als Grundlage für eine Kooperation in Frage kommen . Geht man nun davon aus, dass liberale Völker allein ihren Umgang miteinander regulieren müssten, gäbe es keinerlei Grund, warum sie auf einen anspruchsvolleren Katalog von Menschenrechten verzichten sollten, da sie ihn ja alle qua liberale Demokratien ohnehin erfüllen . Vielmehr würde man darin die adäquate Wahrung ihrer grundlegenden Interessen sehen, die in dem Schutz ihrer politischen Unabhängigkeit und freiheitlichen Kultur mit bürgerlichen FreiheiRawls (Fn . 1), S . 96 . Rawls (Fn . 1), S . 96 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 80 . Vgl . Beitz (Fn . 3), S . 683–688; Victoria Costa (Fn . 24), S . 57 ff . Beide Autoren vergleichen Rawls’ besonders dringliche Menschenrechte mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948, die einen höheren Standard einfordert . 31 Rawls (Fn . 1), S . 96 .
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ten besteht .32 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Rawls zwingend davon ausgegangen sein muss, dass die Repräsentanten liberaler Völker in ihrem Urzustand um die achtbaren Völker wissen und entsprechend die ‚Spielregeln‘ nicht nur für die Kooperation untereinander festlegen, sondern auch in Hinblick auf die achtbaren Völker .33 Nur bei einem solchen Szenario ist die geleistete Selbstbeschränkung bezüglich der Menschenrechte seitens der liberalen Völker argumentativ nachzuvollziehen . Diese Strategie strapaziert allerdings das Vertragsargument sehr: Die Kraft der Übereinkunft, die aus der Einigung im Urzustand hervorgeht, resultiert nämlich aus der Zustimmung aller, die diese Übereinkunft betrifft . Bei Rawls’ liberalem Urzustand gibt es aber über die Repräsentanten liberaler Völker hinaus noch einen weiteren Kreis der Adressaten – die achtbaren Völker –, der bei der Übereinkunft berücksichtigt wird, ohne dass er selbst vertreten ist . Dadurch verliert das Argument von Rawls viel von seiner ursprünglichen Überzeugungskraft, die sich daraus speiste, dass er zu zeigen gemeint hatte, dass sowohl liberale als auch achtbare Völker unabhängig voneinander in zwei unterschiedlichen Urzuständen ein und dasselbe Recht der Völker annehmen würden . Jetzt stellt sich allerdings heraus, dass dieser Eindruck täuscht: Die Tatsache, dass es zwei gesonderte Urzustände – einmal unter liberalen Völkern, einmal unter achtbaren Völkern – in Rawls’ Argumentation gibt, bedeutet nicht, dass sie auch epistemisch eigenständig konzipiert sind: Zumindest beim Urzustand der liberalen Völker gibt es ein Wissen über die eigene Herrschaftsform hinaus, die eine Selbstbeschränkung zur Folge hat; ob die achtbaren Völker ebenfalls ein die Herrschaftsform übergreifendes Wissen haben, bleibt bei Rawls offen – sicher ist aber, dass sie sich keinerlei Selbstbeschränkung bei der Annahme der Rechtsgrundsätze auferlegen müssen . Die getrennte Verabschiedung des selben Rechts der Völker hat bis anhin suggeriert, dass die zwei Völker-Urzustände in relevanten Hinsichten gleich seien, doch dies ist nicht der Fall, weil allein die liberalen Völker eine Selbstbeschränkung auf sich nehmen . Das Rawlssche Argument muss daher als gescheitert zurückgewiesen werden . Doch was würde Rawls dem entgegnen können? Wiederholt macht Rawls darauf aufmerksam, dass es beim Recht der Völker darum geht, die Eckpfeiler liberaler Außenpolitik abzustecken – insbesondere bezüglich der Frage, inwieweit ein liberales Volk ein nicht-liberales Volk tolerieren müsse .34 Ferner betont er, dass es sich bei diesem Vorhaben um eine Erweiterung der liberalen Gerechtigkeitskonzeption auf achtbare Völker handele, die der Selbstvergewisserung liberaler Völker diene .35 Dies klingt nun so, als ob Rawls den angemessenen Verhandlungsgegenstand (einer der fünf Merkmale des Urzustands) des liberalen Urzustands in der Festlegung liberaler Außenpolitik sähe . Wäre dies der Fall, dann wäre der Ausgang des Urzustands unter den liberalen Völkern in der von Rawls vorgesehenen Form tatsächlich denkbar . Allerdings würde dann an anderer Stelle ein neues Problem auftauchen: Der Verhandlungsgegenstand im Urzustand der achtbaren Völker wäre dann ein anderer als der im Urzustand der liberalen Völker, denn es wäre absurd, achtbare Völker über die Festlegung liberaler Außenpolitik bestimmen zu lassen . In beiden Fällen aber 32 33 34 35
Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 38 . Dies wird von Rawls bestätigt . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 47 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 8 f ., S . 62, S . 71 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 67 .
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bestimmt Rawls den „Inhalt des Rechts der Völker“ als Verhandlungsgegenstand, der „faire Bedingungen der politischen Kooperation mit anderen Völkern festlegt“36 . Allgemein bekommt man den Eindruck, dass Rawls in seiner Argumentation zwischen dem Bestreben, Kriterien liberaler Außenpolitik zu bestimmen, und dem Wunsch, eine Grundlage der Kooperation zu begründen, changiert und damit für Verwirrung sorgt . Für den Moment lässt sich also festhalten, dass Rawls nicht zufriedenstellend begründen kann, warum liberale Völker dem sechsten Rechtsgrundsatz (Respektierung dringlicher Menschenrechte) in dem von ihm konzipierten Szenario zustimmen sollten . Möchte man an dem Vorhaben, die Rechtsgrundsätze zu begründen, festhalten, gäbe es zwei alternative Szenarien, mit denen man zu dem gewünschten Recht der Völker käme . Diese beiden Alternativen möchte ich im Folgenden erörtern, wobei ich mich in erster Linie auf das erste Szenario konzentriere . Die erste Alternative (A1) besteht in einem gemeinsamen Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern; die zweite Alternative (A2) hat zwei vollständig unabhängige Urzustände von liberalen Völkern einerseits und achtbaren Völkern andererseits zum Gegenstand; als Ergebnis davon kämen zwei nicht identische Prinzipienlisten heraus, wobei deren Schnittmenge dann den gemeinsamen Rechtskorpus darstellen würde . 3.2 zWei alternativszenarien 3 .2 .1 Ein gemeinsamer Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern In einem gemeinsamen Urzustand beider ‚Völkerklassen‘ würden die Repräsentanten der Völker hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht wissen, ob sie ein achtbares oder ein liberales Volk vertreten . Sie würden demnach – ausgehend von der Situation der Gleichheit – allein Rechtsgrundsätze bestimmen, die deren Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichheit zum Ausdruck bringen würden, sowie Prinzipien verabschieden, die einer Kooperation auf dieser Basis förderlich wären . Bei der Bewahrung ihrer grundlegenden Interessen würden sich die Vertreter – im Unwissen darüber, ob sie die Güter einer liberalen Demokratie oder einer achtbaren Konsultationshierarchie zu bewahren haben – genau auf die dringliche Klasse von Menschenrechten einigen, die Rawls vorschwebt . Im Vergleich zu Rawls’ Konstruktion scheint dieser Vorschlag naheliegend und wenig umständlich zu sein . Was aber könnte Rawls dazu bewogen haben, ihn gar nicht erst in Betracht zu ziehen? Ich sehe zwei mögliche Gründe für seine Ablehnung eines gemeinsamen Urzustands: 1) Rawls erachtet die liberalen und achtbaren Völker als nicht hinreichend gleich, damit sie in einem gemeinsamen Urzustand positioniert werden können . Der Urzustand beschreibt eine Situation der Gleichheit par excellence, indem er individuelle Eigenschaften mittels des Schleiers des Nichtwissens nivelliert und damit eine vollkommene Symmetrie der Parteien garantiert . Für Rawls sind die achtbaren Völker aber nicht ebenso vernünftig wie die liberalen Völker, da deren Achtbarkeit lediglich eine schwächere Variante von Vernünftigkeit
36 Rawls (Fn . 1), S . 84; vgl . für den Urzustand der liberalen Völker S . 36; für den Urzustand achtbarer Völker S . 84 .
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ist .37 Daher müsse erst eine gemeinsame politische und rechtliche Basis (das Recht der Völker) gelegt werden, bevor die Völker als Gleiche positioniert werden können . Auf dieser Grundlage ist danach auch ein gemeinsamer Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern denkbar, beispielsweise zur Schaffung von Institutionen wie die EU .38 Was an dieser Argumentation irritiert, ist der Umstand, dass das Vertragsargument darin quasi ‚zweckentfremdet‘ wird: Der Urzustand unter achtbaren Völkern wird nicht mehr in seinem Kontext gesehen – die Ermittlung von Rechtsgrundsätzen –, sondern wird ausschließlich aus dem Blickwinkel der liberalen Völker beobachtet, die darin eine Art ‚Lackmustest der politischen Reife‘ sehen, der anzeigen soll, ob die achtbaren Völker als Partner in einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker in Frage kommen . Ferner könnte man fragen, ob es tatsächlich des Urzustands der achtbaren Völker bedarf, um zu diesem Ergebnis zu kommen . Warum braucht es noch die zusätzliche Bestätigung durch den Urzustand, wenn bereits die beiden Kriterien, mit denen ein achtbares Volk bestimmt wird, zeigen, dass sie zur Kooperation fähig sind? Die angenommenen Rechtsgrundsätze fügen dem normativ nichts hinzu . Zudem betont Rawls selbst, dass ein achtbares Volk Gleichbehandlung seitens anderer liberaler Völker erwarten darf, selbst wenn es seine eigene Bevölkerung nicht gleichbehandelt: „Auch wenn innerhalb einer Gesellschaft keine vollständige Gleichheit besteht, kann gleichwohl vernünftigerweise Gleichheit bezüglich ihrer Ansprüche gegenüber anderen Gesellschaften gefordert sein .“39 Diese Ansprüche dürften m . E . allerdings schon bestehen, bevor die achtbaren Völker ihre Kooperationstauglichkeit indirekt durch die Annahme der Rechtsgrundsätze unter Beweis stellen . Würde man von dem Gleichheitsparadigma ausgehen und einen gemeinsamen Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern konstruieren, hätten die Rechtsgrundsätze eine größere normative Kraft, da sie sich direkt aus der Situation der Symmetrie ergeben würden anstatt aus der Parallelität der beiden Urzustände . 2) Der zweite Grund für Rawls’ Ablehnung eines gemeinsamen Urzustands könnte darin bestehen, dass er in den verschiedenen grundlegenden Interessen der liberalen und achtbaren Völker ein Problem für eine Übereinkunft sieht . Die Parteien im Urzustand sind als rational konzipiert und sie haben die Aufgabe, die grundlegenden Interessen der Völker, die in der Wahrung und optimalen Förderung der eigenen Grundstruktur bestehen, zu vertreten . Da aber liberale und achtbare Völker eine unterschiedliche Grundstruktur besitzen, könnten ihre Repräsentanten ihren ‚Auftrag‘ gar nicht zufriedenstellend erfüllen . Im Rahmen dieser Argumentation weist Charles Beitz40 zu Recht darauf hin, dass im liberalen heimischen Urzustand solche Unterschiede in den individuellen Konzeptionen des Guten (die mit den grundlegenden Interessen zusammenhängen) durch den Schleier des Nichtwissens verborgen sind, während sie im globalen Maßstab sichtbar bleiben . Daraus schließt er, dass die beiden liberalen Urzustände (intern und ausgeweitet auf Völker) nicht analog seien, was er auf einen unterschiedlichen Verhandlungsgegenstand zurückführt: Während der interne liberale Urzustand 37 38 39 40
Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 82 . Vgl . Rawls (Fn . 1), S . 86 . Rawls (Fn . 1), S . 86 . Vgl . Beitz (Fn . 3), S . 675 .
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Gerechtigkeitsprinzipien verpflichtet ist, würde der liberale Urzustand der Völker nicht der Ermittlung von Gerechtigkeitsprinzipien dienen, sondern der Formulierung liberaler Außenpolitik . Damit wären wir aber wieder mit demselben Problem konfrontiert, das bereits bei der Frage nach den Beweggründen liberaler Völker bezüglich der Annahme bloß dringlicher Menschenrechte aufgetaucht ist: Wäre die Festlegung liberaler Außenpolitik der Verhandlungsgegenstand des liberalen Urzustands, wäre nicht ersichtlich, warum auch achtbare Völker darüber verhandeln sollten . Außerdem gibt Rawls in beiden Urzuständen der Völker denselben Verhandlungsgegenstand an, nämlich den Inhalt des Rechts der Völker, was zur grundlegenden Frage führt: Was versteht Rawls unter dem „Recht der Völker“? Betrachtet man Rawls’ Definitionen vom „Recht der Völker“ wird schnell deutlich, dass er diesen Ausdruck mehrdeutig verwendet . Einerseits scheint er unter dem „Recht der Völker“ die „Grundsätze der Außenpolitik eines liberalen Volkes“41 zu verstehen, andererseits definiert er dieses Recht als etwas, „das die Grundstruktur der Beziehungen zwischen Völkern reguliert“42 bzw . „faire Bedingungen der politischen Kooperation mit anderen Völkern festlegt“43, womit er dem Charakter der Rechtsgrundsätze, die er ja den Normen des internationalen Rechts entnimmt, zweifelsohne besser gerecht werden würde . Diese Mehrdeutigkeit scheint mir das zentrale Problem seiner Argumentation zu sein: Rawls’ Begründung der Annahme der Rechtsgrundsätze durch liberale und achtbare Völker funktioniert nur, wenn er beim Urzustand der liberalen Völker (Festlegung liberaler Außenpolitik) von einem anderen Verhandlungsgegenstand ausgeht als beim Urzustand der achtbaren Völker (Festlegung fairer Bedingungen der Kooperation), was allerdings seine Gesamtargumentation schwächt, die darauf angewiesen ist, dass der Verhandlungsgegenstand derselbe ist . 3 .2 .2 D as Recht der Völker als Schnittmenge zweier vollkommen unabhängiger Urzustände Beim Szenario der zweiten Alternative gäbe es zwei vollständig unabhängige Urzustände: Einmal unter liberalen Völkern, dann unter achtbaren Völkern .44 Der Unterschied zu Rawls’ Konzeption besteht darin, dass bei A2 die jeweiligen Parteien im Urzustand nicht von der Existenz der anderen Völkergruppe wüssten . Es ist davon auszugehen, dass die Prinzipien, die die eigene Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit und faire Kooperationsbedingungen garantieren, in derselben Form angenommen werden würden . Allerdings würden die liberalen Völker einen wesentlich anspruchsvolleren Menschenrechtskatalog verabschieden als die achtbaren Völker, da es keinerlei Grund für ihre Vertreter gäbe, sich selbst normative Beschränkungen aufzuerlegen . Damit es aber im Anschluss zu einer Kooperation zwischen liberalen und achtbaren Völker kommt, müsste ein weiterer Schritt erfolgen: Die Abgleichung der
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Rawls (Fn . 1), S . 8 . Rawls (Fn . 1), S . 37 . Rawls (Fn . 1), S . 84 . Dieser Alternativvorschlag wird von M . Victoria Costa kurz erörtert . Vgl . Victoria Costa (Fn . 24), S . 54 .
Völker im Urzustand
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beiden angenommenen, nicht ganz identischen Rechtsprinzipienkataloge, bei der man sich dann nur auf die dringliche Klasse der Menschenrechte einigen könnte . Das Problem bei diesem Vorschlag besteht darin, dass ihm die normative Kraft fehlt, die das ursprüngliche Urzustandsargument auszeichnet . Sowohl bei Rawls als auch bei A1 gehen die angenommenen Rechtsprinzipien unmittelbar aus dem Urzustand hervor, der eine Situation der Gleichheit, der Symmetrie und der Unparteilichkeit repräsentiert – Kennzeichen, die der Übereinkunft eine besondere Legitimität verleihen . Indem bei A2 nach den beiden Urzuständen noch eine Abgleichung der angenommenen Grundsätze bzw . eine Verhandlung darüber erfolgt, wird die im Denkmodell des Urzustands geschaffene ideale Situation konterkariert . Wie bei Verhandlungen im Allgemeinen und denen auf der internationalen Bühne im Besonderen, droht nämlich eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, indem politische und ökonomische Macht ausgespielt wird . Die beiden der Verhandlung vorausgehenden Urzustände wären dann argumentativ überflüssig . Obwohl A2 zur selben Liste von Rechtsgrundsätzen führen würde wie Rawls’ Konzeption oder A1, überzeugt diese Alternative daher nicht . 3 .2 .3 Zusammenfassung Die Diskussion der beiden Alternativszenarien hat gezeigt, dass ein gemeinsamer Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern die angenommenen Rechtsgrundsätze besser begründen könnte als getrennte Urzustände der beiden ‚Völkerklassen‘ – sei es in Rawls’ Konzeption, sei es in der Version der vollkommenen Unabhängigkeit .45 Darüber hinaus ist im Kontext der Diskussion von Rawls’ Ablehnung eines gemeinsamen Urzustands von liberalen und achtbaren Völkern meines Erachtens deutlich geworden, dass sich die Mehrdeutigkeit und Unschlüssigkeit von Rawls, die bereits beim Verhandlungsgegenstand deutlich geworden ist, durch das gesamte Werk The Law of Peoples hindurchzieht: Einerseits hält er die liberalen und achtbaren Völker für nicht gleichwertig und geht von einer inhärenten Überlegenheit der liberalen Völker aus, weshalb er diesen beiden ‚Völkergruppen‘ einen gemeinsamen Urzustand zur Bestimmung der Grundsätze ihrer Kooperation verweigert . Andererseits möchte er faire Bedingungen der Kooperation zwischen ihnen begründen und spricht sich dezidiert dagegen aus, dass man achtbare Völker wegen ihrer fehlenden Liberalität nicht gleich behandelt . Den Ausweg aus diesen widersprüchlichen Positionen meint er in der prima facie eleganten Trennung der Urzustände von liberalen und achtbaren Völkern zu finden, die dann just dasselbe Recht der Völker annehmen . Doch diese Lösung hat sich nicht als überzeugend herausgestellt, da nicht begründet werden konnte, warum sich liberale Völker mit der Verabschiedung bloß dringlicher Menschenrechte zufrieden geben sollten .
45 Ob ein gemeinsamer Urzustand von liberalen und achtbaren Völkern allerdings aus anderen Gründen (z . B . zu minimales Konzept von Menschenrechten) abzulehnen ist, wäre weiterer Diskussion würdig . In dem Kontext des Beitrags geht es mir nur um die überzeugendste Begründung von Rawls’ Rechtsgrundsätzen .
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4 würdIGunG Die Überschrift „Würdigung“ am Ende dieses Aufsatzes, in dem ich viel Kritik an Rawls’ Begründungsleistung geübt habe, mag überraschen . Ungeachtet der Skepsis gegenüber seinem konkreten Ansatz bin ich der Meinung, dass Rawls mit seiner Grundidee, allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen mit Hilfe seines Modells vom Urzustand zu neuer Legitimität zu verhelfen, Wichtiges geleistet hat . Diese Form der Begründung scheint mir nämlich aufgrund der Gleichheit, Symmetrie und Unparteilichkeit, die der Ausgangsposition inhärent ist, für Rechtsnormen besonders vielversprechend zu sein . Dies gilt umso mehr, als Rawls einen eher ‚technischen‘ Begriff der Unparteilichkeit favorisiert, indem er Unparteilichkeit als pure Verfahrensgerechtigkeit beschreibt, die mittels des Schleiers des Nichtwissens garantiert wird .46 Ferner gibt es wegen der fehlenden Kenntnisse, was die eigene Position betrifft, im Urzustand weder Verhandlungen noch Koalitionen, da es keinen Sinn macht, sich auf dieser Basis Vorteile beschaffen zu wollen .47 Damit ist eine wichtige Quelle der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes beseitigt, die insbesondere im internationalen Kontext zahlreiche Konflikte wegen der herrschenden Machtasymmetrie verursacht . Selbstverständlich handelt es sich bei Rawls’ Urzustandsmodell um ein Gedankenexperiment, um ein normatives Ideal . Doch dies schmälert die Begründungskraft insofern nicht, als jede normative Begründung von Recht darauf angewiesen ist, eine rechtspositivistische Legitimation zu überwinden . Im Vergleich zu Grotius’ naturrechtlicher Begründung und Kants metaphysischer Rechtslehre hat Rawls aber eine politische Konzeption von Recht und Gerechtigkeit vorgelegt, die auf die gegenwärtigen Verhältnisse besser zugeschnitten ist .
46 Unparteilichkeit ist kein eindeutig definierter Begriff, da es unterschiedliche Konzeptionen von Unparteilichkeit gibt . So beansprucht etwa die Figur des „mitfühlenden Beobachters“ bei David Hume und Adam Smith ebenfalls Unparteilichkeit für sich, indem sie eine Art Vogelperspektive einnimmt, bei der alle Interessen jedes Menschen gleichermaßen berücksichtigt werden . Siehe die Auseinandersetzung von Rawls mit dieser Variante von Unparteilichkeit in Rawls (Fn . 2), S . 211–220 . 47 Vgl . Rawls (Fn . 2), S . 163 .
rainer keil unparteIlIchkeIt und unIversalIsIerBarkeIt: tauGlIche krIterIen für das mass an offenheIt terrItorIaler aussenGrenzen für flüchtlInGe und ImmIGratIon? Sehr gegensätzliche Intuitionen zum Verhältnis von universalistischer Gerechtigkeit zu Immigration und Flüchtlingsschutz scheinen zu Beginn des Artikels auf . Sodann wird versucht, mit ihnen verbundene, argumentativ-diskursiv zugängliche Grundfragen anzureißen . Ob und inwiefern politische Außengrenzen überhaupt sinnvoll als Problem der Gerechtigkeit diskutiert werden können, erscheint problematisch . Skeptizistische Ansätze lehnen dies ab oder versuchen, das Problem unter Gesichtspunkten der Souveränität und gesellschaftlich-eigener Werte abzuhandeln, um bestenfalls Empathie durch Nähe zu generieren und handlungswirksam werden zu lassen . Walzers Modell der Gerechtigkeitssphären erscheint als sehr subtil und einfühlsam in der Wahrnehmung von Phänomenen, aber auch als wenig systematisch . Ähnliches gilt für den Utilitarismus Peter und Renata Singers . Diese Ansätze tun sich schwer mit einer gerade rechtsphilosophischen und auf Rechte bezogenen Herangehensweise . Der Gerechtigkeitstheoretiker Rawls dagegen schließt internationale Mobilität aus dem Horizont seiner explizit nicht kosmopolitischen Erwägungen weit gehend aus . Der Klassiker I . Kant, an dem er sich orientiert, ist ihm an dieser Stelle überlegen: Er kennt auch ein systematisch zentral platziertes, aber illusionslos vorsichtig ausformuliertes und an Freiheit als Angelpunkt praktischer Philosophie rückgekoppeltes Weltbürgerrecht – als Forderung an das geltende Recht .
1 eInleItunG 1.1 zWei einander radikal entGeGen Gesetzte intuitionen Konträre Intuitionen1 drängen sich auf, wenn man gegen Migration zwangsbewehrte Außengrenzen eines politischen Gebildes der Frage der Gerechtigkeit aussetzt . Einer ersten erscheint schon die Frage der Gerechtigkeit verfehlt: Menschen ohne Bürgerschaft könnten kein moralisch begründbares Recht auf Einreise oder gar Einwanderung haben .2 Ihr entspricht, dass Fragen der Migration oft in Debatten über globale Verteilungsgerechtigkeit nicht mitdiskutiert werden .3 Eine andere Intuition nimmt auf, dass aus der Sicht Einreise- oder -wanderungswilliger die Möglichkeit, sie einseitig, ohne Gründe an der Verwirklichung ihres Wunsches zu hindern, als ungerecht erscheinen kann . So ist die Frage nach der Öffnung der U .S .A . für Einwandernde mit 1
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Vgl . zur Tauglichkeit von und Kritik an Intuitionen als Quelle normativer Einsicht Robert E. Frazier, Intuitionism in Ethics, in: Edward Craig (Hrsg .), The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, Abingdon/New York 2005, S . 456 sowie Wulf Kellerwessel, Intuismus, ethischer, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg .), Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, 2 . Aufl ., Stuttgart 1999, S . 271 . Vgl . hierzu die Position des einheimischen „Explorer“ gegenüber einwanderungswilligen „Apollonians“ im Dialog bei Bruce Ackerman, Social justice in the liberal state, Yale 1980, S . 90: „No Neutrality objections please; by its own terms, the third principle limits its protection to ‚citizens’ .“ Zutr . der Untertitel von Ines Sabine Roellecke, Gerechte Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitskriterien: Ein dunkler Punkt der Gerechtigkeitstheorien, Baden-Baden 1999 . Vgl . als Beispiel etwa den sonst wertvollen Band Peter Siller/Gerhard Pitz (Hrsg .), Politik der Gerechtigkeit: Zur praktischen Orientierungskraft eines umkämpften Ideals, Baden-Baden 2009 .
