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German Pages 383 [386] Year 2023
Zeitliche Dimensionen und Kritische Theorie(n) des Rechts Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2020 in München und im Mai 2021 in Braunschweig und Hamburg Herausgegeben von Sonja Heimrath, Esther Neuhann, Tanja Niedernhuber, Kristina Peters, Thomas Steenbreker und Claudia Wirsing
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Franz Steiner Verlag
Beiheft 172
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale Archivo de Filosofía Jurídica y Social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, ll. m. Beiheft 172 https://www.steiner-verlag.de/brand/Archiv-fuer-Rechts-und-Sozialphilosophie
ZEITLICHE DIMENSIONEN UND KRITISCHE THEORIE(N) DES RECHTS Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie ( JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2020 in München und im Mai 2021 in Braunschweig und Hamburg Herausgegeben von Sonja Heimrath, Esther Neuhann, Tanja Niedernhuber, Kristina Peters, Thomas Steenbreker und Claudia Wirsing
Franz Steiner Verlag
Umschlagbild: Justitia, Landgericht Ulm Quelle: shutterstock.com / Georg_89 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023 www.steiner-verlag.de Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13483-5 (Print) ISBN 978-3-515-13486-6 (E-Book) https://doi.org/10.25162/9783515134866
Vorwort der Herausgeber:innen
Dieser Band vereint die Beiträge der 28. und 29. Jahrestagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie, die am 9. September 2020 in München zum Thema „Recht und Zeit“ und vom 6. bis 8. Mai 2021 in Braunschweig und Hamburg zum Thema „Kritische Theorie(n) des Rechts“ virtuell stattgefunden haben. Die Veranstalter:innen der beiden Tagungen und Herausgeber:innen des Bandes danken dem Jungen Forum Rechtsphilosophie, insbesondere seinen Sprecher:innen Markus Abraham und Sabrina Zucca-Soest, für die Unterstützung sowie der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie und ihren (Vize-)Präsidenten Klaus Günther und Benno Zabel für die Aufnahme in das offizielle Programm der Gesellschaft und die Möglichkeit, dieses Buch als Beiheft im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie zu publizieren. Dank gilt ebenso dem Alumni- und Förderverein der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Verlag Duncker & Humblot für ihre großzügige Förderung der Tagung „Recht und Zeit“. Ebenfalls gedankt sei dem Nomos-Verlag für die finanzielle Unterstützung der Tagung „Kritische Theorie(n) des Rechts“. Ein besonderer Dank gilt dem Künstler Adjani Okpu-Egbe, der speziell für die Tagung „Kritische Theorie(n) des Rechts“ ein Bild („Viagra Subsidized, Abortion Illegalized“) angefertigt hat, welches das Tagungsprogramm geschmückt hat und als limitierter Kunstdruck von den Tagungsteilnehmer:innen erworben werden konnte. Gedankt sei außerdem allen Beiträger:innen zu diesem Band für die gute Zusammenarbeit, die lebhaften Diskussionen und den gelungenen Austausch. Dieser Austausch war auf beiden Tagungen etwas Besonderes: Nicht nur sind Philosoph:innen mit Rechtswissenschaftler:innen ins Gespräch gekommen, sondern es konnten sich auch Forschende aus Strafrecht, Öffentlichem Recht und Zivilrecht begegnen und vernetzen. Die Durchführung der Tagung „Recht und Zeit“ wurde von Elisabeth Tscharke unterstützt. Bei der Vorbereitung und während der Tagung „Kritische Theorie(n) des Rechts“ hat Maxime Wachs geholfen. Beiden gilt herzlicher Dank. Für die gewissenhafte Korrektur und Unterstützung bei der Fertigstellung des II. Teils dieses Bandes
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Vorwort der Herausgeber:innen
sei außerdem herzlich Adrian Mohr gedankt; ebenso Emma Hofmann, die vor der Publikation noch einmal das gesamte Werk sorgfältig durchgesehen hat. Zuletzt gilt Dank den Mitarbeiter:innen des Franz Steiner Verlags für die Betreuung der Publikation. Sonja Heimrath, Esther Neuhann, Tanja Niedernhuber, Kristina Peters, Thomas Steenbreker und Claudia Wirsing Braunschweig, Hamburg, München, im Frühjahr 2023
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: „Recht und Zeit“ SONJA HEIMRATH / TANJA NIEDERNHUBER / KRISTINA PETERS / THOMAS STEENBREKER
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 LINDA LILITH OBERMAYR
Was ist ein modernes Gesetz?
Recht als Ausdruck und Bedingung bürgerlicher Zeitlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 SABINE KLOSTERMANN
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 ALICE REGINA BERTRAM
Perspektiven auf Zeit im Recht
Das bisherige Verständnis von Zeit im Recht und die Notwendigkeit der Betrachtung von Zeit als Ressource. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 MORITZ HIEN
Schulden als relativiertes Recht
Zur Dekonstruktion des Faktors Zeit im klassischen Zivilrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 DAVID BOSS
Positiviert ewiges Recht
Ein zeitkonzeptueller Versuch zur Konstituierung naturrechtsähnlichen Positivismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 YURY SAFOKLOV
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
Zwischen zeitlicher Transzendenz und wandelnder Verfassungswirklichkeit. . . . . . . . . . 101
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Inhaltsverzeichnis
SVEN DOS SANTOS LOPES
Erinnerung als Durchbrechung der Zeit
Gibt es eine Verantwortung für historisches Unrecht?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Zweiter Teil: „Kritische Theorie(n) des Rechts“ ESTHER NEUHANN / CLAUDIA WIRSING
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
I. Rechtstheorie und -kritik in der frühen Kritischen Theorie SIMON GANSINGER
Trägheit als Fortschritt
Neumann und Horkheimer zum normativen Potenzial des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 SIMON GURISCH
Die Vormacht des Allgemeinen
Über die Funktion des Rechts als ideologischem Staatsapparat bei Adorno und Neumann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 HANNES KAUFMANN
Das Recht der Selbstaufhebung
Vom Recht auf Kritik zur Kritik der Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 ANTONIA PAULUS
Otto Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität (1932) als Ausgangspunkt einer Kritischen Theorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 JUDITH HANTEL
Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?
Privatrecht bei Eugen Paschukanis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Inhaltsverzeichnis
II. Aktualisierungsbestrebungen und Herausforderungen DARIA BAYER
Gesellschaftsnahe Rechtskritik?
Von der materialistischen Theorie zur kritischen Praxis der Rechtsphilosophie. . . . . . . . 259 BARBARA BUSHART
Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt . . . . . . 275 TATJANA NOEMI TÖMMEL
Teilnahme und Teilnahmefähigkeit
Eine Herausforderung für Habermas’ Diskurstheorie des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 CLEMENS BOEHNCKE
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
III. Konkrete Problemfelder einer kritischen Theorie des Rechts JEREMIAS DÜRING / CONSTANTIN LUFT
Justitias Blinder Fleck
Antisemitismus, Adorno und das AGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 INES RÖSSL
Intersektionale Rechtskritik
Kimberlé Crenshaw als Kompass. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
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Erster Teil: „Recht und Zeit“
Einleitung
SONJA HEIMRATH / TANJA NIEDERNHUBER / KRISTINA PETERS / THOMAS STEENBREKER
Die Tagung „Recht und Zeit“ fand am 9. September 2020 als Online-Tagung statt. Nachdem wegen der Entwicklungen der Corona-Pandemie eine Präsenzveranstaltung zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war, hat das Online-Format dennoch Gelegenheit gegeben, ins wissenschaftliche und persönliche Gespräch zu kommen. Als Ergebnis liegen heute in diesem Band sieben Texte vor, die das Verhältnis von Recht und Zeit unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen. Das Thema der Tagung geht auf eine der fundamentalen Erfahrungen des menschlichen Daseins zurück: Das erlebte Vergehen der Zeit. Die Zeit verstehen wir als maßgeblichen Faktor dafür, wie unsere Bewertungen und Entscheidungen zustande kommen. Das Recht verarbeitet diese normative Bedeutung der Zeit, indem es zum Beispiel Straftaten und Ansprüche verjähren lässt oder mit der zeitigen und lebenslangen Freiheitsstrafe verlangt, die Schuld zeitlich zu quantifizieren. Die Tagung ist der Intuition gefolgt, dass die Zeit auch normativ relevant ist, und hat untersucht, wo und wie die Zeit im Recht eine Rolle spielt. Linda Lilith Obermayr stellt in ihrem Beitrag zunächst die Frage, was ein modernes Gesetz ist, und argumentiert, dass sich das moderne Recht im gegenwärtigen bürgerlichen Recht erschöpft. Dabei expliziert sie das bürgerliche Recht als bestimmte historische Form, die im wechselseitigen Verhältnis der Gleichursprünglichkeit zur kapitalistischen Produktionsweise, und damit zur Warenform, steht. Sabine Klostermann untersucht in ihrem Beitrag das Verhältnis von Zeit und Recht aus der Perspektive von Rezeptionen. Rezeptionen werden häufig aus Gründen der Zeitersparnis vorgenommen, werfen zugleich aber auch neue zeitliche Probleme auf. Der Beitrag erarbeitet unter anderem, wie und warum sich geistige Entitäten nach dem Rezeptionsakt ändern und was das für den Einsatz der Rezeptionstechnik bedeutet. Alice Regina Bertram betrachtet in ihrem Beitrag Zeit als Ressource. Sie arbeitet zunächst historisch heraus, dass Zeit im Recht üblicherweise als linearer Prozess ver-
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Sonja Heimrath / Tanja Niedernhuber / Kristina Peters / Thomas Steenbreker
standen wird. Dennoch kann Zeit aus einer anderen Perspektive auch ein Mittel darstellen, um individuelle Lebenszwecke zu erreichen. Nach den Untersuchungen des Beitrags kann sie dann als Ressource dienen, Autonomie zu verwirklichen. Moritz Hien analysiert Schulden als relativiertes Recht, indem er Derridas irrational-transzendentalen Begriff der Gabe von Zeit für das rational-ökonomisch geprägte Zivilrecht fruchtbar macht. Er identifiziert zwischen Verjährung und Leistungsstörung einen metonymischen Faktor Zeit, der durch den am Vertragsschluss orientierten Grundsatz der Privatautonomie ausgeschlossen wird, sich aber durch die Normativität im Gründungs- und Entscheidungsparadox des Rechts seinen Weg zurück ins Sollen bahnt. Mit der in „Ewigkeitsklauseln“ als änderungsfesten Verfassungsprinzipien zum Ausdruck kommenden zeitlichen Komponente des Rechts beschäftigen sich gleich zwei Beiträge: David Boss arbeitet die Trennschärfe des rechtstheoretischen Unterscheidungskriteriums der zeitlichen Geltung zwischen der Vielfalt an naturrechtlichen sowie rechtspositivistischen Lehren heraus und stellt in diesem Kontext die leitbildliche Wirkung von geschriebenen verfassungsrechtlichen „Ewigkeitsklauseln“ auf den, insbesondere ästhetischen, Prüfstand. Der Beitrag von Yury Safoklov geht der Frage nach, ob die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG dem Druck der Zeit tatsächlich standhalten kann oder aber bereits derart massive interpretatorische Einwirkungen erfahren hat, dass sie die Unerschütterlichkeit des Verfassungsfundaments nur noch suggeriert. Sven dos Santos Lopes beschäftigt sich schließlich mit der Frage, ob es eine Verantwortung für historisches Unrecht gibt. Er setzt dazu auf der Ebene kollektiver Erinnerung an. Sein Beitrag leitet eine Erinnerungsverantwortung aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen ab und erörtert, wie die üblichen Probleme im Zusammenhang mit der kollektiven Verantwortung überwunden werden können. Es ist ihm ein Anliegen, dass der Erinnerung an den Holocaust ein dauerhafter Platz im öffentlichen Gedächtnisraum zugestanden wird, auch wenn die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges nach und nach versterben.
Was ist ein modernes Gesetz? Recht als Ausdruck und Bedingung bürgerlicher Zeitlichkeit1
LINDA LILITH OBERMAYR
What is a Modern Law? Law as Embodiment and Precondition of Bourgeois Temporality Abstract: Against the rather intuitive interpretation of the question on the nature of modern law,
which, in a nutshell, perceives itself as the question on a future transformation of the law’s content, bound to specific values or ideals, I will argue in the following that modern law completely coincides with present bourgeois law. In doing so bourgeois law will be expatiated as a specific historical form, which stands in the reciprocal relationship of equiprimordiality with capitalist production, that is with commodity form. Keywords: Pashukanis, legal form, materialistic critique of law, critique of ideology, legal fetish, bourgeois society Schlagworte: Paschukanis, Rechtsform, materialistische Rechtskritik, Ideologiekritik, Rechtsfetisch, bürgerliche Gesellschaft
1. Einleitung
Der Titel des vorliegenden Beitrages ist irreführend. Irreführend, weil die nachfolgende Argumentation zwar an die im öffentlichen, aber auch im rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Diskurs häufig gestellte Frage nach der Beschaffenheit eines modernen Gesetzes anknüpft, diese Frage jedoch in einer zweifachen EntgegenDer vorliegende Beitrag folgt in zentralen Punkten meiner Doktorarbeit, die unter dem Titel „Die Kritik der marxistischen Rechtstheorie. Zu Paschukanis’ Begriff der Rechtsform“ im Sommer 2022 bei Velbrück Wissenschaft veröffentlicht wurde. 1
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Linda Lilith Obermayr
setzung behandelt wird: Erstens, weil sie endgültig mit einem entsprechenden Wahrheitsanspruch beantwortet wird, ohne dass hierbei bestimmte Werte oder Ideale als genuin „modern“ ausgewiesen werden; und folglich zweitens, weil der Begriff der Modernität nicht über einen spezifischen Gesetzes- oder Rechtsinhalt, sondern über die spezifische Form des Gesetzes und des Rechts bestimmt wird. Ich möchte daher zunächst ein paar Gedanken zum Begriff der „Moderne“ anstellen wie auch zu Bedeutung und Funktion dieses Begriffes für eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Recht. Im Hauptteil des Beitrages wird sodann die These aufgestellt, dass ein modernes Gesetz bzw. modernes Recht bereits und exakt das wirkliche Recht ist. Modernität wird daher nicht als normativer Begriff im Sinne eines Imperativs an die Ausgestaltung zukünftiger Rechte reflektiert, sondern als ein Verhältnis, welches das Hier und Jetzt unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmt. Das heißt, und das ist der Untertitel des Beitrages, dass das Recht Ausdruck und Bedingung bürgerlicher Zeitlichkeit, der Zeit der bürgerlichen Gesellschaft, also der Gegenwart ist. Dabei wird sich mit Eugen Paschukanis zeigen, dass das Recht als Rechtsform eng mit der Warenform verknüpft ist, mit der Form, in der sich ökonomische Beziehungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise vermitteln. Rechtskritik, so die Konsequenz, muss sich als Rechtsformkritik betätigen, um das Recht einer fundamentalen Kritik unterziehen zu können und das heißt darzulegen, inwieweit das Recht Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung ermöglicht und reproduziert. Die Pointe besteht darin, die emanzipatorische Dimension des Rechts mit seiner unterdrückenden Dimension in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zusammenzudenken. Mit Eugen Paschukanis soll ein radikaler Schluss aus dieser fundamentalen Rechtsformkritik gezogen und das sogenannte „Absterben des Rechts“ angedacht werden, womit zwei letzte Fragen aufgeworfen sind: Können wir uns ein gesellschaftliches Leben ohne Recht vorstellen? Und ist diese Frage nach der Vorstellbarkeit und Möglichkeit eines utopischen, rechtsfreien Zustandes überhaupt Bedingung für die Artikulation einer radikalen Rechtsformkritik? 2.
Jenseits eines normativen Begriffes von Modernität
Die Frage nach der Beschaffenheit eines modernen Gesetzes ist tatsächlich eine Frage unserer Zeit, nämlich in dem Sinne, dass sie regelmäßig im tagespolitischen, rechtsphilosophischen und rechtsdogmatischen Diskurs de lege ferenda verhandelt wird; etwa, wenn anlässlich einer neuen Regierungskoalition „moderne“ Gesetze zum Umweltschutz, Reformen im Gefängniswesen oder „Modernisierungen“ im Arbeitsrecht diskutiert werden. Aber auch die alltägliche Kritik an Politik und Recht äußert sich in dem Vorwurf, dies oder jenes sei nicht mehr zeitgemäß. Unter dem Hinweis auf das aktuelle Jahr wird damit der Wirklichkeit die Geltung, ja sogar im formallogischen Widersinn die Möglichkeit der Wirklichkeit abgesprochen: „Wir haben doch 2021!“.
Was ist ein modernes Gesetz?
Jenseits der ideologischen Gleichsetzung von „neu“ und „modern“ fungiert Modernität in dem einen wie in dem anderen Fall als Maßstab, an dem die bestehende Rechtsordnung, konkrete Gesetzesvorhaben oder Rechtsakte, letztlich die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit bemessen werden. Dabei scheint die Modernität einen Wert an sich auszudrücken, etwas also, das für sich genommen gut und wünschenswert ist. Wenn man sich auf ein paar einschlägige Werte oder Charakteristika einigen wollte, so würde „modern“ wohl demokratisch, pluralistisch, gendergerecht, inklusiv, tolerant, transparent, rechtsstaatlich bedeuten. Modern ist aber vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen rund um Corona auch das exakte Gegenteil: Modern ist wohl auch ein Recht, das flexibel in Verordnungsform auf Probleme der globalisierten Welt reagiert und sei es auch darum, demokratische Verfahren und Rechtsstaatlichkeit (zeitweise) zu suspendieren. Das verrät, dass der Begriff der Modernität, wenn er als Bündel von Werten betrachtet wird, inhaltlich vollkommen unbestimmt ist. Die Relativität dieser normativen Begriffsbestimmung der Modernität ist zwar eine banale Einsicht, doch lässt sie bereits an dieser Stelle ein über die bloße Relativitätsdiagnose hinausgehendes Urteil über eine inhaltliche, am Begriff der Modernität verlaufende Rechtskritik zu: Sie ist ungenügend, denn bereits ihr Maßstab ist nicht hinreichend bestimmt. Entgegen einer normativen Bestimmung der Modernität vermittels abstrakter Ideale und Werte, lässt sich die Modernität über den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft definieren. Modernität bezeichnet dann die spezifische Verfasstheit oder Struktur der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft und auch G. W. F. Hegel ordnet die „Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft“ der „modernen Welt“2 zu. Die bürgerliche Gesellschaft ist durch die Differenz zwischen bourgeois und citoyen, zwischen der „konkrete[n] Person, welche sich als besondere Zweck ist“ und der „besondere[n] Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit“3 bestimmt. In der bürgerlichen Gesellschaft kommt daher zum Ausdruck, dass die Allgemeinheit als die Sphäre des citoyen die Besonderheit als die Sphäre des bourgeois beschränkt, zugleich jedoch die Besonderheit an die Allgemeinheit gebunden ist, weil sich erstere nur vermittels letzterer geltend macht: „Dies Prinzip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes und zunächst wenigstens ebensowohl identisch mit dem Allgemeinen als unterschieden von ihm.“4 Die widersprüchliche Einheit zwischen Besonderheit und Allgemeinheit kulminiert in der philosophischen Kardinalfrage nach dem Wesen und der Möglichkeit subjektiver Freiheit. So lesen wir erneut bei Hegel, dass „[d]as Prinzip der neueren Welt überhaupt […] die Freiheit der Subjektivität [ist]“5 oder gar dass „das Recht der subjektiven Freiheit […] den Wende- und Mittelpunkt in dem 2 3 4 5
Hegel (1989), 339, § 182 Zusatz. Hegel (1989), 339, § 182. Hegel (1989), 233, § 124 Anmerkung. Hegel (1989), 439, § 273 Zusatz.
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Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit [macht]“6. Exakt dies ist, was im Folgenden Modernität oder, was in diesem Zusammenhang dasselbe ist, bürgerliche Zeitlichkeit heißen soll. In Anknüpfung an Hegel und Karl Marx streicht insbesondere Georg Lukács hervor, dass der Konflikt zwischen Allgemeinem und Besonderem nicht einer ahistorischen, menschlichen Naturnotwendigkeit entspringt, sondern in der bürgerlichen Gesellschaft als spezifisch historischem Zustand der Gesellschaft angesiedelt ist. So handelt es sich dabei nicht um einen „Konflikt von Individuum und Gesellschaft“, sondern um einen „objektiv ökonomische[n] Antagonismus, der sich in Klassenkämpfen ausdrückt“; diese historisch konkrete Seite des Antagonismus verflüchtigt sich jedoch, wenn die bürgerliche Gesellschaft nicht als bürgerliche Gesellschaft reflektiert, sondern „als allgemeine Form der Gesellschaft überhaupt fixiert wird“7. Die Differenz zwischen Privatinteresse und Allgemeininteresse, zwischen bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat, zwischen bourgeois und citoyen, ist Resultat der Auflösung der feudalen Gesellschaft und erscheint bereits in einer fetischisierten, weil naturalisierten Form. In Zur Judenfrage lesen wir weiter bei Marx: „Die feudale Gesellschaft war aufgelöst in ihren Grund, in den Menschen. Aber in den Menschen, wie er wirklich ihr Grund war, in den egoistischen Menschen.“8 Selbstverständlich ist der Egoismus bei Marx nicht psychologisch, sondern als notwendig ökonomische, mit dem Privateigentum verknüpfte Kategorie zu verstehen. Marx fährt fort: „Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundne Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewißheit, also natürlicher Gegenstand.“9 Die Genealoge des egoistischen Menschen in Gegensatz zum politischen Menschen, zum citoyen, erzeugt den notwendigen Schein, der egoistische sei der natürliche, ursprüngliche Mensch; ein Bild, das prominent in den Naturzustands- und Gesellschaftsvertragstheorien tradiert wird. Die ahistorische Bestimmung des Gegensatzes zwischen Allgemeinem und Besonderem ist jedoch auch eine, die das Besondere isoliert fixiert und einseitig gegen das Allgemeine behauptet. Diese Fixierung des Besonderen in seiner Unterschiedenheit und Entgegensetzung gegen das Allgemeine „bringt so eine Ansicht der Moralität hervor, daß diese nur als feindseliger Kampf gegen die eigene Befriedigung perenniere – die Forderung ‚mit Abscheu zu tun, was die Pflicht gebeut‘“.10 Was an dieser Stelle anklingt, ist die schon in frühen Jahren in Bern und Frankfurt formulierte Moralitätskritik Hegels, die vornehmlich gegen Immanuel Kant gerichtet ist. Auch Eugen Paschukanis wird – in diesem Zusammenhang wohl in unbewusster Anknüpfung an
6 Hegel (1989), 233, § 124 Anmerkung. 7 Lukács (1983), 74. 8 Marx (1968), Bd. 1, 369. 9 Marx (1968), Bd. 1, 369. 10 Hegel (1989), 233, § 124 Anmerkung.
Was ist ein modernes Gesetz?
Hegel – die Universalisierung des Konfliktes zwischen Allgemeininteresse und Besonderem als einen Aspekt des der bürgerlichen Gesellschaft entspringenden „Moralfetisches“ begreifen.11 So schreibt er, dass „[d]er kategorische Imperativ […] keineswegs ein gesellschaftlicher [im Sinne von natürlicher; L. L. O.] Instinkt [ist], denn die wichtigste Bestimmung dieses Imperativs ist, dort wirksam zu sein, wo keinerlei natürliche, organische, überindividuelle Motivierung möglich ist.“12 Der Kategorische Imperativ als die Fiktion des Allgemeininteresses oder Allgemeinwohls ist folglich nur dort sinnvoll denkbar, wo die Individuen zu ihrem Privatinteresse bzw. zu ihrem Egoismus genötigt sind: als Privateigentümer in der bürgerlichen Gesellschaft. 3.
Bürgerliche Rechtsform als modernes Recht
Wir halten zunächst fest, dass Modernität bürgerliche Zeitlichkeit oder die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet und haben damit dem Begriff der Moderne den Schein des normativen Ideals genommen. Auf diese Weise ist eine Annäherung an die Frage nach der Beschaffenheit eines modernen Gesetzes von der Wirklichkeit her möglich: Was heißt es, über das gegenwärtige Recht als modernes Recht zu sprechen? Oder anders gefragt, was ist die Besonderheit des gegenwärtigen als eines bürgerlichen Rechts? In Anknüpfung an einen nicht-normativen Begriff von Modernität, der die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer ambivalenten Struktur fasst, ist auch die Frage nach der Beschaffenheit des modernen Rechts aus der Perspektive der gegenwärtigen Wirklichkeit, nicht aber aus der Perspektive eines jenseitigen, idealen Sollens zu beantworten. Die Modernität des Rechts manifestiert sich daher auch an dieser Stelle nicht in einem konkreten Inhalt – wie etwa im Sozial-, Gleichbehandlungs- oder Antidiskriminierungsrecht –, sondern in seiner spezifischen Form. Modernität im Hinblick auf das Recht beschreibt die „bestimmte historische Form“13, in der wir uns innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aufeinander beziehen, wenn wir in ein rechtliches Verhältnis treten, aber auch, wodurch, wieso und wie wir dies tun. Und so fasst auch Christoph Menke den Begriff der Moderne wesentlich entlang der spezifisch „moderne[n] Form der Rechte“, welche „nur geschichtlich verstanden werden kann“14, in dezidiert ideologiekritischer Abhebung vom unmittelbaren Begriff des autonomen Subjekts. Denn „[e]s gibt die moderne Form der Rechte nicht, weil es autonome Subjekte gibt, sondern es gibt autonome Subjekte, weil es die moderne Form der Rechte gibt.“15
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Paschukanis (2003), 151 ff. [132 ff.]. Paschukanis (2003), 155 [136]. Paschukanis (2003), 52 [26]. Menke (2018), 17. Menke (2018), 17.
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Im Folgenden werde ich mit dem sowjetischen Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis eine radikale Rechtskritik als Rechtsformkritik andenken, die sich ebenfalls ideologiekritisch mit dem Begriff des autonomen Subjekts, des freien und gleichen Menschen, der Person, dem Rechtssubjekt auseinandersetzt. Radikal ist die Rechtsformkritik darin, dass sie im Gegensatz zur inhaltlichen Rechtskritik – darunter ist die Forderung nach einer Modernisierung des Rechts nur ein Fall unter vielen – an die Wurzel gesellschaftlicher Herrschafts-, Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse geht. Während die Kritik am Rechtsinhalt die Herrschaft durch das Recht bzw. die rechtsförmige Herrschaft stets implizit affirmiert, wendet sich die Kritik an der Rechtsform explizit gegen diese, indem sie einen notwendigen Zusammenhang zwischen Rechtsform und Herrschaft konstatiert. Paschukanis hebt sich damit nicht nur von der sozialdemokratischen Vorstellung eines verbesserungsfähigen Rechts, sondern vor allem auch von Wladimir Iljitsch Lenins oder Pjotr Stutschkas Theorie des Rechts als bloßem Instrument der Klassenherrschaft ab. 4.
Von der Gleichursprünglichkeit von Warenform und Rechtsform …
Auf die Frage, worin die Besonderheit der modernen bürgerlichen Rechtsform nun liegt, antwortet Paschukanis mit der Rechtssubjektivität. Die spezifische Rechtsform besteht darin, sich als Rechtssubjekte aufeinander zu beziehen und genau dieser Bezug ist die Rechtsform. Wenn wir die naturrechtliche Fiktion einer uns von Natur aus zukommenden, ja daher immer schon bei uns seienden Rechtssubjektivität ausklammern, stellt sich die weitere Frage nach der Ursache oder den sozioökonomischen Bedingungen der Rechtssubjektivität. Die erste mögliche Antwort lautet, dass sie den bürgerlichen Revolutionen bzw. Kämpfen um bürgerliche Rechte entspringt und also eine erkämpfte und dann staatlich gesetzte Eigenschaft oder, wie z. B. Hans Kelsen schreibt, ein Bündel von subjektiven Rechten und Rechtspflichten ist. Die zweite Antwort gibt Paschukanis: Er geht davon aus, dass die Rechtssubjektivität nicht – oder zumindest nicht primär – durch den Staat verliehen ist,16 und uns auch nicht von Natur aus zukommt, sondern im Gegenteil der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, genauer: dem Warentausch entspringt. Die Rechtsform gebiert den Begriff des Rechtssubjektes, des Freien und Gleichen oder, wie Paschukanis schreibt, der „unabhängige[n] und gleiche[n] Persönlichkeit[]“17. Als solche ist die Rechtssubjektivität „unausbleiblicher Reflex“18 der Warenform, das heißt Rechtsform und Warenform stehen in einem notwendigen Verhältnis zueinander. Entgegen der intuitiven Konnotation des Reflexes als einseitiges Bedin16 17 18
Paschukanis (2003) 90 [66], wo er den Staat als „sekundäres, abgeleitetes Moment“ beschreibt. Paschukanis (2003), 151 [132]. Paschukanis (2003), 81 [57].
Was ist ein modernes Gesetz?
gungsverhältnis – Warenform verursacht Rechtsform – denkt Paschukanis Rechtsform und Warenform in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, welches mit dem schon bei Jürgen Habermas auftauchenden Begriff der Gleichursprünglichkeit fassbar wird.19 Werfen wir einen näheren Blick in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, so sind wir in der Lage, den Punkt zu identifizieren, an dem Paschukanis Theorie ansetzt. Nach der sogenannten Wertformanalyse, dem ersten Kapitel der Kritik der politischen Ökonomie, steht Marx vor einem Problem: „Die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen.“20 Der Warentausch als ökonomische Beziehung setzt ein Verhältnis voraus, in dem sich die Warenbesitzer zueinander in einer gewissen Abstraktion aufeinander beziehen: Unter Absehung von jedweder Besonderheit gelten sie einander ausschließlich als Warenbesitzer und sind in dieser Hinsicht Gleiche;21 außerdem sind sie Freie, denn sie tauschen ihre Waren, nehmen sich diese einander also nicht gewaltvoll ab. Dieses Verhältnis ist das Rechtsverhältnis, das gerade in diesem „Bezug auf privat-isolierte Akteure“22, eben den Rechtssubjekten, besteht. Das Rechtsverhältnis ist damit nicht das Verhältnis zweier normativer Zurechnungspunkte von Rechten und Pflichten, sondern entspringt dem ökonomischen Tausch selbst. In der der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten Idee eines abstrakten Rechtssubjektes, eines „allgemeine[n] abstrakte[n] Träger[s] aller denkbaren Rechtsansprüche“23, liegt zudem der Unterschied zur Feudalgesellschaft, in der lediglich Inhaber konkreter Privilegien existieren. Damit ist die Rechtssubjektivität sowohl die Freiheit und Gleichheit, die den Warentausch vermittelt, indem sie ihn ermöglicht, wie auch die Freiheit und Gleichheit, die erst durch den Warentausch vermittelt ist, indem sie aus diesem hervorgeht. Die Rechtssubjektivität ist in dieser Gedoppeltheit das Scharnier zwischen bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlichem Staat, zwischen Ökonomie und Politik. In einem solchen gleichursprünglichen Verhältnis von Warenform und Rechtsform stellt sich auch die Metapher von Basis (Warentausch) und Überbau (Recht) in der orthodox-marxistischen Einseitigkeit als falsch heraus. Paschukanis distanziert sich von einem oberflächlichen Ideologiebegriff, der Ideologie als das bloß geistige Phänomen falschen Bewusstseins begreift,24 wenn er das Recht in seiner Eigenständigkeit und Materialität im Verhältnis zur Produktionsweise denkt. Paschukanis hat im Tauschverhältnis jedoch nicht das sich intuitiv einstellende Bild eines Austausches von z. B. 1 Kg Äpfel gegen 2 Kg Kartoffeln vor Augen, sondern den spezifischen Tausch zwischen Kapital und Lohnarbeit bzw. zwischen Lohn und Arbeitskraft. Indem die Arbeitskraft des LohnDen Begriff der Gleichursprünglichkeit in Zusammenhang mit Paschukanis’ Rechtsformtheorie zieht auch Kistner (2017), 26 heran. 20 Marx (1968), Bd. 23, 99. 21 Marx (1968), Bd. 23, 99 f.; vgl. auch Hegel (1989), 98, § 40. 22 Elbe (Zugriff: 05.03.21). 23 Paschukanis (2003), 119 [98]. 24 So etwa prominent Kelsen (1967), 72. 19
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arbeiters dessen einziges Eigentum ist, ist dieser doppelt frei: Frei, als freie Person über seine Arbeitskraft zu verfügen, und zugleich frei von Eigentum an Produktionsmitteln jenseits seiner eigenen Arbeitskraft.25 Im Arbeitsvertrag begegnen sich Kapital und Lohnarbeit genau in dieser Abstraktion, das heißt ausschließlich als die Besitzer ihrer Ware, als Freie und Gleiche, als Rechtssubjekte. Damit ist die Rechtssubjektivität entgegen der traditionellen Auffassung kein apriorischer, transzendentaler Bezugspunkt und auch kein Bündel von Rechtsnormen, sondern die Kehrseite eines unmittelbar gesellschaftlichen, das heißt auch geschichtlichen Verhältnisses. 5.
… zur Dialektik von Freiheit und Herrschaft
Die politische Erklärung von Freiheit und Gleichheit in den bürgerlichen Revolutionen stellt für sich genommen ebenfalls ein dialektisches Verhältnis dar: Denn einerseits erklärt der politische Akt die Freiheit und Gleichheit aller, zieht sich jedoch in einem zweiten Schritt aus eben dieser Freiheit und Gleichheit zurück, weist also deren Ausgestaltung dem egoistisch wirtschaftenden Subjekt, dem bourgeois, dem Privatmensch zu. Auf das Eigentum bezogen bedeutet das: Zwar gilt die allgemeine Eigentumsfreiheit – und die Betätigung der Freiheit ist auf eben diese Eigentumsform beschränkt –, gleichzeitig ist die konkrete Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit aber Privatsache. Der Staat mischt sich dadurch ein, dass er sich herausnimmt, oder, wie Menke sagt, es ist „die Preisgabe der Macht der Politik durch die Politik – Politik zum letzten Mal“26. Entscheidend ist nun, sich dieser Einsicht nicht zu verschließen, sondern den Widerspruch zu denken: Freiheit und Gleichheit stehen nicht nur in einem kontingenten, sondern in einem notwendigen Verhältnis zu gesellschaftlicher Unfreiheit und Ungleichheit. Den Widerspruch denken, heißt hier, gerade nicht einen Begriff (bloß) formeller Freiheit und Gleichheit einzuführen, denn darin würden die bürgerliche Freiheit und Gleichheit als nicht vollständig oder nur mangelhaft verwirklicht erscheinen. Die Pointe besteht darin, Freiheit und Gleichheit als vollständig verwirklichte und zugleich die dadurch vermittelte Unfreiheit und Ungleichheit zu denken. Bürgerliche Freiheit und Gleichheit existieren überhaupt nur als Unfreiheit und Ungleichheit. Die spezifisch bürgerliche Herrschaft ist daher der Inhalt der im Rechtssubjekt kulminierenden Freiheit und Gleichheit und umgekehrt ist die im Rechtssubjekt kulminierende Freiheit und Gleichheit die Form der bürgerlichen Herrschaft.27
25 26 27
Siehe insbesondere Marx (1968), Bd. 23, 183. Menke (2018), 8. Menke (2018), 268 f.
Was ist ein modernes Gesetz?
6.
Rechtsfetisch und Verblendungszusammenhang I: Schein und Wirklichkeit
Nun verschleiert jedoch die Rechtsform ihre herrschaftsvermittelnde und -reproduzierende Funktion selbst, das heißt sie verdeckt als Form ihre Beziehung zum Klassengegensatz. Die Beteiligung realer Akteure am gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang ist unzweifelhaft, ist doch das Recht als positiviertes bzw. gesetztes menschen-gemacht – nicht zuletzt liegt darin die ideologiekritische Einsicht des Rechtspositivismus gegenüber der Naturrechtslehre. Jedoch interessiert Paschukanis allem voran der notwendige Verschleierungszusammenhang zwischen dem bürgerlichen Recht als Form und eines daraus emergierenden, von konkreten Personen und einer konkreten inhaltlichen Ausgestaltung unabhängigen ideologischen Schleiers. Dieser „Rechtsfetischismus“28 besteht darin, dass die Rechtssubjektivität als natürliche, universale Eigenschaft des Menschen qua Menschseins erscheint. Und so lautet auch die natur- und vernunftrechtliche Formel, die etwa im § 16 ABGB positiviert ist: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten“. Diese Fiktion verschleiert, dass die Rechtssubjektivität ein gesellschaftliches und das heißt insbesondere ein geschichtliches, also kontingentes Phänomen ist, das mit der bürgerlichen als einer warenproduzierenden Gesellschaft verknüpft ist. Allerdings ist der Rechtsfetischismus nicht auf eine ideologische Fiktion im Sinne eines bloßen Scheins zu reduzieren. Der Rechtsfetischismus ist nicht nur in der Psychologie des bürgerlichen Individuums angelegt, so als bestünde er in einem reinen Denkfehler. Paschukanis schreibt dazu: „Die ideologische Natur des Begriffs schafft die Realität und Materialität der Verhältnisse, die er ausdrückt, nicht aus der Welt.“29 Das Gegenteil ist der Fall, denn der ideologische Charakter besteht genau darin, dass der Rechtsfetisch wahr und falsch zugleich ist, wohingegen die Reduktion auf die Seite des Scheines übersieht, dass dem Schein selbst eine faktische Wirklichkeit entspricht. Die Wahrheit und Falschheit in Bezug auf die Rechtssubjektivität zeigen sich wie folgt: Die Abstraktion der freien und gleichen Rechtssubjekte ist ideologische Fiktion, denn sie erfasst die realen Eigentumsunterschiede sowie jegliche andere menschliche Besonderheit (Geschlecht, Herkunft, Sprache, Religion, …) nicht. Die Abstraktion vom Lohnarbeiter zum Rechtssubjekt verschleiert den bloßen Möglichkeitscharakter der Eigentumsfreiheit. Zugleich aber vermittelt sich das Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital tatsächlich über den Vertrag als freie Willensübereinkunft zwischen Freien und Gleichen, zwischen Rechtssubjekten in genau dieser Abstraktion. Denn im Vertrag begegnen sich Lohnarbeit und Kapital wirklich als Freie und Gleiche: Als Freie, weil der Lohnarbeiter persönlich frei ist und der Vertragsabschluss
28 29
Paschukanis (2003), 117 [96]. Paschukanis (2003), 73 [48 f.].
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seinem freien Willen entspricht (Privatautonomie), und als Gleiche, weil sie sich lediglich in ihrer Funktion als Repräsentanten der zu tauschenden Ware, als Warenbesitzer begegnen. Es ist folglich nicht nur verkehrt, in der Freiheit und Gleichheit bzw. in der Rechtssubjektivität eine bloße Ideologie zu sehen, sondern darüber hinaus wäre damit das dialektische Kippen der Widersprüche ineinander, die Struktur der bürgerlichen als einer warenproduzierenden Gesellschaft insgesamt nicht erkannt. Die Form des Rechts ist nicht einfach der Schleier vor der Herrschaft, sondern die bürgerliche Herrschaft bedarf der rechtlichen Form, um sich zu verwirklichen. Die Rechtsform ist daher neutral gegenüber den Eigentumsunterschieden dieser Gesellschaft – also nicht auf die Funktion, Instrument des Interesses der herrschenden Klasse zu sein, zu reduzieren – und genau dadurch positioniert sie sich im Klassengegensatz. Erneut ist auf die der Rechtsform immanente Dialektik hinzuweisen: Die Positionierung im Klassengegensatz erfolgt nicht durch ein bestimmtes, sich gegen ein Allgemeininteresse durchsetzendes Partikularinteresse (wie etwa im Lobbying), sondern durch die tatsächliche Allgemeinheit und Neutralität des bürgerlichen Rechts. 7.
Rechtsfetisch und Verblendungszusammenhang II: Gegen die Ideologie des Rechts als Regelungsinstrument
Wenn die bürgerliche Rechtsform aber in einem gleichursprünglichen Wechselverhältnis zur Warenform bzw. zum materiellen Sein einer Gesellschaft im Sinne ihrer Produktionsweise steht, dann löst sich die gewöhnliche Vorstellung vom Recht als Regelungsinstrument ihr gegenüber unabhängiger und unabhängig existierender Konflikte – allen voran der bereits weiter oben reflektierte Konflikt par excellence zwischen Individuum und Gesellschaft – ebenfalls in einen ideologischen Schein auf. Wird das Recht in dieser gewöhnlichen Vorstellung vom Regelungsinstrument als normative und äußere Reflexion der Wirklichkeit gedacht, so entspringt der Gleichursprünglichkeitsthese die Einsicht, dass das Recht immer schon die Wirklichkeit wesentlich gestaltet, indem es Ausbeutung und Klassenantagonismus rechtsförmig vermittelt und reproduziert. Es ist daher nicht so, dass das Recht die gesellschaftlichen Konflikte, die vor ihm, d. h. auch außerhalb von ihm als naturwüchsige Notwendigkeit menschlichen Zusammenlebens existieren, regelt, sondern das Recht produziert diese Konflikte überhaupt erst. Die Pointe besteht abermals darin, beide Seiten, das heißt Schein und Wirklichkeit zusammenzudenken: Recht ist Regelungsinstrument, doch täuscht es über seinen eigenen Ursprung hinweg, wenn es sich als Sekundäres, als sich zu einem ihm äußeren, natürlichen Konflikt bloß nachträglich Regulierendes stilisiert. Vielmehr ist das Recht zugleich die schöpferische Kraft, die diese Konflikte zuallererst in die Welt setzt, selbst wenn es sich wiederum nachträglich regulierend auf diese bezieht. Paschukanis zufolge geht die Charakterisierung des Rechts als Regelungsinstrument am Kern der Sache
Was ist ein modernes Gesetz?
vorbei, weil darin nicht einmal angedacht wird, unter welchen Bedingungen soziale Beziehungen überhaupt rechtlich geregelt werden.30 8.
Ausblick: Absterbethese, Utopie, Kritik
Verbleibt die Rechtskritik auf der Ebene des Inhalts oder dessen, auf welche Weise das Recht erzeugt wird (z. B. durch einen demokratischen Gesetzgebungsprozess), und hält diese daher fest am Ideal eines in sich vernünftigen Rechts, ist sie nicht imstande, die Grenzen des Bestehenden zu überwinden. Wenn Paschukanis sich daher explizit von einer inhaltlichen Rechtskritik Leninistischer Spielart abhebt, so distanziert er sich damit zugleich von der Vorstellung eines proletarischen Rechts; eine Haltung, die ihm 1936 zum Verhängnis wird.31 So zieht Paschukanis aus der Rechtsformkritik die radikale Konsequenz eines rechtsfreien – und ebenso staatsfreien – Kommunismus und postuliert das „Absterben der Rechtsform“32. Schon Lenin, der wiederum an Friedrich Engels Metapher vom Absterben des Staates anknüpft, problematisiert eine banale geschichtsdeterministische Deutung dieser Metapher und weist darauf hin, dass sich das Absterben auf die nach der revolutionären Überwindung von bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlichem Staat verbleibenden „Überreste des proletarischen Staatswesens“33 bezieht. Auch bei Paschukanis ist die Überwindung und Aufhebung der Rechtsform nicht einem schicksalhaften Gang der Geschichte überlassen, der das (aktive) Erkämpfen einer anderen Gesellschaftsordnung ersetzen würde. Zum Erkämpfen zählt jedoch auch das Erdenken. Und so hängt die Überwindung des Bestehenden ganz fundamental von seiner darstellenden Kritik bzw. kritischen Darstellung ab.34 So muss das gegenwärtige Recht als solches, jenseits einer Messung an normativen Idealen, auf den Begriff gebracht werden und das heißt insbesondere auf die der bürgerlichen Rechtsform immanente Dialektik von Herrschaft und Freiheit, auf seine innere Widersprüchlichkeit reflektiert werden. So muss auch entgegen der sich unmittelbar aufdrängenden Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer rechtsfreien Gesellschaft oder der konkreten Ausgestaltung einer rechtsfreien Utopie, die Funktion der Utopie für die Rechtsformkritik insgesamt hinterfragt werden. Letztlich kann die materialistische Kritik am Recht nicht davon abhängen, eine alternative Gesellschaftsordnung in ihrer Gesamtheit zu entwerfen; dies ist und war auch nie ihr Anspruch.
Paschukanis (2003), 139 [120]. Paschukanis fällt 1936 den Stalinistischen Säuberungen zum Opfer; vgl dazu insbesondere Walloschke (2003), 202. 32 Paschukanis (2003), 132 [112], vgl. auch 59 ff. [34 ff.], 190 [174]. 33 Lenin (2001), 21. 34 Vgl zur Einheit von Kritik und Darstellung Marx, (1968), Bd. 29, 550 oder auch Theunissen (1980), 16. 30 31
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Literaturverzeichnis
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sophie der Universität Wien und forscht zu materialistischer Rechts- und Gesellschaftskritik, kritischer Theorie sowie zur Philosophie G. W. F. Hegels.
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen*
SABINE KLOSTERMANN
The Relationship between Time and Law in the Light of Receptions Abstract: This article examines the relationship between time and law from the perspective of re-
ceptions. Receptions are often made for reasons of saving time, but at the same time, they raise new temporal problems. The theoretical and normative investigation of the phenomenon shows the legal possibilities and limits of law to receive past or future intellectual entities and proposes solutions to cope with the increase in complexity caused by receptions. Finally, it addresses reception processes on the temporal axis and elaborates how and why intellectual entities change after the act of reception and what this means for the use of the reception technique. Keywords: Receptions, legal transplants, interdisciplinary transplants, references, reception as a process Schlagworte: Rezeption, Rechtstransplantationen, interdisziplinäre Transplantationen, Verweisungen, Rezeptionen als Prozess
Das Verhältnis des Rechts zur Zeit wird in der rechtswissenschaftlichen Rezeptionsliteratur immer wieder thematisiert: Es wird von der Rezeption „vergangener“, „gegenwärtig“ geltender und „künftiger“ Normen und damit verbundenen Problemen,1 von bestimmten „Zeitpunkten“ der Rezeption,2 „Zeitdruck“,3 der Ersparnis von „Zeit“ und
Für Diskussionen, Anregungen und Unterstützung möchte die Verfasserin Prof. Dr. Matthias Jestaedt, Rodrigo Cadore, Lucas Hartmann, Claudia Wittl und den Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl ganz herzlich danken. 1 Rheinstein (1956), 31 (32); Ossenbühl (1967), 401 (404); Karpen (1970), 66 f.; Fedtke (2000), 22; Guckelberger, (2004), 62 (64, 76 f.). Von „zukunftsorientierten Rezeptionen“ spricht: Heiss (2006), 137 (151 f.). 2 Hirsch (1968), 182 (183). Von „Zeitfaktoren“ sprechen: Häberle (1992), 1033, 1041; Kramer (2017), 1 (5). 3 Häberle (1992), 1034; Kramer (2017), 5. Ähnlich: Rehm (2008), 1 (10). *
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Kosten,4 aber auch von der „Zeit“ oder „Zeitspanne“5 des Rezeptionsprozesses gesprochen. Unter Rezeption (lat. recipere = aufnehmen/annehmen) kann im weitesten Sinne die Aufnahme einer geistigen Entität aus einem fremden Kontext in den eigenen (Rechts-)Kontext verstanden werden.6 Rezeptionen können als konstituierender Faktor des modernen kontinentaleuropäischen Rechts(denkens) beschrieben werden7 und sind heute Gegenstand vieler rechtswissenschaftlicher Diskurse. In der Rechtsvergleichung wird unter den Begriffen der Rezeption bzw. der legal transplants die Übernahme von Begriffen, Normen, Instituten oder gar ganzen Gesetzbüchern aus anderen Rechtsordnungen untersucht.8 Im Staatsrecht sind die über Art. 140 GG erfolgende Rezeption der Weimarer Kirchenartikel oder die über Art. 25 GG erfolgende Rezeption des Völkerrechts in das Grundgesetz Klassiker.9 Im Verwaltungsrecht wird die Rezeption technischer Normen privater Normungsverbände und interdisziplinären Wissens bzw. Expertenwissens aus anderen Fachdisziplinen diskutiert.10 Die Rechtswissenschaftstheorie versteht sich schließlich als die zentrale Disziplin, die Rezeptionsprobleme fassen und adressieren kann.11 Ein diskursübergreifendes Rezeptionskonzept wurde bisher noch nicht entwickelt.12 Im Folgenden bezeichnet Rezeption das Ingeltungsetzen einer geistigen Entität einer anderen Rechtsordnung oder Wissenschaftsdisziplin in der eigenen Rechtsordnung.13 Der Beitrag wählt damit eine rechtstheoretische und rechtsnormative Perspektive auf Rezeptionen. Rezeptionen werden nicht ausschließlich aus zeitlichen Gründen vorgenommen14 und auch die mit ihnen verbundenen Probleme sind nicht rein zeitlicher Natur. Dennoch eröffnet die Auseinandersetzung mit ihnen eine interessante Perspektive auf das
Miller (2003), 839 (845 f.); Bahke (2006), 13 (14); Mues (2015), 55. Hirsch (1968), 222; Nelken (2001), 349 (363); Rehm (2008), 31; Cohn (2010), 583 (597 ff.). Von dem „Zeitfaktor“ von Rezeptionen spricht: Häberle (1992), 1035. 6 Mit den Begriffen der geistigen Entität und des Kontexts soll auf die potenzielle Vielfalt der möglichen Rezeptionskonstellationen aufmerksam gemacht werden. Dazu vertiefend die folgenden Verweise auf verschiedene rechtswissenschaftliche Diskurse. 7 Der Begriff Rezeption wurde im Jahr 1643 von Hermann Conring geprägt, der damit das in Gebrauch kommen des Römischen Rechts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bezeichnete. Dazu und vertiefend: Stolleis (2012), 72. 8 Graziadei (2006), 441 (443 f.); Kischel (2015), 63 ff. 9 Isensee (2013), 325 (335 ff., 345 ff.). 10 Lüdemann (2007), 266 ff.; Voßkuhle (2012), Rn. 1 ff., insb. Rn. 37 ff.; Augsberg (Hrsg.) (2013); Münkler (2020), 475 ff. 11 Jestaedt (2008), 183 (191 ff., insbs. 202 ff.); Lüdemann (2007), 121 (144 ff.). 12 Eine solche Untersuchung kann in diesem Rahmen auch nicht stattfinden, sie wird einer späteren Arbeit vorbehalten. 13 Ähnlich: Grabenwarter (2010), § 11, 391 (411 f.); Lohse (2017), 106. Von „interdisciplinary transplants“ und „legal transplants“ spricht: Fehling (2017), 65 (82). 14 Dazu vertiefend: Kocourek (1935–1936), 209 (218 ff.); Epstein/Knight (2003), 193 ff.; Rosenkrantz (2003), 269 (277 ff.); Likhovski (2009), 619 ff. 4 5
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen
Verhältnis von Zeit15 und Recht: Auf tatsächlicher Ebene werden Rezeptionen oft auch aus Gründen der Zeitersparnis vorgenommen, ihr Einsatz kann aber auch das genaue Gegenteil bewirken (1.). Auf rechtstheoretischer und rechtsnormativer Ebene offenbaren sich eine Reihe von Rezeptionstechniken, aber auch spezifische Grenzen des Rechts im Umgang mit der Zeit (2.). Rezipierte Gegenstände können schließlich nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern auch über einen längeren Zeitraum beobachtet werden und dadurch einen neuen Blick für die Spezifika der Entwicklung des Rechts in der Zeit eröffnen (3.). 1.
Rezeption als Chance und Gefahr im Verhältnis von Zeit und Recht
Die Rechtserzeugung16 ist in vielfältiger Weise durch zeitliche Herausforderungen geprägt. Rezeptionen können hier zunächst als ein Mittel der Abkürzung dienen, die Entscheidungen innerhalb kurzer Zeit ermöglichen. So wird im Zuge der Etablierung einer neuen Rechtsordnung nach einer Revolution, für die sich regelmäßig nur ein kurzes Zeitfenster öffnet, regelmäßig auch Recht der vorherigen Rechtsordnung rezipiert, da für umfassende Innovationen nicht die Zeit bleibt.17 Auch in einer geltenden Rechtsordnung können bei (akuten) gesellschaftlichen oder technischen Problemen rechtsvergleichend18 oder interdisziplinär19 Lösungsmöglichkeiten rezipiert werden und dadurch eine zeitaufwändige Erarbeitung eigener Lösungen und Experimente bei deren Umsetzung entbehrlich werden.20 Eine Rechtsordnung hält sich so zugleich auf dem Stand des Wissens der Zeit und bleibt damit anschlussfähig. Auf internationaler Ebene können Rezeptionen schließlich zur Schaffung des Europarechts, der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder harmonisierender privatrechtlicher Standards genutzt21 und dadurch zeitaufwändige Neukreationen vermieden werden. Sukzessiv vorgenommen können Rezeptionen auch Ergebnisse ermöglichen, die zu einem vorherigen Zeitpunkt politisch noch nicht durchsetzbar waren. Rezeptionen ermöglichen also Entscheidungen, führen aber – jedenfalls auf den ers-
Zeit wird hier als die natürliche, von Menschen erlebbare Bewegung verstanden, die rechtlich auf einer Zeitachse in Tagen, Monaten und Jahren gemessen wird, vgl. Winkler (1995), 325 f. 16 Begriffsverwendung nach: Merkl (1993), 227 ff.; aufgegriffen und vertieft durch: Jestaedt (1999), 307 ff. 17 Häberle (1992), 1034; Rehm (2008), 10; Kramer (2017), 5. Kritisch zum Rezeptionsbegriff bei intertemporalen Transfers innerhalb einer Gemeinschaft: Fedtke (2000), 22. 18 Häberle (1992), 1034; Heiss (2006), 147 ff.; Kischel (2015), 60; Martini (2018), 386 ff. 19 Karpen (1970), 15; Breuer (1976), 46, (49 f.); Marburger (1979), 379 ff.; Hoffmann-Riem (2004), 9 (58 ff.). 20 Miller (2003), 845 f.; Debus (2008), 100; Bahke (2006), 14; Mues (2015), 55. 21 Dazu Kischel (2015), 68 ff.
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ten Blick – zugleich dazu, dass im Recht strukturell Kontinuitäten häufiger vorkommen als Innovationen.22 Ist das Ziel der Rezeption nicht nur eine Inspiration, sondern eine möglichst originalgetreue Übernahme, kann sie aber auch zu einer fachlichen und damit zeitlichen Überforderung der rechtserzeugenden Organe führen.23 Denn Rezeptionen bedürfen dann eines Hineindenkens in einen fremden Kontext, das erhebliche Kontextualisierungs- und Übersetzungsleistungen erfordert und umfassende Einpassungsarbeiten mit sich bringen kann.24 Die Standards des fremden Kontextes können sich überdies ändern und müssen dann im Recht jedes Mal in aufwendigen Verfahren umgesetzt werden.25 Als Beispiel kann hier das Technikrecht genannt werden, in dem die Fachpraxis in hoher Geschwindigkeit neue Standards entwickelt, die das Recht erfassen muss, will es seine Steuerungsfunktion nicht verlieren.26 Das Recht muss Techniken entwickeln, um trotz dieser Herausforderungen in angemessener Zeit zu einer Entscheidung zu kommen. 2.
Rezeptionen als Technik des Rechts im Umgang mit der Zeit
Von diesen Chancen und Risiken der Rezeption als Mittel des Rechts im Umgang mit der Zeit ausgehend soll nun der Blick auf die rechtstheoretische und rechtsnormative Ebene gerichtet und herausgearbeitet werden, (2.1) ob und (2.2) inwieweit Rezeptionen technisch möglich sind und (2.3) erste Ideen zur Bewältigung der Frage des Wie der Rezeption vorgestellt werden. 2.1
Grundparameter der Rezeptionen
Unter dem Grundgesetz werden Rezeptionen auf allen Ebenen der Normenhierarchie durch alle rechtserzeugenden Organe durchgeführt27 und sind damit von alltäglicher Relevanz. Sie müssen durchgeführt werden, wenn die jeweils höhere Rechtsschicht dies rechtlich auferlegt, wie es in Art. 23 f. GG gegenüber allen Rechtsorganen hinsichtlich des Unionsrechts und in gesetzlichen Technikklauseln wie § 6 Abs. 2 Nr. 2 AtG („nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich“) betreffend die Dazu relativierend der folgende Absatz und unten III. Lüdemann (2007), 131. Für internationale Rezeptionen: Legrand (1997), 111 ff.; Kischel (2015), 188 ff.; Foljanty (2015), 89 ff. Für interdisziplinäre Übernahmen: Denninger (1990), 31 f.; Hoffmann-Riem (2004), 58 ff., 67 ff.; Voßkuhle (2012), 33 ff.; Augsberg (2013), 3 (16 ff.). 25 Appel (2004), 327 (329 f.). 26 Marburger (1979), 379 ff.; Debus (2008), 101 f. 27 Häberle (1992), 1036 f.; Kramer (2017), 7 ff. 22 23 24
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen
Genehmigung der Aufbewahrung von Kernbrennstoffen gegenüber der Administrative und Judikative geschieht. Sie können durchgeführt werden, soweit den rechtserzeugenden Organen innerhalb des ihnen gesteckten normativen Rahmens Spielräume bleiben.28 Dabei ist der Rezeptionsspielraum des Gesetzgebers deutlich größer als etwa der von Gerichten, denn er kann jederzeit auf eigene Initiative (Art. 76 GG) und nicht nur auf eine Klage hin tätig werden, den Inhalt und Umfang der Rezeption unabhängig von einem bestimmten Streitgegenstand frei wählen und ist ausschließlich durch die Verfassung gebunden, Art. 20 Abs. 3 GG. Grundsätzlich eignen sich geistige Entitäten aus jeglichem rechtsordnungsfremden Kontext für eine Rezeption: Normen anderer Rechtsordnungen, supra- und internationales Recht sowie Wissensbestände oder Normen anderer Disziplinen,29 etwa berufliche oder technische Standards, moralische oder religiöse Normen. Sie können teilweise oder vollständig, wörtlich oder durch Verweisungen integriert werden.30 In zeitlicher Hinsicht ist für eine Rezeption nicht von Belang, ob die zu rezipierende Entität in ihrem Ursprungssystem gegenwärtig gilt, in der Vergangenheit gegolten hat oder in der Zukunft gelten soll31 oder gar das Ursprungssystem untergegangen ist.32 Denn sie führt nicht dazu, dass das Rezeptionsobjekt aus seinem Ursprungskontext entnommen und in die aufnehmende Rechtsordnung implantiert wird, wie es die Begriffe Übernahme oder legal transplant insinuieren.33 Vielmehr kopiert die rezipierende Rechtsordnung das Rezeptionsobjekt und setzt es eigenständig in Geltung.34 Dabei nimmt das Rezeptionsobjekt in der Regel die Rechtsnatur der aufnehmenden Rechtsnorm an;35 es findet eine Transformation und kein Transfer statt.36 So sind die kirchenrechtlichen Normen der Weimarer Reichsverfassung infolge ihrer Rezeption durch Art. 140 GG vollgültiges deutsches Verfassungsrecht geworden.37 Die im Zuge
Jestaedt (2012), Rn. 5 f., Fn. 25. Begriff nach: Luhmann (1995), 15 ff. Verweisungen gehen als Technik über Rezeptionen im hier verstandenen Sinne hinaus, vgl. Debus (2008), 35 ff. Mit den hier behandelten Rezeptionen fallen sie zusammen, wenn sie konstitutiver, d. h. geltungsbegründender Natur sind. 31 Als Beispiel für eine Übernahme künftiger Normen wird die Rezeption der Normen der deutschen Schuldrechtsreform in Estland vor deren Ingeltungtretung in Deutschland genannt, vgl. Heiss (2006), 151 f. Rechtstheoretisch ist fraglich, ob man bei noch nicht geltenden Normen schon von Normen sprechen kann, vgl. Kelsen (2017), 35. 32 Karpen (1970), 70 ff.; Debus (2008), 43 ff. 33 Kahn-Freud (1974), 1 (5 f.); Nelken (2002), 19 (29 ff.). 34 Karpen (1970), 30 ff.; Debus (2008), 45; Lohse (2017), 105. Das BVerfG formuliert in ständiger Rechtsprechung, dass eine Verweisung rechtlich lediglich den Verzicht darstelle, den Text der in Bezug genommenen Vorschriften in vollem Wortlaut in die Verweisungsnorm aufzunehmen, BVerfGE 47, 285 (312) [1978]; 143, 38 (55) [2017]; 153, 310 juris-Rn. 78 [2020]. 35 Guckelberger (2004), 64; Debus (2008), 90 ff. 36 Begrifflichkeit angelehnt an: Luhmann (1995), 85. Für rechtsvergleichende Rezeptionen: Teubner (1998), 11 (12); für interdisziplinäre Rezeptionen: Brugger (1987), 1 (4); Hoffmann-Riem (2004), 59. 37 BVerfGE 19, 206 (219) [1965]; 19, 226 (236) [1995]; 53, 366 (400) [1980]; 111, 10 (50) [2004]. 28 29 30
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von strafrechtlichen Blankettverweisungen (z. B. in § 10 Abs. 1, 3 RiFlEtikettG a. F.) rezipierten unionsrechtlichen Ge- und Verbote werden ganz unabhängig von ihrer (strafrechtlichen) Natur im unionsrechtlichen Kontext zu deutschen Strafnormen, die am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sind.38 Die Technik der Rezeption ermöglicht es also, Recht entgegen dem linearen Zeitlauf aus einer (ggf. weit) zurückliegenden Zeit39 in die Gegenwart zu holen und dort als künftigen Verhaltensmaßstab in Geltung zu setzen. Die Rezeptionstechnik ist damit eine besondere Ausprägung der Positivität des Rechts: Das Recht kann kraft Setzung auf geistige Entitäten aus jeder Zeitepoche zugreifen und sich dadurch zu einem gewissen Grad unabhängig von dem linearen Ablauf der Zeit machen. 2.2
Zeitliche Kopplungen an rechtsordnungsfremde geistige Entitäten
Rezeptionen können einmalig (statisch) oder antizipierend (dynamisch) angeordnet werden. Während bei statischen Rezeptionen eine bestimmte Fassung eines Verweisungsobjekts zu einem feststehenden Zeitpunkt rezipiert wird,40 spätere Änderungen des Verweisungsobjekts damit nur kraft eines weiteren Rechtserzeugungsakts in Geltung treten können,41 ermöglicht die Rezeption mittels dynamischer Verweisungen, neben der Rezeption des unmittelbar benannten Verweisungsobjekts antizipierend auch das Ingeltungtreten aller künftigen Änderungen des Verweisungsobjekts anzuordnen.42 Diese Form wird beispielsweise in Art. 25 GG zur Übernahme der jeweils aktuell geltenden allgemeinen Regeln des Völkerrechts gewählt. Rechtsordnungen können sich auf diese Art ohne weiteren Zeitaufwand dauerhaft an die – im Ausgangspunkt zeitlich versetzte – Produktion von geistigen Entitäten in anderen Kontexten ankoppeln und dadurch die oben erwähnte zeitliche Entlastungsfunktion der Rezeption nutzen. In der Normenordnung Recht werfen insbesondere zeitliche Kopplungen an rechtsordnungsfremde geistige Entitäten vielfältige Rechtsprobleme auf. Unter dem Grundgesetz betrifft dies vor allem die Grundsätze der Demokratie- und Rechtsstaatlichkeit43, worauf im Folgenden kurz eingegangen werden soll.44 Problematisiert wird
BVerfGE 5, 25 [1956]; 110, 33 [2004]; 143, 38 (53 ff.) [2017]; 153, 310 juris-Rn. 74 ff. [2020]. Rheinstein (1956), 32. Diese Terminologie geht zurück auf: Ossenbühl (1967), 401; Karpen (1970), 69. Debus (2008), 60. Ossenbühl (1967), 401; Karpen (1970), 69. Nicht eigens eingegangen wird hier auf die Grenzen des Bundesstaatsprinzips, des Grundsatzes der Gewaltenteilung, Art. 80 GG und auf unionsrechtliche Vorgaben. Dazu vertiefend: Guckelberger (2004), 62 ff.; Debus (2008), 106 ff. 44 Diese Grenzen sind bereits Gegenstand einer Vielzahl von Untersuchungen, sie können hier nur kurz dargestellt werden, vertiefend: Debus (2008) m. w. N. 38 39 40 41 42 43
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen
zunächst, dass der Gesetzgeber mittels der dynamischen Verweisungen antizipierend geistige Entitäten rezipiere, ohne diese in einem Gesetzgebungsverfahren diskutiert und sich zu eigen gemacht zu haben. Es liege ein parlamentsloses Parlamentsgesetz, ein blinder und damit verfassungswidriger Wille vor.45 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind solche dynamischen Verweisungen demgegenüber nicht schlechthin ausgeschlossen.46 Der Bürger dürfe zwar nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt anderer Normenordnungen (hier Tarifvertragsparteien) ausgeliefert sein, die ihm gegenüber weder staatlich-demokratisch noch mitgliedschaftlich legitimiert seien. Vielmehr verlange das Demokratieprinzip, dass die Sätze des objektiven Rechts auf eine Willensentschließung der vom Volke bestellten Gesetzgebungsorgane zurückführbar sein müssen. Ein unzulässiger Verzicht des Gesetzgebers auf seine Rechtsetzungsbefugnisse liege aber dann nicht vor, wenn der Inhalt der in Bezug genommenen Regelungen im Wesentlichen feststehe.47 Dieser Ansicht folgen zahlreiche Stimmen in der Literatur.48 Die Ansicht, dass jegliche dynamische Verweisung auf fremde geistige Entitäten gegen das Demokratieprinzip verstößt, kann nicht überzeugen. Sie basiert auf der Annahme, dass allein der Gesetzgeber und – in den Grenzen des Art. 80 Abs. 1 GG – die Exekutive rechtserzeugend tätig werden können und tätig werden müssen, eine darüber hinausgehende Ermächtigung zur Normerzeugung anderer Akteure demgegenüber verfassungswidrig sei.49 Dieses Alternativitätstheorem von Rechtsetzung und Rechts erzeugung verkennt das rechtserzeugende Element, das jedem Konkretisierungsakt im Stufenbau der Rechtsordnung immanent ist und führt zu einer einseitigen Gesetzesfixierung, die die arbeitsteilige Funktionsweise von Rechtsordnungen ausblendet.50 Wäre jegliche Normerzeugung durch andere Organe als den Gesetz- und Verordnungsgeber verfassungswidrig, müsste dies wegen des immanenten Erzeugungsanteils jeglichen Konkretisierungsakts auch für den gesamten Rechtserzeugungsprozess im Stufenbau der Rechtsordnung gelten.51 Überzeugender scheint daher, die Verfassungsmäßigkeit von dynamischen Verweisungen entsprechend der in der Rechtsprechung vertretenen Ansicht anhand der Art und des Ausmaßes der Verweisung zu bewerten und die Grenze zur Verfassungswidrigkeit anhand der Wesentlichkeitslehre zu zieSo Ossenbühl (1967), 402; Karpen (1970), 177 f. BVerfGE 26, 338 (366) [1970]; 47, 285 (312) [1978]; 143, 38 (56) [2017]; 153, 310 juris-Rn. 79 [2020]. BVerfGE 26, 338 (367) [1970]; BVerfGE 47, 285 (317) [1978]; BVerfGE 64, 208 (214 f.) [1984]. Hinsichtlich des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots: BVerfGE 143, 38 (53 ff.) [2017]; 153, 310 juris-Rn. 74 ff. [2020]. 48 Brugger (1987), 24 ff.; Guckelberger (2004), 76 ff.; Debus (2008), 232 ff.; Clemens (1986), 63 (103 ff.) alle m. w. N.; rekonstruiert über Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 S. 1 GG, i. E. aber ebenso: Ernst (2018), 80 ff., 114. 49 Ossenbühl (1967), 402 ff.; Karpen (1970), 172 ff. Diese Ansicht wird daher auch die „demokratiemaximierende Auffassung“ genannt, vgl. Brugger (1987), 22 ff. 50 Dazu vertiefend: Jestaedt (1999), 307 ff. 51 Wie hier und umfassender zum Rollenwandel des parlamentarischen Gesetzgebers: Schulze-Fielitz (1994), 139 (168 ff.). 45 46 47
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hen.52 Zeitliche Kopplungen an fremde geistige Entitäten sind demnach verfassungskonform, wenn der Gesetzgeber die grundrechtswesentlichen Fragen selbst klärt und damit einen Rahmen für die zu rezipierenden künftigen Inhalte schafft. Vor diesem Hintergrund überzeugt auch, dynamische Verweisungen für vereinbar mit dem Bestimmtheitsgebot zu sehen.53 Die Bestimmtheitsanforderungen richten sich bei Verweisungen auf fachsprachliche Texte nach dem jeweiligen Adressatenkreis der Norm.54 Bei Verweisungen auf ausschließlich fremdsprachlich verfügbare Texte sind zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten Übersetzungen erforderlich. Sog. Kettenverweisungen, bei denen mehrere (statische und/oder dynamische) Verweisungen nacheinander geschaltet werden,55 tragen zwar zu einer zeitlichen Optimierung der Verweisungen bei, unterliegen mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot aber der Grenze der Unübersichtlichkeit.56 Schließlich wird hinsichtlich des in Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG verankerten Publikationsgebots vorgetragen, dass die in Gesetzen und Rechtsverordnungen antizipiert in Geltung gesetzten Verweisungsobjekte nicht eigens im Gesetzesblatt bekanntgegeben und dieses dadurch in verfassungswidriger Weise in eine bloße Gesetzesbibliographie umfunktioniert werde.57 Eine solch strenge Handhabung des Publikationsgebots würde jedoch zu einer Überfrachtung des Bundesgesetzblatts führen, dessen Übersichtlichkeit gefährden und die Verweisung in ihrer Funktion als Mittel der gesetzestechnischen Vereinfachung obsolet machen.58 Überzeugender ist, bei der Auslegung des Art. 82 Abs. 1 GG auf den Zweck der Rechtssicherheit abzustellen59 und mit der Rechtsprechung als ausreichend anzuerkennen, wenn das Verweisungsobjekt hinreichend klar bezeichnet, für den Betroffenen zugänglich und seiner Art nach für amtliche An-
Vgl. Verweise in Fn. 50 und 51. So schon BVerfGE 26, 338 (367) [1970]. Zur Literatur siehe Debus (2008), 144 ff. m. w. N. Grenzen hat das BVerfG demgegenüber immer wieder in Bezug auf Art. 103 Abs. 2 GG gesetzt: BVerfGE 5, 25 [1956]; 110, 33 [2004]; BVerfGE 143, 38 (53 ff.) [2017]; hingegen: BVerfGE 153, 310 juris-Rn. 74 ff. [2020]. Zu Art. 103 Abs. 2 GG vertiefend: Ernst (2018), 63 ff. 54 Ernst (2018), 96 ff. 55 Zu dem Begriff siehe: Debus (2008), 50 f. Ein strittiges Beispiel stellen die Blankettstrafnormen der §§ 95, 96 AMG dar, die über § 2 AMG auf zahlreiche unionsrechtliche Verordnungen verweisen, vgl. Ernst (2018), 137 ff. 56 Dazu vertiefend: Debus (2008), 153 ff. Als Verständnisgrenze nennt er Kettenverweisungen mit mehr als fünf Gliedern oder bei komplexen Bezugnahmen mit mehr als drei Gliedern. Relevante Komplexitätssteigerungen lägen u. a. bei hohen Änderungsraten des Verweisungsobjekts, bei rechtssystematischen Entfernungen des Verweisungsobjekts von der Verweisungsnorm (z. B. Verweisungen auf internationales Recht) sowie Verweisungen in Bereichen, in denen unter großem Zeitdruck entschieden werden müsse, vor, ebd., 154 ff. Auf die Regelungsmaterie und die von der Verweisung adressierten Kreise stellt hinsichtlich der zumutbaren Komplexität ab: Ernst (2018), 104 ff. 57 Ossenbühl (1967), 406; Karpen (1970), 141 ff. So jedenfalls bei gesetzlichen Verweisungen auf nicht amtlich publizierte Normen: Clemens (1986), 93 f. 58 Brugger (1987), 13 f.; Marburger (1979), 410; Debus (2008), 119; Butzer (2021), Rn. 238. 59 Guckelberger (2004), 71 f. 52 53
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ordnungen geeignet ist.60 Die Zugänglichkeit kann in der Regel bejaht werden, wenn das Verweisungsobjekt im Internet über geeignete Suchmaschinen auf amtlichen oder sonst offiziellen Seiten einsehbar ist.61 Bei Inbezugnahmen auf fremdsprachige Normen sollte jedoch eine zugängliche amtliche Übersetzung der Norm in die deutsche Sprache vorliegen.62 Zur Identitätssicherung scheint eine amtliche Hinterlegung der Norm sinnvoll, anhand derer im Streitfalle die Richtigkeit der Norm geprüft werden kann.63 Zusammenfassend erweisen sich statische und dynamische Verweisungen als ein wesentlich vereinfachendes und zeitökonomisches Mittel, das unter dem Grundgesetz in den Grenzen der Wesentlichkeit, Bestimmbarkeit und Rechtssicherheit eingesetzt werden kann. 2.3
Umgang des Rechts mit durch Rezeptionen verursachten zeitlichen Überforderungen
Weiter soll nun noch auf die Frage des Wie die Rezeption eingegangen werden. Denn wie eingangs herausgearbeitet, bieten Rezeptionen nicht nur die Chance der Zeitersparnis, sondern können aufgrund der Komplexität ihrer Umsetzung auch erhebliche Zeitprobleme aufwerfen.64 In der Rezeptionsliteratur wird bezüglich des Wie der Rezeptionen erheblicher Forschungsbedarf konstatiert.65 Angesichts der Komplexität des Problems, dessen umfassende Analyse den Rahmen der Untersuchung sprengen würden, beschränkt sich diese im Folgenden darauf, drei Lösungsansätze kurz vorzustellen. Eine Komplexitätsreduktion könnte erstens durch eine Prozeduralisierung des Rezeptionsverfahrens erreicht werden, wie sie in Konstellationen des sog. Nichtwissens bereits umfassend praktiziert wird. Danach könnten Rezeptionsentscheidungen verschiedenen Ebenen der Rechtserzeugung zugewiesen66 und auf den jeweiligen Ebenen in mehreren Verfahrensschritten angeordnet werden.67 Dadurch könnten sie auf mehrere Köpfe verteilt, der jeweilige Untersuchungsumfang beschränkt und dieser BVerwG, Urteil vom 29.8.1961 – I C 14/61 = NJW 1962, 506. Zu den Anforderungen bei der Publikation von Karten: BVerwG, Urteil vom 27.1.1967 – IV C 105/65, 1244 f. 61 Butzer (2021), Rn. 239. Zugänglichkeit kann auch über Publikationen im Buchhandel, über die Pflichtexemplarabgabe in Bibliotheken oder über amtliche Hinterlegung und Einsehbarkeit hergestellt werden, Marburger (1979), 409 ff.; Brugger (1987), 12 ff.; Denninger (1990), 163 ff.; Debus (2008), 116 ff. 62 Debus (2008), 121 f. 63 Brugger (1987), 16; Denninger (1990), 165; Guckelberger (2004), 72 f. 64 Dazu oben I. 65 Von Aaken (2008), 79 (87); Lüdemann (2007), 145 ff. 66 Grundlegend zur Arbeitsteilung zwischen den Gewalten: Jestaedt (2006), 22 ff. Zur Wissenseinbindung zwischen den Gewalten: Möllers (2010), 113 ff.; Frenzel (2013), 179 ff. 67 Appel (2004), 337 ff.; Wollenschläger (2009), 69 ff. 60
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dadurch handhabbar gemacht werden. Ein Beispiel für ein zeitlich gestrecktes Verfahren administrativer Wissensrezeption unter Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren findet sich in §§ 21 ff. AMG, die neben der Einreichung von Unterlagen und Sachverständigengutachten seitens der Antragsteller:innen deren Beurteilung anhand von Arzneimittelrichtlinien, die Hinzuziehung externen Sachverstandes und Entscheidungen durch Zulassungskommissionen vorsehen.68 Aufgrund der mit dieser Lösung verbundenen zeitlichen Streckung der Rezeption, wäre deren zeitliche Entlastungsfunktion aber eingeschränkt. Eine zusätzliche Entlastungfunktion könnte zweitens eine gezielte Arbeitsteilung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis bringen. Erstere unterliegt keinen institutionellen Entscheidungszwängen und hat daher weit mehr Zeit und Ressourcen, sich mit Rezeptionen zu befassen.69 Gebraucht würden ebenso allgemeine methodische Maßstäbe im Umgang mit Rezeptionen wie Lösungsvorschläge mit Blick auf konkrete Rezeptionskonstellationen. Komplexitätsreduzierend und damit in angemessener Zeit entscheidbar können Rezeptionen drittens auch durch die Etablierung sogenannter Stoppregeln werden. Dabei handelt es sich um Mechanismen, die den Prozess der Wahrheitsfindung abschneiden und zu einer Entscheidung führen, obwohl noch nicht alle Informationen erhoben, evaluiert oder über diese entschieden wurden.70 Bekannt ist diese Technik zum Beispiel aus dem Zivilprozessrecht, in dem prozessuale Beibringungs- und Beweislastregeln eine weitere richterliche Ermittlung des Sachverhalts entbehrlich machen.71 Vergleichbare Regelungen könnten auch für Rezeptionskonstellationen geschaffen und dadurch der Umfang der durchzuführenden Untersuchung beschränkt werden.72 2.4
Fazit zur Rezeptionstechnik im Umgang mit der Zeit
Zusammenfassend kann das Recht als eine Normenordnung beschrieben werden, die sich kraft ihrer Positivität von dem linearen Zeitablauf zu einem gewissen Grad lösen und geistige Entitäten aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen oder sich in der Gegenwart an künftige geistige Entitäten antizipierend binden kann. Die Öffnung des Rechts gegenüber fremden Rezeptionsgegenständen wird durch das Grundgesetz umso stärker beschränkt, je zukunftsoffener die Öffnung ausgestaltet ist. Hinsichtlich des Wie der Rezeption kann für komplexe Rezeptionsprozesse an eine Prozeduralisie-
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Dazu Wollenschläger (2009), 74 f. Hoffmann-Riem (2004), 68 f.; Lüdemann (2007), 141 ff. Hoffmann-Riem (2004), 64 ff.; Guckelberger (2017), 1 (7). Hoffmann-Riem (2004), 64 ff. Ibidem.
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rung des Rezeptionsvorgangs, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis und die Etablierung sog. Stoppregeln gedacht werden. Die zeitliche Entlastungsfunktion von Rezeptionen kann dennoch beschränkt bleiben. 3.
Die Betrachtung von Recht und Zeit unter dem Blickwinkel der Rezeptionsprozesse
In einem dritten Teil soll nun der Blick weg von dem Zeitpunkt des Rezeptionsaktes hin zu dem prozessualen Charakter des gesamten Rezeptionsvorgangs gewendet und der Frage nachgegangen werden, was sich aus diesem für die Rezeptionstechnik und das Verhältnis von Zeit und Recht erlernen lässt. Rezipierte Entitäten werden, wie alle rechtseigenen Normen, im Stufenbau der Rechtsordnung sukzessive verarbeitet und unterliegen dabei endogenen wie exogenen Einflussfaktoren.73 Die Perspektive der Rezeption eröffnet einen neuen Blick auf diesen Wandel des Rechts in der Zeit. Denn sie bietet mit der geistigen Entität in ihrem Ursprungskontext und ihrem rezipierten Äquivalent im Zielkontext einen Vergleichsmaßstab für die Erfassung der konkreten Einflussfaktoren des rechtlichen Wandels. In der Rezeptionsliteratur werden zur Erfassung dieses Wandels mehrere Stufen der Rezeption unterschieden, die zunächst vorgestellt und anhand zweier Beispiele erläutert werden sollen (3.1). Vor diesem Hintergrund sind dann die im ersten Teil gemachten Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit, Recht und Rezeptionen zu reevaluieren (3.2).74 3.1
Besonderheiten der Zeitspanne von Rezeptionsprozessen
Anhand der Rezeptionsliteratur können Rezeptionsprozesse idealtypisch in bis zu vier Stufen beschrieben werden: Erstens die Entscheidung eines rechtserzeugenden Organs, eine fremde geistige Entität zu rezipieren, zweitens die Auswahl, Übersetzung und Anpassung dieser Entität im Rechtserzeugungsprozess, drittens der ingeltungsetzende Rechtsakt, viertens der Prozess der Einfügung und Bedeutungsfüllung der rezipierten Entität im Stufenbau der Rechtsordnung.75 Exemplarisch können diese Stufen am Beispiel der Rezeption der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz aufgezeigt
Zu diesen Begriffen: Lepsius (2016), 13 f. Im Folgenden nicht thematisiert, aber in zeitlicher Hinsicht ebenfalls interessant: Davis (2003), 181 ff. Vgl. Lohse (2017), 109 f.; Fedtke (2000), 51 ff.; Hirsch (1968), passim.; Lüdemann (2007), 279. Wohl in die zweite Stufe einzuordnen ist die bei interdisziplinären Rezeptionen vorzunehmende Selektion von Informationen anhand des juristischen Filters der Verwendungstauglichkeit, vgl. dazu Hoffmann-Riem (2004), 59 f. 73 74 75
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werden. Das Beispiel soll hier zunächst ohne Analyseraster und dann anhand des Analyserasters vorgestellt werden. Nachdem in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1948 einhellig der frühere Art. 135 S. 1, 2 WRV zur individuellen Religionsfreiheit unter Streichung seines Gesetzesvorbehalts wortlautidentisch in Art. 4 Abs. 1, 2 GG übernommen wurde, wurde der Antrag gestellt, auch eine Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz vorzunehmen.76 Der Antrag wurde nach intensiver Diskussion abgelehnt, denn man befürchtete, dadurch unabsehbare rechtliche Folgewirkungen für das Verhältnis von Staat und Kirche herbeizuführen. Stattdessen entschieden die Abgeordneten, die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung unter Ausschluss nur des Art. 140 WRV tel quel zu übernehmen77 und damit auf Kontinuität zu setzen. Die Bestimmung des Art. 140 GG lautet nunmehr: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“ Kontinuität war gewollt. „Aber wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe,“ formulierte Smend schon zwei Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes mit Blick auf die inkorporierten Normen weitsichtig.78 Tatsächlich begegneten der Anwendung der Kirchenartikel unter dem Grundgesetz nicht nur neue soziale Herausforderungen,79 auch führten der neue normative Kontext und die gesetzgeberischen Anpassungen der Kirchenartikel zu einer grundsätzlichen Neuinterpretation der Kirchenartikel; Änderungen, die maßgeblich auf einen Akteur zurückzuführen sind, dessen Rolle zum Zeitpunkt des Erlasses des Grundgesetzes noch weitgehend unklar war: das BVerfG.80 Unter seiner Ägide nahmen die Kirchenartikel eine Bedeutung an, die mit ihren textlichen Vorbildern heute kaum noch etwas gemeinsam hat, hier beispielhaft genannt: die Auslegung des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1, 2 GG als einheitliches Grundrecht,81 die intensiv geführte Debatte um die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV,82 die grundrechtliche Überformung Vgl. Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/II, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, 24. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 621 ff., 633 ff. 77 Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 14, Hauptausschuß, Tbd. 1, 2009, 22. Sitzung des Hauptausschusses, S. 641 ff. Zu den Verhandlungen über den Umfang der Verweisung im Einzelnen: Häberle (2010), 899 ff. 78 Smend (1951), 4. 79 Kästner (2010), Rn. 147 f. Die ersten drei Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes blieben hinsichtlich der bestehenden religiösen Gruppierungen vergleichsweise stabil, Mückel (2021), Rn. 74 ff. 80 Zur Rolle und Entwicklung des BVerfG: Collings (2015). 81 Siehe zur klaren Auftrennung der Schutzgewährleistungen unter der WRV: Anschütz (1933), Art. 135 WRV, 619. Demgegenüber: BVerfGE 24, 236 (246) [1968]; 83, 341 (354) [1991]; 108, 282 (297) [2003]. Mit der Interpretation als einheitliches Grundrecht verbindet das BVerfG auch eine Schutzbereichsausdehnung gegenüber dem historischen Gehalt der Norm, BVerfGE 24, 236 (246) [1968]; 35, 366 (376) [1973]. 82 Das BVerfG verneint eine Übertragung der Schranke, BVerfGE 33, 23 (30 f.) [1972], die Literatur widerspricht dem, siehe u. a. Ehlers (2021), Rn. 4.; Starck (2018), Rn. 87 ff., beide m. w. N. Unter der WRV stellte sich dieses Problem nicht, da der damalige Art. 135 WRV in S. 3 eine eigene Schrankenbestimmung enthielt, vgl. Anschütz (1933), Art. 136 WRV, 623. 76
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen
der staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen83 und die Errichtung ungeschriebener materieller Schranken für die Verleihung des Körperschaftsstatus gem. Art. 137 Abs. 5 WRV.84 Die Rezeption der Artikel der Weimarer Reichsverfassung stellt einen paradigmatischen vieraktigen Rezeptionsprozess dar. Er umfasst zunächst die Entscheidung, die Weimarer Kirchenartikel zu übernehmen. Dem folgten auf einer zweiten Stufe rechtstechnische Anpassungen an den neuen Kontext des Grundgesetzes, die systematisch getrennte Verankerung von Art. 135 WRV a. F. von den Art. 136–141 WRV, die Streichung des Gesetzesvorbehalts des Art. 135 S. 3 WRV sowie des Art. 140 WRV. Diese Phase ist deshalb von Bedeutung, weil – das hat das Beispiel gezeigt – die in ihr am Rezeptionsobjekt vorgenommenen Veränderungen sich auf dessen spätere Bedeutungsentwicklung auswirkten. Der Anpassungsphase folgte auf der dritten Stufe der Akt des Ingeltungsetzens der ehemaligen Kirchenartikel durch den Erlass des Grundgesetzes, auf die dann die vierte Stufe, die Einpassungsphase, schloss. Auf dieser Stufe offenbarten sich eine Reihe von Faktoren, die zu der Bedeutungsänderung der Normen gegenüber ihrem textlichen Vorbild führten: veränderte soziale Umstände, die in der Anpassungsphase durchgeführte systematische Neupositionierung der Weimarer Kirchenartikel und der Religionsfreiheit, die neuen Interpretationsmethoden unter dem Grundgesetz und der Einfluss des BVerfG als neuem institutionellen Akteur.85 Dabei war es keineswegs so, dass das BVerfG sich in der Bedeutungsentwicklung vollständig von der Weimarer Reichsverfassung abkoppelte. Vielmehr bezog es sich zur Auslegung der Normen des Grundgesetzes ganz regelmäßig auf die frühere Fassung und Bedeutung der Kirchenartikel.86 Nichtsdestotrotz entwickelten sie eine völlig andere Bedeutung als ihre normativen Vorbilder. Die mitunter erhebliche Auswirkung der Rezeption in einen neuen sozialen Kontext zeigt auch ein weiteres Beispiel, die Rezeption des Schweizer Rechts in der Türkei.87 Das Motiv der Rezeption war hier ein zukunftsorientiertes. Es sollten die bis dato bestehenden und den damaligen gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr gerecht werdenden und widersprüchlichen Normen durch moderneres Recht ersetzt werden. Den ausführenden Rechtsstab stellte diese Rezeption damit gleich vor eine doppelte Herausforderung. Nicht nur fand er kaum die Zeit, sich in dem umfangreichen neuen Recht zurechtzufinden, auch konnte er sich mitunter nur schwerlich von den erlernten und verinnerlichten traditionellen Konzepten und Begriffen lösen, was unter anderem dazu führte, dass den neuen Rechtsnormen unabsichtlich ein Sinn beigelegt oder un-
BVerfGE 102, 370 (387) [2000]; BVerfGE 125, 39 (79) [2009]. BVerfGE 102, 370, Leitsätze 1, 2 [2000]. Vgl. demgegenüber: Anschütz (1933), Art. 137 WRV, 646 ff. Mückel (2021), 79 ff. Siehe nur: BVerfGE 24, 236 (246 f.) [1968]; 83, 341 (367 f.) [1991]; 102, 370 (387) [2000]; BVerfGE 125, 39 (79) [2009]. 87 Dazu im Folgenden: Hirsch (1968) passim.; vertiefend: ders. (1966), 89 ff. 83 84 85 86
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tergeschoben wurde, der noch der herkömmlichen Rechtsübung oder -überzeugung entsprach.88 Die dadurch entstandenen Missverständnisse konnten über die Jahrzehnte jedenfalls teilweise aufgeklärt werden. Dabei halfen dem türkischen Rechtsstab auch ausländische Wissenschaftler:innen der Ausgangsrechtsordnung.89 Das Beispiel der Rezeption des Schweizer Rechts in der Türkei zeigt nochmals deutlicher, dass Rezeptionen stets auch einen Übergang zwischen zwei Rechts- bzw. Wissenschaftskulturen mit sich bringen. Das Rezeptionsobjekt trifft in der rezipierenden Rechtsordnung auf andere soziale Kontexte und Vorverständnisse, die im Konkretisierungsprozess dazu führen, dass die rezipierten Texte eine völlig andere Bedeutung annehmen können, als ihnen im Rechtserzeugungsprozess zugewiesen wurde.90 Auch das Motiv der Rezeption, hier die Modernisierung des Rechts, kann den Umfang des Bedeutungswandels beeinflussen. Hirschs Schlussfolgerung für die Konstellation in der Türkei ist, dass eine solche Rezeption nur dann gelingen könne, wenn der Gesetzgebungsakt durch eine Reihe weiterer stabilisierender Maßnahmen ergänzt werde: Die Aus- und Fortbildung des Rechtsstabes, die Schaffung wissenschaftlicher Literatur, die Hinzuziehung ausländischer Wissenschaftler:innen. Rezeptionsprozesse brauchen ihre Zeit.91 3.2
Rezeptionstechnik im Lichte der Prozesshaftigkeit von Rezeptionen
Für die im zweiten Teil vorgestellte Technik der Rezeption ergeben sich aus dieser Analyse zwei konkretisierende Aspekte. Erstens stellt sich stets erst im Laufe der Konkretisierung des Rezeptionsobjekts in der rezipierenden Normenordnung heraus, ob über den rezipierten Text hinaus auch dessen Bedeutung und Funktion übernommen werden konnten.92 Die in diesem Prozess wirkenden Faktoren sind mannigfaltig und vom rezipierenden Organ nur begrenzt steuer- bzw. vorhersehbar. Es wird unvermeidlich zu gewissen, mitunter sogar zu erheblichen Bedeutungsverschiebungen zwischen dem Ausgangskontext und der Zielrechtsordnung kommen. Eine zeitliche Synchronisierung ihrer Inhalte ist damit nur begrenzt möglich. Zweitens muss auch die Unterscheidung zwischen statischen, vergangenheitsorientierten und dynamischen, zukunftsorientierten Rezeptionen relativiert werden. Denn muss jede rezipierte Entität im Stufenbau der Rechtsordnung konkretisiert werden,
Hirsch führt als Beispiel die fortdauernde Verwendung des türkischen Konzepts „ecrimsil“ durch die Gerichte an, das im neuen Zivilgesetzbuch aber an keiner Stelle verwendet wurde und in der Sache quer zu den tatsächlich verankerten Bestimmungen lag, vgl. Hirsch (1968), 192 ff. 89 Hirsch (1968), passim. 90 Entsprechende empirische Beobachtungen wurden u. a. gemacht von: Kitagawa (1970), 165 ff.; Chanturia (2008), 114 ff. 91 Hirsch (1968), 182 ff., 222 f. Als relevanter Faktor wird auch die kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Ausgangsrechtsordnung genannt, vgl. Chanturia (2008), 116 ff. 92 Lohse (2017), 110. 88
Das Verhältnis von Zeit und Recht im Lichte von Rezeptionen
dann wird ein Rezeptionsakt, das hat das Beispiel des BVerfG im Umgang mit den Weimarer Kirchenrechtsartikeln gezeigt, gleich ob statisch oder dynamisch intendiert, regelmäßig zu weiteren Rezeptionsakten seitens der nachfolgend tätig werdenden rechtserzeugenden Organe führen. Damit sind auch vergangenheitsorientierte Rezeptionen eine Öffnung für künftige Rezeptionen und damit im Grunde alle Rezeptionen zukunftsgewandter, dynamischer Natur.93 Anstelle der Unterscheidung statischer und dynamischer Verweisungen scheint es überzeugender, zwischen verschiedenen Graden dynamischer und damit zukunftsorientierter Rezeptionen zu unterscheiden: Starke zeitliche Kopplungen, bei denen der rechtserzeugende Akt selbst in die Zukunft verweist (dynamische Verweisungen) und schwache zeitliche Kopplungen, bei denen weitere Rezeptionen ausschließlich den weiteren rechtserzeugenden Organen überlassen werden (statische Verweisungen). Vor diesem Hintergrund sollte auch die in der Literatur forcierte Unterscheidung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit statischer und dynamischer Verweisungen relativiert werden. 4. Fazit
Die Betrachtung von Rezeptionen hat sich in mehrfacher Hinsicht als ein fruchtbarer Gegenstand für die Untersuchung des Verhältnisses von Zeit und Recht erwiesen. Zunächst wurde festgestellt, dass auf tatsächlicher Ebene Rezeptionen zur zeitlichen Entlastung eingesetzt werden, sie zugleich aber auch neue Komplexitäten schaffen und damit ihrerseits zu zeitlichen Überlastungen führen können. Das Recht muss diese Spannung vermittelnd auflösen. Die rechtstheoretische und -dogmatische Analyse von Rezeptionen hat dann gezeigt, wie das Recht sich kraft seiner Positivität von dem linearen Verlauf der Zeit lösen und geistige Entitäten aus der (weit zurückliegenden) Vergangenheit in die Gegenwart rezipieren oder die gegenwärtige Rechtsordnung antizipierend an in der Zukunft erzeugte geistige Entitäten binden kann. Dabei setzt das Grundgesetz Grenzen insbesondere mit Blick auf die Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Zur Begegnung der Gefahr einer zeitlichen Überforderung durch Rezeptionen wurden eine Prozeduralisierung des Rezeptionsvorgangs, eine intensivierte Arbeitsteilung zwischen Rechtswissenschaft und -praxis und die Etablierung von Stoppregeln vorgeschlagen. Die zeitliche Entlastungsfunktion von Rezeptionen wird regelmäßig dennoch relativiert bleiben. Im dritten Teil wurde dann die Prozesshaftigkeit des gesamten Rezeptionsvorgangs beleuchtet und gezeigt, dass Rezeptionen eine Synchronisierung der Entwicklung rezipierter Gegenstände mit deren externen Vorbildern nicht (dauerhaft) erreichen können. Sie sind überdies immer dynamischer Natur und öffnen eine Rechtsordnung für weitere Rezeptionen in der Zukunft. Das
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Mit anderer Begründung aber i. E. übereinstimmend: Cohn (2010), 599.
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Recht kann damit in vielfältiger Hinsicht als von der Zeit getrieben beschrieben werden. Es ist ihr aber auch nicht völlig ausgeliefert, sondern kann sich mittels Rezeptionen in ihr und entgegen sie bewegen und aus zeitlich vorangehendem Erfahrungswissen anderer Kontexte vor seiner Zeit lernen. Literaturverzeichnis
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für Staatswissenschaft & Rechtsphilosophie (Abt. 3) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
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Perspektiven auf Zeit im Recht* Das bisherige Verständnis von Zeit im Recht und die Notwendigkeit der Betrachtung von Zeit als Ressource
ALICE REGINA BERTRAM
Perspectives on Time in Law Current Perspectives on Time in Law and the Need for a Concept of Time as a Resource Abstract: In law, time is commonly received as a linear process. This article argues that this perspec-
tive on time obscures another important perspective on time as a resource. First, it looks at different ways time has been conceived historically and at corresponding understandings of autonomy in modernity and late modernity. Law, as follows from this analysis, is itself not subjected to time but must be understood as detemporalized. Secondly, this article develops a concept of time as a resource, e. g. as a means to purposes. Time as a resource is of particular importance because it is a necessary condition for the exercise of individual autonomy. This article argues that therefore the legal protection of time as a resource needs to receive greater scholarly attention. Keywords: Time, law, concepts of time, detemporalization, time as a resource, autonomy Schlagworte: Zeit, Recht, Zeitbegriff, Verzeitlichung, Zeit als Ressource, Autonomie
1. Einleitung
Über Recht und Zeit zu sprechen eröffnet, wie die Vielfalt der Beiträge in diesem Sammelband zeigt, ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die Materie. Dieser Beitrag ergänzt diese Überlegungen um eine weitere Perspektive auf Zeit und betrachtet
*
Die Autorin dankt Johanna Hasenburg für ihre wertvollen Hinweise.
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Alice Regina Bertram
Zeit in ihrer Funktion als Ressource. Zeit als Ressource ist relevant, da ohne frei über die eigene Zeit als einem Mittel zu unterschiedlichen (Lebens-)Zwecken verfügen zu können, eine autonome Gestaltung des eigenen Lebens nicht gelingen kann. Diese Perspektive auf Zeit ist den üblicheren rechtswissenschaftlichen Betrachtungen von Zeit noch weitgehend fremd. Den unterschiedlichen Zugriffen auf Zeit in der rechtswissenschaftlichen Betrachtung liegt meist ein einheitliches Verständnis von Zeit als einem stetig forstschreitenden, linearen Prozess oder Geschehensfluss zu Grunde.1 Auf diesen kann das Recht gestaltend Einfluss nehmen, muss dazu aber selbst als außerhalb der Zeit stehend begriffen werden.2 Dieser Beitrag untersucht zunächst diese, üblichere Perspektive auf Zeit im Recht und setzt sie in Bezug zu historischen Veränderungen des Zeitverständnisses. Abschließend wird ein Konzept von Zeit als Ressource skizziert. 2.
Zeit als Prozess und die Eigenzeitlichkeit des Rechts
2.1
Ursprüngliches Verständnis zyklischer Zeit
In der ältesten Form des Zeitverständnisses, das hier als zyklisch bezeichnet wird, war die Zeit noch mit immer wiederkehrenden Handlungen identifiziert.3 In Verbindung mit den Jahreszeiten und einem Leben, das zwangsläufig noch sehr stark an der Natur orientiert war, wiederholten sich dieselben Handlungen in regelmäßigen Zeitabständen. Ein „früher“ und „später“ war durch tatsächliche Ereignisse bestimmt – wie der Geburt der Lämmer im Frühjahr, der letzten Saat oder nächsten Ernte.4 Naturgemäß boten die zyklischen und immer wiederkehrenden Bewegung der Himmelskörper nicht nur Orientierung hinsichtlich des richtigen Zeitpunkts für die jeweilig notwendigen Handlungen, sondern wurden auch als Anweisung zu eben diesen Handlungen gelesen – häufig durch dafür bestimmte Personen, die Priester- oder priesterähnliche Rollen einnahmen.5 Eine solche Personifizierung der Zeitbestimmung war schließlich auch mitursächlich für die Schaffung des julianischen Kalenders. Im republikanischen Rom oblag die Zeitbestimmung, die die steuerlich relevante Länge der Jahre
Vgl. insb. die Monografien Winkler (1995); Kirste (1998); G. Husserl (1955). Zwischen dem zeitlosen Recht und der vergänglichen Sachverhalte, auf die es sich bezieht, kann es dann zu Spannungen kommen, vgl. verfassungsrechtlich: Häberle (1974). 3 Rosa (2005), 26 f.; Derrida (1993), 16. 4 Die Differenzierung in „früher“ und „später“, d. h. eine Bestimmung von Zeit relativ zum gegenwärtigen Zeitpunkt, entspricht der von McTaggart definierten A-Linie zur Beschreibung der Zeit. Demgegenüber steht als B-Linie ein absolutes Zeitverständnis, in der Zeitpunkte unabhängig vom gegenwärtigen Zeitpunkt beschreiben werden, z. B. 16. Februar 2021, 13:28 Uhr. Vgl. McTaggart (1906), 457. 5 Elias (2017), 164. 1 2
Perspektiven auf Zeit im Recht
einschloss, dem Priesterkollegium. Auf dieses konnte Einfluss genommen werden, so dass schließlich „der Kalender durcheinanderkam“.6 Julius Caesar objektivierte als Reaktion darauf die Zeitmessung durch einen neuen Kalender. Der julianische Kalender wurde im Jahr 1582 durch die Einführung von Schaltjahren modifiziert und besteht, seither üblicherweise als gregorianischer Kalender bezeichnet, im Wesentlich unverändert fort. Heute begleitet uns ein zyklisches Zeitverständnis meist nur noch in seiner Abstraktion als gemessene Zeit, die als Uhrzeit, Weltzeit,7 oder auch vulgäre Zeit8 bezeichnet wird. Gemessen wird die Zeit anhand der sich stetig wiederholenden Bewegungen von Himmelskörpern. Aus ihnen leiten sich Jahre (Erdumlaufbahn um die Sonne), Monate (Mondphase) und Tage (Erdachsenrotation) ab.9 Unser Zeiterleben ist jedoch nicht länger vorwiegend durch die wiederkehrende Zeit geprägt, da Handlungen, die über die alltäglichen Zeitrhythmen des Essens und Schlafens hinaus gehen, überwiegend nicht mehr rhythmisch wiederkehren. In ihrer handlungsunabhängigen Dimension wurde Zeit in den letzten beiden Jahrhunderten weitgehend vereinheitlicht. Während die Uhrzeit vor der Industrialisierung noch auf einzelne Gemeinden und die dortige Kirchturmuhr begrenzt war, wurde sie spätestens mit der Einführung von Zugverbindungen, deren Taktung auf einen überregionalen einheitlichen Zeitmaßstab angewiesen war, über weite Flächen und schließlich global vereinheitlicht.10 Weil individuelle Handlungen Einzelner heute nicht mehr sinnvoll aus dem kollektiven zeitlichen Rahmen gelöst werden können, kommt der Zeit nun eine Quasi-Natürlichkeit zu.11 Diese Uhr- oder Weltzeit steht im Hintergrund des Erlebens, während sich das Erleben selbst mittlerweile durch neuere Zeitverständnisse besser beschreiben lässt, die im Folgenden besprochen werden.
Elias (2017), 184. Als die Zeit, die von Uhren gemessen wird und als Gegenbegriff zur Eigenzeit, die sich auf das individuelle Zeiterleben bezieht, Sieroka (2018), S. 79. Für Eigenzeit ist insb. die phänomenologische Betrachtung von Zeit relevant, s. E. Husserl (2013). 8 Heidegger (1986), 329. 9 Sprachlich ist dies noch an der Ähnlichkeit zwischen Mond und Monaten zu erkennen. Die Länge der Monate wurde so angepasst, dass sie sich bruchlos in das Jahr einfügen. Zur Entwicklung des Kalenders s. Elias (2017), 182 ff. 10 Zerubavel (1982), 7. 11 Elias (2017), XXVII. 6 7
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Alice Regina Bertram
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Autonomie, lineare Zeit und die Eigenzeitlichkeit des Rechts in der Moderne
2.2.1
Aufbruch in eine lineare Zeit in der Aufklärung am Beispiel von Kants Freiheitsverständnis
Aus der zentralen Idee der Aufklärung, dass der Mensch als Individuum autonom12 handelt, indem er selbst denkt, entscheidet und nach diesen Entscheidungen lebt, folgt ein lineares Zeitverständnis.13 Denn autonomes Handeln setzt voraus, dass Zukünftiges nicht mehr zyklisch das immer schon Dagewesene wiederholt, sondern Raum für gänzlich neue (Lebens-)Entwürfe schafft. Zukünftiges muss sich deshalb von Vergangenem unterscheiden können. Diesem Verständnis entspricht nicht mehr die Form eines Kreises, sondern die einer Geraden, auf der sich alles Zukünftige mit fortschreitender Zeit immer weiter vom Vergangenen entfernt.14 Der Zusammenhang des neuen, aufklärerischen Verständnisses des autonom handelnden Individuums und dem damit einhergehenden Zeitverständnis lässt sich exemplarisch bei Immanuel Kant als zentralem Denker der Aufklärung illustrieren. Kant geht zunächst vom klassischen Prinzip der Ursache und Wirkung aus.15 Diese Grundannahme auf die Zeit zu beziehen bedeutet, dass die Vergangenheit die Zukunft vollständig determiniert. Dem scheint Kants Verständnis eines autonom handelnden Individuums zunächst in unvereinbarerer Weise gegenüberzustehen. Dieser Widerspruch lässt sich jedoch, wie sogleich dargelegt wird, entlang Kants Freiheitsverständnis auflösen. In diesem entwickelt der Wille die Spontanität, selbst zwischen unterschiedlichen Handlungsimpulsen zu wählen und so eine Determination des Handelns zu unterbrechen. Kants Freiheitsverständnis lässt sich in drei Stufen fassen. Auf der ersten Stufe steht das sinnliche Begehren, das sowohl in Tieren, die Kant als vernunftlosen Wesen begreift, wie auch vernunftbegabten Menschen einen sinnlichen Impuls zum Handeln hervorruft.16 Auf der zweiten Stufe ermöglicht die Vernunft den Menschen ein „FreiSein“ beziehungsweise „Frei-Werden-Von“ sinnlichen Einflüssen und unterbricht den Zusammenhang zwischen sinnlichem Impuls und der nachfolgenden Handlung. Die so entstandene „negative Freiheit“17 lässt es zu, zwischen mehreren Handlungsimpulsen zu wählen, kann jedoch auch selbst nicht ohne sinnliche Ursache sein.18 Allein,
Zur begrifflichen und ideengeschichtlichen Herkunft der Autonomie von alt.-gr. αὐτός, autós, dt. selbst und alt.-gr. νόμος nómos dt. Gesetz; Fischer (2017), 411. 13 Han (2015), 20 f. 14 Rosa (2005), 27; Han (2015), 23. 15 Kant, GMS, AA 04:446.22–24. 16 Kant, GMS, AA 04:446.9–12. 17 Kant, GMS, AA 04:446:13. Vgl. zur wohl bekanntesten Differenzierung positiver und negativer Freiheit, ohne dass dort ausdrücklich auf die Begriffsverwendung bei Kant Bezug genommen wird, Berlin (2005), 159. 18 Kant, GMS, AA 04:446.18–21. 12
Perspektiven auf Zeit im Recht
wenn auf der dritten Stufe die „positive Freiheit“19 ursächlich für das Handeln wird, ist der Mensch frei von sinnlichen Ursachen, weil dann einzig der eigene Wille die Ursache des Handelns ist: „was kann den wol die Freyheit des Willens sonst seyn, als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst Gesetz zu sein?“20 Dieses Momentum an Spontaneität entwickelt nur der Wille, der „rein“ ist, das heißt allein durch den von der Vernunft gegebenen kategorischen Imperativ bestimmt ist:21 So schlussfolgert Kant: „Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann“.22 Der Bezug der Autonomie zur Zeit lässt sich gleichsam anhand der drei Stufen betrachten. Das Begehren als Reaktion auf sinnliche Impulse ist vollständig der Zeitlichkeit unterworfen. Diesen zeitlichen Geschehensfluss unterbricht die negative Freiheit, indem an die Stelle der Abhängigkeit vom vorangegangenen Impuls die Möglichkeit tritt, selbst zwischen verschiedenen Impulsen wählen zu können. Die Auswahlmöglichkeit setzt notwendigerweise die Gestaltungsoffenheit der Zukunft voraus. Mit der Idee einer zyklischen Zeit ist dies nicht mehr vereinbar. Zur Darstellung der Zeit geeigneter ist die Form einer aus der Vergangenheit reichenden und in die Zukunft offenen Geraden.23 Auf ihr folgt immerfort Neues auf das bisher Gewesene. Die Spontanität der Autonomie erfordert darüber hinaus, eine zusätzliche zeitliche Ebene zu denken. Denn die Fähigkeit des Willens, sich selbst Gesetz zu sein, setzt eine Reflexionsebene voraus, die dem gewöhnlichen Geschehensfluss entzogen ist und so der Vernunft den Raum gibt, selbst ursächlich zu werden. Auf dieser ent- oder all- oder eigenzeitlichen Ebene lässt es sich miteinander vereinbaren, dass die Vernunft als Ursache für autonomes Handeln einerseits aus der Vergangenheit wirkt, andererseits aber aus der Zukunft folgt. Denn um im Sinne des kategorischen Imperativs zu handeln, ist es notwendig, die zukünftigen Wirkungen des eigenen Handelns beziehungsweise hypothetischen allgemeinen, (auch) fremden Handelns zu bewerten. Im Zeitpunkt der Entscheidung über die Vornahme einer Handlung ist mit Blick auf die Zukunft zu bewerten, ob die Maxime, der diese Handlung unterläge, sich als allgemeines Gesetz für alle Menschen eignete, das heißt alle anderen zukünftigen Handlungen, die sich aus ihr ergäben, ebenso moralisch wären. Das bedeutet, dass der kategorische Imperativ die Zeitrichtung insoweit umkehrt, als sich die durch die Autonomie gesetzte Ursache aus der Zukunft bestimmt.24 Die beschriebene Wirkung der Autonomie aus der Zukunft tritt neben die Notwendigkeit, dass sie, dem Prinzip der Kant, GMS, AA 04:447.17. Kant, GMS, AA 04:446.22–447.02; s. a. zur Autonomie, ebed., AA 04:444.30–34. Kant, MS, AA 06:213.22–26. Kant, GMS, AA 04:447.02–05. Vgl. zum kategorischen Imperativ: ebed., AA 04:421.06–08. Das Bild der Zeit als Linie entspricht auch der Beschreibung Kants. Wir stellen uns „die Zeitfolge durch eine ins unendliche fortgehende Linie vor“, Kant, KrV, AA 04:037.30–31. 24 Diese Umkehrung ist auch für Heideggers Sicht auf den Sinn des Gegenwärtigen zentral, der sich aus 19 20 21 22 23
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Ursache und Wirkung folgend, bereits in der Vergangenheit wirken muss. Die gleichzeitige Ausdehnung in die Zukunft und die Vergangenheit zeigt, dass die Autonomie nicht dem gewöhnlichen Fluss der Zeit unterliegt, sondern entzeitlicht beziehungsweise all- oder eigenzeitlich ist. Die Bezeichnungen (ent-, all- oder eigenzeitlich) sind in nahezu äquivalenter Weise dazu geeignet, das Verhältnis der Autonomie zur Zeit zu beschreiben: Ein Außerhalb der Zeit Stehen der Autonomie bedeutet, dass sie aus dem linearen Zeitfluss ausgenommen ist (entzeitlicht), wodurch sie einer eigenen Zeit zuzuordnen ist (eigenzeitlich), die nicht vergeht (allzeitlich). 2.2.2
Die Eigenzeitlichkeit des Rechts
Die Beschreibung der Zeit als linear führt zu der Frage, in welcher Beziehung das Recht zu dieser Zeitform steht. Tatsächlich kann diese Frage bereits mit der obigen Beschreibung des Verhältnisses der Autonomie zur Zeit beantwortet werden. Eine parallele Struktur zwischen Recht und Autonomie ergibt sich daraus, dass beide normative Aussagen über das äußere Handeln treffen. So charakterisiert Kant das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.25 Während dies an den kategorischen Imperativ erinnert, der für die Autonomie ursächlich ist, sind die inneren Entscheidungsvorgänge und das Recht strikt voneinander zu unterscheiden.26 Eine Beeinflussung innerer Vorgänge durch das Recht lehnt Kant ausdrücklich ab.27 Dies stünde im Widerspruch zur reinen Vernunft als alleiniger Ursache moralischen Handelns. Wenngleich sie deshalb nie identisch sind, sind Autonomie und Recht darin vergleichbar, dass sie normativ auf das äußere Handeln wirken. Insoweit gilt für das Recht, beziehungsweise den moralischen Maßstab, den das Recht erfüllen muss, das für die Autonomie bereits Gesagte: Es bestimmt sich aus der Zukunft, denn die Abwägungen, auf denen es beruht leiten sich aus einer Prognose künftigen Verhaltens her. Das Recht hat zugleich den Anspruch, ursächlich für äußeres Handeln zu werden und muss insoweit auch aus der Vergangenheit in die Zukunft gedacht werden. Die Synthese dieser entgegengesetzten Zeitrichtungen gelingt nur,
dem Zukünftigen ergibt, auf das sich Gegenwärtige richtet: „Dasein kann nur eigentlich gewesen sein, sofern es zukünftig ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft.“, Heidegger (1986), 326. 25 Kant, MS, AA 06:230.24–26. 26 Bielefeldt (1996), 52 f. 27 Kant, RGV, AA 06:096.01–04.
Perspektiven auf Zeit im Recht
wenn das Recht als eigenzeitlich begriffen wird.28 Dabei eignet sich der Begriff der Eigenzeitlichkeit im Vergleich zu den Begriffen ent- oder allzeitlich besonders, da er die Selbstbestimmtheit des Rechts hervorhebt. Das Recht bestimmt selbst über sein Entstehen, Andauern und Vergehen und hat in diesem Sinne seine eigene Zeit.29 2.3
Spätmoderne Gleichzeitigkeit als ein Zerfallen der Zeit in Punkte
Seit der Aufklärung haben sich insbesondere im Zuge der Entwicklungen der Spätmoderne30 Handlungsoptionen vervielfacht, wodurch autonomes Handeln begünstigt wird. Die Vervielfachung von Handlungsoptionen ist insbesondere durch ein neues Erleben von Gleichzeitigkeit bedingt, die das Zeitverständnis erneut verändert.31 Nicht länger sind Menschen darauf beschränkt, sich an einem Ort auch mit dem dortigen Geschehen zu befassen. Insbesondere die Digitalisierung32 ermöglicht es, mit digitalen Endgeräten an Geschehnissen einer unbegrenzten Zahl anderer realer oder digitaler Räume teilzuhaben.33 So werden beliebig viele andere Zeitpunkte wähl- und wahrnehmbar. Zeit als linear zu beschreiben, wird dem nicht mehr gerecht. Die Zeitgerade, durch die sich das moderne Zeiterleben abbilden ließ, zerfällt in viele einzelne Punkte.34 Diese Gleichzeitigkeit von Handlungsoptionen und Zeiterleben zeigt sich beispielsweise, wenn die Aufzeichnung einer TV-Show am Folgetag auf dem Handy in der U-Bahn angesehen werden oder ein YouTube-Video, für das es nie einen eindeutig definierten allgemeinen Wahrnehmungszeitpunkt gab.
28 Hegel spricht aus vergleichbaren Erwägungen von der „epochalen Gegenwart“, die er grundsätzlich der Ebene des Geistes (in Abgrenzung von der Ebene der Natur) zuordnet. Vgl. einordnend: Kirste (1999), 69; ders. (1998), 207 ff. 29 Vgl. Kirste (1998), 350. 30 Auch als zweite Moderne, reflexive Moderne, erweiterte liberale Moderne oder Postmoderne bezeichnet. Im Anschluss an Rosa wird der strukturell konnotierte Begriff der Spätmoderne in Bezug auf das Zeiterleben verwendet, vgl. Rosa (2005), 47, 49 Fn. 76. 31 Anders Rosa, der Gleichzeitigkeit nur als Folge der von ihm als ursächlich betrachteten Beschleunigung der Zeit betrachtet, Rosa (2005), 51. 32 Präziser wird die gegenwärtige Digitalisierung, die durch mobiles und allgegenwärtiges Internet, kleinere, leistungsstärkere und gleichzeitig günstigere Sensoren sowie künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen geprägt ist, als vierte industrielle Revolution bezeichnet, Schwab (2016). 33 Angesichts digitaler Entwicklungen ist das Beschleunigungserleben paradox, müssten die technischen Errungenschaften die für Arbeiten benötigte Zeit doch verkürzen; sog. time-pressure paradox, Wajcman (2015), 16, 61 ff. 34 Han spricht, da er den Verlust einer gerichteten Zeitgeraden insb. auch als Sinnverlust interpretiert, von „Punkten, die richtungslos schwirren“, Han (2015), 23. Rosa benennt eine Zeitkrise in der „es die Zeit selbst sei, die aus den Fugen geraten ist.“, Rosa (2005), 39. Clancy spricht von „de-temporalization“, Clancy (2014), 34 ff.
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3.
Zeit als Ressource als Bedingung von Autonomie
3.1
Autonomie braucht Zeit
Die bisher dargestellten Zeitverständnisse sind zwar unmittelbar durch Autonomieverständnisse geformt, verstellen aber den Blick auf einen weiteren wesentlichen Zusammenhang von Zeit und Autonomie. Zeit ist nicht nur ein Prozess im Sinne eines Geschehensflusses entlang dessen sich Ereignisse ordnen. Vielmehr ist Zeit aus Sicht jeder und jedes Einzelnen auch eine Ressource, die zum Handeln unverzichtbar ist. Dass Zeit in ihrer Funktion als Ressource Bedeutung für Autonomie hat, verdeutlicht das folgende Beispiel: Auf einer einsamen Insel lebt eine Frau, die immerfort von einem Biest gejagt wird. Sie überlebt nur, solange sie mit all ihren physischen und mentalen Kräften gegen das Biest ankämpft. Sie kann deshalb nie an etwas anderes denken oder etwas anderes tun.35 Das Beispiel der hounded woman, das Joseph Raz dazu verwendet, die Voraussetzungen von Autonomie zu beschreiben, zeigt auch, dass Autonomie immer davon abhängt, über die eigene Zeit frei verfügen zu können. Der gejagten Frau verbleibt, weil sie immer handeln muss, keine Zeit, die sie zu anderen Zwecken nutzen könnte. Insbesondere kann sie nicht autonom handeln, da sie keine Zeit dazu hat, nachzudenken, eigene Vorstellungen über ihr Leben zu entwickeln und nach diesen Vorstellungen zu handeln. Das Schutzbedürfnis vor Zugriffen auf Zeit als Ressource gewinnt durch die spätmoderne Erfahrung von Gleichzeitigkeit eine besondere Bedeutung. Dies zeigt sich in Arbeitsverhältnissen bei E-Mails, die in Folge der Digitalisierung auch zu Hause und nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub beantwortet werden können. Ob Handlungsmöglichkeiten, die durch Entgrenzung geschaffen werden, auch genutzt werden (müssen), liegt nicht immer in den Händen der Person, die ihre eigene Zeit aufwendet. So besteht im Arbeitsverhältnis ein strukturelles Machtgefälle zwischen der Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*innnenseite, weshalb der Zugriff auf die Zeit der Arbeitnehmer*innen nicht (allein) auf eigenen, freien Entscheidungen beruht. Der Verlust von verfügbarer Zeit, der daraus beziehungsweise auch schon durch ein „Erreichbarseien-Müssen“36 entstehen kann, betrifft die Arbeitnehmer*innen in ihrer Autonomie. Die Selbstverständlichkeit, mit der über die Ressource Zeit verfügt werden kann, nimmt durch solche Erlebnisse der Gleichzeitigkeit ab. In gleichem Maße nimmt das Schutzbedürfnis vor Zugriffen auf die Ressource Zeit zu.
Raz (1986), 373. Auch always-on culture, Steffan (2015), 1412. Ca. ein Fünftel der Arbeitnehmenden arbeitet nach einer Untersuchung in einem Umfeld, in dem ständige Erreichbarkeit erwartet wird, BMAS (2017), S. 79. 35 36
Perspektiven auf Zeit im Recht
3.2
Zeit als Ressource
Um Zeit als Ressource rechtlich handhabbar zu machen, ist näher auf die Begriffswahl und zwei wesentlichen Eigenschaften von Zeit als Ressource, die Unmöglichkeit ihrer Übertragung von einer Person auf eine andere sowie die der (Lebens-)Zeit inhärenten Endlichkeit einzugehen. Der Begriff der Ressource unterstreicht vor allem ihre Funktion. Eine Ressource ist ein Mittel, das für eine Vielfalt von Zwecken verwendet werden kann.37 Zeit kann gleich einem Rohstoff für viele Zwecke verwendet werden, zum Beispiel für autonomes Handeln. Zugleich ist Zeit für eben jene Zweckerreichung unverzichtbar. Angenommen, die hounded woman würde gerne einen Tag damit verbringen, darüber zu reflektieren, wie sie der Insel und damit dem Biest endgültig entkommen kann, ist ihr das unmöglich, solange sie nicht über die dafür notwendige Zeit verfügen kann. Soweit es um die Funktion der Ressource geht, ist sie von den ähnlichen Begriffen Mittel und Rohstoff abzugrenzen. Der Begriff der Ressource (von frz. Mittel, Quelle) verdeutlicht anders als der Begriff „Mittel“, dass es sich bei Zeit um einen ursprünglichen Wert handelt, dem wie es auf Quellen zutrifft, nichts mehr vorgelagert ist. Möchte die hounded woman einen Tag mit der Reflexion ihrer Fluchtmöglichkeiten verbringen, hilft ihr keine andere Ressource wie beispielsweise Geld dabei, eben diesen Zweck zu erreichen. Zeit ist in diesem Sinne nicht durch andere Ressourcen substituierbar. Anders als der Begriff „Rohstoff “ fasst der Begriff der Ressource zudem auch immaterielle Ressourcen. Zeit kann nicht durch andere Ressourcen substituiert werden, weil sie unübertragbar ist, das heißt nicht von einer Person auf eine andere übertragen werden kann.38 Dennoch kommt ihr ein Tauschwert zu, der als solcher auch im Recht vorgesehen ist. Zum Beispiel verpflichten sich Arbeitnehmer:innen im Arbeitsvertrag, ihre Zeit gegen ein Entgelt aufzuwenden. Insoweit wird eigene Zeit gegen eine andere Ressource (Geld) eingetauscht. Tatsächlich übertragen wird diese Zeit jedoch nicht auf den*die Arbeitgeber*in. Erfüllt eine Arbeitnehmerin beispielsweise eine Aufgabe, für die sie zwei Stunden benötigt, die sie dafür also „verliert“, „gewinnt“ auf der anderen Seite die Arbeitgeberin nicht eben diese zwei Stunden. Je nachdem, wie lange die Arbeitgeberin für dieselbe Aufgabe benötigt hätte, kann sie nun über eine, vielleicht aber auch,
Ähnl. Rose: „[A resource] is an all-purpose means that citizens generally require to pursue their conceptions of the good, whatever they may be.“, Rose (2014), 442; s. a. Rose (2016). 38 Derrida geht von der Unmöglichkeit der Gabe der Zeit aus. Vgl. „Wenn eine Zeit jemandem gehört, so bezeichnet das Wort Zeit weniger die selber als vielmehr, metonymisch, die Dinge, mit denen man sie ausfüllt. […] Folglich gehört die Zeit niemandem als solche man kann – sie selbst – ebenso wenig nehmen wie geben.“, Derrida (1993), 12. Dass es trotzdem sinnvoll sein kann, über ein Haben über die eigene Zeit zu sprechen, zeigt sich auch bei Derrida wenig später im Text: „Trotz alledem jedoch, mach auch der König ihr diese Zeit oder das, was die Zeit füllt, ganz und gar nehmen.“, ebed., S. 12. 37
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wenn sie viel langsamer gearbeitet hätte, über ganze fünf Stunden frei verfügen.39 Die Ressource Zeit wird in diesem Beispiel für einen von der Arbeitnehmerin verfolgten Zweck (Entgelt) aufgewendet, aber dabei nicht, weil das unmöglich ist, auf die Arbeitgeberin übertragen. Auf Grund der Unübertragbarkeit von Zeit, bleibt der Tausch der eigenen Zeit gegen andere Ressourcen immer asymmetrisch. Die Asymmetrie dieses Tausches zeigt sich darin, dass die einmal eingesetzte Arbeitszeit nicht zurückgegeben werden kann. Würde die Arbeitnehmerin ihre einmal eingesetzte Arbeitszeit gegen ihr Entgelt wiedereintauschen wollen, wäre dies, auch bei beiderseitigem Willen dazu, unmöglich.40 Der Tausch kann insbesondere nicht rückabgewickelt werden, da er ohne eine quasigegenständliche Übertragung der Zeit von einer auf die andere Person auskommen muss. Die eigene Zeit ist zudem endlich. Sie steht jeder Person nur in begrenztem Maße zur Verfügung, sowohl als begrenzte Lebenszeit als auch als begrenzte, täglich zur Verfügung stehende Zeit („24 Stunden am Tag“). Auf Grund der Endlichkeit von Zeit führt die Bindung zu vieler der täglich verfügbaren 24 Stunden zum Autonomieverlust.41 Notwendige Voraussetzung von Autonomie ist deshalb, dass ein ausreichend großer Teil dieser Zeit nicht gebunden ist. Um diesen Anteil zu bestimmen, wäre es jedenfalls unzureichend, schlicht die für Arbeit und ähnliche Tätigkeiten aufgewendete Zeit zu messen und die verbliebene Zeit als frei verfügbare Zeit zu begreifen. Denn wie groß der jeweils für die Arbeit aufgewendet Zeitumfang ist, beruht in unterschiedlichem Maße auf vorangegangenen, autonomen Entscheidungen. So ist die Entscheidung, in der Woche 48 Stunden erwerbstätig zu sein, für manche Arbeitnehmer*innen alternativlos, wenn nur so die finanzielle Existenzsicherung gelingt. Für andere ist diese Entscheidung Ergebnis einer Abwägung ihrer Präferenzen zwischen mehr Freizeit und einem höheren Einkommen.42 Während eine Quantifizierung der „autonomierelevanten Zeitmenge“ kaum gelingen kann, ist doch festzuhalten, dass ein Zeitmangel, der die Autonomie bedrohen kann, stark von den jeweiligen Lebensumständen einzelner Personen abhängt.