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der Grundfrage praktisch-normativer Rechtsphilosophie assoziiert worden: Was rechtfertigt Zwang – die von Menschen ausgehende Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit anderer Menschen – und seine Regelung4 und inwiefern5 trägt diese Rechtfertigung? Vor allem bei existenzieller Bedrohung im Herkunftsstaat wird sie relevant: Wer es als Jüdin oder Sinti geschafft hat, dem Tod im sog . Dritten Reich zu entkommen, wer Folterknechten und Mördern der Tscheka, gar des NKWD oder der Militärs unter Pinochet, den unfassbaren Brutalitäten der Khmers Rouges oder der Kulturrevolution Maos, Ruandas ethnischem Horror, den massakrierenden Kindersoldaten im Diamantenkrieg Sierra Leones, dem Religionsterror der Taliban, der Steinigung im Iran oder dem Juche-Terror der Kim-Dynastie entflohen ist, wird es kaum nur als Unglück, sondern als elementares Unrecht empfinden, wenn die Abschiebung dorthin droht . 1.2 diskursiv erscHliessbare norMative einsicHten Ein intuitiver Zugang macht Facetten des Problems sichtbar, erhellt aber nicht, wie wir es einer Lösung entgegen führen können .6 Deshalb stehen wir vor der Frage: Was lässt sich diskursiv an normativer Einsicht hierzu erschließen? Die Öffnung oder Schließung territorialer Grenzen von Staaten oder supranationalen Staatenverbünden für Migration scheint sich auf Außengrenzen jenes Rahmens zu beziehen, in dem erst Gerechtigkeit gehaltvoll denk-, verhandel- oder realisierbar ist . Kann sie überhaupt mit Kategorien der Gerechtigkeit begriffen werden? Universalisierung zielt auf ein begriffliches Ganzes, das sich sinnvoll auf das zu beurteilende kontingente Partikulare beziehen lässt . Bei der Gewinnung von Gesichtspunkten der Gerechtigkeit kann die mit ihr verbundene Forderung der Unparteilichkeit oft helfen . Aber die Annahme eines Standpunkts, der ne-utrum – wörtlich: „keins von beidem“ – ist, leistet nur einen angemessenen Beitrag, wenn die Abstraktion nicht das Sachproblem selbst aus dem Blickfeld geraten lässt .7 Ein geeignetes: nicht zu abstraktes noch zu konkretes tertium comparationis muss eine Gemeinsamkeit der Positionen sicherstellen . Diese muss den Vergleich gerade für die zu beurteilende Frage rechtfertigen, ihn aus der Sicht eines unbefangenen Zuschauers8 als legi4 5
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Joseph H. Carens, Aliens and Citizens: The Case for Open Borders, The Review of Politics 1987, S . 251–273, S . 251; ähnlich Ackerman (Fn . 2), S . 92 „exercising power“, S . 93 zu rechtfertigende „power to exclude“ . Joseph H. Carens, The Philosopher and the Policymaker: Two Perspectives on the Ethics of Immigration with Special Attention to the Problem of Restricting Asylum, in: Kay Hailbronner/David a. Martin/Hiroshi Motomura (Hrsg .), Immigration Admissions: The Search for Workable policies in Germany and the United States, Provicence, Rhode Island 1997, S . 3–50, S . 6 . “What forms of control are morally permissible from a liberal perspective?” Vgl . zum Einwand gegen den ethischen Intuitionismus, dass „verschiedene Personen Verschiedenes, u . U . moralisch Unverträgliches als evident ansehen, ohne daß eine immanente […] Überprüfung ihrer Ansichten möglich wäre“, Kellerwessel (Fn . 1) . Vgl . Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983, S . 14; dt . Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a . M . 2006, S . 20 und, deutlicher, die Problembeschreibung im Vorwort für die dt . Neuauflage, S . 3 . Zu „Unparteilichkeit“, „der allgemeine Standpunkt“ und zur Bedeutung der „Zuschauer“-Per-
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tim erscheinen lassen und9 es Beteiligten, wenn sie sich auf die Gründe einlassen, erlauben, sich selbst in ihm wiederzufinden .10 Gibt es eine solche Gemeinsamkeit zwischen Angehörigen der Einreise- und Einwanderungsgesellschaft und Einreisewilligen und unter verschiedenen Gruppen der Letzteren?11 2 ansätze zur annäherunG an das proBlem 2.1 skeptizistiscHe positionen Manche Autoren weisen die moralische Fragestellung skeptizistisch12 als falsch zurück,13 wähnend, sie könnten ihr ausweichen,14 oder formulieren sie so, dass der praktisch-philosophische Gehalt kaum erkennbar ist . So bekämpft Christina Boswell15 universalistische Begründungen einer Flüchtlingspolitik . Diese neigten dazu, die Grenzen des Machbaren zu überschreiten16 oder seien inkohärent .17 Die zu Grunde liegende kognitive Theorie18 könne keine moralische Motivation bewirken .19 Rationale Begründung von Moral überschätze das Vernunftvermögen, sie
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spektive vgl . Hannah Arendt, Das Urteilen: Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1998, Siebente Stunde, S . 57–65 und erneut Neunte Stunde, S . 75 f . Zum Problem der „besonderen Bedingungen der Standpunkte, durch die man sich hindurcharbeiten muß, um zu dem eigenen ‚allgemeinen Standpunkt’ zu gelangen“ vgl . Hannah Arendt (Fn . 8), Siebente Stunde, S . 61 . Dies ist ein Aspekt der Forderung, dass „sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, zugleich als Autoren des Rechts verstehen können“ (Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 4 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1994, S . 153) . Ausführlich zur Problematik Matthew J. Gibney, The Ethics and Politics of Asylum, Cambridge 2004, S . 23–84 . Vgl . zur Skepsis als „umfassende[r] Enthaltung des Urteils“ Achim Engstlers Artikel „Skepsis“ (dort das Zitat), „Skeptizismus“ und „Epoché, skeptische“, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg .), Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, 2 . Aufl ., Stuttgart 1999, S . 546 f . bzw . S . 141 f .; ferner Steward Cohen, Scepticism, in: Edward Craig (Hrsg .), The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, London 2005, S . 934–939 . Kay Hailbronner, Citizenship and Nationhood in Germany, in: William R. Brubaker, Immigration and the politics of citizenship in Europe and North America, Lanham 1989, S . 67– 79, S . 75 meint, Fragen der Einbürgerungs- und Immigrationspolitik könnten nicht determiniert werden durch Fragen danach, was moralisch oder unmoralisch sei, sondern allein durch politisches Ausbalancieren von Interessen . Dass auch ein solcher Standpunkt moralisch argumentiert und sich selbst den Einwänden gegen moralische Argumentation aussetzt, wird übersehen . „Wer je eine schwierige ethische Entscheidung durchdacht hat, weiß, daß mit der Kenntnis dessen, was unsere Gesellschaft […] erwartet, die Entscheidung noch nicht getroffen ist . Wir müssen selbst die Entscheidung treffen“ (Peter Singer, Praktische Ethik: Übersetzt von O . Bischoff, J .-Cl . Wolf und D . Klose, 2 . Aufl ., Stuttgart 1994, S . 21) . Wer nicht willkürlich verfahren will, muss nach Kriterien suchen, auch dann, wenn er als Rechtspolitiker Interessen ausbalanciert . Im einfühlsam-subtilen Buch Christina Boswell, The Ethics of Refugee Policy, Aldershot 2005 . Zentrale These des Kapitels 2 “Liberal Universalism and the Problem of Feasibility”, Boswell (Fn . 15), S . 35–55, S . 49 und S . 53, ferner S . 89 . Zentrale These des Kapitels 3 “Thin Universalism and the Problem of Internal Coherence”, Boswell (Fn . 15), S . 57–74 . Boswell (Fn . 15), v . a . S . 112–121 . Kapitel 5 “The Role of Reason in Moral Motivation”, Boswell (Fn . 15), S . 101–123 .
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setze die Anerkennung des Wertes des Selbst gerade als rational und frei voraus, was sich nicht begründen lasse .20 Es gebe nur „historisch kontingente Quellen moralischer Glaubenspositionen“ .21 Weil es ihr um die Förderung der Motivation zu moralischem Handeln geht, hält sie eine Dichotomie von persönlicher und unparteiischer Perspektive und jene von partikularem Eigeninteresse und universeller moralischer Pflicht für kontraproduktiv .22 Für den Flüchtlingsschutz relevante Güter hätten einen besonderen Ort unter den Werten unserer partikularen Gesellschaft23 sowie dem, woran wir glaubten und was unsere Identität ausmache .24 Sie könnten als Quelle der Bestätigung25 und als Mittel für die Kanalisierung einer empathischen Disposition dienen .26 Wer eine solche Position einnimmt, mag sich für einen großzügigen, auch rechtlichen27 Flüchtlingsschutz oder für eine restriktive Politik einsetzen; das folgt dann allerdings nicht aus Argumenten, die die Sache betreffen, sondern aus dem Zufall, welche Werte herrschen . Wer Ethik reduziert auf ihren Bezug auf eine besondere Gesellschaft, droht „höchst unplausible Konsequenzen“28 akzeptieren zu müssen, etwa diejenige, dass Sklaverei hier und jetzt falsch sei, aber in einer benachbarten Sklavenhaltergesellschaft dann nicht, wenn maßgebliche Personen das dort anders sähen . „Weshalb sich darüber streiten?“29 Sie kann dann auch hinauslaufen auf Zweifel an der „Justitiabilität des Asylrechts“,30 wie es in den achtziger und neunziger Jahren des 20 . Jahrhunderts geschah, als manche forderten, das Asylrecht als subjektiv-öffentliches Recht abzuschaffen .31 2.2 Walzers Gut der MitGliedscHaFt und seine GerecHtiGkeitsspHäre Michael Walzer verfolgt, ausgehend von einer Güterlehre,32 mit seinem Konzept der Sphären der Gerechtigkeit das universelle33 Ziel, dass kein gesellschaftliches Gut als 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
32 33
Boswell (Fn . 15), S . 114 . Boswell (Fn . 15), S . 147, Übersetzung des Verfassers, ähnlich S . 146 . Boswell (Fn . 15), S . 71 . Boswell (Fn . 15), S . 142 . Boswell (Fn . 15), S . 146 . „source of personal affirmation“, Boswell (Fn . 15), S . 155 . Boswell (Fn . 15), S . 155 . Vgl . Boswell (Fn . 15), S . 146 . Singer (Fn . 14), S . 21 . Singer (Fn . 14), S . 21, in der 1 . Aufl . 1984 war übersetzt worden: „Weshalb darüber argumentieren?“ Dieses Problem sieht Boswell (Fn . 15) auf S . 146 f . selbst, gibt aber hierauf keine Antwort . Kay Hailbronner, Vom Asylrecht zum Asylbewerberrecht: Rechtspolitische Anmerkungen zu einem ungelösten Problem, in: Walther Fürst u. a. (Hrsg .), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd . 1, Berlin 1987, S . 917–937, S . 936 . Nachweise zu dieser ehem . Forderung bei Rainer Keil, Freizügigkeit, Gerechtigkeit, demokratische Autonomie: Das Weltbürgerrecht nach Immanuel Kant als Maßstab der Gerechtigkeit geltenden Aufenthalts-, Einwanderungs- und Flüchtlingsrechts, Baden-Baden 2009, S . 48 Fn . 268 und S . 103 Fn . 634 . Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983, S . 6–10; dt . Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a . M . 2006, S . 30–36 . Zum Universalismus bei Walzer vgl . Walzer (Fn . 32), dt . S . 1, S . 4 f .
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Mittel der Beherrschung dient .34 Er argumentiert aber dabei „radically particularist“ .35 Nur dies erscheint ihm für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit36 angemessen: Gesellschaftlich führen geteilte „Bedeutungen“37 zur „Konzeption und Erzeugung“ von Gütern38 und zur je eigenen Gewinnung individueller Identität .39 Diversen Gütern entsprechen unterschiedliche Gerechtigkeitssphären, denen spezifische Verteilungskriterien angemessen sind .40 Die Übertragung eines Kriteriums aus einer Sphäre auf eine andere kann dazu führen, dass es der Bedeutung des Gutes nicht gerecht wird, wie er an Prostitution,41 Bestechung oder Ämterkauf als unangemessener Übertragung des Markt-Verteilungskriteriums Geld auf andere Sphären veranschaulicht .42 Migration handelt Walzer beim ersten und wichtigsten43 Gut: der Mitgliedschaft44 ab . Die Frage: „Wen sollten wir zulassen?“45 hänge von unserem Verständnis ab, „was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen .“46 Diese Erwägungen beziehen sich auf die Distribution47 von Mitgliedschaft . Walzer fasst sie aber nicht mit Kategorien distributiver Gerechtigkeit auf, die „eine festumgrenzte Welt“ voraussetze .48 Entweder ordnet er Immigration Fragen zu, die gar nicht in Kategorien der Gerechtigkeit, sondern solchen der Selbstbestimmung und Mildtätigkeit49 zu verhandeln sind, oder solchen, die er mit wechselseitiger Hilfeleistung50 assoziiert, die eher51 kommutativer Gerechtigkeit zuzuordnen ist . Immigrationspolitik orientiere sich zu Recht52 wie Nachbarschaft an selbstbegründeter Assoziation,53 wie „clubs“54 an selbstbestimmter Reglementie-
34 Walzer (Fn . 32), engl . S . 14 bzw . dt . S . 19 . 35 Walzer (Fn . 32), engl . S . 14 bzw . dt . Übersetzung S . 20 „streng subjektive“ . 36 Walzer (Fn . 33), engl . S . 3 . Walzer sieht aber andernorts durchaus die Möglichkeit von „universal standards“ distributiver Gerechtigkeit auf globaler Ebene, die durch eine starke globale Hoheitsgewalt (strong government) befördert werden mag, wobei es in der Weltrepublik vermutlich am Willen fehle, sie zu realisieren (Michael Walzer, Governing the Globe, zit . nach dem Abdruck in: Ders., Arguing About War, New Haven 2004, S . 171–191, S . 177) . 37 Walzer (Fn . 32), engl . S . 14 bzw . dt . S . 20 . 38 Walzer (Fn . 32), engl . S . 7 bzw . dt . S . 32 . 39 Walzer (Fn . 32), engl . S . 8 bzw . dt . S . 33 . 40 Walzer (Fn . 32), engl . S . 10 bzw . dt . S . 36 . 41 Vgl . zu einer breiter angelegten Analyse Norbert Campagna, Prostitution: Eine philosophische Untersuchung, Berlin 2005 . 42 Walzer (Fn . 32), engl . S . 9 f . bzw . dt . S . 35 f . 43 Walzer (Fn . 32), engl . S . 31 „primary“ bzw . dt . S . 65 „erste und wichtigste“ . 44 Walzer (Fn . 32), engl . S . 31–63 bzw . dt . S . 65–107 . 45 Walzer (Fn . 32), engl . S . 32 „Whom should we admit?“ bzw . dt . S . 66 „Wem gewähren wir Aufnahme?“ 46 Walzer (Fn . 32), engl . S . 32 bzw . dt . S . 66 . 47 Walzer (Fn . 32), engl . S . 33 „distribution“ bzw . dt . S . 68 „Vergabe“ . 48 Walzer (Fn . 32), engl . S . 31 bzw . dt . S . 65 . 49 Walzer (Fn . 32), engl . S . 34 „charity“ bzw . dt . S . 69 „Mildtätigkeit“ . 50 Walzer (Fn . 32), engl . S . 34 bzw . dt . S . 69 . 51 Genauer unten Fn . 63 . 52 Walzer (Fn . 32), engl . S . 40 bzw . dt . S . 77 . 53 Walzer (Fn . 32), engl . S . 36 bzw . dt . S . 72 . 54 Walzer (Fn . 32), engl . S . 40 bzw . dt . S . 76 f . „Vereine“ .
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rung des Zugangs, aber nicht des Weggangs55 und wie „Familien“56 an „kinship“ .57 Das zeige sich etwa an der privilegierten Aufnahme der Pontos-Griechen in Griechenland oder der Statusdeutschen in Deutschland .58 Die national origin systems für Einwanderungsquoten der Vereinigten Staaten – unter universalistischen Gleichheits- und Antidiskriminierungsgesichtspunkten kritisiert und 1965 abgeschafft59 – zeigen allerdings, wie nötig normative Kritik solcher Mechanismen ist .60 Moralisch verpflichtend wirkt eine Nähe, die darauf beruht, dass durch Zutun der Aufnahmegesellschaft Menschen zu Flüchtlingen wurden, wie vietnamesische boat people 1975 aus amerikanischer Sicht .61 Das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention lässt sich auf dieser Basis noch nicht begründen .62 Aber es gibt bei Walzer das Prinzip wechselseitiger Hilfeleistung . Es wird in besonderen Situationen relevant, in denen (1) zwei Fremde einander als Fremde63 begegnen, (2) einer von beiden dringend Hilfe benötigt und (3) die Hilfeleistung für die helfende Partei mit geringen Kosten und Risiken verbunden ist .64 Indessen lassen sich weder diese Voraussetzungen noch der Inhalt der folgenden Pflicht präzise benennen . Das systematische Verhältnis der Hilfeleistung zur Sphärenlehre bleibt fast völlig im Dunkeln . Klar ergibt sich hieraus immerhin, dass Einwanderungspolitik, die im gemeinschaftlichen Selbstverständnis wurzelt, modifiziert65 und im Extremfall der „Asylanspruch praktisch unabweisbar“66 wird .
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Walzer (Fn . 54) . Walzer (Fn . 32), engl . S . 41 bzw . dt . S . 78 . Walzer (Fn . 32), engl . S . 41 bzw . dt . S . 78 f . „Verwandtschaft“ . Walzer (Fn . 32), engl . S . 42 bzw . dt . S . 79 f . Hiroshi Motomura, Viewing Country-Specific Immigration Arrangements in U .S .: Historical Perspective, Davis, Kalifornien 2010, S . 2, http://migration .ucdavis .edu/rs/files/2010/motomura-viewing-country-specific-immigration . pdf (Zugriff: 28 .06 .2011) . Walzer (Fn . 32), engl . S . 40 bzw . dt . S . 77 „moralisch … geprüft”, „ungerecht“ . Walzer (Fn . 32), engl . S . 49 bzw . dt . S . 89 . Vgl . Walzer (Fn . 32), engl . S . 49 bzw . dt . S . 89 „Vielleicht ist jedes Opfer von Autoritarismus und Bigotterie der moralische Gefährte des liberalen Bürgers […] Doch würde dies die Affinität überstrapazieren, und sogar ohne Not .“ Walzer (Fn . 32), engl . S . 33 bzw . dt . S . 67 „Abwesenheit jedweden Kooperationszusammenhangs“ . Hierin liegt der Unterschied zur aristotelischen Version ausgleichender Gerechtigkeit, die sich auf Vertragsverhältnisse bezieht (Aristoteles, Nikomachische Ethik: Übersetzung Franz Dirlmacher, Stuttgart 1999, Buch V, 1131a, S . 125 f .) . Walzer (Fn . 32), engl . S . 33 bzw . dt . S . 67 f . Walzer (Fn . 32), engl . S . 51 bzw . dt . S . 92 . Walzer (Fn . 32), engl . S . 51 bzw . dt . S . 91 .
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2.3 eine utilitaristiscHe position: peter und renata sinGer Peter und Renata Singer äußerten sich 198867 auf der Basis ihres68 Utilitarismus69 zur Flüchtlingspolitik . Peter Singer hatte zuvor formuliert, kein Versuch einer ethischen Theorie habe bisher allgemeine Anerkennung gefunden .70 Solle moralische Diskussion überhaupt möglich sein,71 so könne Ethik nur als universeller Standpunkt diskutiert werden .72 Ethische Standpunkte eines nur auf die Überzeugungen besonderer Gesellschaften bezogenen Relativismus73 und eines groben, allein auf individuellen Meinungen basierenden Subjektivismus74 seien nicht haltbar . Folglich sei von der Tatsache auszugehen, dass ich anstrebe, für meine Interessen zu sorgen . Dieses Bestreben müsse ausgedehnt75 und auch das je eigene Interesse aller anderen, die Interessen haben,76 als gleichermaßen77 relevant berücksichtigt78 werden . Dieses „provisorische Argument“79 bürde denen die Beweislast auf, die über den Utilitarismus hinauszugehen trachteten .80 Für die Immigrations- und Flüchtlingsproblematik bedeutet dies: „[W]e hold that immigration policy in general, and refugee intake in particular, should be based on the interests of all those affected […] . Where the interests of different parties conflict, we would attempt to give equal consideration to all […], which would mean that more pressing or … fundamental interests take precendence over those less pressing or fundamental .“81
67 Peter und Renata Singer, The Ethics of Refugee Policy, in: Mark Gibney (Hrsg .), Open Borders? Closed Societies? The Ethical and Political Issues, New York 1988, S . 111–130 . Sehr weit gehend hierauf beruht das hinzugefügte Kapitel “9 Die drinnen und die draußen” auf den Seiten 315–334 der als 2 . Auflage 1994 in Stuttgart auf Deutsch erschienenen Neuausgabe von Singer (Fn . 14) . 68 Zu einer ähnlichen Einstellung zu ein- und auswanderungspolitischen Fragestellungen vgl . die Position Gerald Elfsroms, dargestellt in: Roellecke (Fn . 3), S . 203–205 . 69 Ausdrücklich stellen die Singers ihren Ansatz in die Tradition J . Benthams, J . St . Mills (Singer [Fn . 14], S . 31) sowie H . Sidgwicks (Peter und Renata Singer [Fn . 67], S . 122; zu Sidgwicks eigenen Vorstellungen im Bereich Immigrationspolitik vgl . Henry Sidgwick, The elements of politics, London/New York 1891, S . 295–297), also des klassischen Utilitarismus . 70 Singer (Fn . 14), S . 28 . 71 Singer (Fn . 14), S . 23, in der Übersetzung der 1 . Aufl . 1984 stand hier statt „Diskussion“ „Begründung“ . 72 Singer (Fn . 14), S . 28 . 73 Singer (Fn . 14), S . 19–21 . 74 Singer (Fn . 14), S . 21–23 . 75 Singer (Fn . 14), S . 29 . 76 Singer (Fn . 14), S . 41 . Zur hieraus erwachsenden Relevanz des Präferenz-Utilitarismus für die Frage des Umgangs mit der Frage, ob das Töten einer Person oder das eines anderen leidensfähigen Wesens schlimmer ist, vgl . dort S . 129 . 77 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 122 „principle of equal consideration of interests” . 78 Singer (Fn . 14), S . 29 f . 79 Singer (Fn . 14), S . 31 . 80 Singer (Fn . 14), S . 31 . 81 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 121 f .; ähnl . 1994 dann Singer (Fn . 14), S . 326 .