Vgl. zu ökonomischen Sprachbildern, mit denen Zeit oft beschrieben wird, Sieroka (2018), 99 ff. Vgl. „Geld ist ein Surrogat der Zeit, aber selbst keine konkret gewordene Zeit. Um das Surrogat zu verwerten, muß der einzelne ein nächstes Stück aus dem Vorrat seiner Lebenszeit einsetzen.“, Gast (1998), 2635. 41 Vgl. „Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit konkreten Zeit und der Totalität meiner Produktion würde ich das Substantielle derselben, meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen machen.“, Hegel (1821), § 67. 42 Demgegenüber geht Becker in seiner ökonomischen Theorie stets von einer Abwägung von Präferenzen aus, Becker (1965), 493. 39 40
Perspektiven auf Zeit im Recht
3.3
Schutz vor Zeit als Ressource durch Recht
Die Ressource Zeit als eine für das Recht relevante Größe zu begreifen, ist auf Grund ihrer Bedeutung für die Autonomie unerlässlich. Die Folgen einer solchen Betrachtung erstrecken sich auf alle Rechtsbereiche, in denen Zeit als Tauschwert eine Relevanz zukommt.43 Darüber hinaus ist mit Blick auf die Lebensumstände einzelner Personen die Wirkung des Rechts darauf, über wie viel Zeit verfügt werden kann, zu untersuchen. Für eine rechtswissenschaftliche Betrachtung von Zeit als Ressource spricht, dass Recht darauf einwirkt, ob und in welchem Umfang Zeit zu unterschiedlichen Zwecken verwendet werden kann. Das zeigt eine soziologische Studie, die unter anderem feststellte, dass sich Steuer- und Kinderbetreuungsvorschriften, mit Ausnahme Deutschlands, in allen untersuchten Ländern positiv auf die verfügbare Zeit alleinerziehender Mütter auswirken (durchschnittlich mit 5,8 Stunden in der Woche), während alleinerziehenden Müttern in Deutschland auf Grund der Rechtslage durchschnittlich 6,3 Stunden in der Woche weniger zur Verfügung stehen, als es ganz ohne eine Regulierung des Bereichs der Fall wäre.44 Dieser empirische Befund wirft die Frage auf, ob unter Gesichtspunkten des Autonomieschutzes und der Verteilungsgerechtigkeit CareArbeit, die sich als Fürsorge für Kinder und pflegebedürftige Angehörige verstehen lässt, im Recht weitergehend berücksichtigt werden muss.45 Hinsichtlich der spätmodernen Erfahrung der Gleichzeitigkeit ist danach zu fragen, ob das Recht die Verfügung über die eigene Zeit ausreichend schützt. Diesbezüglich waren im arbeitsrechtlichen Bereich Liberalisierungstendenzen zu beobachten. Vereinzelt setzen Gerichte diesen Entwicklungen Grenzen, wie zum Beispiel das CCOOUrteil des EuGH.46 Der EuGH verpflichtet darin Arbeitgeber*innen zur Einrichtung objektiver Systeme zur Erfassung der Überstunden sowie, damit diese überhaupt als solche erkannt werden können, der Arbeitszeit insgesamt. Damit verpflichtet der EuGH Mitgliedstaaten ihre Arbeitsgesetze so anzupassen, dass Überstunden transparent gemacht werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Arbeitnehmer*innen vor dem Zugriff auf Ihre Zeit über die vereinbarten Arbeitszeiten hinaus zu schützen.
Vgl. dazu insb. Moritz Hien in diesem Band, S. 61. Goodin/Rice/Parpo/Eriksson, (2008), 185 Fig. 11.5. Untersucht wurden Deutschland Frankreich, USA, Australien, Schweden und Finnland. Alleinerziehende Väter wurden als viel kleinere Gruppe nicht untersucht. 45 Vgl. zu ökon. Berücksichtigung von Sorgearbeit Wersig (2012), § 8. 46 EuGH Urt. v. 14. Mai 2019 – C-55/18.
43 44
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Alice Regina Bertram
4.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Die rechtswissenschaftliche Betrachtung von Zeit betrifft bisher vorwiegend die Betrachtung von Zeit als Prozess, (2.). Das ursprünglich zyklische Zeitverständnis, (2.1.) hat sich, insbesondere auf Grund des Verständnisses des Menschen als autonom handelnden Individuum, zunächst zu einem linearen Zeitverständnis gewandelt, (2.2.1.). Das Recht ist demgegenüber als außerhalb der Zeitlichkeit stehend (eigenzeitlich) zu begreifen, (2.2.2.). In der Spätmoderne wandelt sich das Zeitverständnis erneut und ist durch das Erleben von Gleichzeitigkeit geprägt, (2.3.). Ergänzend zur Betrachtung von Zeit als Prozess, wird dann eine Betrachtung von Zeit als Ressource angeregt, (3.). Dafür spricht, dass die Ressource Zeit notwendige Bedingung von Autonomie ist, (3.1.). Als Ressource ist Zeit ein Mittel mit besonderen Eigenschaften (unübertragbar, endlich), das für eine Vielfalt von Zwecken eingesetzt werden kann, zugleich aber für (autonomes) Handeln unverzichtbar ist (3.2.). Auf Grund ihrer Bedeutung für die Autonomie und ihren spezifischen Eigenschaften, ist ein Schutz von Zeit als Ressource im Recht wünschenswert, (3.3.) Literaturverzeichnis
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Perspektiven auf Zeit im Recht
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referendarin am Kammergericht Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin am Arbeitsbereich für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung von Prof. Dr. Helmut Aust. Ihre Forschungsthemen liegen in den Bereichen des Verfassungsrechts sowie der Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Rechtsökonomie. Sie hat unter anderem bei der Assistententagung im Öffentlichen Recht (ATÖR) zum „Recht auf Ineffizienz“ vorgetragen. Im Wintersemester 2021/22 und Sommersemester 2022 leitete sie die von der Berlin University Alliance geförderte studentische Forschungsgruppe zu „Ressourcenallokation im Recht“. Zusammen mit Nachwuchswissenschaftler*innen der Universität Göttingen gründete sie 2021 das intradisziplinäre und machtkritische Forschungsnetzwerk Junges Digitales Recht ( JDR), das sich mit Recht und Zukunftstechnologien befasst.
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Schulden als relativiertes Recht Zur Dekonstruktion des Faktors Zeit im klassischen Zivilrecht
MORITZ HIEN
Obligation as Relativization of Rights On the Deconstruction of the Time Factor in Classical Civil Law Abstract: Modern legal systems comprise of norms with claim to fairness, rationality and therefore
absolute validity. Since the categorical imperative Ought is unconcerned with the causalities of time (pacta sunt servanda). The article examines the benefit of Derrida’s irrational-transcendental concept of given time for the rational-economical dominated civil law. Among limitation and defective performance rules it identifies a metonymical time factor that is excluded by contract due to the principle of autonomy, but at the same time re-enters into paradox normative decision making. The article suggests the concepts of obligation and debt as indication of permanent relativization to subjective rights. Keywords: Derrida, time, fairness/equity, paradox of law, contractual obligation Schlagworte: Derrida, Zeit, Fairness/Gerechtigkeit, Paradox des Rechts, schuldrechtliche Verpflichtungen
1. Einführung
Ein Recht zu haben ist unmöglich. Beginnen wir mit dem Unmöglichen!
„Beginnen wir mit dem Unmöglichen!“ schreibt Jacques Derrida in Falschgeld und meint die Gabe von Zeit.1 Derridas Forderung, Zeit zu geben (donner le temps), scheint paradox, weil die Zeit Metonym oder Dimension ist, nicht greif- und verfügbarer Ge-
1
Derrida (1993), 15.
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Moritz Hien
genstand der Anschauung oder des Gebens. Derridas Dekonstruktion unternimmt einen transzendentalen Bruch mit unserer Zeit. Sein Zeitbegriff tritt in Konflikt mit Kants kategorischem Bruch mit der Zeit, dem die Rechtslehre mit dem Geltungsanspruch des rechtlichen Sollens gemeinhin folgt. Es wäre daher ein Leichtes, die Implikationen der Gabe von Zeit aus dem juristischen Kontext zu verweisen. Stattdessen hoffe ich, zeigen zu können, dass Derridas Zeitparadox ein Dilemma des Rechtsbegriffs illustriert. Nicht zuletzt hält Derrida die Grundfrage unserer Disziplin nach Recht und Gerechtigkeit für den „eigentlichen Ort“ seiner Dekonstruktion.2 Zeit geben ist die Unmöglichkeit der Dekonstruktion, ist die Unmöglichkeit, ein Recht zu haben. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass es keine absoluten (subjektiven) Rechte geben kann, die sich auf etwas Äußerliches, das es zu haben gibt, beziehen und eine Inhaberschaft dessen voraussetzen können. Der Beitrag befasst sich in einem ersten Teil (2.) mit Derridas Zeitbegriff und gibt eine knappe Einführung in seine Kritik der Ökonomie und des Rechts. Er identifiziert das Zeitelement als einen notwendigen Multiplikator juridischer Gerechtigkeit (3.). In einem zweiten Teil (4.) wird der Faktor Zeit in seinem Verhältnis zum „vulgären Zeitverständnis“3 der klassischen Zivilrechtsdogmatik untersucht, die Recht als Tatsachen und Ereignisse in der Zeit begreift, ohne sich der eigenen Vergänglichkeit der Zeit im Recht vollends bewusst zu werden.4 Ich werde versuchen, der These von der Unmöglichkeit des Habens eines Rechts gemäß, einige Überlegungen zum Begriff des subjektiven Rechts zu formulieren und einen Gegenbegriff anzudeuten: Das Schulden von Verantwortung (5.). Dafür werden einige Bruchstellen der zivilrechtlichen Dogmatik gestreift, namentlich die Verjährung und Aspekte des Leistungsstörungsrechts sowie abschließend der Lehrsatz „Geld hat man zu haben“, der dem zu widersprechen scheint.5
Derrida (2017a), 17. Heidegger (2006), 422 bzgl. der durch Uhren gezählten heraklitisch-aristotelischen „Jetzt-Zeit“. Ebd., 428 zu Hegels Geist „in der Zeit“ als „radikalste“ Formulierung des vulgären Zeitbegriffs. Dazu unten Fn. 36. 4 Zur Beobachtung, dass Recht und Zeit in den Kategorien von „Recht in der Zeit“ und „Zeit im Recht“ behandelt werden, nicht als „eigene rechtliche Zeit“ Kirste (1998), 5, 15 f. Die performative Eigenzeitlichkeit des Rechts bei Kirste lässt sich mit dem Geltungsanspruch des rechtlichen Sollens in Deckung bringen. Sie kann umgekehrt als Zeitlosigkeit beschrieben werden, was m. E. angesichts der Paradoxie ihrer Begründung und Entscheidung vorzugswürdig ist. Vgl. unten Seite 66. 5 Zurückgestellt seien kognitive Zeit oder Zeitbewusstsein. Das objektiv-abstrakte Verhältnis von Recht und Zeit ist gegen das subjektiv-individuelle Bewusstsein blind, gleichwohl es phänomenal Recht und Zeit konstituiert. Vgl. Husserl (2000), 3–7. 2 3
Schulden als relativiertes Recht
2.
Derrida: Zeit geben als Gerechtigkeit
2.1
Die Geschichte vom Falschgeld
Man kann nicht von Derrida ohne ein Narrativ handeln. Das Erzählen und Lesen, sich Zeit nehmen für die Geschichte, schafft das performative Ereignis. Daher soll Charles Baudelaires Geschichte vom falschen Geldstück am Anfang stehen, aus der Derrida die Gabe dekonstruiert: Zwei Personen treffen auf einen Bettler, dem sie Geld geben. Der Freund des Ich-Erzählers gibt ein Stück Falschgeld. Dem Erzähler stößt dieses Verhalten auf. Er sinniert darüber, welche Folgen dieses Gabenereignis haben könne – bringt es dem Empfänger Reichtum oder jenen ins Gefängnis? Wahrhaft unverzeihlich erscheint ihm nur, dass sein Freund, sich keiner Schuld bewusst ist, sich sogar für einen Wohltäter hält: Da erkannte ich denn, daß er zugleich ein Almosen geben und ein gutes Geschäft machen wollte […]. Ich war fast bereit gewesen, ihm das Verlangen nach dem verbrecherischen Vergnügen zu verzeihen […]; aber seine törichte Berechnung werde ich ihm nie verzeihen. Man ist niemals entschuldbar, wenn man böse ist […] und es ist das ärgste von allen unheilbaren Lastern, das Böse aus Dummheit zu begehen.6
Vielleicht lässt sich im Freund des Erzählers eine Metapher auf uns und unsere ökonomische Rechtsordnung erkennen: Wir glauben, dass wir durch Vermögensansprüche unsere Rechte sichern. Ein Recht zu haben ist uns Haftbarmachung, Verhaftung von anderen. Rechtlich ist ein Sollen, jedes Schulden nur Schuld und Haftung, alles andere im Recht Anomalie.7 In der Haftung sehen wir die absolute Verantwortlichkeit, den Topos des Rechts.8 Mehr noch ging sogar die Interessenjurisprudenz davon aus, dass die „Voraussetzungslosigkeit des Geldes“ nicht nur die ökonomische, sondern zugleich die „moralische Unabhängigkeit“ der Menschen sichere.9 Hier setzt Derridas Kritik des Prinzips der Ökonomie an. Das Unverzeihliche, Böse ist die „törichte Berechnung“ des Freundes. Es geht Derrida um eine Kritik rationaler Reziprozität, primär einer profitorientierten Wirtschaft und zugleich der rationalen Reziprozität des Rechts. Das bedeutet vordergründig sicherlich eine Form der Ideologiekritik des Kapitalismus und des Rechts als Machtstruktur, hintergründig geht es um eine Transzendenzform.
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La fausse monnaie zitiert nach Derrida (1993), 47 f. Vgl. Ernst (2019), Rn. 31 f. Vgl. Brinz (1874), 40. Dazu Hien (2019), 483 f. Jhering (1893), 120 f.
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Moritz Hien
2.2
Die Gabe als anökonomisches Ereignis und ihr Bruch mit der Zeit
Derrida dekonstruiert die Gabe aus der Aporie zwischen dem Prinzip der Ökonomie und dem Prinzip der Anökonomie. Die Ökonomie ist für ihn die sich ständig aufhebende Zirkulation von Gabe und Gegengabe, Austausch, Äquivalenz, Gegenseitigkeit. Dem stellt er Hingabe und Vergebung in ihrer Vereinzelung entgegen – Anfang und Ausgang einer Relation. So ist die Gabe der „erste Beweger“ des Vertrags; gleichwohl gibt es „keine Gabe, die sich nicht aller Verbindlichkeit entbinden müßte, der Verpflichtung, der Schuld, des Vertrags, des bind also“.10 Auf den Begriff der Gabe hatte sich bereits der Anthropologe Marcel Mauss mit seiner Schenkökonomik berufen und gefragt: Wieso müssen Geschenke mit einer Gegengabe erwidert werden?11 Mauss’ Antwort war die Gabe als Totalphänomen, durch welches eine Fremderfahrung des Anderen möglich wird. Die grundlegende Fragestellung der Gabe ist also die Anerkennung der Singularität des Anderen. Das ist ein Erkenntnisproblem, das spätestens seit der Kritik Immanuel Kants die Philosophie beschäftigt und durch Edmund Husserls Phänomenologie verdeutlicht werden kann: Die Nichtzugänglichkeit der Welt, die durch das intentionale Bewusstsein der Subjekte nur transzendiert werden kann, macht die „Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen“ zu einem „blinden Fleck der Sozialität“.12 Insofern lässt sich Derridas Gabe der Zeit als Gegenentwurf zu einem auf idealisierte Legitimation aufbauenden Gerechtigkeitsbegriff rationaler Reziprozität wie etwa bei John Rawls lesen.13 Den Schleier des Nichtwissens oder die ideale Sprechsituation ersetzt er durch das „nicht-rationale Andere der Gerechtigkeit“.14 Die fundamentale Kritik ist, dass die rationale Reziprozität der Ökonomie und des Gesetzes die Singularität des Einzelfalls missachtet.15 Derrida geht noch einen Schritt weiter. Während Mauss in seinem Essay fragte, weshalb Präsente erwidert werden müssen, reformuliert Derrida das Programm als Frage nach Präsenz. Die Gabe als Geben von etwas wird zum bloßen „Es gibt“ – einem paradoxen Augenblick, der die Reziprozität, den Kreis der „Zeit zerreißt“.16 Dabei geht
Derrida (1993), 40 f. Schuld ist hier zu verstehen als Inbegriff des ökonomischen Prinzips. Vgl. Mauss (2016), 17 f. Teubner (1999), 204 f. Vgl. zur interpersonellen Subjektlosigkeit der kantischen Philosophie Böhme/ Böhme (2016), 369–376. Vgl. zum Anderen als subjektive „Spiegelung meiner selbst“ Husserl (1991), 125. Siehe ferner Husserl (2000), 4: „Durch phänomenologische Analyse kann man nicht das Mindeste von objektiver Zeit vorfinden. […] Objektiver Raum, objektive Zeit und mit ihnen die objektive Welt der wirklichen Dinge und Vorgänge – das alles sind Transzendenzen.“ 13 Vgl. Rawls (2014), 29. Siehe analog die ideale Sprechsituation bei Austin (1962), 91 f., 147 f. und Searle (1969), 16–19. 14 Teubner (2008), 11. 15 Vgl. Derrida (2017b), 36; Lüdemann (2017), 103–111. 16 Derrida (1993), 19. Vergleichbar unterbricht die Eigenzeitlichkeit des reinen, intelligiblen Prinzips der Sittlichkeit das zyklische Kausalitätsprinzip aus Ursache und Wirkung der Sinnenwelt, da sich anderes mit dem eternalistischen Geltungsanspruch des kategorischen Imperativs nicht vereinbaren lässt. Vgl. Kirste 10 11 12
Schulden als relativiertes Recht
es nicht um Kants rationalen Bruch mit der zyklischen Zeit aufgrund des kategorischen Geltungsanspruchs der Autonomie des Subjekts, sondern um einen irrationalen Bruch mit der Rationalität der Zeit wegen des Daseins. Die Zeit ist für Derrida das „Element der Unsichtbarkeit selbst“, ein „wesentliches Verschwinden“.17 Als Phänomen des Kreislaufs gehört sie dem Prinzip der Ökonomie an, ihrem Wesen nach der Anökonomie. An dieser Stelle wird deutlich, weshalb das Falschgeld als Narrativ des Zeitgebens taugt, denn wie das Falschgeld hört die Gabe auf, Gabe zu sein, in dem Moment der Erfahrung ihres Wesens. Derrida fordert daher ein „radikales Vergessen“.18 Die Gabe ist kein symbolisches Totalphänomen mehr, das irgendeine asynchrone Form der Gegengabe fordert – auch moralische Anerkennung, jede Kommunikation annulliert sie.19 Das Vergessen ist aber auch kein ideales Nichtwissen bei der Begründung, sondern ein Vergessen des Gabenereignisses. Unweigerlich erinnert die Reinheit dieses Gabenbegriffs an Kants Begriff vom Handeln „aus Pflicht“.20 Derrida gibt dem eine fundamentalontologische Wende zu dem, was Martin Heidegger unter Seinsvergessenheit versteht: Die Gabe fragt nach der Zeit des Ereignisses oder nach dem „Sinn von Sein“.21 Das Seiende ist ein Ereignis des Präsentismus ( Jetzt). Die Frage nach dem Sinn des Seins, die als Vorverständnis vorausgesetzt wird, fordert einen Eternalismus (Ewigkeit). Das Dasein ist entworfen auf die Zukunft, sodass es die Möglichkeit (Possibilismus) personifiziert und sich dadurch in ständiger Krise zu seinem eigenen Ende verhält. Das Seinsollen oder Sollensein ist wesentlich durch die Geworfenheit und Sorge als „Sein zum Tode“ bestimmt.22 Dieses Dazwischen ist womöglich die „transzendentale Illusion“, um die es Derrida mit der Gabe geht: „Was es zu geben gibt, einzig und allein, hieße die Zeit.“23
(1999), 56 f. Der Unterschied ist, dass bei Kant die Autonomie des Individuums als fingiertes reziprokes Ideal der Verstandeswelt mit der natürlichen Kausalität bricht (vgl. Hien (2016), 74 f.,79 f., 84), während bei Derrida die Singularität des Einzelfalls mit der Rationalität bricht. 17 Derrida (1993), 15. Ähnlich paradox definiert schon Hegel die Zeit als „ideelles Seyn, das indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist“, Hegel (2000), 119 (§ 202), 30 (§ 41). 18 Derrida (1993), 27 f. 19 Einen dritten Bruch mit der Zeit löst das Recht in der Systemtheorie aus, indem das autopoietische System Recht mittels sich selbstproduzierender Operationen eine ständige Gegenwart erzeugt und kommunikative „symbolisch generalisierte Erwartungen“ aufstellt, deren (System-)Geltungszeit über die einzelne Operation oder Norm hinaus durch die Funktion des Rechts Zeit bindet. Siehe Luhmann (1993), 45 f., 125 f., 129 f. Dazu Kirste (1998), 289–297. Luhmanns Autopoiese erspart Kants Intelligibilität der Selbstgesetzgebung, löst die Frage nach dem Alpha aber durch Operationen der Kommunikation rational auf. Gerade dadurch unterscheidet sich diese (rationale) Zeitbindung von Derridas irrationaler Gabe von Zeit. 20 Kant (1968c), 23. Dazu Hien (2016), 68 f. 21 Heidegger (2006), 11. 22 Ebd., 323–331, insb. 329 f. Die Definition der Sorge wird häufig als Sein vom Tod her übersetzt. Zu den Begriffen Eternalismus und Präsentismus ausführlich Sieroka (2018), 15–19. 23 Derrida (1993), 43 f. Das Paradox der Gabe von etwas wie der Zeit, das nicht ist und das somit zu Haben unmöglich ist, lässt sich als Frage der Performanz des Wortes verstehen. Vgl. Lüdemann (2017), 122 f., 127 f.
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2.3
Zur Strukturgleichheit von Ökonomie/Recht mit Gabe/Gerechtigkeit
Wenn es Derrida um Ökonomie, Transzendenz oder Ontologie geht – welchen Sinn hat das für das Recht? Muss nicht das Recht als Sollen sich von Sein und Zeit fernhalten? Liegt hier nicht jeder Deduktion der Vorwurf des Verstoßes gegen Humes Gesetz nahe?24 Der Verdacht ist gerechtfertigt, wenngleich es Derrida um eine Transzendenzerfahrung geht, nicht um Deduktion. Die Antwort liegt in der Strukturgleichheit von Ökonomie bzw. Recht mit Gabe bzw. Gerechtigkeit, deren Faktor X die Zeit ist. Recht ist in seiner performativen Setzung nach Derrida dekonstruierbar, weil sein „letzter Grund per definitionem grund-los“ ist. Gerechtigkeit hingegen lässt sich nicht dekonstruieren, wenn sie „jenseits des Rechts“ liegt: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit.“25 Die Strukturform des Rechts als performative Setzung sichert die juridische Gerechtigkeit. Sie ist das Movens jedes Rechts, auch des Vertrags. Damit ist Derridas irrationale Gerechtigkeit natürlich keine auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung aufbauende, aristotelische Gerechtigkeit, sondern eine pluralistisch an Heterogenität und Singularität des Anderen orientierte Gerechtigkeitsform.26 Derrida bezieht sich auf das von Niklas Luhmann als Gründungsparadox identifizierte Geltungsproblem des Rechts, das seinen Anspruch aus der eigenen Selbstreferenzialität gewinnt und so die binäre Codierung von Recht/Nichtrecht bzw. Recht/ Unrecht schafft.27 Im Moment seiner Gründung gibt es kein Recht, sondern seine Stiftung ist ein performativer Gewaltakt – was Derrida den „mystischen Grund“ der Gesetzeskraft nennt.28 Das ist gemeint, wenn das Recht als grundlos oder wie hier zeitlos bezeichnet wird. In der gängigen Rechtstheorie werden diese Fragen etwa anhand von Kelsens Grundnorm diskutiert.29 Aber wenn man sich vor Augen führt, dass Derrida auch in der Gabe des Versprechens einen solchen grund- oder zeitlosen mystischen (Sprech-)Akt sieht, wird deutlich, dass sich dies mindestens auf den Vertrag übertragen lässt.30 Derrida spricht dabei in Anlehnung an Michel de Montaigne von „legitimen Fiktionen“, was nicht von ungefähr an Kants „als ob“ im kategorischen Imperativ erinnert.31 Statt im intelligiblen Subjekt, dem reinen guten Willen, sieht Derrida im Paradox das
Vgl. Hume (1896), 469 f. Derrida (2017a), 29 f. Vgl. Honneth (2000), 153–165. Vgl. Luhmann (1983), 131–134; ders. (2018), 15, 42–54, 165–213. Zu Gründungsparadox und Selbstreferenzialität des Rechts siehe Teubner (2003), 33; Menke (2008). 28 Derrida (2017a), 29: „Der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst ist eine grund-lose Gewalt(tat)“. Analog zum Nichtsein der Zeit vor der ersten Operation in der Systemtheorie Kirste (1998), 299 f. 29 Vgl. Kelsen (1934), 66 f. 30 Vgl. Derrida (1993), 40 f.; Lüdemann (2017), 128–130. 31 Vgl. Hien (2016), 79, 84 mwN. 24 25 26 27
Schulden als relativiertes Recht
entscheidende Movens und macht Gerechtigkeit dadurch zu einer Frage der Zeit.32 Da die Begründung des Rechts zeitlos ist, im ständigen Jetzt gefangen, gleichwohl aber einen Anspruch auf Eternalismus erhebt, verlangt das Paradox Suspension, Dilation oder mit Edmund Husserl epoché: Zeit geben! Damit schließt sich der Kreis zum Problem des Anderen, der Sozialität und Singularität. Dass dieses Problem im Innersten von Gabe und Gerechtigkeit liegt, wird deutlich, wenn Derrida Franz Kafkas Text Vor dem Gesetz bespricht und zum Schluss kommt, dass Gesetz und reine Moralität keine Vergangenheit haben. Der Mann vom Lande steht nicht nur räumlich vor dem Gesetz, sondern auch temporal: „die Geschichte kann nur das „Zu-Tuende“ der Zukunft sein“.33 Das kafkaeske ist, dass der Mann vom Lande Zugang zu „seinem Recht“ nie erlangt, obwohl er dazu stets die Möglichkeit hat. Das Gesetz ist auf „unbestimmte Zeit“ unsichtbar, unzugänglich, aufgeschoben. Erst im Tod wird das Wesen des Gesetzes wirklich.34 Das führt zum Entscheidungsparadox, denn die notwendige epoché der Regel ist Suspension und Dilation der Entscheidung. Es kann niemals eine jetztzeitige Entscheidung gerecht sein, niemals kann gesagt werden, ich habe ein Recht.35 In einem Satz: „Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen, sie muß noch kommen, sie hat, sie ist Zu-kunft, sie ist die Dimension ausstehender Ereignisse […].“36 3.
Der Faktor Zeit als Gerechtigkeit?
Dieses Entscheidungsparadox macht Derridas Begriff der Gabe von Zeit als Gabe von Gerechtigkeit schwierig für Juristinnen zu nutzen, denn Anökonomie, Zeit lassen, zuwarten, stehen in Konflikt mit dem Entscheidungszwang der pragmatischen Rechtsanwendung und dem rechtsstaatlichen Grundsatz, subjektiven Rechten effektiv Verwirklichung zu gewähren. Das führt zum Schuldenbegriff als relativiertes Recht, denn Schulden sind nichts anderes als Verantwortung für gegebene Zeit. Der Zeitbegriff soll damit nicht vergegenständlicht sein, sondern gelesen werden in Differenz zum absoluten (subjektiven) Vgl. Teubner (2003), 29 f., 37–40 auch zum Spektrum der Lösungen: Soziologisierung/Kontingenz (Luhmann); Theologisierung/Transzendenz (Derrida); Politisierung (Wiethölter). 33 Derrida (2017b), 43. 34 Vgl. ebd., 60–63. 35 Vgl. Derrida (2017a), 48. 36 Ebd., 56. Zur Zeit als ewiges (angeschautes) Werden bereits Hegel (2000), 36–40 (§§ 38–40), 119–124 (§§ 202–204). Dazu Heidegger (2006), 428–436: Mit Heidegger zeigt sich in der Jetzt-Bezogenheit des Nichtseins der Zeit das Vulgäre in Hegels Zeitbegriff. Die Zeit bleibt „abstractes, ideelles Seyn“. Der Geist ist stets „in der Zeit“. Stattdessen müsse der Geist aus der Zeit fallen. In diesem Sinne ist m. E. Derridas Gabe der Zeit bzw. Gerechtigkeit zu verstehen. Während Derrida im Gründungsparadox das Movens des Rechts sucht, setzt Hegel das ideale Entwicklungsprinzip der „Idee des Rechts“, Hegel (2009), 23 (§ 1), 45 (§ 29). Dazu Dreier (1981), 326 f. 32
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Recht. Es gilt zu zeigen, dass die Gabe von Zeit das Recht konstituiert als Multiplikator der Gerechtigkeit. Deshalb ist nicht von Zeit als Verantwortung zu sprechen, was ein leerer Begriff wäre, sondern von einem Faktor Zeit, einem Mehrwert, den es normativ mit der Zeit zu füllen gilt. Auf eine plakative Formel gebracht: Recht mal den Faktor Zeit ist Verantwortung (schulden). 4.
Das klassische Zivilrecht und der vulgäre Zeitbegriff
4.1
Ereignisse (und Rechte) fallen in die Zeit
Seit die Philosophie das intuitive Verständnis vom Zeitfluss und der sich verändernden Welt überwindet,37 werden Zeit und Raum als „reine Anschauungsformen“ verstanden, als Möglichkeitsbedingungen des Denkens sinnlich wahrnehmbarer Wirklichkeit und deren Veränderung.38 Aus Kants kategorischem Bruch mit den Kausalitäten folgt die gemeine Anschauung des Zivilrechts von der Zeit, wie sie schon Georg Friedrich Puchta formuliert hat: „Die juristischen Thatsachen stehen sämmtlich in der allgemeinen Verbindung mit der Zeit, daß sie in dieselbe fallen; (dadurch allein wird natürlich die Zeit keine juristische Frage)“.39 Die Zeit erscheint als abstraktes Maß, das die Ereignisse und Tatsachen rahmt, von denen „Erwerb und Verlust eines Rechts abhängig“ sind.40 Die Norm selbst hingegen fällt aus der Zeit. Sie erhält „raum-zeitliche Geltung“ nur soweit sie Tatsachen zum Inhalt hat.41 Damit wird die naturrechtliche Position verfestigt, dass die Zeit, in der alles geschieht, welche die Veränderung der sinnlichen Kausalitäten begleitet, selbst keine „natürliche Wirkung“ auf das Recht habe.42 So gilt etwa: „Zeitablauf ist kein Ereignis und kann darum nicht Ursache von Wirkungen sein.“43 Um im Recht Relevanz zu haben, muss das Recht durch die rechtgebenden Gesetze oder Personen in Zeitabschnitte geteilt werden, denen Funktionen zugesprochen werden.44 Erst durch den Be-
Klassisch zu Zeitfluss (πάντα ῥεῖ) und Zeitkreis Heraklit (vgl. Platon (2016), 456 f. (= Kratylos 402a)) und kritisch Aristoteles (1987), 203–237 (= Physik, IV, 10–14, 218a–224a). Anschaulich zu frühen Vorstellungen von Raum und Zeit Hawking (2020), 11–73. 38 Kant (1968a), 77–83. Dazu Höffe (2007), 77–81 und oben Fn. 16. Ähnlich Hegel (2000), 119 (§ 202). 39 Puchta (1848), 104 (§ 73). 40 Savigny (1841), Bd. 4: 297 (§ 177). Vgl. kritisch zu Zeit als Zählmaß bereits Aristoteles (1987), 212 f. (= Physik, IV, 11, 219b); Heidegger (2006), 422. 41 Vgl. Kelsen (1934), 7 f. 42 Grotius (1993), II, 4, 219: „tempus enim ex suapte natura vim nullam effectricem habet; nihil enim fit a tempore, quamquam nihil non fit in tempore.“ 43 Schwalbach (1882), 275. Anders Jellinek (1931), 218: „Die Zeit […] [zieht] allein durch ihren Ablauf Rechtsfolgen nach sich“, wobei Jellinek sich aber auf die Zeitbestimmung bezieht. Dazu Münch (2000), 2 mwN. 44 Vgl. Baron (1882), 129 (§ 72). Dazu Hermann (2003), 992 f. mwN. 37
Schulden als relativiertes Recht
stimmungsakt werden Termine berechnet, durch Fälligkeit Ansprüche durchsetzbar, durch Bedingung und Befristung materielle und prozessuale Rechte der Veränderung und Zeitgrenzen unterworfen.45 Eine alternative Formulierung des Verhältnisses zur Zeit gibt Bernhard Windscheid, für den „die Thatbestände […], ein Zeitmoment in sich schließen“. Auf den ersten Blick zeigt sich keine Differenz. Auch Windscheid bezieht das immanente Zeitmoment auf den Tatbestand, dessen Veränderung vom kantischen Zeitbegriff gedeckt ist. Anders als Puchta geht Windscheid aber von einem „Einfluß der Zeit auf […] die Veränderung der Rechte“ aus.46 Das ist bemerkenswert, weil gerade Windscheids Lehre vom Anspruch „anstatt des Rechts“ das absolute Vertragsrecht rechtfertigt, das ohne einen abstrahierten Verletzungsakt auskommt, sich aus dem aktionenrechtlichen Denken von Stamm- und Schutzrecht löst und damit das Primat der Haftung vorwegnimmt.47 Zugleich ist es Wind scheid, der der Verbindung von Recht (Sollen) und Wirklichkeit (Sein) im Tatbestand eine Bedeutung für das Recht zuschreibt und mit der Lehre von der Voraussetzung diese Veränderungen berücksichtigt, wenn auch rational-kantisch am Zeitpunkt des Vertragsschlusses orientiert.48 Dieses Zusammentreffen von Haftung und Gerechtigkeitskorrektur wirft zumindest die Frage auf, ob absolute raum-zeitliche Geltung der Veränderung Rechnung tragen kann oder muss – und das nicht (nur) aufgrund der Reziprozität eines idealen Rechts, sondern möglicherweise aufgrund der Singularität des Anderen. Diesen immanenten Implikationen der Zeit für das Recht gilt die folgende Suche. 4.2
Die Verjährung als Halbwertszeit der Rechte?
Eine abstrakte Begrenzung der (Vertrags-)Rechte könnte zunächst schon dem Namen nach die Verjährung leisten.49 Friedrich Carl von Savigny zählte sie unter die ethisch „wichtigsten und wohltätigsten Rechtsinstitute“.50 Indessen polemisierte Honoré de
Vgl. Finkenauer (2003), 881–884. Siehe hier zum Gegensatz von Bedingung und Zeitbestimmung gegenüber der Geschäftsgrundlagenlehre. Während bei letzterer künftige Ereignisse im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ausgeschlossen werden bzw. ihr Nichteintritt vorausgesetzt wird, werden bei jenen künftige Ereignisse von Anfang an aktiv vorausgesetzt. 46 Windscheid (1862), Bd. 1: 238 (§ 102). 47 Windscheid (1856), 3–6. Dazu Rückert (2012), 110. 48 Vgl. Windscheid (1862), Bd. 1: 226–234 (§§ 97–100); Ders. (1892). 49 Absolute Rechte wie Eigentum oder Persönlichkeit unterliegen der Verjährung, anders als ihre jeweiligen Schutzansprüche, nach geltendem Recht nicht (§ 194 I BGB). Dass ihnen „keine Zeitgrenze“ gesetzt wird, unterscheidet sie nach verbreiteter Auffassung von relativen Rechten. Das Wesen der schuldrechtlichen Forderung sei nämlich, dass „ihr Dasein von Rechts wegen zeitlich limitiert ist“, Husserl (1955), 30 f. Dass Eigentum zeitlos ist, sei hier dahingestellt, denn es lässt sich, genannt sei etwa das britische trust, anders denken. 50 Savigny (1841), Bd. 5: 271 f. (§ 237). 45
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Balzac, sie sei die vom Gesetz „ausgezeichnete“ Möglichkeit, seine Schulden zu bezahlen, ohne zu leisten.51 Die Verjährung steht inmitten des Konflikts von absolutem (subjektivem) Recht mit Richtigkeitsanspruch und dessen vollkommener Relativierung. Nach den Motiven bezweckt die Verjährung zunächst den Schutz des Anspruchsgegners vor der „verdunkelnden Macht der Zeit“,52 der Beweisnot gegen unberechtigte und unbekannte Ansprüche. Ebenso werden öffentliche Funktionen wie Rechtsfrieden, Verkehrssicherheit und Verfahrensökonomie durch den Anreiz zur Geltendmachung betont. Soweit es sich um berechtigte Ansprüche handelt, wird die Verjährung dem Gläubiger gegenüber gerechtfertigt, weil aus der „beharrlichen Nichtbetätigung des Anspruchs, ohne welche die Verjährung nicht möglich“ ist, sein geringes Interesse an dem Recht abzuleiten sei.53 Die Verjährung wird damit in die Nähe eines stillschweigenden Erlasses gerückt und der „Kampf um’s Recht“ durch Geltendmachung zu einer Obliegenheit. Die Säumnis des Berechtigten rechtfertigt seinen Rechtsverlust durch Zeitablauf und ist stille Voraussetzung der Verjährung.54 Die Motive betonen dabei die „materielle Gerechtigkeit“ durch den Zeitfluss gegenüber der möglichen Berechtigung im Anspruchsbegründungszeitpunkt. Die Unbill ruht in der sonst unbegrenzten Bindung des Schuldners, der sich stets leistungsbereit halten muss.55 Die rechtliche Bindung an das subjektive Recht eines anderen an sich, unabhängig von ihrer Gegenwärtigkeit, stellt die zeitliche Belastung dar. So verstanden handelt es sich nicht um eine distributive Gerechtigkeit, sondern eine am Einzelfall orientierte juridische Gerechtigkeit, die sich aus dem Verdunkelnden oder Vergessenden langer Zeiträume ableitet. Der Gedanke ist, dass dem Rechtsfrieden im Zweifel auch gegen eine subjektive Berechtigung am besten gedient ist, wenn der Kampf um’s Recht ruht.56 Zwar lässt sich argumentieren, die Erhebung der Einrede sei eine „Gewissensfrage“ des (bösgläubigen) Einredenden,57 gleichwohl erscheint die Ehre des Einredenden als schwaches Argument für die Undurchsetzbarkeit bestehender Rechte. Zeitgemäßer ist angesichts des objektiven Telos die ausgeführte Belastung des Schuldners durch überlange Vertragsbindung. Der Einredende ist Agent eines objektiven Rechtsgedankens. Nur so ist die Verjährung kohärent gegen materiell begründete Ansprüche zu rechtfertigen. Die Beweislast für die obliegenheitsgemäße Geltendmachung des Rechts trifft folgerichtig den Berechtigten, nicht den Einredenden. Die Rechtsordnung geht von einer Wirkung der überlangen Bindung aus, wenn die Einrede erhoben wird. Balzac (2016), 49 f. Windscheid (Fn. 46), 248 f. (§ 105). Mugdan (1899), Bd. 1, 512. Dazu Spiro (1975), Bd. 1: 7–29; Hermann (2003), 1002–1007. Vgl. Jhering (1891), 20–25; Spiro (1975), Bd. 1: 24–29. Mugdan (1899), Bd. 1, 512. Vgl. Savigny (1841), Bd. 5: 271 f. (§ 237); Spiro (1975), Bd. 1: 12–17. So auch die unvordenkliche Zeit, die zur akquirierenden Verjährung (Präskription/Ersitzung) führen kann. Dazu Hermann (2003), 998 f., 1027. 57 Vgl. ebd., 1013, 1025. Auf die bona fides des Einredenden kommt es nicht an. 51 52 53 54 55 56
Schulden als relativiertes Recht
Die Begrenzungsfunktion der Verjährung führt zu der Frage, welche Wirkung sie auf das Recht übt, das sie begrenzt. Bekanntlich ist der alte Streit um stärkere und schwächere Wirkung etwa zwischen Savigny und Windscheid geführt worden:58 Savigny – für den die Verjährung mit der Rechtsverletzung des aus dem Eigentum abgeleiteten Vertragsrechts beginnt und für den die Verjährung eine naturalis obligatio hinterlässt, da jene auf ius civile beruht; Windscheid – für den die Verjährung beginnt und endet mit dem Anspruch. Die Verjährung vernichtet das materielle Recht als Ganzes. Es bleibt bloß ein Rechtsgefühl. Die praktische Bedeutung dieses Streits ist gering, denn mit der peremptorischen Einrede nach § 214 BGB, die funktionell rechtsvernichtender Wirkung gleichkommt, hat sich unsere Rechtsordnung für einen pragmatischen Kompromiss entschieden.59 Der Wirkungsstreit verweist aber auf eine grundlegende Differenz: Während Savignys aktionenrechtliches Denken im Grundsatz eine (richterliche) Entscheidung über das Verletzungsmoment jenseits des positiven Rechts voraussetzt, verschiebt Windscheids Anspruchsbegriff die Entscheidung vollends in das Moment der Setzung. Der Vertragsschluss garantiert zeitlos die raum-zeitliche Geltung der Ansprüche. Der Transfer der Berechtigung findet für immer in diesem Zeitpunkt statt.60 Die Doppelnatur unserer Rechtsordnung ist, dass sie der eigentumsorientierten Vertragslehre folgt, gleichwohl das Stammrecht von der Zeit unangetastet sehen will. Alle normativen Fragen, die Veränderungen der Wirklichkeit oder Umstände aufwerfen, müssen dieser Ratio gemäß in den Vertragsschlusszeitpunkt (Rechtsbefehl) gedacht und durch dessen spätere Auslegung (Anwendung) gerechtfertigt werden. Die vermeintliche Objektivität der Auslegung läuft aber stets selbst Gefahr, die Singularität des Anderen zu verkennen und durch hypothetische Willensrationalitäten zu ersetzen.61 Genauso wie der Vertragsschluss überlastet wird mit ethischen Ansprüchen, werden Fragen der dekonstruktiven Wirkung der Wirklichkeit als Rückwirkung oder re-entry62 vom bestimmungsgemäßen Tod des Rechts aus verdrängt, seien es soziale Einwendungen oder seine Vollstreckung. James Goldschmidt hat das als die statische materiellrechtliche Perspektive auf das Recht im Gegensatz zur dynamischen pro-
Vgl. Savigny (1841), Bd. 5: 366–407 (§§ 248–251); Windscheid (1856), 37–45. Vgl. mwN. seit Grotius’ Inleiding von 1619 Hermann (2003), 1011. Nach Savigny enthält der Vertragsschluss eine abstrakte Rechtsverletzung. 59 Die Einredekonstruktion ermöglicht die freiwillige Leistung (Behaltensgrund) und die Rechte aus §§ 215, 216 BGB zu schützen sowie identitäswahrenden Rechtsfortbestand durch Verzicht auf das Gegenrecht. Vgl. Schulze (2008), 479–484. 60 Vgl. Kant (1968c), 356. Zuletzt etwa Benson (2019), 319–365. Ihmzufolge geht aufgrund der consideration im Vertragsschluss nicht nur eine Berechtigung, sondern ownership über. 61 Vgl. Lomfeld (2015), 349. 62 Vgl. Luhmann (2018), 89. 58
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zessualen Betrachtungsweise beschrieben.63 Die von ihm für ein Paradox gehaltene prozessuale Betrachtungsweise der Privatrechte dürfte den materialen Rechtsbegriff treffen, den Derridas Zeitbegriff nahelegt. 4.3
Begrenzung des Vertragsrechts durch den Faktor Zeit
Zeit ist (1) abstrakte, kalendarische Rechenzeit, die zur Berechnung von Terminen und Fristen dient. Diese newtonsche Konstante spielt für das Recht nur eine Rolle, wenn sie zur Rechtswirkung bestimmt wird, Rechte aufschiebend oder auflösend bedingt. (2) Daneben stellt sich die Frage, ob es eine Halbwertszeit des Rechts gibt. Hierfür möchte ich den Begriff immanente Geltungszeit vorschlagen, da sie gerade nicht von außen bestimmt wäre, sondern aus nonreziproken Gründen konstanter Bestandteil des Rechts sein müsste. (a) Im wissenschaftlichen Diskurs stehen Rechtsordnungen und Gesetze im Fokus: „Kein Rechtssystem gilt für immer“, sondern alle „Dinge des Rechts“ unterliegen dem Wandel in geschichtlicher Zeit.64 Dazu gehört als Pendant der Rechtsanwendung seit dem Soraya-Beschluss die Auslegung von Gesetzen, denn „mit zunehmendem zeitlichem Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung [wächst] notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechtes“.65 (b) Hierhin könnte man die Verjährung zählen, da ihr primäres Element der Zeitablauf ist. Gleichwohl hat sie neben der Einrede zur notwendigen negativen Voraussetzung die Säumnis des Berechtigten, sodass sie als Sonderfall der Verwirkung gelesen werden kann und ein normatives Umstandsmoment enthält.66 (c) Der Grundsatz der Vertragsfreiheit widerspricht prima facie der abstrakten Beschränkung der Vertragszeit (§ 311 I BGB).67 Dennoch zeigen Verjährung und andere Institute ein Bedürfnis nach zeitlicher Begrenzung der relativen Rechte durch die Belastung der Bindung selbst.68 Karl Spiro gründete auf diesen Gedanken seine Lehre von den Fatalfristen, worunter er die „Begrenzung des Rechts und der Bindung durch ein gewisses Ereignis“ versteht, „also einer mindestens der Höchstdauer nach festen
Vgl. Goldschmidt (1925), 227 f. Anders Larenz (1987), 28. Husserl (1955), 26. Vgl. Münch (2000), 3 f. Für eine Eigenzeitlichkeit Kirste (1998). BVerfGE 34, 269, 288. Vgl. Spiro (1975), Bd. 2: 946–954. Das Besondere der Verjährung gegenüber der Verwirkung bestehe in der Obliegenheit zur Geltendmachung. Die Verwirkung fußt primär auf einem Rechtsverstoß. 67 Vgl. BGH, NJW 1993, 1133 Rn. 33; NJW 2012, 1431 Rn. 21–25 zur Reichweite von § 309 Nr. 9 BGB. Das Gesetz nennt explizit Schuldverhältnisse auf „Lebenszeit“ (§§ 544, 594b, 624, 724, 1353 I, 2295, 2338 I) oder „für immer“ (§§ 749 II, 751, 1010, 1258). 68 Vgl. jüngst etwa BGH, NJW 2021, 2958: „[…] kann […] Beschaffungspflicht […] von vornherein nicht zeitlich unbegrenzt gelten.“ 63 64 65 66
Schulden als relativiertes Recht
Frist, mit deren Ablauf die durch das Recht oder den Schwebezustand begründete Bindung auf alle Fälle […] erlischt“.69 Ausdruck einer solchen Befreiung von der belastenden Bindungsdauer sind insbesondere die unabdingbaren (ordentlichen) Kündigungsrechte bei Dauerschuldverhältnissen.70 Dabei kommt es auf die persönliche Freiheit als Legitimationssubjekt an. Der Wertung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass dem Schuldner ein angemessenes Minimum seiner (Frei-)Zeit bzw. Freiheit verbleiben muss.71 Das ist besonders im Arbeitsrecht evident (ArbZG). Man denke an das Nietzsche-Zitat: „Alle Menschen zerfallen […] in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave […].“72 (d) Der Rechtsstaat erklärt daher Bindung um der Bindung willen für nichtig (§§ 138 I, 307 II, 242 BGB). Gerade bei Knebelungsverträgen und unangemessener Benachteiligung durch AGB werden Gesetzgebung und Rechtsprechung aber von egalitären Risiko- und Äquivalenzabwägungen im Vertragsschluss geleitet, sodass die Bindungsdauer abstrakt höchst ausnahmsweise zur Unsittlichkeit führt.73 Stets bedarf die Zeit zur begrenzenden Wirkung auf das Recht eines sekundären normativen Elements im Sinne eines Obliegenheitsverstoßes des Berechtigten oder übermäßiger wirtschaftlicher oder persönlicher Belastung des Verpflichteten.74 (3) Eine unmittelbar normative Bedeutung gewinnt der Zeitbegriff, wenn man diesen auf die konkreten Ereignisse der Wirklichkeit bezieht, was hier als Ereigniszeit bezeichnet sein soll. Zu nennen ist das Prozess- und insbesondere das Leistungsstörungsrecht, soweit man es als Frage der Anpassung des Vertragsrechts in seiner Durchführung an veränderte Umstände begreift. Hier kommt es vor allem auf die normative Frage an, wieviel Veränderung dem Recht und dem Anderen durch den Faktor Zeit zugemutet werden kann.75 Während §§ 138, 307 BGB die faire Begründung des Vertrags zwischen freien Gleichen gewährleisten sollen, betrachtet das Leistungsstörungsrecht das Vertragsrecht aus der Perspektive der Ereignisse nach dem Vertragsschluss.76 Pacta sunt servanda ist
Spiro (1975), Bd. 2: 1150. Vgl. etwa §§ 544, 489 I, II, 624 BGB. Dazu Großfeld/Gersch (1988). Auch außerordentliche Kündigungsrechte (§§ 314, 671, 723 S. 2, 749 II, 1202 II BGB) beschränken unabdingbar die Bindungsdauer, setzen aber einen „wichtigen Grund“ voraus. Daneben kennen Arbeitnehmer- und Mieterschutz auch die umgekehrte Schutztechnik, indem sie die Vertragsbindung bewahren (z. B. §§ 1, 14 TzBefG, §§ 573, 573c BGB). 71 Vgl. Savigny (1851), 4 f. Gegen Irnerius noch Accursius in der glossa reverti zu D. 7, 1, 3, 2, Sp. 844. 72 Nietzsche (2013), 218. 73 Vgl. Flume (1992), 368–371 mwN. zur Rechtsprechung; Großfeld/Gersch (1988), 939 f. und oben Fn. 67. Gesetzliche Ausprägung in § 311b II BGB. 74 Eine dogmatische Studie zu Zeit und Recht müsste daher untersuchen, warum und wie der Gesetzgeber gerade auf Zeitpunkte oder -räume rekurriert. Zeit ist metonymisch. Zeitregeln vertreten Wertungen, indem sie Bindung bewahren oder vor Bindung schützen. 75 Vgl. Lomfeld (2015), 329–359 mwN zum politischen Spektrum. 76 § 311a BGB stellt eine Anomalie dar, da die anfängliche Unmöglichkeit (§ 306 BGB a. F.) wesentlich eine Frage der Willensbildung bleibt. Vgl. etwa Lobinger (2004), 279–295. 69 70
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der kategorische Grundsatz des eternalistischen Vertragsbegriffs. Im deutschen Recht wird das Vertrauen auf besondere Weise durch den Primäranspruch auf das gegebene Wort bei auch immateriellen Interessen geschützt (§ 275 II BGB).77 Die Verteilung von Pflichten und Risiken im Vertragsschlusszeitpunkt, die wie das Vertrauensinteresse durch die Bindungsdauer äquivalent erhöht werden, ist das maßgebliche Kriterium für den Umgang mit Leistungshindernissen.78 Mit dem Vertragsschluss ist das Recht vollkommen begründet. Die Schuld ist unveränderlich mit der Haftung verbunden. Für eine Anpassung durch die Ereigniszeit bliebe kein Raum. Dem stehen clausula rebus sic stantibus und die Lehre von der Voraussetzung bzw. Geschäftsgrundlage entgegen, indem sie schon im Moment des Vertragsschlusses das Unveränderliche der Umstände zur Vertragsbedingung machen.79 Die Zeitlosigkeit der Vertragsbindung ist bestenfalls ein Prinzip, das sich an der Zumutbarkeit der Ereignisse messen lassen muss. Die Haftung steht mit dem Vertragsschluss prima facie fest, die tatsächliche Schuld gilt es noch zu ergründen. § 313 III 1 BGB veranschaulicht das Problem der Ereigniszeit auf nahezu dekonstruktive Weise: Auch der hypothetische Vertragsschluss soll von der Norm vorrangig durch Risikoverteilungen erfasst werden. Die Wertung der gesetzlichen und vertraglichen Risikoverteilung geht aber fließend über in die Frage der Zumutbarkeit. Weil das Vertragsrecht nicht allein aus Äquivalenz gewonnen werden kann, ist die faire Lösung, welche der Gesetzgeber vorsieht, die gegenseitige Pflicht zur Nachverhandlung.80 Mit Derrida fällt die Entscheidung über die Gerechtigkeit des Vertrags erst in der Zukunft. 5.
Schulden als relatives Recht
5.1
Ein absolutes Recht zu haben und relative Schulden
Ein absolutes Recht zu haben bedeutet die rechtliche Beziehung einer Person zu einem Gegenstand, der ihr als positive, statische Regel zugeordnet ist.81 Seine relationale Form wird am besten durch den lateinischen Begriff debitum vertreten: Das Sollen (debere) ist hier die Rückgabe einer Habe (Gabe), die nicht bei ihrem Inhaber ist (de-habere).82
Vgl. Canaris (2001), 501 f. Ein Ineffizienzkritierium identifiziert Eidenmüller (2001), 832. Vgl. Lobinger (2004), 139 f. Demnach stellen Auslegungs- und Gefahrtragungsregeln sowie die Haftung gem. §§ 280–283 BGB abschließende Regelungen dar. § 275 II BGB missachte das Verschuldensprinzip. Für § 313 BGB bestehe kein Raum. 79 Folgerichtig werden sie von der Willenstheorie abgelehnt: Flume (1992), 495–501; Lobinger (2004), 241–246. 80 Vgl. Lomfeld (2015), 359–364. Kritisch Teubner (1982). 81 Zur Positivität der Regel vgl. Alexy (2015), 88. 82 Vgl. Walde (1910), 167. 77 78
Schulden als relativiertes Recht
Seit Savignys Scheidung der Ebenen des negatorischen und positiven Anspruchs,83 wird diese relationale Form in der Vertragslehre als (absolutes) positives Vertragsrecht inter partes begriffen. Im Vertragsschluss liege ein Transfer des Forderungsrechts oder die Zuordnung des Vermögensrechts an den Gläubiger.84 Die philosophische Rechtfertigung erfolgt mittels des kantischen Vertragsbegriffs, indem das „Versprechen […] zur Habe“ gehöre. Ein Stück der Freiheit wird zum „äußeren Mein“.85 Die Kraft der Schuldverhältnisse entstehe somit aus dem „Negieren dieser seiner Negation“, mithin aus der Negation des „Daseyn des Rechts“.86 Auf den Begriff der Zeit gewendet stellt sich das als eine statische, eternalistische Position dar, die das Recht als zeitlos oder kategorisch, Veränderungen unzugänglich fingiert. Diese Haltung der Versprechenslehre wird schon bei David Hume kritisiert: Wie kann es möglich sein, dass ein Versprechen für die Zukunft verbindlich ist?87 Hier mag Derridas Strukturgleichheit von Gabe und Gerechtigkeit als Zeit geben eine Antwort vorbereiten: Die Gabe des Versprechens ist selbst als mystischer Akt der Rechtssetzung zu verstehen.88 Für die Idealisierung als Habe besteht kein Anlass, da ein statisches, positives Ereignis niemals für sich gerecht sein kann, sondern vielmehr eine Form der Gewalt und des Unrechts bedeutet.89 Es verheißt die Möglichkeit der Gerechtigkeit. Notwendig bedarf das positive Recht als instrumentelle Strukturform eines Begründungakts und prima facie absoluter Geltung. Die Rechtsordnung tut daher recht, hohe Ansprüche an die faire Begründung und den äquivalentgerechten Inhalt subjektiver Rechte zu stellen. Der Faktor Zeit fordert darüber hinaus eine hinreichende Verantwortungsnorm, nicht der Zeit im Recht oder des Rechts in der Zeit, sondern dazwischen. Hierfür kann der Begriff des Schuldens als Übersetzung der obligatio stehen.90 Das Vertragsrecht besteht in diesem Sinne wesentlich in der Bindung (ligare) des anderen, gerichtet auf die Zukunft.91 Den Gläubiger trifft die Obliegenheit für sein Recht einzustehen und insoweit für den anderen. Der Schuldner ist verpflichtet, nach seinem Wort zu handeln und zu leisten. Seine Freiheit ist insoweit beschränkt. Zugleich ist seine Bindung Kern der Schuld und daher auch an seiner Freiheit im Übrigen
Vgl. Savigny (1841), Bd. 5: 109 f. (§ 219, Fn. 69) mit Eigentumsorientierung. Vgl. im Anschluss Picker (1983), 511–516; Hoffmann (2012), 56–75, 104–144. 84 Vgl. Bekker (1902), 9–11, der für die „pfandartige Anwartschaft“, die im Vertragsschluss erlangt werde, zuerst von einer „Abzweigungstheorie“ spricht. Ähnliches firmiert heute unter transfer theory (oben Fn. 60). Kritisch Dagan/Heller (2017), 33–40. 85 Vgl. Kant (1968c), 356. 86 Vgl. Hegel, (2009), 88 (§ 82); Savigny (1841), Bd. 5: 6. 87 Vgl. Hume (1896), 516 f. 88 Vgl. oben Fn. 30. 89 Schon Savigny erkennt die Bedeutung des Unrechts im positiven Recht, wenn er die actio nata als Verletzungsakt definiert. Vgl. Savigny (1841), Bd. 5: 109 f., 512–517. Zur moralischen Dimension dessen für den Schuldenbegriff vgl. Reifner (2017), Bd 1: 149, Bd. 3: 110. 90 Zu den Bedeutungsdimensionen des Schuldenbegriffs vgl. Hien (2019). 91 Vgl. Inst. 3, 13 pr. 83
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zu messen. Schulden bedeutet so verstanden nicht ein Sein, sondern ein Seinsollen, Haftung und Schuld. Damit steht der Schuldenbegriff in der ständigen Spannung zwischen der zeitlosen positiven Haftung und der von der Ereigniszeit veränderten Schuld. Die für die ökonomische Funktion des Vertragsrechts so notwendige Ungleichzeitigkeit des Leistungsaustauschs führt zu den areziproken (Rück-)Wirkungen der gegebenen Zeit. Den Gehalt (Faktor X) dieser Rückwirkung konkret zu benennen, ist nun die Dekonstruktion der Gerechtigkeit und Unmöglichkeit selbst. 5.2
„Zeit ist Geld“ und „Geld hat man zu haben“?
Schulden zu haben bedeutet Verantwortung für gegebene Zeit zu haben. Muss die gegebene Zeit also zurückgezahlt werden? Unsere Rechtsordnung nimmt diese ökonomische Perspektive grundsätzlich ein. Die Kreditsituation ist ein ständiges Risiko für den Gläubiger, der sein Vertrauen investiert. „Zeit ist Geld“ lehrt der Volksmund und längst ist es möglich, von „gekaufter Zeit“ zu sprechen.92 Zeit ist zur knappen Ressource geworden, die die grauen Herren in Michael Endes Momo buchstäblich ver(b)rauchen. Die Rede von der Ressource Zeit kann den Blick verstellen auf das, um was es der Ideologiekritik hinter diesem Begriff geht:93 Das Zuhören, die Perspektive auf die Person, insbesondere die Nichthabenden, die Klasse der Schuldner. Hinter diesem Konzept steht die Betonung der persönlichen Freiheit des Schuldners, dem ein Stück seiner Freiheit verbleiben muss, da er andernfalls seine Persönlichkeit an die kategorische Zeitlosigkeit verliert. Diese Begrenzung ist vom reziproken, kantischen Zeit- und Vertragsbegriff gedeckt.94 Es scheint konsequent, wenn wir als Studierende lernen, dass man Geld haben müs95 se, denn nur dann sind subjektive Rechte jedenfalls in Bezug auf das positive Interesse zeitlos durchsetzbar.96 Was wir damit aussagen, sollte besser „Zeit muss man haben“ Streeck (2013). Zeit als Ressource zu begreifen, suggeriert im ethischen Diskurs terminologisch einen Begriff distributiver Gerechtigkeit, der eine rationale Zeitverteilung vorstellbar macht. Derridas irrationale Singularität verlangt hingegen eine areziproke Gabe von Zeit, orientiert an der Wirklichkeit des Einzelnen, die einen Vertrag über die Zeit ausschließt. Zeit kann gegeben werden, wenn es sie gibt, aber nicht verteilt werden. Vgl. die „Zeit des Königs“, die Madame de Maintenon gibt, Derrida (1993), 9–48. Allgemein kritisch zur Perspektive von Zeit als Ressource etwa Sieroka (2018), 99 f. Vgl. schon Seneca (2008), 7 (I, 3): „Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht; keinen Mangel an Lebenszeit haben wir, sondern gehen verschwenderisch damit um.“ 94 Vgl. erneut Savigny (1851), 4 f. 95 Vgl. Medicus (1988). 96 Vgl. zur Bedeutung der sekundären Geldschuld für die Sicherung der Vertragsfreiheit BGHZ 107, 92 Rn. 24; Siber (1874), 156 f., 255 f.; Sutschet (2006), 93 f. 92 93
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lauten. Nicht im Wesen des Geldes liegt die Unmöglichkeit der Unmöglichkeit Geldschuld, sondern in der Person des Schuldners, der stets künftig zu Geld kommen kann.97 „Zeit hat man zu haben“ in Differenz zum „Geld hat man zu haben“ verweist jenseits der Äquivalenzgerechtigkeit auf einen tieferen Sinn von Derridas Zeit geben für das Recht. Statt einer rational-liberalen zeitlichen Grenze muss es einen irrationalen Faktor Zeit geben, der das Recht stets multipliziert und relativiert. Es ist kein Zufall, dass Derrida die Gabe der Zeit mit der Geschichte vom Falschgeld in Verbindung bringt. Die Gabe des Falschgelds bleibt normativ für die Zukunft unentschieden. Einzig die Nichterkenntnis der törichten Berechnung, damit auch die Moral bewältigen zu können, bleibt unentschuldbar. Das Böse, die Schuld ist richtigerweise niemals entschuldbar: Das Gründungsparadox des Rechts in Anspannung zum Entscheidungsparadox durch den Faktor Zeit verlangt die Wirkung des Unrechts im Recht. Das ausgeschlossene Unrecht ist der Konsens, auf welchen sich das Recht zurückführen lässt: Der Gläubiger, der selbst das Leistungshindernis herbeiführt, hat nichts zu fordern. Der Schuldner, der böswillig Zahlungsunfähigkeit verursacht, wird nicht von seinen Schulden frei. Gläubiger wie Schuldner sind im Rahmen ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit auch sonst verantwortlich für das Dasein der gegebenen Zeit. Beispielsweise haftet der zahlungsunfähige Schuldner zwar bei Geldschulden grundsätzlich für die Fahrlässigkeit, nicht ausreichend Sicherheiten gebildet zu haben.98 Mit der Verwirklichung des Rechts in der Vollstreckung weitet sich gleichwohl der Schuldmaßstab auf soziale Ursachen, die das materielle Recht sonst ausschließt. Wie die Restschuldbefreiung belegt, ist selbst der Kern des Vermögensrechts nicht vor dem Faktor Zeit gefeit. Sie ist ethisch notwendig aufgrund der Blindheit des subjektiven Rechts für das Andere. In Anlehnung an Derrida lässt sich formulieren: Nicht (falsches) Geld muss man haben, sondern (echte) Zeit muss man geben. 6. Schluss
Der Schuldenbegriff und Derridas Zeit geben nehmen die gefährliche Perspektive des Schuldners ein. Zeit ist weniger eine zu verteilende Ressource als eine transzendentale Größe der Hingabe und Vergebung. Was wir bei Derrida lernen, ist, dass der Inhalt des Rechts Schulden ist, wie der Inhalt des Sollens die Wirklichkeit ist. Zeit hat man zu haben fordert einen normativen Faktor zwischen Sollen und Sein, der sich neben der Vertragsgegenseitigkeit am Einzelnen orientiert. Im reinen materiellen Recht bleibt das Transzendenz. Vgl. Kähler (2006), 821–823. Andere Ansicht mit Blick auf das soziale Problem Reifner (1979), 291–334. Dagegen Medicus (1988), 493–497. 98 Vgl. Kähler (2006), 829 f. Insofern ist der Merkspruch „Geld hat man zu haben“ auch dogmatisch schief, denn es besteht grundsätzlich keine verschuldensunabhängige Haftung für Geldschulden. 97
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Verfahrens- und Insolvenzrecht (Univ.-Prof. Dr. Olaf Muthorst) und Doktorand bei Univ.Prof. Dr. Bertram Lomfeld an der Freien Universität Berlin. Er forscht zu den Begriffen Schuld und Haftung.
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Positiviert ewiges Recht Ein zeitkonzeptueller Versuch zur Konstituierung naturrechtsähnlichen Positivismus?
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Eternal Law Positivised A Time Conceptual Attempt to Constitute Legal Positivism of Natural Law Character? Abstract: The clear theoretical difference between the legal theories of “Natural Law” and “Pos-
itivism” lies in their conceptualised period of validity. The use of so-called written constitutional eternity clauses purports to transgress this distinguishing feature by forming the appearance of a positivist rule that is of natural law character. In order to deconstruct the causal relations behind this impression, it is necessary to sharpen a sensitivity for the impact aesthetics can have in a legal environment especially regarding the use of rhetorical tropes and thus pick the possible fruits of a multidisciplinary approach to legal research in general. Keywords: Natural Law, Legal Positivism, Aesthetics, Legal Theory, Eternity Clauses, Interpretation Schlagworte: Naturrecht, Rechtspositivismus, Ästhetik, Rechtstheorie, Ewigkeitsklauseln, Auslegung
In der begrifflichen Renaissance des widerstreitenden Paares von „Naturrecht“ und „Rechtspositivismus“ wurde bereits genügend zu deren reduziertem Allgemeinverständnis, welche die nötige Differenzierung hinsichtlich epochal wandelnder Ausprägung, Form und Bedeutung der beiden Rechtstheorien vermissen lässt, gesagt.1 Die Reduktion dieser Vielseitigkeit lässt sich jedoch auf einen gemeinsamen Nenner bringen: ihre zeitliche Gegensätzlichkeit. Während das Naturrecht ein „ewiges“ ist, so
Instruktiv dazu Dreier (2007), 127–170 der unter anderem die normenhierarchische Plattitüde „Naturrecht bricht positives Recht“ sowie die These von der Wehrlosigkeit des positiven Rechts relativiert. 1
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bietet der Rechtspositivismus gerade durch die Fokussierung auf die Voraussetzungen der Geltung des Rechts und der damit verbundenen Dissoziation von Rechtsgehorsam eine Vergänglichkeitsperspektive.2 Sind demnach Kriterien nötig, deren Erfüllung erst Recht zu Recht macht, kann von einem von Anfang an, ewig bestehendem Recht nicht die Rede sein. Fast genauso oft ist in diesem Zusammenhang schon der anklagende Satz Antigones gegenüber ihrem ihr inzestuös verbundenen Onkel Kreon gefallen: So groß schien dein Befehl mir nicht, der sterbliche, dass er die ungeschriebnen Gottgebote, die wandellosen, konnte übertreffen. Sie stammen nicht von heute oder gestern, sie leben immer, keiner weiß, seit wann.3
Naturrecht hat vergangenheitsgerichtet also schon immer bestanden, besteht im Hier und Jetzt und wird immer bestehen bleiben. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine neue Perspektive auf die Bedeutung von Zeit im Recht als eine mögliche Interpretation der konjunktionistischen Verbindung von „Zeit und Recht“ bezogen auf die Abgrenzung von Naturrecht gegenüber Rechtspositivismus zu eröffnen. Es soll beleuchtet werden, inwieweit Zeit als rechtstheoretisches Unterscheidungskriterium fungiert und welche Trennschärfe diesem Kriterium beizumessen ist. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit dem heutigen Rechtspositivismus durch Verwendung sog. Ewigkeitsklauseln ein ewigkeitskonstituierendes Moment zukommen kann und ob in der Folge die zeitlich begründete Dichotomie von Naturrecht und positivem Recht doch einer Relativierung bedarf. Zunächst soll sich denklogisch vorgelagert auf das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit als Unterscheidungsmerkmal des Begriffspaares von Naturrecht und positivem Recht als theoretische Grundlage fokussiert werden (I). In einem zweiten Gang der Untersuchung gilt es, die bereits angesprochene Relativierungstendenz dieser temporalen Differenzierung näher zu betrachten (II). Dabei wird sich vorrangig am Beispiel der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG und seiner Besonderheiten als Verfassungsnorm in einem rechtshistorisch-vergleichenden Kontext orientiert.4 Zentrale Maßstäbe der Beleuchtung sind ästhetischer, institutioneller und konzeptueller Natur. Auf einer ästhetischen Ebene stellt sich die Frage nach der Wirkung eines „Ewigkeitsleitbildes“5 und der Analyse der semantischen als auch formellen Parameter solcher Klauseln. In-
Zur sog. Trennungs- oder Neutralitätsthese s. nur Osterkamp (2004), 10 ff. Sophokles, Antigone, Verse 14–18. Beispielhaft zu nennen sind Art. 107 der griechischen Verfassung von 1864 oder die der Dritten Französischen Republik ergänzt durch das Gesetz von 1884 in Art. 8 II. 5 Dass ein Leitbild terminologisch paradox auch völlig auf eine etwaige Bildlichkeit verzichten kann, zeigt ein Blick in die Neue Verwaltungswissenschaft, wo verwaltungspolitische Leitbilder wie der „Gewährleistungsstaat“ vielmehr eine direktive Idee verkörpern, Franzius (2003), 493–517. Ewigkeitsgarantien können somit durchaus als Leitbild einer Verfassungstheorie, welche gewisse konstitutionelle Werte einer Verfassungsänderung entzieht, verstanden werden, vgl. Herdegen (2020), Rn. 60. Zur allgemeinen Unschärfe dieses Begriffs in einem rechtlichen Kontext s. Braun (2015), 12–22. 2 3 4
Positiviert ewiges Recht
stitutionell ist die Einbettung in ein verfassungsgerichtliches System zu skizzieren – in Deutschland insbesondere auf dem Canvas der interpretativen und hütenden Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Letztlich ist auch konzeptuell zu erforschen, welchen Beitrag theoretische Prämissen zu einem Gesamtbild von Ewigkeit leisten. Zusammenfassend lässt sich paradoxal anmutend fragen: Stellen verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln den Versuch eines von Menschenhand positiv konstituierten Naturrechts dar? 1.
Zeit als rechtstheoretisches Unterscheidungsmerkmal zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus
Die Frage nach der Erfassbarkeit von Zeit ist eine, die vor allem naturwissenschaftlich populäre Bedeutung in Form ihrer Messbarkeit erfahren hat. Denken wir nur an die Zeit als physikalische Größe t. In dieser Gestalt kann Zeit helfen, Berechnungen durchzuführen, um andere physikalische Größen zu bestimmen oder sogar selbst das erklärte Ziel einer Gleichung mit entsprechenden Variablen sein. Noch einfacher gewendet bietet uns der alltägliche Blick auf die Uhr am Handgelenk oder das Überprüfen unseres Kalenders eine Möglichkeit, Zeit in ihren vielfältigen Einheiten greifbar zu machen.6 Sucht man hier eine Verbindung zum Recht, schafft die Berechnungslogik vielfältige anwendungsbezogene Brücken: Sie dient wohl besonders zur Bestimmung sowie Einhaltung nicht nur prozessualer Fristen,7 aber auch als Variabel zur Berechnung der Höhe eines materiellen Anspruchs8 oder sogar als Rahmen einer gerichtlich angeordneten Freiheitsstrafe.9 Überträgt man dies auf die vorliegende Frage, wird die Anwendungsbezogenheit der Messungslogik deutlich, indem man sie bspw. dazu nutzen könnte, um tatsächlich zu prüfen, wie „ewig“ eine positivierte Ewigkeitsklausel tatsächlich in Kraft war.10 Eine Sei es nun in ihrer physikalischen SI-Einheit s für Sekunden oder auch in Stunden, Tagen, Wochen, Monaten oder gar Jahren. 7 Sofern diese mit den angesprochenen Einheiten operieren und sich nicht eines ausfüllungsbedürftigen Merkmales wie der Unverzüglichkeit in § 121 I BGB bezogen auf die materielle gestaltungsrechtliche „Frist“ der Anfechtung bedienen. 8 An dieser Stelle lässt sich sogar ein anschaulicher mathematischer Vergleich ziehen, wenn wir uns beispielhaft den Verzugszinsen unter Verbrauchern nach § 288 I BGB zuwenden. Denn dort wird Zeit als Einheit in der entsprechenden Gleichung doppelt relevant: Einmal zur Berechnung des prozentualen Zinssatzes pro Tag = (Basiszinssatz + 5 Prozentpunkte): 365 Tage und andererseits hinsichtlich der letztlich zu zahlenden Gesamthöhe an Zinsen angewandt auf den konkreten Fall = Verzugszinshöhe pro Tag x Verzugszeitraum in Tagen. 9 S. dazu § 38 II StGB. 10 Dem Einwand, dass dadurch jedenfalls mittelbar der Rückschluss auf eine positivistische Sichtweise insoweit ermöglicht wird, als dass Recht ein zeitlich definierter Geltungsraum zukommt, ist entgegenzuhalten, dass die Messbarkeit einen bloßen Reflex und gerade kein Begründungskriterium der dahinterstehenden theoretischen Konzeptualisierung von Recht darstellt. 6
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ontologische Erkenntnis über Recht ist damit hingegen nicht möglich. Rechtstheorien wie Naturrecht und Rechtspositivismus stellen aber gerade den Versuch dar, das Wesen des Rechts in einem gedanklichen System zu begründen. Demnach sollte auch die Zeit, sofern sie ein Wesensmerkmal dieser Systeme zur Begründung der Natur des Rechts darstellt, auf dieser vorgehenden Ebene und nicht in ihrer darauffolgenden Anwendung untersucht werden. Soll die Bedeutung von Zeit im Recht jedoch, der bereits angesprochenen hier gefolgten Inkorporationslogik entsprechend, nicht applikativ, sondern reflexiv untersucht werden, bedarf es konsequenterweise einer anderen Herangehensweise.11 Dazu muss zunächst festgestellt werden, inwiefern Zeit ein konstitutives Merkmal der Rechtstheorien des Naturrechts und des Rechtspositivismus darstellt. 1.1
Naturrecht und Rechtspositivismus: Vielfalt zeitlich heruntergebrochen
Die eingangs erwähnten vielgestaltigen Ausprägungen von Naturrecht und Rechtspositivismus machen es terminologisch unmöglich, einen bestimmten Artikel für „das“ Naturrecht oder „den“ Rechtspositivismus im Singular zu verwenden. Richten wir den Blick also auf rechtspositivistische Ansätze sehen wir, dass, gleich ob wir von gesetzespositivistischen Lehren ausgehen,12 solchen, welche die Gültigkeit einer Norm über deren tatsächliche Befolgung durch ihre individuelle Anerkennung durch den Einzelnen13 oder generelle Anerkennung durch eine Mehrheit14 oder über ihre tatsächliche (sanktionierte) Anwendung15 definieren, die zeitliche Komponente eine sich stetig wandelnde ist.16 So gilt gesetzespositivistisch eine Norm erst ab ihrem formell ordnungsgemäßen Erlass und entsprechendem Publikationsakt.17 Dem psychologischen Rechtspositivismus folgend gilt sie ab dem Moment, da sie als solche Bei genauerer Betrachtung stellt sich hier nämlich ein methodisches Problem: Welche Funktion können aus anderen Disziplinen, wie vorliegend philosophischer oder naturwissenschaftlicher Art, gewonnene Erkenntnisse in ihrer Übertragung auf das Recht haben? Diese funktionale Zweiteilung in ein „Service-Modell“, das sich durch Anwendungs- sowie Praxisbezogenheit auszeichnet und in ein „Reflexions-Modell“, welches „extra-juristisch“ und „ganzheitlich-theoretisch“ reflektierend ist, entspricht dem Vorschlag von Kunz/Mona (2006), 13 ff. 12 So beispielhaft der deutsche Gesetzespositivismus, welcher nach Ott (2016), 7 f. hierzulande häufig mit Rechtspositivismus an sich gleichgesetzt wird. 13 Zur sog. individuellen Anerkennungstheorie s. Laun (1935). 14 Als Exempel der sog. generellen Anerkennungstheorie s. Jellinek (1914), 332 ff. 15 S. Geiger (1970). 16 Zur Übersicht einer Einteilung in analytische, psychologische sowie soziologische „Rechtspositivismen“ und deren Mischformen s. Ott (2016), 6 ff. Die Kriterien der Anerkennung und Anwendung führen dabei nicht zur Aufhebung der Trennungsthese, die Rechtsgültigkeit (Recht) und Rechtsgehorsam (Moral) voneinander unterscheidet, da sie rein deskriptiv zu verstehen sind, vgl. aaO., 19–21, 22–24. 17 Ott (2016), 7. Dreier (2007), 127, 137 scheint selbst, positives Recht pauschal, entgegen dem Titel seines Beitrags, mit der gesetzespositivistischen Ansicht gleichzusetzen. 11
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anerkannt wird oder von einem soziologischen Standpunkt aus ab dem Moment, da sie angewandt wird. Entscheidend ist, dass es für den positivistischen Rechtsbegriff gerade auf ein empirisches „Moment“ der Positivität ankommt, das „unter Bezugnahme auf eine physische oder psychische Wirklichkeit“ definiert wird.18 Damit wohnt ihm als temporales Seiensmerkmal eine gewisse Vergänglichkeit inne. Im Kontrast dazu zeichnen sich die naturrechtlichen Ansätze durch zeitlich ununterbrochene Konstanz als Wesensmerkmal des dahinterstehenden Rechtsbegriffes aus. Die Gültigkeit des Naturrechts wird als eine universelle, eine ewige beschrieben.19 In Abhängigkeit der historischen Einbettung und der damit verbundenen ideologischen Färbung einer Epoche lassen sich, einer von Eisfeld vorgeschlagenen Trias folgend, eine klassische Periode von der antiken Stoa bis in die mittelalterliche Spätscholastik, eine frühneuzeitliche Periode bis Ausgang des 18. Jahrhunderts sowie ein jüngeres Naturrecht, das von ca. 1790–1850 einzuordnen ist, unterscheiden.20 Dieser ewigliche Charakter des Naturrechts soll an zwei Beispielen mit jeweils unterschiedlichen Herleitungsmethoden knapp verdeutlicht werden. Während der klassischen Periode nutzte Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica den Ewigkeitsbegriff unmittelbar adjektivistisch als Bezug zum Naturrecht selbst: „Und eine solche Teilhabe am ewigen Gesetz in dem vernünftigen Geschöpf heisst das natürliche Gesetz.“21 In der frühneuzeitlichen Periode hingegen wird die Ewigkeitsargumentation abgleitet aus Gott selbst. So schreibt Pufendorf: „Denn das Licht der Vernunft zeigt, daß niemand anders der Urheber des Naturrechts ist als der Schöpfer des Universums.“22 Und bezüglich jenes Schöpfers führt er aus: Aus all diesen Gründen verbleibt bei dem Versuch, die Eigenschaften Gottes zu umschreiben, als einzige sinnvolle Möglichkeit entweder der Gebrauch von negativen Bezeichnungen wie unendlich, unbegreiflich, unermeßlich, ewig im Sinne von ohne Anfang und Ende (…).23
Ott (2016), 22. S. nur Meyer (2016), 454, der von „überzeitlich“ spricht oder Eisfeld (2004 ff.), welcher explizit „überzeitliche Gültigkeit“ nennt. Diese „zeitüberdauernde“ Geltung wird in einer übersichtlichen Darstellung im Rahmen der historischen naturrechtlichen Definitionsversuche bei Schwinger (2019), 9, 17 f. in ihrer auf den Inhalt, jedoch nicht die Gültigkeit bezogenen Kritik von Naturrecht dargestellt. 20 Eisfeld (2004 ff.), III. 21 Von Aquin (1977). 22 Von Pufendorf (1994). 23 Von Pufendorf (1994), Kap. 4 § 5. 18 19
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1.2
„Ewige“ Trennschärfe des Unterscheidungsmerkmales
So lässt sich bezogen auf die Geltung des Rechts innerhalb der naturrechtlichen Ansätze Ewigkeit als zeitliches Wesensmerkmal der damit verbundenen Idee von Recht an sich im Kontrast zum entsprechenden rechtspositivistischen Äquivalent der Vergänglichkeit ausmachen. Vor diesem Hintergrund erzeugt die Verwendung des Begriffs der Ewigkeit für verfassungsrechtliche Klauseln wie die des Art. 79 III GG den Anschein, das Bild, die elementare zeitliche Unterscheidung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus zu transgredieren. Die zeitlich verlaufende Grenze zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus bleibt dabei jedoch trennscharf. Das bloße Sich-Bedienen des Ausdrucks Ewigkeit, der innerhalb naturrechtlicher Ansätze einen konstitutiven rechtstheoretischen Bestandteil darstellt, erlaubt nicht den Schluss, Ewigkeitsklauseln als naturrechtlich zu qualifizieren. Wie bereits angesprochen fehlt dem positiv gesetzten Recht bereits logisch der Geltungsbezug in die Vergangenheit – es folgt einer „Ab jetzt“-Logik24 im Kontrast zu einer „Seit jeher-“, immer seienden Logik. Dem platonischen „Urbild“,25 nämlich „der in dem einen verharrende Ewigkeit“,26 nach, dessen bewegtes Abbild die Zeit sein soll,27 erschöpft sich die Relativierungsthese der Ewigkeit als rechtstheoretisches Unterscheidungskriterium zwischen Naturrecht einerseits und Rechtspositivismus andererseits in der leitbildlichen Verwendung von „Ewigkeit“.28
Daran ändert auch der Topus der gesetzlichen Rückwirkung nichts, deren Rechtsqualität ebenso dem Schema „ab jetzt“ folgt – sei es nach analytischen, psychologischen oder soziologischen rechtspositivistischen Perspektiven. 25 Platon (2016), 37c8. 26 Platon (2016), 37d6 f. Ein jüngeres Beispiel die „bedeutendste philosophische Zeitreflexion überhaupt“ betreffend, die sie zum „Ursprung aller nachfolgenden“ macht, ist das Werk v. Schmidt (2012), 9. 27 Platon (2016), 37d5. Hier ist einer methodischen Folgefrage zu begegnen: Wie übersetzt sich eine nicht genuin dem rechtlichen System zuordnende Begrifflichkeit wie die der Zeit/Ewigkeit jedenfalls so, dass ein möglichst kleiner „Restbestand an nicht sachgerechten Bedeutungsinhalten“, Damler (2017), 162, 164, 175 f., verbleibt? Die Antwort soll vorliegend in der Philosophie als „Herkunftswissenschaft multidisziplinären Fragens“, Auer (2018), 49, gesucht werden. Entscheidender Vorteil einer solchen Perspektive ist, dass sowohl der Bestand an Problemen als auch an zugehörigen Lösungen in der Philosophie „nie veraltet oder erschöpft“, aaO., 50, ist. Es ist insoweit auch kein Fortschritt messbar, als dass den empirischen Naturwissenschaften entsprechende Widerlegungsmodelle existieren, s. aaO. Als „grenzenlose Suche nach fundamentaler Erkenntnis, und zwar unabhängig von dem jeweils als Ausgangspunkt betriebenen Fach“, aaO., räumt eine derartige Sichtweise auf die Philosophie bezogen auf die Rechtswissenschaft nicht nur anachronistische Einwände, sondern paradoxerweise auch den potentiellen Vorwurf unsachgerechter Restbestände aus, indem multidisziplinäres Erkenntnisinteresse an sich, gleichzeitig als Weg und Ziel, keinen Raum für eine derartige Unsachgemäßheit lässt. Hinsichtlich der von Auer explizit begründeten Verwendung von „Rechtstheorie“ und nicht „Rechtsphilosophie“ als „philosophische Theorie einer multidisziplinären Rechtswissenschaft“, aaO.,53, 55 f., wird hiermit nicht inhaltlich Position bezogen. 28 Die durchaus interessante Frage nach einer begriffsgeschichtlichen Annäherung an die Entstehung des Terminus „Ewigkeitsklausel/-garantie“, auf die bisher noch keine wissenschaftliche Antwort gegeben worden scheint, soll und kann innerhalb des Rahmens dieses Aufsatzes nicht Gegenstand sein. 24
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Sie ermöglicht jedoch zwei andere Überlegungen. Zunächst liegt es nahe durch die ihnen abbildhafte naturrechtlich innewohnende Logik, Ewigkeitsklauseln als nicht rechtspositivistisch zu qualifizieren und somit die Zuordnung zur eigenen, da vergänglichen, rechtstheoretischen Grundlage zu entziehen. Eine solche Reflexion würde dazu führen, Ewigkeitsgarantien einen naturrechtsähnlichen Charakter zuzusprechen, eine Art Zwitterstellung, die sich daraus ergibt, dass eine Zuweisung zu rechtspositivistischen Ansätzen durch die zeitkonzeptuelle leitbildliche Verankerung, die aus einem für das Rechtsverständnis naturrechtlicher Lehren integralen Kriterium, Ewigkeit, besteht, zu versagen ist. Andererseits erscheint es ebenfalls plausibel, gerade in der Unmöglichkeit tatsächliche Ewigkeit, die Naturrecht ausmacht, zu kreieren, den rechtspositivistischen Charakter von Ewigkeitsklauseln verwirklicht zu sehen. Eine zusätzliche Differenzierung verfeinert den Blick: Es ist nicht die Ewigkeitsklausel selbst, der naturrechtsähnlicher Charakter zukommen soll. Sie selbst ist der rechtspositive Versuch, die in ihr niedergeschriebenen Prinzipien über das zeitkonzeptuelle Leitbild der Ewigkeit naturrechtsähnlich zu kreieren. Die Wirkung von Ewigkeitsklauseln ist jedoch begrenzt durch ihr eigenes rechtstheoretisches Wesen. Aus logischen Erwägungen ist es bereits fragwürdig, wie etwas Rechtspositivistisches aus sich selbst heraus etwas nicht Rechtspositivistisches erzeugen können sollte: Etwas, das selbst erst in Geltung gesetzt werden muss, kann nicht etwas hervorbringen, dass dieser zeitlichen Geltung vorausgeht, indem es schon immer ist. Das macht geschriebene verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln letztlich zu einem rechtspositivistischen Paradigma. Das in diesem Zusammenhang tautologische29 Gegenargument, wie es um den Fall stehe, dass in der Ewigkeitsgarantie verankerte Prinzipien inhaltlich Naturrecht widerspiegeln, ist entschieden zurückzuweisen. Eine inhaltliche Bestimmung, wie bereits gezeigt, „des“ Naturrechts repräsentiert kein eindeutiges Unterscheidungskriterium gegenüber rechtspositivistischen Ansätzen. Dies liegt nicht nur an der quantitativen Fülle an verschiedenen naturrechtlichen Lehren, sondern jedenfalls auch qualitativ an der Tatsache, dass Konzepte, wie bspw. die Würde des Menschen, per se ideologischer Ausfüllung bedürfen.30 Was unter menschlicher Würde in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik zu finden ist, hat mit dem Verständnis, welches Kant ihr beimisst, eindeutig bloß die begriffliche Hülle gemein. Ein in die gleiche Richtung gehender, doch subtilerer, Punkt ist jener, dass der durch Ewigkeitsgarantien gewagte Versuch, Prinzipien als gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber unveränderlich zu
Inwieweit sollte man etwas, was per definitionem bereits ewiglich ist, ewiglich machen können oder wollen? 30 Wie wir im Folgenden noch sehen werden, liegt in dieser gewissen Versatilität der in Art. 79 III GG verankerten Begrifflichkeiten ein dem „Ewigkeitsleitbild dienlicher Parameter“, der sich durch eine zwar nicht unbeschränkte interpretative Flexibilität, insbesondere im verfassungsgerichtlichen „InstitutionenSetting“, der auch auf Art. 79 III GG bezogene Begriff geht zurück auf Lepsius (2015), 63–90, in Abhängigkeit des theoretischen Hintergrundes verschieden auswirken kann. 29
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stellen, mehr inhaltliche Ewigkeit31 verspricht, als es Naturrecht selbst vermag. Eine derartige Betrachtungsweise vermengt erneut die inhaltlich unscharfe Konstanz mit der Frage nach temporaler Geltung. Sie stellt außerdem ein reflexartig wirkendes, applikatives Herangehen an Zeit in der Form ihrer Messbarkeit32 und nicht an Zeit als konstitutiver Teil des Wesensverständnisses von Recht gemäß der dahinterstehenden naturrechtlichen oder positivistischen Rechtstheorien. Darüber hinaus funktioniert auch dieser Ansatz nur unter der Prämisse, dass es sich um Prinzipien mit absolut starrem Inhaltskern handelt. Was beiden Ansätzen jedoch gemein ist, ist die Erkenntnis, dass es darüber hinaus, schon deswegen nicht um die ewigliche Geltung von Recht im Rechtspositivismus, auch hinsichtlich Ewigkeitsgarantien, gehen kann, da diese nur den Rahmen dessen bilden, was durch sie eigentlich „ewig“ werden soll, nämlich materiell zu bestimmende Prinzipien. In einem verfassungstheoretischen Sinne geht es darum, dass die in Art. 79 III GG aufgeführten Prinzipien der verfassungsändernden Gewalt im Kontrast zur verfassungsgebenden entzogen werden sollen. Ohne eine inhaltliche Annäherung an diese Prinzipien läuft das Ewigkeitsleitbild hingegen leer. Dies verdeutlicht erneut, dass diese Prinzipien nicht naturrechtlicher Art sein können. Die hier vorgestellte naturrechtliche Logik bestimmt die Kausalität aus der ewiglichen Geltung – Naturrecht, weil immerzu geltend. Ewigkeitsklauseln operieren demgegenüber derart, dass erst eine „ewigliche“, im Sinne von durch die verfassungsändernde Gewalt unveränderliche, Geltung verliehen werden muss. Zuvorderst steht hier die materielle Festlegung, welche Prinzipien dies intentional sein sollen und nicht die Begründung, dass diese Prinzipien Naturrecht darstellen, da sie bereits von immerwährender Geltung zeugen.33 Schließlich lässt sich ein Gegenargument praktischer Natur kritisch gut hören: Wie lässt sich Naturrecht, ohne in eine anwendungsbezogene Logik, der zufolge eine Messung der Gültigkeit einer Norm stattfinden sollte oder dem vorgeschaltet doch wieder einer inhaltlichen Bestimmung dessen, was schon immer gilt, zu verfallen, festmachen? Dem ist zunächst zu entgegnen, dass das Ziel der vorliegenden Annäherung die theoretische Verdeutlichung des Differenzierungskriteriums Zeit im Hinblick auf Naturrecht sowie Rechtspositivismus und der Trennschärfe dieses Abgrenzungsmerkmals ist. Diesen beiden Untersuchungsthesen wird kein Abbruch getan. Naturrecht bleibt solches, das eine immerwährende Gültigkeit als Bestandteil seiner ontologischen Konzeption aufweist. Das Verständnis von Recht innerhalb rechtsposiBereits sprachlich führt die Verwendung des quantifizierten Adjektivs „mehr“ im Komparativ bezogen auf Ewigkeit zu einem Widerspruch. 32 Womöglich ist mit Friedell (1993), 61, darin ein anthropologisch tiefer wurzelndes Begehren zu sehen, wenn des Menschen „[…] stärkste Sehnsucht, sein ewiger Traum ist: Chronologie in die Welt zu bringen. Haben wir die Zeit nämlich einmal schematisch und überschaubar, meßbar und berechenbar gemacht, so entsteht die Illusion, daß wir sie beherrschen, daß sie uns gehört.“ 33 Auch ein systematischer Blick auf speziell Art. 79 III GG verdeutlicht dies durch die ihm innewohnende Verweisungslogik auf Art. 1 sowie 20 GG. 31
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tivistischer Ansätze weist diese konstitutive Voraussetzung hingegen nicht auf. Diese Unterscheidung scheint einer Ewigkeitsgarantie im naturrechtlichen Sinne also näher zu stehen als Art. 79 III GG. 2.
Von der Unveränderlichkeit zur Ewigkeit
Dem heuristischen Trugschluss selbst erlegen, den geschriebene verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln suggerieren, soll es nun um eine Skizzierung der diesem Ewigkeitsleitbild dienlichen Parameter gehen. Dazu ist an der Schnittstelle, der ästhetischen34 Wirkung von „Ewigkeit“ zu beginnen, welche just am Anfang der Idee des hiesigen Aufsatzes zur Thesenbildung einer möglichen Relativierung der in ihrer zeitlichen Geltung begründeten Dichotomie zwischen positivem Recht und Naturrecht durch die Verwendung der „Ewigkeitsgarantie“ als Tropus stand (1). Die beiden folgenden Ebenen, institutionell einerseits (2) und konzeptuell anderseits (2), sollen hinsichtlich ihrer flankierenden Bedeutung in die Betrachtung miteinbezogen werden.
Für die vorliegende Untersuchung soll sich zum Begriff der Ästhetik aufgrund der dazu in dem Publikationstypus des Aufsatzes begründeten formellen Schranken nicht abschließend inhaltlich positioniert werden. Ästhetik ist jedenfalls zur notwendigen gedanklichen Greifbarkeit dieses Textes intentional als auf die im Rahmen der Entstehung von juristischen Ideen, wie die der durch Art. 79 III GG verkörperten materiellen Verfassungsänderungsgrenze, „bislang nur selten (oder gar nicht) in Erwägung gezogenen Wirkungszusammenhängen“, Damler (2016), 32, zu verstehen. Das Ewigkeitsleitbild ist demzufolge auch „regulatives Sinnbild“, aaO., 34, für die in ihrer tropischen Gestalt zum Ausdruck kommende verfassungstheoretische Überlegung. Um an dieser Stelle der Diskussion um die damit verbundene Frage nach einer Bestimmung des „Sinnlichen“ zu entgehen, wird hier Sinn als Bedeutung, Intension benutzt. Nach Damler, a. a. O. 31, würde der Begriff des Sinnlichen in der Form der auf Husserl terminologisch zurückgehenden „Lebenswelt“ als „Phänomene des Alltags, die sich nicht auf ein isoliertes, für sich stehendes Wahrnehmungsereignis reduzieren lassen“, also „kompositorische Elementarerfahrungen“ letztlich ebenso auf die Sinneinheit der zeitlichen Erfahrungen anwenden lassen. Wir erfahren die Zeit alltäglich – sei es anhand einer stetig alternden Haut oder eines endlos wirkenden Termins über Zoom. Dazu ist es nicht nötig, die spezielle Relativitätstheorie ins Feld zu führen, der zufolge Zeitdauern vom Bewegungszustand des Betrachters abhängen und es damit keine absolute, nicht vom individuell erfahrbaren losgelöste, Zeit gibt. Insbesondere vor dem Hintergrund der angesprochenen platonischen Urbild-Abbild-Konstellation des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit, ist eine solche Sichtweise einleuchtend. „Ist die Zeit das Abbild des Urbildes Ewigkeit, so besagt dies: die Ewigkeit verschafft der Zeit jenen Anblick, in welchem die Zeit erst erblickbar wird. In der Zeit aber wird ansichtig – abbildhaft! –, wodurch sie als Zeit erst zu Gesicht kommt: die Ewigkeit.“ Vollrath (1968–69), 257–263, 259. Doch auch „die Einbeziehung nichtsinnlicher Tatsachen in den Bereich des ästhetischen Denkens rechtfertigt sich bis zu gewissem Grade durch den engen Zusammenhang, mit dem unser Denken in jeder Lage an Vorstellungen von Sinnlichem gebunden ist.“, Triepel (1947), 46. Dieser Logik entsprechend wäre Ewigkeit jedenfalls als mittelbar-sinnlich auf die erfahrbare Sinneinheit Zeit rückführbar. 34
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2.1 Ästhetisch
Die folgende Definition Häberles zeigt deutlich, welcher Ausdruck durch die „Ewigkeits“-Wendung ersetzt werden soll: Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln bzw. Identitätsgarantien sind geschriebene Verfassungstexte, in denen bestimmte Prinzipien oder Einrichtungen einer je geltenden Verfassung in aller Zukunft gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber für unantastbar erklärt werden.35
Die dem Bedeutungsfeld der Zeit zuzuordnende Ewigkeit steht rhetorisch als Ersetzung für den materiell-juristischen Begriff der Unveränderlichkeit im Sinne einer inhaltlichen verfassungsrevisionellen Grenze.36 Die tropische Gestalt führte dabei möglicherweise zu einer kognitiv-psychologischen „Fehlwertung“,37 die sich daraus ableitet, welche Vorstellungen Ewigkeit hervorruft. Doch auch in der Rechtspraxis, -wissenschaft, -rechtsprechung und -ausbildung wird hier eine besonders wirkungsmächtige Form an Manipulationspotenzial gewahr. So wie die metaphorische Repräsentation der Wahrheit als Licht,38 setzt uns das Leitbild der Ewigkeit nicht nur als Verfassungstext eine faktische optische Grenze, sondern ebenso ein womöglich stärkere, da unbewusste, innere Grenze. Das mögliche risikoreiche Manipulationspotenzial von Tropen wurde im rechtspolitischen Kontext im Rahmen eines Experiments zur Bewertung Häberle (1986), 81. Diese Ewigkeit ist denklogisch als eine nur zwei der drei Zeiteide bedienende zu verstehen: gegenwarts- und zukunftsgerichtet. Nichtsdestotrotz stellt auch die Vergangenheit einen bedeutsamen Faktor dar. Durch Abgrenzung zu ihr wird die Vergangenheit zur legitimierenden definitorischen Geburtshelferin der, von nun an notwendigerweise beginnenden, „Ewigkeit“. So wird Art. 79 III GG mitunter als „markanteste Antwort auf das Trauma von Weimar“ bezeichnet, Herdegen (2020), Rn. 60. Es wäre also unter dem Blickwinkel eines zeittranszendierenden Legitimationsmodells möglich, eine Annäherung an die vorgestellte platonische Zeitmessungslogik zu behaupten. So sieht Vollrath (1968–69) das Verharren in dem Einen der Ewigkeit als eine durchgehende Anwesenheit, deren ewiges Abbild die Zeit nur dann sein kann, sofern sie in ihren drei fortschreitenden Gestalten der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft jeweils von der vergangen Anwesenheit in der gegenwärtigen und zukünftigen aufgeht, 262. Häberle nennt als häufiges Wesensmerkmal sowohl der geschriebenen als auch ungeschriebenen Ewigkeitsgarantien, dass diese meist als Reaktion auf Gefahren, die in der Vergangenheit für den Verfassungsstaat bestanden haben oder die in der Zukunft befürchtet werden, entstehen, aaO., 81 f. Auch dem Naturrecht ist diese Legitimationslogik nicht fremd. Wie wir bei Pufendorf sehen konnten, leitet es seinen Geltungsanspruch aus dem Ewiglichen, also dem Bestehen ohne Anfang und Ende, ab. 36 Dieser materielle Ansatz im Unterschied zu einer verfahrensmäßigen Grenze der Verfassungsänderung, vgl. Häberle (1986), 94, spiegelt in aller Deutlichkeit die Argumentation wider, die hier zur Erkenntnis führte, dass Ewigkeitsklauseln lediglich den Rahmen für in ihr inhaltlich zu bestimmende Prinzipien darstellen. In einer von der vorgestellten naturrechtlichen Seinsstruktur divergierenden Logik geht diese materielle Bestimmung der zeitlichen Gültigkeit voraus, da sie notwendigerweise die Essenz dessen ist, was der Veränderlichkeit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen und damit intendiert „ewig“ werden soll. 37 Mit Damler (2017), 167 „bezieh[t] sich diese[r] Begriff[…] auf die Ergebnisse ‚analogischen‘ Denkens und Empfindens.“ 38 Dazu Blumenberg (2001), 139–171. 35
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der amerikanischen Einwanderungspolitik nachgewiesen. Ein Teil der Proband*innen sollte, nachdem ihnen zuvor Bilder von Krankheitserregern vorgeführt wurden, das Konzept der „Nation“ als Körper darstellen. Diese Teilnehmer*innen bewerteten die Einwanderung als besonders problematisch. Sie sprachen sich insbesondere für Einreisebeschränkungen aus, was wohl analog zu körperlichen Hygienemaßnahmen zu werten sei.39 Eine solche Hürde lässt sich gedanklich auch auf das Ewigkeitsbild übertragen. Sie könnte noch wirkungsmächtiger sein, da sie sich weniger subtil vollzieht. Der Begriff der Ewigkeit ist recht deutlich direktiv zu verstehen, was letztlich auch dem eher metonymischen Charakter im Unterschied zu den subtiler agierenden metaphorischen Darstellungen des Staates in dem genannten Experiment, zuzuschreiben sein dürfte. Zur eigentlichen textästhetischen40 Betrachtung fortschreitend, lassen sich zunächst drei Kategorien an Ewigkeitsklauseln unterscheiden:41 Geistklauseln,42 (Einzel-)Prinzipklauseln43 sowie umfassende Kataloge.44 Beginnend mit dem formellen Rahmen45 ist nicht nur das Ewigkeitsleitbild als unbewusste Grenze, sondern selbstverständlich genauso in der Verschriftlichung selbst bereits eine optische Grenze erblickbar – die „Appellfunktion“.46 Daneben spielt auch die Verortung der Klauseln innerhalb der Verfassungsurkunde selbst eine Rolle. Mit Blick auf die Positionierung des Art. 79 III im heutigen Grundgesetz unter dem Kapitel „Die Gesetzgebung des Bundes“ wird ihm ein anderes normatives Gewicht verliehen als im Falle der Verortung im Text der Präambel.47 Der Konnex zu konzeptuellen Ideen wird hier deutlich. Daran schließt der letzte unmittelbar äußerliche Faktor an: Die Länge von Ewigkeitsklauseln. Ein umfassender Katalog lässt kaum Spielraum für
S. zu dem Versuch Landau/Sullivan/Greenberg (2009), 1421–1427; die Darstellung findet sich ebenso mit weiteren Beispielen bei Damler (2016), 53 ff. 40 Anknüpfend an die optische Sinneserfahrbarkeit eines Textes wird hiermit auf eine von dem neologistischen Schöpfer der Ästhetik als wissenschaftlicher Disziplin selbst gegebene Definition als „[…] scientia cognitionis sensitivae“ Bezug genommen, Baumgarten (1750), § 1. 41 Diese Dreiteilung geht zurück auf Häberle (1986), 81, 84 ff. 42 So § 112 I S. 3 der Norwegische Verfassung von 1814: „Jedoch darf eine solche Änderung keineswegs den Grundsätzen dieser Verfassung widersprechen, sondern lediglich Modifikationen in einzelnen Bestimmungen betreffen, die nicht den Geist dieser Verfassung verändern, und es müssen zwei Drittel des Stortings einer solchen Änderung zustimmen.“, zit. nach Herdegen (2020), Rn. 71. 43 Darunter fällt der deutsche Art. 79 III GG. 44 Ein außerordentlich umfangreiches Beispiel stellt Art. 290 der portugiesischen Verfassung von 1976/1982, dar, Häberle (1986), 81, 91. 45 Zum Potenzial eines möglichen rechtsästhetischen Ansatzes, welcher auf der Kritik des „Oppositionsschemas Form/Inhalt“ basiert, s. Schürmann (2015), 1–12. 46 Häberle (1986), 81, 103. 47 Zum Streit um sowie zur historischen Entwicklung des normativen Gewichts der Präambel des heutigen Grundgesetzes Dreier (2013), Präambel, Rn. 23–28. 39
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Anpassungsfähigkeit und damit dem wohl entscheidendsten Wirkungskriterium – der Wandelbarkeit im Laufe der Zeit.48 Dieses Kriterium führt von der Hülle, auch jene der Worte, die sich in Ewigkeitsgarantien finden, zu ihrem semantischen Bedeutungsgehalt. Im Sinne maximaler Flexibilität ist ein Mittelweg aus Abstraktion und Konkretisierung vorzuschlagen, der vor Uferlosigkeit, wie es der norwegische „Geist“ der Verfassung bedeutet hat, schützt. Einzelnen und ausreichend konkreten, in eine bestehende Verfassungssystematik eingebetteten, jedoch interpretativ offenen Prinzipien wie auf die in den Art. 1 und 20 GG verwiesenen niedergelegten Grundsätzen gelingt diese Gratwanderung überzeugender. Fehlende Flexibilität, Starrheit scheinen dem platonischen Verständnis der in dem Einen verharrenden Ewigkeit dienlicher als ihrer leitbildlichen Konzeption. Letztlich könnte auch angeführt werden, solche Wertungen mitaufzunehmen, die das Ergebnis einer identitätsbezogenen Differenzierung des entsprechenden Verfassungsstaates sind – nicht bloß der generische Schutz einer republikanischen Staatsform,49 sondern passgenau bspw. das Bundesstaatsprinzip als solches. Dies würde neben dem Gedanken der interpretativen Flexibilität doch ein noch passenderes Bindeglied zu den institutionellen Parametern hütender und interpretierender Verfassungsgerichte bezogen auf auch als „Identitätsgarantien“ bezeichnete Ewigkeitsklauseln symbolisieren. Vorzüglich lässt sich hier die Wirkungsanalogie von der „Ewigkeitsgarantie“ zu „Identitätsgarantie“ ziehen. Es handelt sich insoweit jedoch um ein folgenreicheres Beispiel, als dass dieser Tropus verfassungsgerichtliche Instrumentalisierung im Rahmen der „Identitätskontrollen“ des BVerfG, also in Abgrenzung zur supranationalen Ebene erfahren hat.50 Zudem stellt die Frage nach Identität insbesondere im juristischen Diskurs eine Frage nach einem seit den neunziger Jahren gewahr werdenden begrifflich konzeptuellen Paradigmenwechsel von der „formaleren, kühleren, schneidigeren“ Souveränität hin zum „weicheren, zum Kulturellen und Nationalen hin öffnenden Wort Identität“51 dar. Die Folgefrage, ist jene, ob das Karlsruher Gericht dem Identitätstropus so erlag, wie der Autor dieser Zeilen dem der Ewigkeit oder ob jedenfalls der verfassungsgerichtliche Diskurs im Bewusstsein der noch stärkeren, da menschlich bildlicheren Identität, kognitiv-psychologischen Wirkmacht sich dieser gewollt bedient hat. Versucht Damler mit der Personifizierung der Unternehmen als juristische Person die Anwendbarkeit von Grundrechten auf diese zu erklären,52 so Dies ist auch Häberles Kritik an der genannten portugiesischen Klausel, (1986), 81, 107. Es stellt sich zudem die Frage, ob bei der Niederschrift des Großteils der Verfassung innewohnenden Substanz, ihr nicht lediglich deklaratorischer Charakter zugesprochen werden muss, aaO., 96. 49 So die Republiksgarantie in Art. 2 des Ergänzungsgesetzes der französischen Verfassung von 1875 durch das Gesetz vom 14.08.1884, vgl. Häberle (1986), 81, 87. 50 Dieser Begriff fiel erstmals im Urteil zum Vertrag von Lissabon, BVerfGE, NJW 2009, 2267, 2272. 51 Schönberger (2015), 41, 48, der gerade auf den europarechtlichen Diskurs Bezug nimmt. 52 Damler (2016), 66 ff. 48
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lässt sich dies erst recht mit der Übertragung von Identität auf die Verfassung wagen. Der Verfassung wird eine Persönlichkeit verliehen. Innerhalb der verfassungsrechtlichen Dogmatik liegt hier ein Vergleich zu dem in Art. 1 I iVm Art. 2 I GG wurzelnden allgemeinen Persönlichkeitsrecht nahe.53 Nicht nur, weil dieses die schöpferische Kraft des BVerfG exemplifiziert, sondern vor allem, da das Gericht die zugehörige sog. Sphärentheorie54 entwickelt hat. Während im Gegensatz zur Sozial- und Privatsphäre die Intimsphäre als „unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung“55, die vor jedem staatlichen Eingriff absolut zu schützende Identität einer Person darstellt, so müsste die Identität der Verfassung, ihre Intimsphäre, in Art. 79 III GG zum Ausdruck kommen. Wäre ein Mensch ohne Identität noch Mensch? Wäre eine Verfassung ohne Identität noch Verfassung? Sie muss vor jedem Zugriff, insbesondere vor einem supranationalen wie es scheint, bewahrt werden. Man mag von einem solchen Erklärungsversuch mehr oder weniger überzeugt sein, als Perspektive illustriert er jedoch, dass eine identitätsbezogene Differenzierung nicht unmittelbar dem Ewigkeitsleitbild, sondern dem Identitätsleitbild zukommt. 2.2 Institutionell
Neben einer nationalidentitätsstabilisierenden Rolle durch Abgrenzung gegenüber einem supranationalen Niveau, geht es institutionell also darum, den „ewigen“ Bestand dadurch zu schützen, dass eine tatsächliche Anpassungsfähigkeit und damit ein Überdauern gewährleistet wird. Dies kann einerseits durch eine exklusiv hütende Zuständigkeitszuweisung an ein Verfassungsgericht56 und andererseits durch dessen interpretierende Rolle erreicht werden. So entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Art. 79 III zwar eine „eng auszulegende Ausnahmevorschrift“57 sei, bei der aber eine Modifizierbarkeit der „dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen“58 mögDie an die zivilgerichtliche Terminologie anschließende Bezeichnung als „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ erfolgte in BVerfGE 54, 148, 153, während die Herleitung aus Art. 1 I sowie Art. 2 I GG bereits auf BVerfGE 27, 1, 6 zurückgeht. 54 BVerfGE 34, 238, 245. 55 BVerfGE 32, 373, 378 f.; 89, 69, 82 f. Dieser „Kernbereich“ hat in ein und demselben Urteil dann jedoch einen begrifflich interessanten Paradigmenwechsel erfahren, der einen Gleichlauf mit Art. 79 III GG konstruierte. Er wird nun als darin zum Ausdruck kommende Menschenwürdegarantie definiert, was gleichzeitig als Begründung seines absoluten Schutzanspruches fungiert, s. BVerfGE 109, 279, 313. Der Menschenwürdegehalt stellt nämlich gerade den aus Art. 79 III GG folgenden für den verfassungsändernden Gesetzgeber einzig relevanten Maßstab in Bezug auf Grundrechtsbeschränkungen dar, s. BVerfGE 109, 279, 310. Zum Begriffswandel dieses Kernbereichs s. Baldus (2008), 218–225. 56 Wie in Deutschland in Gestalt des Art. 93 I, II GG. 57 So erstmalig BVerfGE 109, 279, 310. Der Begriff der Ausnahmevorschrift findet sich bereits in BVerfGE 30, 1, 25. 58 Die rabulistische Grundsätzerhetorik wurzelt noch in BVerfGE 30, 1, 24: „Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze. Grundsätze werden ‚als Grundsätze‘ von vorn53
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lich sei. Doch auch hier wird mit genauerem Blick klar, dass nicht das Ewigkeitsleitbild als Tropus der Unveränderlichkeit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber im Fokus steht. Diese institutionelle und auch die vorhergehenden textästhetischen Erwägungen, welche die Flexibilität betreffen, sind dem Leitbild nämlich nicht per se als zuträglich zu qualifizieren. Unter der Rhetorikprämisse, dass Ewigkeit die Unveränderlichkeit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ersetzen soll, ist die Modifizierbarkeit gerade durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ein sich dazu konträr verhaltender Ansatz. Nur Im Falle möglichst extensiver Interpretation, durch bspw. ein kompetenziell zuständiges Verfassungsgericht, kann eine „maximale“ Unveränderlichkeit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber erreicht werden. Eine restriktive Auslegung ermöglicht kontrastierend gerade einen stärkeren Zugriff auf diese Prinzipien.59 Es käme zur Logik eines Art. 79 III GG des Art. 79 III GG auf das deutsche Beispiel gemünzt. Infolge einer restriktiven Interpretation der in Art. 79 III GG niedergeschriebenen Grundsätze ergibt sich zwar eine Anpassungsfähigkeit, diese ist aber bezogen auf die Verfassung selbst – ihr möglichst langer, „ewiger“ Bestand soll auf gesellschaftlichen Wandel reagierend gesichert werden. Eine restriktive Auslegung erlaubt sozusagen das, was für den Rest der Verfassung in der paradigmatischen Form der Anpassung, nämlich ihrer Modifizierbarkeit, ohnehin schon gilt. Je weniger dem verfassungsändernden Gesetzgeber also tatsächlich entzogen, desto stärker kann sich über ein dahinterstehendes Parlament auch der demokratische Wille übersetzen lassen – umso mehr wird die Verfassung möglicher Spiegel des aktuellen Meinungsbildes. Und je mehr – jedenfalls demokratietheoretisch – dieses Meinungsbild repräsentiert wird, desto eher erlaubt die Verfassung eine Identifizierung mit ihr. Polemisch überspitzt würde dies wiederum einen Gedanken erlauben, demzufolge der bundesverfassungsgerichtliche Identitätsdiskurs ein Abbild einer mehrheitlich antieuropäischen Stimmung in der Bevölkerung darstellen könnte. Oder ist dieser lediglich Wegbereiter, für einen wieder anderen, womöglich populistischeren, semiotischen Adressaten, der Identität als losgelöst von dem möglichen verfassungsgerichtlichen Leitbild der Kom-
herein nicht ‚berührt‘, wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden.“ Einen auf dem Canvas des vorliegenden Aufsatzes durchaus beachtlichen Wandel erfuhr dieser Passus, auf den in BVerfGE 84, 90, 120 f. ausdrücklich verwiesen wird, in der neuen Formulierung: „Er [Art. 79 III GG] hindert den verfassungsändernden Gesetzgeber dagegen nicht, die positivrechtliche Ausprägung dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren.“ Diese Formulierung setzt sich dann in BVerfGE 94, 40, 102 f.; 109, 279, 310 fort. 59 Dies sieht auch Häberle (1971), 145, 149 in Bezug auf die erwähnte BVerfGE 30, 1, 24 so. Das Gericht habe „sich damit den Weg eröffnet, Art. 79 Abs. 3 GG zu minimalisieren.“, aaO. Er führt dabei insbesondere textästhetische Erwägungen bezogen auf die in Art. 79 III GG zu findenden „Grundsätze“ und „berührt“ ins Feld, die eine Relativierung des „Sinns“ der deutschen Ewigkeitsgarantie ergäben: „Art. 79 Abs. 3 GG verbietet nicht (nur) die prinzipielle Preisgabe bestimmter Grundsätze, sondern die Preisgabe dieser Prinzipien!“, aaO. Denn: „Das Wort „berührt“ verlangt nicht, daß die oder einer der Grundsätze vollständig aufgegeben oder prinzipiell preisgegeben werden […]“, aaO.
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petenzverteilung zwischen EuGH und BVerfG60 oder der Argumentation einer postNS-Verfassung,61 die ein solches geschichtliches Ereignis, um mit Häberles Definition zu arbeiten, nie wieder geschehen lassen soll, interpretiert? Und welche Entscheidung wäre einer solchen Auslegung dann dienlicher als das zur ersten Identitätskontrolle im Lissabon-Urteil führende Demokratieprinzip?62 2.3 Konzeptuell
Dem Vorwurf, der sich logisch aus den vorhergehenden textästhetischen und insbesondere institutionellen Erwägungen ergeben muss, soll nun auf einer konzeptuellen Stufe begegnet werden. Die Überlegung einer möglichen extensiven oder restriktiven Interpretation hat keinen Bestand vor dem Axiom, der Richter sei bloßer „Mund“ des Gesetztes63 und der Auslegung käme somit gar kein eigenes schöpferisches Moment zu – oder sogar, dass Recht keine offenen, nicht inhaltlich festen Begriffe kenne.64 Sie ergibt hingegen Sinn vor dem Hintergrund einer „realistischen“ Interpretationstheorie, die im Kontrast dazu unter der ontologischen Prämisse steht, dass Auslegung dazu dient, einen Sinn erstmalig schöpferisch als Akt der „volonté“ zu bestimmen.65 Doch zeigt dies, dass die entsprechende ontologische Präsupposition im Dienste einer weiteren epistemologischen steht: Die Theorie einer nicht realistischen Interpretation kann exemplarisch im gerichtlichen Diskurs als Legitimitätsargument fungieren.66 Dies verdeutlicht, dass wohl jedem so gedachten Erkenntnisfortschritt eine theoretisch konzeptuelle Abhängigkeit zu Grunde liegt.67 Daher sollen für die vorliegende Betrachtung in einem abschließenden Moment, von der bereits angesprochenen inter-
So BVerfG, NJW 2009, 2267, 2269. „Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann.“, BVerfGE 30, 1, 24. 62 S. BVerfGE, NJW 2009, 2267, 2269 f. Gegen eine solche und für eine positive Sichtweise auf die Identitätskontrolle s. Haltern (2020), 817, 822. 63 Diese metaphorische, auf die drei „puissances“ eines Staates bezogene, Wendung findet sich bei Montesquieu (1750), Kap. 6 „Mais les Juges de la Nation ne sont, comme nous avons dit, que la bouche qui prononce les paroles de la Loi, des Etres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur.“ Diese Ansicht, der zufolge der „puissance de juger“, kein gestalterisches Element zukommen kann, ist gerad Teil der gesetzespositivistischen Rechtsanwendungslehre, s. Ott (2016), 7. 64 Es gäbe somit nur einen „objektiven Sinn“, der als Akt der „connaissance“ anzugeben und nicht willentlich zu bestimmen ist, s. Troper (2006), 301, 302. 65 Troper (2006), 301, 302. 66 S. Dazu Troper (2006), 301, 302. 67 Wissenssoziologisch gewendet könnte man mit Berger/Luckmann (2018), die Wirklichkeit einer Erkenntnis nur mit der relativen Gewissheit des theoretischen Wissens, auf dem sie gründet, beschreiben. 60 61
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pretationstheoretischen Ebene abgesehen, jene theoretischen Grundvoraussetzungen knapp skizziert werden, die zur Validität der vorstehenden Kriterien beitragen. Das ist zunächst die allgemeine Verankerung in der Idee einer gewissen Normenhierarchie. Dazu ist die Verortung der Ewigkeitsgarantien in der normenhierarchisch höchstgelegenen Verfassung sowie die bereits erwähnte entsprechende Positionierung innerhalb der Verfassungsurkunde selbst, anzusprechen. Dies kann eine institutionelle Auswirkung haben: Verfassungsgerichtliche Kontrolle und Interpretation muss sich gerade auf einen kontroll- und interpretationsfähigen Verfassungsteil beziehen. In Deutschland wäre das nicht der Fall bei einer Verankerung außerhalb der Verfassungsurkunde, während hingegen der französische Conseil Consitutionnel gerade daraus auch maßgeblich seinen „Bloc de Constitutionnalité“ gefertigt hat.68 Grundlegender und damit banal anmutend ist es jedoch, überhaupt ein konzeptuelles verfassungstheoretisches Verständnis von materiellen Verfassungsrevisionsgrenzen zu haben.69 Ausschließlich vor diesem Hintergrund funktioniert auch die tropische Ersetzungslogik Ewigkeit – Unveränderlichkeit.70 Am Ende dieser Zeilen amüsant treffend, spricht der Verfassungsrechtler Vedel in diesem Zusammenhang gar davon, dass sich hinter solch „supra-konstitutionellen“ Grenzen doch nichts anderes als Naturrecht verbärge.71 Literaturverzeichnis
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Zum „Bloc de Constitutionnalité“, der eben auch aus der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sowie der Präambel der Verfassung von 1946 besteht, s. Baranger (2018), 103–128. 69 Hier ist erneut das französische Gegenbeispiel in Form des Art. 28 der Menschenrechtserklärung der französischen Verfassung von 1793 anzuführen: „Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut assujettir à ses lois les générations futures.“ 70 Man mag damit diesen Aufsatz selbst als Parabel für die Fülle der gedanklich vollzogenen Wirkungszusammenhänge und der damit einhergehenden Risiken sehen. 71 Vedel (1993), 79, 87. 68
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Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht von Frau Prof. Dr. Susanne Lepsius, MA (Chicago) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der erkenntnistheoretischen Dimension der Ästhetik im Recht.
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG Zwischen zeitlicher Transzendenz und wandelnder Verfassungswirklichkeit
YURY SAFOKLOV
The “Eternity Clause” of Art. 79 para. 3 of the German Basic Law Between Temporal Transcendence and Changing Constitutional Realm Abstract: Time limits law, but also fills it with contents. At the same time, legal theory has been
attracted by the sphere of eternity since its very beginning. This theoretic cleavage received a practical outcome in Germany, where Art. 79 para. 3 of the German Basic Law, a regular, i. e. temporary constitutional norm, obliged the legislator to restrain from any altering of certain elements of the Constitution which consequently promoted to eternal constitutional principles. Still, contemporary evolution of social values and current geopolitical processes force to critically evaluate on the appropriateness of this so-called “eternity clause”. Keywords: constitutional law, Constitution of the Weimar Republic, German Basic Law, “eternity clause”, constitutional interpretation, constitutional change Schlagworte: Verfassungsrecht, Weimarer Reichsverfassung, Grundgesetz, „Ewigkeitsklausel“, Verfassungsinterpretation, Verfassungswandel
1. Einleitung
„… in aeterno, sed totum esse praesens“ – so formulierte einst Augustinus von Hippo das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit.1 Die Ewigkeit ist demnach keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern pure Gegenwart, die zwar aus sich heraus sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft hervorbringt, selbst aber stets unvergänglich und
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Augustine (1992), XI.11.13.
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unverändert, mithin zeitlos bleibt. Der Ewigkeit sind sämtliche zeitlichen Kategorien wesensgemäß fremd; nur im Inneren des Menschen erhalten die Ereignisse eine temporale Begrenzung.2 Im Grundgesetz ist die Kategorie Zeit indes stets präsent. Laut seiner Präambel gilt es unmittelbar mit seiner Verkündung für das gesamte Deutsche Volk. Darin kommt die Gegenwartsbezogenheit der Verfassung zum Ausdruck, die den grundrechtlichen Garantien, dem Herzstück des Grundgesetzes,3 ebenfalls immanent ist. Daneben findet die Zukunft ihren Ausdruck in Gestalt grundgesetzlicher Staatszielbestimmungen, während die Vergangenheit durch die Inkorporierung einzelner Artikel aus der Vorgängerverfassung von 1919 durch Art. 140 GG in Erscheinung tritt. Art. 79 Abs. 3 GG durchbricht die Zeitlichkeit des Grundgesetzes und betritt die Sphäre des Zeitlosen. Die sog. „Ewigkeitsklausel“ untersagt jegliche Änderungen der Verfassung, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden. Teilweise wird die Wirkung des Art. 79 Abs. 3 GG dergestalt verabsolutiert, dass das Änderungsverbot auf alle künftigen Verfassungsrevisionen und selbst auf die künftige Verfassunggebung erstreckt wird.4 Die verfassungstheoretischen und verfassungsgeschichtlichen Facetten dieses verfassungsrechtlichen Unikums wurden im Fachschrifttum umfassend wie vielseitig beleuchtet.5 Das Telos des Art. 79 Abs. 3 GG lässt sich zusammenfassend folgendermaßen formulieren: Nie wieder soll die demokratische Regierungsform durch eine Ein-Parteien- oder Ein-Mann-Herrschaft, die politische Mitwirkung der Länder durch die zentralistische Machtkonzentration, die staatliche Unterstützung bedürftiger Personen durch deren sozialdarwinistisch unterfütterte Vernachlässigung und die Menschenwürde als Kerngehalt aller Grundrechte6 durch die hoheitliche Instrumentalisierung des Menschen abgelöst werden. Doch so sehr der geschichtsbewusste Verstand den der „Ewigkeitsklausel“ zugrunde liegenden Argumenten auch beipflichtet, gehen die umfassenden sozialpolitischen Änderungen, die seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in nahezu allen Lebensbereichen eingetreten sind, am Verfassungsrecht nicht spurlos vorbei. Die Zeit holt die Ewigkeit also ein: Die in Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Prinzipien geraten ins Wanken, erodieren, verlieren den Nimbus ihrer Unabänderbarkeit. Die Frage, ob die „Ewigkeitsklausel“ das grundgesetzlich umrahmte „Ewige“ noch adäquat widerspiegelt oder
AaO., XI.28.37. So Bethge (2020), § 90 Rn. 3. So etwa Herdegen (2019), Art. 146 Rn. 49 ff.; Hillgruber (2019), Art. 146 Rn. 8 ff.; wohl auch Isensee (2014), § 258 Rn. 69 ff.; dagegen Tomuschat (1972), 108 m. w. N.; Bryde (2021), Art. 79 Rn. 33; Evers (1982), Art. 79 Abs. 3 Rn. 67. 5 Vgl. nur Kempen (1990), 354 ff.; Zacharias (2003), 57 ff.; Rode (2011), 105 ff. 6 Vgl. Isensee (2011), § 87 Rn. 100. 2 3 4
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
vielmehr ein eigenes, womöglich realitätsfernes „Verfassungsuniversum“ konstruiert, erscheint daher überaus diskussionswürdig. 2.