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Zunächst müssten die Betroffenen82 wahrgenommen und identifiziert werden: Flüchtlinge,83 Einwohner des potentiellen Zufluchtsstaats,84 die ökologische Umwelt, welche für die zukünftigen Menschen im Aufnahmestaat und für leidensfähige Tiere von Bedeutung ist .85 Die Autoren kamen86 zu dem Ergebnis, dass ihr Ansatz eine viel offenere Flüchtlingsaufnahmepolitik zur Folge habe, da sie erst in einer extremen Situation zu einem Schaden für die Aufnahmegesellschaft führe .87 Gegenüber der Vorstellung, Flüchtlingsschutz beruhe gleichsam auf Gnade, betonen die Singers, dass es um moralische Verpflichtungen88 geht, und zwar nicht nur im Extremfall . So lässt sich Engagement für eine offenere Flüchtlingspolitik begründen . Wegen grundlegender Zweifel am „Begriff eines moralischen Rechts“89 lehnen Peter und Renata Singer es aber ab, sich hinter auf Rechten basierende Begründungen90 zu stellen und Rechte von Flüchtlingen zu begründen . Sie aber sind das, was hier ganz besonders interessiert . Aber haben sie nicht Recht? Wie Boswell und Walzer, so weiten auch die Singers den Blick für eine unvoreingenommene, einfühlsame und möglichst vollständige Wahrnehmung . Es bleiben aber Bedenken, welche den Utilitarismus allgemein treffen: Das Fehlen einer zureichenden „Begründung für das Nützlichkeitsprinzip“,91 der nicht fern liegende Vorwurf eines empiristischen Fehlschlusses92 und das Unvermögen anzugeben, „warum die Verletzung der Freiheit einiger […] nicht durch das größere Wohl vieler anderer gutgemacht werden könnte“,93 etwa bei Versklavung eines kleinen Teils der Gesellschaft, von der der Großteil der Gesellschaft profitierte .94 Utilitaristisch lässt sich die Gewichtung von Interessen, kein zu respektierendes Recht, wohl die Abwägung von Werten, nicht aber die Achtung95 von Würde begründen . Freiheit ist Uti82 „those whose interests are affected“, Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 122; ähnl . Singer (Fn . 14), S . 326 . 83 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 122; Singer (Fn . 14), S . 326 . 84 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 123; Singer (Fn . 14), S . 327 . 85 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 124 . 86 Ende der achtziger Jahre für Australien, Kanada, Neuseeland und die Vereinigten Staaten, vgl . Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 125 . 87 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 128; Singer (Fn . 14), S . 333 noch 1994 für „die hochentwickelten Länder“ . 88 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 128; Singer (Fn . 14), S . 334: „moralischen und geopolitischen Verpflichtungen und dazu noch Vorteile für die eigenen Gesellschaften“ . 89 Singer (Fn . 14), S . 130; hierauf und auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe weist zu Recht Joachim Hruschka, Utilitarismus in der Variante von Peter Singer, JZ 2001 (56), S . 261–271, S . 262 hin . 90 Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 121: „rights based arguments“ . Bei den abgelehnten „rights“ handelt es sich um solche der Aufnahmegesellschaft, ihre Mitgliedschaft festzulegen, aber auch um die gleichen Rechte aller auf das grundlegend zum Leben Notwendige . 91 Otfried Höffe, Artikel: Utilitarismus, in: Ders., Lexikon der Ethik, 5 . Aufl ., München 1997, S . 312 f ., S . 313 . 92 Otfried Höffe, Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus, in: Ders., Ethik und Politik: Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a . M . 1979, S . 120–159, S . 143 . 93 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge 1971; dt . Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1979, S . 44 . 94 Zutreffend Hruschka (Fn . 89), S . 262 . 95 Ähnlich, aber etwas spezifischer Hruschka (Fn . 89), S . 268: „besteht … kein Bedarf für einen Respekt vor der Autonomie .“
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litaristen nur erstrebenswert, sofern sie „zu besseren Ergebnissen“ führt .96 Das Fehlen eines kategorialen Anknüpfungspunktes lässt alles als bloßes Instrument erscheinen . Was, wenn eine Lüge in einem wissenschaftlichen Aufsatz verspräche, die Interessenlage insgesamt zu verbessern? Hruschka meinte deshalb gar, Singers Utilitarismus stehe unter der Vermutung der Lüge .97 2.4 GerecHtiGkeitstHeoretiscHe arGuMentation iM anscHluss an JoHn raWls? Rawls’ Werk ist für die Frage gerechter Regelung internationaler Migration und des Flüchtlingsschutzes enttäuschend98 unergiebig . Er beschränkt die Theorie der Gerechtigkeit99 darauf, „einen vernünftigen Gerechtigkeitsbegriff für die Grundstruktur der [demokratischen, R .K .]100 Gesellschaft“ „als geschlossenes System“ zu formulieren .101 Rawls macht das „Differenzprinzip“,102 das sonst vielleicht für die Forderung einer Öffnung für Einwanderung weniger Begüterter angeführt werden könnte,103 nicht für den Kontext der Migration fruchtbar . Unter den Grundfreiheiten,104 die aus dem vorrangigen105 Grundsatz „der gleichen Freiheit für alle“106 folgen, findet man kein Recht auf Schutz als Flüchtling, auf Einreise oder Einwanderung . Kosmopolitisch will Rawls nicht argumentieren .107 Er sieht sich in der Tradition Kants, wenn 96 Singer (Fn . 14), S . 135 . 97 Hruschka (Fn . 89), S . 270 . 98 Urteil von “many students of Rawls” in Seyla Benhabib, The Rights of Others, Cambridge 2004, S . 94 . 99 Rawls (Fn . 93) . 100 John Rawls, Das Völkerrecht, in: Stephen Shute/Susan Hurley, Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt a . M . 1996, S . 53–103, S . 57 . 101 Rawls (Fn . 93), dt . S . 24, dort beide Zitate . 102 Rawls (Fn . 93), dt . S . 96; vgl . zu einer frühen Formulierung S . 81; vgl . zu späteren Formulierungen S . 104 und S . 336 . 103 Erwogen bei Charles Beitz, Cosmopolitan ideals and national sentiment, Journal of Philosophy 1983 (80), S . 591–600, S . 595; Carens (Fn . 4), S . 258; Peter und Renata Singer (Fn . 67), S . 117, die hiervon “most of the 10 million refugees” erfasst sehen; Frederick G. Whelan, Citizenship and Freedom of Movement: An Open Admission Policy?, in: Mark Gibney (Hrsg .), Open Borders? Closed Societies? The Ethical and Political Issues, S . 3–39, S . 9; Roellecke (Fn . 3), S . 191, weitere Nachweise bei Günter Rieger, Einwanderung und Gerechtigkeit: Mitgliedschaftspolitik auf dem Prüfstand amerikanischer Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart, Opladen 1998, S . 278–281 . 104 Aufzählung bei Rawls (Fn . 93), dt . S . 82 . 105 Rawls (Fn . 93), dt . S . 275 . Die Vorrangregel wird auf S . 283 genauer ausformuliert . 106 Kurz Rawls (Fn . 93), dt . S . 283; ausf . Formulierung des 1 . Grundsatzes in Abschn . 11, S . 81 . Endgültig in Abschn . 46 auf S . 336: „Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist .“ 107 John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin 2002, S . 100 f ., ferner 148 f . Zuvor schon Rawls (Fn . 100), S . 61 f . (dagegen, „bei der Welt als ganzer zu beginnen“ statt von Gesellschaften auszugehen) . Ähnlich deutlich John Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Ders ., Die Idee des politischen Liberalismus: Aufsätze 1978–1989 (Hrsg . Wilfried Hirsch), 2 . Aufl ., Frankfurt a . M . 1997, S . 80–158, S . 83 f . Nicht das, was „unmittelbar und unter allen Umständen für uns“ gilt, sucht er (Rawls [Fn . 100], S . 56 f .), nicht eine Gerechtigkeitskonzeption, die gerechtfertigt wird durch “ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst … unsere Einsicht, daß diese Lehre […] die vernünftigste für uns ist“, was sich losgelöst von dem Verfahren, die Gerech-
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er eine Entwicklung in Richtung auf einen weltrechtlichen Zustand ablehnt und sich einen Weltstaat nur despotisch oder fragil und schwach vorstellen kann .108 Unter den Grundsätzen,109 auf die sich im Recht der Völker „liberale Völker“ „als Freie und Gleiche“ hinter dem Schleier des Unwissens110 einigen, findet man als Grundsatz 7: „Völker müssen Menschenrechte achten“ . Flüchtlingsschutz wird nicht erwähnt . In einer Fußnote äußert Rawls, Völker besäßen „zumindest ein eingeschränktes Recht […], Einwanderung zu begrenzen . Um welche Einschränkungen es sich […] handeln mag, sei dahingestellt .“111 Er leitet die Befugnis, Wanderung auch angesichts der Willkürlichkeit von Grenzen112 zu limitieren, aus der Eigentumsähnlichkeit des Staatsgebiets ab: „Wenn niemand die Verantwortung für ein Objekt besitzt und daher auch niemand befürchten muß, dieses Objekt zu verlieren, […] droht dem Objekt Verfall . In unserem Fall ist das Objekt das Staatsgebiet und dessen Fähigkeit, dem Volk auf Dauer als Lebensgrundlage zu dienen; der Eigentümer ist das staatlich organisierte Volk . Und das Volk muß einsehen, daß es Verantwortungslosigkeit im Umgang mit seinem Land und der Erhaltung der natürlichen Ressourcen nicht […] dadurch ausgleichen kann, daß es ohne Zustimmung in das Gebiet eines anderen Volkes auswandert .“113 Dem Menschenrecht „auf Auswanderung“,114 korrespondiert kein Menschenrecht, einwandern zu dürfen . So bleibt nur Rawls’ Hinweis, Menschenrechte formulierten in seiner Konzeption des Rechts der Völker „eine Klasse besonders dringender Rechte“ .115 An den Gedanken der Dringlichkeit anknüpfend, hat Günter Rieger gefolgert, es gebe für wohlgeordnete liberale Gesellschaften „eine Pflicht zur Notaufnahme, solange sie die Verwirklichung des menschenrechtlichen Minimalstandards nicht anderweitig gewährleisten können .“116 Für diese Pflicht ist allein der „Grad der existentiellen Bedrohung“ maßgeblich, nicht aber die Frage, ob die Bedrohung von einem Staat ausgeht, ob sie sich als politische Verfolgung qualifizieren lässt oder ob es um Flucht aus existenzieller Armut geht .117 Es bleiben Zweifel118 hinsichtlich des Fundaments dieser Argumentation: Im zwischenstaatlichen Recht können Menschenrechte nur schwach begründet erscheinen, als Ergebnis quasi eines Vertrags zu Gunsten Dritter – der Menschen – und zu Lasten der jeweiligen staatlichen Souveränität der Vertragsparteien . Ihre Legitimatigkeitsgrundsätze zu konstruieren, nicht bestimmen lässt (Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie a . a . O ., S . 85 .) . 108 Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 40 . 109 Auflistung bei Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 41 . 110 Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 36 . 111 Rawls (Fn . 100), S . 97 Fn . 18 zu S . 68 . 112 Rawls (Fn . 100), S . 68; Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 6 und S . 43 . 113 Rawls (Fn . 100), S . 68; fast wortgleich in Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 7, eng angelehnt dort S . 43 . 114 Rawls (Fn . 100), S . 75 und erneut S . 80 . 115 Rawls (Fn . 107), Das Recht der Völker, S . 96, wie etwa „die Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Freiheit (aber nicht die gleiche Freiheit) des Gewissens und die Sicherheit ethnischer Gruppen vor Massenmord und Genozid“ (ebda .) . 116 Rieger (Fn . 103), S . 292 . 117 Rieger (Fn . 103), S . 291; allenfalls Überlegungen der Praktikabilität mögen für solche Unterscheidungen relevant werden, wenn etwa Armutsflucht durch Hilfsleistungen besser abgeholfen werden kann als durch Aufnahme (ebda .) . 118 Rieger (Fn . 103), S . 283 .
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tion als Rechtspositionen der Individuen als solcher gegenüber Staaten und Völkern wird nicht deutlich . 2.5 eine an kant anknüpFende beGründunG des FlücHtlinGsrecHts Ein auf Kant aufbauender Ansatz teilt die zentralen Stärken der Theorie Rawls’, ohne ihre Schwächen aufzuweisen . Kant kennt ein innerstaatliches Staatsrecht, ein zwischenstaatliches Völkerrecht und, als „notwendige Ergänzung … zum öffentlichen Menschenrechte“,119 ein kosmopolitisches Weltbürgerrecht (WeltBR) . In seinem Kontext diskutiert Kant Fragen des Rechts internationaler Freizügigkeit einzelner . Kant sieht, soweit es das Thema zulässt, von empirisch zufälligen Gegebenheiten ab . Er versucht zu zeigen, dass es auch in einem vorstaatlichen Naturzustand schon Recht – „Privatrecht“ – geben kann, mit dem, wie überhaupt mit Recht, eine Zwangsbefugnis verbunden120 ist . Seine Legitimation erfährt alles Recht aus einem normativ-fiktiven ursprünglichen Vertrag (UV) aller dem Recht Unterworfenen . Lässt sich die Struktur der Rechtswirklichkeit unter diese Vorstellung subsumieren, befindet sie sich bereits im bürgerlichen, öffentlich-rechtlichen Zustand „Staat (civitas)“ .121 Im Naturzustand entsteht Recht durch erste Besitznahme . Deren Einseitigkeit widerspricht nicht dem Kriterium des allgemeinen Willens,122 weil sonst gar kein Recht möglich wäre, potentielle Gegenstände eines Rechts also nicht gebraucht123 werden dürften . Dies läge der Idee gleicher Freiheit noch ferner124 als die gleichheitswidrige Einseitigkeit125 erster Aneignung . Eine „lex permissiva“126 erlaubt die erste Besitznahme zur Begründung vorläufigen, aber wahren127 Rechts . Der UV bezieht sich letztlich auf das „ganze menschliche Geschlecht“ .128 Ein weltbürgerlicher Gedanke steht am Anfang allen Rechts . Allerdings legte Kant größten Wert auf das Verfahren, in dem Recht gesetzt wird .129 Im geforderten Staatsrecht geben sich freie, gleiche und selbständige Bür119 Immanuel Kant, ZeF, XI, 216, A 46, B 46 . Zur Zitierweise: Kants Schriften werden nach der Werkausgabe Wilhelm Weischedels zitiert . Dabei werden für die zitierten Schriften folgende Abkürzungen verwandt: Gemeinspruch = Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; KrV = Kritik der reinen Vernunft; MdS = Metaphysik der Sitten; MdS/RL = MdS, erster Bd ., Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; ZeF = Zum ewigen Frieden . Ein philosophischer Entwurf . Eine römische Ziffer gibt dann den Band besagter Werkausgabe an, auf die die Seitenzahl in ihr und im Falle einiger Schriften der ersten Auflage (A) und, etwa bei der KrV oder im Falle der MdS/RL auch der zweiten Aufl . (B) folgen wird, wie sie in der Weischedel-Ausgabe zu finden ist . Bd . IV ist nach der 13 . Aufl . 1995, Bd . VIII nach der 1 . Aufl . 1977, Bd . XI nach der 10 . Aufl . 1993 zitiert . 120 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 339, A B 35 . 121 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 429, A 161, B 191 . 122 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 359, A 64, B 64 . 123 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 359, A 64, B 64 „sonst zu herrenlosen Dingen” . 124 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 367, A 75, B 75 „komparativ“ . 125 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 365, A 73, B 73 . 126 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 378, A 92, B 92 . 127 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 375, A 87, B 87 . 128 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 378, A 90, B 90 . 129 Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt a . M . 1994, z . B . S . 252 .
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ger130 Gesetze . Ein „repräsentatives System des Volks“131 ist aber in einem Weltstaat nicht möglich, dessen Größe zu weniger „Nachdruck“ der Gesetze, schließlich zu Anarchie und Zerfall dieses Staates führe132 und von einer konkreten politischen Partizipation nichts übrig133 lässt: Nur ein bürokratischer „seelenloser Despotism“134 „auf dem Kirchhofe der Freiheit“135 ist hier vorstellbar, der – anders als beim „lebhaftesten Wetteifer“136 unabhängiger Staaten – die „Schwächung aller Kräfte“,137 ja die Ausrottung der „Keime des Guten“138 nach sich zieht: „die Untertänigkeit des Volks“,139 den „schrecklichsten Despotismus“ .140 Auch Fluchtmöglichkeiten wären in einem konsequent monistischen weltrechtlichen System unwahrscheinlich .141 Vorläufig kann Recht nur von partikularen Staaten gesetzt werden . Es bleibt – analog dem Naturzustand – dabei, dass partikulare Staaten einseitig über Aufenthaltsrechte entscheiden dürfen . Zwar sollen sie das Recht eines jeden, „die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen“, respektieren, welches ein kritisches Licht auf viele Restriktionen des geltenden Rechts wirft .142 Kant will aber „die Idee des Weltbürgerrechts“ nicht als eine „phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts“143 präsentieren . Das WeltBR ist eingeschränkt „auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität“,144 die Möglichkeit, einander als hospes, Besucher und Gastgeber, nicht als hostis, Feind, zu begegnen . Folglich muss ein Fremder ein Recht haben, „der Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen[,] nicht feindselig behandelt zu werden“,145 „so lange er … auf seinem Platz sich fried-
130 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 432, A 165 f ., B 195 f . oder ihre Abgeordneten, a . a . O ., 464, A 213, B 241 f . 131 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 464, A 213, B 242 . 132 Immanuel Kant, ZeF, XI, 225, A 62, B 63 . 133 Ingeborg Maus, Die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen: Oder: Die Transformation des Territorialstaates zur Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik 2001 (3), S . 313 ff ., S . 313 und S . 321 . Vgl . ferner Friedrich Tomberg, Brauchen wir eine Weltrepublik?, Das Argument 2001 (43), S . 217 ff ., S . 221 und Stefan Oeter, Internationale Organisation oder Weltföderation? in: Hauke Brunkhorst/Matthias Kettner (Hrsg .), Globalisierung und Demokratie, Frankfurt a . M . 2000, S . 208 ff . 134 Immanuel Kant, ZeF, XI, 225, A 62, B 63 . 135 Immanuel Kant, ZeF, XI, 226, A 63, B 64 f . 136 Immanuel Kant, ZeF, XI, 226, A 63, B 65 . 137 Immanuel Kant, ZeF, XI, 226, A 63, B 65 . 138 Immanuel Kant, ZeF, XI, 225, A 62, B 63 . 139 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 464, A 212, B 242 . 140 Immanuel Kant, Gemeinspruch, XI, 169, A 279 . 141 Hannah Arendt, Interview geführt von Adelbert Reif, in: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, 14 . Aufl ., München 2000, S . 107–133, S . 131; Federick G. Whelan, Citizenship and Freedom of Movement: An Open Admission Policy?, in: Mark Gibney (Hrsg .), Open Borders? Closed Societies? The Ethical and Political Issues, New York 1988, S . 3–39, S . 25 f ., hält wie Hannah Arendt a . a . O . die Wahrscheinlichkeit für größer, daß ein Weltstaat despotisch ist und jede Zufluchtsmöglichkeit zerstört, als dass in einer pluralistischen Welt alle Staaten gleichzeitig despotisch sind . 142 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, A 230, B 260; ähnl . ZeF, XI, 214, A 40, B 40 . 143 Immanuel Kant, ZeF, XI, 216, A 46, B 46 . 144 Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 . 145 Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 .
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lich verhält“ .146 Das antikolonialistische WeltBR impliziert kein „Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks“,147 das nur ein zu fairen Bedingungen abgeschlossener Vertrag148 mit denen, die bereits gesiedelt haben, begründen kann . Auch ein Gastrecht auf einen Aufenthalt, der mehr als einen Besuch zur Kontaktaufnahme oder Vertragsanbahnung umfasst, folgt nicht immer aus dem WeltBR . Ansässige dürfen demokratisch-autonom entscheiden und den Fremden auch „abweisen“ – und dann folgt die entscheidende Einschränkung: „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann“ .149 In diesem Nebensatz erfährt das WeltBR seine eigentlich rechtliche Relevanz,150 die Kant so sehr betont:151 Die Befugnis partikularer Staaten, einseitig über Aufenthaltsrechte zu bestimmen, ist begrenzt durch den universalistisch begründeten Zweck, vorläufig die Zuordnung von Aufenthaltsrechten zu Menschen überhaupt zu ermöglichen . Sie darf nicht die Einführung von Regelungen umfassen, mit denen der anstelle des Weltsystems distributiver Gerechtigkeit entscheidende Staat dem angeborenen Recht Betroffener jede Realisierungschance raubte . Dies täte er, wenn er einen Menschen durch Zurückweisung zum Untergang verdammte, ihn also in existenziellen Gütern wie Leib, Leben, körperliche oder psychische Unversehrtheit verletzte und gleichsam staatenlos152 machte . Kann das ursprüngliche Recht aller Menschen, da zu sein, „wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat“,153 nicht realisiert werden, so wird relevant, dass „ursprünglich […] niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als … andere“ .154 Sonst wäre ein Mensch mangels Aufenthaltsrechts insgesamt rechtlos gestellt, ihm wäre kein Recht zugeteilt, das partikulare öffentliche Recht verlöre insofern seine normative Begründung . Angesichts global vieler Gefährdeter wurde einst gegen das Asylrecht eingewandt, es sei nicht realisierbar . Normativ lasse sich ferner nicht beantworten, worauf der Zurechnungszusammenhang, „der den Anspruch des einen mit der Pflicht des anderen zusammenkoppelt – mit für beide Seiten überzeugenden, zumindest akzeptablen Gründen“,155 beruhe . Kants Rechtsidee und ihr Optimierungsdruck156 146 Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 . 147 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 476, A 230, B 260 . 148 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 477, A 231, B 261 . 149 Immanuel Kant, ZeF, XI, 213, A 40, B 40 . 150 Vgl . Gregor Noll, Why Refugees Still Matter: A Response to James Hathaway, Melbourne Journal of International Law 2007 (8), S . 536–547, S . 547: „Without the irregular movements of refugees …, the black box of cosmopolitan law would … vanish“ . Zur Flüchtlingsproblematik als Ort aufscheinender Evidenz des Individual-Weltbürgerrechts Keil (Fn . 31), S . 47, zu ihr als ideelnormatives „Kraftzentrum“ Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, Tübingen 2011, S . 104 . 151 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 475, A 229, B 259 . 152 Andrew E. Shacknove, Who is a Refuge? Ethics 1985 (95), S . 274–284, S . 283 . 153 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 373, A B 84 f . 154 Immanuel Kant, ZeF, XI, 214, A B 41 . 155 Winfried Brugger, Für Schutz der Flüchtlinge – gegen das Grundrecht auf Asyl! JZ 1993, S . 119– 123, S . 121 . 156 Rainer Keil, Die Rechtsidee bei Kant: Zur moralischen Rechtfertigung und Beurteilung des Rechts notwendige Ergänzung des reinen Verstandesbegriffs des Rechts, in: Jochen Bung/Brian Valerius/Sascha Ziemann (Hrsg .), Normativität und Rechtskritik, ARSP-Beiheft 2007 (114), S . 45–65, S . 58 .
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richten sich aber „gegen einen Ansatz, der auf Grund der theoretischen Schwierigkeit, Rechte und korrespondierende Pflichten zuzuordnen, … nahelegt, sich in der rechtspolitischen Praxis gleichgültig vom Problem abzuwenden und deren Existenz auch nicht herbeiführen und gegebenenfalls verteidigen zu wollen .“ Hierin besteht der Kerngedanke157 der vorläufigen moralischen Legitimation der sonst auch unzulässigen prima occupatio .158 Kants praktische Philosophie erlaubt nach alledem die Gewinnung normativer Gesichtspunkte der Beurteilung geltenden Rechts: eher vage hinsichtlich des allgemeinen Einreise- und Einwanderungsrechts, konkret159 mit Blick auf das Verbot der Zurückweisung von Migration wegen existenzieller Bedrohung .160 Wie Rawls in Riegers Lesart rechtfertigen sie hier keine161 weitere Differenzierung nach Gefährdungs- bzw . Verfolgungsgründen,162 politischer oder nicht politischer Verfolgung,163 réfugiés sur place und Vorverfolgten .164 Das Menschenrecht auf Schutz ist abwägungsfest, abgesehen von tragischen Situationen, in denen die Auflösung des demokratischen Staates oder die Verletzung elementarer Rechte von Menschen der Aufnahmegesellschaft droht . Anders als bei Rawls beruht rechtlicher Schutz auf einer weltbürgerlichmenschenrechtlichen Begründung . Diese aber untergräbt nicht mit einer Illusion Staaten und die supranationale Europäische Union als bestehende Strukturen der Annäherung an eine universelle Gerechtigkeit: Der kosmopolitische Gedanke modifiziert partikulares Recht, ersetzt es nicht weltstaatlich oder anarchistisch . Eine hierauf aufbauende Herangehenswiese dürfte der Sache am ehesten gerecht werden .