Die Problematik des „Ewigen Rechts“ im philosophischen Diskurs
Die Idee von unveränderlichen, ewige Gültigkeit beanspruchenden Gesetzen war in der Philosophie seit ihren Anfängen präsent. So findet sich bereits in der Nikomachischen Ethik Aristoteles’ eine subtile Unterscheidung zwischen dem wandelbaren Recht und dem weitgehend konstanten Rechts- bzw. Gerechtigkeitsbegriff. In dieser fundierten ethisch-pädagogischen Abhandlung wird das Gesetzmäßige und das Gerechte gleichgesetzt7 und die Existenz einer objektiven Rechtsordnung („natürliche Gerechtigkeit“) begründet, die der menschlichen Natur entspricht und daher als Maßstab für das gesamte gesetzte Recht („gesetzliche Gerechtigkeit“) fungiert.8 Für die Stoiker hat die „Gesetzmäßigkeit der Natur“ einen göttlichen Ursprung; sie kategorisiert zwischen dem Richtigen und dem Falschen und formuliert entsprechende Verhaltensgebote.9 Diese ordnende Kraft erhält später die Bezeichnung „Schicksal“ (fatum); der Grund ihrer Unvergänglichkeit wird in ihrer stetigen Bewegung erblickt.10 Die höchste ethische Maxime besteht in der Befolgung der Naturgesetze, die in der menschlichen Vernunft als Abbild der Weltvernunft verankert sind.11 Die unvermeidbare Folge des Eintritts in den Kampf gegen die Naturordnung besteht demzufolge darin, dass man sich selbst schädigt; das Naturgesetz als Objekt der Bekämpfung ist hingegen keiner Schädigung oder sonstigen Änderung zugänglich.12 Das philosophische Konzept Epikurs zeichnet sich dadurch aus, dass die Gerechtigkeit im Sinne einer vertragsähnlichen zwischenmenschlichen Vereinbarung gedeutet wird, andere Personen nicht zu schädigen und selbst nicht geschädigt zu werden.13 Im Übrigen wird der Begriff der Gerechtigkeit jedoch stark relativiert: sie sei nicht für alle Menschen dieselbe.14 Entscheidend für die Qualifikation von Handlungen als „gerecht“ oder „ungerecht“ ist deren Gemeinnützigkeit: einst als gerecht angesehene Taten werden in den Bereich des Ungerechten überführt, sofern sie für die Allgemeinheit keinen Nutzen mehr darstellen.15 Somit steht und fällt die Existenz der Gerechtigkeit
7 Aristoteles (2020), 80. 8 AaO., 91. 9 Vgl. Cicero (1990), 45. 10 Vgl. Theodoret (2015), 413. 11 Vgl. Laertius (1921), 38; Seneca (2016), 81. 12 Vgl. Marcus Aurelius (2010), 75 ff. 13 Epikur (2011), 251. 14 AaO. 15 AaO., 253.
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in der Vorstellung Epikurs mit der Existenz ihres Bezugsobjekts; ohne vertragsschließende Parteien gibt es keine Gerechtigkeit. Eine besonders ausführliche Befassung mit der Problematik des Ewigen Gesetzes und der Temporalität des Rechts findet sich im Opus Magnum von Thomas Aquinas – der Summa Theologiae.16 Der mittelalterliche Theologe stellt fest, dass die Gesetze zwar künftiges Verhalten regelten, zugleich aber auch insofern einen Gegenwartsbezug aufwiesen, als sie für die „Mitlebenden“ veröffentlicht würden.17 Der Regelungsgegenstand der Gesetze ist nach Thomas das irdische Zweckdienliche, welches niemals von Ewigkeit ist. Rechtsakte, die von der infolge des Sündenfalls begrenzten Vernunft des endlichen Menschen herrührten, seien mit dem Stempel der Unvollkommenheit behaftet und beinhalteten daher den „Makel“ des Endlichen18. Da sie den Gesetzmäßigkeiten des irdischen Zeitlaufs unterlägen, hätten sie keinen ewigen Bestand, sondern würden dauernd von anderen Gesetzen modifiziert, überholt und außer Kraft gesetzt19. Dies gelte jedoch nicht für das Gesetz, das vom ewigen Gott herrührt und die Existenz der Welt regelt. Einzig dieses Regelwerk bezeichnet Thomas als „Ewiges Gesetz“ (lex aeterna). Die zeitliche Transtendenz basiert auf teleologischen Erwägungen: das „Ewige Gesetz“ soll dem Menschen bei seiner Rückkehr zu Gott assistieren; in der synergischen Vereinigung von Schöpfer und Geschöpf findet es seine eschatologische Verwirklichung.20 Hugo Grotius übernimmt prima facie die Aristotel’sche Dichotomie natürliches Recht/gesetztes Recht, wobei er das Erstere als Inbegriff vernunftbasierter Normen aus der Welt der gottgeschaffenen Natur, das Letztere hingegen als die Gesamtheit der von Menschen stammender und daher wesensmäßig irrtumsanfälliger Bestimmungen versteht.21 Die Einzigartigkeit von Grotius’ Naturrechtskonzept besteht allerdings darin, dass die Objektivität der Naturordnung als eine derart unerschütterliche Konstante verstanden wird, dass sie selbst von ihrem Schöpfer nicht geändert werden kann.22 Der objektiven Essenz des Naturrechts steht die Subjektivität des gesetzten Rechts gegenüber, das inhaltlich beliebig geändert werden kann.23 Thomas Hobbes folgt in seinem politikphilosophischen Meilenstein „Leviathan“ ebenfalls dem naturrechtlichen Ansatz. Auch für ihn fußt das Naturrecht auf vernunftbasierten Geboten, die allerdings – dies ist die kennzeichnende Besonderheit der von der Vorstellung „bellum omnium erga omnes“ dominierten Soziologie Hobbes’ – alle-
Vgl. dazu Safoklov (2019), 251 (254 ff.). Vgl. Von Aquin (1888), 329. Vgl. Von Aquin (1996), 189. Vgl. Von Aquin (1888), 333. AaO., 330. Vgl. Grotius (1869), 73. Die Beschränkung der Allmacht Gottes wird damit begründet, dass es sich beim Recht nicht um einen physischen Gegenstand, sondern um ein abstrakt-gedankliches Konstrukt handelt; aaO, 74 f. 23 Vgl. aaO, 79. 16 17 18 19 20 21 22
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
samt dem Interesse der Selbsterhaltung unterstellt sind. Der unerträgliche Modus der feindseligen Koexistenz im vorzeitlichen Urzustand zwingt zur vertraglichen Vereinbarung einer obrigkeitlichen Gewalt (Staat), die Leben und Unversehrtheit garantiert und somit das Gebot des Naturgesetzes erfüllt.24 Das Naturgesetz ist für Hobbes „unveränderlich und ewig“, weil es der Erhaltung des bedeutendsten, das Menschenwesen konstituierenden und daher zeitlos relevanten Schutzguts der Werteskala – des menschlichen Lebens – dient.25 Auch Montesquieu behauptet die Existenz einer „ursprünglichen sinnvollen Vernunft“, deren Beziehungen zur Außenwelt durch Naturgesetze geregelt werden. Diese Vernunftgesetze wurzeln in der vorhistorischen Epoche und erstrecken ihre Wirkung auf sämtliche Zeitalter. Allerdings kann der Mensch, der ja mit einer eigenen Vernunft ausgestattet ist, kraft freier Willensentscheidung die Gesetze der Vernunft missachten, was Montesquieu zufolge einerseits seine begrenzte Einsichtsfähigkeit und andererseits seine essentielle Fehlbarkeit offenbart.26 Das Gegenteil des zeitlosen Naturrechts, das gesetzte Recht, entstehe mit der Formung menschlicher Gesellschaften, in denen die friedliche Koexistenz der Mitglieder durch die Verankerung verbindlicher Verhaltenspflichten garantiert werden müsste.27 3.
Die „Ewigkeit“ der Verfassung in rechtswissenschaftlichen Debatten der Weimarer Zeit
In Ermangelung einer in der Weimarer Reichverfassung (WRV) verankerten Ewigkeitsgarantie unterteilte sich der staatsrechtliche Sektor der Weimarer Rechtswissenschaft in der Frage, ob bestimmte Verfassungselemente von zeitlichen Geltungsbeschränkungen entbunden werden sollten, in zwei opponierende Meinungslager. Die Minderheitsmeinung, die insbesondere von Carl Schmitt vertreten wurde, behauptete, dass es einen unabänderlichen Verfassungskern geben müsse, um der gesamten Verfassung das stabilisierende „Rückgrat“ zu verleihen. Das zur Begründung dieser Auffassung eingesetzte Argumentationsinstrumentarium war gleichermaßen innovativ wie facettenreich. So unterschied Schmitt einerseits zwischen den Verfassungsgesetzen, worunter er die einzelnen Verfassungsbestimmungen gleich welchen Inhalts und Ranges verstanden hat, und der Verfassung, die er als Quintessenz des politischen Entscheidungsprozesses mit anschließender juristischer Manifestierung des Ergebnisses ansah.28 Schmitt zufolge können die Verfassungsgesetze beliebig geändert bzw. aufge-
24 25 26 27 28
Vgl. Hobbes (2011), 99. AaO, 121. Montesquieu (1950), 77 ff. AaO, 82. Vgl. Schmitt (2010), 11 f.
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hoben werden, sofern das vorgeschriebene verfassungsrechtliche Prozedere eingehalten wird. Die absolute Änderungsschranke bilde einzig die „Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen“, die niemals preisgegeben werden dürfe.29 Grundlegende politische Entscheidungen, die das Wesen der Verfassung ausmachten, seien ausschließlich plebiszitären Änderungen zugänglich, während parlamentarische Umgestaltungen der Verfassungssubstanz nicht möglich seien.30 Darüber hinaus verglich Schmitt die Kompetenz des Gesetzgebers zur Änderung der Verfassung mit anderen legislativen Kompetenzen und schlussfolgerte, dass die Verfassungsänderungskompetenz wie alle übrigen Kompetenzen begrenzt sein müsse.31 Demnach muss man änderungsfeste Verfassungsinhalte anerkennen, um zu verfassungslogisch notwendigen Schranken zu gelangen. Diese Schranken erblickte Schmitt u. a. im Verbot zur Änderung bzw. Ausweitung der Verfassungsänderungskompetenz sowie dem Verbot der Änderung der Staatsform.32 Mit all diesen Vorkehrungen versuchte Schmitt letztlich, der Gefahr der Entwurzelung bzw. Entsubstantivierung der Verfassung entgegenzuwirken.33 Dagegen plädierte die herrschende Auffassung für die beliebige Änderbarkeit der gesamten Verfassung ohne Rücksicht auf konkret in Rede stehende Inhalte und Schutzgüter.34 Zur Begründung wurde auf das Fehlen ausdrücklicher Begrenzungen der verfassungsändernden Gewalt in der WRV verwiesen.35 Ferner wurde ausgeführt, dass auch das Recht der demokratischen Selbstbestimmung, die dem Volk als Urheber aller Kompetenzen zukomme („plenitudo potestatis“), gegen die Limitierung der Verfassungsänderungsbefugnis streite: Das Volk müsse in der Lage sein, sich diejenige Verfassung zu geben, die es haben will, auch wenn dabei die geltende Verfassung außer Kraft gesetzt werde.36 Zudem wurde angemerkt, dass eine rechtsstaatlich aufgebaute Staatsordnung primär nicht auf die Bändigung des (Verfassungs-) Gesetzgebers, sondern auf die Bändigung von Verwaltung und Justiz abziele.37 Schließlich begegneten die Vertreter dieser Auffassung der Idee änderungsfester Verfassungsinhalte mit dem rechtspolitischen Gegenargument, wonach die Verfassung bei entsprechend ausgeprägtem Änderungswillen des Volks bzw. des Tyrannen trotz aller normierten Änderungsverbote dennoch geändert werden würde. Der große Nachteil einer solchen Ent-
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AaO, 103. AaO., 25 f. AaO., 102. AaO., 103 f. Vgl. Schmitt (1996), 113¸s. auch Bilfinger (1926), 163 (181). Vgl. etwa Stier-Somlo (1924), 665; Jellinek (1932), 182 (189). Thoma (1932), 108 (153). AaO., 108 (154). Anschütz (1933), Art. 76 Anm. 3; Thoma (1929), 1 (45).
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
wicklung bestehe in diesem Fall allerdings darin, dass die Rechtsidee an sich infolge der Missachtung geschriebener Regeln Schaden erleide.38 4.
Die Verankerung der „Ewigkeitsklausel“ im Grundgesetz
Der Verfassunggeber der Nachkriegszeit, der eine Antwort auf das schmerzliche „Trauma von Weimar“39 geben sollte, war von der Notwendigkeit einer grundgesetzlichen Änderungssperrbestimmung von Beginn an überzeugt.40 Die Erfahrung der verfassungstextlich gedeckten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten41 und die anschließende Errichtung einer totalitären Gewaltherrschaft unter dem Deckmantel der WRV führte zur allseits geteilten Einsicht, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung ungeachtet aller sozialpolitischen Entwicklungen erhalten bleiben sollte. In Abkehr von der in der Weimarer Rechtswissenschaft herrschenden Auffassung wurde erkannt, dass die Stabilität der Staatsordnung die Existenz absolut geschützter Verfassungsgüter zwingend voraussetzt. Die Aufgabe des Rechts wurde nunmehr in der „Erhaltung der Kontinuität im geschichtlichen Wandel“42 erblickt. Die Verfassung leistet somit dadurch ihren stabilisierenden Beitrag, dass sie die eigene formell-juristisch legale Selbstaufgabe43 verhindert. Ein entsprechendes Änderungsverbot enthielt bereits Art. 108 des vom Herrenchiemseer Konvents vorgelegten Verfassungsentwurfs.44 Im Parlamentarischen Rat wurde die Unabänderlichkeit der bundesstaatlichen Ordnung zunächst nicht in den Verfassungstext aufgenommen, stattdessen wurde für derartige Änderungen ein einstimmiger Beschluss des Bundesrats gefordert. Es wurde die Auffassung vertreten, dass das Einstimmigkeitserfordernis die faktische Unabänderbarkeit bedeute, weil in einem demokratischen Verfassungsorgan einstimmige Voten praktisch unmöglich seien.45 Im Laufe der Beratungen entschied man sich jedoch für die komplette Änderungsfestigkeit der Gliederung des Bundes in Länder und der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung (des Bundes).46 Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Staatsqualität der Bundesländer, die ihnen unmittelbar und nicht lediglich vermittels des Bundes zukomme, gebiete, dass diese originäre Staatlichkeit
Anschütz, aaO., Thoma, aaO., 1 (39 f.). So Hesse (1999), 289; Herdegen (2019), Art. 79 Rn. 64. Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 5. Bryde (2021), Art. 79 Rn. 32 So Hesse (1999), 292 f. Vgl. bereits Schmitt (2012), 50: „Selbstmord“. S. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, undatiert, 75. 45 Abg. Dr. Lehr (1951), 1 (580). 46 AaO., 1 (587); vgl. dazu Jestaedt (2004), § 29 Rn. 49 ff. 38 39 40 41 42 43 44
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auch nicht durch den Verfassunggeber entzogen werde.47 In der Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom Dezember 1948 wurden einzig Art. 1 und 21 (heute: 20) für änderungsfest erklärt, wobei der Schutz des Sozialstaatsprinzips erst nachträglich in den Verfassungstext aufgenommen wurde.48 5.
Die „Ewigkeitsklausel“ und die Herausforderung des bundesverfassungsgerichtlich artikulierten „Zeitgeists“
Angesichts der Tatsache, dass Änderungssperrbestimmungen älteren Verfassungsstaaten meist fremd sind49 und sich auch sonst nur in wenigen Verfassungstexten ähnliche Normen finden,50 wird die Sonderbarkeit der „Ewigkeitsklausel“ des deutschen Grundgesetzes mit Recht unterstrichen. Ihre Position an der Schnittstelle zwischen der Unberührbarkeit der einzelnen Verfassungsprinzipien und der grundgesetzlich intendierten Interpretationsoffenheit, mit welcher der Inhalt dieser Prinzipien bestimmt wird, macht sie wahrhaftig einzigartig.51 Das Zusammenspiel von grundsätzlicher Substanzwahrung und interpretatorischer Flexibilität schließt punktuelle Konkretisierungen der für unantastbar erklärten Verfassungsgrundsätze nicht aus, solange sie nicht restlos preisgegeben werden.52 Der sachliche Kerngehalt der in Art. 79 Abs. 3 GG enumerativ aufgezählten53 Prinzipien darf hingegen unter keinen Umständen verändert werden, sei es durch die komplette Streichung, Umformulierung oder sonstige Änderung.54 Nach dem sog. Berührungsverbot sind außerdem Verfassungsänderungen nicht gestattet, die zwar nicht unmittelbar den Bereich der unberührbaren Normen des Art. 79 Abs. 3 tangieren, jedoch dem normativen Gehalt der in Art. 79 Abs. 3 genannten Bereiche widersprechen.55 Mit der Ewigkeitsklausel sollen die geschützten Verfassungsgrundsätze indessen keine ewige Bestandsgarantie erhalten; nach der Intention des Verfassunggebers sollte mit ihrer Hilfe lediglich revolutionären Umsturzversuchen „der Vorwand der Legalität“ genommen werden.56 Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) charakterisiert Art. 79 Abs. 3 GG als eine Bestandsgewähr- und Verfassungsschutzbestimmung.57 Die „Ewigkeitsklausel“ 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
185. 57
Abg. Dr. Schwalber (1951), 1 (579). Vgl. Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 6. AaO., Art. 79 III Rn. 12. Vgl. Übersicht bei Evers (1982), Art. 79 Abs. 3 Rn. 23 ff. Herdegen (2019), Art. 79 Rn. 62. Vgl. Badura (2014), § 270 Rn. 33. BVerfGE 94, 12 (34). Dietlein (2019), Art. 79 Rn. 15.1. f. Vgl. Hain (2018), Art. 79 Abs. 3 Rn. 39. Abg. Dr. Dehler (1951), 1 (586); s. auch Hain, aaO, Art. 79 Abs. 3 Rn. 34; anders Siegenthaler (1970), BVerfGE 30, 1 (24).
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
soll also dafür sorgen, dass das Grundgerüst der Verfassung unverändert besteht und gegen Übergriffe jedweder Art geschützt ist. Allerdings finden sich in der jüngsten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Hinweise darauf, dass der nominell unberührbare Verfassungskern von einem schleichenden Erosionsprozess erfasst ist, also bereits gegenwärtig in seinem Bestand gefährdet, wenn nicht gar schon substantiell verändert ist. Bei konstant bleibender Entwicklungsrichtung der Judikatur wird das Festhalten an der verfassungstheoretischen Grundlage der „Ewigkeitsklausel“ zunehmend schwerer, in mittel- bis langfristiger Perspektive wird ihre Existenzberechtigung zweifellos in Frage gestellt. Es lohnt sich daher, sich den Standpunkt des BVerfG in Bezug auf die Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG anhand aktueller Entscheidungen zu vergegenwärtigen. 5.1
Die Suizidassistenz-Entscheidung
Im Februar 2020 befasste sich das BVerfG mit der Verfassungsmäßigkeit des strafrechtlichen Verbots geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung gemäß § 217 Abs. 1 StGB idF v. 10.12.2015. Die bundesverfassungsgerichtliche Prüfung erfolgte ausschließlich aus der Perspektive des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Sinne der Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG; der alternative Untersuchungsansatz der Lebensbeendigung als negative Freiheitsbetätigung im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wurde dagegen nicht in Betracht gezogen.58 Die Urteilsbegründung wurde auf der Prämisse aufgebaut, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Grundrechtsträger die Möglichkeit gewähre, über sich selbst in jeder Lebenslage zu verfügen. Denknotwendig schließt ein derart konzipiertes Selbstbestimmungsrecht die Entscheidung über die Fortführung bzw. Beendigung des eigenen Lebens ein.59 Nach Auffassung des Gerichts setzt die grundgesetzlich geforderte Achtung der persönlichen Selbstbestimmung die Anerkennung des Rechts auf freiwillige Lebensbeendigung zwingend voraus.60 Mit der Heranziehung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde die Realisierung des Sterbewunschs auf die änderungsfeste juristische Basis des Art. 1 Abs. 1 GG gestellt. Folglich wurde das Recht auf freiwillige Lebensbeendigung in den Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 GG, mithin den unverfügbaren Kernbestand des Grundgesetzes, eingegliedert. Den potentiellen Vorwurf, mit einer solchen Entscheidung das menschliche Leben, die „vitale Basis“ der Menschenwürde,61 zu gefährden, meint das Gericht mit der Behauptung entkräftet zu haben, die freie Entscheidung für die Beendigung des eigenen
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Vgl. dazu Fink (1992), 98. BVerfGE 153, 182 (260 ff.). AaO., 182 (261 f.). Vgl. BVerfGE 39, 1 (42).
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Lebens sei eine allseits zu achtende Manifestation der persönlichen Autonomie.62 Damit erhält der Sterbewille des Einzelnen den erdenklich höchsten verfassungsrechtlichen Status und siedelt nunmehr auf der obersten Schutzstufe des Grundgesetzes. Die die Ewigkeitsproblematik unmittelbar betreffende Wirkung des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils wirft ein grundlegendes axiologisches Problem auf. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde wurde bislang im Sinne ihrer ausnahmslosen Unverfügbarkeit verstanden, wovon etwa die Unmöglichkeit eines Verzichts auf die Menschenwürde63 zeugt. Die konstituierende Bedeutung der Menschenwürde für das grundrechtliche Wertesystem,64 die Staatsordnung65 und die Gesellschaft66 beruht maßgeblich auf der Prämisse der unerschütterlichen und bedingungslosen Geltung dieses systembildenden Verfassungsguts. Daraus folgt, dass jede Minderung seines hohen Schutzniveaus die Stabilität der Staats- und Gesellschaftsordnung insgesamt gefährdet. Jede Ausnahme reißt Lücken in den monolithischen Schutzschild des Grundgesetzes, welche wiederum weitere Lockerungen ermöglichen. Aus verständlichen Gründen sollten derartige Entwicklungen also unbedingt vermieden werden, wenn das bestehende Schutzkonzept nicht aus der Balance geraten soll. Doch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde die Pandora-Büchse geöffnet, weil damit die grundsätzliche Disponibilität der Menschenwürde offenbart wurde. Der Träger der Menschenwürde kann nunmehr den Zeitpunkt bestimmen, an dem die Existenz seiner Würde durch die Aufgabe ihrer „vitalen Basis“ enden soll. Die Annahme liegt nahe, dass diese Entscheidung im Ergebnis einem Verzicht auf die Menschenwürde gleichkommt, auch wenn de iure kein Verzichtsverfahren stattgefunden hat. Die Würde wird grundsätzlich verfügbar, sie verliert den absoluten, bedingungslosen Schutz der Rechtsordnung. Die Folgen einer solch signifikanten Grundsatzentscheidung sind im Einzelnen gegenwärtig nicht absehbar, haben jedoch in jedem Fall das Potential, den Wert der Würde zu relativieren und ihr Schutzniveau zu schwächen. Aufgrund der soeben geschilderten staats- und gesellschaftstragenden Rolle der Menschenwürde kann die Begründung, wonach es sich beim Sterbeentschluss um einen allseits zu achtenden Selbstbestimmungsakt handele, nicht greifen.67 Denn der Bestand der Staats- und Gesellschaftsordnung darf nicht zur Disposition des Einzelnen gestellt, die individuelle Selbstbestimmung nicht als Zerstörungskatalysator missbraucht werden. Dies gilt umso mehr, als weitere Relativierungen des Würdeschutzes als Folgen des bundesverfassungsgerichtlichen Befunds überaus wahrscheinlich erscheinen. So können nach der Etablierung des „Rechts auf den Tod“ neben dem ausdrücklich ge-
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BVerfGE 153, 182 (263 f.). Vgl. statt vieler BVerfGE 45, 187 (229); Stern (2006), 92. Vgl. BVerfGE 7, 198 (205). Vgl. Heinig (2019), 129 (133). Vgl. Häberle (2004), § 22 Rn. 59. Vgl. Safoklov (2020), 92 (102).
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
äußerten Sterbewunsch auch konkludente bzw. mutmaßliche Willenserklärungen anerkannt werden, die als Selbsttötungsverlangen gedeutet werden68 und entsprechende Unterstützungspflichten des Staates auslösen.69 Die Öffnung der Menschenwürde für den Zugriff Dritter wird den von Art. 79 Abs. 3 GG gewährten „ewigen“ Schutz unweigerlich aufweichen, schwächen und letztlich endgültig aufheben. 5.2
Das PSPP-Urteil
Das sog. PSPP-Urteil, in welchem das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit der Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (Public Sector Purchase Programme – PSPP) zu entscheiden hatte, zeichnet sich dadurch aus, dass darin das vom BVerfG in den Entscheidungen zu den Verträgen von Maastricht70 und Lissabon71 verankerte Kontrollverfahren über die Einhaltung der der Europäischen Union übertragenen Kompetenzen erstmals zum Befund eines „ausbrechenden Rechtsakts“ (ultra vires) geführt hat. Das Gericht hat seine Befugnis zu einer derartigen Kontrolle auf die Prämisse gestützt, dass der supranationale „Staatenverbund“72 nur insoweit tätig werden darf, wie ihm dies von den Mitgliedstaaten unionsvertraglich gestattet wurde.73 Die Kopplung des Unionshandelns an die Zustimmung der Mitgliedstaaten wurde wiederum unter Berufung auf Art. 20 Abs. 2 GG begründet, wonach sämtliches hoheitliche Handeln durch den Willen des Volks als höchsten Souveräns legitimiert werden muss. Da das Demokratieprinzip zum unabänderlichen Verfassungsbestand im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG gehört, duldet das Legitimationserfordernis keine Ausnahmen, was zur Folge hat, dass es nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auch dann gilt, wenn die deutsche öffentliche Gewalt ihre Befugnisse nicht selbst ausübt, sondern diese an ein außerhalb der deutschen Rechtsordnung befindliches – supranationales – Organ abgibt.74 Aus diesem Blickwinkel erscheint die Schlussfolgerung, dass die letztinstanzliche Bestimmung des der Europäischen Union delegierten Kompetenzgehalts den Mitgliedstaaten zusteht, logisch zwingend, weil allein das nationale Gericht „im Namen des Volkes“ entscheiden und den Willen des Souveräns verbindlich feststellen kann. Indessen handhabt das BVerfG seine Prüfungszuständigkeit in überaus restriktiver Weise und qualifiziert daher nur solche Maßnahmen der Union als ultra vires, die
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Ähnlich Eibach (2004), 38 (42). Vgl. BVerwGE 158, 142 (154 f.). BVerfGE 89, 155. BVerfGE 123, 267. Eingehend zum Begriff vgl. Kirchhof (2012), § 214 Rn. 1 ff. BVerfGE 89, 155 (199). BVerfGE 123, 267 (356 ff.).
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die mitgliedstaatlich eingeräumten Handlungskompetenzen offensichtlich und gravierend überschreiten.75 Diese Auffassung wird von den Unionsorganen – durchaus erwartungsgemäß – abgelehnt. Diese gehen vielmehr davon aus, dass die Mitgliedstaaten durch die Errichtung der Europäischen Union eine Rechtsordnung sui generis geschaffen haben, in welcher die Union über eine umfassende Handlungs- und Deutungshoheit verfügt, die auch die Auslegung der eigenen Zuständigkeiten und Handlungsermächtigungen einschließt. Daher stehe den Mitgliedstaaten das Recht der Kompetenzüberwachung nicht zu, vielmehr werde diese Aufgabe von der Union selbst, allen voran dem EuGH, wahrgenommen.76 Das PSPP-Urteil stellt eine anschauliche Illustration dieses Jurisdiktionsstreits dar. Das BVerfG erblickte das offensichtlich kompetenzwidrige Handeln der Union darin, dass der EuGH die Bedeutung und Tragweite des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Beurteilung der Unionsrechtmäßigkeit des PSPP-Programms der EZB offensichtlich verkannt und seine Entscheidung infolge der Nichtberücksichtigung der vom PSPP-Programm ausgehenden tatsächlichen Auswirkungen in methodisch nicht vertretbarer Weise getroffen hat.77 Da die Maßnahmen der EZB im Rahmen des PSPP ebenfalls für kompetenzwidrig befunden wurden78 und der EuGH den Kompetenzverstoß durch die fehlerhafte Handhabung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zu heilen vermochte, wurde der Vorwurf der Kompetenzwidrigkeit auf die Entscheidung des EuGH ausgeweitet. Daraus resultierte ein Verstoß gegen das unionsrechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV, was wiederum gegen das durch die „Ewigkeitsklausel“ geschützte Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG verstößt.79 In zeitnah veröffentlichter Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG äußerten Angehörige diverser Unionsorgane ihre Unterstützung für die EZB und den EuGH sowie ihre Entschlossenheit, Sanktionen gegen Deutschland einzuleiten, falls es das PSPPProgramm nicht innerstaatlich umsetzt.80 Die offiziellen Vertreter der Union machten unmissverständlich klar, dass der unionsweite Einfluss der grundgesetzlichen Ewigkeitsklausel nicht toleriert werde und auch die Ergebnisse der bundesverfassungsgerichtlichen Kompetenzkontrolle nicht anerkannt würden. Zwar mündeten all diese Ankündigungen bislang in keine konkreten rechtlichen Schritte, insbesondere wurde das angedrohte Vertragsverletzungsverfahren81 nicht in Gang gesetzt. Dennoch ofBVerfGE 126, 286 (304); 142, 123 (200). Vgl. bereits EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269). BVerfGE 154, 17 (96, 108 ff.). BVerfGE 154, 17 (122 ff.). BVerfGE 154, 17 (118). S. Erklärung der Kommissionspräsidentin von der Leyen, https://ec.europa.eu/commission/press corner/detail/de/STATEMENT_20_846; letzter Abruf: 15.03.2021. 81 Vgl. dazu Hilpold (2020), 181; Ludwigs/Sikora (2020), Heft 03, Umschlagteil I. 75 76 77 78 79 80
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
fenbart die Auseinandersetzung ein nach dem gegenwärtigen Rechtsprechungsstand unlösbares Dilemma: ein Vertragsverletzungsverfahren zur Durchsetzung unionsvertraglich verankerte Mitwirkungspflichten hätte Deutschland zur Missachtung der grundgesetzlichen Vorgaben in ihrer vom BVerfG gegebenen Interpretation verpflichtet.82 Ein solches Verhalten wäre jedoch wegen des Prinzips des Vorrangs der Verfassung rechtlich nicht erfüllbar.83 In Anbetracht der langen Vorgeschichte der Auseinandersetzung zwischen dem BVerfG und dem EuGH erscheint die These, wonach ein „funktionierendes Kooperationsverhältnis“ niemals existiert habe,84 durchaus vertretbar, weshalb die Fortsetzung des im Kampf um politische Entscheidungsmacht wurzelnden Konfrontationskurses keine allzu gewagte Prognose darstellt. Unter Berücksichtigung des deutlich steigenden Souveränitätsbestrebens der Europäischen Union85 einerseits und des vom BVerfG vertretenen staatszentrierten Demokratieverständnisses86 andererseits lässt sich daher von einem systemischen Konflikt sprechen.87 Da der herrschende geopolitische Globalisierungstrend, der sich in Europa in Gestalt zentripetaler Supranationalisierung manifestiert, aller Voraussicht nach trotz pandemiebedingter Renationalisierungstendenzen fortwirken wird, kann sich die höchstrichterlich zementierte Meinungsdivergenz nur zu Lasten der Mitgliedstaaten auflösen. Das bundesverfassungsgerichtliche Demokratiekonzept, welches aufgrund des Art. 79 Abs. 3 GG als unerschütterlich gilt, wird einem Änderungs- bzw. Modifikationsprozess unterworfen, der den „Schutzschild“ der Ewigkeit früher oder später zerstören wird. 5.3
Die Recht auf Vergessen-Beschlüsse
Die Beschlüsse des BVerfG in den sog. „Recht auf Vergessen“-Verfahren88 markierten einen verfassungsprozessrechtlichen Paradigmenwechsel. Während bislang die Grundrechte des Grundgesetzes den alleinigen Prüfungsmaßstab bildeten, bezog das Gericht in diesen auf zwei Verfassungsbeschwerden ergangenen Entscheidungen, die inhaltlich den Anspruch auf Löschung personenbezogener Daten aus elektronischen Datenbanken zum Gegenstand hatten, die Unionsgrundrechte erstmals in seine Betrachtung ein. Dieser Schritt war nach Auffassung des Gerichts zwecks Schließung von Schutzlücken notwendig, die der Grundrechtsschutz allein am Maßstab der Grund-
82 83 84 85 86 87 88
Zu den möglichen Auswirkungen eines solchen Verfahrens vgl. Wegener (2020), 347 (356). Vgl. Kirchhof (2020), 2057 (2062); s. auch Nettesheim (2020), 1631. Ludwigs (2020), 530; s. auch Kahl (2020), 824 (827). Vgl. Kirchmair (2021), 28 (31 ff.). Vgl. Kainer (2020), 533 (534); s. auch Haack (2020), 286 (287). Vgl. auch Kirchhof (2020), 2057 (2061): „Grundkonflikt“. BVerfGE 152, 152 („Recht auf Vergessen I“); 152, 216 („Recht auf Vergessen II“).
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rechte des Grundgesetzes in bestimmten Konstellationen hinterlasse.89 Sofern das Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh durchgeführt werde und konkrete und hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen von Schutzmängeln gegeben seien, müsse auch anhand der Grundrechte der Europäischen Grundrechte-Charta geprüft werden. Auf diese Weise werde das BVerfG seiner aus Art. 23 Abs. 1 i. V. m. Art. 93 ff. GG resultierenden Verantwortung für die Gewährleistung eines angemessenen Grundrechtsschutzes auf dem Bundesgebiet, aber auch für die Verwirklichung der Europäischen Union im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG gerecht.90 Nur wenn die Auslegung der Unionsgrundrechte im Einzelfall fraglich sei, müsse ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV eingeleitet werden.91 Aus der Perspektive des Individualrechtsschutzes ist die Errungenschaft dieses Befunds darin zu sehen, dass sich der Einzelne nunmehr vor dem Bundesverfassungsgericht unmittelbar auf die Unionsgrundrechte berufen kann.92 Der Beitritt des höchsten deutschen Verfassungsgerichts zur europäischen Grundrechtsrechtsprechungsbühne wurde zum Teil positiv bewertet.93 So wird etwa das Hineinlesen der deutschen Grundrechtsdogmatik teils als Zielvorgabe für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des europäischen Grundrechtsschutzes bestimmt.94 Unzweifelhaft fördert das bundesverfassungsgerichtliche Engagement für die Achtung der Unionsgrundrechte das Ineinandergreifen und gegenseitige Beeinflussung deutscher und europäischer Verfassungskulturen; im deutschen Fachschrifttum wird sogar vereinzelt für die Anwendbarkeit der deutschen Grundrechte auch in vollharmonisierten Bereichen des Unionsrechts plädiert.95 Allerdings lässt sich kaum bestreiten, dass der deutsche und der europäische Grundrechtsschutz deutliche, bisweilen konzeptuelle Divergenzen aufweisen.96 Dies kann nicht nur anhand der vorstehend besprochenen Demokratieproblematik, sondern etwa auch am Beispiel der staatsrechtlichen Kontroverse im Fall Egenberger,97 nachgewiesen werden. Interpretationskonflikte sind also systemisch vorprogrammiert und werden sich in Gerichtsverfahren vor dem BVerfG und dem EuGH entladen. Der verfassungsrichterlich initiierte Erdrutsch im Verhältnis zwischen der grundgesetzlichen und der unionalen Grundrechtssphären weist neben vielen anderen Implikationen einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Problematik der Ewigkeitsklausel auf. Sollte es nämlich in der Rechtsprechungspraxis des BVerfG tatsächlich einmal
89 90 91 92 93 94 95 96 97
BVerfGE 152, 152 (179 ff.). BVerfGE 152, 216 (238 ff.). BVerfGE 152, 216 (244). BVerfGE 152, 152 (183). Vgl. etwa Karpenstein/Kottmann (2020), 185 (188). AaO. Vgl. etwa Classen (2021), 92 (99 f.). Vgl. aaO., 92 (101 f.). Vgl. statt vieler Unruh (2019), 188 ff.
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
dazu kommen, dass ein Sachverhalt am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft wird, wird sich das Gericht bei der Entscheidungsfindung naturgemäß des Interpretationsarsenals der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft bedienen, zu dem u. a. die Vorstellung von einem unantastbaren Verfassungskern gehört. Andere EU-Mitgliedstaaten, in denen entweder die Souveränität des Legislativorgans wertesystematisch über den Geltungsanspruch der Verfassung gestellt wird oder die Idee von der Unabänderbarkeit der Verfassung mangels traumatischer historischer Erfahrungen schlicht nicht vorhanden ist, werden die Befunde des deutschen Verfassungsgerichts aller Voraussicht nach nicht teilen. Der Aufstieg der deutschen Ewigkeitsdogmatik in den Rang einer gemeinsamen Verfassungsüberlieferung im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV wird also kaum stattfinden. Auch ein Widerspruch des EuGH, der, wie soeben ausgeführt, der Vorstellung unveränderlicher Elemente nationaler Verfassungen skeptisch gegenüber steht, erscheint durchaus wahrscheinlich. Somit lässt sich prognostizieren, dass der Versuch, die grundgesetzliche Ewigkeitsklausel samt der dazugehörigen historisch geprägten Begründungskonzepte in das europäische Verfassungsrecht zu transplantieren, angesichts massiver Vorbehalte voraussichtlich scheitern wird. Wenn also das BVerfG, wie es in den Recht auf Vergessen-Beschlüssen ausführte, dem System des europäischen Grundrechtsschutzes ernsthaft beitreten will, wird es auf die Idee eines unveränderbaren Verfassungsbestands verzichten müssen. 6.
Rettung der „Ewigkeitsklausel“ durch verfassungsinterpretatorische Anpassung?
Die aufgezeigten Konfliktlagen lassen sich möglicherweise dadurch lösen, dass der Schutzgehalt der von Art. 79 Abs. 3 erfassten Verfassungsgüter eine interpretatorische Anpassung erfährt. Unter Rückgriff auf verfassungsvergleichende Erkenntnisse ließe sich wohl eine Kompromisslösung ermitteln, die sowohl auf der politischen Ebene der europäischen Staatengemeinschaft als auch im justiziellen Bereich des vereinten Europas Bestand haben könnte. Denkbar wäre etwa eine Abkehr vom unbedingten Schutz der deutschen Staatlichkeit und die schrittweise Hinwendung zum Konzept eines gesamteuropäischen Bundesstaates.98 Mit einer solchen Entscheidung ginge ein teilweiser Verzicht auf die Ausübung der verfassungsrichterlichen Jurisdiktion, mithin eine Rückkehr zum Rechtssprechungsstand vor der Maastricht-Entscheidung, einher. Frei gewordene Entscheidungsbefugnisse würden dabei entweder dem europäischen Spruchkörper oder dem nationalen Gesetzgeber übertragen. Hinsichtlich der Problematik des grundrechtlichen Menschenwürdegehalts böte sich eine grundlegende In diese Richtung s. etwa Das Programm der Freien Demokraten zur Europawahl 2019, 24 f. (https:// www.fdp.de/sites/default/files/uploads/2019/04/30/fdp-europa-wahlprogramm-a5.pdf; letzter Abruf: 15.03.2021); aus verfassungsrechtlicher Perspektive zust. Lenz (2012). 98
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Änderung des Deutungsmusters an, das die Menschenwürde nicht mehr als eine subjektiv-rechtliche, prozessual einklagbare Garantie, sondern als objektiv-rechtliches Grundprinzip, gewissermaßen den „Geist der Verfassung“ versteht. Da es sich bei der Menschenwürde nach zutreffender Beobachtung um eine Idee handelt, die zur Lösung praktischer Probleme nicht tauge,99 lässt sie sich von einzelnen Grundrechtskonflikten ohne weiteres abstrahieren und in den Rang eines objektiv-rechtlichen Verbots menschenunwürdiger Behandlung erheben, während ihre spezifischen Sinngehalte im Rahmen der einzelnen Grundrechte konkretisiert werden. Mit der Entfernung der Menschenwürde aus dem Bestand der subjektiv-rechtlichen Garantien könnten zermürbende, jedoch letztlich stets ergebnislose Streitigkeiten vermieden werden, in deren Verlauf jeder der Opponenten das „Totschlagargument“ der Menschenwürde für seine Position reklamiert und die Gegenauffassung als Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie stigmatisiert und damit jegliche sachliche Auseinandersetzung unmöglich macht. Diese Vorschläge kontrastieren jedoch offensichtlich mit der Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Auffassung in der Literatur. Dort wird übereinstimmend die erdenklich restriktive Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG befürwortet,100 was sowohl der Lockerung des Staatlichkeitsschutzes als auch dem konzeptuellen Umdenken in Bezug auf die Menschenwürde im Wege steht. Die Angst vor dem Kontrollverlust im europäischen Institutionengefüge und das historisch bedingte Festhalten am subjektiv-rechtlichen Charakter der Menschenwürdegarantie stellen gewichtige verfassungskonzeptuelle Stolpersteine dar, die unter den gegenwärtigen Gegebenheiten wohl nicht überwunden werden können. Aber selbst im – zur Zeit rein hypothetisch denkbaren – Fall, dass das BVerfG sein Verständnis von der „Ewigkeitsklausel“ als einer Notbremse gegen ausufernde europäische Integration aufgäbe und sich zur Auflösung der bestehenden Spannungen auf die Rechtsprechungslinie des EuGH stellte, wäre ein solches Nachgeben zur Rettung des Art. 79 Abs. 3 GG nicht erfolgsversprechend. Das aus einem solchen Schritt resultierende konzeptuelle Umdenken ließe nicht mehr von einem „Verfassungswandel“, also einer verfassungsgeistlich tolerierten Inhaltsänderung ohne Textänderung,101 sprechen. Vielmehr hätte dies die Verlagerung des Grundrechts- und Staatsprinzipienschutzes auf die europäische Ebene zur Folge, was die einst unveränderliche Verfassungsbestimmung auf lange Sicht zu einer inhaltsleeren „Hülle“ verkommen ließe.
99 Vgl. Isensee (2011), § 87 Rn. 117; ders. (2016), 231 ff.; Kunig/Kotzur (2021), Art. 1 Rn. 32. 100 BVerfGE 109, 279 (310); Herdegen (2019), Art. 79 Rn. 80; Kment (2020), Art. 79 Rn. 9; Rubel (2002),
Art. 79 Rn. 26. 101 Vgl. dazu Bryde (2021), Art. 79, Rn. 12 ff.
Die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG
7.
Fazit: Die Revision der „Ewigkeitsklausel“ ist unvermeidbar
Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass die de constitutione lata änderungsresistenten Verfassungssäulen aus Art. 79 Abs. 3 GG de facto bereits umfangreiche Änderungen erfahren haben. Geopolitische sowie soziokulturelle Entwicklungstendenzen führen zu einer Erosion des verfassungsdogmatischen Fundaments der deutschen Staatsordnung. Dies kann indes kaum verwundern, wenn die enorme Aufwertung der individuellen Persönlichkeitsentfaltung einschließlich umfassender Selbstbestimmungsrechte und die Konzentration der politischen Macht in den Händen der „global players“ in Betracht gezogen wird. Die Akzentverschiebung, die den Grundrechtsträger an die Stelle des Hoheitsträgers im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Werteordnung geschoben hat, führte zu einer Versubjektivierung der grundrechtlich geschützten Positionen, die zur uneingeschränkten Verfügung der Schutzsubjekte gestellt wurden. Damit ging der schleichende Rückzug des objektiv-rechtlichen Verfassungsgehalts einher, welcher einstweilen zwecks Sicherung der Staatsordnung und Gesellschaftsordnung anerkannt wurde. Kollektive Interessen und Gemeinwohlbelange treten zunehmend hinter die individuellen Ansprüche zurück. Auch kann das Interesse an der Erhaltung der verfassungsrechtlich verankerten Staatsprinzipien der Vereinbarung neuer und der Auffrischung alter Staatsallianzen, von denen sich die Beteiligten ein höheres Verteidigungs- und Einflusspotential versprechen, kaum standhalten. Trotz dieser Beobachtungen erscheint die Streichung der „Ewigkeitsklausel“ selbst in langfristiger Perspektive unwahrscheinlich. Ihre Unabänderbarkeit wird von der absoluten Mehrheit im Fachschrifttum befürwortet und mit dem Argument der Normlogik begründet, demzufolge die Verfassungsgüter des Art. 79 Abs. 3 GG keinen zeitlosen Schutz genießen könnten, wenn diese Bestimmung selbst nicht absolut unantastbar und änderungsfest sei.102 Ebenso sicher ist aber auch, dass sie schon jetzt auf einem in vielerlei Hinsicht überkommenen Welt- und Wertbild aufbaut und herrschenden geopolitischen und soziokulturellen Gegebenheiten widerspricht. Aus diesem Grund kann sie auf lange Sicht nicht unverändert bleiben, wenn sie infolge einer immer größer werdenden Diskrepanz zwischen ihrem Wortlaut und der Verfassungswirklichkeit nicht jegliche Anwendungsrelevanz einbüßen soll. Eine grundlegende Debatte über die Gegenwartsadäquanz der „Ewigkeitsklausel“ ist also unvermeidbar, genauso wie die anschließende textliche Anpassung. Welche Ausgestaltung diese Revision auch annehmen wird, sie wird die philosophische These von der zeitlich begrenzten Geltung allen menschengesetzten Rechts letztlich bestätigen.
102
Dietlein (2019), Art. 79 Rn. 20; Kment (2020), Art. 79 Rn. 19; Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 59.
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Literaturverzeichnis
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Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht, Prof. Dr. Andreas Haratsch, FernUniversität in Hagen.
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Erinnerung als Durchbrechung der Zeit Gibt es eine Verantwortung für historisches Unrecht?
SVEN DOS SANTOS LOPES
Memory as a Breach in Time Do we have a Responsibility for past Injustices? Abstract: The question of responsibility for past injustices has been the subject of political and ac-
ademic discussion since the Second World War. In recent years, it has been extended to collective memory. German as well as international courts appeal to a vague concept of responsibility when dealing with laws that regulate collective memory. Based on the works of Assmann and Halbwachs, we can derive a responsibility to remember from constitutional principles. This approach makes it possible to overcome the common problems associated with collective responsibility by attributing to institutional actors and thus creating a legal framework for making and evaluating legislative and judicial decisions. Keywords: collective memory, collective responsibility, memory laws Schlagworte: Erinnerungskultur, historische Verantwortung, kollektives Gedächtnis
1.
Einleitung: Historische Verantwortung als rechtliches Prinzip?
Die Frage nach historischer Verantwortung wird in der Literatur und Praxis unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Oftmals geht es dabei um Reparationen oder Ausgleichsforderungen. Zentrales Problem ist regelmäßig die Begründung einer Verantwortung für begangenes historisches Unrecht auch über verschiedene Generationen hinweg. Dieser Beitrag soll eine andere Form historischer Verantwortung behandeln. Es geht um die Frage, ob historische Verbrechen von gravierendem Ausmaß gesellschaftlich erinnert werden müssen. In Deutschland wurde diese Frage in Bezug auf den Holocaust bereits oft gestellt und sie ist weiterhin Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Diskussion. Sie hat sich jedenfalls indirekt auch auf die Rechtsordnung niedergeschlagen. Für den Ausgleich von Schäden oder sonstigen Kompensa-
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tionen im Kontext des Zweiten Weltkrieges wurden juristische Rahmenbedingungen geschaffen.1 Eine historische Verantwortung als Grundlage für kollektive Erinnerung ist dem Recht jedoch fremd. Nichtsdestotrotz finden sich Regelungen und Urteile, die eine solche Verantwortung vorauszusetzen scheinen. Das Verbot der Holocaustleugnung in § 130 Abs. 3 StGB und dessen verfassungsrechtliche Überprüfung lassen sich als Ausdruck einer Verantwortlichkeit für die nationale Vergangenheit werten. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Zulässigkeit mit einer Ausnahme zur Sonderrechtslehre begründet.2 Parallel dazu stehen auch Gedenkorte an den Holocaust unter besonderem Schutz. § 15 Abs. 2 VersG erlaubt Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, wenn eine Veranstaltung in räumlicher Nähe zu einem bestimmten Ort mit symbolischer Bedeutung für die Opfer der nationalsozialistischen Gewalt stattfindet. Im Jahr 2009 bestätigte etwa das Bundesverfassungsgericht, dass der Vergleich zwischen Holocaust und Massentierhaltung zum Zwecke des Tierschutzes unzulässig sei und dass es „zum personalen Selbstverständnis der heute in Deutschland lebenden Juden gehöre, als zugehörig zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller anderen bestehe.“3 Diese besondere „moralische“ Verantwortung ist jedoch spätestens mit ihrer Relevanz für die Einschränkung der Meinungsfreiheit auch eine rechtliche. Der EGMR bestätigte diese Entscheidung und sah eine besondere Verantwortung Deutschlands, welche sich aus einem historisch-sozialen Kontext ergäbe.4 Mit einer ähnlichen Begründung bestätigte er auch die Zulässigkeit von Verboten der Holocaustleugnung wie § 130 Abs. 3 StGB.5 Daran ist bemerkenswert, dass der EGMR für die Zulässigkeit solcher Verbote explizit auf den historischen Kontext abstellt. Leugnungsverbote in Ländern, die keine Verbindung zum jeweiligen Unrecht haben, sind unzulässig.6 Die Rechtsordnung regelt in diesen Fällen keine Fragen von Schuld oder Ausgleich, sondern reguliert den Umgang mit der nationalen Vergangenheit. Die Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit schließt bestimmte Meinungen und Einstellungen aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Gleichzeitig wird die Erinnerung an den Holocaust durch die staatliche Erinnerungspolitik regelmäßig affirmiert. Mahnmäler, Gedenktage oder der Geschichtsunterricht an Schulen verfolgen auch das Ziel, das Ereignis als Unrecht im kollektiven Bewusstsein zu halten. Letztlich geht es darum, wie eine Gesellschaft in der Gegenwart und mit Perspektive auf die Zukunft mit historischen Verbrechen umgeht. Eine Verantwortung, die Grundrechtseinschränkungen Dazu ausführlich bei Hockerts (2001), 167–214. BVerfGE 124, 300 (328 ff.). BVerfG, NJW 2009, 3089 (3091); Dazu auch BVerfGE 90, 241; BGH, NJW 1980, 45 (56). EGMR, Urt. v. 08.11.2012 – 43481/09 (PETA v. Germany), Rn. 47 ff. EGMR, Urt. v. 20.04.1999 – 41448/98 (Witzsch v. Germany I); EGMR, Urt. v. 24.06.2003 – 65831/01 (Garaudy v. France), Nr. I. 2. (i). 6 EGMR, Urt. v. 15.10.2015 – 27510/08 (Perinçek v. Switzerland), Rn. 243. 1 2 3 4 5
Erinnerung als Durchbrechung der Zeit
ermöglicht und staatliche Erinnerungspolitik leitet, darf nicht vorausgesetzt, sondern muss begründet werden. Mit dem Versterben der Zeitzeugen gewinnt die Frage der Erinnerung an den Holocaust zusätzlich an Relevanz. Welchen Platz muss eine Gesellschaft einem Ereignis einräumen, an welches sich niemand persönlich erinnert? Wenn Täter und Opfer bereits verstorben sind, steht die Zeit als unüberwindbare ontologische Tatsache zwischen dem historischen Unrecht und der Gegenwart. 2.
Die Vergangenheit in der Gegenwart
Die Schwierigkeit historischer Verantwortung liegt in der Begründung. Sie setzt in der Vergangenheit an und soll die Gegenwart verpflichten. Die klassischen Zurechnungssysteme scheitern, sobald die ursprünglichen Akteure nicht länger handeln können. Das Versterben der Zeitzeugen bedeutet auch ein Versterben der ursprünglichen Täter. Schuld und Folgenverantwortung können einen Generationswechsel nicht transzendieren. Sie bleiben stets persönlich. Dennoch entfaltet die Vergangenheit in der Gegenwart als ihre objektiv-kausale Bedingung einerseits und subjektive Erinnerung andererseits noch Relevanz. Insoweit betrifft die Frage nach einer historischen Verantwortung nicht die abgeschlossene Vergangenheit. Vielmehr geht es gerade um den Umgang mit dieser Vergangenheit in der Gegenwart. Der Bezugspunkt ist nicht das Unrecht selbst, sondern die Erinnerung als ein gegenwärtiges Moment. Es ist daher notwendig, Erinnerung nicht nur als individuelles, sondern als soziales Phänomen zu begreifen. Auch Gruppen und Kollektive besitzen eine Form von Gedächtnis. Es sind diese kollektiven Erinnerungsprozesse, die durch Normen wie § 130 Abs. 3 StGB reguliert werden. Um einen Begründungsansatz für historische Verantwortung zu entwickeln, ist zunächst eine genauere Betrachtung dieser Prozesse notwendig. 2.1
Zur Theorie des kulturellen Gedächtnisses
Anfang des 20. Jahrhunderts entwarf Maurice Halbwachs die Theorie des kollektiven Gedächtnisses.7 Für Halbwachs stellt sich Erinnerung als sozialer, kollektiver Prozess dar. Der soziale Faktor liegt zunächst in der Verbindung von individueller Erinnerung und gesellschaftlichem Referenzrahmen. Vergangene Ereignisse können im Gedächtnis nur festgehalten werden, indem sie in einen Bezug zur Umwelt gesetzt werden. Sie werden an Orte, Zeitpunkte, soziale Situation und beteiligte Menschen gebunden. Halbwachs bezeichnet diese soziale Struktur und das gesellschaftlich vermittelte SysSein Hauptwerk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Les cadres sociaux de la mémoire) erschien erstmals 1925 in der ersten Ausgabe der von Emile Durkheim gegründeten Travaux de l’Année sociologique. 7
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tem als Bezugsrahmen.8 Dieser Bezugsrahmen kann aus den familiären Strukturen, sozialen Gruppen, kollektiv geteilten Erfahrungen, dem Wohnort und den Mitmenschen bestehen. Die Gesellschaft liefert die Mittel, um das vom Individuum Erlebte zu ordnen und zu systematisieren. Die Wahrnehmung der Welt ist das Ergebnis kultureller Bedeutungszuschreibung. Ohne das komplexe Bild gesellschaftlicher Erkenntnis- und Bezugswerkzeuge wäre Erinnerung kaum möglich.9 Verschwinden oder verändern sich diese Umweltfaktoren, kann dies den Erinnerungsprozess stören.10 Der Bezugsrahmen stellt eine Form übergeordneter sozialer Struktur dar, an der sich Individuen und Kollektive als Bestandteile der Gesellschaft orientieren. Historisches Unrecht kann als Ereignis der Vergangenheit nicht allein über individuelle Gedächtnisleistungen erfasst werden. Stattdessen ist darin ein gesellschaftliches Phänomen zu sehen. Große historische Ereignisse sind in der Lage, das Selbstbild und die Werteordnung einer Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Sie beeinflussen somit nicht nur Individuen, sondern müssen gerade in ihrer kulturellen Dimension erfasst werden. Dabei geht es nicht darum, die individuellen Opfer historischen Unrechts zu ignorieren. Unrecht dieser Kategorie kann jedoch darüber hinaus die Bezugsrahmen und die Kultur einer Gesellschaft nachhaltig verändern. Jan und Aleida Assmann erweitern Halbwachs’ Theorie um eine übergeordnete Perspektive: Das kulturelle Gedächtnis. Es umfasst den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an WiedergebrauchsTexten, -Bildern und -Riten […], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenheit stützt.11
Darin sind Erinnerungen der fernen Vergangenheit gespeichert, an die sich gegenwärtige Generationen nicht mehr als Teil ihres eigenen Lebens erinnern. Es besteht aus historischen Ereignissen, welchen von einer Gemeinschaft ein Wert beigemessen wird und stellt einen übergeordneten kulturellen Bezugsrahmen dar. Das kulturelle Gedächtnis ist beständig, strukturiert und vom Alltag losgelöst.12 Diese Alltagstranszendenz macht es unabhängig von der fortlaufenden Zeit. Es stellt sich ebendieser entHalbwachs (2012), 49 ff., 143 ff. Der Begriff des Rahmens im Sinne einer übergeordneten sozialen Referenz findet sich in diversen soziologischen Konzepten. Für eine ausführliche Analyse des Halbwachs’schen Rahmenbegriffs siehe Dimbath (2013), 25–48. 9 Die rein biologischen Erkenntnisprozesse reichen dabei nicht aus, um der Welt eine Sinnhaftigkeit zu geben. Der Sinn und die Struktur der Wirklichkeit entstehen durch die kulturell vermittelte Symbolordnung: „Wenn es also wahr ist, daß man ein Gemälde nur dann wirklich sieht, wenn man es versteht, und daß man es nur unter der Bedingung versteht, daß man es in seine Aufbauelemente zerlegt, so ist es, da die Zerlegungslinien von der Gesellschaft angegeben werden, die Gesellschaft die uns verstehen und sehen lehrt.“, Halbwachs (2012), 100 f. 10 AaO., 148. 11 Assmann (1988), 15; Sturken, (2002), 12 ff. 12 Assmann (2017), 53. 8
Erinnerung als Durchbrechung der Zeit
gegen und schafft Fixpunkte, die über Jahrtausende bestehen können. Dadurch kann eine Gesellschaft gesammeltes Wissen und Erfahrung generationsübergreifend vermitteln und eine kulturelle Kontinuität begründen. Die Kultur wiederum vermittelt Werte, Handlungsmotive und eine Deutung der Welt. Sie konstruiert eine normative und epistemische Wirklichkeit. Gemeint ist das, was schon von Nietzsche als „Horizont“ bezeichnet wurde.13 Das kulturelle Gedächtnis speichert also nicht bloß die geteilte Vergangenheit, sondern konstruiert aus dieser eine Form kultureller Identität. Die Frage, welche historischen Ereignisse auf welche Art öffentlich bewahrt und kommemoriert werden, ist daher gerade im Nationalstaat zentral. Neben triumphalen Erinnerungen kann auch eine historische Niederlage zur Identitätskonstruktion dienen. Geteilte Vergangenheitsinterpretation fördert und ermöglicht die soziale Kohäsion.14 Über die Kultur erfolgt eine Rückkopplung der historisch relevanten Ereignisse an das Selbstverständnis der Mitglieder eines Kulturkreises. Dieser Prozess geschieht jedoch nicht ohne Weiteres. Das kulturelle Gedächtnis hat spezielle Funktionsweisen, welche die Rekonstruktion der Vergangenheit ermöglichen. Im kulturellen Gedächtnis wird nicht die gesamte Vergangenheit gespeichert, es werden lediglich bestimmte relevante Ereignisse zu Fixpunkten kristallisiert. Erinnerung bezieht sich nie auf eine konkrete Zeit oder Epoche, sondern nur auf bestimmte isolierte Ereignisse. Das Gedächtnis arbeitet selektiv, wertend und hierarchisch. Erinnerung ist kein Mittel der akkuraten Reproduktion von Vergangenheit, sie dient primär der Sinnstiftung. Dementsprechend werden – sowohl individuell als auch kollektiv – Ereignisse eher erinnert, die das gegenwärtige Selbstbild bestätigen.15 Im kulturellen Gedächtnis werden sie daher aus ihrem konkreten zeitlichen Kontext gelöst (Diachronie). Typisch dafür sind Gründungsereignisse wie die Französische Revolution oder die Ratifizierung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Solche Ereignisse sind auch Generationen später noch im Bewusstsein der Menschen verankert. Sie stellen als Staatsgründung keine bloßen historischen Tatsachen dar, vielmehr verkörpern sie nationale Werte und Gefühle, die auch die kulturellen Werte und Identität der Nationen begründen und prägen. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ist kein bloßes historisches Ereignis oder ein rechtliches Dokument. Vielmehr ist sie ein fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses und wird bis heute kulturell rekonstruiert und von den Mitgliedern der Gesellschaft rezipiert. Der historische Kontext tritt dabei in den Hintergrund: There is one aspect of the Revolution, however, that is anything but remote: the Declaration of Independence. Far more than simply the centerpiece of any notion of American
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Nietzsche (1960), 271. Assmann (2018), 65; Wang (2018), 30; Tourkochoriti (2017), 151–174. Assmann (2017), 52.