157 Immanuel Kant, MdS/RL, VIII, 364 f ., A B 72: “läßt sich nicht einsehen … muß aus dem Postulat der praktischen Vernunft gefolgert werden”; ähnlich bereits 361, A B 67 . 158 Ausführlicher in Keil (Fn . 31) . Dort auf S . 52 f . das Zitat . 159 Das fügt sich dazu, dass sich die menschliche Vernunft ruhig und distanziert verhält, sich aber nicht mit einem skeptizistischen „Grundsatz der Neutralität bei allen ihren Streitigkeiten“ (Immanuel Kant, KrV, IV, 643, A 756, B 784) selbst dergestalt ad absurdum führen lässt, dass sie es nicht erlaubte, eine dezidierte Stellungnahme zu begründen . 160 Vgl . zum nur hierauf abstellenden moralischen Flüchtlingsbegriff Gibney (Fn . 11), S . 7 f . 161 Keil (Fn . 31), S . 104, S . 106, S . 114 f . Zu überfordernden Extremsituationen S . 53 und S . 114 f . 162 Vgl . aber Art . 1 A Absatz 2 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28 . Juli 1951: „Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ . 163 So aber Art . 16a Abs . 1 GG . 164 So aber § 28 AsylVfG i . V . m . Art 5 Abs . 2 und 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29 . April 2004, Abl . EU L 304/12 .
tobias zürcHer* moralIscher relatIvIsmus, phIlosophIscher praGmatIsmus und unIverselle menschenrechte Menschenrechte, für die universelle Geltung beansprucht wird, sind dem Einwand des Relativismus ausgesetzt . Dieser kommt in unterschiedlichen Formulierungen daher und nicht alle Lesarten von Relativismus sind für universelle Menschenrechte gleichermassen bedrohlich . Während die Beschreibung unterschiedlicher normativer Praktiken kein direktes Argument gegen universelle Geltung liefert, scheinen sich aus relativistischer Perspektive einige normative Positionen anzubieten . Hier werden zunächst zwei Standartformen, einerseits der „Sprecherrelativismus“ und andererseits der „Gruppenrelativismus“ untersucht und zurückgewiesen . Beide Interpretationen weisen Defizite auf, die selbst für Relativisten nicht ohne Not akzeptiert werden können . Anschliessend folgt ein gründlicherer Blick auf die Struktur relativistischer Argumentation, wobei argumentiert wird, Relativismus liesse sich nicht kohärent formulieren . Mit dem philosophischen Pragmatismus, wie ihn Richard Rorty vertreten hat, wird schliesslich eine Position diskutiert, die sich grundsätzlich gegen den Sinn eines Begründungsprogramms wendet . Sollte der Pragmatismus Recht haben, wäre dies ein starkes Argument gegen klassisch universalistische Fundierungen und für die Stärkung praktischer Menschenrechtsarbeit . Es gibt aber gute Gründe, an diesem Ergebnis zu zweifeln .
1 dIe herausforderunG Im Januar 2011 besuchte der chinesische Präsident Hu Jintao seinen amerikanischen Kollegen Barack Obama in Washington . Neben wirtschaftlichen Themen kamen schliesslich auch die Menschenrechte zur Sprache, wenn auch reichlich vage und, zunächst jedenfalls, sehr einseitig . An der gemeinsamen Pressekonferenz positionierte sich Obama im Lager der Universalisten: „History shows that societies are more harmonious, nations are more successful, and the world is more just when the rights and responsibilities of all nations and all people are upheld, including the universal rights of every human being .”1 Anschliessend wurde auch der chinesische Präsident um eine Stellungnahme gebeten . Das Resultat: Schweigen, bzw . eine technische Panne und ein hilfreicher Journalist, der das Thema wechselt . Doch was hätte Hu Jintao Obamas Position entgegensetzten können? Gäbe es gute Gründe, die universalistische Position anzuzweifeln? Oder anders gefragt: Welche Gründe gibt es überhaupt, dass ein US-Amerikaner und eine Chinese sich über Menschenrechte unterhalten? Unter welchen Bedingungen könnte eine solche Debatte überhaupt sinnvoll sein? Falls es diese guten Gründe gibt, wäre ein gemeinsames Nachdenken über Menschenrechte und eine echte Auseinandersetzung möglich, die über das blosse Berichten von eigenen Erfahrungen mit Menschenrechtsthemen hinausgeht . Auf den folgenden Seiten werde ich mich mit den Argumenten auseinandersetzen, die einem Universalismus, wie ihn Obama angedeutet hat, hätten entgegengehalten werden können . Diese Argumente zusammen könnten wir als die Herausfor* 1
Herzlichen Dank an Jonathan Erhardt, Julia Hänni, Barbara Schüpfer und Stefan Schröter . Eine detaillierte Nachzeichnung dieser Pressekonferenz findet sich auf der Internetseite des Guardian unter: http://www .guardian .co .uk/world/richard-adams-blog/2011/jan/19/ hu-jintao-china-barack-obama-live (Zugriff: 26 .04 .2011) .
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derung an die Adresse Obamas verstehen; ihnen ist gemeinsam, dass sie alle verschiedenen Formulierungen eines Relativismus voraussetzen und aus diesem Grund die Geltung von universellen Menschenrechten in Zweifel ziehen .2 Dazu werde ich zunächst (2 .) die Relativismusthese möglichst allgemein formulieren und ausgehend davon zwei unterschiedliche Lesarten diskutieren, die ich beide mit einer Reihe von Argumenten zurückweise . Danach (3 .) erörtere ich ein allgemeines Problem, das sich beim Versuch ergibt, eine relativistische Position zu formulieren . Nachdem damit die relativistische Skepsis an der Fundierung von universellen Menschenrechten etwas geschwächt sein sollte, wende ich mich (4 .) mit dem philosophischen Pragmatismus einer Position zu, die die Notwendigkeit einer solchen Begründung überhaupt in Frage stellt und sich damit dem Streit zwischen Universalismus und Relativismus zu entziehen versucht . Schliesslich (5 .) versuche ich eine Antwort darauf zu geben, wer in der Debatte die besseren Karten hat . 2 moralIscher relatIvIsmus Eine sehr allgemeine Formulierung des moralischen Relativismus, die definitorisch keine Theorie unzulässig bevorzugen oder benachteiligen sollte, lautet folgendermassen: „Was in der einen Kultur moralisch richtig ist, ist moralisch falsch in einer anderen . Es gibt keine absoluten Standards .“ Wie ist eine solche Aussage zu verstehen? Ich schlage vor, zunächst eine deskriptive von einer normativen Lesart zu unterscheiden und werde im Folgenden dafür argumentieren, dass beide Lesarten unhaltbar sind oder zumindest Aspekte ausser Acht lassen, die (auch) für Anhänger einer relativistischen Position von Bedeutung sind oder sein sollten . 2.1 deskriptive lesart Einer deskriptiven Interpretation zufolge bedeutet der erwähnte Satz, dass es faktisch eine Vielfalt von Moral- und Rechtskulturen gibt . Damit wird eine anthropologische These über die unterschiedliche Verbreitung von Normsystemen oder eine psychologische These über das Vorkommen von moralischen Überzeugungen aufgestellt . Wir alle wissen, dass diese These, zumindest oberflächlich betrachtet, zweifellos wahr ist; wir brauchen nicht weit zu reisen, um mit unterschiedlichen Sitten konfrontiert zu werden und auf Menschen mit moralischen Überzeugungen zu stossen, die sich von den unseren unterscheiden . Schwieriger zu entscheiden ist, ob diese Beschreibung auch in einem fundamentalen Sinne wahr ist . Sie ist es genau dann, wenn empirisch ausgeschlossen werden kann, dass es sogenannte Universalien gibt, also kulturunabhängige, universell verbreitete Normen oder Überzeugungen, die entweder im Alltag gut sichtbar sind oder aber gleichsam unter der Oberfläche der Normpraxis, als fundamentale Wertungen, existieren .3 2 3
Im Folgenden wird klar werden, weshalb es dabei nicht um die Frage der (beinahe) universellen Positivierung einiger Menschenrechte geht, sondern um einen prinzipiellen Einwand gegen die Begründung universeller Menschenrechte . Für eine optimistische Position, was die Existenz von Universalien angeht, vgl . Alison Dundes
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Nehmen wir aber einmal an, es gäbe tatsächlich keine Universalien: Was folgt aus dieser Beobachtung für den universalistischen Standpunkt? Zunächst gar nichts . Erst wenn wir eine normative Prämisse einführen, die besagt, dass die Regeln, wie sie de facto gelebt werden, auch die richtigen Regeln sind, wäre der Universalismus – der ja gerade behauptet, dass es universelle richtige Regeln gibt – falsch . Diese Prämisse ohne weiter Begründung einzuführen, ist aber unplausibel . Wir würden lediglich die Beschreibung mit einem normativen Zusatz (wie gut oder richtig) versehen und damit geradezu einen Sein-Sollen-Fehlschluss in Reinform produzieren . Denn der Fehler bestünde nicht darin, dass wir, von einer Beschreibung (einem Seinssatz) ausgehend, mit argumentativen Schritten zu einer Norm (einem Sollenssatz) gelangen, sondern dass wir dies ohne jede Erklärung tun .4 Ohne Angabe dieser Erklärung hätten wir keine eigentliche Theorie über die Geltung von Normen, sondern lediglich eine normativ verkleidete Beschreibung, die wir natürlich sofort aufgeben müssten, wenn sich herausstellen sollte, dass es doch Universalien gibt . Wenden wir uns also Lesarten der allgemeinen Relativismusformulierung zu, die solche Erklärungen anbieten, indem sie die Bedingungen für Wahrheit einer moralischen Überzeugung angeben . 2.2 zWei norMative lesarten Relativisten, die eine normative Lesart vertreten – und nur eine solche bedroht den Universalismus –, begründen dies oftmals damit, dass die Wahrheit einer Überzeugung relativ zu etwas bestimmt wird und damit auch die formulierbaren Normen (über moralische und rechtliche Fragen) relativ zu etwas wahr oder falsch sind . Woraus könnte sich diese Relativität nun ergeben? Was sollte der Standard sein, nach dem bemessen werden soll, ob unsere Überzeugungen korrekt sind? Ich werde in den beiden folgenden Abschnitten auf zwei Möglichkeiten eingehen, worunter, wie ich meine, die meisten Verständnisse von Relativismus gefasst werden können . 2 .2 .1 Sprecherrelativismus Nach dem Sprecherrelativismus ist der Standard (oder Wahrmacher) für eine moralische Überzeugung in der Person begründet, die diese Überzeugung hat . Indem wir weiter annehmen, dass solche Urteile normalerweise nicht völlig zufällig und unzusammenhängend geäussert werden, gilt dasselbe nicht nur für Überzeugungen, sondern auf für Normen (oder allgemeinere Wertungen) dieser Person, auf denen dieses Urteil basiert und die durch die Überzeugung zum Ausdruck gebracht werden . Das bedeutet, dass der Satz „Die Todesstrafe ist (manchmal) gerecht“ dann korrekt ist, wenn er mit der allgemeineren Wertung der Person, die ihn äussert, übereinstimmt . Diese Person müsste also über ein entsprechendes Überzeugungssystem verfügen, das es zulässt, dass die Todesstrafe (in manchen Fällen) die moralisch richtige Strafe ist . Die Richtigkeit dieses Urteils ist also von der Person abhängig, die es äussert
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Renteln, Relativism and the Search for Human Rights, American Anthropologist 1988 (Vol . 90 No . 1), S . 56–72 . Vgl . David Hume, A Treatise of Human Nature, in: David Fate Norton/Mary J. Norton (Hrsg .), Oxford 2000, S . 302 (Book III Part I Sec . I) .
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(oder hat) . Diese Auffassung mag vielleicht von Vornherein abwegig erscheinen, doch weshalb ist sie genau falsch? Der Sprecherrelativismus überzeugt aus verschiedenen Gründen nicht . Zunächst liefert er uns eine ziemlich seltsame Beschreibung unserer Gespräche über moralische Fragen . Solche Gespräche (über die Todesstrafe oder über den Umfang von Meinungsfreiheit) wären zwar nicht per se ausgeschlossen, doch sie würden anderen Regeln folgen: Eine Befürworterin der Todesstrafe könnte wahre Sätze über die Todesstrafe äussern, auf die sich ein Gegner der Todesstrafe auch beziehen könnte . Gleichzeitig könnte dieser aber gegenteilige, ebenfalls wahre Sätze äussern . Eine Aussenstehende könnte die Äusserungen der beiden in diesem Dialog (wäre es noch einer?) paraphrasieren, indem sie die Urteile mit „wahr für mich“ und „wahr für dich“ ergänzt . Ein solches Gespräch könne keine echte Debatte werden; es wäre sinnlos, den anderen überzeugen zu wollen . Wir stehen vor folgendem Dilemma: Entweder verstehen wir die Sätze der beiden Sprecher als solche über denselben Gegenstand und erhalten damit die Aussage P und eine kontradiktorische nicht-P, die beide wahr sind . Oder wir interpretieren die Sätze als solche über zwei unterschiedliche Gegenstände – es gäbe von beiden Sprechern ein je eigens konstituiertes Thema – wobei wiederum beide Aussagen wahr sind . Doch beide Deutungen sind unplausibel: Im ersten Fall müssten wir den Satz des Widerspruchs aufgeben, da eine Aussage und ihr Gegenteil zum selben Gegenstand wahr sein müssten, und im zweiten Fall wäre unklar, wie es echten Dissens zu einem Thema, wie die Frage der Richtigkeit der Todesstrafe überhaupt geben könnte . Weiter wäre es begrifflich ausgeschlossen, dass eine Person, die ein solches Urteil äussert, sich jemals irrt oder in moralischen Belangen unwissend wäre . Möglich wäre lediglich, zu einer Frage keine Meinung zu haben oder allenfalls, sich an Vergessenes wieder zu erinnern . Prozesse des Umdenkens oder des Lernens würden aber nicht als „innere“ Auseinandersetzungen beschrieben werden können . Die Urteile einer Person würden einander völlig gleichgestellt zeitlich aufeinander folgen . Wir könnten sie protokollieren, kommentieren, doch bewerten könnten wir sie nur im Vergleich zu unseren eigenen Überzeugungen . Diese Bewertung hätte etwas höchst Künstliches; sie wäre eher ein Bericht über unsere Urteile als über die anderen, denn das Bewertete bliebe immerzu richtig . Auch für die Sprecher selbst würde der Sprecherrelativismus eine unbefriedigende Deutung ihres Tuns liefern . Wer sich über die Todesstrafe äussert, berichtet für gewöhnlich nicht nur über einen Teil seines Überzeugungssystems (und was sich daraus alles ergibt), sondern erhebt einen normativen Anspruch . Die Äusserung ist (auch) eine über die Welt, die auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen ist, dass die Todesstrafe richtig oder falsch ist . Das Urteil soll nicht deshalb richtig sein, weil ich es sage, sondern weil es auf für andere Menschen richtig sein kann . Es ist ein rationales „Angebot“, das seine Rechtfertigung nicht nur in der blossen Tatsache trägt, dass es schlicht geäussert wird . Es mag zwar sein, dass manche normativen Urteile durchaus auf diese Art „privat“ funktionieren, wenn etwa jemand meint, sie möge lieber Bier als Wein . Doch damit wird üblicherweise gerade kein Anspruch auf Generalisierung erhoben; es soll weder jemand überzeugt werden, noch muss für dieses Urteil eine besondere Rechtfertigung erbracht werden . Bei moralischen Überzeugungen möchten wir es aber nicht bei einem solchen Bericht belassen . Deshalb muss auch ein relativistischer Sprecher, der nicht bloss über „Privates“ berichten will, die Deutung seiner Position als Sprecher-
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relativismus zurückweisen; sie vermag für ihn keine befriedigende Beschreibung zu geben, dessen was er eben meint, wenn er sagt, die Todesstrafe sei richtig oder falsch . 2 .2 .2 Gruppenrelativismus Die wohl am häufigsten vertretene Variante des Relativismus ist der Kulturrelativismus oder Gruppenrelativismus, wie ich ihn im Folgenden nennen möchte . Dieser behauptet, dass eine Konvention oder ein moralischer Code einer Gruppe die Wahrheit oder Falschheit von moralischen Urteilen bestimmt . Was bedeutet das nun für unser Beispiel? Ob das Urteil „Die Todesstrafe ist (manchmal) gerecht“ wahr oder falsch ist, hängt nach dem Gruppenrelativismus davon ab, welcher Gruppe die Person zugehörig ist, die das Urteil äussert (oder die Überzeugung hat) .5 Dieses Urteil wäre also dann wahr, wenn es von einem Chinesen formuliert, aber falsch, wenn es von einer Norwegerin geäussert wird . Zweifellos ist die Rede von „Norwegern“ und „Chinesen“ eine massive Vereinfachung; Gruppen müssten wesentlich differenzierter bestimmt werden . Ausserdem sind Menschen niemals Angehörige nur einer Gruppe, sondern vieler .6 Doch es wäre zu einfach, den Gruppenrelativismus schon alleine deswegen zurückzuweisen . Zweifellos birgt dieser Umstand praktische Probleme, etwa wenn bestimmt werden müsste, welche Gruppenzugehörigkeit die einschlägige ist oder welche Norm die Gruppe überhaupt befolgt . Unklar könnte etwa sein, was in einem Staat gilt, der die Todesstrafe zwar gesetzlich vorsieht, diese aber nicht (mehr) praktiziert . Die Differenzierung darf ausserdem nicht allzu weit gehen, da die Position sonst droht, auf den Sprecherrelativismus reduziert zu werden . Doch auch wenn wir diese Probleme nicht als prinzipielle ansehen, gibt es einige grundsätzlichere Einwände gegen den Gruppenrelativismus . Sobald die Gruppe massgeblich die Richtigkeit von moralischen Urteilen bestimmt, können wir nicht mehr zwischen der Genese von Normen und deren Geltung unterscheiden .7 Ein moralisches Urteil für wahr zu halten, fällt dann mit dem Verweis auf eine historisch entstandene gefestigte (Gruppen-)Meinung zusammen . Wer bereit ist, das als Konsequenz dieser Theorie hinzunehmen, müsste strikt darauf verzichten, die Konventionen anderer Gruppen zu kritisieren . Es wäre zwar möglich, ein anderslautendes Urteil zu äussern, doch dieses würde die Richtigkeit der Konvention nicht betreffen . Ganz ähnlich würde es einem Angehörigen dieser Gruppe gehen, der nicht die Gruppenmeinung vertritt . Die Meinung dieses Reformers wäre per definitionem falsch: Ein Chinese könnte keine wahren Urteile gegen die Todesstrafe äussern und eine Norwegerin keine wahren dafür . Dieses Problem würde wiederum durch eine differenzierte Bestimmung der Gruppe nicht gelöst sondern lediglich verschoben . Es bleibt in jedem Fall dabei, dass eine zur Gruppe abweichende Meinung irrtüm5
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Statt der Gruppenzugehörigkeit des Sprechers könnte auch die Kultur oder Gruppe des Kontextes, worüber das Urteil geäussert wird, als Bezugspunkt dienen . Wenn sich also eine Norwegerin über die Mädchenbeschneidung in der Subsahara äussert, wäre die dortige Konvention massgebend . Diese Variante ist aber mutatis mutandis denselben Einwänden ausgesetzt, die ich im Folgenden diskutiere . Ein Plädoyer für diese Sicht lieferte kürzlich Amartya Sen mit seinem Buch Die Identitätsfalle: Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007 . Die Aussage, eine Normpraxis habe sich auf eine bestimmte Art und Weise entwickelt ist eine ganz andere als die Aussage, diese Normpraxis sei richtig . Vgl . James Griffin, On Human Rights, Oxford 2008, S . 133 f .
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lich wäre, ohne dass dafür weitere Gründe angegeben werden müssen . Das ist schon für den Fall des „einsamen Propheten“ unplausibel (warum annehmen, dass er immer irrt?) und erst recht falls zwei oder mehrere die Reformmeinung vertreten . Bei welchem Anteil von Unstimmigkeit würden wir dazu übergehen, statt von falschen (Reform-)Urteilen von einer Unbestimmtheit der Gruppenposition zu sprechen? All diese Erwägungen könnten nicht anders als arbiträr sein . Es stellt sich also heraus, dass die beim Sprecherrelativismus angesprochenen Probleme bezüglich des Umdenkens, Nichtwissens und mit Blick auf (interne) Meinungsverschiedenheiten auch den Gruppenrelativismus betreffen . Im nächsten Teil soll deshalb ein Problem angesprochen werden, das die Struktur der relativistischen Theorien insgesamt betrifft . 3 relatIvIsmus ohne „aBsoluten“ Gehalt? Woran liegt es, dass die beiden „Standardinterpretationen“ scheitern? Was hat dieser Befund mit dem Relativismus generell zu tun? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Fragen zunächst das grundsätzliche Argumentationsziel eines jeden Relativismus: das Vermeiden von absoluten Gehalten . Die Herausforderung, die sich für Relativisten stellt, besteht darin, dass sie das vermeiden müssen, was ich im Folgenden absolute Sätze (oder Gehalte) nenne . Damit meine ich Sätze wie „Unschuldige töten ist ungerecht“, „Meinungsfreiheit ist gut“ oder „Foltern ist falsch“, die ohne eine weitere Einschränkung gelten sollen . Es sind Sätze in der Form „A ist F“, wobei A eine Handlung oder einen Zustand bezeichnet und F die moralische Bewertung (gut, gerecht etc .) . Falls es solche wahre Sätze gibt, wäre der Relativismus falsch . Dafür würde es theoretisch genügen, wenn es einen einzigen solchen wahren Satz gäbe . Eine relativistische Theorie ist dann akzeptabel, wenn sie solche Sätze vermeidet und gleichwohl widerspruchsfrei formulierbar ist . 3.1 erGänzunG absoluter sätze Eine Möglichkeit, wie absolute Sätze vermieden werden könnten, besteht darin, diese Sätze als Ellipse eines anderen vollständigen Satzes zu lesen, der um einen relativen Zusatz erweitert ist . Der Satz „Foltern ist falsch“ wird ergänzt zu „Foltern ist gemäss Konvention X falsch“ .8 Gemäss diesem ergänzten Satz ist es also nicht für alle Kontexte (seien sie nun durch unterschiedliche Sprecher oder Gruppen bestimmt) falsch, zu foltern . Doch was gewinnen Relativisten durch diese Ergänzung? Die Frage ist, was der Zusatz „gemäss Konvention X“ leisten könnte . Um dies zu klären, könnten wir nun versuchen, die Inhalte der Konvention X auf einer Liste zusammenzufassen . Falls das obige Urteil den Inhalt der Konvention korrekt wiedergibt, würden wir unter anderem einen Satz finden, der „Foltern ist falsch“ (oder ähnlich) lautet . Denn nur weil die Konvention X diesen Satz enthält, ist es ihr ge8
Eine gründliche (sprachanalytische) Auseinandersetzung mit Relativismus in der Moral und Erkenntnistheorie unternimmt Paul Boghossian, What is Relativism?, in: Patrick Greenough/Michale Lynch (Hrsg .), Truth and Relativism, Oxford 2006, S . 13–37 . Für die Ergänzungsstrategie (mit etwas anderen Akzenten) vgl . S . 28 ff .
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mäss falsch, zu foltern . Nun wird aber dieser Satz selbst den Zusatz „gemäss Konvention X“ nicht enthalten; er lautet lediglich dahingehend, dass Foltern (einfach so) falsch ist . Es handelt sich also um nichts anderes als um einen absoluten Satz und wir können uns fragen, ob er wahr oder falsch ist . Einen solchen Satz darf es aber dem Relativismus zufolge nicht geben . Denn wenn er wahr ist, dann ist er dies kontextunabhängig; und dass er Teil der Konvention X ist – also gleichsam auf der Liste X steht – ist dafür irrelevant . Es bleibt also nichts anderes, als die Ergänzungsstrategie weiterzuführen . Der Satz „Foltern ist falsch“ aus der Konvention X muss ergänzt werden mit einem relativen Zusatz . Er könnte dann lauten: „Foltern ist gemäss Code Y falsch“ . Schauen wir uns den Code Y aber an, so werden wir sehen, dass dieser ebenfalls den Satz „Foltern ist falsch“ (oder einen ähnlichen) enthalten müsste, damit der Satz mit dem Verweis auf Y wahr ist . Es reicht, wie gesagt, dass der Satz in X und Y dem Satz „Foltern ist falsch“ jeweils ähnlich ist, da auch aus Sätzen wie „starke Schmerzen zufügen ist falsch“ oder „Die Menschenwürde ist zu achten“ jener über die Folter abgeleitet werden könnte . Wie auch immer diese Sätze genau formuliert sind, sie werden immer als absolute formuliert sein und deshalb weiter ergänzt werden müssen . Und weil dieser Prozess nicht gestoppt werden darf, mündet diese Strategie in einem infiniten Regress . 3.2 norMakzeptanz und WaHrHeit Bisher war davon die Rede, dass der Relativismus die Wahrheitsbedingungen relativ zu etwas vorgibt . Wir könnten nun aber diesen Punkt bestreiten und behaupten, dass besagte Urteile gar nicht wahr oder falsch sein können .9 Diese nonkognitivistische Position findet sich beispielsweise im Emotivismus von Alfred Ayer . Dieser meint, dass Sätze der Ethik keine Propositionen seien und daher nicht wahrheitswertfähig sind . Der normative Aspekt des Satzes „Foltern ist falsch“ trägt nichts zum propositionalen Gehalt des Satzes bei, sondern unterstreicht lediglich die Ernsthaftigkeit oder Dringlichkeit, mit der der Satz geäussert wird .10 Ganz ähnlich lautet Wittgensteins Befund im Tractatus: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat (…)“11 . In beiden Fällen stellen moralische Sätze also nichts dar, was mit „philosophischen Mitteln“ befriedigend angegangen werden könnte .
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Möglich wäre auch, eine „Irrtumstheorie“ zu vertreten, wonach alle moralischen Überzeugungen falsch sind, vgl . John Leslie Mackie, Ethik: Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart 1981 . Doch warum sollten wir Überzeugungen zu moralischen Fragen haben, die wir (prinzipiell) für unwahr (irrtümlich) halten? Denn es reicht dafür nicht, einfach keine Meinung zu haben: Wir müssen gleichzeitig überzeugt sein, dass foltern falsch ist und aus (anderen Gründen) davon überzeugt sein, dass sämtliche Überzeugungen zur Bewertung von Folter falsch sind, also auch die eigene . 10 Vgl . Alfred J. Ayer, Sprache: Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970, insb . Kapitel 6 (Kritik der Ethik und Theologie) . 11 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a . M . 2006, S . 85 [6 .53] .
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Es ist unmöglich, hier in gebotener Kürze zu diskutieren, ob der Nonkongitivismus überzeugt und damit einen valablen Ausweg für die Relativisten bietet . Auf ein Problem möchte ich aber trotzdem zu sprechen kommen: Die Frage, warum wir Normen akzeptieren . Falls wir den nonkognitivistischen Weg einschlagen, könnte es unklar sein, weshalb wir uns überhaupt Normen zu eigenen machen .12 Warum sollten wir die Überzeugung haben, dass Foltern falsch ist, wenn nicht deshalb, weil sie richtig (oder eben wahr) ist? Wir könnten versuchen, auf eine Reihe anderer (sozialer) Gründe zu verweisen, warum wir diese Überzeugung haben; etwa weil diese Überzeugung bisher nützlich war oder weil wir damit mit unseren Freunden übereinstimmen . Dennoch bleibt damit der Umstand erklärungsbedürftig, dass wir normalerweise nur dann von etwas überzeugt sind, wenn wir es für wahr halten oder uns zumindest eine hinreichende rationale Rechtfertigung zu Recht legen . Und selbst wenn dies nicht so sein sollte, wäre es vernünftig, unsere Überzeugungen an diesem Standard zu messen . Eine weitere Möglichkeit, Normen als nicht wahrheitswertfähige Sätze zu verstehen, wäre, sie als Imperative zu verstehen . Der Satz „Foltern ist falsch“ würde somit durch den Satz „Foltere nicht!“ ersetzt . Hier stellt sich allerdings das Problem, dass wir diese Sätze nicht mehr ohne weiteres von anderen normativen Sätzen der Ästhetik („Iss Spaghetti nicht mit dem Messer!“) oder der Klugheit („Nimm den Bus, wenn du in Eile bist!“) unterscheiden könnten, was im Vergleich von Sätzen über das Foltern mit Sätzen der Etikette unbefriedigend ist . Mit dem Imperativ-Verständnis wäre zudem abermals das Problem der Motivation zu lösen . Warum sollten wir uns bestimmten Imperativen unterwerfen und anderen nicht? „Weil sie richtig sind“ steht als Antwort nicht mehr zur Verfügung . Welche Art von guten Gründen könnte es aber dafür geben? Ein Ausweichen auf eine kantische Linie („weil es gemäss dem kategorischen Imperativ vernünftig ist“) wäre universalistisch und kommt deshalb nicht mehr in Frage . Die Motivation müsste also relativ zum Überzeugungssystem des Sprechers erklärt werden, was zu bereits bekannten Problemen führt . 4 GeGen eIne fundIerunG: der praGmatIstIsche eInwand Die Debatte zwischen Relativisten und Universalisten über die Geltung von Menschenrechten ist eine über die Begründung oder die Fundierung von Normen . In diesem Sinn steht sie in der langen philosophischen Tradition, wonach zu klären ist, was ist, und was wir wissen . Demgegenüber macht nun der philosophische Pragmatismus geltend, dass dieses Unterfangen grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sei und schlägt einen Strategiewechsel vor . Bevor wir uns der pragmatistischen Position zu den Menschenrechten annehmen, will ich kurz umreissen, worum es dem Pragmatismus grundsätzlich geht . Dabei beziehe ich mich primär auf den führenden Exponenten dieser Strömung der letzten fünfzig Jahre: Richard Rorty .
12 Natürlich könnten wir auch darauf verzichten, überhaupt irgendwelche Normen zu akzeptieren; ein Preis, der wohl kaum jemand zu zahlen bereit ist .
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4.1 Was ist pHilosopHiscHer praGMatisMus? Auf Arbeiten von Charles Sanders Pierce, William James und John Dewey basierend, ist der Pragmatismus keine einheitliche philosophische Theorie, sondern mehr eine „Einladung, eine bestimmte Perspektive einzunehmen“13 . Es geht darum, eine bestimmte Sorte von klassischen philosophischen Problemen der Ontologie und der Erkenntnistheorie auf eine grundsätzlich andere Art anzugehen als bisher . Pragmatisten verfolgen nicht Erkenntnis, wie das Philosophen seit Platon getan haben, sondern verstehen Erkenntnis als Instrument zur Anpassung des Menschen an seine Umwelt . Für sie steht die Frage im Vordergrund, ob eine Überzeugung einen praktischen Unterschied macht – und nicht, ob sie korrekt abbildet, was wirklich ist . Denn ein solches unabhängiges Sein gibt es dem Pragmatismus zufolge nicht, da alles „durch und durch relational“14 ist . Es gibt kein Wesen der Dinge, das zu erkunden wäre . Dieser Antiessentialismus führt dazu, dass Rechtfertigung von Überzeugungen, aber auch von Handlungen, nicht durch Nachweis der Übereinstimmung mit einer nichtrelationalen Wirklichkeit gedacht wird . Wissen und Handlungsanleitungen sind vielmehr dann gerechtfertigt, wenn sie nützlich sind, d . h . wenn sie uns dazu dienen, uns an „die Verhältnisse“ anzupassen . Was bedeutet das nun mit Blick auf die Moralphilosophie? Zum einen, dass es keine absoluten Sätze gibt, wie wir sie dem Relativismus gegenüber gestellt haben . Moralische Überzeugungen zielen ausserdem, ebenso wie Erkenntnis, nicht auf Objektivität . Richard Rorty führt diesen Gedanken in einem 1991 erschienen Aufsatz „Solidarity or Objectivity?“ aus .15 Er meint, dass wir Menschen uns auf zwei grundsätzliche verschiedene Arten mit uns selbst auseinandersetzten können . Wir können uns entweder als Mitglieder einer (realen oder fiktiven) Gemeinschaft verstehen oder uns in Relation zu einer nicht-menschlichen Umwelt denken . Dabei basiert die erste Betrachtungsweise auf dem Wunsch nach Solidarität, die zweite hingegen auf dem Wunsch nach Objektivität .16 Rorty meint nun, dass Objektivität hinter Solidarität zurückzustehen habe .17 Wahrheit und Rechtfertigung, die dem objektivistischen Programm zuzuordnen wären, sind damit nur noch mit Blick auf das auf Solidarität ausgerichtete Projekt zu verstehen; für sich alleine brauchen wir sie nicht mehr . Das ist eine folgenschwere Annahme: Mit der Absage an Objektivität bekennt sich Rorty zu einem Ethnozentrismus mit der Behauptung, „that there ist nothing to be said about either truth or rationality apart from descriptions of the familiar procedures of justification which a given society – ours – uses in one or another area of inquiry .“18 Indem es keinen objektiven, ahistorischen Standpunkt gibt, um Standards miteinander zu vergleichen, bekennt sich Rorty zu einer (zirkulären) Bevorzu13 Andreas Graeser, Positionen der Gegenwartsphilosophie: Vom Pragmatismus bis zur Postmoderne, München 2002, S . 18, vgl . S . 18 ff . für eine kurze Einführung . 14 Richard Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis: Eine Einführung in die pragmatische Philosophie IWM-Vorlesungen zur modernen Philosophie, Wien 1994, S . 68 . 15 Richard Rorty, Solidarity or Objectivity?, in: Ders ., Objectivity, Relativism, and Truth Philosophical Papers I, Cambridge 1991 . 16 Vgl . Rorty (Fn . 15), S . 21 . 17 “Those who wish to reduce objectivity to solidarity – call them „pragmatists“ – do not require either a metaphysics or an epistemology . They view truth as, in William James‘ phrase, what is good for us to believe .” Rorty (Fn . 15), S . 22 . 18 Vgl . Rorty (Fn . 15), S . 23 .
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gung des eigenen Standpunkts vor dem Hintergrund des eigenen Standpunkts, mit der Begründung, dass es eine andere, nicht-zirkuläre Rechtfertigung eines Standpunkts nicht gibt .19 4.2 HoFFnunG auF eine MenscHenrectHskultur Wie steht nun aber der Pragmatismus zu den Menschenrechten? Man könnte vielleicht annehmen, dass der erwähnte Ethnozentrismus dazu führt, universellen Menschenrechten gegenüber skeptisch zu sein . Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Bevorzugung des eigenen Standpunkts bedeutet nicht, ihn zu relativieren . Einzig die Strategie, wie Menschenrechte stark gemacht werden sollen, liegt nicht darin, sie gemäss dem klassischen Rechtfertigungsprogramm zu fundieren . Rorty stellt diesem auf Objektivität gerichteten Programm die Hoffnung auf eine sich fortentwickelnde Menschenrechtskultur entgegen . Diese Hoffnung ist darauf gerichtet, „Gruppen durch tausend kleine Stiche zu verknüpfen und – anstelle der Berufung auf eine enorm grosse Gemeinsamkeit in Gestalt ihrer gemeinsamen Menschlichkeit – tausend kleine Gemeinsamkeiten zwischen ihren Mitgliedern zu beschwören .“20 Der moralische Fortschritt, den Rorty vor Augen hat, besteht darin, dass die „Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird .“21 Das anzustrebende Ideal sieht eine Welt vor, in der die Menschen bei der Wahl ihrer Handlungen und der Bestimmung ihres Selbstverständnisses immer mehr auch die Bedürfnisse, Ansichten und Interessen von anderen Menschen berücksichtigen .22 Kurz gesagt; die Gruppe, der ich mich zugehörig fühle, vergrössert sich und Rorty hofft darauf (und fordert uns auf, zu hoffen), dass die Menschen zu dieser ungeheuren Inklusionsleistung fähig sind . Woher rührt diese Hoffnung? Sie hat nichts mit dem Erfolg von philosophischen Argumenten zu tun, sondern damit, dass wir in einer Zeit leben, in der es „sehr viel leichter geworden ist, uns durch traurige und rührselige Geschichten zum Handeln anzuspornen .“23 Die Menschenrechtskultur soll mit politischen Aktionen, Gedichten und Filmen gestärkt werden . Wir sollten nicht zu erklären versuchen, warum Menschenrechte vernünftig oder gerecht sind . Die Idee universeller Menschenrechte, ist als „begrüssenswertes Faktum der Welt nach dem Holocaust“24 hinzunehmen und wir sollen dieser Kultur zu „mehr Selbstbewusstsein und Einfluss (…) verhelfen“25 . Wie wir das genau tun, ist wiederum eine Sache der Nützlichkeit und Rorty hat eine starke empirische Annahme dazu, was zur Förderung der Menschenrechtskultur geeignet ist und was nicht: „Wir Pragmatisten gehen bei unserer Argumentation davon aus, dass das Auftauchen der Menschenrechtskultur einem 19 20 21 22 23
Vgl . Rorty (Fn . 15), S . 29 . Rorty (Fn . 14), S . 87 . Rorty (Fn . 14), S . 81 . Vgl . Rorty (Fn . 14), S . 80 . Richard Rorty, Menschenrechte, Vernunft und Empfindsamkeit, in: Ders ., Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt a . M . 2003, S . 241–268, S . 268 (orig .: Human Rights, Rationality, and Sentimentality, in: Susan Hurley und Stephen Shute [Hrsg .], On Human Rights: The 1993 Oxford Amnesty Lectures, New York 1993) . 24 Rorty (Fn . 23), S . 245 . 25 Vgl . Rorty (Fn . 23), S . 246 f .
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Zuwachs an moralischem Wissen offenbar gar nichts, sondern alles dem Hören trauriger und rührseliger Geschichten verdankt“ .26 Damit wäre die metaethische Debatte, wie sie sich zwischen Relativisten und Universalisten abspielt, bedeutungslos geworden . Doch warum sollten wir die Einladung des Pragmatismus auf diesen „Perspektivenwechsel“ annehmen? 4.3 enGaGiertes nicHt-beGründen Die Attraktivität des pragmatistischen Angebots hängt unter anderem davon ab, ob erstens die Auffassung davon, was eine Begründung (nicht) leistet, überzeugt und zweitens, ob wir Grund haben, das relationale, antiessentialistische Programm zu akzeptieren . Auf beide Punkte möchte ich im Folgenden kurz eingehen .27 Wie wir gesehen haben, ist Rorty der Meinung, dass die Anstrengungen die im Rahmen eines klassischen Begründungsprogramms unternommen werden können, keinen Unterschied für das Bestehen und Fortentwickeln der Menschenrechtskultur machen . Die Menschen sollten daher praktisch zu empathischeren Wesen erzogen, statt mit philosophischen Theorien und Argumenten ausgestattet werden . Rorty meint, dass kein Aspekt der Aussenwelt, kein Wissen darüber, wie die Dinge sind, uns einen Grund für oder gegen das Haben einer Überzeugung liefern kann . Doch für den Fall der moralischen Überzeugungen scheint dies oftmals der Fall zu sein .28 Es ist möglich, sich aufgrund von Argumenten etwa zu einer deontologischen, konsequentialistischen oder theologischen Ethik zu bekennen und es sind viele Fälle vorstellbar, in denen wir unsere Urteile nach neuen Erkenntnissen revidieren . Dies wäre in besonderem Mass der Fall, wenn solche Erkenntnisse auch das Wesen des Menschen betreffen könnten . Dieser zweite Punkt betrifft Rortys Antiessentialismus . Demnach gibt es über das Wesen des Menschen nichts festzustellen, woran eine Ethik ansetzen könnte – jedenfalls nichts, was nicht durch die Brille unseres (ethnozentrischen) Standpunkts gesehen wird . Weil es diese kultur- und geschichtsunabhängige Beschreibung nicht gibt, erübrigt sich auch eine Begründung von Menschenrechten, die hier ansetzen würde . Diese Behauptung ist jedoch alles andere als unbezweifelbar: An dieser Stelle setzt Greg Hill seine Kritik an Rortys Position an, die lautet, dass es wesentlich mehr über das Wesen des Menschen zu sagen gebe als Rorty dies tut .29 Dabei weist er auf
26 Rorty (Fn . 23), S . 248 . 27 Eine gründliche Diskussion, insb . des zweiten Punktes, würde verlangen, Rortys umfassende Argumentation gegen klassische Ontologie und Erkenntnistheorie zur Sprache zu bringen . Eine Sammlung von Kritik und Verteidigung enthält Robert B. Brandom (Hrsg .), Rorty and his Critics, Oxford 2000 . 28 Vgl . dazu auch Graeme Garrard, The Curious Enlightenment of Professor Rorty, Critical Review 2000 (Vol . 14 No . 4), S . 421–439, S . 429 . 29 Es geht um Dinge wie Geschichten erzählen, krank werden, sich erinnern, jemanden tadeln etc . Interessant ist dabei, dass Hill sich auf Wittgenstein bezieht, der auch für Rortys Denken bedeutsam ist, etwa in den Philosophischen Untersuchungen, Paragraph 25, (über „Naturgeschichte“), wo davon die Rede ist, wie menschliche Eigenschaften, die sozialen Handlungen einbetten . Vgl . Greg Hill, Solidarity, Objectivity, and the Human Form of Life: Wittgenstein vs . Rorty, Critical Review 1997 (Vol . 11 No . 4), S . 555–580, S . 573 .
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Aspekte des Menschseins hin, die so selbstverständlich sind, dass wir für gewöhnlich nicht darüber reden: “Hearing someone scream can belong to the criteria for believing a person nearby is in trouble because the range of human hearing extend just so far, because we have a capacity for fear, sympathy, for surprise . If the human voice were not expressive, if we had telepathic powers, if we could fly like birds, or if we were invulnerable to harm, then our concepts would be different, and there might be no such things as ‘a person nearby in trouble .’”30 Demgegenüber belässt es Rorty bei der radikal offenen Feststellung, der Mensch sei „enorm wandlungsfähig“31, um dann doch ein sehr anforderungsreiches Programm menschlicher Entwicklung zu entwerfen, wonach Solidarität unter den Menschen nicht nur zunehmen wird sondern zunehmen soll . Es scheint überhaupt schwierig zu sein, den Antiessentialismus rein zu bewahren: Rortys Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, sondern entspricht dem Bild eines „maximal gütigen, sensiblen und mitfühlenden Menschen“32 . Damit will er freilich nicht behaupten, der Mensch sei intrinsisch so beschaffen; doch auf die Hoffnung, diese Eigenschaften – ja was sind es nun, wenn nicht Wesensmerkmale? – mögen zur Entfaltung kommen, will er nicht verzichten . Man bleibt diesem Standpunkt gegenüber etwas ratlos zurück: Weshalb sollte sich dieses quasi-evolutionistische Programm der zunehmenden Ausbreitung unseres Mitgefühls weiter entfalten? Aber viel wichtiger noch: Weshalb sollten wir überhaupt auf diese Entwicklung hoffen? – Für alle, die es nicht schon sowieso tun, scheint es vor diesem Hintergrund eigentlich keine Argumente dafür zu geben; Argumente, die zu suchen sich Philosophen seit Sokrates verschrieben haben . 5 eIn „unentschIeden“ für dIe unIversalIsten? Die Diskussion der verschiedenen relativistischen Positionen hat ergeben, dass eine kohärente Formulierung nicht nur einige Probleme mit sich bringt, sondern solange Schwierigkeiten birgt, wie von der Wahrheitsfähigkeit von moralischen Sätzen ausgegangen wird . Die nonkognitivistische Alternative oder ein Verständnis dieser Sätze als Imperative vermag diese Lücken nicht zu schliessen und lässt offen, warum wir uns moralische Normen zu Eigen machen sollten . Von Seiten des Pragmatismus wurde nicht der Inhalt des Universalismus (die universellen Menschenrechte) angegriffen, sondern der Weg, diese zu begründen . Trotz dieser Übereinstimmung im Ergebnis sollte dies die Universalisten aus mindestens zwei Gründen kümmern: Erstens kann es ihnen nicht nur darum gehen, ob ihre Theorie „einen Unterschied macht“, bzw . sie sollten sie auch dann vertreten, wenn sie es kontingenterweise einmal nicht tut . In dieser Hinsicht ist Rorty ein erstaunlich „klassisch“ argumentierender Philosoph, der eine Theorie entfaltet, die gegen Begründungsprojekt im Sinne Platons oder Descartes abzielt und ihnen das anti-metaphysische Projekt des Pragmatismus entgegenstellt . Zweitens ist Skepsis 30 Greg Hill, Solidarity, Objectivity, and the Human Form of Life: Wittgenstein vs . Rorty, Critical Review 1997 (Vol . 11 No . 4), S . 555–580, S . 577 . 31 Rorty (Fn . 23), S . 244 . 32 Rorty (Fn . 14), S . 81 .
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hinsichtlich der Leistungsfähigkeit und der Bestimmtheit angebracht . Der selbst schon fast pragmatistisch anmutende Rat, auf die Kraft von Argumenten und nicht nur auf Nützlichkeit für die Menschenrechtskultur zu setzen, sollte uns ausserdem davor schützen, aus den Augen zu verlieren, ob wir auf dem richtigen Weg sind; sollte dies der Weg zunehmender Einbeziehung menschlicher Interessen sein, gibt es daran nichts auszusetzten . Wer müsste nun in dieser Debatte den nächsten Schritt machen? Die Pragmatisten, falls sie nicht glaubhaft machen können, dass ihre empirische Annahme stimmt, Begründungsprogramme seien unnütz . Denn falls das so ist, muss die Menschenrechtskultur „mit philosophischen Mitteln“ gestärkt werden . Gefordert sind auch die moralischen Relativisten: Diese müssten mit einer kohärenten Formulierung des moralischen Relativismus aufwarten, die die angesprochenen Defizite befriedigend erklären kann . Das ist vielleicht möglich, doch vorher meine ich, dass die Relativisten und nicht die Universalisten am Zug sind, auch wenn in diesem Betrag mit keinem Wort direkt für den universalistischen Standpunkt argumentiert worden ist .
MattHias Jenal sInd menschenrechte unIversalIsIerBar? eIne InterpretatIon Im lIcht der sprachphIlosophIe wIttGensteIns Der Beitrag untersucht die Frage der Universalität der Menschenrechte . Dabei scheint es einen Konsens zu geben, dass es in Fragen der Menschenrechte gewisse universell geltende Kerngehalte gibt, welche überall und für alle Menschen gleich sind . Im juristischen Diskurs über Menschenrechte bezieht man sich häufig auf Konventionen und Pakte der UNO . Da man damit nichts anderes tut, als auf Texte zu verweisen, ist die Frage nach der Universalität der Menschenrechte eine Frage nach dem Verständnis dieser Texte und damit ein sprachliches Problem . Die Frage, ob es universelle Kerngehalte gibt, die für alle Menschen inhaltlich gleich sind, könnte also umformuliert werden in: Wie liesse sich eine für alle Menschen identische Bedeutung in der Sprache herstellen? Es lohnt sich daher, die Frage der Universalität der Menschenrechte „sprachlich“ anzugehen . Im vorliegenden Beitrag wird dies vor dem Hintergrund der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins getan und nach den Konsequenzen Wittgensteinscher Sprachphilosophie auf die Universalität der Menschenrechte gefragt .
1 eInleItunG Universalität der Menschenrechte – kaum ein Thema ist so umstritten . Dennoch scheint ein gewisser Konsens zu bestehen, dass es in Fragen der Menschenrechte gewisse universell geltende Kerngehalte gibt: So ist etwa von „gewissen Grundideen der Demokratie als universell geltenden Werten“1 und von „Unverträglichkeit“ kultureller Traditionen mit menschenrechtlichen Kerngehalten die Rede,2 oder es wird bedauert, dass es immer noch Traditionen gibt, die die Verwirklichung der Menschenrechte „brechen und bremsen“ .3 Anderenorts wiederum wird die Wichtigkeit „liberaler Demokratie“ betont .4 Jetzt stellt sich die Frage: Was könnten universelle Kerngehalte sein und was könnte Universalität im Hinblick auf Menschenrechte bedeuten? Wenn man in Fragen der Menschenrechte Bezug nimmt auf internationale Konventionen und Pakte, wie man dies aus juristischer Sicht häufig tut,5 macht man nichts anderes, als schriftliche Texte heranzuziehen . Das Instrument, mit welchem der menschenrechtliche Diskurs geführt wird, ist die Sprache . Mir scheint daher die Frage nach der Existenz universeller Kerngehalte ein sprachliches Problem zu sein: Die Frage, ob es universelle Kerngehalte gibt, die für alle Menschen inhaltlich gleich sind, könnte man so umformulieren: Wie liesse sich eine für alle Menschen identische Bedeutung in der Sprache herstellen? Denn die Ansicht, es gebe universelle 1 2 3 4 5
Sendung „Sonntagsblick Standpunkte“ vom 03 .10 .10, Votum Andreas Gross . http://www .humanrights .ch/home/front_content .php?idcat=138 (Zugriff: 27 .01 .11) . Karl Peter Fritzsche, Menschenrechte, Paderborn 2004, S . 18 . Babetta von Albertini Mason, Menschenrechte aus westlicher und asiatischer Sicht: Zu den Grundwerten der liberalen Demokratie, Zürich 2004, S . 3 . http://www .humanrights .ch/home/de/Themendossiers/Universalitaet/Bedeutung/ idcatart_ 75content .html (Zugriff: 27 .01 .11); Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2 . Aufl ., Basel 2008, S . 204 .