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historical and cultural literacy, the kind of document virtually all of us are taught in school, the Declaration actually shapes the way we live our lives not always well or consciously, mind you, but powerfully nonetheless. […] virtually all of us can recite at least part of it from memory before trailing off into forgetfulness and ignorance.16
Die Unabhängigkeitserklärung wird im Kontrast zu anderen historischen Ereignissen der Zeit nicht aus der Distanz betrachtet, sondern ist Teil der gelebten kulturellen Wirklichkeit. Sie ist ein Ereignis, welches eine Wirklichkeitsdeutung setzt und normative Handlungsstrukturen für Kollektive und Individuen schafft. Die Ereignisse werden im kulturellen Gedächtnis also nicht neutral gespeichert. Sie werden kulturell verformt und gegenwärtigen Vorstellungen entsprechend interpretiert. Diese Form kultureller Bedeutung transzendiert die Erfahrungen, die im gesellschaftlichen Diskurs ausgetauscht und erhalten werden können. Daher kann die Erinnerung an solche Ereignisse nicht ohne Weiteres durch Kommunikation der Mitglieder und deren individuelle Gedächtnisse wachgehalten werden. Ein Großteil der Ereignisse und Erfahrungen vergangener Epochen sind vergessen und nur noch abstraktes Wissen, das in der historischen Forschung zusammengetragen wird.17 Mit dem Versterben der letzten Zeitzeugen des Holocausts wird der natürliche Bezug verloren gehen. Die nachfolgenden Generationen werden keine Verbindung zwischen den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit herstellen können. Daher kann der Holocaust nur als Ereignis erhalten werden, wenn es im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt. Dies kann nur durch staatliche Erinnerungsarbeit18 garantiert werden. Trotz der Alltagstranszendenz, existiert das kulturelle Gedächtnis nicht als abstrakte Größe, sondern kann sich nur durch die Mitglieder und Institutionen der jeweiligen Gesellschaft erhalten.19 2.2
Der Staat als Verwalter des kulturellen Gedächtnisses
Das kulturelle Gedächtnis ist auf Erinnerungsstützen angewiesen, um die ferne Vergangenheit und ihren Sinngehalt in die Gegenwart zu transportieren. Dies erfolgt über kulturelle Formung und institutionalisierte Kommunikation als die zentralen Prozesse des kulturellen Gedächtnisses. Zunächst müssen die Ereignisse Einzug in die objektivierte Kultur finden, indem sie in Denkmälern, Orten, Liedern, Bildern, Fil-
Cullen (2003), 37 f. Assmann (2017), 49 f., 70; Feuchtwang (2010), 288 f. Erinnerungsarbeit beinhaltet sämtliche Maßnahmen, die gezielt auf das kollektive Gedächtnis einer Nation einwirken sollen. 19 Feuchtwang (2010), 285. 16 17 18
Erinnerung als Durchbrechung der Zeit
men etc. festgehalten werden (kulturelle Formung).20 Diese kulturellen Objekte sind überindividuell und von Dauer, sodass die Erinnerung in ihnen codiert wird und dadurch nicht länger von menschlichen Trägern abhängig ist. Gleichzeitig muss es Institutionen geben, deren Aufgabe darin besteht, diese Erinnerung zu pflegen und in der Gegenwart zu rekonstruieren (institutionalisierte Kommunikation). Das kulturelle Gedächtnis basiert auf Repräsentation. Die Bedeutung der kulturellen Objekte muss durch regelmäßige Kommunikation zugeschrieben und erhalten werden. Dadurch wird die Sinnhaftigkeit eines Ereignisses auch in der Gegenwart verstanden und erfahren. Nur institutionelle Akteure können eine solche Absicherung der Vergangenheit leisten. Dieser Prozess der „Pflege“ ist notwendig, da es sich nicht um gelebte Ereignisse handelt. Die Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses benötigen eine konkrete Setzung und Einweisung. Die Erinnerung muss bewusst verbreitet und erhalten werden. Ohne diese Praxis werden Ereignisse der Vergangenheit nur solange bewahrt, wie die ältesten Mitglieder der Gruppe sich erinnern.21 Dementsprechend kann ein Ereignis auch aus dem kulturellen Gedächtnis herausfallen. Zweifelsohne wird der Holocaust als immenses historisches Ereignis nicht ohne Weiteres vergessen werden. Allerdings liegt dies auch an der bereits erfolgten Gedächtnispflege durch den deutschen Staat. Ohne eine solche Praxis mag das Ereignis zwar nicht als Faktum der Vergangenheit vergessen werden, es wird jedoch mit zunehmender zeitlicher Distanz an kultureller Relevanz einbüßen. Vergessen bedeutet, dass das Ereignis aus dem kollektiven Erfahrungsraum verschwindet. Der Prototyp einer bewahrenden Institution ist die Kirche. Die Erinnerung an relevante Geschehnisse der Vergangenheit wird in religiösen Symbolen, Bildern oder Texten gespeichert und durch die regelmäßige Kommunikation in Messen, Feiertagen und Riten wachgehalten. Damit gelang es der Kirche, wichtige religiöse Ereignisse über Jahrhunderte zu erhalten und deren Bedeutung und Sinnhaftigkeit entsprechend gegenwärtiger Bedürfnisse stetig anzupassen. Im säkularen Nationalstaat wird die Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit primär durch den Staat und seine Einrichtungen gepflegt und verwaltet. Hier muss ein Modell historischer Verantwortung ansetzten. Wenn Denkmäler errichtet, Lehrpläne festgelegt oder Gedenkfeiern veranstaltet werden, schafft der Staat kulturelle Objekte und betreibt institutionalisierte Kommunikation. Die Pflege des kulturellen Gedächtnisses kann nur durch Akteure erfolgen, die eine entsprechende kulturelle Einflussmöglichkeit und Beständigkeit aufweisen. Der Staat ist also de facto Verwalter der Nationalkultur und des kulturellen Gedächtnisses. Er ist es jedoch auch de iure, denn auch der moderne Verfassungsstaat selbst ist Die Verankerung kollektiver Erinnerung und Bedeutung in kulturellen Objekten ist nicht unproblematisch. Die konkrete historisch-kulturelle Bedeutung dieser Objekte ist nicht immer eindeutig bestimmbar und letztlich immer auch vom Erfahrenden abhängig. Dazu Ray (2010), 141 ff. 21 Assmann (1988), 11 ff. 20
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Ergebnis und Teil eines kulturellen Prozesses. Seine Verfassung beruht auf Vorstellungen und Werten, die bereits vorher kulturell verankert waren. Der moderne Rechtsstaat baut auf der kulturellen Identität als vorrechtliche Voraussetzung auf und lebt von einer kulturell vermittelten Akzeptanz seiner Mechanismen und Werte. Das Recht knüpft folglich immer an eine bereits vorgefundene Kultur an.22 Teile dieser Kultur muss der Staat in seine Rechtsordnung überführen, sie kodifizieren und verbindlich machen, um den bestehenden Konsens zu erhalten. Er „kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt.“23 Die Pflege der kulturellen Identität ist die Existenzgrundlage des Verfassungsstaates. Sie ist daher „zentralste und originärste Staatsaufgabe“ und – im Kontext des deutschen Verfassungsrechts – ein Staatsziel.24 Das kulturelle Gedächtnis ist die Basis dieser Identität. Pflege der kulturellen Identität bedeutet somit immer Verwaltung des kulturellen Gedächtnisses. In diesem Sinne kann der Staat sich gegenüber der nationalen Erinnerungskultur nicht neutral verhalten. Ein Nicht-Handeln führt zum allmählichen Vergessen und Verblassen einer Erinnerung aus dem kulturellen Gedächtnis und stellt somit ebenfalls eine Positionierung dar. Durch seine Erinnerungsarbeit zeichnet der Staat ein bestimmtes Bild der Vergangenheit und durch Verbote wie das der Holocaustleugnung, kann er Meinungsbeiträge, die dieser entgegenlaufen, aus dem öffentlichen Diskurs entfernen. Auch das Recht ist ein Raum, in welchem sich kollektive Erinnerung niederschlägt.25 Die staatlichen Akteure können durch die Art der kulturellen Formung und Kommunikation beeinflussen, wie Ereignisse in der Gegenwart gedeutet werden. Gedenktage und Mahnmäler vermitteln eine andere Bedeutung als Feste und Paraden. Wer die Verfügungsmacht über die Elemente des kulturellen Gedächtnisses hat, erhält umfassende Deutungsmacht und Steuerungsmöglichkeiten. Es kann folglich nicht darum gehen, ob der Staat die Prozesse kollektiver Erinnerung prägen soll, sondern wie er dies tut. Historische Verantwortung betrifft die Frage, ob der Staat die Pflicht hat, bestimmte historische Ereignisse im kulturellen Gedächtnis zu erhalten. Es geht dann nicht um Schuld, Sanktion und Ausgleich. Verantwortung ist hier nicht ex post, sondern bezieht sich auf das Ausfüllen einer hoheitlichen Aufgabe.
22 23 24 25
Uhle (2004), 15–36. BVerfGE 93, 1 (22). Uhle (2004), 17, 414 ff. Fronza (2006), 611 f.
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3.
Kollektive Erinnerung im demokratischen System
Das bisher gezeichnete Bild des kulturellen Gedächtnisses ist primär für homogene Kulturen geeignet. In Anbetracht zunehmender kultureller Heterogenität kann dies jedoch kaum aufrechterhalten werden.26 Innerhalb einer Nation lassen sich daher diverse Gruppen ausmachen, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe aufweisen und deren Selbstverständnis von der Mehrheit abweicht. Martin Saar bezeichnet sie als kulturelle Minderheiten. Sie sind […] eine Gruppe, deren geteilte Vergangenheit und deren Gruppengedächtnis in einem starken Ausmaß von denen der sie umgebenden Menschen abweicht. Dabei genügt es nicht, dass lediglich eine Gruppe ein eigenes kollektives Gruppengedächtnis hat. […] Vielmehr wird das Gruppengedächtnis einer kulturellen Minderheit nicht im hegemonialen kulturellen Gedächtnis der Nation repräsentiert oder verkörpert.27
Als kulturelle Minderheit lassen sich beispielsweise die jüdische Minderheit in Deutschland oder die armenische Minderheit in der Türkei kategorisieren. Sie partizipieren am gesellschaftlichen Leben, weisen aber distinkte kulturelle Merkmale auf, die sie von der Mehrheitskultur abgrenzen. Die Existenz kultureller Minderheiten ist unabhängig von der Staatsbürgerschaft und auch nicht notwendigerweise mit einer rechtlichen oder gesellschaftlichen Benachteiligung verbunden. Für die Verwaltung des kulturellen Gedächtnisses durch den Staat hat dies weitreichende Auswirkungen. Das kulturelle Gedächtnis einer Nation spiegelt nicht die Vergangenheitsdeutung der gesamten Gesellschaft, sondern diejenige der herrschenden Gruppe. Sie wird zum offiziellen Gedächtnis der jeweiligen Nation. Die anderen kulturellen Gruppen bestehen weiterhin, sind aber nicht im öffentlichen Erinnerungsraum repräsentiert und werden zu kulturellen Minderheiten. Das offizielle Gedächtnis wird von der herrschenden kulturellen Gruppe gestellt und gepflegt. Es ist der Bezugspunkt für die Konstruktion einer einheitlichen nationalen Identität. Eine ähnliche Beschreibung findet sich bei Bourdieu, der die legitimierte Nationalkultur als Produkt einer universellen Auferlegung durch den Staat sieht. Die Basis dafür bildet wiederum die Vermittlung einer (nationalen) Vergangenheit.28 Das kulturelle Gedächtnis ist gewissermaßen umkämpft. Verschiedene Gruppen ringen darum, dass ihre Erfahrung und Vergangenheit offiziell anerkannt und repräsentiert wird. Die Erinnerung an den Holocaust ist ein Resultat der Anerkennungsansprüche von Opfergruppen. Dies gilt insbesondere für nichtjüdische Opfer. Gruppen wie die Sinti und Roma haben lange dafür gekämpft, dass auch ihre Leiderfahrung einen Raum im offiziellen Gedächtnis erhält. Es ist das Einklagen von Anerkennungs26 27 28
Saar (2002), 268 f. AaO., 272. Bourdieu (1994), 8.
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ansprüchen einer Minderheit gegenüber der kulturellen Mehrheit.29 Demgegenüber kann die kulturelle Mehrheit ein Interesse daran haben, ihre Identität nicht über die Verfehlungen der Vorfahren zu konstruieren. Die Ansprüche auf Anerkennung richten sich gegen jene, die das historische Unrecht nicht selbst begangen haben, sondern ebenso mit der Vergangenheit konfrontiert sind. Dieser umkämpfte Gedächtnisraum eröffnet jedoch auch die Möglichkeit für einen kulturellen Diskurs, an dem verschiedene Gruppen partizipieren können. Demokratien sind für Diskurse um die Vergangenheit besonders geeignet, da Transparenz und Diskurs zentrale Legitimationsaspekte des demokratischen Systems sind.30 3.1
Die Bindung des kulturellen Gedächtnisses an die Idee der Gerechtigkeit
Die Essenz des demokratischen Prinzips ist die Selbstbestimmung des Volkes. Entscheidungsbefugnisse resultieren daher aus Mehrheitsverhältnissen. Sie werden in der repräsentativen Demokratie auf Legislativ- und Exekutivorgane übertragen. Öffentlicher Diskurs und politische Partizipation stehen im Zentrum des demokratischen Modells. Die staatlichen Institutionen müssen diese Prozesse ermöglichen und dürfen nur unter gesteigerter Rechtfertigung darin eingreifen. Die politischen Entscheidungen müssen sich aus einem Verfahren ergeben, welches Minderheiten die Teilhabe ermöglicht und in letzter Instanz auch die ausreichende Wahrung ihrer Interessen garantiert. Aus diesen Prinzipien der Teilhabe am demokratischen öffentlichen Diskurs lassen sich Prinzipien für einen kulturellen Diskurs ableiten. Im politischen Diskurs ist es der Mehrheit (durch die gewählten Organe) möglich, Minderheiten auszuschließen. Die staatlichen Organe können Meinungsäußerungen beschränken, Gruppen oder Parteien verbieten und den Raum des öffentlichen Diskurses kontrollieren. Ähnlich kann die kulturelle Mehrheit auch kulturelle Minderheiten von Prozessen des nationalen Gedächtnisses ausschließen. Sie kann kulturelle Praktiken untersagen, Sichtweisen über die Vergangenheit verbieten und durch forcierte Assimilierung auch den Bestand einer kulturellen Gruppe selbst angreifen. Der kulturelle Raum wird durch die staatlichen Organe zur Verfügung gestellt und verwaltet. Die Erinnerung an die Opfer des Holocausts in Deutschland kann als bewusste Beteiligung einer kulturellen Minderheit in Gestalt der Juden am politischen und nationalen Gedächtnis gesehen werden. Demgegenüber stellte die fehlende Anerkennung anderer Opfergruppen in der Vergangenheit, etwa der Sinti und Roma, einen Ausschluss dar.
29 30
Saar (2002), 273 ff. Langenbacher (2010), 36.
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Die demokratische Repräsentation bezieht sich nicht nur auf die politische, sondern auch auf die kulturelle Ebene. Nur so lässt sich die umfassende kulturelle Deutungsmacht des Staates rechtfertigen. Dies impliziert, dass staatliche Kultur- und Erinnerungsarbeit stets den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen unterliegen muss. Aus den Grundsätzen einer Demokratie ergibt sich somit, dass auch das kulturelle Gedächtnis ein demokratisches sein sollte. Paul Ricœur beschreibt dieses Ziel als „die Politik eines gerechten Gedächtnisses.“31 Ziel staatlicher Erinnerungsarbeit muss es immer sein, eine gerechte Erinnerungskultur zu schaffen und zu wahren. Dieses Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur muss der staatlicher Erinnerungsarbeit und Gedächtnispflege zugrunde liegen. In einer demokratischen Erinnerungskultur findet kein Diktat der kulturellen Mehrheit statt. Die Mehrheit hat kein Recht von einer Minderheit Assimilierung und somit Aufgabe der eigenen kulturellen Identität zu verlangen.32 Vielmehr gilt es, im kulturellen Diskurs trotz der Dominanz der eigenen kollektiven Erinnerung Platz auch für kulturelle Minderheiten zu schaffen. Aus diesem Gerechtigkeitsprinzip ergeben sich staatliche Freiheiten und Rücksichtnahmepflichten. Ähnlich wie politische Entscheidungen können sich auch kulturelle Maßnahmen an der Mehrheit orientieren. Es ist Ziel und Zweck der einheitlichen Nationalkultur, einen übergeordneten Bezugsrahmen für das Staatsvolk zu bilden. Durch Vereinheitlichung wird Zusammenhalt geschaffen und die Idee eines Staates als Gemeinschaft aller Bürger kulturell eingelöst. Eine gewisse kulturelle Homogenität ist für den demokratischen Verfassungsstaat zwingend notwendig, da die zentralen Werte kulturell akzeptiert werden müssen.33 Im offiziellen Gedächtnis wird die gemeinsame Vergangenheit erinnert. Der Staat kann daher nur solche Ereignisse inszenieren und präsentieren, die tatsächlich Teil der nationalen Geschichte sind. Auch lebt das kulturelle Gedächtnis von Kohärenz und Struktur. Eine gerechte Erinnerungskultur bedeutet somit nicht, dass der deutsche Staat auch die Erinnerungskultur jeder kulturellen Minderheit in sein offizielles Gedächtnis aufnehmen muss. Grundsätzlich sind also Verwaltung und Absicherung einer Kultur und des kulturellen Gedächtnisses Aufgabe des jeweiligen Kollektivs bzw. der kulturellen Gruppe selbst. Aufgabe staatlicher Institutionen ist es, den kulturellen Rahmen der Nation zu verwalten, welcher letztlich auf der Mehrheitskultur beruht. Kulturelle Minderheiten müssen und dürfen ihr kulturelles Gedächtnis selbst verwalten und pflegen. Sie haben grundsätzlich das Recht, von staatlichen Eingriffen verschont zu bleiben. Eine kulturelle Minderheit muss sich somit nicht zwangsläufig der Mehrheitskultur anpassen. Ausnahmen gelten hier zugunsten der fundamentalen Prinzipien, die sich beispielsweise in der verfassungsmäßigen Ordnung widerspiegeln. Dies erscheint angemessen, da ein Großteil der Minderheiten aus anderen Kulturkreisen stammen, die in anderen Nationalstaaten offiziell repräsentiert 31 32 33
Ricœur (2004), 113. So auch Murswiek (1995), 663–692. Uhle (2004), 26 ff.
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werden. Davon kann es jedoch auch Ausnahmen geben. So beispielsweise, wenn eine kulturelle Minderheit sich gerade nicht freiwillig in einem anderen Kulturkreis aufhält, sondern bereits immer dort ansässig war. Die Interessen indigener Bevölkerung oder autochthoner Minderheiten können nicht unberücksichtigt bleiben. Vielmehr müssen diese explizit gefördert werden. Es gibt keinen ursprünglichen Staat, der ihre Kultur absichern könnte. Das Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur impliziert eine besondere Verantwortung für diese kulturelle Minderheit. 3.2
Das Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur als Grundlage historischer Verantwortung
Über das Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur lässt sich auch historische Verantwortung begründen. Die (historische) Opfergruppe ist regelmäßig eine kulturelle Minderheit, während die historischen Täter entweder eine Mehrheit oder jedenfalls die herrschende Gruppe darstellen. Grundsätzlich kommt dem Staat bei der Frage, welche Ereignisse wie im offiziellen Gedächtnis inszeniert werden, ein weitreichendes Ermessen zu. Es ist somit auch zulässig, Ereignisse aus kollektiven Erinnerungsprozessen herausfallen zu lassen, wenn sie keine Relevanz mehr für die Gegenwart entfalten oder entfalten sollen. Der Staat kann die kulturellen Objekte entfernen oder die institutionalisierte Kommunikation unterlassen. Der Versuch, die verbliebenen Konföderierten-Denkmäler in den Vereinigten Staaten zu entfernen, ist gleichzeitig der Versuch, die Erinnerung an die Konföderierten Staaten und die damit verbundene Ideologie aus dem kulturellen Gedächtnis auszuschließen. Darin zeigt sich der umkämpfte Gedächtnisraum. Auch der Holocaust könnte daher aus dem offiziellen Gedächtnis herausfallen, wenn der Staat seine Erinnerungsarbeit einstellen würde. Ohne staatliche Pflege werden zukünftige Generationen sich nicht mit dem Holocaust als geteilte Vergangenheit auseinandersetzen. Dies wirft die Frage auf, ob eine deutsche Vergangenheitskonstruktion jenseits des Holocaust nicht auch wünschenswert sein kann. Als Antwort kann auf Walter Benjamins Kritik des Historismus verwiesen werden. Eine Geschichte, die stets den Fortschritt im Blick behält, ist eine, die von den Siegern geschrieben wurde.34 Für die Täter und deren Nachfahren ist es ein Leichtes, die Vergangenheit abzuschließen. Sie haben nicht notwendigerweise ein Interesse daran, frühere Verfehlungen in die kulturellen Erinnerungsprozesse aufzunehmen und daraus ihre Identität zu konstruieren. Für die Opfer historischen Unrechts ist der Umgang mit und die Erinnerung an solches Unrecht hingegen relevant. Die Wichtigkeit der Ereignisse wird schon durch die Bemühungen dieser Gruppen um eine Anerkennung ihrer Leidens-
34
Benjamin (2000), 144 ff.
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geschichte deutlich.35 Die Wirkung solcher Verbrechen auf die Opfer kann nicht auf die konkret betroffene Generation reduziert werden. Völkermorde und vergleichbares Unrecht sind nicht bloße Massenmorde. Vielmehr sind sie der Versuch, eine andere Bevölkerungsgruppe im Ganzen zu vernichten. Solche Ereignisse greifen massiv in die kulturelle Praxis und das Selbstverständnis dieser Gruppe ein. Ihnen ist es nicht möglich, diese Vergangenheit abzuschließen. Die Erfahrung wird zu einem formenden Ereignis, welches die kollektiven und individuellen Identitäten nachhaltig prägt.36 Bezeichnend für den Holocaust war nicht nur die Vernichtung der Juden, sondern gleichzeitig die Aufhebung ihres Menschseins im Rahmen der Rassenlehre. Dadurch wurden sie über die tatsächliche Ermordung hinaus auch als Diskursteilnehmer im sozialen Raum nachhaltig disqualifiziert.37 Bleiben die mit dem Unrecht verbundenen Konflikte ungelöst, werden sie in künftige Generationen weitergetragen.38 Historisches Unrecht wird zwangsläufig zum kulturellen Ereignis, aus dem sich die Identifikation der betroffenen Kollektive speist. Dies gilt auch dann, wenn es viele Generationen zurückliegt und sich über unterschiedliche politische und nationale Systeme erstreckt. Aus diesem Grund genügt auch reine Aufarbeitung nicht. Ohne die Etablierung einer Erinnerungspraxis bleibt Aufarbeitung ein singulärer Prozess, der das historische Unrecht abschließen soll. Ein solcher Abschluss kann jedoch nur durch diejenigen erfolgen, denen Unrecht widerfahren ist.39 4.
Historische Verantwortung als kulturelles Erbe
Innerhalb einer gerechten Erinnerungskultur müssen sowohl die Interessen der schuldlosen Nachfahren als auch die der Opfergruppe berücksichtigt werden. Wenn die ursprünglichen Täter bereits verstorben sind, können Schuld und Folgenverantwortung nicht plausibel als Begründung herangezogen werden. Die Herausforderung besteht darin, die Zeit gewissermaßen zu durchbrechen. Dies lässt sich begründen, indem historisches Unrecht als übergenerationelles kulturelles Ereignis gesehen wird. Es ist nicht den Nachgeborenen zuzurechnen, haftet aber der Gesellschaft an und übt nachhaltigen Einfluss aus. Verfassungen, öffentliche Leistungen oder technische Errungenschaften sind gemeinschaftliche Güter, welche die öffentliche Ordnung und Struktur einer Gesellschaft nachhaltig und dauerhaft prägen. Analog dazu entwickelte Lukas Meyer den Begriff des öffentlichen Verbrechens.40 Dieser umfasst schwerwie-
35 36 37 38 39 40
Dazu Meyer (2005), 137 f. Maier (1993), 146. Breitling (2010), 140. Meyer (2005), 138 f. Dazu insbesondere Adorno (2003), 555. Meyer (2005), 162 f.
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gende Verletzungen von Rechten und Rechtsgütern bestimmter Gruppen durch die Staatsgewalt. Die Struktur und Kultur einer Gesellschaft kann von solchen öffentlichen Verbrechen gekennzeichnet und nachhaltig beeinflusst sein. Sie führen regelmäßig zu einer gesellschaftlichen Spaltung, weil den Verbrechen ein gesellschaftliches Machtgefälle und eine Unterdrückungs- oder Diskriminierungspraxis zugrunde liegt. Auch nach Ende des Unrechts behält das öffentliche Verbrechen einen erheblichen und bleibenden Einfluss auf die Gesellschaft. Die Ideologien, kulturellen Werte und gesellschaftlichen Strukturen werden durch einen Systemwechsel allein nicht beseitigt.41 Historische Verantwortung ist Vergangenheitsbewältigung für die Nachfahren der Opfer und Täter, die gleichsam unverschuldet mit ihrem kulturellen Erbe umgehen müssen. Durch die Aufarbeitung des Unrechts im kulturellen Gedächtnis werden die Opfer validiert und rehabilitiert. Es geht nicht nur um Bewahrung, sondern um Transformation. Die Darstellung des Ereignisses als massives Unrecht und die Anerkennung der institutionellen und persönlichen Schuld der historischen Täter ist für die Verarbeitung der Opfer zentral. Sie kann auch dazu beitragen, die historischen Strukturen der Unterdrückung und Diskriminierung aufzubrechen. Daher kann für die Pflege und Bewahrung der Erinnerung auch nicht auf die Opfergruppe verwiesen werden. Die moralische Neubewertung des Unrechts muss durch die Nachfahren der Täter geleistet werden. Als unbeteiligte Nachkommen sind gerade sie in der Position, das Ereignis glaubhaft zu transformieren. Die Nachgeborenen können sich nur auf Basis einer solchen wahrheitsorientierten Erinnerungspraxis als gleichberechtigte gesellschaftliche Diskursteilnehmer begegnen. Verdrängung erhält die ursprüngliche Unterdrückung latent aufrecht. Die Verweigerung von Anerkennung und der Mangel an kultureller Aufarbeitung reproduzieren das Unrecht auf kultureller Ebene. Sie wirken wie ein erneuter Ausschluss aus dem Diskurs.42 Dies ist mit dem Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur nicht vereinbar. Eine gerechte Gesellschaft beruht auf gleichberechtigter Kooperation ihrer Mitglieder. Der demokratische Nationalstaat muss daher sämtliche Gruppen seiner Bevölkerung im Sinne gerechtigkeitsorientierter Politik berücksichtigen. Er ist als Verwalter der Nationalkultur dafür zuständig, mit seinem historischen Vermächtnis umzugehen. Kulturellen Gruppen, denen in der Vergangenheit durch den Staat massives Unrecht zugefügt wurde, müssen besonders berücksichtigt werden. Ohne Repräsentation und Anerkennung innerhalb des offiziellen Gedächtnisses steht die fundamentale Identität der Opfergruppe im Konflikt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie sich bewegen. Die Verarbeitung des Unrechts kann ohne staatliche Erinnerungsarbeit nicht erfolgen, sodass sich Zurückhaltung als Angriff präsentiert. Die staatlichen Institutionen trifft daher eine originäre Verantwortung, das Unrecht angemessen im kulturellen Gedächtnis aufAaO., S. 164 f. Selbst der Aufbau einer kulturellen Identität jenseits des erlittenen Unrechtes ist nur möglich, wenn das Unrecht zuvor anerkannt und verarbeitet wurde. Dazu Walker (2017), 173 f.; Blustein (2008), 164 ff. 41 42
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zugreifen. Gleichzeitig findet sich im Staat als übergenerationellem Akteur auch eine kausale Verbindung, die ihn an das Ereignis bindet.43 Er ist der ursprüngliche historische Akteur, der das Unrecht begangen hat. Darin kann, wie bei der Haftung, eine schwache Verbindung gesehen werden, die für Schuldkategorien untauglich ist, aber zur Begründung von Verantwortung genügen kann.44 Die Haftung für das Unrecht wandelt sich in der übergenerationellen Perspektive in eine Aufgabenverantwortung.45 So wie die Erben für die Nachlassverbindlichkeiten des Erblassers einstehen, kommt den gegenwärtigen Staatsorganen eine Verantwortung bezüglich des durch vorherige Generationen begangenen Unrechts zu. Als Erbe dieses Vermächtnisses ist es Aufgabe des Staates, die Erinnerung daran im Rahmen einer gerechten Erinnerungskultur zu bewahren. Nur die Anerkennung durch die Täternation kann eine Überwindung des Unrechts ermöglichen. 5. Schluss
Aus dem Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur resultiert eine historische Verantwortung. Sie verpflichtet den Staat zur Erinnerungsarbeit und garantiert, dass historisches Unrecht im offiziellen Gedächtnis der Nation repräsentiert wird. Das Ereignis muss bewahrt und kulturell aufgearbeitet werden. Dies ermöglicht eine moralische Neubewertung und Transformation. Der Staat kommt dieser Verantwortung nach, indem er das Unrecht durch kulturelle Formung und institutionalisierte Kommunikation in das offizielle Gedächtnis aufnimmt bzw. dort erhält. Er kann dabei grundsätzlich affirmative oder repressive Maßnahmen nutzen. Als affirmativ sind solche Maßnahmen zu bezeichnen, die ein historisches Ereignis erstmals im kulturellen Erinnerungsprozess aufgreifen oder eine im kollektiven Gedächtnis verankerte Erinnerung bestätigen oder fördern. In Betracht kommen hier beispielsweise Gedenktage, Mahnmale oder auch der Geschichtsunterricht an Schulen. Repressive Maßnahmen dienen demgegenüber dazu, Angriffe auf eine bestehende Erinnerungskultur abzuwehren. Entweder indem solche Angriffe direkt gesetzlich verboten werden oder indem Versuche, eine alternative Erinnerungskultur zu betreiben, unterbunden werden. Der Holocaust nimmt in der deutschen Geschichte eine Sonderstellung ein, da er ein zentraler Aspekt der deutschen Identität geworden ist und somit in mehrfacher Hinsicht gesteigerte kulturelle Relevanz entfaltet. Die Wertordnung des Grundgesetzes erhält ihre Autorität auch durch den Kontrast zum Nationalsozialismus. Die Bewahrung der historischen Geschehnisse kann auch abseits einer historischen Verantwortung aus anderen Gründen erfolgen. Die Nachfahren des Täterkollektivs können 43 44 45
Walker (Fn. 43), 175 ff. Vgl. Thompson, (2006), 154–167; Ähnlich auch Arendt (2003), 149 f. Zum Begriff der Aufgabenverantwortung: Hart (2008), 213; Heidbrink (2017), 10.
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auch ein eigenes Interesse haben. Historische Verantwortung garantiert lediglich, dass der Holocaust als historisches Unrecht auf Dauer im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt. Die globale und nationale Geschichte ist jedoch nie abgeschlossen. Mit dem Fortlaufen der Zeit werden noch weitere kulturell relevante Ereignisse stattfinden, die im kollektiven Gedächtnis verankert werden. Historische Verantwortung bedeutet nicht, dass historisches Unrecht für immer den Kern der nationalen Erinnerungskultur bilden muss. Es muss jedoch mit Blick auf die Opfergruppe als übergenerationelles Kollektiv angemessen repräsentiert werden. Letztlich geht es darum, die Prozesse der Bewahrung und Transformation zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Diese historische Verantwortung ist nicht nur eine moralische. Dem Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur kommt die Qualität einer Staatszielbestimmung zu. Es ist ein Verfassungsprinzip, welches staatliches Handeln leitet. Die Erinnerungsarbeit untersteht somit verfassungsrechtlichen Maßstäben. Sowohl affirmative als auch repressive Maßnahmen sind daher auf die Legitimität von Ziel und Mittel hin überprüfbar. Insofern ist historische Verantwortung zwar die Grundlage für staatliche Erinnerungsarbeit, kann aber gegenüber anderen Rechten und Interessen von Verfassungsrang zurückstehen. Bei affirmativen Maßnahmen muss dem Staat ein umfassender Einschätzungsspielraum zugestanden werden. Kulturelle Objekte und Kommunikation sind in hohem Maße kontextabhängig, sodass hier weder konkrete Ansprüche noch Pflichten konstruiert werden können. Repressive Maßnahmen stellen hingegen regelmäßig Grundrechtseingriffe dar und sind daher vollständig überprüfbar. Das Verbot der Holocaustleugnung in § 130 Abs. 3 StGB wäre als repressive Maßnahme in diesem Sinne zu werten. Die verfassungsrechtliche Legitimität dieses Verbots ergibt sich aus historischer Verantwortung. Der Meinungsfreiheit steht das Prinzip einer gerechten Erinnerungskultur gegenüber. Im Wege praktischer Konkordanz ist hier ein Ausgleich zwischen den betroffenen Verfassungsgütern zu finden. Auf der Ebene kultureller Prozesse ist die Leugnung des Holocausts der Versuch, die staatliche Erinnerungsarbeit zu unterminieren. Die Leugnung reproduziert das Unrecht und stellt einen Angriff auf die durch Erinnerungsarbeit beabsichtigte Transformation dar. Der Staat ist daher berechtigt, solche Ansichten aus dem öffentlichen Diskurs zu entfernen und damit das kulturelle Gedächtnis einerseits und die Opfergruppe andererseits zu verteidigen. Literaturverzeichnis
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Doktorand bei Prof. Dr. Jörg Benedict, Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Privatrecht, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock.
Zweiter Teil: „Kritische Theorie(n) des Rechts“
Einleitung
ESTHER NEUHANN / CL AUDIA WIRSING
Die Kritische Theorie des Rechts hat insbesondere in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Bereits ein flüchtiger Blick in die Schriften der Angehörigen der Frankfurter Schule zeigt jedoch, dass das rechtsphilosophische Denken innerhalb dieser Tradition lange Zeit eine eher randständige Bedeutung hatte. In den 1930 und 1940er Jahren treten dabei v. a. die rechtsphilosophischen und -kritischen Analysen von Denker:innen hervor, die nicht im Zentrum oder sogar außerhalb der Frankfurter Schule standen, wie etwa die der Juristen Franz Neumann und Otto Kirchheimer oder von Hannah Arendt und Walter Benjamin. Der erste Teil der hier im Band versammelten Texte (Rechtstheorie und -kritik in der frühen Kritischen Theorie) widmet sich einigen dieser Autor:innen sowie zentraleren Figuren der sogenannten „ersten Generation“ der Kritischen Theorie, deren rechtsphilosophische Beiträge jedoch nicht umfassend und offensichtlich sind. Konkret beschäftigen sich die Aufsätze mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Otto Kirchheimer, Franz Neumann sowie dem marxistischen Rechtstheoretiker Evgeny Paschukanis, dessen Arbeit für die „Frankfurter“ von zentraler Bedeutung war. Es ist erfreulich, dass insofern Beiträge zu Autoren gewonnen werden konnten, die in der Rechtsphilosophie bisher nicht breit rezipiert werden. Die frühe Kritische Theorie analysiert unfreie Verhältnisse und sucht nach Potentialen der Emanzipation aus diesen auf dem Weg zu einer vernünftigeren Gesellschaft. Die zentralen Fragen in Bezug auf das Recht lauten daher: Welche Rolle spielt das Recht in unfreien Gesellschaften, und in welchem Verhältnis steht es zur Befreiung bzw. zur Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft? Simon Gansinger zeigt in seinem Beitrag „Trägheit als Fortschritt. Neumann und Horkheimer zum normativen Potential des Rechts“ auf, dass Franz Neumann und Max Horkheimer sich darin einig sind, dass Recht mehr sein kann als Herrschaftstechnik, wie es von Marx und von Vertreter:innen der Frankfurter Schule im Anschluss an Marx postuliert wurde. Doch sie scheinen uneins, worin dieses Mehr besteht. Neumann schreibt dem Recht eine ethische Funktion zu. Das allgemeine Gesetz garantiere ein Minimum an Freiheit und
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Esther Neuhann / Claudia Wirsing
Gleichheit, das auch den benachteiligten Gruppen einer Gesellschaft zugutekomme. In der rechtlichen Allgemeinheit liege demnach ein progressives Moment, das über Herrschaft und Ausbeutung hinausweise. Horkheimer hingegen stellt keine Fortschrittlichkeit des Rechts fest, sondern seine emanzipatorische Resistenzkraft: Manchmal werde Recht zum Sand im Getriebe der politischen Gewalt. Statt einem Zustand der Freiheit vorzugreifen, bremse es die verhängnisvolle Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft. Dem Recht sei ein retardierendes Moment eigen. Tatsächlich ergänzen sich die Thesen von Neumann und Horkheimer. Beide bestimmen das normative Potenzial des Rechts über seine Differenz zur Verwaltung. Wenn Rechtsverhältnisse im Management von Menschen aufgehen, verlieren diese ihre Reibungsfläche zur Herrschaft und damit auch ihr progressives und ihr retardierendes Moment. Die Tendenz zur Verwaltung ist der modernen Gesellschaft eingeschrieben. Unter günstigen historischen Bedingungen, so Neumann und Horkheimer, transzendiert Recht jedoch seine Funktion als Verwaltungsinstrument. Die Ökonomie muss durch dynamische Konkurrenz, der Staat durch Distanz zu privaten Machtgruppen sich auszeichnen. Sind beide Bedingungen erfüllt, so Neumann und Horkheimer, kann das Recht sein progressives und sein retardierendes Potenzial erfüllen. Dann trage es – durch zivilisierende Trägheit – zum Projekt der Befreiung bei. Simon Gurisch geht in seinem Beitrag „Die Vormacht des Allgemeinen“ der „Funktion des Rechts als ideologischem Staatsapparat bei Adorno und Neumann“ nach. In einem berühmten Unterkapitel seiner Theorie des Kommunikativen Handelns kritisiert Habermas pointiert Adorno und Horkheimers Überlegungen zur instrumentellen Vernunft. Im Gegensatz dazu erarbeitet Habermas ein breiteres Vernunftkonzept, das auch die Rationalitätspotenziale intersubjektiver Kommunikation betont. Den wesentlichen Grund für Horkheimer und Adornos reduktives Vernunftverständnis macht Habermas darin aus, dass die frühe Kritische Theorie bereits „an der Erschöpfung des Paradigmas der Bewußtseinsphilosophie gescheitert ist“1. Gerade die Auseinandersetzungen der frühen Kritischen Theorie mit dem positiven Recht legen allerdings nahe, dass darin der methodische Rahmen einer Bewusstseinsphilosophie überschritten wird. Adorno kombiniert so in seiner Rede von der Ideologie des positiven Rechts systematisch zwei Perspektiven, eine intersubjektive und eine subjektive: Einerseits geht es ihm darum, auf welche Weise das Recht an der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaftsformation teilnimmt. Mit Franz Neumann gerät in dieser Hinsicht das positive Recht als eine Institution in den Blick, welche erst ausgehend von ihrer Funktion für die Reproduktion bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse adäquat analysiert werden kann. Dabei ist das Recht als Institution einem Funktionswandel ausgesetzt, der durch nicht-rechtliche Faktoren wie soziale Hegemonieverhältnisse oder ökonomische Entwicklungen bestimmt ist. Andererseits erfordert eine
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Habermas (1987 [1981]), Bd. 1: 518.
Einleitung
Kritische Theorie des Rechts für Adorno, dass seine Subjektivierungsfunktion in den Blick genommen wird. Unter dem Titel „Das Recht der Selbstaufhebung. Vom Recht auf Kritik zur Kritik der Rechte“ erforscht Hannes Kaufmann die internen Möglichkeiten und Grenzen des Rechts für eine Selbst-, d. h. Rechtskritik. Im Anschluss an Adorno und Horkheimer arbeitet er die Dialektik von Recht und Kritik heraus und zeigt, dass sich der Paradoxie liberaler Rechte nur sinnvoll begegnen und die Idee subjektiver Rechte retten lässt, wenn ein Recht (auf Kritik) auch eine Kritik der Rechte in sich aufnimmt. Das Recht strebt demnach permanent seiner eigenen Aufhebung entgegen und bietet so die Möglichkeit, in seiner eigenen Form geronnene soziale Verhältnisse zu verflüssigen. Der Autor zeigt, dass ein solches selbstkritisches Recht zwar zu einer Erweiterung der Kritik beitragen, aber der Paradoxie des Rechts letztlich nicht ganz entgehen kann, weil jede Veränderung nur in der „Form der Rechte“2 möglich ist. Nichtsdestotrotz plädiert er im Anschluss an Christoph Menke für eine solche immanente Rechtskritik, weil es dieser Theorie gelingt, den emanzipatorischen Gehalt der Rechte nicht auszuhölen. Antonia Paulus nimmt in ihrem Beitrag Otto Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität (1932) zum Ausgangspunkt einer Kritischen Theorie des Rechts. Otto Kirchheimer gehörte zu den Juristen im Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Seine juristisch und gesellschaftstheoretisch anspruchsvollen Analysen zum Niedergang des Weimarer Rechtsstaats stellen einen Grenzgang zwischen den Disziplinen dar und werden heute in den Rechts- und Sozialwissenschaften kaum noch rezipiert. Der Beitrag befasst sich anhand von Kirchheimers oben genannten Aufsatz mit der Frage, ob es sich bei ihm um einen Theoretiker Kritischer (Rechts-)Theorie handelt. In dem untersuchten Aufsatz wird die Wandlung des rechtsstaatlichen Legalitätsbegriffs hin zu einem materiellen Legitimitätskonzept beschrieben und in den Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse in der Weimarer Republik gestellt. Die Autorin zeichnet nach, wie Kirchheimer die Analyse von verfassungsrechtlichem Begriffswandel, eine soziologische Zeitdiagnose und eine Kritik der Rechtswissenschaft seiner Zeit zu einer Kritischen Theorie des Rechts vereint. Mit dem marxistischen Rechtstheoretiker Evgeny Paschukanis beschäftigen sich Judith Hantel und Daria Bayer. In ihrem Beitrag „Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht? Privatrecht bei Eugen Paschukanis“ zeigt Judith Hantel, dass das Grundverständnis des Privatrechts, welches Paschukanis in der Allgemeinen Rechtslehre (1924) entworfen hat, und das seiner fundamentalen Rechtsformkritik zugrunde liegt, auch heute noch in einigen am Naturrecht orientierten Privatrechtstheorien vertreten wird. Diese Naturrechtstheorien, die ihren Ursprung in der Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus haben, gehen von einer bestimmten Form subjektiver Rechte aus, die sich an der Idee der Freiheit und Gleichheit ausrichtet. Das damit erlangte
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Menke (2015), 7.
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Verständnis subjektiver Rechte mache die Ambivalenz dieser Rechte unter modernen Bedingungen sichtbar: Sie sichern nicht nur Freiheit und Gleichheit, sondern tragen in der bürgerlichen Gesellschaft auch zur Isolation des Individuums und wachsender Ungleichheit bei. Daria Bayer geht in ihrem Beitrag „Gesellschaftsnahe Rechtskritik? Von der kritischen Theorie zur kritischen Praxis der Rechtsphilosophie“ von der Prämisse aus, dass insbesondere das Theater ein geeignetes Medium darstellt, um reale gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Konkreter skizziert sie, wie dies ausgehend von einer materialistischen Rechtskritik im Anschluss an Karl Marx und Jewgenij Paschukanis aussehen könnte. Gerade die von den kritischen Theoretiker:innen geforderten und von mündigen Bürger:innen abverlangten Transformationsprozesse blieben sonst, so die Autorin, nur abstrakt. Einige aktuelle Texte würden teilweise radikale Forderungen aufstellen, deren Inhalt allerdings in einer merklichen Diskrepanz zu ihrer textlichen Form stehe. Der Beitrag lädt dazu ein, diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt durch den Einsatz von Mitteln des epischen Theaters zu überwinden und eine gesellschaftsnahe Praxis der Rechtsphilosophie zu etablieren. Im Aufbrechen der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft vermöge das Theater die materialistische Rechtskritik plastisch darzustellen. Das Theater emöglicht somit politische Emanzipation – es stellt eine ‚andere Form‘ der Rechtskritik dar. Als Vertreter der sogenannten „zweiten Generation“ der Kritischen Theorie stellen Jürgen Habermas’ Diskurstheorie des Rechts sowie Ingeborg Maus’ demokratischer Rechtspositivismus einen Einschnitt dar: Beide verabschieden sich von bestimmten metaphysischen Grundannahmen, die sich beispielweise in Benjamins Messianismus oder dem geschichtsphilosophischen Denken von Adorno und Horkheimer finden.3 Die Beiträge des zweiten Teils „Aktualisierungsbestrebungen und Herausforderungen“ diskutieren, neben dem Beitrag von Daria Bayer, entweder direkt Vorschläge der „zweiten Generation“ (Tömmel) oder sind im weiteren Sinne von dieser Weiterentwicklung der rechtsphilosophischen Diskussion im Kontext der Kritischen Theorie informiert (Bushart, Boehncke).
Habermas hat seine Kritik an Adornos und Horkheimers geschichtsphilosophischem Denken in seiner Theorie des kommunikativen Handelns vorgelegt (vgl. Habermas (1987 [1981]), Bd. 1: 489–534) sowie im Kapitel V („Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno“) im Philosophischen Diskurs der Moderne (Habermas (1988), 130–157). Gerade der Totalitätsobsession der Autoren der Dialektik der Aufklärung sei es zuzurechnen, dass verschiedene Vernunfttypen, wie sie Habermas im Rahmen seines eigenen kommunikationstheoretischen Modells entwickelt, unter derselben Perspektive betrachtet würden und damit ihre Verschiedenheit nicht in den Blick käme. Die große geschichtsphilosophische Verfallserzählung stehe sich selbst dabei im Weg, die Geschichte der Vernunft differenziert erzählen zu können und verkenne damit den „vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne“ (ebd. 137). Zu Habermas’ Kritik am metaphysischen Erfahrungsbegriff Walter Benjamins, die sich v. a. auf dessen Baudelairerezeption stützt, vgl. den „Exkurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen“ aus dem ersten Kapitel des Philosophischen Diskurs der Moderne (Habermas (1988), 21–26) sowie Habermas (1973), 303–344. 3
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Barbara Bushart setzt sich mit der emanzipatorischen Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt auseinander. Obwohl die Menschenrechte seit ihrer erstmaligen Proklamation im ausgehenden 18. Jahrhundert universale Geltung beanspruchen, zeigt nicht nur der Blick in die Geschichte, sondern auch jener in die Gegenwart, dass ihre Verwirklichung immer von der Einbindung in ein ordnungsrechtliches Gefüge abhängig ist. Deswegen hat Arendt einem differenzierten Katalog von spezifischen Menschenrechten eine Absage erteilt und an dessen Stelle ein einziges Menschenrecht gesetzt: das Recht, Rechte zu haben. Dabei handelt es sich nicht um eine Minimalforderung, wie ein Blick in den entsprechenden Passus aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) zeigt. Das Recht auf Rechte ist nämlich nur dann verwirklicht, wenn der Mensch in eine rechtlich verfasste politische Gemeinschaft eingebunden ist, in der er weltverändernd handeln und sprechen kann. Das bedeutet eine unbedingte Anerkennung des Individuums als Rechtsperson, die sich vom Rechtssubjekt dadurch unterscheidet, dass sie Gesetzen nicht nur unterworfen ist, sondern diese als Rechtskoautor:in stets auch mit gestalten kann. Doch das Recht auf Zugehörigkeit, das in Arendts politischer Theorie auf ihrem Menschewürdeverständis beruht, d. h., in dem Menschen vor allem deshalb würdig sind, weil ihnen das Potential zum politischen Handeln innewohnt, wird stets durch den Grundsatz der Souveränität eingehegt. Das in die nationalen Ordnungen eingeschriebene Recht des demos, über seine eigene Verfasstheit zu disponieren, hindert eine bedingungslose Einbindung der Exkludierten in die Gemeinschaft. Dadurch entstehen prekäre Leben, die sich durch ihre Handlungsunfähigkeit im öffentlichen Raum auszeichnen. In dem Beitrag verfolgt Bushart das Ziel darzulegen, wie eine konsequente Umsetzung von Arendts einzigem Menschenrecht diesem Phänomenen ‚an der Grenze‘ des Rechts beizukommen vermag. Tatjana Noemi Tömmel zeigt, dass die Uneinlösbarkeit einer vollkommen inklusiven politischen Teilnahme von Rechtsunterworfenen eine grundlegende Herausforderung für Habermas’ Diskurstheorie des Recht darstellt. Zentrales Element von Habermas’ Rechtsphilosophie ist die Legitimierung von Rechtsnormen durch ein faires demokratisches Verfahren. Wenn die Legitimität des Rechts auf der gleichberechtigten Teilnahme an politischen Diskursen basiert, diese aber ein bestimmtes Maß an Rationalität und Autonomiefähigkeit voraussetzen, beruht die gleiche Teilnahmeberechtigung letztlich auf einem Mindestmaß an empirischer Gleichheit. Der Beitrag beleuchtet diese Voraussetzung faktischer Teilnahmefähigkeit und geht dabei auf Personen ein, die nicht Autor:innen ihrer eigenen Rechte sein können. Abschließend werden mögliche Implikationen der Nichtteilnahme für die Rechtspraxis und Rechtstheorie erörtert und der Versuch unternommen, Recht inklusiver zu begründen. Clemens Boehncke setzt sich in seinem Beitrag mit den zeitgenössischen Positionen der Kritischen Theorie des Rechts von Christoph Menke und Daniel Loick auseinander, die als ‚post-juridisch‘ bezeichnet werden. Menkes und Loicks Ansätze sind dabei ‚nach Habermas’ als Versuche anzusehen, wieder stärker an die frühe Kritische Theorie anzuschließen. Wenngleich deren Arbeiten zweifelsohne der philosophischen
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Rechtskritik im deutschsprachigen Raum wichtige neue Impulse gegeben haben, äußert sich der Beitrag skeptisch gegenüber dieser Strömung und fasst damit zugleich die bisherige kritische Rezeption dieser Ansätze systematisch zusammen. Es wird auf methodischer, inhaltlicher und normativer Ebene jeweils ein Einwand erhoben: Erstens scheint methodisch eine Engführung insofern vorzuliegen, als dass aus der bloßen Aufarbeitung eines philosophischen Diskurses eine bestimmte Wirklichkeit erfasst und kritisiert werden soll; zweitens scheinen die Arbeiten auf einen Rechtsbegriff abzustellen, der in der Hauptsache staatlich sanktioniertes Privatrecht römisch-rechtlicher Prägung umfasst, was mit Blick auf gegenwärtige rechtliche Phänomene verkürzt wäre; drittens scheinen die mit diesen Rechtskritiken verbundenen Überlegungen zu einer ‚Transformation‘ des Rechts an entscheidenden Punkten undeutlich zu bleiben oder aber selbst einen normativen Gehalt in sich tragen, den sie nicht begründen. Im dritten Teil „Konkrete Problemfelder einer kritischen Theorie des Rechts“ geht es um die Analyse von Rechtsverletzungen gegenüber bestimmten Personengruppen. Einerseits wird thematisiert, wie mit Antisemitismus im Recht umzugehen ist, und andererseits wird die spezifisch rechtliche Diskriminierung von mehrfach marginalisierten Personen oder Gruppen (Intersektionalität) betrachtet. In Bezug auf Ersteres ist hervorzuheben, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus für die Tradition der Frankfurter Schule, deren Hauptvertreter während der NS-Zeit aus Deutschland fliehen mussten, seit jeher prägend war. Aus rechtswissenschaftlicher und philosophischer Perspektive zeigen Jeremias Düring und Constantin Luft in ihrem Beitrag „Justitias Blinder Fleck. Antisemitismus, Adorno und das AGG“ anhand eines aktuellen juristischen Falls (kuwaitisches Boykottgesetz gegen Israel) auf, dass die deutsche Rechtsprechung sich im Umgang mit modernen Ausdrucksformen des Antisemitismus schwertut. Es geht dabei um die Klage eines israelischen Passagiers gegen die Fluglinie Kuwait Airways, die ihn aufgrund seiner Staatsangehörigkeit nicht befördert hatte. Das eigentliche Problem stellen nach Düring/Luft nicht die gesetzlichen Regelungen zur Antisemitismusbekämpfung dar, die hinreichend festgelegt seien, sondern eine fehlende Sensibilisierung für zeitgenössische Formen antisemitischen Verhaltens, die sich in den Anwendungspraktiken der Gerichte zeige. Nach einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus rekonstruieren die Autoren in Auseinandersetzung mit dem Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ aus der Dialektik der Aufklärung sieben Thesen zum Antisemitismus (in) der Moderne. Düring und Luft vertreten die These, dass diese auch für die Bekämpfung von heutigem Antisemitismus im Recht lehrreich sein können. Der Beitrag offeriert am Ende eine auf das Recht zugeschnittene Systematik des modernen Antisemitismus und skizziert fünf Lernziele für eine gelungene gerichtliche Praxis. Somit eröffnet der Beitrag einen erfolgsversprechenden Zugang zu einem Problem unserer Zeit: nämlich der Frage, wie ganz konkret mit Antisemitismus im Recht umzugehen ist. So kommen die Autoren in Bezug auf den ‚Kuwait Airways-Fall‘ am Ende ihrer Analyse auch zu einer anderen Einschätzung als das Frankfurter Landgericht: dass nämlich
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das „Boykottgesetz gegenüber Israel […] strukturell antisemitisch (antisemitischer Antizionismus)“4 sei. Ines Rössl untersucht in ihrem Beitrag „Intersektionale Rechtskritik. Kimberlé Crenshaw als Kompass“ das Konzept der ‚Intersektionalität‘ (das zunächst in den USA im Kontext der Critical Legal Studies und der Critical Race Theory prominent wurde und mittlerweile auch in Europa stark rezipiert wird) und seine Bedeutung für kritische Analysen des Rechts. ‚Intersektionalität‘ beschreibt die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen, welche sich unter anderem darin zeigt, dass Individuen, die entlang mehrerer Ungleichheitsachsen marginalisiert sind (etwa ethnisch minorisierte Frauen), oft qualitativ anderen Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt sind als Personen, die nur entlang einer Achse marginalisiert sind. Eine kritische Theorie des Rechts muss also auch in den Blick nehmen, ob und wie das Recht mehrdimensionale Diskriminierungen erzeugt oder stabilisiert und in welcher Form sich intersektionale Herrschaftsstrukturen im Recht adressieren lassen. Die Autorin fragt danach, „inwiefern intersektionales Denken ganz allgemein als Variante rechtskritischer Methodologie begriffen werden kann“5, und liefert im Anschluss an Kimberlé Crenshaw, welche Ende der 1980er den Begriff der ‚Intersektionalität‘ geprägt hat, nützliche Ansatzpunkte in Bezug auf den Umgang mit intersektionalen Phänomenen im Recht. Dabei geht Rössl auf Überschneidungen und Unterscheidungen zwischen den Critical Legal Studies und der Critical Race Theory ein und arbeitet anschließend Elemente einer Methodologie intersektionaler Rechtskritik heraus. Die hier versammelten Beiträge zeigen, dass von einer Kritischen Theorie des Rechts nicht die Rede sein kann, sondern vielmehr von verschiedenen – mehr oder weniger durch die Frankfurter Schule inspirierten – kritischen Perspektiven auf das Recht.6 Einige von diesen abzubilden ist das Ziel dieser Sammlung. Fragen, die in den interdisziplinären Beiträgen verhandelt werden, sind u. a.: Inwieweit müssen die Ressourcen der Kritischen Theorie für eine adäquate kritische Betrachtung des Rechts um feministische, dekoloniale und poststrukturalistische oder dekonstruktive Rechtskritiken erweitert werden? Welche Elemente der analytischen Rechtsphilosophie sollten berücksichtigt werden? Worin besteht das besondere Potential des Erbes der Frankfurter Schule für eine kritische Betrachtung des Rechts? Wo muss die Kritische Theorie des Rechts dieser Strömung selbst einer Kritik unterzogen werden?
S. 360 im vorliegenden Band. S. 366 im vorliegenden Band. Ist von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule die Rede, folgen wir der üblichen Schreibweise. Wir verwenden „kritische Theorien“ für alle anderen Theorien, die methodisch in einem weiten Sinne mit der Frankfurter Schule verwandt sind (etwa die Critical Legal Studies). 4 5 6
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Literaturverzeichnis
Habermas, Jürgen (1973): „Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität Walter Benjamins 1972“. In: Ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a. M.: Verlag, 303–344. Habermas, Jürgen (1987) [1981]: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1988): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Menke, Christoph (2015): Kritik der Rechte. Berlin: Suhrkamp.
I.
Rechtstheorie und -kritik in der frühen Kritischen Theorie
Trägheit als Fortschritt* Neumann und Horkheimer zum normativen Potenzial des Rechts
SIMON GANSINGER
Inertia as Progress Neumann and Horkheimer on the Normative Potential of Law Abstract: What is the critique of law in the spirit of the early Frankfurt School? Franz Neumann
and Max Horkheimer, two colleagues at the Institute of Social Research, adopt contrary approaches to the subject of law. Neumann focuses on progressive aspects in the generality of law. Horkheimer associates legality with social inertia: under certain conditions, he argues, law can stall the course of history. On closer inspection, Neumann and Horkheimer pursue the same idea: law is more than a technique of domination if it does not coincide with the administration of people. For the early Frankfurt School, the normative potential of law hinges on the difference between law and administration. Keywords: Franz Neumann, Max Horkheimer, Frankfurt School, critical theory, legal theory, administration Schlagworte: Franz Neumann, Max Horkheimer, Frankfurter Schule, Kritische Theorie, Rechtstheorie, Verwaltung
Max Horkheimer initiiert 1930 am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) ein Projekt, dessen grundlegende Maxime sich vielleicht so zusammenfassen lässt: Die Kritische Theorie der Gesellschaft betrachtet ihren Gegenstand unter dem Gesichtspunkt der Befreiung. Ihr Motiv ist das „Streben nach einem Zustand ohne Ausbeutung
Dank an Esther Neuhann und David James für anregende Kommentare und Kritik, an Adrian Mohr für aufmerksame Korrekturen und an Johannes Buder für Hilfe bei der Recherche. *
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und Unterdrückung.“1 Ihr Kern ist die „Sorge um die Möglichkeiten des Menschen, um Freiheit, Glück und Recht des Individuums.“2 Die moderne Gesellschaft, der die Kritik gilt, ist ohne Recht nicht zu denken. Welches Urteil trifft dann Kritische Theorie über diesen Gegenstand? Es ist die Frage danach, was ich das normative Potenzial des Rechts nenne: nach dem Beitrag oder dem Gegensatz des Rechts zur „historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt.“3 Im Bemühen um eine Evaluierung des normativen Potenzials des Rechts beschränkt sich der folgende Aufsatz auf die Schriften von Franz Neumann und Max Horkheimer, zwei Kollegen am IfS während des Exils in New York. Der Grund hierfür ist – neben den üblichen pragmatischen Erwägungen – nicht die inhaltliche Nähe der beiden Autoren, sondern vielmehr ihre theoretische Distanz.4 Neumann und Horkheimer vertreten zwei scheinbar widersprüchliche Thesen. Für Neumann besitzt das Recht unter gewissen Umständen die ethische Funktion, ein Minimum an Freiheit und Gleichheit für die Mitglieder einer Gesellschaft herzustellen. Neumann verteidigt so das progressive Moment des Rechts. Horkheimer hingegen sieht im Recht eine Resistenzkraft angelegt. Diese fügt dem Recht ein retardierendes Moment ein: die Fähigkeit, Geschichte zu verlangsamen. Mein Ziel ist es, den Verdacht des Widerspruchs zu zerstreuen und stattdessen eine Synthese von Neumanns und Horkheimers Überlegungen vorzuschlagen. Das progressive und das retardierende Moment des Rechts benennen zwei Seiten derselben Medaille: Sie beschreiben eine Form von Recht, die nicht im Begriff der Verwaltung aufgeht. Der Aufsatz schlägt somit zwei akademische Fliegen mit einer Klappe. Zum einen leistet er theoriegeschichtliche Grundlagenarbeit zur oft vernachlässigten Rechtskritik des IfS.5 Zum anderen ist Horkheimer als Rechtstheoretiker nahezu unbekannt6 – ein Umstand, der hier einige Korrektur erfährt. Der Aufbau des Aufsatzes ist wie folgt. Zuerst wird Neumanns These zur ethischen Funktion des Rechts (progressives Moment) dargestellt (1), danach Horkheimers Begriff der Resistenzkraft des Rechts (retardierendes Moment) entwickelt (2). Der oberflächliche Gegensatz beider Argumente löst sich im Kontrast eines emphatischen Rechtsbegriffs zum Begriff der Verwaltung auf (3). Darüber hinaus treffen sich Neu-
Horkheimer (1988d [1937]), 214. Marcuse (1937), 637. Horkheimer (1988e [1937]), 219. In Horkheimers Oeuvre gibt es eine einzige Referenz auf Neumann, siehe Horkheimer (1988f [1938]), 280 (Anm. 86). In die andere Richtung ist die Auseinandersetzung etwas lebendiger, siehe Neumann (1978f [1954]), 456 (Anm. 54); (1980 [1936]), 19 (Anm. 7), 132 (Anm. 9), 134 (Anm. 13), 330; (1986a [1937]), 73 (Anm. 116); (1986d [1957]), 226 (Anm. 13 f.); (2018 [1944]), 537 (Anm. 16), 540 (Anm. 21). 5 Ausnahmen sind etwa Söllner (1979); Scheuerman (1994); Buckel (2007). 6 Umso willkommener ist Fuchshuber (2019), 397–475. 1 2 3 4
Trägheit als Fortschritt
mann und Horkheimer in der Bestimmung der gesellschaftlichen Bedingungen des normativen Potenzials des Rechts (4). Abschließend erlaube ich mir drei weiterführende Thesen über die aktuelle Relevanz der frühen Kritischen Theorie des Rechts (5). 1.