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Kerngehalte, läuft darauf hinaus, dass es ein Verständnis von Menschenrechten (und damit von Sprache) gibt, das zumindest im Kern von allen geteilt wird . Es lohnt sich daher, die Frage der Universalität der Menschenrechte „sprachlich“ anzugehen . Ich werde das vor dem Hintergrund der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins tun und nach den Konsequenzen Wittgensteinscher Sprachphilosophie auf die Universalität der Menschenrechte fragen . Zunächst unterscheide ich persönlich Universalität in institutionelle Universalität und inhaltliche Universalität . In einem zweiten Schritt werde ich die Sprachphilosophie Wittgensteins näher betrachten und deren Konsequenzen auf die Universalität der Menschenrechte umreissen . 2 unIversalItät 2.1 institutionelle universalität Auf institutioneller Ebene versteht man den universellen Charakter der Menschenrechte im Sinne eines Geltungsanspruchs . Unabhängig von einer tatsächlich existierenden universellen Geltung wird der Anspruch erhoben, Menschenrechte hätten überall und für alle Menschen zu gelten,6 nach dem Schema: Das Recht auf Leben gilt, überall auf der Welt und für alle Menschen . Damit ist allerdings nur ein Anspruch umschrieben, über die inhaltliche Bedeutung, besonders darüber, was „Recht auf Leben“ in einem konkreten Fall bedeutet, ist noch nichts gesagt . Ein gewichtiger Schritt Richtung Anerkennung dieses Anspruchs geschah mit Gründung der UNO . So gut wie jedes Land dieser Erde ist mittlerweile Mitglied der UNO – sogar die Schweiz . So gut wie jedes Land dieser Erde anerkennt durch seine Mitgliedschaft, die Bereitschaft Menschenrechte zu fördern und „fundamentale“ Freiheiten aller zu achten . Bereits in Art . 1 der UNO-Charta wird nämlich genau dies als Zweck der Vereinten Nationen ausgewiesen .7 . Dazu kommen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die UNO-Pakte I und II, die zwar nicht von allen, aber doch den meisten Mitgliedsstaaten ratifiziert wurden .8 Der Anspruch auf Geltung dieser Rechte wurde durch Bildung der UNO und deren Instrumente institutionalisiert und durch die grosse Anzahl ihrer Mitglieder globalisiert . Auf dieser institutionellen Ebene, der Geltungsebene, sind Menschenrechte heute tatsächlich universalisiert .9 Doch weshalb reissen Diskussionen um Menschenrechte und deren Verletzung nicht ab? Warum gibt es angesichts der Tatsache, dass es offenbar menschenrechtliche Kerngehalte gebe, so viele Debatten genau darüber? Bei soviel Einigkeit über Menschenrechte, deren Geltung so unbestritten ist, müsste doch alles klar und halb so schlimm sein? Mir scheint die Musik spielt anderswo .
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Fritzsche (Fn . 3), S . 18 . http://www .humanrights .ch/home/de/Themendossiers/Universalitaet/ Bedeutung/idcatart_751-content .html (Zugriff: 11 .01 .11) . Art . 1 Ziff . 3 UNO-Charta . Bis dato haben 160 der 192 Mitgliedstaaten der UNO den UNO-Pakt I und 167 den UNO-Pakt II ratifiziert . Kälin/Künzli (Fn . 5), S . 24 .
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2.2 inHaltlicHe universalität Wie bereits erwähnt, ist mit dem Geltungsanspruch noch nichts über die inhaltliche Bedeutung einer Norm gesagt . Inhaltliche Universalität ist daher m . E . zu unterscheiden von institutioneller Universalität . Der Satz „das Recht auf Leben gilt“ gibt noch keinen Aufschluss darüber, was der Satz konkret meint . Der Frage, wie Bedeutung möglich ist, wie es möglich sein könnte, eine universelle Bedeutung herzustellen und so Universalität auf inhaltlicher Ebene zu verwirklichen, werde ich im Folgenden nachgehen . Ich werde dies vor dem Hintergrund der Sprachphilosophie Wittgensteins tun, insbesondere mit Blick auf dessen Idee der Lebensform . 3 InhaltlIche unIversalItät und wIttGensteInsche sprachphIlosophIe 3.1 WittGenstein und die klassiscHe recHtsausleGunGsleHre Wittgensteins Hauptinteresse in seinem philosophischen Schaffen galt der Frage nach der Bedeutung von Sprache . Wie ist Bedeutung in der Sprache möglich? Wie erhalten Texte ihren Sinn? Die Relevanz Wittgensteinscher Überlegungen im Hinblick auf den menschenrechtlichen Diskurs liegt damit auf der Hand, handelt es sich doch bei den erwähnten Konventionen und Pakten um nichts anderes als um Texte . In einem bestimmten Verfahren ausgearbeitete und mit einem Geltungsanspruch versehene Texte zwar, aber doch um Texte . Obwohl man in jüngerer Zeit auch in der Rechtswissenschaft den Thesen Wittgensteins vermehrt Aufmerksamkeit schenkte,10 bleibt der Einfluss seiner Ideen auf die klassische Lehre der Rechtsauslegung marginal . In den gängigen Lehrmitteln wird zwar auf das Thema der Sprache und deren Bedeutung für Juristen ausführlich eingegangen, Wittgenstein wird allerdings mit keinem Wort erwähnt .11 In der klassischen Rechtsauslegungslehre steht der Wortlaut im Zentrum . Er gilt als der Ausgangspunkt auf dem Weg zum Sinn einer Rechtsnorm . Danach birgt der Wortlaut, etwa der des Wortes „Baum“, so wie er dasteht, immer eine Bedeutung in sich und diese existiert unabhängig von jeder Interpretation . Diese Bedeutung kann sich im Einzelfall als inakzeptabel erweisen und bedarf dann der Auslegung, aber sie besteht . Das Bundesgericht setzt diese Lehre in langjähriger Praxis um, wie in neueren Entscheiden, etwa BGE 125 III 57 oder BGE 128 IV 272 aber auch älteren, wie BGE 87 I 10 zu lesen ist . In BGE 87 I 10 führt das Bundesgericht aus: „Ausgangspunkt und in erster Linie massgebend für die Bestimmung des Sinns eines Rechtssatzes ist dessen Wortlaut, der entweder klar ist oder der Auslegung bedarf (vgl . Art. 1 Abs. 1 ZGB [Hervorhebung durch Bundesgericht]) .“12 10 Vgl . etwa Marc Amstutz/Marcel Alexander Niggli, Recht und Wittgenstein I, Jusletter 24 . Juli 2006; Gerhard Fiolka, Äusserungsdelikte: Die strafrechtliche Regulierung von Kommunikation im Lichte der Sprachphilosophie Wittgensteins, Jusletter 24 . Juli 2006; Anne Berkemeier/Elisabeth Binz, Wittgenstein und Recht: Sprachliche Abrichtung in der Juristenausbildung, Jusletter 24 . Juli 2006. 11 Vgl . etwa Peter Forstmoser/Hans-Ueli Vogt, Einführung in das Recht, 4 . Aufl ., Bern 2008, S . 103 ff . und S . 471 ff . 12 BGE 87 I 10, S . 15 .
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Es lohnt sich, diesen Entscheid näher zu betrachten . Worum ging es? Das Bundesgericht hatte eine gebührenrechtliche Frage im Bereich des Erbrechts zu entscheiden . Einem regierungsrätlichen Beschluss zufolge hätten drei Söhne, welche von ihrer Mutter eine Erbschaft erhalten hatten, eine „Handänderungsgebühr“ entrichten sollen . Diesen Beschluss fochten die drei Erben vor Bundesgericht an . Sie stützten sich dabei auf eine kantonale Bestimmung, welche ausdrücklich besagt, dass Nachkommen in gerader absteigender Linie von der Entrichtung der Gebühr ausgenommen sind: „Die Übernehmer von Erbschaften, Vermächtnissen und Schenkungen auf Todesfall – mit Ausnahme der Nachkommen in gerade absteigender Linie [Hervorhebung durch Autor] und der Adoptivkinder – haben vom Betrag der ihnen zufallenden reinen Habschaft an Handänderungsgebühr in der Regel zu bezahlen: a) die Ehegatten für diejenigen Teile, wofür sie als Erben angesehen werden, 2 %; b) die Eltern, Grosseltern usw ., die Geschwister und deren Nachkommen für jeden Grad der Verwandtschaft 1 %, also die Eltern 1 %, die Geschwister 2 % usf .; c) die übrigen Erben, nämlich der Eltern Geschwister 6 %, im vierten Grad 7 %, in weiteren Verwandtschaftsgraden 8 %; d) die durch Testament berufenen Erben [Hervorhebung durch Autor] und Vermächtnisnehmer 8 % .“13
Der Regierungsrat des Kantons Solothurn, welcher den Entscheid über die Entrichtung der Gebühr zu verantworten hatte, vertrat dagegen eine ganz andere Position als die drei Erben . Wie aber kommt der Regierungsrat zu seiner Auslegung, wo doch der Wortlaut der vorliegenden Bestimmung angeblich, Zitat Bundesgericht: „völlig klar“14 sei? Der Regierungsrat argumentierte, die direkten Nachkommen seien nur insoweit von der Gebühr zu befreien, als es sich bei der Erbschaft um Pflichtteile handle . Für sämtliche darüber hinaus gehenden testamentarischen Zuwendungen gelte die Ausnahme nicht . Schliesslich seien die direkten Nachkommen in einem solchen Fall testamentarisch begünstigt und seien daher „durch Testament berufene Erben“ im Sinne von Bst . d) . Aus diesem Grund hätten direkte Nachkommen in dieser Konstellation die Gebühr genau gleich zu bezahlen wie die anderen Erben, was zudem einer jahrzehntelangen Praxis im Kanton Solothurn entspräche . Wie bereits angetönt, folgte das Bundesgericht dieser Argumentation nicht . Vielmehr seien die direkten Nachkommen nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung über die Handänderungsgebühren in jedem Fall von der Gebühr befreit . Die angebliche Klarheit des Wortlauts hinderte das Bundesgericht allerdings nicht daran in zwei früheren Fällen genau umgekehrt zu entscheiden: „Das Bundesgericht hat im Urteil vom 12 . Oktober 1929 i . S . Weber den gegen diese Auslegung (= jene des Regierungsrats, Anm . des Autors) erhobenen Vorwurf der Willkür als unbegründet bezeichnet . Den gleichen Standpunkt hat es im Urteil vom 31 . Oktober 1946 i . S . Pfluger (Erw . 2 e) unter Hinweis auf jenen Entscheid eingenommen .“15
13 § 1, solothurner Gesetz vom 13 . Dez . 1848 über Handänderungsgebühren von Erbschaften, zitiert nach BGE 87 I 10, S . 10 . 14 BGE 87 I 10, S . 15 . 15 Vgl . BGE 87 I 10, S . 15 .
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Zudem hinderte der „klare“ Wortlaut die Regierung des Kantons Solothurn nicht, in jahrzehntelanger Praxis die Bestimmung über die Handänderungsgebühr in ihrem Sinne zu verstehen (wobei diese Praxis, wie eben erwähnt, in zwei Fällen bestätigt wurde durch das Bundesgericht) . Der Wortlaut, so wie er dasteht im Gesetz, ist mit anderen Worten eben alles andere als klar . Das Bundesgericht gibt dies auch implizit zu, indem es, im Anschluss an das oben genannte Zitat, sagt: „Eine nochmalige Überprüfung der Frage ergibt, dass an dieser Auffassung nicht festgehalten werden kann .“16 Wäre der Wortlaut wirklich „völlig klar“, wie das Bundesgericht ausführt, wäre nicht einsichtig, warum man überhaupt von „Überprüfung“ sprechen sollte . An einer klaren Sache gibt es nämlich nichts zu überprüfen .17 Ist es nicht gerade die Überprüfung der eigenen Praxis, die zeigt, dass die Rechtslage auf Grund des Wortlauts eben nicht klar ist? Anderenfalls müsste ja nicht gestritten werden . 3.2 spracHe Spätestens an diesem Punkt würde sich nun Wittgenstein heftig in die Diskussion einmischen und der bundesgerichtlichen Auffassung vom Wortlaut widersprechen . Sein Haupteinwand wäre in den Worten der „Philosophischen Untersuchungen“: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache .“18 So ist nach Wittgenstein sprachliche Bedeutung unabhängig vom Gebrauch nicht möglich . Über den Gebrauch hinaus gibt es nichts Fixiertes, nichts ein für alle mal Gültiges .19 Ein Satz wie „das ist ein Baum“ hat keinen Sinn, so wie er dasteht . Der Wortlaut birgt nicht einen Sinn in sich . Vielmehr kann exakt der gleiche Satz in verschiedenen Situationen Verschiedenes meinen, bzw . verschiedenen „Bedeutungsregeln“ folgen . Ein Beispiel aus „Über Gewissheit“ soll dies verdeutlichen: „Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen „Ich weiss, dass das ein Baum ist“, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt . Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur .“20 Ein und derselbe Satz kann je nach Situation anders verstanden werden . Einem Dritten erschiene es verrückt, zum wiederholten Male den Satz „Ich weiss, dass das ein Baum ist“ zu gebrauchen, um auf einen vor ihm stehenden Baum hinzuweisen . Innerhalb eines philosophischen Gesprächs gelten aber möglicherweise andere Regeln . Ändert man die Bedingungen der Situation, indem man darauf hinweist, es handle sich um eine Situation des Philosophierens, ändern sich auch die Bedeutungsregeln für den Satz . Dem Dritten wird einsichtig, dass es sich um eine spezielle Situation handelt, in der der Satz gebraucht wird, nämlich eine des Philosophierens, und er würde dann vielleicht nicht mehr denken, die beiden Herren seien verrückt, sondern etwa: Philosophen stellen halt alle möglichen Dinge in Frage, das gehört zu 16 BGE 87 I 10, S . 15 . 17 Vgl . Marc Amstutz/Marcel Alexander Niggli, Recht und Wittgenstein III, Jusletter 24 . Juli 2006, Rz . 21 . 18 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Bd . 1, Frankfurt a . M . 2006, S . 262 . 19 Amstutz/Niggli (Fn . 10), Rz . 18 . 20 Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, Frankfurt a . M . 1970, S . 121 .
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ihrem Wesen . Je nach Situation können sich also die Bedeutungsregeln und damit die Bedeutung von Sätzen verändern . Der Vorgang ist vergleichbar mit dem eines Spiels, bei dem verschiedene Akteure innerhalb eines bestimmten Rahmens Regeln gleich verstehen und danach handeln . Wittgenstein spricht deshalb in diesem Zusammenhang von Sprachspielen . Dabei gibt es unzählige derartige Spiele . Ich zitiere einige Beispiele Wittgensteins: „Befehlen, und nach Befehlen handeln; Berichten eines Hergangs; eine Hypothese aufstellen und prüfen; eine Geschichte erfinden; Theater spielen; Reigen singen; Rätsel raten“21 oder eben – füge ich bei –: Philosophieren . Sprachspiele definieren die Bedeutung eines Satzes bzw . sie sind diese Bedeutung, wobei sich die Art und Weise, wie diese Sprachspiele gespielt werden, über die Zeit ändern kann .22 So war etwa die Anrede „Fräulein“ durchaus üblich im Sprachspiel „Bestellen im Restaurant“, wobei diese Anrede heute eher als verpönt gilt . Gebraucht man Worte über die Zeit anders, verändert sich auch deren Bedeutung oder die Worte verschwinden ganz, wie etwa das „Fräulein“ im angesprochenen Beispiel . Nach welchen Regeln das Spiel der sprachlichen Kommunikation abläuft bzw . was die inhaltliche Bedeutung der Regeln und damit der einzelnen Sprechakte ausmacht, hängt somit von der Situation bzw . dem Gebrauch ab . 3.3 FolGerunGen in bezuG auF die universalität der MenscHenrecHte Was sind also die Konsequenzen dieser Ausführungen mit Blick auf die Menschenrechte? Die Konsequenzen sind erheblich: Menschenrechtliche Ansprüche beziehen sich letztlich auf die erwähnten Konventionen und Pakte der UNO . Diese sind nichts anderes, als eine Sammlung von Wörtern und Sätzen, die für sich genommen, d . h . in ihrem „Da-stehen“, noch keine Bedeutung haben, sondern diese vielmehr erst im Gebrauch, Wittgenstein würde sagen: in den einzelnen Sprachspielen, erhalten . Läge Wittgenstein falsch und wäre das Verständnis des Wortlauts klar und eindeutig, wäre nicht einsichtig, warum es im Bereich der Menschenrechte derartige Meinungsverschiedenheiten gibt . Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie solch unterschiedliche Auffassungen zu Stande kommen . Obwohl beide Parteien sich auf gleiche Texte stützen, lesen sie aus dem gleichen philosophischen Konzept Verschiedenes heraus: Die Weltkonferenz für Menschenrechte, welche 1993 in Wien stattfand, zog eine Kontroverse nach sich über die Frage, ob und wie sogenannte „asiatische Werte“ mit dem westeuropäisch geprägten Konzept der Menschenrechte vereinbar sind .23 Insbesondere China und Singapur setzten sich bei der Weltkonferenz für einen „asiatischen Weg“ ein .24 Ihre Kernaussage bestand darin, dass insbesondere die Idee politischer und bürgerlicher Rechte nicht mit konfuzianischen Werten vereinbar wäre . Die Idee der konfuzianischen Wertelehre der „fünf sittlichen Beziehungen“ liesse dies nicht zu . Bei den „fünf sittlichen Beziehungen“ handelt es sich um fünf elementare Beziehungen, die die menschliche Gesellschaft ausmachen . Es sind dies: 1 . die Beziehung Herrscher zu Beherrschtem, 2 . Vater zu Sohn, 3 . Ehemann zu 21 22 23 24
Wittgenstein (Fn . 18), S . 250 . Amstutz/Niggli (Fn . 10), Rz . 17 . von Albertini Mason (Fn . 4), S . 82 ff . von Albertini Mason (Fn . 4), s. 86.
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Ehefrau, 4 . älterer Bruder zu jüngerem Bruder und 5 . Freund zu Freund .25 Das Verhältnis zwischen den fünf Beziehungen sei ein streng hierarchisches . Eine zentrale Rolle spiele dabei die Gehorsamspflicht des Untergebenen, wodurch soziale Stabilität garantiert werden soll .26 Auf Grund dieser Konstellation seien bürgerliche und politische Rechte, wie etwa Regimekritik als Teil der Meinungsäusserungsfreiheit, nicht oder nur in eingeschränktem Masse zu gewähren .27 Gegen das Konzept der „asiatischen Werte“, wie es China und Singapur vertraten, erhob sich daraufhin Widerstand . Joseph Chan, Professor an der Universität von Hong Kong, vertrat etwa die Ansicht, Menschenrechte lassen sich durchaus mit konfuzianischen Werten vereinbaren .28 Im Zentrum der konfuzianischen Lehre würde nämlich nicht die Gehorsamspflicht, sondern eine „allumfassende Tugend der Humanität“ stehen, genannt „jen“ . „Jen“ wirke als Beschränkung der Gehorsamspflicht, d . h . die Gehorsamspflicht müsse stets mit der „allumfassenden Tugend der Humanität“ in Einklang gebracht werden .29 Interessant an dem Beispiel ist, beide Seiten stützen sich auf das gleiche philosophische Konzept, nämlich die konfuzianische Wertelehre, kommen aber zu fundamental unterschiedlichen Schlüssen . Die beiden Seiten scheinen mit den gleichen Spielfiguren ein ganz anderes Sprachspiel zu spielen und eine Verständigung rückt in weite Ferne . 3.4 alles Willkür? Wenn also feststeht, dass es über den Gebrauch hinaus in der Sprache keine allgemeingültige, ein für alle Mal fixierte Bedeutung gibt, folgt daraus: alles ist Willkür, nichts ist bestimmt? Die Folgerung wäre verfehlt, denn wäre jede sprachliche Bedeutung beliebig, wie wäre dann noch Kommunikation möglich? Die Tatsache, dass Sprache ihre Bedeutung erst im Gebrauch erhält, heisst daher nicht, dass Bedeutung beliebig wäre, es heisst nur, dass die Frage nach Regelmässigkeit in der Sprache aussersprachlich beantwortet werden muss .30 Was also eine akzeptable Bedeutung ausmacht, was ihre Regelmässigkeit ausmacht, ist nicht die Leistung der Sprache selbst, sondern versteht sich vor dem Hintergrund der Lebensform, in welcher die Sprache gebraucht wird .31 So wird eine akzeptable Bedeutung nicht durch die Sprache selbst definiert, sondern durch die Menschen bestimmt, welche die gleiche Lebensform teilen, oder mit Wittgensteins Worten: „Das Wort „Sprachspiel“ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform .“32 25 26 27 28 29 30 31 32
von Albertini Mason (Fn . 4), s. 129. von Albertini Mason (Fn . 4), S . 155 f . von Albertini Mason (Fn . 4), s. 156. Joseph Chan, A Confucian Perspective On Human Rights For Contemporary China, in: Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell, The East Asian Challenge For Human Rights, Cambridge 1999, S . 212– 237, S . 215 ff . Chan (Fn . 28), S . 224 . Vgl . Amstutz/Niggli (Fn . 10), Rz . 30; ähnlich Paul Feyerabend, Irrwege der Vernunft, Frankfurt a . M . 1989, S . 165 ff . Amstutz/Niggli (Fn . 17), Rz . 6 . Wittgenstein (Fn . 18), S . 250 .
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Den Begriff der Lebensform könnte man trefflich als „sozio-historischen Kontext“ bezeichnen .33 Lebensform bedeutet dabei mehr als blosse Tradition, sie ist vielmehr die Summe aller Einflüsse und Praktiken, die von einer Gesellschaft ausgehen und auf ein Individuum dieser Gesellschaft einwirken . Die Lebensform konstituiert sich aus den tatsächlichen Lebensumständen, also etwa den gemeinschaftlichkulturellen Traditionen, Sitten und Bräuchen, den politischen Debatten, den Gesprächen und Zuneigungen der Familie, dem Umgang mit Freunden, der Beteiligung im Sportverein, dem Einkaufen im Supermarkt, dem Lesen von Büchern, Zeitschriften und Blogs, dem Hören von Musik dem Schauen von Fernsehsendungen etc .34 Es ist dieses Geflecht von umweltlichen Einflüssen, vor dessen Hintergrund Regelmässigkeit in der Sprache erst möglich wird . 4 unIversalItät durch GloBale leBensform? Wenn feststeht, dass Sprache ihre Bedeutung im Gebrauch erhält und regelmässiger Gebrauch wiederum von der Lebensform abhängt, was sind dann die Konsequenzen für die inhaltliche Universalität der Menschenrechte? Wie sind in diesem Umfeld noch universelle Kerngehalte möglich? Meine These wäre angesichts dieser Ausgangslage: Inhaltliche Universalität der Menschenrechte liesse sich am ehesten erreichen in der Schaffung einer globalen gemeinsamen Lebensform . Wollte man inhaltliche Universalität der Menschenrechte tatsächlich verwirklichen, müsste man die Lebensumstände aller Menschen derart vereinheitlichen, dass alle eine gemeinsame Lebensform teilen . Nur so wäre garantiert, dass alle Menschen sprachliche Sätze, etwa die der angesprochenen Menschenrechtskonventionen, gleich verstünden und gebrauchten . Je homogener eine Gesellschaft ist, desto einfacher ist, in Wittgensteinschem Sinne ausgedrückt, das juristische Sprachspiel, denn die Akzeptanz gegenüber Rechtsentscheidungen ist dann am grössten, wenn bei allen Beteiligten ein möglichst ähnliches Vorwissen vorhanden ist .35 Oder anders gewendet: Je einheitlicher das sprachliche Vorverständnis innerhalb einer Gesellschaft, desto einfacher und regelmässiger ist die juristische Entscheidung . Aus all dem folgt: „In einer totalitären Gesellschaft bestehen optimale Bedingungen zur Kommunikation über das Recht“,36 denn in einer totalitären Gesellschaft wird die Sozialisation der Individuen derart umfassend vereinheitlicht, dass alle dasselbe Verständnis der Lebenswelt teilen bzw . teilen müssen . In einer totalitären Gesellschaft wären also tatsächliche universelle Werte und tatsächliche universelle Kerngehalte am ehesten möglich . Zum Glück aber leben wir nicht in einer solchen Gesellschaft – und das soll auch so bleiben . Schliesslich gibt es genügend abschreckende Beispiele totalitärer Regime in der Vergangenheit . In einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft, die verschiedene Auffassungen und Lebensformen zulässt, ist das juristische Sprachspiel dagegen ungemein schwieriger, aber auch spannender: Hier gilt es nicht vor dem Hintergrund einer einzigen sondern eines Geflechts von Lebensformen eine vertretbare Lösung 33 Marc Amstutz/Marcel Alexander Niggli, Recht und Wittgenstein V, in: Gerhard Danecker et. al. (Hrsg .), Festschrift für Harro Otto, Köln 2007, S . 123–132, S . 129 . 34 Vgl . auch Feyerabend (Fn . 30), S . 162 . 35 Fiolka (Fn . 10), Rz . 13 . 36 Fiolka (Fn . 10), Rz . 13 .
Sind Menschenrechte universalisierbar?
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zu finden . Tatsächliche inhaltliche Universalität der Menschenrechte hätte also einen hohen Preis, nämlich den der Freiheit .37
37 Fiolka (Fn . 10), Rz . 15 .
peter G. kircHscHläGer das ethIsche charakterIstIkum der unIversalIsIerunG Im zusammenhanG des unIversalItätsanspruchs der menschenrechte Am Beispiel der Universalität der Menschenrechte soll das ethische Charakteristikum der Universalisierung diskutiert werden . Letzteres stellt ein zentrales Element eines ethischen Fundaments dar, das über begrenzte Rechtssysteme hinausreicht . Um das ethische Charakteristikum der Universalisierung am Beispiel der Menschenrechte reflektieren zu können, soll zu Beginn in den Begriff der Menschenrechte eingeführt werden . Des Weiteren gilt die Aufmerksamkeit einer relevanten Problematik der Begrifflichkeit der Universalität . Anschliessend soll Universalität als eines der essentiellen Charakteristika der Menschenrechte diskutiert werden . Während die Menschenrechte kulturelle Differenz u . a . durch den Schutz des Rechts des Individuums auf Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot ermöglichen und schützen und so nicht nur das Fundament für kulturelle Differenz, sondern auch einen Referenzrahmen formulieren, wie ein Zusammenleben und ein Austausch in kultureller Differenz gestaltet werden kann, wird die Universalität der Menschenrechte gleichzeitig besonders durch die kulturelle Differenz herausgefordert . An Letzterer werden die Notwendigkeit der Universalität der Menschenrechte und die Notwendigkeit ihrer Begründung deutlich . Menschenrechte machen also nicht halt vor Kulturen, sondern wirken in sie hinein bzw . stellen auch in ihnen den Anspruch, grundlegend für die Möglichkeit einer kulturellen Differenz zu sein .
1 was sInd menschenrechte? Zu Beginn gilt es, kurz den Begriff „Menschenrechte“ zu umreissen, der auch das Prinzip der Universalität beinhaltet: Menschenrechte sind komplexe Rechte, da sie eine rechtliche, eine politische und eine moralische Dimension aufweisen . Die Menschenrechte weisen eine politische Dimension auf, da sie zum einen im politischen Diskurs ihre rechtliche Dimension erlangt haben und sich im politischen Entscheidungsfindungsprozess weiterentwickeln können, zum anderen als Argumente im politischen Diskurs eingesetzt werden .1 Ihre rechtliche Dimension kommt in der folgenden Definition zum Ausdruck: „Internationale Menschenrechte sind die durch das internationale Recht garantierten Rechtsansprüche von Personen gegen den Staat oder staatsähnliche Gebilde, die dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde in Friedenszeiten und im Krieg dienen .“2 Der Staat ist auf Grund der Konzeption der Menschenrechte verpflichtet, die Menschenrechte in all ihren Facetten zu schützen . Die staatliche Verpflichtung umfasst positiv ein Tun und negativ ein Unterlassen . In einer ersten Ebene gilt es für den Staat, ein Unterlassen von Eingriffen sicherzustellen, damit Verletzungen der Menschenrechte nicht geschehen können (z . B . Verzicht und Unterlassen von fragwürdigen Verhörmethoden seitens der Polizei) . Auf einer zweiten Ebene obliegt es dem Staat sicherzustellen, dass Individuen vor Menschenrechtsverletzungen durch Dritte geschützt sind . Als Werkzeuge dienen dem Staat das Gesetz (z . B . Schutz vor häuslicher Gewalt oder rassistischen Übergriffen) und die Polizei . Auf einer dritten 1 2
Da die moralische Dimension im Folgenden eine zentrale Rolle spielt, gehen wir hier nicht weiter auf sie ein . Walter Kälin/Lars Müller/Judith Wyttenbach, Bild der Menschenrechte, Baden 2004, S . 17 .
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Peter G . Kirchschläger
Ebene ist der Staat dazu verpflichtet, dass die Menschenrechte in möglichst umfassender Art und Weise den einzelnen Menschen auch wirklich zu Gute kommen . Der Staat hat mit gesetzgeberischen und administrativen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte Realität werden . Neben der staatlichen Verantwortung besteht auch eine Verantwortung nichtstaatlicher Akteure, die Menschenrechte zu respektieren, zu achten und zur ihrer Durchsetzung beizutragen .3 Kann man die Menschenrechte nicht ausschliesslich rechtlich oder einfach als einen politischen Kompromiss verstehen, auf den die Staatengemeinschaft sich geeinigt hat? Dies muss verneint werden, da die Menschenrechte – ausschliesslich rechtlich oder als einen politischen Kompromiss verstanden – in ihrer Wirkung eingeschränkt sind . Das kann man an drei Punkten verdeutlichen: • Menschen haben einen Anspruch auf Menschenrechte, auch wenn in ihrem Staat die Menschenrechte nicht geachtet werden . Gerade unter diesen Voraussetzungen sind Menschenrechte so zu verstehen, dass alle Menschen ein Menschenrecht auf Menschenrechte haben . • Es gibt kulturell und religiös unterschiedliche Auslegungen der Menschenrechte, die oft mit einer gravierenden Einschränkung ihres Gehaltes einhergehen (z . B . die Stellung der Frau in fundamentalistischen Religionen, Traditionen und Kulturen; der Vorrang von Gemeinschaftspflichten gegenüber individuellen Rechten; etc .) . • Menschenrechte regeln gleichzeitig horizontale (zwischen Individuum und Individuum) und vertikale (zwischen Individuum und Staat) Verhältnisse und besitzen in beiden Fällen kritisches Potential . Beiden wird nur entsprochen, wenn die Menschenrechte nicht auf die Grenzen eines Staates beschränkt werden . In allen drei Fällen könnte man die Menschenrechte nicht einfordern oder uneingeschränkt einfordern, wenn es keine von staatlichen Entscheidungen unabhängige Begründung gäbe . Eine solche Begründung kann nur eine moralische sein, weil sie eine sein muss, die allen Menschen in der gleichen Weise überzeugen kann, d . h . es muss eine universelle Moral sein, aus der heraus gefordert werden kann, dass alle Menschen gleiche Rechte haben . 2 was Bedeutet unIversalItät? Am Beispiel der Universalität der Menschenrechte soll das ethische Charakteristikum der Universalisierung diskutiert werden . Letzteres stellt ein zentrales Element eines ethischen Fundaments dar, das über begrenzte Rechtssysteme hinausreicht . Einleitend möchte ich dazu auf eine entscheidende Problematik der Begrifflichkeit hinweisen, die G . Lohmann herausgearbeitet hat: Wenn man die aktuelle Diskussion zur Universalität der Menschenrechte verfolgt, entsteht der Eindruck, dass sich die Begriffe „Universalismus“ und „Relativismus“ gegenüberstehen . In Wirklichkeit lautet der direkte Gegenbegriff zum Ersten „Partikularismus“, zum Zweiten „Abso3
Vgl . Peter G. Kirchschläger/Thomas Kirchschläger et al. (Hrsg .), Menschenrechte und Wirtschaft im Spannungsfeld zwischen State und Nonstate Actors: Internationales Menschenrechtsforum Luzern (IHRF), Bd . II, Bern 2005 .
Das ethische Charakteristikum der Universalisierung
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lutismus“ . „Die gängige Argumentation scheint zu sein, dass ein Universalismus nur absolut begründet werden kann, und wenn dies nicht möglich ist, eine nur relative Begründung zur Aufgabe des Universalismus führt und damit zu einer nur partikularen Geltung .“4 Demzufolge sehen sich die Verteidiger des Universalismus dazu gedrängt, eine absolute Begründung der Menschenrechte leisten zu müssen, denn eine relative Begründung würde der Universalität der Menschenrechte nicht gerecht werden . Anschliessend an Lohmanns Beobachtung stelle ich fest, dass die beiden oben genannten direkten Gegenbegriffspaare nicht direkt miteinander zu tun haben . Selbst wenn sie es hätten, könnte die Begründung des mit einem dieser Begriffe bezeichneten Charakteristikums gemäss der begrifflichen Bestimmung aller drei Begriffe erfolgen, ohne dass der das Charakteristikum bezeichnende Begriff an Relevanz verlieren würde . Demzufolge kann im Falle der Menschenrechte die Begründung ihrer Universalität durchaus relativ erfolgen .5 Dabei ist die Unterscheidung zwischen einem starken und einem schwachen Relativismus zentral . Mit Lohmann schlage ich für den Umgang mit der Universalität der Menschenrechte eine schwach relativistische Position vor . Was bedeutet „schwacher Relativismus“? Das bedeutet nicht, „dass alles relativ ist, sondern 1) dass einige Aspekte der inhaltlichen Voraussetzungen der universalistischen Moral nur relativ zu einer bestimmten Kultur zu verstehen sind, während andere durchaus in andere Kulturen übersetzbar und auch verstehbar gemacht werden können . Damit muss nicht behauptet werden, dass es in allen Kulturen gleiche semantische Bestandteile geben muss, sondern nur, dass es hinreichende Überlappungen oder Kontextüberschreitungen gibt . Es muss daher keine Zentralperspektive oder einen Kernbestand aller Kulturen geben, sondern nur die Möglichkeit, wie in einem Netzwerk von einer zur anderen sich zu bewegen .“6 Damit ist keine Inkommensurabilität von je für sich geschlossenen Kulturen gemeint, keine scharfe Trennung zwischen Interkulturellem und Intrakulturellem .7 Vielmehr wird damit hervorgehoben, dass uns fremde Kulturen nicht weniger unvertraut sind als Teile unserer eigenen Kultur .8
4
5 6 7 8
Georg Lohmann, Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg .), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg i . B . 2008, S . 5; vgl . dazu auch Georg Lohmann, Diversité culturelle et universalité des droits de l›homme: Le cas du Japon, in: Lukas K. Sosoe (Hrsg .), Diversité Humaine: Démocratie, multiculturalisme et citoyenneté, Saint-Nicolas 2002, S . 441–452; Georg Lohmann, Zu einer relativen Begründung der Universalisierung der Menschenrechte, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg .), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg i . B . 2008, S . 218–228 . So fordert es G . Lohmann für die Menschenrechte und für die Moral (vgl . Lohmann [Fn . 4], Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 6) . Lohmann (Fn . 4), Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 7 . Richard Rorty, Solidarität oder Objektivität, Stuttgart 1988, S . 21 . Vgl . Lohmann (Fn . 4), Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 7 .
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Peter G . Kirchschläger
3 was Bedeutet unIversalItät der menschenrechte? Universalität bildet eines der essentiellen Charakteristika der Menschenrechte . Menschenrechte sind universell, da alle Menschen Trägerinnen und Träger der Menschenrechte sind . Neben ihrem Universalitätsanspruch sind Letztere kategorisch, weil sie allen Menschen zustehen, sie können keinem Menschen abgesprochen werden . Menschenrechte sind zudem egalitär, denn alle Menschen haben in gleichem Masse Anspruch auf den menschenrechtlich garantierten Schutz . Diese weiteren essentiellen Eigenschaften der Menschenrechte und der Aspekt, dass es sich um individuelle Rechte handelt, da sie einem Menschen als einem Rechtssubjekt zustehen, die dieses auch gegenüber einem Kollektiv beanspruchen kann, prägen die Universalität der Menschenrechte . Schliesslich handelt es sich bei den Menschenrechten um fundamentale Rechte, die einen Minimalstandard eines menschenwürdigen Lebens schützen . Gerade in der Auseinandersetzung mit der Universalität spielt zudem das Prinzip der Unteilbarkeit der Menschenrechte eine wichtige Rolle . Wenn R . Alexy festhält, dass die Existenz der Menschenrechte ausschliesslich von ihrer Begründbarkeit abhängt, kann dies auch für die Universalität der Menschenrechte gesagt werden, d . h . für den Anspruch, dass alle Menschen Trägerinnen und Träger der Menschenrechte sind . Dabei mitzudenken ist der Hinweis von G . Lohmann, dass die Idee der Menschenrechte gerade mit einer Idee der Begründung eng verbunden ist . „Wir hätten gar keine Menschenrechte, würden wir Menschen als Träger von Rechten nicht so verstehen, dass sie für alles, was ihre subjektiven Freiheiten legitimerweise einschränkt, Begründungen verlangen können .“9 Der Mensch als Subjekt von Menschenrechten versteht sich nach Lohmann als sich selbst verstehend und will daher wissen, warum seine Selbstbestimmung Einschränkungen erfährt, was Lohmann in der subjektiven Forderung herauskristallisiert: „Begründe, was du mir antust!“10 Die Menschenrechte sind objektiv betrachtet eine Vorkehrung zum Schutz der Menschen vor Gewalt in ihrem Zusammenleben und in der Lösung von Konflikten . Rechte und die dazu korrespondierenden Pflichten spielen zusammen und schränken die Willkürfreiheiten der Menschen ein, woraus die Forderung nach einer Begründung der Verpflichtungen resultiert . „Die Begründungen sind daher zwischen Rechtsinhaber und den Adressaten der aus den Rechten resultierenden Pflichten anhängig . Beide Seiten werden eine Begründung nur dann akzeptieren können, wenn diese Relationierung auch gewahrt ist, und eine Begründung scheint nur dann eine angemessene zu sein, wenn sie für alle Betroffenen und insofern allgemein gilt .“11 Diese Idee wird politisch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und rechtlich in den UNO-Pakten I und II von 196612 umgesetzt, die allen Menschen das Selbstbewusstsein verleiht, frei und gleich geboren zu sein . Lohmann hält fest, dass demzufolge jeder Verstoss gegen die Menschenrechte Georg Lohmann, Die unterschiedlichen Menschenrechte, in: Klaus P. Fritzsche/Georg Lohmann (Hrsg .), Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Würzburg 2000, S . 9–10 . 10 Lohmann (Fn . 9), S . 10 . 11 Lohmann (Fn . 9), S . 10 . 12 Vgl . SR 0 .103 .1; SR 0 .103 .2 . Hier differenziere ich im Unterschied zu Lohmann und verstehe die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 v . a . in ihrer politischen Dimension, während die UNO-Pakte I und II von 1966 den Menschenrechten rechtliche Verbindlichkeit verleihen .
9
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die individuelle Selbstbestimmung auf nicht mehr allgemein begründbare Weise einschränkt . Protest gegen Verletzungen der Menschenrechte baut darauf auf, dass es sich bei den Menschenrechten um allgemein begründbare Rechte handelt .13 Davon hängt direkt auch die Universalität der Menschenrechte ab, denn der Anspruch, dass alle Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind, kann nur aufrechterhalten bleiben, wenn die Menschenrechte insofern kohärent bleiben, als sie sich der Begründungsfrage stellen . Des Weiteren unterstreicht die kulturelle Differenz als Herausforderung für die Universalität der Menschenrechte die Notwendigkeit einer moralischen Begründung der Menschenrechte . Ohne eine moralische Begründung der Menschenrechte würden sie vom kulturellen Hebel aus ihren Fugen geworfen . Die Menschenrechte können ohne moralische Begründung weder die kulturelle Differenz gewährleisten noch in die Kulturen hineinwirken, da ohne eine moralische Begründung über die Grenzen der Kulturen hinweg die Kulturgrenzen gleichsam die Grenzen für die Geltung der Menschenrechte wären . Menschenrechte werden gerne absolut, als ewige unveränderliche Rechte verstanden, nach deren Begründung niemand fragt . Sie scheinen keine Alternative zu kennen und gelten absolut . Sie scheinen immun gegen kulturelle Unterschiede zu sein . Sie werden gepredigt und mit missionarischem Eifer indoktriniert . Auch C . Menke und A . Pollmann stellen fest, dass Menschenrechte zu einer „schlechthin grundlegenden und weltweit gültigen politischen Idee geworden“14 sind . Der Ruf nach einer Begründung dieses Anspruchs scheint unterzugehen . Es scheint ausreichend zu sein, auf die Allgemeine Erklärung von 1948, auf die UNO-Pakte I und II von 1966 und weitere Menschenrechtsverträge zu verweisen, um die Universalität der Menschenrechte zu begründen . Die Menschenrechte scheinen gegenwärtig gar nicht mehr einer Begründung zu bedürfen . Dies hat fatale Folgen, denn die Menschenrechte können so nicht universell überzeugen, bleiben nur für einen beschränkten Adressatinnen- und Adressatenkreis interessant und verspielen sich ein hohes Mass an Glaubwürdigkeit durch eine substantielle Inkonsistenz . Diese besteht darin, zum einen darauf abzuzielen, das einzelne Individuum zu schützen, zum anderen gleichzeitig dessen Freiheit unbegründet durch die Menschenrechte einzuschränken . Dieses Menschenrechtsverständnis tappt dabei in die Falle, dass man allzu gerne seine eigenen Werte voraussetzt und sie als gegeben ansieht, ohne einer Begründung zu bedürfen . Ebenso hinterfragt man nicht, was einem intuitiv richtig erscheint, auch wenn es für diesen intuitiven Entscheid keine Begründung geben mag . Menschenrechte sind aber im Gespräch zu begründen .15 Denn wie bereits oben erläutert handelt es sich bei den Menschenrechten in ihren drei Dimensionen (rechtliche, politische und moralische Dimension) um keine absolute Wahrheit im Sinne einer Offenbarung . Im Unterschied zu einer religiösen Offenbarung gelten sie für alle Menschen, nicht nur für die Adressaten einer bestimmten Offen-
13 Vgl . Lohmann (Fn . 9), S . 11 . 14 Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg 2007, S . 9 . 15 Vgl . dazu Peter G. Kirchschläger, Brauchen die Menschenrechte eine (moralische) Begründung?, in: Peter G. Kirchschläger/Thomas Kirchschläger et al. (Hrsg .), Menschenrechte und Kinder, Internationales Menschenrechtsforum Luzern (IHRF), Bd . IV, Bern 2007, S . 55–63 .
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barung . Menschenrechte bilden auch keine natürlichen Eigenschaften des Menschen . J . Habermas hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es gerade im Rahmen des interkulturellen Menschenrechtsdiskurses von entscheidender Bedeutung ist, dass „das Verständnis der Menschenrechte vom metaphysischen Ballast der Annahme eines vor aller Vergesellschaftung gegebenen Individuums, das mit angeborenen Rechten gleichsam auf die Welt kommt, befreit“16 wird . Denn nur so erübrigt sich die Alternative zwischen „Individualisten“ und „Kollektivisten“, indem „die gegenläufige Einheit von Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozess in die Grundbegriffe des Rechts“17 integriert werden . Menschenrechte stellen das Ergebnis einer menschlichen Konstruktion dar . Menschen haben sich auf sie geeinigt . Für diesen Konsens gibt es Gründe, die zu einer Begründung zusammengeführt werden müssen . Wie oben ausgeführt sind Menschenrechte gegenüber allen Betroffenen zu begründen und müssen für alle rechtfertigbar sein . J . Habermas weist darauf hin: „Auch der Menschenrechtsdiskurs ist darauf angelegt, alle Stimmen Gehör zu verschaffen . Deshalb schiesst er selbst die Standards vor, in deren Licht noch die die latenten Verstösse gegen den eigenen Anspruch entdeckt und korrigiert werden können . (…) Menschenrechte, die die Einbeziehung des Anderen fordern, funktionieren zugleich als Sensoren für die in ihrem Namen praktizierten Ausgrenzungen .“18 Die Entstehung der Menschenrechte weist einen historischen Charakter auf . A . Sen unterstreicht das und weist gleichzeitig auf die Bedeutung des wechselseitigen Austausches zwischen Theorie und Praxis der Menschenrechte hin: „Despite their practical preoccupations, human rights activists have reason enough to pay attention to the skepticism that the idea of human rights generates among many legal and political theorists . These doubts have to be – and can be addressed . But it is also important to note that the conceptual understanding of human rights, in turn, can benefit substantially from considering the reasoning that moves the activists and the range and effectiveness of practical actions they undertake, including recognition, monitoring and agitation, in addition to legislation . Not only is conceptual clarity important for practice, the richness of practice (…) is also critically relevant for understanding the concept and reach of human rights . There is, I must conclude, no great deficit in the balance of trade between theory and practice .“19 Dies trifft besonders zu, wenn der Fokus auf der Universalität der Menschenrechte liegt . Menschenrechtspraxis läuft im Falle eines unreflektierten Verständnisses des menschenrechtlichen Universalitätsanspruchs Gefahr, in ihrem Einsatz für die Menschenrechte den selbstbestimmten Menschen aus den Augen zu verlieren, der ein Recht darauf hat, sich mit Begründungsfragen auseinanderzusetzen … Menschenrechtstheorie muss sich auf Fragen konzentrieren, die zur Menschenrechtspraxis einen Beitrag leisten . So stellt sich im Bezug auf die Universalität der Menschenrechte 16 Jürgen Habermas, Zur Legitimation durch Menschenrechte, Abs . I, in: Hauke Brunkhorst/Peter Niesen (Hrsg .), Das Recht der Republik, Frankfurt a . M . 1999, S . 399 . 17 Habermas (Fn . 16), S . 400 (Hervorhebung im Text) . 18 Habermas (Fn . 16), S . 393–394 . Vgl . dazu L . Wingert, der dies als „detektivischen Zug“ der Menschenrechte bezeichnet (vgl . Lutz Wingert, Türöffner zu geschlossenen Gesellschaften, Frankfurter Rundschau vom 06 .08 .1995) . 19 Amartya Sen, Elements of a Theory of Human Rights, Philosophy & Public Affairs 2004 (32/4), S . 356 .