Neumann zur ethischen Funktion des Rechts
Dass Neumann dem Recht eine ethische Funktion zuspricht, muss zunächst merkwürdig anmuten, weckt der Begriff doch Reminiszenzen an die Tradition des Naturrechts. Gerade gegen die naturrechtliche Vermischung von Recht und Moral bezieht Neumann jedoch entschieden Stellung. „Die starre Trennung von Sein und Sollen“, schreibt er in einem Kommentar zu einem Buch des Naturrechtlers Lon L. Fuller, „ist besonders heute ein höchst fortschrittliches Prinzip, welches es verunmöglicht, irgendein existierendes positives Rechtssystem mit dem Nimbus einer moralischen Ordnung zu umgeben.“7 Neumann will nicht suggerieren, dass bereits im formalen Begriff des Rechts dessen Affinität zur Moral angelegt ist. Stattdessen geht es ihm darum, jene geschichtlich kontingenten Elemente des Rechts herauszustellen, die über den Nutzen für Staat oder Kapital hinausgehen. In ihrer negativen Bestimmung bezeichnet die ethische Funktion den Kontrast zur politischen und zur ökonomischen Funktion des Rechts. Eine kurze Zusammenfassung dieser beiden Dimensionen wird die positive Bestimmung der ethischen Funktion erleichtern. (1) Die politische Funktion des Rechts8 liegt in seiner Fähigkeit, den Lokus der politischen Gewalt zu verschleiern. Neumann zitiert wiederholt den angloamerikanischen Ausspruch, dass eine Republik ein „government of laws and not of men“ sei, welcher „es überflüssig [macht] zu erwähnen, dass Menschen herrschen, wenn sie auch im Rahmen von Gesetzen regieren.“9 Indem das Interesse der herrschenden Klassen durch Gesetzbücher, Gerichte und Grundrechte vermittelt wird, fällt die Identifizierung und die Skandalisierung ebendieses Interesses schwerer. Im bürgerlichen Staat tritt den Menschen politische Macht in entpersonalisierter Gestalt entgegen: als seelenloser Buchstabe des Gesetzes, dessen Entstehung, Auslegung und Vollstreckung den Eindruck bloßer Formalitäten machen. In der Folge konsolidiert die Rechtsform den politischen Status quo. Der rechtliche Ausdruck staatlicher Gewalt – und seine
Neumann (1941), 157 f. [eigene Übersetzung]; siehe auch Neumann (2018 [1944]), 513. Explizit spricht Neumann nur an einer Stelle (1986c [1953]), 108 von der ‚politischen Funktion‘ des Rechts; angelegt ist der Begriff jedoch bereits in Neumann (1980 [1936]), 298–300; (1986a [1937]), 47 f. 9 Neumann (1986a [1937]), 47; siehe auch Neumann (1986c [1953]), 108. 7 8
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Verbrämung als rule of law oder Rechtsstaatlichkeit10 – bringt die gesellschaftlichen Antagonismen im widerspruchsfreien System der Normen zum Verschwinden. (2) Die ökonomische Funktion des Rechts besteht in der Herstellung günstiger Bedingungen für die heimische Wirtschaft. Neumann betont die historische Variabilität dieser Bedingungen: Die rechtlichen Voraussetzungen des kapitalistischen Produktionsprozesses wechseln mit dessen geschichtlicher Erscheinung. In der liberalen Hochzeit des Marktes, wenn sich die Unternehmen im Spiel der freien Kräfte in Balance halten, besteht die „primäre Aufgabe des Staates […] in der Schaffung einer solchen Rechtsordnung, die die Erfüllung von Verträgen sichert.“11 An die Stelle solcher Zurückhaltung treten in der Periode des Monopolkapitalismus direkte Eingriffe durch Parlament, Justiz und Behörden. Das öffentliche Recht gewinnt an Bedeutung für die Wirtschaft.12 Im Blick auf die politische und ökonomische Funktion des Rechts offenbart sich für Neumann der systemstabilisierende Aspekt von Legalität. Recht steht im Dienst der herrschenden Interessen und wandelt sich seiner Form nach in deren Sinne. (3) Die ethische Funktion des Rechts stellt sich nun diesem glatten politischen und ökonomischen Funktionalismus entgegen – weshalb hier der Begriff der Funktion, wie einige Kommentatoren anmerken,13 etwas deplatziert wirkt. Im Wesentlichen geht es Neumann um Folgendes: Recht ist mehr als eine Herrschaftstechnik, insofern es seinen Adressat:innen, auch den politisch und ökonomisch abgehängten, „ein Minimum an Freiheit und Gleichheit [garantiert].“14 In der Bestimmung dieses „ethischen Minimums“15 bleibt Neumann vage. Die Freiheit des Rechtssubjekts ist an die Erwartung gebunden, dass nur rechtswidriges Handeln staatliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die zentrale Rolle des Normbruchs im Verhältnis des Staates zu seiner Bevölkerung wird so zum Indiz der Freiheit des Subjekts. Der liberale Ausspruch, den wir etwa bei Voltaire und Montesquieu finden, frei zu sein, heiße schlichtweg, von nichts anderem als dem Gesetz abhängig zu sein, enthält für Neumann zumindest so viel Wahrheit, als dass das Gesetz einen Rahmen festlegt, so eng er auch sein mag, innerhalb dessen keine staatliche Einschränkung zu Zum ideologischen Gehalt von rule of law und Rechtsstaat, siehe Neumann (1986a [1937]), 52; ähnlich bei Kirchheimer (1981). 11 Neumann (1986 [1937]), 48; siehe auch Neumann (1980 [1936]), 223–227, 300–302. 12 Siehe v. a. Neumann (1986a [1937]), 66 f.; auch Neumann (1980 [1936]), 329–336; (2018 [1944]), 517. 13 Siehe etwa Erd (1985), 65–70; Söllner (1979), 135. Etwas streng scheint Ingeborg Maus’ Urteil (1995), 509, die ethische Funktion sei „ein seltsam fremdes, theoretisch unausgewiesenes Moment“ in Neumanns Werk. 14 Neumann (1986a [1937]), 50. In einem früheren Aufsatz (1978a [1930]), 68 fällt Neumanns Beurteilung formal-rechtlicher Gleichheit noch unumwunden negativ aus. Diese Haltung weist er vier Jahre später explizit zurück, siehe Neumann (1978b [1934]), 126. 15 Neumann (1986c [1953]), 107; siehe auch Neumann (1986b [1952]), 203. Der Begriff des „ethischen Minimums“ taucht auch bei Kirchheimer (1976), 40 auf. Wahrscheinlich haben beide den Begriff von Georg Jellinek via Max Weber übernommen. Mehr zur Begriffsgeschichte bei Shatin (1974). 10
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befürchten ist: Im bürgerlichen Rechtsstaat „besteht eine grundsätzliche Vermutung für die Freiheit des Bürgers und gegen den Zwangseingriff des Staates.“16 Entsprechend nachdrücklich verteidigt Neumann den Grundsatz nulla poena sine lege: Von Freiheit kann nur die Rede sein, solange mein Handlungshorizont nicht retroaktiv eingegrenzt wird.17 Neben jener rechtlich-negativen Freiheit schreibt Neumann auch der rechtlichen Gleichheit einen ethischen Wert zu. Zumindest als dem Gesetz unterworfene Bürger:innen sind die sonst so verschiedenen Individuen identisch: Was für die eine gilt, gilt auch für den anderen, unabhängig von partikularen Unterschieden. Die allgemeine Rechtsform zwingt dazu, Menschen en masse anzusprechen, womit ihr die Anerkennung der Einzelnen als ebenbürtige Rechtssubjekte inhärent ist. Freiheit und Gleichheit befinden sich in einem intimen Verhältnis: „Der Einzelne weiß im voraus“ – zumindest wenn das Recht eine ethische Funktion aufweist – „daß er nichts hinzunehmen braucht, was nicht die anderen aus gleichen Gründen hinnehmen müssen.“18 Zwischen den Rechtssubjekten besteht demnach eine Art formale Solidarität: Unter der Herrschaft des allgemeinen Gesetzes bedeutet ein Einschnitt meiner Rechte auch einen Einschnitt deiner Rechte und umgekehrt – die Rechtssubjekte sitzen alle im selben Boot. In diesem Sinn verallgemeinert das Prinzip der rechtlichen Gleichheit die persönliche Freiheit: Der normative Spielraum jedes Einzelnen ist stets so groß wie der jeder anderen.19 Wie groß dieser Spielraum letztlich ausfällt, ist freilich keine Frage des Rechtsbegriffs, sondern der geschichtlichen Praxis. Ebenso wenig legt der Begriff des Rechts fest, inwieweit formale zu materialer Solidarität wird – ob also die Individuen einander beistehen, wenn der Staat beginnt, manche von ihnen aus dem Boot zu befördern. Dennoch beharrt Neumann auf der ethischen Funktion rechtlicher Allgemeinheit: Diese schafft die Form, innerhalb derer sich Gleichheit und Freiheit mit Inhalt füllen lassen. Die Allgemeinheit des Gesetzes lässt sich nicht einfach voraussetzen. In manchen Rechtssystemen ist sie ein maßgebliches Merkmal; in anderen ist sie nahezu abwesend. Dasselbe gilt folglich für die ethische Funktion des Rechts. Recht transzendiert nur dann seine politische und ökonomische Funktion, wenn es drei Bedingungen rechtlicher Allgemeinheit erfüllt.20 Erstens reguliert das allgemeine Gesetz eine unbestimmte Zahl zukünftiger Handlungen ohne Ansehen der Person. Zweitens formuliert es seinen normativen Gehalt ohne Rekurs auf bedeutungsoffene Generalklauseln wie Billigkeit und Sittenwidrigkeit. Und drittens überlässt es die Interpretation und Neumann (1978b [1934]), 128. Siehe Neumann (1986a [1937]), 44; (1986c [1953]), 105 f.; (2018 [1944]), 515. Neumann (1986c [1953]), 107. Hier klingt das Kantsche Motiv der Reziprozität an: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ Kant (1986), 230. 20 Siehe Neumann (1986a [1937]), 37 f. Eine ausführliche Zusammenfassung findet sich in Fisahn (2009). 16 17 18 19
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Anwendung der Normen unabhängigen Gerichten. Kurzum: Eine allgemeine Norm stellt „eine abstrakte Regel [auf], die keine individuellen Fälle oder individuell genannte Personen enthält, die vielmehr prospektiv erlassen ist und daher auf alle Fälle und alle Personen in abstracto anzuwenden ist.“21 Eine Rechtsordnung, die diese drei Bedingungen respektiert, ist „jeder Art von individuellem Befehl entgegengesetzt“.22 Die abstrakte Gesetzesform unterbindet explizite Diskriminierung durch die Legislative. Der Verzicht auf moralische Formeln macht es den Verwaltungsbehörden schwerer, ihre Wertvorstellungen mit Bestandskraft auszustatten. Und die strikte Trennung der Gewalten entfernt die Judikative von politischen Aufgaben und demnach von politischen Einflüssen. Das allgemeine Recht schützt das Individuum vor dem unbeschränkten Zugriff durch die Agenturen der Herrschaft.23 Freiheit und Gleichheit sind Indiz der Abwesenheit politischer Willkür. Genau in dieser Abwesenheit erkennt Neumann die ethische Funktion des Rechts. 2.
Horkheimer zur Resistenzkraft des Rechts
Horkheimer liegt die Suche nach den fortschrittlichen Merkmalen des Rechts fern, selbst wenn er an mancher Stelle der Sprache Neumanns durchaus nahekommt. „Das Strafrecht schützt den Bürger nicht bloß vor der Tat“, schreibt er etwa in der Theorie des Verbrechers, seiner ausführlichsten rechtstheoretischen Abhandlung, „sondern zugleich vor dem Staat, der sie rächen soll.“24 Derartige Betrachtungen zum Nutzen, den das Individuum ungeachtet seiner sozialen Position aus dem Rechtsverhältnis zieht, bleiben in Horkheimers Oeuvre jedoch randständig. Dieses Desinteresse an der ethischen Funktion ist durchaus konsequent, wenn wir mit Horkheimer und Adorno davon ausgehen, dass jedem Fortschritt die Fortsetzung des gesellschaftlichen Elends eingeschrieben ist. „Was unter der Herrschaft gedeihen will, steht in Gefahr, die Herrschaft zu reproduzieren“25 – das gilt, wie Horkheimer festhält, auch für verfassungsmäßig verbriefte Rechte.26 Selbst dort, wo es unter dem Banner von Freiheit und Gleichheit erscheint, folgt das Recht der Tendenz, „daß in der Klassengesellschaft alle Anstalten für die unteren schließlich in Beherrschungsmittel umschlagen.“27 Die Aufgabe der Kritik besteht demnach gerade darin, die Verstrickung der gesellschaftlichen Institutionen in Herrschaft darzustellen, anstatt deren gelegentNeumann (1980 [1936]), 246 [Übersetzung modifiziert]; siehe auch Neumann (1986c [1953]), 104 f. Neumann (1980 [1936]), 245. Siehe Neumann (1980 [1936]), 276–279; siehe auch die Diskussion zur Abwesenheit rechtlicher Allgemeinheit im Nationalsozialismus in Neumann (1986a [1937]), 67–75; (2018 [1944]), 522–530. 24 Horkheimer (1985c [~1942]), 266. 25 Horkheimer (1987a [1942]), 296. 26 Siehe ebd., 304. 27 Horkheimer (1985f [1945]), 298; siehe auch Horkheimer (1988h [~1955]). 21 22 23
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liche Wohltaten zu würdigen. Es ist das „Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung“,28 welches die Rede von der ethischen Funktion des Rechts für Horkheimer verdächtig machen muss. Insbesondere an der Einrichtung des Strafsystems verdeutlicht Horkheimer die intime Beziehung von Grausamkeit und Recht. Durch die beständige Produktion eines Überflusses an Waren ist im kapitalistischen Zeitalter auch eine Unmenge an menschlichem Leid überflüssig geworden und potenziell – per revolutionären Handstreich – aus der Welt zu schaffen. Umso dringlicher, meint Horkheimer, ist daher der Glaube an die bedauerliche Alternativlosigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Indem das Elend der Verurteilten vor Gericht für gerecht und notwendig befunden wird, werfe das Strafrecht ideologischen Mehrwert ab. Das bessere Leben, das einem die planlose Einrichtung der Welt versagt, lasse sich mitunter leichter vergessen, wenn die sozialen Institutionen das Leben anderer Menschen planmäßig zerstören. „Eine Hauptwurzel der Grausamkeit“, schreibt Horkheimer, „bildet die Verzweiflung an der Möglichkeit des allgemeinen Glücks.“29 Innerhalb der Gefängnismauern würden die Menschen wenigstens mit voller Absicht gequält, erniedrigt und krank gemacht. Wenn das unsägliche Leiden der Gefangenen allem Anschein nach Sinn hat, denken sich die rechtschaffenen Bürger:innen, wer bin ich, mein eigenes Unglück infrage zu stellen? Vor dem öffentlich zugefügten Schmerz verblasst die verdeckte Unvernunft der Welt.30 Horkheimer trifft sich mit Neumann in der Bestimmung der politischen Funktion des Rechts. Insofern das Recht die Verhältnisse verschleiert oder strafrechtlich exekutiert, verfestigt es politische Gewalt. Am deutlichsten wird Horkheimer in dieser Hinsicht am Ende seiner Notiz Zur Rechtsphilosophie: „Die Gesetze befinden sich in prästabilierter Harmonie mit der Herrschaft von Cliquen, welche Waffen und Produktionsmittel innehaben.“31 Dieses Urteil bleibt jedoch nicht ungebrochen. Auch in Horkheimers Oeuvre, vor allem in den posthum veröffentlichten Essays aus der Zeit in Amerika, findet die zivilisatorische Wirkungskraft des allgemeinen Gesetzes Anerkennung. Wenngleich die Phrase von der Gleichheit vor dem Gesetz reale Ungleichheiten überpinsele, „gehörte der Begriff der Allgemeinheit des Rechts […] zu jener Seite der Ideologie, durch den sie über sich hinauswies.“32 Die Subsumtion des Individuums unters Recht ist eben beides: Ausdruck des staatlichen Zugriffs und Prozess jener gesellschaftlich vermittelten Subjektwerdung, die der zuvor genannten formalen Solidarität zugrunde liegt.
Horkheimer/Adorno (1987 [1944]), 198. Horkheimer (1988c [1936]), 104; siehe auch Horkheimer (1988b [1936]), 78 f. Zum Strafrecht siehe vor allem Horkheimer (1985a [1942]) und (1985c [~1942]); außerdem (1988h [~1955]); (1988i [~1955]); (1991b [1960]). 31 Horkheimer (1985a [1942]), 262. 32 Horkheimer (1985b [1942]), 279; siehe auch Horkheimer (1985c [~1942]), 267; (1991a [1947]), 178. 28 29 30
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Als allgemeine Vermittlungsform der Herrschaft besitzt das Recht ein retardierendes Moment. Horkheimer führt dazu in Die Rackets und der Geist aus: Wenn eine Organisation so mächtig ist, daß sie ihren Willen auf einem geographischen Gebiet als dauernde Regel des Verhaltens für alle Bewohner aufrechterhalten kann, so nimmt die Herrschaft der Personen die Form des Gesetzes an. Dieses fixiert die relativen Machtverhältnisse. Als fixiertes Medium gewinnt das Recht, wie andere Vermittlungen, eigene Natur und Resistenzkraft.33
Horkheimer bringt die Resistenzkraft – also Widerstandsvermögen oder Trägheit – mit der Figur der Fixierung in Verbindung: Die Gesetzesform festigt gesellschaftliche Hierarchien, selbst wenn Geschichte bereits über diese hinaustreibt. Ähnlich lautet es in der Dialektik der Aufklärung: „Indem die Herrschaft […] zu Gesetz und Organisation sich verdinglichte, mußte sie sich beschränken.“34 In Gestalt des positiven Rechts wird der Wille der Mächtigen zum Ding, das mitunter gerade dem Willen der Mächtigen ins Gehege kommt. Instrumente – auch die der Herrschaft – haben es an sich, dass nicht jeder Gebrauch im Sinne des Erfinders bleibt. Horkheimer schreibt weiter in Die Rackets und der Geist: Der Sinn und Zweck des Rechts, im gesellschaftlichen Leben zur Richtlinie zu dienen, bedingt sein Absehen von der bestimmten Person und von der Vergangenheit, seine Gültigkeit für und gegen jeden vom festgesetzten Tage an bis zur öffentlichen Widerrufung. Das Mittel der Herrschaft setzt sich ihr entgegen als die Reflexion, an der sie sich entlarvt.35
Herrschaft öffnet sich im Recht der Urteilskraft. Insofern Artikulation, Interpretation und Anwendung des gesetzgebenden Willens auseinanderfallen, ist Rechtspraxis immer ein Akt rationaler Rekonstruktion. Was intendiert die Verfassung, wenn sie die Gleichheit aller Bürger:innen vor dem Gesetz proklamiert? Meint diese Gleichheit, dass der Kodex „Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“?36 Indem das Recht gesellschaftliche Macht objektiviert, sie also zur öffentlichen Angelegenheit erklärt, macht es diese im doppelten Sinn angreifbar: „Die Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, […] müssen sich von allen erfassen lassen.“37 Recht heischt Verständnis. Was aber, wenn das, was im Recht zum Ausdruck kommt – Staat, Kapital, mitunter Religion –, kein Verständnis verdient? Die normative Reflexion der Gewalt impliziert ihre Sichtbarmachung und Kritik.
Horkheimer (1985d [~1942]), 289; vgl. Neuhann (2020), 282 zur rechtsimmanenten normativen Problematik „dieser Bindung [des Gesetzes] ‚an die Vergangenheit‘.“ 34 Horkheimer/Adorno (1987 [1944]), 60; ähnlich in Horkheimer (1985c [~1942]), 266. 35 Horkheimer (1985d [~1942]), 289 f. 36 Der inzwischen zum geflügelten Wort gewordene Ausspruch stammt aus France (1919), 112. 37 Horkheimer/Adorno (1987 [1944]), 60. 33
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Horkheimers Überlegungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Mit Ausnahme spontaner revolutionärer Ausbrüche ist die Menschheitsgeschichte wesentlich die Geschichte der Konsolidierung von Herrschaft. Recht verlangsamt diesen schlechten Lauf der Dinge, insofern es zum Sand im Getriebe des Herrschaftsapparats wird. Dieses retardierende Moment zeigt sich in drei Aspekten des Rechts: (a) Konservativer Aspekt: Recht repräsentiert eine diachrone Spaltung der Herrschaft. Wie ein Testament prolongiert ein Gesetz die Intentionen des Urhebers oder der Urheberin, ohne unbedingt Rücksicht auf die Wünsche der Erb:innen zu nehmen. Als gesellschaftliche Vermittlungsform bildet Recht „einen kulturellen Kitt, welcher eine gesellschaftliche Formation erhält, selbst wenn deren Rolle in der Produktion obsolet geworden ist.“38 Steht er einmal in den Gesetz- und Fallbüchern, gerät der Wille alter Machtgruppen in potenziellen Konflikt mit aktuellen Interessen. Horkheimer kommt auf das Beispiel des Koalitionsrechts zu sprechen: Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts war zersplittert, die Kontrolle des Staates auf verschiedene Gruppen aufgeteilt, die sich im gegenseitigen Misstrauen immerhin auf einige Garantien für die politische Betätigung verständigen konnten. Von solcher Konkurrenz profitierten auch die Arbeitervereine. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Monopole an politischem Einfluss gewannen, hatten sie jedoch wenig Verwendung für den Freiheitskatalog des revolutionären Bürgerturms, noch weniger für ein schlagkräftiges Proletariat. Das Koalitionsrecht trat dennoch nicht leise ab: Die Gewerkschaften mussten von Armee und Polizei zermürbt oder in den autoritären Staat integriert werden.39 In der Präsumtion für den Fortbestand bereits erworbener Rechte erhebt die Vergangenheit Einspruch gegen die Gegenwart. (b) Explikativer Aspekt: Recht verdeutlicht Heteronomie. Am Beispiel des Strafrechts tritt dieser Umstand unmittelbar zutage. Zweihundertfünfzig Jahre liberale Rechtsphilosophie haben es nicht vermocht, die Institution der Strafe mit Cesare Beccarias Satz zu versöhnen, dass „jeder Autoritätsakt eines Menschen gegen einen anderen, der nicht von absoluter Notwendigkeit herrührt, tyrannisch ist.“40 Aus blanker Not werfen die Gerichte freilich die wenigsten ins Gefängnis: Zu groß ist die Übermacht des Staates, als dass er sich gegen die gemeine Delinquenz ex post facto zur Wehr setzen müsste. Recht vergegenwärtigt Gewalt auch dort, wo sie zur Aufrechterhaltung des Systems überflüssig ist. Das Strafgesetzbuch diene der „Schikane“41 und „Abschreckung“,42 konstatiert Horkheimer; alles andere sei „schlechte Metaphysik.“43
Horkheimer (1985e [1943]), 82 [Übersetzung modifiziert]. Siehe Horkheimer (1987a [1942]), 298. Beccaria (1769), 5 [eigene Übersetzung]. Deutsche Ausgaben folgen häufig der französischen Übersetzung von André Morellet, in der sich der zitierte Satz nicht finden lässt. 41 Horkheimer (1988h [~1955]), 66. 42 Horkheimer (1991b [1960]), 348. 43 Ebd. 38 39 40
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Die Heteronomie der Rechtsordnung erscheint auch in der ökonomischen Sphäre: Die Lohnarbeiterin kann sich ebenso wenig als Autorin des Arbeitsvertrags vorstellen wie der Verurteilte als Autor seiner Strafe.44 Indem Staat und Kapital dazu genötigt sind, ihr Verhältnis zu Bürger:innen und Arbeiter:innen rechtlich und damit für alle sichtbar zu beschreiben, werden Hierarchien dokumentiert. Der explikative Aspekt benennt somit die Kehrseite von Neumanns politischer Funktion: Recht verschleiert die Verhältnisse nicht nur, es bringt auch die Gewalt, die in ihnen zugange ist, zu Bewusstsein. (c) Diskursiver Aspekt: Rechtliche Normen fungieren als gesellschaftliche Versprechen. „Dafür dass Versprechungen nicht bloß gegeben, sondern mit einiger Regelmäßigkeit gehalten wurden“, schreibt Horkheimer, „bestand freilich […] eine notwendige Voraussetzung: der hochentwickelte juristische Apparat mit der ganzen Macht der herrschenden Klasse als Fundament.“45 So entstanden Foren, in denen die Menschen von Rechts wegen Gründe für vermeintlich oder tatsächlich gebrochene Versprechen einfordern konnten. Die Gerichtsverhandlung und – in den besseren Zeiten des Parlamentarismus – die Plenarsitzung boten einen Raum, innerhalb dessen sich selbst die Abgehängten und Verratenen Gehör verschaffen konnten, auch wenn die Entscheidung in der Regel nicht zu ihren Gunsten ausfiel. Als Rechtssubjekte besitzen die Individuen eine Stimme in der Öffentlichkeit, die ihnen erlaubt, „daß sie sagen, was Macht über sie alle hat“,46 just in Gegenwart ebendieser Macht. In solch bescheidenem Sinn teilt der Rechtsdiskurs mit Philosophie und Kunst, dass er „vermittels der Sprache das Leiden reflektiert und es damit in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung überführt.“47 Recht entlarvt die ungerechten Verhältnisse, wie Horkheimer meint, indem es die Niederschläge des Unrechts zu Protokoll bringt. Diese Eigenschaften machen das Recht zum sperrigen Instrument in den Händen der herrschenden Klassen. Ein Medium, das vergangene Verhältnisse festhält, gegenwärtige zu Bewusstsein bringt und werdende in Frage zu stellen erlaubt, verlangsamt den Lauf der Geschichte, an der es teilhat. Die Resistenzkraft des Rechts ist stets gegen jene gerichtet, die über es verfügen. Indem und wenn es sich nicht unmittelbar dem Willen der jeweils Starken anschmiegt, entfaltet das Recht sein normatives Potenzial. Fassen wir also kurz die augenscheinlichen Unterschiede von Neumanns und Horkheimers Thesen zusammen. Neumann ist interessiert an der Darstellung des ethischen Gehalts einer bestimmten Rechtsform. Als allgemeines Gesetz, so Neumann, besitzt das Recht nicht bloß eine politische und eine ökonomische Funktion, sondern trägt Letzteres hat bereits Kant gegen Beccaria eingebracht, siehe Kant (1986), 331–337. Kontraktualistische Theorien machen die Legitimität gesellschaftlicher Arrangements davon abhängig, ob die Betroffenen zumindest hypothetisch ihre Zustimmung geben könnten. Zum ideologischen Charakter des Arbeitsvertrags siehe Horkheimer (1985e [1943]), 79 f.; (1988f [1938]), 273 f. 45 Horkheimer (1988a [1935]), 262. 46 Horkheimer (1985g [1946]), 126. 47 Horkheimer (1991a [1947]), 179. 44
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real zu einer gerechteren Gesellschaft bei. Diese ethische Funktion ist nur im Dienst des historischen Fortschritts zu denken: Das allgemeine Gesetz schafft einen Raum, innerhalb dessen das Individuum vor den Zumutungen politischer Gewalt geschützt wird, und greift so einem Zustand voraus, in dem diese Gewalt keine Bedrohung mehr darstellt. Neumann zielt demnach auf das progressive Moment im bürgerlichen Recht.48 In Horkheimers Begriff des Rechts scheint keine ethische Funktion enthalten zu sein. Dennoch ergibt sich für Horkheimer aus der Kritik des Rechts nicht dessen Verwerfung: Recht weist vielleicht nicht über die bestehende Gesellschaft hinaus, aber es geht auch nicht vollständig in ihr auf. Indem Normen einen konservativen, explikativen und diskursiven Aspekt aufweisen, verkomplizieren sie die Herrschaftspraxis und machen es so schwieriger, Geschichte im Sinne derjenigen voranzutreiben, die an den Hebeln der Macht sitzen. Horkheimer fokussiert also auf das retardierende Moment im bürgerlichen Recht. Recht hat normatives Potenzial, wenn es
eine ethische Funktion aufweist
Resistenzkraft besitzt
Neumann
Horkheimer
Als allgemeines Gesetz stellt Recht Minimum an Gleichheit her
garantiert Recht Minimum an Freiheit
Progressives Moment
konserviert Recht alte Interessen
expliziert Recht staatliche Herrschaft
macht Recht individuelles Leid öffentlich
Retardierendes Moment
Abb. 1 Das progressive und das retardierende Moment des Rechts
Auf den ersten Blick benennen das progressive und das retardierende Moment, Fortschritt und Trägheit, konträre Elemente: Hier markiert das allgemeine Gesetz einen Schritt in Richtung Freiheit und Gleichheit; dort bremst die Verrechtlichung bürgerlicher Verhältnisse die ihnen innewohnende Tendenz zum Autoritarismus. Doch beide Thesen ergänzen einander nicht bloß, sie bedingen sich sogar. Das progressive Moment hat dann, und nur dann, Kraft, wenn auch die Resistenzkraft real ist; und das retardierende Moment tritt erst in Erscheinung, wenn die Rechtsform, mit Neumann gesprochen, eine ethische Funktion besitzt. Die Nähe von Neumanns und Horkheimers Überlegungen wird deutlich, wenn wir auf den Begriff der Verwaltung reflektieren.
In einer Rede vor Student:innen der FU Berlin nennt Neumann (1978e [1950]), 374 Rechtsstaatlichkeit und richterliche Unabhängigkeit „schöne und fortschrittliche Gedanken.“ Vgl. Fisahn (2009), 47. 48
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3.
Recht versus Verwaltung
Trotz der diskutierten Differenzen sind sich Neumann und Horkheimer darin einig, dass das normative Potenzial des Rechts an dessen Unterschied zur Verwaltung hängt. Anders gesagt, verliert Recht als Medium der Verwaltung sein progressives und sein retardierendes Moment. Im Gegensatz von Recht und Verwaltung liegt also eine geteilte negative Bedingung von zivilisierendem Fortschritt und zivilisierender Trägheit. Für eine vorläufige Bestimmung dieses Gegensatzes können wir uns mit dem Kontrast von direkter Kontrolle durch Verwaltung und indirekter Leitung durch Recht behelfen.49 Neumann und Horkheimer konvergieren in der Einschätzung, im modernen Staat bestehe die Tendenz, das Betätigungsfeld zentralisierter Verwaltung sukzessive zu erweitern. Horkheimers Lamentationen über die „verwaltete Welt“ sind bekannt.50 Neumann wird seltener als Kritiker der Verwaltung rezipiert, doch auch bei ihm ist die administrative Einhegung des gesellschaftlichen Lebens Thema. „Der moderne Staat der Massendemokratie“, so Neumann bereits 1934, „hat sich […] in einen Interventionsstaat verwandelt, der zu einer Transformation des Gesetzgebungsstaates in einen Verwaltungsstaat geführt hat.“51 Ähnlich äußert sich Neumann in seinen Abhandlungen zum Funktionswandel der Gewerkschaften. Der zunehmende Einfluss des Staates auf Produktion, Warenmarkt und Freizeitgestaltung schwächt die Selbständigkeit der Verbände. Zudem ruft die periodische Freisetzung großer Teile der Arbeiterschaft durch Krisen und technologischen Fortschritt die sozialstaatliche Betreuung von Arbeitslosen und prekär Beschäftigten auf den Plan. In der Folge wird die Organisation der Bevölkerung außerhalb der Staatsapparate nicht bloß schwierig, sondern unsinnig.52 Diese „Verstaatlichung der Gesellschaft“53 führt zu einem Wandel in der Rechtsform: Das allgemeine Gesetz verliert an Bedeutung; der „unmittelbare Befehl des Staates, der Verwaltungsakt“,54 wird zum adäquaten normativen Instrument. Neumann identifiziert drei Elemente dieses Prozesses, in dessen Verlauf Recht die Züge der Verwaltung annimmt: (1) In ihrem Inhalt erscheinen Rechtsnormen zunehmend als individuelle Maßnahmen: als Manipulationen konkreter Sachverhalte mit vorbestimmtem Ausgang. Indi-
Siehe etwa Neumann (1980 [1936]), 40 f., 277–279. In der Literatur zu Horkheimer ist es bedauerlicherweise üblich, entweder Verwaltung mit der Anwendung abstrakter Regeln zu identifizieren (siehe etwa Schiller (2014), 134–137) oder aber das Verhältnis von Recht und Verwaltung gänzlich auszusparen. 50 Zur Begriffsgeschichte siehe Schiller/Fischer (2018). Bereits bevor ‚verwaltete Welt‘ ins Vokabular der Kritischen Theorie eingeht, ist sie Thema von Horkheimers Schriften, siehe etwa Horkheimer (1988g [1939]), 315; Horkheimer/Adorno (1987 [1944]), 61 f.). 51 Neumann (1978b [1934]), 130. 52 Siehe Neumann (1978d [1935]), 175–187; sehr ähnlich bei Horkheimer (1985e [1943]), 87 f. 53 Neumann (1978d [1935]), 177. 54 Neumann (1986a [1937]), 67. „Verwaltungsakt“ hier nicht in der juristischen Bedeutung als Akt eines Verwaltungsorgans, sondern im erweiterten Sinn als Akt ohne allgemeinen Inhalt. 49
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viduelle Maßnahmen stehen in direkter Spannung zur Allgemeinheit des Gesetzes. Die scharfe Gegenübersetzung von allgemein-normsetzender Gewalt und individuellnormanwendender Gewalt übernimmt Neumann von der liberalen Rechtstradition, insbesondere von Rousseau: „[ J]ede Aussage, die sich auf ein individuelles Objekt bezieht, gehört nicht zur gesetzgebenden Gewalt“55 – sie fällt der administrativen Gewalt zu. Der Übergang von allgemeinem Gesetz zu individueller Maßnahme verhält sich analog zum Gegensatz einer Regel und eines Kommandos: ‚Wer zu spät zum Morgenappell erscheint, muss fünf Runden um den Kasernenplatz laufen‘ lässt dem Angesprochenen eine Verantwortung, die der Satz ‚Laufen Sie sofort fünf Runden um den Kasernenplatz!‘ kassiert.56 Staatliche Unterstützung für die kriselnde Schwerindustrie oder die Durchsetzung von Schutzzöllen für bestimmte Märkte sind prominente Beispiele für individuelle Maßnahmen aus Neumanns Zeit. (2) In der Sprache des Rechts gewinnen Generalklauseln an Bedeutung. Neumann hat hier ‚Sittenwidrigkeit‘ oder ‚Treu und Glauben‘ im Privatrecht oder auch die englische Konstruktion der ‚reasonable person‘ vor Augen.57 Solche Rechtsbegriffe, meint Neumann, „lassen sich zwar illustrieren und beschreiben, aber niemals definieren.“58 Die Definition einer Generalklausel scheitert, da ihr Inhalt nicht von der moralischen Überzeugung der Interpretin oder des Interpreten zu trennen ist. Es lässt sich eben nicht ein für alle Mal angeben, wie eine reasonable person in dieser oder jener Lage gehandelt hätte;59 und wäre es doch möglich, würde die Generalklausel zugunsten präziser Tatbestandsbestimmungen aufgegeben werden. Mit den Generalklauseln etablieren sich „Formulierungen, die es den Behörden gestatten, reine Ermessensentscheidungen zu treffen“60 – oder, um Neumanns Urteil etwas abzuschwächen, ihnen zumindest einen erheblichen normativen Spielraum überlassen. Generalklauseln werden so zum Material individueller Maßnahmen: die Auslegung einer Generalklausel ist „von den speziellen Umständen des Falles abhängig“.61 (3) In der institutionellen Struktur des Rechts wird die Judikatur stärker an Legislative und Exekutive gebunden. Dies ist unmittelbar einsichtig bei Gesetzen, Verordnungen und Bescheiden, die einem bestimmten Umstand auf den Leib geschneidert sind: „Wenn der Richter individuelle Befehle des Staates anzuwenden hat, so wird er Zitiert und übersetzt in Neumann (1986a [1937]), 37. Zur Rolle des Parlaments in der Verwaltung der Gesellschaft siehe Neumann (1978b [1934]), 129; (2018 [1944]), 71. 56 Zur entsprechenden Unterscheidung von Regel und Befehl siehe Neumann (1980 [1936]), 279; (1986a [1937]), 37. 57 Siehe Neumann (1986a [1937]), 37 f. 58 Neumann (1986c [1953]), 112. 59 Wie etwa die abenteuerliche Karriere von objective recklessness im englischen Strafrecht illustriert, siehe Norrie (2014), 73–101. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts äußert sich der Wegbereiter des amerikanischen Rechtsrealismus, Oliver Wendell Holmes, Jr., mit dessen Schriften Neumann vertraut war, skeptisch gegenüber der Möglichkeit objektiver Standards im Recht (siehe Horwitz (1992), 109–144). 60 Neumann (1986c [1953]), 110 f.; siehe auch Neumann (1986a [1937]), 61–67. 61 Neumann (1980 [1936]), 331. 55
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zu einem Gerichtsbüttel, zu einem bloßen Polizisten.“62 Aber auch Generalklauseln, die augenscheinlich den Einfluss der Judikative vergrößern, schaden laut Neumann der richterlichen Unabhängigkeit. Ob ein Vertrag gegen die guten Sitten verstößt, ist nicht durch interesselose Reflexion auf die Begriffe von Treu und Glauben zu lösen, sondern verlangt nach einer normativen Setzung: Die Auslegung einer Generalklausel beinhaltet ein Urteil darüber, welche Interessen die Anerkennung und den Schutz der politischen Gewalt verdienen und welche nicht. Die Gerichte werden dadurch zu politischen Institutionen, die politische Entscheidungen aufgrund politischer Erwägungen fällen und demnach politische Aufmerksamkeit und Kontrolle auf sich ziehen. Diese drei Tendenzen – die Individualisierung der Rechtsnorm, die Moralisierung des Norminhalts und die Politisierung der Normanwendung – führen für Neumann zur Verschmelzung von Recht mit Verwaltung, zur Verwandlung von Gesetz in einen bloßen Obrigkeitsakt. Ohne Allgemeinheit ist Recht nicht mehr als eine Sammlung technischer Regeln zum möglichst reibungslosen Management der gesellschaftlichen Bestandteile. Freiheit und Gleichheit haben in diesem Arrangement keinen Platz. Den Verwalteten kommt die ethische Funktion des Rechts abhanden. Neumanns Analyse, nach der Recht zum direkten Steuerungsinstrument tendiert, hat Konsequenzen für Horkheimers Argument. Der Verfall der ethischen Funktion korrespondiert mit dem Abbau des retardierenden Moments des Rechts. Auch für Horkheimer impliziert der geschichtliche „Lauf zur rationalisierten, automatisierten, verwalteten Welt“ die „Liquidation alles dessen, was mit der, wenn auch relativen, Autonomie des Einzelnen zusammenhing“63 – etwa jener drei Aspekte, durch die ich das retardierende Moment charakterisiert habe: (a) Ein flexibles System individueller Maßnahmen besitzt keinen konservativen Aspekt. Einzelnormen haben keinen Anspruch, „im gesellschaftlichen Leben zur Richtlinie zu dienen“64: Sie büßen ihren Normcharakter ein, sobald dem intendierten Zweck Genüge getan ist. Die legislativ-administrative Reaktion auf die Coronapandemie seit 2020 liefert reichlich Anschauungsmaterial zur Elastizität von Recht-als-Verwaltung: Auch jene Gesetze und Verordnungen, die keine Auslaufklausel enthalten, haben so lange normative Relevanz, bis die staatlichen Agenturen dekretieren, dass ihr Ziel erfüllt sei.65 Im nationalen Notstand ist die Flexibilität des Normapparats alternativlos. Der Unterschied zum konstitutionellen Alltag ist freilich bloß graduell: Auch bailouts, Asylwesen, Sozialgesetzgebung sowie jeder Rechtsbereich, in dem Parlament, Behörden und Gerichte erheblichen Ermessenspielraum zur Konkretisierung des Norminhalts behalten, veranschaulichen den ephemeren Charakter von Recht. In diesen Autoritätsakten verewigt sich keine Vergangenheit, die mit einer zukünftigen Politik in 62 63 64 65
Ebd., 303. Horkheimer (1968), xi. Wie Anm. 35. Siehe Kießling (2020).
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Konflikt geraten könnte: „sie gelten praemissis praemittendis, sie umreißen oberflächlich die Landkarte der Interessen in einem historischen Moment.“66 Der Befehl, die Urform der Verwaltung, ist ein einmaliges Ereignis. Er weist nicht über den Augenblick hinaus, in dem er ausgeführt wird. Rechtliche Normativität und politischer Wille fallen zusammen. (b) Ähnlich verliert das Recht seinen explikativen Aspekt, wenn Staatsorgane Sachverhalte nicht im Abstrakten regeln. Das allgemeine Gesetz – „sein Absehen von der bestimmten Person und von der Vergangenheit, seine Gültigkeit für und gegen jeden“67 – verdeutlicht ausnahmslos allen: Ihr seid Rechtssubjekte, weil ihr Subjekte des Souveräns seid. Der expressive Gehalt des Verwaltungsakts hingegen schrumpft auf seinen konkreten Inhalt zusammen. Mehr als Heteronomie drückt er Notwendigkeit aus. Ein Brief vom Arbeitsamt, ein negativer Asylbescheid, der Beschluss zur Enteignung großer Immobilienkonzerne macht nur explizit, dass dieses und jenes (die Umschulung des Herrn X, die Abschiebung der Frau Y, die Überführung des Besitzes der Firma Z in Gemeindeeigentum) zu geschehen habe. Wenn soziale Beziehungen zentral organisiert werden, „erstarrt die Sprache zu einem Zeichensystem“, schreibt Horkheimer in Die Rackets und der Geist und führt weiter aus: „Den Sinn des Ausdrucks büßt [Sprache] völlig ein: Sie ist ein Mechanismus in der Produktion wie Hebel oder Drähte, eine Rechenmaschine der Verwaltung, ein Inbegriff von Suggestionspraktiken.“68 In der eindimensionalen Kommunikation der Bürokratie ist die Norm beschränkt auf die Funktion eines Mittels zu einem gegebenen Zweck. (c) Für die Subjekte der Verwaltung bricht auch der diskursive Aspekt des Rechts zusammen. Eine Magistratsbeamtin oder ein Gerichtsvollzieher geben keine Versprechen und müssen ihr Handeln selten rechtfertigen; und wenn doch, haben sie für jede Beschwerde eine vorgestanzte Antwort parat. In der verwalteten Welt sind freie Foren des Widerspruchs nicht nur überflüssig, sie stören die reibungslose Abwicklung sozialer Prozesse. Resonanz verdient nur, was für den gesellschaftlichen Betrieb von Nutzen ist. In den „pragmatischen Totalitäten“ der Monopole „sind die Ausdrucksformen der Menschen identisch mit ihren Funktionen im herrschenden System.“69 Vor Gericht haben die Verurteilten immerhin das Privileg, coram publico ihre Reue oder ihre Empörung zu bekunden. Im durchorganisierten Staat ist unkontrollierte, öffentliche Regung grundsätzlich verdächtig: Öffentlichkeit sperrt sich ihrem Wesen nach gegen einheitliche Verwaltung.
Horkheimer (1988a [1935]), 265. Wie Anm. 35. Horkheimer (1985d [~1942]), 290. Im administrativen Idealfall fungieren die Einzelnen als willfährige Ausführungsorgane festgelegter Verfahrensabläufe: „Die Menschen dieser zukünftigen Welt“ – Horkheimer (1985h [1970], 355) spricht von der verwalteten Welt – „werden wahrscheinlich automatisch handeln: Bei rotem Licht stehen, bei Grün marschieren! Sie gehorchen den Zeichen!“ 69 Horkheimer (1985e [1943]), 92 [Übersetzung modifiziert]. 66 67 68
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Es wäre ein Missverständnis, würden wir unterstellen, die Verteidigung der Trägheit des Rechts laufe auf eine vollständige Verwerfung der Verwaltung hinaus. Horkheimer ist bereit, ein „Wort zugunsten der verwalteten Welt“70 zu sprechen: Einiges ist leichter im Leben, wenn es einem aus der Hand genommen ist. Mehr noch: „Denken steht nicht gegen Befehl und Gehorsam schlechthin, sondern setzt sie jeweils zur Verwirklichung der Freiheit in Beziehung.“71 In der verwalteten Welt ist der Sinn von Freiheit jedoch verloren. „[ J]e mehr die Gesellschaft unter die Verwaltung einheitlich organisierter Gruppen gerät,“ schreibt Horkheimer, und Neumann würde ihm zustimmen, „um so weniger dürfen wir sie eine Gesellschaft der Freiheit nennen.“72 Obwohl dieser das progressive Moment des Rechts herausarbeitet, jener das retardierende Moment, hält für beide Recht nur dann dem Urteil der Kritik stand, wenn es sich von Sozialtechnik, Kommando und Management unterscheidet. Diese Einigkeit erstreckt sich auch auf die positiven gesellschaftlichen Voraussetzungen, die für die Entfaltung des progressiven und des retardierenden Moments erfüllt sein müssen. 4.
Die gesellschaftlichen Bedingungen des normativen Potenzials
Recht hat eine ethische Funktion, wenn es ein Minimum an Freiheit und Gleichheit garantiert; es besitzt Resistenzkraft, wenn es sich als unhandliches Instrument der Sozialtechnik erweist. Zusammenfassend: Recht hat seiner Form nach Wert, wenn es in der Apparatur des Staates als träges Gewicht statt als Schwungmasse fungiert. Was sind nun die Möglichkeitsbedingungen für die Einlösung dieses Potenzials? In welcher Gesellschaft kann Recht mehr sein als Verwaltung? Beiden Autoren ist, in Horkheimers glücklicher Formulierung, das „hundertjährig[e] Zwischenspiel des Liberalismus“73 eine bedeutende historische Folie. Neumanns Interesse gilt vorrangig dem makroökonomischen Kontext des florierenden Bürgertums. Treten sich zwei zirka gleich starke Marktteilnehmer:innen gegenüber, wünschen sie vor allem eines: dass die Folgen ihrer Interaktion für alle Beteiligten vorhersehbar sind. Der Staat wird so zur Schutzmacht vertraglicher Beziehungen. Partikulare Eingriffe in dieses privatrechtliche Netzwerk riskieren, die Kapitalverwertung ins Stocken zu bringen – und widersprechen somit auch direkt dem Interesse des Staates, der sich ja zu einem Gutteil aus der Besteuerung des Surplus finanziert.74
Horkheimer et al. (1989 [1950]), 141; siehe auch Schiller/Fischer (2018), 839 f. Horkheimer (1987a [1942]), 318. Horkheimer (1985i [1970]), 376; siehe auch Horkheimer (1991c [~1961]), 399. Horkheimer (1988g [1939]), 315. Der Ausdruck findet sich in ähnlicher Form in Horkheimer (1987b [1942]), 333; Horkheimer/Adorno (1987 [1944]), 110. 74 Siehe etwa Neumann (1986a [1937]), 48 f. 70 71 72 73
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In Neumanns Vignette des 19. Jahrhunderts fungiert das allgemeine Recht als Transmissionsriemen: Es überträgt die Freiheit und Gleichheit der kontrahierenden Parteien auf die gesamte Gesellschaft. Der Grund hierfür liegt nicht etwa darin, dass die oberen Zehntausend plötzlich von karitativen Motiven bewegt würden. Vielmehr verselbständigt sich dieses Arrangement von Staat und Kapital gegen seinen eigentümlichen Zweck, „Profit und immer erneuten Profit [zu] erzeugen“,75 und erzeugt quasi nebenher „persönliche Freiheit und Sicherheit auch für die Armen.“76 Stärker als Neumann betont Horkheimer die Position des unabhängigen Kapitaleigentümers im Konkurrenzsystem. In ihm werde das Bild des „autonomen Subjekt[s]“77 sichtbar, sagt er in einem seinen letzten Interviews, denn „mit der Selbständigkeit des Unternehmers entfalteten sich natürlich – wenn auch in einer relativ begrenzten Gruppe – die Eigenschaften, auf die es sowohl Marx als auch den Materialisten ankommt, nämlich Geist, Phantasie, Wille zum Richtigen.“78 Die freie Verfügung über Eigentum machte den Menschen zum Herrn im eigenen Haus – die männliche Form ist hier freilich nicht zufällig. Aber diese kleine Freiheit drang in der Folge hinter die Mauern des Patrizierheims. Die Zirkulationssphäre verteilte nicht nur die Fabriken der Bourgeoisie in alle Ecken des Landes, sondern auch ihre Ideen, die zu allem Überfluss der Plackerei in der Fabrik nicht unbedingt zuträglich waren. Da das Bürgertum als geschlossenes Subjekt nicht existierte, hatten an manchen seiner Privilegien auch jene Menschen teil, die sonst nur als Arbeitskräfte von Relevanz waren. Die Expansion der Koalitionsfreiheit über Klassengrenzen hinaus wurde bereits genannt; Redefreiheit, Fabrikgesetzgebung und schließlich das Ende des Zensuswahlrechts sind weitere Beispiele aus der Zeit. Horkheimer fasst zusammen: „Die Gesellschaft der mittelgroßen Eigentümer und besonders derjenigen Berufe, die in der heute verschwindenden ökonomischen Zirkulationssphäre angesiedelt waren, mußte gegen ihre eigenen Wünsche ein Denken fördern, das, ob sie es wollten oder nicht, im Widerspruch zur Klassenherrschaft stand.“79 Für Neumann und Horkheimer ist die liberalistische Periode der historische Beleg für die Nicht-Identität von Gesetz und Herrschaft. „Vor- und nachher,“ schreibt Horkheimer, „bedurfte es weitergehender staatlicher Maßnahmen, damit das gesellschaftliche Ganze sich in der gegebenen Form überhaupt reproduzieren konnte.“80 Das Ende der politischen und ökonomischen Konkurrenz etwa gleich starker Bourgeois markiert die Angleichung der Begriffe von Recht und Verwaltung.
75 76 77 78 79 80
Ebd., 48. Neumann (1980 [1936]), 303 [Übersetzung modifiziert]. Horkheimer (1985i [1970]), 376. Ebd., 370. Horkheimer (1985e [1943]), 93 [Übersetzung modifiziert]. Horkheimer (1988b [1936]), 16.
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Sowohl das progressive Moment als auch das retardierende Moment des Rechts setzen eine Gesellschaft voraus, in der, nach Marx’ polemischer Formulierung, „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“81 herrschen; eine Gesellschaft, in der sich Kapital in der kollektiven Jagd auf Mehrwert automatisch reproduziert, wenn es nicht gerade im Strudel einer Krise steckt; eine Gesellschaft also, deren Bestandteile der Staat nicht verwalten muss, will oder kann. In einer solchen Gesellschaft „war das Bürgertum ökonomisch dezentralisiert, ein vielköpfiger Herrscher“.82 Im Spätkapitalismus hingegen zieht sich Macht zusammen: Die herrschende Schicht besteht nicht mehr aus zahllosen Subjekten, die Verträge schließen, sondern aus großen, von wenigen Personen kontrollierten Machtgruppen, die auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren. […] nicht mehr der Vertrag, sondern Befehlsgewalt und Gehorsam kennzeichnen jetzt in steigendem Maß den inneren Verkehr.83
Wir können diese geschichtlichen Betrachtungen verallgemeinern: Unter bestimmten Verhältnissen ist es zur Erhaltung politischer und wirtschaftlicher Macht rational, das Recht als autonome Sphäre zu tolerieren. Zwei Bedingungen müssen gegeben sein: zum einen die Selbständigkeit der souveränen politischen Gewalt gegenüber sozialen Klassen, Gemeinschaften und Blöcken und zum anderen die Zerstreuung ökonomischer Macht. Ist die erste Bedingung nicht gegeben, so koinzidiert der Wille des Gesetzgebers mit partikularen Interessen. Setzt sich ein Sektor der Gesellschaft auf Kosten der anderen ins Recht, „dann hört die relative Unabhängigkeit des Staates auf und der Staat wird wiederum ausschließlich Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse“.84 Allgemeinheit des Rechts setzt ein Äquilibrium oder zumindest ein Patt der politischen Kräfte voraus. Fehlt diese Voraussetzung, nähern wir uns Horkheimers Charakterisierung der faschistischen Länder der 1930er: „Der Begriff des Staates verliert vollends seinen Widerspruch zum Begriff einer herrschenden Partikularität, er ist der Apparat der koalierten Führer, ein privates Machtwerkzeug.“85 Recht ist hier nur als praktisches Mittel zum Zweck der wenigen zu denken: als Verwaltung. Ist die zweite Bedingung nicht gegeben, wird ein neutrales Regelwerk für den gesellschaftlichen Verkehr unsinnig. Monopolistische Unternehmungen sind schlichtweg too big to fail: „Die Monopolwirtschaft braucht […] die Hilfe des Staates in Form von Zöllen, Quoten, Einfuhrverboten, Ermutigung zur Kartellierung und offenen Subventionen“86 und erhält diese Hilfe auch. Und kann ein Kredit nicht bedient, ein Vertrag Marx (1962), 189. Der Name Jeremy Benthams steht hier für kalkulierten Eigennutz. Horkheimer (1988g [1939]), 309. Horkheimer (1988a [1935]), 264. Neumann (1986a [1937]), 73 zitiert diese Stelle im ‚Funktionswandel‘Aufsatz. 84 Neumann (1978c [1935]), 142. 85 Horkheimer (1988g [1939]), 319. 86 Neumann (1978d [1935]), 216. 81 82 83
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nicht erfüllt oder einer Auflage nicht entsprochen werden, wird sich schon ein Weg finden, wie das systemrelevante Unternehmen dennoch zu seinem Recht kommt. Sobald die eine oder die andere Bedingung scheitert, verliert das Recht seine Reibungsfläche zur Herrschaft. Die Devise von Recht als Verwaltung lautet: Jeder Gruppe ihr eigens zugeschnittenes Normensystem. Die Räuberbande und das Monopol brauchen kein allgemeines Recht – sie nehmen sich das ihre.87 Wann steht das Recht also der schlechten Dynamik der Geschichte entgegen? Neumann und Horkheimer geben die gleiche Antwort: Das Recht hat dann, und nur dann, eine ethische Funktion, und es hat ebenso nur dann Resistenzkraft, wenn es die mannigfaltigen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft gegen einen Staat schützt, der mit keinem Teil dieser Gesellschaft ident ist. Beide Thesen bestehen darauf, dass das normative Potenzial des Rechts nur im Lichte der Gesellschaft hinter den rechtlichen Normen zu beurteilen ist: „Es geht nicht an“, schreibt Neumann, „das Postulat von der Allgemeinheit des Rechts von der bestimmten Gesellschaftsordnung zu trennen.“88 5.
Abschließende Bemerkungen
Lassen wir das Argument kurz Revue passieren. Neumanns progressives Moment und Horkheimers retardierendes Moment des Rechts sind Reflexionen derselben Theorie. Sie unterscheiden sich vornehmlich durch die Perspektive auf den Gegenstand. Neumann beschreibt die Erleichterungen, die die Anerkennung als Rechtssubjekt für das unbemittelte Individuum bedeutet. Horkheimer beschreibt das Unbehagen der herrschenden Gruppen, die sich mit den Einschränkungen des Rechts arrangieren müssen. Beide schildern den zivilisierenden Effekt einer Vermittlungsform im Vergleich zu ihrer Abwesenheit, im Vergleich nämlich zu Verwaltung, durch die das Individuum zum direkten Objekt politischer Gewalt wird. Und beide Momente haben dieselben gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen: ökonomische Konkurrenz und politische Distanz des Staates zu Partikularinteressen. In der Zusammenführung von Neumanns und Horkheimers Thesen zum normativen Potenzial des Rechts sehen wir die Fundamente einer Kritischen Theorie des Rechts im Sinne des exilierten
Zum Begriff der Räuberbande und seines englischen Pendants, des Rackets, siehe Horkheimer (1985d [~1942]); (1985 [1943]), 101–104; Fuchshuber (2019); Scheit/Fischer (2018); aber auch Kelsen (2017), 99– 103. Rackets sind Gruppen, die im bellum omnium contra omnes um gesellschaftlichen Reichtum und Status konkurrieren. Für Ergebenheit und Disziplin erhalten die Mitglieder von Rackets persönliche Sicherheit und – wenn sie zu den Privilegierten gehören – einen Teil der Beute. 88 Neumann (1980 [1936]), 324 [Übersetzung modifiziert]). Insofern lässt sich aus Neumanns Schriften keine überhistorische Verteidigung des Rechtsstaats ableiten, vgl. demgegenüber Scheuerman (2018), 487. Der zitierte Satz konterkariert zudem das verbreitete Missverständnis, Neumanns Begriff der Allgemeinheit fixiere auf einzelne formale oder ‚sprachliche‘ Momente der juristischen Praxis (vgl. Hase und Ruete (1983), 205; ähnlich M. Neumann (2002), 129). 87
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IfS, vor deren Hintergrund ich abschließend drei weiterführende Thesen zur Diskussion stellen möchte: (a) Berührungspunkte zwischen der zeitgenössischen, anglophon dominierten Rechtsphilosophie und dem IfS sind – gelinde gesagt – rar. Das mag angesichts der Frontstellung, die im Titel von Horkheimers Traditionelle und kritische Theorie anklingt, wenig überraschen. Dennoch ist Kritische Theorie nicht schlechthin feindselig gegenüber der akademischen Orthodoxie. Die hier angerissene Rechtskritik bietet sich für eine Auseinandersetzung mit jenen Vertreter:innen analytischer Jurisprudenz an, die die Skepsis gegen Verwaltung teilen, etwa mit dem bereits genannten Lon L. Fuller. Die Unterscheidung von Legalität und Management steht im Zentrum von Fullers Hauptwerk The Morality of Law: In einem Verwaltungskontext werden die Anweisungen vom Untergebenen angewendet, um einen Zweck zu erfüllen, der von höherer Stelle festgelegt wird. Der unter dem Gesetz stehende Bürger hingegen wendet die Regeln des Rechts nicht an, um spezifische, vom Gesetzgeber festgelegte Zwecke zu erfüllen. Stattdessen befolgt er sie in der Erledigung seiner eigenen Angelegenheiten.89
In der materialistischen Fundierung von Fullers Thesen zur Moral des Rechts könnte traditionelle Theorie zum Sprung über den akademischen Graben ansetzen. (b) Grob skizziert, bezeichnet traditionelle Rechtsphilosophie heute zwei parallele Projekte. Auf der einen Seite steht general jurisprudence: die Fortführung der Ahnenreihe Austin–Kelsen–Hart, in der das Verhältnis von Recht und Moral nur als begriffsanalytisches Problem auftauchen darf. Und auf der anderen Seite begegnet uns normative jurisprudence: ein buntes Getümmel, in dem die Nachkommen von Rechtsrealismus, Naturrecht und Rawls sich darüber streiten, inwieweit diese Rechtsnorm oder jenes Rechtssystem mit vorgelagerten moralischen Standards übereinstimmt. Neumann und Horkheimer durchschneiden die Dichotomie von moralisch abstinenter und moralisch engagierter Philosophie. Sie verfolgen eine normative Theorie ohne Moralismus; eine Theorie also, die auf die spannungsreiche Verstrickung der rechtlichen Ordnung in Herrschaft fokussiert, ohne sich in Handlungsanweisungen oder policy recommendations zu ergehen. (c) Die Frage, wie es um die Gegenwart bestellt ist, drängt sich naturgemäß dennoch auf. In den 1930ern schreibt Horkheimer, mit dem Ende des Liberalismus seien die Massen entweder „Objekte der Fürsorge“ oder „unmittelbar Objekte der Herrschaft.“90 Solches Urteil hat seine Zeit überlebt und reicht bis in die Gegenwart. Hinter den Verwaltungsstaat führt kein Weg zurück. Das impliziert dezidiert nicht die Verwerfung alles Rechtlichen, sondern seine grundsätzliche Relativierung: Heute sind Fuller (1977), 207 [eigene Übersetzung]. Zum positivistischen Desinteresse an der Differenz von Recht und Verwaltung siehe Neumann (1980 [1936]), 277 f. 90 Horkheimer (1988g [1939]), 312. 89
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Fortschritt und Widerstand durch Recht die Spiegelung der Fortschrittlichkeit und Widerständigkeit jener Gruppen, die sich des Rechts bedienen. Recht als Form verdient unter diesen Verhältnissen keine besondere Wertschätzung. Walter Benjamin hat Fortschritt mit einem Sturm verglichen, der unaufhörlich eine Katastrophe auf die nächste häuft.91 Eine wahre Revolution, schreibt er andernorts, würde sich gegen das desaströse Immerweiter stellen: „Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des […] Menschengeschlechts nach der Notbremse.“92 Die Fortschrittlichkeit des Rechts, wo sie denn existiert, besteht gerade im Vermögen, Tempo aus dem verhängnisvollen Lauf der Geschichte zu nehmen. Je langsamer die Gesellschaft sich bewegt, desto weniger Kraft kostet der Menschheit der versöhnende Stillstand. „Solches Ende“, schreibt Horkheimer, „ist keine Beschleunigung des Fortschritts mehr, sondern der Sprung aus dem Fortschritt heraus.“93 Literaturverzeichnis
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Die Vormacht des Allgemeinen Über die Funktion des Rechts als ideologischem Staatsapparat bei Adorno und Neumann
SIMON GURISCH
The Supremacy of the Universal On the Function of Law as an Ideological State Apparatus in the Work of Adorno and Neumann Abstract: For Theodor W. Adorno, modern law represents an ideology. The usual arguments about
the ideology of law constitute a critical perspective that asserts the racist or sexist prejudices that are hidden in legal norms or jurisprudence. In contrast, Adorno’s critique of law concentrates on the law’s role in reproducing existing social relations of domination. Following Franz Neumann, Adorno thus understands law as an institution that is determined by its function of maintaining capitalist relations of production. For Adorno, this perspective on law as an institution is inseparable from its function of internalising the subject. This critique of law thus reflects the specific modes of subjectivation that are necessary for the reproduction of capitalist society. Keywords: law as ideology, law as institution, ideological state apparatus, subjectivation, functional change, internalisation Schlagworte: Recht als Ideologie, Recht als Institution, ideologischer Staatsapparat, Subjektivierung, funktionaler Wandel, Internalisierung
Jüngere Publikationen aus dem Umfeld der Frankfurter Kritischen Theorie zeigen, dass das Recht ein prominenter Gegenstand philosophischer Gesellschaftskritik ist: sei es in der Form einer Kritik subjektiver Rechte bei Christoph Menke oder in Beziehung auf eine Kritik spezifisch juridischer Vergesellschaftungsweisen bei Daniel Loick oder Axel Honneth.1 Diese Arbeiten reihen sich in eine Tradition rechtskriti-
1
Vgl. Menke (2015); Loick (2017); sowie: Honneth (2013).
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scher Überlegungen ein, die von Otto Kirchheimer und Franz Neumann bereits in den ersten Jahren des Frankfurter Instituts für Sozialforschung maßgeblich entwickelt wurden.2 Weniger Beachtung fanden bisher die systematischen Überschneidungen von Theodor W. Adornos späten Auseinandersetzungen mit dem positiven Recht in seiner Negativen Dialektik und den Formanalysen des bürgerlichen Rechts, die vor dem Zweiten Weltkrieg von Autoren wie Eugen Paschukanis oder Franz Neumann in die Debatte gebracht wurden. Adornos Rechtskritik wird heute oft als Teil einer weiter angelegten sozialphilosophischen Kritik rezipiert, die um eine Kritik der normativen Vorannahmen des „westlichen“ Denkens seit der Aufklärung zentriert ist und dieses z. B. in seiner Verstrickung mit Phänomenen des Kolonialismus begreift.3 Dabei findet jedoch oft der spezifisch materialistische Zugang zu wenig Beachtung, der für ein gesellschaftstheoretisches Verständnis von Adornos Methode und seiner Rechtskritik im Besonderen ausschlaggebend ist. Ich folge der Annahme, dass Phänomene wie das positive Recht in einem „Strukturzusammenhang der Gesellschaft“ zu analysieren sind, der durch den „universellen Vollzug“ des kapitalistischen Tauschprinzips gestiftet und noch bis in das intime Selbstverhältnis der Subjekte vergesellschaftet ist.4 Adorno verbindet auf diese Weise die totalisierende Tendenz moderner Vergesellschaftungsweisen mit der individuellen Selbsterhaltung. Beide sind in ihrer Reproduktion miteinander vermittelt. Der vorliegende Aufsatz zielt deswegen auf ein Verständnis der rechtskritischen Überlegungen von Adorno und Neumann, welches an zentraler Stelle um die Funktion des modernen Rechts für die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse kreist. Die Kategorie der Reproduktion bildet dabei den methodischen Schlüssel für dieses gesellschaftstheoretische Verständnis des Rechts. Dazu zeige ich erstens, auf welche Weise in Adornos Darstellung der Negativen Dialektik das positive Recht im Kapitalismus den „Schein des Guten“ annimmt; d. h. warum und wie für ihn die Ideologie des Rechts gesellschaftlich notwendiger Schein ist. Dabei wird die These verfolgt, dass es für eine gesellschaftstheoretische Analyse des Rechts grundlegend ist, dasselbe durch einen Begriff der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens zu erschließen (1). Dies führt im zweiten Schritt zu einem Begriff von Rechten als Institutionen, den Franz Neumann in Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft maßgeblich entwickelt hat und die es ermöglicht, das Recht als einen besonderen ideologischen Staatsapparat zu begreifen (2). Unter Rückbezug auf Adorno soll umrissen werden, dass mit dieser Perspektive die Vorstellung einer Internalisierung des Subjekts einhergeht. Diese InternalisieEine Darstellung der grundlegenden Bedeutung von Kirchheimers und Neumanns Arbeiten in den 1920er und 1930er Jahren für eine materialistische Rechtstheorie liefert Buckel (vgl. Buckel (2015), 80–94). Zur Rolle von Neumann und Kirchheimer am Institut für Sozialforschung siehe Wiggershaus (vgl. Wiggershaus (1988), 251–298). 3 Vgl. Allen (2016), 163–176. 4 Vgl. Adorno (2003a), 13. Eine vertiefende Darstellung von Adornos Methode kritischer Gesellschaftstheorie in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie leistet Lichtblau (vgl. Lichtblau (2012)). 2
Die Vormacht des Allgemeinen
rung verweist auf die Hervorbringung des Subjekts durch das Recht, also eine Form der Subjektivierung, die bis in das Somatische hineinreicht und aus diesem Grund das Subjekt als unmittelbaren Ausgangspunkt für sozialphilosophische Kritiken des Rechts problematisch erscheinen lässt (3). 1.