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aus der Perspektive der Menschenrechtspraxis die Frage: Was genau muss man begründen, wenn man die „Universalität der Menschenrechte“ begründet? Eigentlich muss man nicht begründen, warum der Mensch Trägerin und Träger von Menschenrechten ist, sondern die Aussage: „Alle Menschen haben die gleichen Menschenrechte“ . Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, vertieft auf Begründungsmodelle der Menschenrechte einzugehen, sondern ich muss es hier bei einem sehr kurz gehaltenen Überblick belassen: Auf der juristischen Ebene liegt der Begründung der Menschenrechte die demokratische Legitimität und auf der politischen Ebene die Rechtsstaatlichkeit des politischen Prozesses (Mensch als Bürgerin und Bürger eines Staates) zugrunde . Auf der moralischen Ebene können nach R . Alexy acht Begründungen moralischer Normen identifiziert werden: die 1 . religiöse, 2 . biologische, 3 . intuitive, 4 . konsensuelle, 5 . instrumentelle, 6 . kulturelle, 7 . explikative Begründung, 8 . existentielle Begründungsversuche .20 Grundsätzlich gilt die Suche auf der moralischen Ebene einer moralischen Begründung, die den Anforderungen einer rationalen Moral genügt . „Eine rationale oder kritische Moral ist eine, die für ihre Grundsätze den Anspruch rationaler Begründbarkeit erhebt . Moralische Grundsätze sind rational begründet, wenn sie allgemein zustimmungsfähig sind, d . h . annehmbar für alle betroffenen Personen unter der Voraussetzung ihrer vollkommenen Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsfähigkeit .“21 „Gute Gründe“, die eine Begründung der Menschenrechte bilden, müssen diesem Kriterium genügen . 4 kulturelle dIfferenz als herausforderunG für dIe menschenrechte Die Universalität der Menschenrechte wird besonders durch die kulturelle Differenz herausgefordert .22 Dies mag auf einen ersten Blick erstaunen, da gerade die Menschenrechte durch den Schutz von Freiheiten des Individuums kulturelle Diversität fördert . S . Zurbuchen hält fest: “While I do not deny that human rights establish moral boundaries, it needs also to be seen that these rights enable members of religious communities and of other variants of cultural groups to maintain their distinct identity .”23 Die Wiener Konferenz 1993 bekräftigte erneut die Universalität der Menschenrechte . Von vielen Seiten wird die Universalität der Menschenrechte wegen der vermeintlichen westlichen Herkunft und Prägung der Menschenrechte in Frage gestellt,
20 Vgl . Robert Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004 (52), S . 17–21 . 21 Peter Koller, Die Begründung von Rechten, in: Peter Koller/Csaba Varga/Ota Weinberger, Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik: Ungarisch-Österreichisches Symposium der internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP 1990 (54), S . 75 . 22 Georg Lohmann unterscheidet drei Arten, auf die die Universalität der Menschenrechte in Frage gestellt wird (vgl . Lohmann [Fn . 4], Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 47–60) . 23 Simone Zurbuchen, Universal Human Rights and the Claim to Recognition of Cultural Difference, in: Beat Sitter-Liver/Thomas Hiltbrunner (Hrsg .), Universality: From Theory to Practice: An intercultural and interdisciplinary debate about facts, possibilities, lies and myths, Fribourg 2009, S . 285 .
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beispielsweise in der sogenannten „Asian values debate“24 . Was hier kritisiert wird, klingt bereits bei E . Burke in seiner Polemik gegen die Französische Erklärung der Rechte der Menschen von 1789 an: Burke geht davon aus, dass jeder Mensch innerhalb der politischen Ordnung, deren Teil er ist, gerecht behandelt werden muss . Das Verständnis von gerechter Behandlung hängt aber von den kulturellen und sozialen Bedingungen ab, die lokal vorherrschen . Daher gibt es eine Vielfalt von Vorstellungen von gerechter Behandlung, sodass eine Einheitlichkeit, wie sie in der Idee der Menschenrechte enthalten ist, eine Illusion darstellt . Zudem bedroht ein derartiger Katalog die lokalen politischen Ordnungen und ihr Verständnis von gerechter Behandlung .25 C . Taylor setzt in seiner Bewältigung dieser relativistischen Herausforderung beim „overlapping consensus“ von J . Rawls an,26 dessen Idee auf J . Maritain zurückgeht .27 Taylor hält einen derartigen Konsens, der auf ganz unterschiedlichen spirituellen und philosophischen Ansichten beruht, über Menschenrechte für möglich, schränkt dabei aber ein, dass unklar und offen bleibt, worin ein derartiger Konsens bestehen wird . Es liegt uns nahe anzunehmen, dass die Menschenrechte Inhalt dieses Konsenses wären . Dabei übersehen wir aber, dass die Kategorie der „Rechte“ westlichen Ursprungs ist . „These norms have to be distinguished and analytically separated not just from the background justifications, but also from the legal forms that give them force .“28 Während die Normen gleich bleiben sollen, können sowohl die Begründungen als auch ihre rechtliche Form variieren . Taylor arbeitet u . a . zwei wichtige Aspekte heraus, die Konvergenzen ermöglichen: Zum einen müssen wir uns nur auf unmittelbare praktische Konklusionen einigen, wenn sehr unterschiedliche Geister und Prämissen aufeinander treffen . Zum anderen gilt es, uns näher zu kommen, um uns in unserer Differenz gegenseitig besser zu verstehen .29 Der Zugang der kulturellen Mediation geht in eine ähnliche Richtung .30 Taylor setzt erstens unbegründet die Grundintentionen der Menschenrechte als unstreitig voraus und geht zweitens davon aus, dass alle Kulturen und Traditionen schliesslich zu den Menschenrechten hinführen . Beides scheint problematisch zu 24 Vgl . dazu Dieter Senghaas, Über asiatische und andere Werte, Leviathan 1995 (1), S . 5–12; Klaus F. Geiger/Manfred Kieserling (Hrsg .), Asiatische Werte: Eine Debatte und ihr Kontext, Münster 2001; Fareed Zakaria, Culture is Destiny: A Conversation with Lee Kuan Yew, Foreign Affairs 1994 (73/2), S . 109–126 . 25 Vgl . Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, Indianapolis 1987 . 26 John Rawls, Political Liberalism, New York 1993 . 27 Vgl . Charles Taylor, Conditions of an Unforced Consensus on Human Rights, in: Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell (Hrsg .), The East Asian Challenge for Human Rights, Cambridge 1999, S . 124–144 . 28 Taylor (Fn . 27), S . 143 . 29 Dabei betont Taylor vor allem die Bringschuld des Westens; vgl . dazu auch Charles Taylor, Modernity and the Rise of the Public Sphere, in: Grethe B. Peterson (Hrsg .), The Tanner Lectures on Human Values, Salt Lake City 1993 . 30 Vgl . Abdullahi Ahmed An-Na’im, The Cultural Mediation of Human Rights, in: Joanne R. Bauer/ Daniel A. Bell (Hrsg .), The East Asian Challenge for Human Rights, Cambridge 1999, S . 147– 168; Joseph Chan, The Asian Challenge to Human Rights: A Philosophical Appraisal, in: James Tuck Hong Tang (Hrsg .), Human Rights and International Relations in the Asia-Pacific Region, New York 1995, S . 25–38; Daniel A. Bell, The East Asian Challenge to Human Rights: Reflections on an East-West Dialogue, Human Rights Quarterly 1996 (18), S . 643–645 .
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sein, weil nicht einfach angenommen werden kann, dass alle Kulturen und Traditionen den Menschenrechten zustimmen und dass alle Kulturen und Traditionen auf die Menschenrechte verweisen . Gleichzeitig halte ich Taylors Ansatz für relevant, dass eine Wahrnehmung der Differenz zu einem besseren Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen und Traditionen führt . Dies ist gerade auf der Ebene der Anwendung und Förderung der Menschenrechte von besonderer Bedeutung . Dabei erweist sich aber als entscheidend, dass dieser Dialog zwischen den Kulturen und Traditionen bereits Regeln voraussetzt, nach denen er abläuft, sonst läuft er Gefahr, dass er gar nicht bzw . diskriminierend stattfindet . Diesen Referenzrahmen für den Dialog können die Menschenrechte darstellen . Aus der „inter-civilizational perspective“ versucht Y . Onuma, mit dem Begriff „intercivilizational“ den zu engen Begriff „Kultur“ zu überwinden . Onuma ist sich des problematischen Charakters des Zivilisationsbegriffs bewusst .31 Dennoch zieht er diesen dem Kulturbegriff aus folgenden drei Gründen vor: Erstens wird „Kultur“ im Menschenrechtsdiskurs nicht in einem komprehensiven sondern in einem sehr engen Sinn verwendet, der die ökonomische, die soziale, die zivile und politische Dimension ausschliesst . Zweitens besitzt auch „Kultur“ unendlich viele Definitionen und läuft Gefahr, ideologisch besetzt zu werden und national verstanden zu werden . Drittens wird mit dem Kulturbegriff der zeitliche Faktor vernachlässigt . Dem historischen Charakter wird „Zivilisation“ gerechter .32 Wie A .A . An-Na’im betont Onuma, dass Kulturen bzw . Zivilisationen keine ewigen Gebilde sind, sondern sich über die Zeit hin verändern . Interessanterweise streicht er aber gleichzeitig hervor, dass man auch für das Menschenrechtsverständnis zugestehen muss, dass es sich ändern kann . Wenn es darum geht, mit Menschenrechtsverständnis den sich weiterentwickelnden Umfang der Menschenrechte (z . B . das Recht auf Wasser, das Recht auf Menschenrechtsbildung oder die Diskussion über ein mögliches Recht auf eine saubere Umwelt) und die Ebene der Umsetzung der Menschenrechte zu bezeichnen, erweisen sich die Überlegungen von Onuma als überzeugend . Meint er damit auch die menschenrechtliche Begründungsfrage auf der moralische Ebene, würde ich an dieser Stelle ein Fragezeichen setzen, denn der Umstand, dass keine „guten Gründe“ (d . h . z . B . Gründe, von denen es denkbar ist, dass sie bei allen von dieser Entscheidung betroffenen Menschen in einer autonomen Entscheidung Zustimmung finden würden) aufgeführt werden können, die für den Ausschluss von Menschen als Trägerinnen und Träger der Menschenrechte sprechen, schränkt die Relevanz der historischen Kontingenz entscheidend ein . Mit O . Höffe würde ich bezogen auf das Verhältnis zwischen Kulturen und den Menschenrechten insgesamt eher von einer anderen Reihenfolge ausgehen, nämlich dass die Menschenrechte die Koexistenz und den Dialog zwischen Kulturen erst ermöglichen, und nicht aus dem Dialog der Kulturen entstehen können . Läuft der Ansatz beispielsweise von Taylor nicht Gefahr, Kulturen und Religionen per se zu 31 Vgl . dazu Lucien Febre et al., Civilisation: le mot et l’idée, Paris 1930; Alfred L. Kroeber/Clyde Kluckhohn, Culture: A critical review of concepts and definitions, Cambridge 1952; Roger M. Keesing, Theories of culture, Annual Review of Anthropology 1974 (3), S . 73–97 . 32 Vgl . Yasuaki Onuma, Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights: For Universalization of Human Rights through Overcoming of a Westcentric Notion of Human Rights, Asian Yearbook of International Law 2001 (7), S . 29–30 .
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unantastbaren Entitäten zu machen? In der Bedeutung des kategorischen Rechtsimperativs im Plural als kategorische Rechtsprinzipien hat Höffe ein entscheidendes Argument gegen die grundsätzliche Kritik des Pluralismus und gegen die kulturrelativistische Kritik des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte herausgearbeitet: Indem die Menschenrechte als kategorische Rechtsprinzipien Vor- und Rahmenbedingungen bilden, damit aus Verschiedenheit auch Wirklichkeit, damit auch gegen Widerstand legitime Vielfalt wird, sind es die Menschenrechte, die Vielfalt erst ermöglichen . Die unbegründete Annahme von Vielfalt ohne Menschenrechte ist insofern nicht zulässig, da unklar bleibt, wie eine Vielfalt gesichert werden kann, denn die Vielfalt konstituierenden Elemente enthalten nicht an sich die Forderung nach dem Schutz der Vielfalt . Vielmehr ist bei ihnen ein Partikularinteresse anzunehmen . Erst der Schutz der Vielfalt durch die Menschenrechte, deren einzige Einschränkung die Einhaltung der Menschenrechte darstellt, gewährleistet Vielfalt . Menschenrechte bedrohen mit ihrem Universalitätsanspruch nicht kulturelle Traditionen, sondern schützen sie, indem sie davor bewahren, von anderen kulturellen Traditionen in Frage gestellt zu werden . Dies ist gleichbedeutend mit der universell gültigen Einschränkung von Kulturen, dass sie innerhalb des Rahmens der Menschenrechte frei sind, d . h . innerhalb der Voraussetzungen, die auch ihre eigene Existenz schützt, d . h . in letzter Konsequenz, dass sie so weit frei sind, wie sie die Existenz von anderen Kulturen nicht in Frage stellen oder zerstören . Diese fundamentale Funktion der Menschenrechte für den Pluralismus würde ich beim Rahmen, den die Menschenrechte dem Pluralismus nach Höffe geben, noch besonders hervorheben bzw . ergänzen . Menschenrechte erfüllen in diesem Sinne eine friedens- und zukunftssichernde Funktion . Das stete Ringen um die Verständigung zwischen Kulturen, Traditionen, Religionen und Weltvorstellungen findet in den Menschenrechten einen begründeten Referenzrahmen, der einen respektvollen Umgang mit kultureller Differenz fördert, was sich als ein wichtiges Kriterium für die humane Qualität und für die Lebensmöglichkeiten der nächsten Generationen erweist . O . Höffe geht zu Recht davon aus, dass der Anspruch der Menschenrechte auf interkulturelle und überepochale Gültigkeit nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Legitimationsgrundlage von den Entstehungsbedingungen (d . h . z . B . von einer bestimmten Wirtschaftsform, einer bestimmten Staatsform33, …) des Rechtsinstituts losgelöst ist .34 Menschenrechte sind Rechte, die sich die Menschen gewähren als auch gegeneinander erheben . Dem Staat wird die Aufgabe zugesprochen, diese zu gewährleisten . Menschenrechte sind dem Menschen nach Höffe nicht in einem naturrechtlichen Sinn angeboren, sondern weil sie „den Menschen als Menschen möglich machen .“35 33 Vgl . dazu Georg Jellineks Differenzierung der Ansprüche eines Rechtssubjektes an die Rechts- und Staatsordnung in „status negativus“ (persönliche Freiheitsrechte), „status activus“ (demokratischen Mitwirkungsrechte) und „status positivus“ (Leistungsansprüche des Bürgers an sein Gemeinwesen) (vgl . Georg Jellinek, System der subjektiven Rechte, Freiburg i . B . 1892) . 34 Vgl . Otfried Höffe, Transzendentaler Tausch: Eine Legitimationsfigur für Menschenrechte?, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hrsg .), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a . M . 1999, S . 29 . 35 Höffe (Fn . 34), S . 34 . „Eine normative Anthropologie befasst sich mit dem wahrhaft humanen Menschen . Wer nun von einem entsprechenden Begriff aus Menschenrechte ausweisen will, läuft Gefahr, dass erst der humane Mensch zählt und dem nicht so humanen Menschen grundlegende Rechte abgesprochen werden . Der Gefahr, Ungleichheiten zum Recht zu verhelfen,
Das ethische Charakteristikum der Universalisierung
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Schliesslich stellt sich die Frage, von welchem Kulturbild wir ausgehen, wenn wir einfach annehmen, dass jede Kultur die Existenz einer anderen Kultur akzeptiert und voraussetzt, dass jede Kultur mit einer anderen Kultur koexistieren will .36 Was geschieht, wenn eine Kultur die Existenzberechtigung einer anderen Kultur negiert? Meine erste Reaktion wäre vielleicht, dass sie sich damit auch ihrer eigenen Existenzberechtigung berauben würde, was aber bereits voraussetzt, dass wir das in den Menschenrechten verankerte Prinzip der Reziprozität anerkennen . Dies ist aber nicht zwingend gegeben, womit eine Lösung im Dialog gefunden werden müsste . Auch ein Dialog erwiese sich aber als illusorisch, denn wie soll eine Kultur, die die Existenzberechtigung einer anderen Kultur bestreitet, diese andere Kultur am Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess beteiligen lassen und als Dialogpartner auf gleicher Augenhöhe, mit gleichem Anrecht auf Mitsprache und mit gleicher Entscheidungsgewalt akzeptieren, ohne dass sie sich an gemeinsame Regeln wie die Menschenrechte halten muss?37 Menschenrechte machen also nicht halt vor Kulturen, sondern wirken sogar in sie hinein bzw . stellen auch in ihnen den Anspruch, grundlegend für die Möglichkeit einer kulturellen Differenz zu sein . Menschenrechte unterstützen Wandel und Veränderungsprozesse im Dienste des Schutzes der Menschenwürde und der Freiheit des einzelnen Menschen in Kulturen, Religionen, Traditionen und Weltanschauungen oder lösen diese aus . Sie dienen Menschen, die sich von Unterdrückung und von Verletzungen ihres Menschseins befreien, als Begrifflichkeit und als Referenzrahmen . Menschen lösen mit ihrer Hilfe die Fesseln der Ohnmacht . Menschenrechte haben demzufolge auch Macht – Macht zu Würde und Freiheit . Diese Macht muss legitimiert sein, ganz im Sinne der Ursprünge der menschenrechtlichen Idee, den einzelnen Menschen vor Willkür und illegitimen Machtgebrauch u . a . durch den Staat zu schützen . So stellt die kulturelle Differenz nicht nur eine Herausforderung für die Menschenrechte dar, sondern an der kulturellen Differenz wird die Notwendigkeit der Universalität der Menschenrechte38 und einer Begründung der Universalität der Menschenrechte deutlich . entgeht, wer die Frage, wo der Mensch zu sich selbst kommt, offenlässt . Aus diesem, aber auch nur diesem Grund pflegt die Idee der Menschenrechte hinsichtlich des Humanum eine bewusste Unbestimmtheit; sie verzichtet auf jeden normativen Begriff . Indem die Idee der Menschenrechte zum Humanum gar nicht Stellung nimmt, enthält sie eine Partialanthropologie und kann nur deshalb den verschiedenen Kulturen und Epochen zugemutet werden . Scheinbar ein Mangel, ist die Unbestimmtheit tatsächlich ein Vorzug, weder eine Gleichgültigkeit gegen das Humanum noch eine Reduktion, sondern ein Ausblenden der hier störenden Faktoren, eine Konzentration auf das Wesentliche“ (Höffe [Fn . 34], S . 32–33) . 36 Vgl . zum Verständnis von Kulturen und seiner Kontextabhängigkeit Thomas Göller, Kulturverstehen: Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis, Würzburg 1999 . 37 Vgl . Thomas Hoppe, Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit, Gleichheit und Solidarität: Grundlagen eines internationalen Ethos zwischen universalem Geltungsanspruch und Partikularitätsverdacht, Stuttgart 2002 . 38 Georg Lohmann stellt drei Möglichkeiten der Begründung der Universalität der Menschenrechte fest: „1 . die eine, umfassende und absolute moralische Begründung (…) 2 . pragmatische Begründung im Zuge der Globalisierung; (…) 3 . mehrere moralische Begründungen der Universalität der Menschenrechte angesichts des kulturellen Pluralismus“ (Lohmann [Fn . 4], Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte: Eine Einführung, S . 55) . Ich würde ergänzen, dass bei der dritten Möglichkeit noch zu differenzieren wäre, ob die Begründung
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der Universalität der Menschenrechte jeweils aus verschiedenen kulturellen und/oder religiösen Traditionen hervorgeht oder auf Letztere zugeht, sodass von vier Möglichkeiten die Rede wäre .
InformatIonen zu den autoren Dr . Tilmann Altwicker Assistent Universität Zürich Lehrstuhl Prof . Dr . Oliver Diggelmann eMail: tilman .altwicker@uzh .ch Dr . Stephan Ast Wissenschaftlicher Mitarbeiter Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lehrstuhl Prof . Dr . Joachim Renzikowski eMail: stephan .ast@jura .uni-halle .de Thomas Grosse-Wilde Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Bonn Lehrstuhl Prof . Dr . Dr . h . c . Urs Kindhäuser eMail: thomasgw@uni-bonn .de PD Dr . Michael Grünberger Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität zu Köln Institut für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht eMail: michael .gruenberger@uni-koeln .de Dr . Julia Hänni Oberassistentin Universitäten Bern, Neuenburg und Freiburg Institut für Europarecht eMail: julia .haenni@unifr .ch Frederik von Harbou Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Zürich Rechtswissenschaftliches Institut eMail: fharbou@yahoo .de Dr . Magdalena Hoffmann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Bern Institut für Philosophie eMail: magdalena .hoffmann@philo .unibe .ch
314 Matthias Jenal Wissenschaftlicher Assistent Universität Freiburg/Schweiz Departement für Strafrecht, Prof . Dr . M .A . Niggli eMail: matthias .jenal@unifr .ch Dr . Rainer Keil Fakultätsreferent Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Juristische Fakultät eMail: keilr@jurs .uni-heidelberg .de Dr . Peter G . Kirchschläger PHZ Luzern Co-Leiter Zentrum für Menschenrechtsbildung (ZMRB) eMail: peter .kirchschlaeger@phz .ch Luca Langensand Wissenschaftlicher Assistent Universität Luzern Rechtswissenschaftliche Fakultät eMail: luca .langensand@unilu .ch Dr . des . Franziska Martinsen Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Hannover Institut für politische Wissenschaft eMail: f .martinsen@ipw .uni-hannover .de Prof . Dr . Klaus Mathis Universität Luzern Rechtswissenschaftliche Fakultät eMail: klaus .mathis@unilu .ch Tarek Naguib Wissenschaftlicher Assistent Fachstelle Égalité Handicap Bern eMail: tarek .naguib@gmail .com Norbert Paulo Promotionsstudent Philosophie Universität Hamburg eMail: norbert .paulo@jura .uni-hamburg .de
Informationen zu den Autoren
Informationen zu den Autoren
Dr . Pawel Polaczuk Wissenschaftlicher Assistent Ermländisch-Masurische Universität Olsztyn Lehrstuhl für Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Staatslehre eMail: pawel .polaczuk@uwm .edu .pl Tobias Schaffner Tutor in History and Philosophy of International Law and in Jurisprudence University of Cambridge, Faculty of Law, Pembroke College eMail: ts370@cam .ac .uk Tim Wihl Wissenschaftlicher Mitarbeiter Humboldt-Universität Berlin Lehrstuhl Prof . Dr . Christoph Möllers eMail: tim .wihl@rewi .hu-berlin .de Dr . Benno Zabel Akademischer Rat a . Z . Universität Leipzig Lehrstuhl Prof . Dr . M . Kahlo eMail: zabel@rz .uni-leipzig .de Dr . Till Zimmermann Akademischer Rat a .Z . Universität Passau Lehrstuhl Prof . Dr . Armin Engländer eMail: till .zimmermann@uni-passau .de Dr . des . Sabrina Zucca-Soest Wissenschaftliche Mitarbeiterin Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Lehrstuhl Prof . Dr . Roland Lhotta eMail: zucca@hsu-hh .de Tobias Zürcher Wissenschaftlicher Assistent Universität Bern Institut für Strafrecht und Kriminologie eMail: tobias .zuercher@krim .unibe .ch
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a rc h i v f ü r r e c h t s - u n d s o z i a l p h i l o s o p h i e
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beihefte
Herausgeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Die Bände 1–4 sind im Luchterhand-Fachverlag erschienen.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–079x
72. Morigawa Yasutomo (Hg.) Law in a Changing World: Asian Alternatives Proceedings of the 4th Kobe Lectures being the first Asia Symposium in Jurisprudence, Tokyo and Kyoto, 10th and 12th October 1996 1998. 164 S., kt. ISBN 978-3-515-07262-5 73. Peter Strasser / Edgar Starz (Hg.) Personsein aus bioethischer Sicht Tagung der Österreichischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 29.–30. November 1996 in Graz 1997. 185 S., kt. ISBN 978-3-515-07108-6 74. Ulfrid Neumann / Lorenz Schulz (Hg.) Verantwortung in Recht und Moral Referate der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 2.–3. Oktober 1998 in Franfurt am Main 2000. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-07635-7 75. Lorenz Schulz (Hg.) Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung Referate der 6. Tagung des Jungen Forum Rechtsphilosophie am 1. Oktober 1998 in Frankfurt am Main 2000. 201 S., kt. ISBN 978-3-515-07683-8 76. Kurt Seelmann (Hg.) Kommunitarismus versus Liberalismus / Communautarisme contre Libéralisme / Communitarismo verso Liberalismo Vorträge der Tagung der Schweizer Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 23.–24. Oktober 1998 in Basel 2000. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-07657-9 77. Kurt Seelmann (Hg.) Nietzsche und das Recht / Nietzsche et le Droit / Nietzsche e il Diritto
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Der Tagungsband vereint die Beiträge zu den Treffen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in Halle (Saale) und Luzern. Die hallische Tagung befasste sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auf Fragen der Gleichheit, mit der Gleichheit der Rechtsanwendung, dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und der Begründung von Diskriminierungsverboten. Im Mittelpunkt der Luzerner Tagung standen die Prinzipien der Unparteilichkeit und der Universalität in Recht und Ethik.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10067-0