Die Ideologie des Rechts (Adorno)
Das folgende Zitat aus der Negativen Dialektik verweist bereits deutlich auf ein materialistisches Verständnis der Gesellschaft, welches den Rahmen von Adornos Kritik des positiven Rechts bildet: Schon der bloßen Form nach, vor Klasseninhalt und Klassenjustiz, drückt [das positive Recht, S. G.], die klaffende Differenz der Einzelinteressen von dem Ganzen aus, in dem sie abstrakt sich zusammenfassen.5
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Hegels Vorstellung des Weltgeistes kommt Adorno in der Negativen Dialektik auf wenigen Seiten auf das Recht zu sprechen. Bereits dieses Zitat macht einen wesentlichen Ansatzpunkt der Methode der frühen Kritischen Theorie deutlich: „Schon der Form nach“ drücke das positive Recht die Differenz der Einzelinteressen gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen aus, wie es sich seit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden Rationalisierung verschiedenster Lebensbereiche etabliert hat. Damit ist zunächst eine methodische Differenz markiert: Adorno geht es in seiner Kritik nicht darum, wie das geltende Recht der bürgerlichen Gesellschaft durch einen besonderen Klasseninhalt oder eine Form der Klassenjustiz bestimmt ist. Umgekehrt steht es für Adorno außer Frage, dass das bürgerliche Recht durch diese Tatbestände charakterisiert ist und es eine zentrale Aufgabe der empirischen Sozialforschung darstellt, die jeweilige Wirkungsweise von Klasseninhalt und Klassenjustiz nachzuvollziehen. An dieser Stelle kann auf politik- und sozialwissenschaftliche Forschungen der jüngeren Zeit verwiesen werden, die am konkreten Material zeigen, wie bspw. Kapitalinteressen in Gesetzgebungsverfahren besondere Berücksichtigung finden.6 Auch wenn der Begriff der ‚Klassenjustiz‘ für heutige Ohren antiquiert erscheint, gehört es ebenso zum Kernbestand kritischer Rechtstheorien rassistische,7 sexistische8 und sozio-ökonomische Vorurteile9 in Prozessen richterlicher Rechtsprechung zu erforschen. Zuletzt hat Katharina Pistor eindrücklich dargelegt, auf welche Weise kapi-
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Adorno (2003c), 305. So etwa bei: Crouch (2008); Döhler (2012); Elsässer/Hense/Schäfer (2017); Klüver (2013). Vgl. Haney-López (2000). Vgl. Foljanty/Lembke (2012), 17–19; Koreuber/Mager (2004). Vgl. Steinke (2022); Wacquant (2009).
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talistische Verwertungslogiken unter der Indienstnahme rechtlicher Kodierungen im Interesse des Kapitals durchgesetzt werden.10 In diesen Feldern gibt es belastbare sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse und es soll an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen werden, dass Adornos Rechtskritik keineswegs in einem Widerspruch zu diesen Methoden der kritischen Auseinandersetzung mit Phänomenen des Rechts steht. Im Folgenden soll es vielmehr darum gehen, eine Spezifik des Ansatzes der frühen Kritischen Theorie zu verdeutlichen, um seine eigentümlichen Potenziale für die verschiedenen gegenwärtigen Formen der Rechtskritik zu erhellen. Was macht also die Spezifik von Adornos Zugriff auf das positive Recht aus und was bedeutet demnach seine Rede von der „bloßen Form“ des positiven Rechts? Festzuhalten ist zunächst, dass Adorno nicht der erste ist, der die Rechtsform des positiven Rechts ins Zentrum seiner Rechtkritik stellt. Bereits Ende der 1920er Jahre hatte Eugen Paschukanis in Allgemeine Rechtslehre und Marxismus die Grundzüge einer materialistischen Theorie des bürgerlichen Rechts umrissen. Dabei folgt seine Darstellung grundsätzlich der Annahme, dass die Rechtsform in Abhängigkeit von der Warenform sowie der von Karl Marx durchgeführten Wertformanalyse zu begreifen sei. Diese Position hat in der Folge im Kontext materialistischer Rechtskritik dazu geführt, dass das moderne Recht als ein Überbauphänomen ohne eigene Geschichte begriffen wurde, wobei die Form des Rechts als bloße Widerspiegelung oder in Homologie zur Waren- bzw. Wertform analysiert wurde.11 Demgegenüber setzt die Formkritik Adornos an einer anderen Stelle an: Sie begreift die Rechtsform als eine Form, die obzwar sie eine relative Autonomie gegenüber den Formen der kapitalistischen Ökonomie aufweist, als unerlässlicher Teil der Reproduktion der übergreifenden gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden wird. Diese Verhältnisse können mit Marx als kapitalistische Gesellschaftsformation beschrieben werden und umfassen damit systematisch auch nicht kapitalisierte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.12 Für eine derartige Rechtsformanalyse ist die Form des Rechts damit eine Erscheinung der gesellschaftlichen Totalität, auf deren Reproduktion sie Einfluss nimmt und gleichzeitig durch diese Totalität vermittelt ist.13 Dabei wird die Rechtsform als ein gesellschaftliches Verhältnis beschrieben, das auf spezifische Weise die Reproduktion des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens von Subjekten im Kapitalismus sicherstellt. Adornos Rechtskritik hat ihren Ausgangspunkt in der subjektiven Erfahrung von Herrschaft und Gewalt. Ihre Analyse beginnt mit dem Phänomen der „individuellen Erfahrung des sich durchsetzenden Allgemeinen als eines unversöhnt Schlechten.“14 Vgl. Pistor (2020), 10. Zu einer fundierten Kritik dieser einseitig ökonomistischen Formanalyse des Rechts und der daran anschließenden sogenannten Staatsableitungsdebatte siehe Buckel (2015), 101–110, sowie Hirsch (1994). 12 Vgl. Marx (1961), 8 f. 13 Zu einer Darstellung der relativen Autonomie des Rechts bei gleichzeitiger Homologie zwischen Rechts- und Warenform ausgehend von Marx’ Überlegungen siehe: Balbus (1977) 585. 14 Adorno (2003c), 302. 10 11
Die Vormacht des Allgemeinen
Diese Erfahrung sei der Geschichte der Gewalt des Allgemeinen eigentümlich, welche sich in der Moderne durch die verschiedenen Wissenschaften hindurch als eine „Formalisierung der gesellschaftlichen Mechanismen“ äußere.15 Diese Gewalt des Allgemeinen ist bei Adorno mit der Vorstellung einer Zwangsvergesellschaftung des Individuums durch das kapitalistische Tauschprinzip verbunden, das eine „Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder“ realisiert.16 Vor diesem Hintergrund bestehe die vornehmliche Aufgabe einer Rechtskritik darin, auch die Formalisierungen des modernen Rechts als „durch die ratio fortschreitende Herrschaft“17 zu entziffern. Auch das positive Recht stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar und ist in seinem Anspruch auf formale Systematik und mit Blick auf die Allgemeinheit seines Gesetzesbegriffs Teil dessen, was Adorno die „Vormacht des Allgemeinen“ nennt. Diese Vormacht des Allgemeinen sei den Denkformen der Aufklärung wesentlich eingeschrieben. Adornos Kritik der Rechtsform ist demnach auf das Engste mit einer Analyse jenes Allgemeinen verbunden, welches seine Vormacht auch in der Form des positiven Rechts geltend macht, aber auch unabhängig von derselben Bestand hat. So konstatiert er lakonisch, dass die Formalisierung, welche für das moderne positive Recht charakteristisch ist, „gegenüber dem Klassenverhältnis kein Neutrales“ ist.18 Denn vermittels Abstraktion, d. h. durch die logische Hierarchie von Allgemeinheitsstufen hindurch, reproduziere sich das Klassenverhältnis und zwar auch dort „wo Herrschaftsverhältnisse hinter demokratischen Prozeduren sich zu tarnen veranlaßt werden.“19 Adorno behauptet also zunächst, dass es einen Zusammenhang zwischen der Rechtsform des positiven Rechts, der Vormacht des Allgemeinen sowie der Reproduktion des Klassenverhältnisses als Herrschaftsverhältnis gibt. Es geht folglich darum, die grundlegende Bedeutung dieses Zusammenhangs genauer zu verstehen. Gegenstand für Adornos Kritik ist dabei zunächst Hegels späte Rechtsphilosophie. Diese stelle die „Ideologie des positiven Rechts“20 für eine Gesellschaft dar, die anders als bei Kant bereits sichtbar die Spuren eines Klassenantagonismus aufweise. Wenn Adorno überhaupt von der „Ideologie“ des positiven Rechts spricht, so bedeutet dies für ihn, dass dasselbe ein „rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.“21 Darüber hinaus begreift er das positive Recht als ein Medium, „welches zwar positiv die Reproduktion des Lebens schützt, aber, in seinen bestehenden Formen, dank des zerstörenden Prinzips von Gewalt, sein Zerstörendes ungemindert
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Adorno (2003c), 303. Adorno (2003a), 14. Adorno (2003c), 303. Adorno (2003c), 303. Adorno (2003c), 303. Adorno (2003c), 303. Adorno (1972), 465.
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hervorkehrt “.22 Damit ist die Rechtsform für Adorno durch zwei wesentliche Aspekte gekennzeichnet: Einerseits ermöglicht und schützt sie die Reproduktion des Lebens – das ist ihr „rationales Element“. Mit „Leben“ ist hierbei nicht allein das Leben des Individuums gemeint, welches durch Gewalt und Not bedroht ist, sondern auch die Reproduktion jener gesellschaftlicher Vermittlungsprozesse, von denen das einzelne Leben abhängt. Andererseits ist das positive Recht das Medium, welches dank des zerstörenden Prinzips der Gewalt das Zerstörende in den verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens ungemindert hervorkehrt.23 Adorno geht es daher nicht um diejenige Gewalt, welche die Einsetzung des Rechts begründetet oder um die Gewalt, die das Recht verhindern soll. Auch geht es ihm nicht um die legalisierte Anwendung von Gewalt, die das Recht berechtigt. Seine Beschreibung kreist um eine Form der Gewalt, die der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens unter jeweils spezifischen ökonomischen Bedingungen eingeschrieben ist. Diese Form der Gewalt werde daher durch das Recht nicht etwa verhindert, sondern „ungemindert hervorgekehrt“. Adornos Rechtskritik kreist somit um eine Form der Gewalt, die durch das Recht nicht konstituiert, sondern kontinuiert wird. Er fasst dies so zusammen, dass das positive Recht das Medium ist, worin „das Schlechte um seiner Objektivität willen recht behält und den Schein des Guten sich erborgt.“24 Das Schlechte ist hierbei objektiv, weil es als ein Bestehendes begriffen wird. Zu diesem gehört es, dass es sich in der Zeit reproduzieren kann, also dauerhaft von Bestand ist. Nur was sich reproduzieren kann, hat das Vermögen, sich als ein Bestehendes zu erhalten. Es muss, mit anderen Worten, gelebt werden können. Das Schlechte, welches hiernach reproduziert wird, ist die durch die ratio hindurch fortschreitende Herrschaft. Folglich ist das positive Recht für Adorno das Medium, welches es ermöglicht, dass Herrschaft sich im Leben als gelebte Herrschaft und damit als ein durch Herrschaft formiertes Leben reproduzieren kann. Es geht folglich darum genauer zu verstehen, wie die Rechtsform die Herrschaft in der kapitalistischen Gesellschaft als eine Form des gemeinschaftlichen und individuellen Lebens und damit als Lebensform reproduziert. Der „Schein des Guten“, welchen sich die Herrschaft vermittels des Rechts „erborgt“, ist somit kein bloßer Schein. Es liegt nahe, Adorno so zu verstehen, dass er an dieser Stelle auf eine spezifische Weise auf die aristotelische Begriffstradition zugreift: Das „Gute“ bezieht er somit nicht auf normative Vorstellungen eines moralischen Registers, sondern auf die aristotelische Vorstellung eines ἔθος/ethos – eines gelebten Guten, welches stets auf die Möglichkeit einer Polis bezogen war, sich als Gemeinwesen
Adorno (2003c), 303. Diesen Gedanken entwickelt exemplarisch Christoph Menke: „Der Fortschritt vom Faustrecht zum bürgerlichen Rechtsstaat ändert nichts am Fortleben des Rechts des Stärkeren. Der bürgerliche Rechtsstaat ist das Recht des Stärkeren in ‚anderer Form‘“(Menke (2013), 274). 24 Adorno (2003c), 303. 22 23
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zu reproduzieren und dauerhaft Bestand zu haben.25 Adorno selbst bezeichnet in diesem Sinne dasjenige als gut, was „positiv die Reproduktion des Lebens schützt“.26 Das Gute ist in dieser Hinsicht ‚lebendiges Gutes‘ also ein Gutes, welches selbst Ausdruck eines genuin gesellschaftlichen Lebens ist und sich in Gewohnheiten, Habitus und Bräuchen im alltäglichen Leben und seinen Handlungszusammenhängen vollzieht. Der „Schein des Guten“, welcher der positiven Rechtsform zukommt, fungiert somit zuvorderst als eine analytische Kategorie. Er zielt auf ein spezifisch materialistisches Verständnis von Gesellschaft: Adorno kann folglich nur insofern aristotelisch verstanden werden, dass es in Bezug auf das gute Leben nicht um die Vorstellung eines Idealzustandes gesellschaftlicher Vollzüge geht, sondern um die Erklärung der Reproduktion eines konkreten Gemeinwesens. Der Maßstab dafür, ob z. B. ein Speer gut geworfen wurde oder eine Polis einen guten Begriff der Gerechtigkeit hat, kann in diesem Sinne nur relativ dazu bestimmt werden, ob sich die konkrete Polis auf Dauer reproduzieren kann. Für das Beispiel des Speerwerfens bedeutet dies, dass nicht allein das Urteil des Lehrers oder der Lehrerin ausschlaggebend dafür ist, wann jemand den Speer auf die richtige Weise geworfen hat, sondern ob der Speerwerfer oder die Speerwerferin beim Jagen genug Wild erlegen kann, um die Polis zu ernähren oder in der kriegerischen Handlung die Polis davor bewahren kann, „selbst von anderen geknechtet zu werden.“27 Die jeweiligen Maßstäbe des Gelingens einer Handlung sind damit weder ausgehend von einer den Handlungszusammenhängen externen Instanz noch von den internen Kriterien derselben her hinreichend zu beurteilen, sondern nur mit Blick auf die Reproduktionsmöglichkeit des übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhangs. Dabei gilt methodisch, was Adorno zu einem dialektischen Verständnis der Gesellschaft sagt: „Der Vorrang der Totale über die Erscheinung ist in der Erscheinung zu greifen.“28 Für das Beispiel des Sperrwurfes bedeutet dies, dass derselbe in seiner Funktion für die Reproduktion der Polis zu begreifen ist: Dann sind die immanenten Gelingenskriterien einesjeden konkreten Speerwurfs (Erscheinung) durch den Vorrang der Reproduktionsbedingungen der jeweiligen historischen Beschaffenheit der Polis (Totale) bestimmt. Adorno operiert somit auf einer gesellschaftskritischen Ebene, die nicht einzelne Praxisformen oder Lebensformen kritisiert, sondern sie zunächst in ihrer konstitutiven Funktion für die Reproduktion einer Gesellschaftsformation begreift. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, worauf Adornos Kritik der Rechtsform im Kern zielt: Die objektiv schlechten Verhältnisse erborgen sich vermittels der Rechtsform den „Schein des Guten“.
Ich knüpfe hier methodisch an Adornos Analyse der aristotelischen Tugend im Rahmen des Aphorismus 119 der Minima Moralia an, wo Adorno das „Gutsein“ des individuellen Reichtums auf die spezifische Konzeption der Polis und ihrer Reproduktionsbedingungen zurückführt (vgl. Adorno (2003b), 210–212). 26 Adorno (2003c), 303. 27 Aristoteles (1995), 271. 28 Adorno (2003c), 298. 25
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Das bedeutet: Die Rechtsform ist objektiver Schein und nicht bloß eine subjektive Illusion, insofern sie unter „schlechten Verhältnissen“ tatsächlich die Reproduktion des Individuums und der betreffenden Gesellschaft sicherstellt. Mit der Rede vom „objektiven Schein“ stellt sich Adorno in die Tradition der marxschen Ideologiekritik. Das Recht ist für ihn eine Erscheinung einer entwickelten Marktgesellschaft, in der keine unmittelbaren Machtverhältnisse mehr vorherrschen, denn diese benötigten keine Ideologie. Stattdessen könne das Recht als eine spezifische Rechtfertigung für einen Gesellschaftszustand begriffen werden, der selbst bereits problematisch geworden ist.29 Schlecht sind diese Verhältnisse in Adornos Augen, weil sie die individuellen Freiheitspotenziale nur vermittels einer Form der Herrschaft garantieren können, die immer noch Leid und Armut sowie fortdauernde Ausbeutung von Menschen und Natur bedeutet. Diese objektive Qualität hat diese Rechtsform in dem doppelten Sinne, dass sie einerseits in ihrer Eigenlogik die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ermöglicht und andererseits für Adorno der Ausdruck dieser außerrechtlichen Verhältnisse durch die Form des Rechts ist. Auch deswegen gilt für das positive Recht, dass es eine Ideologie ist, insofern es eine „Verschränkung des Wahren und Unwahren“ darstellt.30 „Wahr“ ist es jedoch nicht allein aufgrund von Normen, die „einen nicht verwirklichten Wahrheitsgehalt haben“31, sondern vor allem, weil es sich bei diesem Recht um ein Phänomen handelt, dass die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht, deren Ausdruck es selbst ist. Diese objektive Dimension kann zudem nicht von ihrer subjektiven Erscheinungsform getrennt werden, da die Rechtsform nicht nur die schlechten Verhältnisse legalisiert, sondern weil sie im Bewusstsein der Menschen noch den eminent lebenszerstörenden Charakter dieser Verhältnisse als einzige Garantie für die Reproduktion des jeweils individuellen Lebens im Bewusstsein der handelnden Subjekte erscheinen lässt. Dadurch kommt derselben auch ihre objektive Geltung in den konkreten Handlungszusammenhängen zu. „Gut“ ist der Schein der Rechtsform in subjektiver Hinsicht somit, weil er im Bewusstsein der Handelnden unter kapitalistischen Bedingungen einen realen Schutz des Subjekts gegen die Willkür anderer bieten kann. Dennoch gilt für Adorno, dass dieser Schutz nur Schein ist, weil die „reale Depotenzierung der Subjekte“, welche die gesellschaftliche Objektivität absichert, ihren Ausdruck in der subjektiven Erfahrung einer „schmerzhafte[n] Fremdheit des Sozialen für den Einzelnen“ findet.32 Der Einzelne wird daher objektiv genötigt, dieser Fremdheit vermittels seines Rechts zu begegnen. Damit verbindet die Rechtsform für Adorno zwei sich widersprechende Bestimmungen: Das Recht ermächtigt das Subjekt im Konflikt mit der Willkür anderer und zugleich ist es nicht nur Ausdruck, sondern Mittel der realen Ent29 30 31 32
Vgl. Adorno (1972), 465. Adorno (1972), 465. Jaeggi (2009), 276. Adorno (1981), 153.
Die Vormacht des Allgemeinen
machtung des Subjekts. In der Rechtsform schließen sich daher Ohnmacht und Macht nicht aus, sondern implizieren einander. Dadurch unterscheidet sich diese Perspektive von anderen materialistischen Analysen, die wie etwa bei Paschukanis, die Rechtsform als bloßen Reflex der Warenform oder wie bei Sohn-Rethel die Denkformen selbst ausgehend von Marx’ Wertformanalyse ausbuchstabieren.33 Adorno kritisiert demgegenüber das positive Recht als eine Ideologie, die nicht als bloßer Verblendungszusammenhang begriffen werden kann, sondern seinen „Schein des Guten“ realiter unter Beweis stellt, indem es als unerlässlicher Teil der Reproduktion des gesellschaftlichen und des individuellen Lebens erscheint. Seine Kritik des positiven Rechts arbeitet deswegen an zentraler Stelle mit dem Begriff des Lebens, um in gesellschaftstheoretischer Absicht die Rechtsform als eine Institution verständlich zu machen. In dieser Perspektive reguliert und sanktioniert die Rechtsform nicht einfach von außen die gesellschaftlichen Vollzüge, sondern erhält in diesen Vollzügen ihre Geltung, insofern sie die Reproduktion dieser Vollzüge gewährleistet. Diese Perspektive auf die Reproduktion verweist auf den zunächst abstrakten Begriff des Lebens. Er ermöglicht die Analyse einer Form (hier: der Rechtsform) vor dem Hintergrund ihrer Reproduktion in der Zeit und damit, sie als lebendige Form bzw. Lebensform zu verstehen. Wenn die Rechtsform auf diese Weise durch den Begriff des Lebens analysiert wird, eröffnet sich eine Perspektive auf das Recht, welche dasselbe im Hinblick darauf befragt, wie es in der Reproduktion des konkreten gesellschaftlichen Lebens wirksam wird bzw. funktioniert. Adornos Rechtskritik knüpft damit an Überlegungen des jungen Franz Neumann an, der den allgemeinen Gesetzesbegriff der rechtsphilosophischen Tradition als eine Institution zu fassen versucht hat, welche nur im Hinblick auf die Reproduktion einer bestimmten Form des gesellschaftlichen Lebens zu begreifen ist. 2.
Recht als Institution (Neumann)
Franz Neumanns Aufsatz Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft analysiert den allgemeinen Gesetzesbegriff, welcher in seiner historischen Genese entlang politischer Machtkonstellationen und seinem Funktionswandel innerhalb der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dargestellt wird. Neumanns Aufsatz verbindet dabei auf ingeniöse Weise das, was systematisch als eine genealogische und als eine funktionalistische Kritik34 des Gesetzesbegriffs bezeichVgl. Paschukanis (2003); vgl. Sohn-Rethel (2018). Der Begriff der funktionalistischen Kritik ist hierbei nicht unmittelbar normativ zu verstehen. Darin unterscheidet sich dieses Verständnis von anderen Formen der funktionalistischen Kritik (vgl. Rahel Jaeggi (2013), 325–332). 33 34
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net und voneinander unterschieden werden kann. Neumann selbst bezeichnet diese doppelte Ausrichtung seines Ansatzes als „soziologisch-historische“ Auslegungsmethode.35 Auf die genealogische Kritik kann an dieser Stelle nur kursorisch verwiesen werden. Sie begreift das Recht nicht als einen monolithischen Block, sondern gerade in seiner teils widersprüchlichen Gestalt als Ergebnis des Kampfs antagonistischer Machtblöcke innerhalb einer historisch konkreten Gesellschaft. Gerade diese genealogische Perspektive auf den Gesetzesbegriff ist folglich sehr anschlussfähig an hegemonietheoretische Überlegungen.36 Demgegenüber findet Neumanns funktionalistische Kritik ihren Ausgangspunkt zunächst in der Definition der zentralen Funktion dieses Gesetzesbegriffs: Die freie Konkurrenz bedarf des allgemeinen Gesetzes, weil es die höchste Form der formalen Rationalität ist, zugleich muß sie auch die absolute Unterwerfung des Richters unter das Gesetz und damit die Gewaltenteilung verlangen. […] Freiheit des Warenmarktes, Freiheit des Arbeitsmarktes, […] Vertragsfreiheit und vor allem Berechenbarkeit der Justiz sind wesentliche Charakteristika des liberalen Konkurrenzsystems, das ja Profit und immer erneuten Profit in einem kontinuierlichen, rationalen, kapitalistischen System erzeugen will.37
Neumanns Analyse läuft also zunächst darauf hinaus, dass die Funktion des allgemeinen Gesetzesbegriffs darin besteht, durch die Formalität der Normen den Ermessensspielraum der RichterInnen möglichst weit einzuschränken, um Berechenbarkeit herzustellen. Diese Berechenbarkeit ist zentral für die ökonomische Kalkulierbarkeit des kapitalistischen Betriebs. Denn „[d]er moderne kapitalistische Betrieb ruht innerlich vor allem auf der Kalkulation. Er braucht für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren […] an festen generellen Normen rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert.“38 Die darauf gemünzte Erwartbarkeit bildet eine Schlüsselkategorie innerhalb der Rationalisierung kapitalistischer Verwertungsketten. Auf diese Weise führt Neumann die Funktion des rationalen Gesetzesbegriffs zunächst direkt auf die Erfordernisse der kapitalistischen Produktionsweise und die ihr eigentümlichen Formen der Rationalisierung von Produktions- und Zirkulationsprozessen zurück. Somit entspricht der Rationalisierung im Inneren des liberalen Rechtssystems die ökonomische Rationalisierung verschiedener gesellschaftlicher Lebensbereiche unter kapitalistischen Bedingungen.39 Die Vgl. Neumann (1978a), 64. Eine vertiefende Analyse der hegemonietheoretischen Implikationen für eine materialistische Rechtstheorie liefert Sonja Buckel (vgl. Buckel (2015), 147–153). 37 Neumann (1986), 48. 38 Weber (1988), 322. 39 Bis zu diesem Punkt unterscheidet sich die Analyse nicht maßgeblich von Max Webers Überlegungen in Wirtschaft und Gesellschaft und erläutert, was zuvor mit Adorno als „Formalisierung der gesellschaftlichen Mechanismen“, beschrieben wurde(vgl. Adorno (2003c), 303). 35 36
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Formalität des positiven Rechts ist damit einerseits Ausdruck einer Rationalisierung im System des Rechts, welche jedoch andererseits nicht unabhängig von nicht-rechtlichen Rationalisierungsprozessen innerhalb der Gesellschaft betrachtet werden kann.40 In dieser Hinsicht lässt sich in Anlehnung an Niklas Luhmann von einer strukturellen Kopplung des Rechtssystems mit der Ökonomie sprechen, insofern die Beschränkung der Willkür der RichterInnen und der Legislative durch die interne Systematisierung und Formalisierung des Rechtssystems Erwartungsstrukturen etabliert, welche es einer profitorientierten Ökonomie erst ermöglichen, die dieser Produktionsweise wesentlichen Risiken einzugehen. Dabei geht es zuvorderst um die exakte Kalkulation, denn der kapitalistische Betrieb ist „gegen die Irrationalitäten des Rechts und der Verwaltung viel zu empfindlich.“41 Die funktionale Kritik Neumanns geht jedoch über diese Betrachtung hinaus und gewinnt ihre eigentümliche Komplexität durch die Interpretation des Gesetzes als Institution. Seine Theorie schließt dabei an die 1929 erschienenen Überlegungen des Austromarxisten Karl Renner in Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion an.42 Der Begriff der Institution ermöglicht es Neumann, seine Rechtskritik auf eine spezifische Weise mit marxistischen Theoremen zu verbinden: Das Privateigentum an sich ist ein subjektives und absolutes Recht, das den Eigentümer gegenüber jedermann, der ihn im Besitze oder Genusse des Eigentumsobjektes stört, Abwehrrechte verleiht. Das Eigentum an Produktionsmitteln ist aber darüber hinaus eine Institution. Es ist auf Dauer berechnet, es dient der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, es ordnet Menschen in einen Herrschaftsbereich ein.43
Die funktionale Analyse des allgemeinen Gesetzes – hier in Bezug auf das Eigentumsrecht – bleibt also nicht bei der abstrakten Eigentumsnorm stehen. Sobald dieses subjektive Eigentumsrecht zum Recht auf das Eigentum an Produktionsmitteln wird, gilt es dasselbe als Institution zu analysieren. Damit stellt Neumann die Frage, was die abstrakte Eigentumsnorm in der Moderne überhaupt normiert. Die in der philosophischen Rechtskritik aus dem römischen Recht adaptierten Rechtsvorstellungen, die das Eigentum als ein Verhältnis zwischen Rechtsperson und Sache strukturieren und Vorstellungen des dominium mit sich führen, stellen sich dabei als unzureichend heraus, um zu begreifen, auf welche Weise die Eigentumsnorm unter kapitalistischen Bedingungen ein komplexes gesellschaftliches Verhältnis strukturiert.44 Über das Verhältnis der rationalen Systematisierung im Recht zu gesellschaftlichen Prozessen der Rationalisierung vgl. Lukács (1977), 271 f. 41 Weber (1988), 323. 42 Vgl. Preuß (1988), 392. 43 Neumann (1986), 40. 44 Vor diesem Hintergrund ließe sich auch über jüngere Eigentumskritiken, wie die Überlegungen von Eva von Redecker diskutieren. Für Redecker ist es maßgeblich, dass sich die neuartige Form der Sachherrschaft zwischen den Bestimmungen von imperium und dominium etabliert und sich ausgehend von 40
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Neumann versteht nun das Eigentumsrecht als eine Institution, die wesentlich der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens in einem umfassenderen Sinne dient. Die funktionale Analyse des Eigentumsrechts begrenzt dasselbe daher nicht auf ein ökonomistisches Verständnis von Institutionen, das allein auf die Reproduktion innerhalb einer abgrenzbaren gesellschaftlichen Sphäre der Ökonomie bezogen wäre. Eine Institution erfüllt die ihr eigentümliche Funktion, insofern sie der Reproduktion einer spezifischen Form des gesellschaftlichen Lebens dient. Die Spezifität bezieht die Form daraus, wie sie das gesellschaftliche Leben gliedert und Menschen in bestimmte „Herrschaftsbereiche“ einordnet. Das betrifft sowohl Kategorien wie Geschlecht und race aber eben auch die konkrete Stellung der Individuen im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Somit ist ein Recht eine Institution, insofern es durch spezifische Funktionen bestimmt ist, die wiederum als Funktionen ihren Sinn aus der Reproduktion historisch konkreter Formen des gesellschaftlichen Lebens beziehen. Im Sinne des „Vorrangs der Totale“ sind die jeweiligen Funktionen einzelner Rechte (z. B. des Eigentumsrechts) derivativ zur Funktion der Reproduktion der Produktionsverhältnisse zu analysieren.45 Sobald bspw. das subjektive Eigentumsrecht als eine Institution in diesem Sinne begriffen wird, erhält es folglich die Funktion einer „Bestimmungsmacht über einen sozialen Zusammenhang.“46 Ulrich K. Preuß spricht in diesem Zusammenhang auch von einem ‚internen Aspekt‘ des subjektiven Rechts, welcher sich von der vor-kapitalistischen Verfügungsgewalt über Dinge systematisch unterscheidet und sich in der spezifischen Organisationsmacht der EigentümerInnen an Produktionsmitteln äußert, soziale Verhältnisse sowie die Subjektivität der darin befindlichen Individuen zu formieren: „Die Organisationsgewalt über die Kooperation der Individuen verwandelt Bestandteile ihrer Subjektivität […] in eine Funktion des Betriebszusammenhanges, der freilich nicht mehr ihr eigener ist, wie sich in der bürokratischen Hierarchisierung des Arbeitsprozesses zeigt.“47 In einem weiteren Schritt und unter Verwendung von Karl Renners Begriff der „Konnexfreiheiten“48 verweist Neumann zudem auf eine Hierarchie der Normen, welche sich allein ausgehend von der funktionalen Analyse erschließen lässt. So ist das Bediesen beiden Dimensionen ein maßloses Freiheitsversprechen des Eigentums entwickle(vgl. v. Redecker (2020b); vgl. Redecker (2020a)). An dieser Stelle sei auch auf die Bemerkungen Webers hingewiesen, wonach das hauptsächliche Interesse der bürgerlichen Rezeption des römischen Rechts nicht auf dessen materielle Bestimmungen gegründet worden sei, sondern nur auf die allgemeinen formalen Qualitäten dieses Rechts abzielte(vgl. Weber (1972), 491). 45 Die funktionale Analyse des Eigentumsrechts als Institution weist in dieser Hinsicht eine systematische Nähe zu dem auf, was Louis Althusser später in Über die Reproduktion als die genuine Funktion von ideologischen Staatsapparaten bestimmt hat: „Eine Produktionsweise existiert dauerhaft nur in dem Maße, wie die Reproduktion der Produktionsbedingungen gewährleistet ist, unter denen die Reproduktion der Produktionsverhältnisse die determinierende Rolle spielt“, siehe: Althusser (2012), 213. 46 Preuß (1979), 48. 47 Ebd. 48 Neumann (1986), 40.
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stehen kapitalistischer Warenproduktion logisch an die Möglichkeit kontinuierlichen Profits gebunden. Diese zunächst rein ökonomische Bestimmung ist grundlegend für das Verständnis des Eigentums an Produktionsmitteln als „Hauptfreiheit“ im Liberalismus, insofern es die grundlegende Institution ist, welche nicht allein wirtschaftliche Transaktionen berechenbar macht, sondern in einem viel umfassenderen Sinne die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens ermöglicht, wodurch überhaupt erst Profit kontinuierlich erzielt werden kann. Andere subjektive Rechte wie die Vertragsoder Gewerbefreiheit oder das Recht auf Freizügigkeit stellen vor diesem Hintergrund Konnexfreiheiten dar, welche das Funktionieren der Hauptinstitution des Privateigentums an Produktionsmitteln sicherstellen: Die wirtschaftlichen Freiheitsrechte […] sind nicht um ihrer selbst willen geschützt, sondern ausschließlich deshalb, weil an einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung ihr Schutz für das Funktionieren des Hauptinstituts notwendig ist.49
Die „bestimmte Stufe der ökonomischen Entwicklung“, auf die Neumann hier anspielt, ist die Periode eines ausgeprägten Konkurrenzkapitalismus in der Frühphase der Industrialisierung. In dieser Phase erfordert die Sicherung des Funktionierens der Hauptinstitution der bürgerlichen Gesellschaft, also das Privateigentum an Produktionsmitteln, zu seiner Reproduktion die Anerkennung verschiedener Freiheitsrechte, wie z. B. der Vertragsfreiheit, um unter Konkurrenzbedingungen in einem polypolistischen Markt kontinuierliche Profite zu erzielen. Die Eigentumsnorm setzt damit als allgemeines Gesetz die ökonomische Gleichheit in der Kapitalistenklasse voraus. Keineswegs also gibt es einen rein dem Rechtssystem immanenten Zusammenhang, aus dem heraus das Verhältnis der Eigentumsnorm zu anderen Konnexfreiheiten als System entwickelt werden könnte. Vielmehr geht es Neumann darum zu demonstrieren, dass die funktionale Analyse an dieser Stelle die historische Variabilität solcher Rechtekataloge verständlich macht. So wandelt sich die Funktion der Institution des Privateigentums grundlegend im Verlauf zunehmender Akkumulation und Konzentration des Kapitals im Übergang zu dem, was Neumann als Monopolkapitalismus bezeichnet.50 Die Allgemeinheit des Gesetzesbegriffs, die in der Frühphase des Kapitalismus die Funktion hatte, die Reproduktionsbedingungen des Privateigentums unter Konkurrenzbedingungen sicherzustellen, erfährt im Zuge der Monopolisierung zentraler Wirtschaftszweige einen Funktionswandel. Der gleiche allgemeine Gesetzesbegriff funktioniert jetzt so, dass er den politischen Eingriff in monopolisierte Märkte verhindert. Ab diesem Zeitpunkt wird die Allgemeinheit des Gesetzesbegriffs wieder stärker naturrechtlich ausgelegt und souveränitätsbeschränkend eingesetzt. Neumann (1986), 40. Zum „Funktionswandel der Wirtschaftsfreiheit“ unter monopolkapitalistischen Bedingungen vgl. Neumann (1978b), 76–80. 49 50
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Neumanns funktionale Analyse des Gesetzesbegriffs verweist damit auf eine spezifische Dialektik: Ein und dieselbe Rationalität, welche den allgemeinen Gesetzesbegriff im Zuge der Aufklärung zum probaten politischen Mittel der Emanzipation des Bürgertums gegen die Irrationalität der individuellen Maßnahmenregierung des Ancien Régimes machte, verkehrt sich unter monopolkapitalistischen Bedingungen in ein Instrument, um die rational gebotenen Eingriffe zur Regulierung der Eigentumsrechte von Monopolverbänden zu verhindern. Die fortschreitende Rationalisierung im Rechtssystem befördert auf diese Weise die zunehmend irrationale Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und immunisiert dieselbe auf diese Weise gegen die bewusste, politische Selbsteinwirkung demokratischer Verbände. 3.
Die Internalisierung des Subjekts
Adorno nimmt diesen Faden auf, wenn er in der Negativen Dialektik die dem positiven Recht eigentümliche Dialektik als das „Urphänomen irrationaler Rationalität“51 bezeichnet. Er erweitert jedoch den Blick auf dieses Phänomen der irrationalen Rationalität des Rechts, weil er es zugleich auf der Ebene des Subjekts sowie dessen Selbstverständnis und damit als einen Subjektivierungsprozess begreift. Bereits Neumanns Erläuterungen zum Recht als Institution hatten eine Dimension verdeutlicht, in der das Recht so funktioniert, dass es ein gesellschaftliches Verhältnis reproduziert, indem es Menschen in Herrschaftsbereiche einordnet. Das Recht subjektiviert darüber hinaus LohnarbeiterInnen, Schüler, CarearbeiterInnen oder Sans-Papiers etc. Die betreffenden Herrschaftsbereiche sind vielfältig. Sie sind dabei nicht auf einen rechtlichen Status zu reduzieren, sondern betreffen die Hervorbringung der Subjektivität als solcher. Deswegen lässt sich in einem nächsten Schritt mit Adorno die zur Rede stehende irrationale Rationalität des positiven Rechts und damit die Vormacht des Allgemeinen als ein Phänomen beschreiben, das tief in die Konstitution bürgerlicher Subjektivität eingeschrieben ist und nicht erst sekundär lebensweltliche Ansprüche bzw. Ressourcen primordialer Intersubjektivität bedroht. Was motiviert also Adornos Rede vom Recht als dem „Urphänomen irrationaler Rationalität“? Das positive Recht ist für Adorno zunächst einmal rational, weil es in seiner Binnenstruktur der Rationalisierung gesellschaftlicher Mechanismen im Zuge der fortschreitenden Kapitalisierung immer größerer Lebensbereiche folgt. Zum anderen ist es auch deswegen rational, weil es seinem Inhalt nach tatsächlich auf den Schutz der Selbsterhaltung des Einzelnen unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen gemünzt ist. Deswegen ist es für den Einzelnen durchaus rational, vom Recht diesen Schutz zu erwarten und von ihm Gebrauch zu machen, um sich selbst erhalten zu können.
51
Adorno (2003c), 304.
Die Vormacht des Allgemeinen
Zugleich ist das Recht darin vollkommen irrational, weil es diejenigen Verhältnisse schützt, die das individuelle Leben aber auch das der Umwelt systematisch zu zerstören drohen: „Einzig weil [die Individuen] das ihnen Fremde zu ihrer eigenen Sache machen müssen, um zu überleben, entsteht der Schein jener Versöhntheit“52, der wiederum für Adorno den Kern von Hegels Theorie des positiven Rechts ausmacht. Dessen Theorie ist für Adorno darin allerdings unbestechlich und klar, dass sie der „Vormacht des Allgemeinen“ ins Auge sieht, welche dem positiven Recht in der antagonistischen Klassengesellschaft tatsächlich eingeschrieben ist.53 Hegel habe dabei die individuelle Selbstheit des bürgerlichen Subjekts als nicht existent und damit als Illusion durchschaut, welche den meisten Theorien des positiven Rechts als normativem Kernbestand gilt. Allerdings verfalle Hegels eigene Theorie selbst der Ideologie des positiven Rechts, weil sie der scheinbaren Versöhnung folgt, wonach es möglich sei, dass die Individuen die Allgemeinheit des positiven Rechts als mit ihrem eigenen Wesen identisch begreifen könnten. Dieser Schein entsteht laut Adorno, weil Individuen im Kapitalismus „durch unausweichliche Motive der Selbsterhaltung zu Handlungen und Attituden genötigt [werden], die dem Allgemeinen blind sich zu behaupten helfen.“54 Es geht in Adornos Kritik also nicht allein darum, dass die Einzelnen vor Gericht zu Fall gebracht werden und dass ihre Besonderheit zugerichtet werden muss, um unter die allgemeine Norm subsumiert werden zu können. Vielmehr geht es um die Gespaltenheit des individuellen Bewusstseins, das tatsächlich mit der Allgemeinheit eins zu werden versucht, um sich selbst erhalten zu können.55 Subjekte finden sich unter diesen Bedingungen in einem „Strukturzusammenhang der Gesellschaft“ wieder, „der sie sowohl zur puren Selbsterhaltung dressiert wie die Erhaltung ihres Selbst ihnen verweigert.“56 Aus diesem Grund würden die Subjekte unter Zwang reagieren und damit mit demselben Allgemeinen umso weniger identisch werden, je mehr sie ihm wehrlos gehorchten. Noch in seinem Widerstand gegen den Druck der Vergesellschaftung bleibt das Individuum ein Kristallisationspunkt der ihm vorgeordneten „Formen der politischen Ökonomie.“57 Die Vormacht des Allgemeinen stellt sich damit als ein Prozess der Internalisierung im Grunde widerstreitender Bestimmungen im Subjekt dar. Adorno demonstriert diesen Prozess anhand eines psychoanalytischen Adorno (2003c), 306. Ebd. Ebd. Für Adorno und Horkheimer bildet das Konzept der Selbsterhaltung eine Schlüsselkategorie der „biologischen Urgeschichte“ des Menschen, die bis in unsere moderne Subjektivität kontinuiert wird. Diese Kategorie verschränkt auf komplexe Weise die Dimensionen des organischen Überlebens mit der Selbstbehauptung der Ratio des Subjekts und der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse(vgl. Horkheimer/Adorno (1987), 211); bzgl. des Zusammenhanges von Selbsterhaltung und Naturverfallenheit vgl. Adorno (2003c), 342; sowie zur Beziehung von Vernunft und individueller Selbsterhaltung vgl. Horkheimer (1987), 326. 56 Adorno (2003a), 13. 57 Adorno (2003b), 169. 52 53 54 55
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Verständnisses der Internalisierung.58 Es liegt allerdings auch nahe an dieser Stelle auf U. K. Preuß’ Überlegungen zur Internalisierung des Subjekts vermittels der Form subjektiver Rechte zu verweisen, die er als ein „Strukturmerkmal kapitalistischer Industriegesellschaften“59 versteht. Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Verdichtung und organisatorischen Vermittlung von gesellschaftlichen Beziehungen komme es zu einem Funktionswandel der Kategorie des subjektiven Rechts: Unter Bedingungen bewußter Herstellung sozialer Ordnung verwandelt sich die durch das subjektive Recht bezeichnete Herrschaft durch Ausgrenzung in Herrschaft durch Eingrenzung. […] Internalisierung bezeichnet dabei den Prozeß der Überführung der gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen unter die Kontrolle ordnungsgarantierender Autoritäten.60
Ausgrenzung bezog ihren rechtlichen Sinn aus dem Ausschluss eines anderen vom Gebrauch eines Gutes, das dadurch in den exklusiven Herrschaftsbereich individueller Verfügung fällt. Demgegenüber ist für Preuß die Internalisierung des Subjekts Ausdruck eines Funktionswandels der Form subjektiver Rechte, welcher auf die veränderten Reproduktionsbedingungen einer fortschrittlichen kapitalistischen Industriegesellschaft reagiert. Sobald das Eigentumsrecht zu einem Eigentumsrecht an Produktionsmitteln wird, fungiere es als eine „Organisationsgewalt über die Kooperation der Individuen [und, S. G.] verwandelt Bestandteile ihrer Subjektivität […] in eine Funktion des Betriebszusammenhangs“.61 Das so verstandene Eigentumsrecht schließt nicht mehr Individuen vom Gebrauch aus, sondern schließt sie in Bestandteilen ihrer Subjektivität in einen Herrschaftsbereich ein. Die Formanalyse des modernen Rechts verweist somit auf die spezifischen Subjektivierungsweisen, welche für das Funktionieren des kapitalistischen Eigentums an Produktionsmittel ausschlaggebend sind. Für Adorno ist die moderne Rechtsform in ihrem Funktionieren somit Teil der Konstitution der gespaltenen Subjekte, die in kapitalistischen Produktionsverhältnissen auf eine spezifische Weise handlungsfähig sind, insofern sie durch das Recht subjektiviert sind. Die Subjektivierung durch das Recht zielt dabei auf die Einheit von Ohnmacht und Macht im Subjekt. Das Subjekt bindet sich affektiv an das Recht, weil es ihm unter Bedingungen realer Ohnmacht gegenüber der Vormacht des Allgemeinen gleichzeitig individuelle Handlungsfähigkeit ermöglicht. Deswegen drückt sich im verzweifelten Glauben an das Einzelne als dem Substanziellen der individualistischen
Dazu passt Adornos Kritik an Freuds Konzentration auf die ‚Objetktriebe‘(vgl. Adorno (2003c), 342 f.). 59 Preuß (1979), 9. 60 Ebd., 32. 61 Ebd., 48. 58
Die Vormacht des Allgemeinen
Gesellschaft eine „subjektive Illusion“62 aus, die durch das Prinzip der Selbsterhaltung allerdings objektiv verursacht ist. Die Subjektivierung des bürgerlichen Individuums, das seine scheinbare Souveränität gegenüber der Vormacht einer alle Lebensbereiche durchziehenden Verwertungslogik versucht durch Berufung auf subjektive Rechte geltend zu machen, bildet deswegen für Adorno den unverzichtbaren ideologischen Kern des positiven Rechts. Adorno lässt keinen Zweifel daran, dass die antagonistische Klassengesellschaft „dringendst“ dieser Ideologie bedürfe, um sich reproduzieren zu können, denn „[i]n den Individuen selbst drückt sich aus, daß das Ganze samt ihnen nur durch den Antagonismus hindurch sich erhält.“63 Die Vormacht des Allgemeinen realisiert sich gerade durch die einzelnen Subjekte hindurch, die versuchen, sich mit subjektiven Rechten gegen die unerträgliche Einsicht zu panzern, dass das einzelne Subjekt gegenüber der Vormacht des Allgemeinen nichts weiter ist als das „funktional determinierte Einzelinteresse.“64 Mit anderen Worten: Für Adorno ist es ein wesentlicher Teil der Ideologie des positiven Rechts, dass dessen Form selbst formierend wirkt. Seine Rechtsformanalyse demonstriert, wie das moderne Recht unsere bürgerliche Subjektivität konstituiert und noch bis tief in unsere Affekte hinein wirksam ist. Für Adorno gehört es somit zum grundlegenden Verständnis dieses Rechts als Ideologie, dass es Subjekte nicht nur in Form von spezifischen Rollenerwartungen subjektiviert, die wir in der Sphäre des Rechts, der Ökonomie oder der Zivilgesellschaft erfüllen. Stattdessen funktioniert dieses Recht als Institution so, dass es Subjekte in einem viel umfassenderen Sinn subjektiviert. Die Subjektivierung durch das Recht reicht so weit ins Somatische hinein, dass es für Adorno keinen vernünftigen Sinn gibt, von einem Subjekt zu sprechen, das auf irgendeine Weise oder in einer bestimmten gesellschaftlichen Sphäre dieser Subjektivierungsweise entkommen wäre: „Auch wo sie dem Primat der Ökonomie sich entronnen wähnen, bis tief hinein in ihre Psychologie, die maison tolérée des unerfaßt Individuellen, reagieren sie unterm Zwang des Allgemeinen.“65 Deswegen besteht für Adorno kein Zweifel daran, dass auch die Rationalisierungsprozesse der Moderne die Gewalt des Allgemeinen und die materiale Herrschaft gegenüber dem Einzelnen nicht zurückdrängen. Ganz im Gegenteil dazu ist die Emanzipation des Einzelnen im Zuge der Aufklärung von Beginn an mit einer Rationalisierung der Herrschaft über Menschen und die natürlichen Grundlagen der Reproduktion der Gesellschaft verstrickt. Im Zuge der kapitalistisch induzierten Arbeitsteilung gerät die Selbsterhaltung des Individuums mehr und mehr in Abhängigkeit von der sich fortschreitend rationalisierenden Herrschaft über Menschen und Natur. Aus diesem Grund spricht Adorno von der „individuellen Erfahrung des sich durchsetzenden All62 63 64 65
Adorno (2003c), 306. Ebd. Ebd. Ebd.
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gemeinen als eines unversöhnt Schlechten.“66 Das Individuum erfährt im Kapitalismus das Allgemeine als einen unpersönlichen Prozess der Rationalisierung, der in souveräner Manier die Bedingungen dessen diktiert, worin sich das Individuum fügen muss, um sein Leben scheinbar selbstbestimmt reproduzieren zu können. Auch in diesem Punkt erborgt sich die zerstörerische Produktionsweise den ‚Schein des Guten‘ durch das Recht, indem es die Herrschaft legalisiert. Dies ist keineswegs zynisch gemeint, denn das positive Recht ermöglicht in Adornos Augen tatsächlich die Selbsterhaltung des Einzelnen. Die Legalität schützt die meisten Individuen davor „Beute purer Willkür“67 zu werden. Auf diese Weise bindet es den Einzelnen in Verhältnissen an sich, in denen Willkür und Schrecken systemimmanent produziert werden. So ist für Adorno umgekehrt selbst das Besondere, die Individualität des Individuums, zu einer bloßen Funktion geworden, um unter diesen Bedingungen die Vormacht des Allgemeinen zu sichern. An diese pessimistische Feststellung knüpft Adorno allerdings auch eine politische Forderung: „Wahrhafter Vorrang des Besonderen wäre selber erst zu erlangen vermöge der Veränderung des Allgemeinen. Ihn als Daseiendes schlechthin zu installieren, ist eine komplementäre Ideologie.“68 Mit Adorno muss es daher problematisch erscheinen, ob wir ausgehend von Sozialformen wie etwa der Intimität einer Liebesbeziehung die Ressourcen für eine Kritik der kapitalistischen Formierung des Subjekts generieren können. Ob es möglich sein wird, „die natürliche Bedürftigkeit des eigenen Selbst in der leiblichen Kommunikation erneut anzueignen“, hängt für Adorno davon ab, inwieweit wir wirklich zur Veränderung desjenigen Allgemeinen fähig sind, dessen Vormacht durch uns wirkt, indem sie uns als Subjekte befähigt.69 Ansonsten drohen wir einer anderen Ideologie zu erliegen, die rechtliche Subjektivierungsweisen durch das Berufen auf eine authentische Subjektivität oder mit Blick auf eine andere Natur zu kritisieren versucht. Diese Ideologie ist für Adorno derjenigen des modernen Rechts komplementär: Dort wo die Besonderheit des Individuums als etwas „Daseiendes schlechthin“ angenommen wird und dem Allgemeinen opponiert wird, dort gibt es keinen Spielraum mehr für eine genuin politische Perspektive, die diese Besonderheit als ihr eigenstes Ziel begreift. Adornos Ideologiekritik des positiven Rechts analysiert somit die Individuation des Individuums durch die Form des Rechts hindurch und demonstriert, warum dieses neugewonnene Subjekt in Wirklichkeit ein noch uneingelöstes Versprechen der Moderne geblieben ist und bleiben muss, solange wir nicht in der Lage sind, die Bedingungen für die Realisierung dieses Versprechens gegen die bestehende Vormacht des Allgemeinen tatsächlich durchzusetzen.
66 67 68 69
Ebd., 302. Ebd., 303. Ebd., 307. Vgl. Honneth (2013), 270.
Die Vormacht des Allgemeinen
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Das Recht der Selbstaufhebung Vom Recht auf Kritik zur Kritik der Rechte
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Law’s Self-Abrogation From the Right to Critique Towards a Critique of Rights Abstract: In light of current authoritarian attacks on liberal rights, this article examines the role
of law and rights for critical social science and critique in general. Drawing on the work of early ‘Frankfurt School’ Critical Theory (especially Adorno and Horkheimer), it demonstrates how law provides a basis for critique on the one hand, but also how legal means can silence critique, rendering it impossible on the other hand. With its emphasis on the inner dialectical interconnectedness of law and critique and the direct confrontation with authoritarian movements, the reconstruction of legal critique in this tradition serves to unfold the thesis that authoritarian critiques of law differ drastically from a progressive and necessary critique of law precisely by curtailing the emancipatory content of rights, that they deprive law of the very potential for self-critique that makes it worth defending in the first place. Keywords: Critical Theory, Domination, Violence, Equality, Authoritarianism, Materialism Schlagworte: Kritische Theorie, Beherrschung, Gewalt, Gleichheit, Autoritarismus, Materialismus
1.
Zur Verteidigung des Rechts (auf Kritik)
Kritik und Recht – gerade in seiner modernen Fassung als Kodifizierung individueller Rechte – scheinen eng miteinander verwoben zu sein. Gerade heute, in Zeiten eines autoritären Backlash, zeigt sich das gesondert. In Staaten wie Ungarn sehen sich regierungskritische Journalist:innen und Wissenschaftlicher:innen mit massiven Einschränkungen in ihrem Recht auf Kritik konfrontiert, in der Türkei wird ihr Recht nicht nur eingeschränkt, sondern Kritik gar kriminalisiert, was sich an der Zahl inhaftierter Journalist:innen und Wissenschaftler:innen ablesen lässt. Ihr Kampf um die Möglichkeit, Kritik zu äußern, richtet sich gegen Einschränkungen der Pressefreiheit,
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der Freiheit der Forschung, man könnte sagen gegen Formen der Entrechtung – oder zielt auch direkt auf die Unabhängigkeit der Justiz als kritische Instanz gegenüber den Regierungen. Ähnliches konnte jüngst in Polen beobachtet werden, wo die Gefahr der Verunmöglichung effektiver Kritik an einer zunehmenden staatlichen Kontrolle der Medien und auch des Verfassungsgerichts moniert wurde und wird. Und auch für eine Kritik des oftmals stillschweigend hingenommenen Massensterbens im Mittelmeer und der Ausgrenzung von Geflüchteten scheint ein Bezug auf die Menschenrechte unerlässlich. Das ist die eine Seite, an der sich die Relevanz des Rechts auf Kritik zeigt. Und obwohl das Recht vor allem im Bereich marxistisch inspirierter Theoriebildung nicht unbedingt höchstes Ansehen genießt, unter anderem als Klassenrecht oder verhüllte Form von Herrschaft dargestellt wird, stellt sich hier die Frage, ob nicht aus einer kritischen Perspektive gerade heute der Rechtsstaat verteidigt werden müsste. So ergibt sich die Frage: Verstärkt ein Bezug auf radikale Rechtskritiken im Anschluss an Marx vor dem Hintergrund der genannten Beispiele nicht die Schwierigkeiten für Praktiken der Kritik? Tatsächlich lässt sich von kritischen Denker:innen heute oft der verständliche Reflex erkennen, in Petitionen eine rechtliche Stärkung etwa der Wissenschaftsfreiheit in Ungarn oder der Pressefreiheit in der Türkei zu fordern, also eine starke Affirmation der subjektiven Rechte.1 Und sicher macht es sich eine abstrakte Kritik des Rechts zu einfach, wenn sie die jeweiligen Kontexte ausblendet. Andererseits scheint es aber auch problematisch, die theoretische Kritik an Problemen des Rechts zurückzustellen. Wendy Brown diagnostiziert eine Paradoxie der Rechte, wenn die liberalen Rechte etwas sind, was, wie Spivak schreibt, „wir nicht nicht wollen können“2, diese Rechte aber gleichzeitig als problematisch erkannt und kritisiert werden müssten. Diese Spannung vom Recht auf Kritik und einer gleichzeitigen Kritik der Rechte soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Dafür stellt der Rückbezug auf die frühe Kritische Theorie einen guten Anknüpfungspunkt dar, wenn diese auch nicht vorrangig für ihre Arbeiten zur Theorie oder Kritik des Rechts bekannt ist. Zum einen bietet sie sich für ein solches Projekt an, weil hier noch ungeborgenes Potential steckt und sich durchaus eine mehr oder weniger konsistente Auseinandersetzung mit dem Recht findet, zum an-
Tatsächlich wurden diese Petitionen von zahlreichen wohlbekannten kritischen Theoretiker:innen (mit-)getragen. So fand die CEU-Petition Unterstützung von tausenden Wissenschaftler:innen aus aller Welt (vgl. https://www.ceu.edu/node/17948/, zuletzt abgerufen am 16.02.2023). Eine unterstützende Petition der Academics for Peace, die ein Ende der „punitive attacks[…], criminal and administrative investigations, detentions, dismissals, passport revocations and travel bans“ und generell der „violations of academic freedoms and standards“ fordern, wurde u. a. von Nancy Fraser, Etienne Balibar und Jay M. Bernstein unterzeichnet, um nur wenige der prominenten Unterstützer:innen mit einem Bezug zur kritischen Theorie zu nennen (vgl. https://academicboycottofturkey.wordpress.com/petition/, zuletzt abgerufen am 16.02.2023). 2 Brown (2011 [2000]), 454 f. 1
Das Recht der Selbstaufhebung
deren wird hier allgemeiner die Marx’sche und marxistische Theorie einer kritischen Revision unterzogen, die ihren Blick gerade auf Formen des Autoritarismus richtet und damit über eine eindimensionale Ablehnung des Rechts hinausgeht. Ich möchte hier also zunächst relevante Aspekte des Rechtsdenkens in der frühen Kritischen Theorie herausarbeiten, in dem eine ähnliche Paradoxie wie jene bei Wendy Brown thematisierte zu finden ist. Im Anschluss daran sollen die hier erarbeiteten Positionen auf die oben erwähnten aktuellen Probleme bezogen werden. Zunächst wenden wir uns also der Frage zu, was wir aus einer Theorietradition, die in Zeiten eines noch stärkeren autoritären Backlash und persönlicher Erfahrung von Entrechtung entsteht, für das Verhältnis von Recht und Kritik herauslesen können. Dann soll untersucht werden, inwiefern diese kritische Haltung auch produktiv für die Einhegung exkludierender Effekte des Rechts oder asymmetrischer Machtverhältnisse in sozialen und legalen Strukturen ‚genutzt‘ werden kann. Betrachtet man die Arbeiten desjenigen Theoretikers aus dem Frankfurter Kreis, der sich explizit mit Recht befasst, also Franz Neumann, so lässt sich schon die genannte Ambivalenz erkennen. Drei Funktionen schreibt er dem Recht in der „Konkurrenzgesellschaft“3 zu. Die ersten beiden zeigen die marxistische Prägung; hier erörtert Neumann, dass das Recht einerseits die Dominanz des Bürgertums hinter formaler Gleichheit im Recht verdeckt, andererseits die Kalkulierbarkeit und Funktionalität von Marktprozessen sichert – ohne Staat und Recht, die die Einhaltung von Verträgen notfalls durch Sanktionen sichern kein Markt und keine Wertschöpfung. Was Neumann aber trotzdem zu einer Verteidigung dieses Rechts verleitet ist seine dritte Funktion: die „ethische“.4 Generalität des Gesetzes, Unabhängigkeit des Richters, Teilung der Gewalten – dies sind Prinzipien, die die Bedürfnisse des Konkurrenzkapitalismus übersteigen, weil sie die persönliche Freiheit sichern. Sie verhüllen zwar die wirkliche Macht einer bestimmten Gesellschaftsschicht und sie machen Austauschprozesse berechenbar, aber sie schaffen persönliche Freiheit und Sicherheit auch für den Armen.5
Horkheimer scheint sich dieser Diagnose anzuschließen, wenn er von der „Resistenzkraft“6 des Rechts spricht, das nicht nur einen Minimalschutz, sondern auch Raum für Reflexion bereitstelle. Und auch bei Adorno wird eine marxistische Kritik am Recht als bloß formaler und damit problematischer Sicherung der Gleichheit – zumindest teilweise – zurückgenommen. Er schreibt:
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Neumann (1980 [1936]). Ebd., 302 f. Ebd., 303. Horkheimer (1985a), 290.
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Wer wie ich einmal erlebt hat, wie diese Welt aussieht, wenn – sei es auch in der Sphäre der Legalität – dieses Moment der formalen Gleichheit einfach zugunsten von als apriorisch behaupteten inhaltlichen Bestimmungen vernachlässigt wird, der wird am eigenen Leib, sozusagen, oder wenigstens an der eigenen Angst spüren, welches unendlich Humane in diesem Begriff des Formalen auch enthalten ist.7
Er versteht die, wenn auch nur formale, Gleichheit als „progressiv bürgerliches Prinzip“.8 Horkheimer und Adorno bleiben nun aber nicht bei dieser Typologie stehen. Sie entwickeln aus dieser Betrachtung keine Affirmation des Rechts, sondern nehmen es – gerade weil es auch fortschrittliche Momente enthält – zum Ausgangspunkt ihrer Kritik. Anders als bei Franz Neumann, der die ethische Funktion des Rechts als Minimalschutz schon zum Kriterium der notwendigen Verteidigung auch des bürgerlichen Rechts macht, lässt sich bei Adorno und Horkheimer eine stärkere Ambivalenz zeigen, die auch Auskunft über das Verhältnis von Recht und Kritik gibt. Statt des Nebeneinanders der drei Funktionen, so soll gezeigt werden, sehen Adorno und Horkheimer eine innere Verbindung von Recht und Kritik, sehen im Recht eine Kritik seiner selbst angelegt. Um diese zu entwickeln, wird zunächst beleuchtet, welche Kritikpunkte am Recht in der frühen Kritischen Theorie entwickelt werden. Dabei sollen drei Punkte herausgegriffen werden, die verdeutlichen, mit welcher spezifischen Strategie hier eine Kritik entwickelt wird. 1.1
These des normativen Überschusses
Ähnlich wie bei Neumann findet sich auch bei Adorno und Horkheimer die Analyse des Rechts als Instrument oder Schleier der Herrschaft. Im Grunde gehen sie hier auf Marx’ Kritik der Menschenrechte zurück, die besagt, dass die politische Emanzipation, etwa in der Französischen Revolution und ausgedrückt in der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers, nicht für die Auflösung, sondern nur für die Verschiebung von Herrschaftsverhältnissen sorgt. Wie Marx es ausdrückt: die politische Emanzipation ist die Emanzipation des Staates von den realen Differenzen, die „Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik“9, die sich vollzieht, indem alle Rechtssubjekte als gleichberechtigte auftreten und Unterschiede z. B. des Eigentums, der Religion, der Bildung usw. zu privaten Unterschieden erklärt werden; wobei Marx darauf verweist, dass diese Machtgefälle also nur entpolitisiert, nicht aber aufgelöst werden. Neumann entwickelt daraus eine eher empirisch gesättigte Kritik und untersucht, wie durch diese Gleichheit und durch das Zugeständnis basaler Rechte auch neue Rechte 7 8 9
Adorno (2006 [2001]), 351. Ebd., 351 f. Marx (1972 [1844]), 369.
Das Recht der Selbstaufhebung
erstritten werden können. So ist es etwa gelungen, die Versammlungsfreiheit zu erringen, Gewerkschaften zu bilden und auf diesem Weg dann einige der privatisierten Verhältnisse zu repolitisieren.10 Adorno und Horkheimer entwickeln ihre Kritik dagegen (oder eher: darüber hinaus) im Recht bzw. an den Rechten selbst. Sie sehen in ihnen eine Art normativen Überschuss, der sie zur Selbstkritik drängt. Die bürgerliche Gerechtigkeitsidee, Normen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, aber auch die Garantie des gerechten, freien Tauschs „erweisen, wenn man Ernst mit ihnen macht und sie wirklich als Prinzipien der Gesellschaft zu Ende denkt, ihren inneren Widerspruch und damit auch den Gegensatz zu dieser Ordnung.“11 Es geht ihnen also nicht um eine externe Kritik anhand etwa utopischer Leitbilder, sondern um die „Darstellung“12, warum und wie sich eine bestimmte soziale Form, hier speziell die Rechtsform, ergibt. Die immanente, auf bestimmte basale Versprechen des Rechts verweisende Kritik hat der Kritischen Theorie unter anderem den Vorwurf eingehandelt, damit nur konservierend zu wirken bzw. nicht über bestimmte Probleme des Rechts hinausgehen zu können, sitze dieses doch dem Warentausch auf13 – Adorno bezieht sich allerdings explizit auf die Marx’sche Kritik und den Modus der ‚Darstellung‘ als Anstoß der Transformation, wenn er polemisch gegen vulgärmarxistische und anarchistische Ansätze fordert, „um überhaupt diesen ungeheuren Apparat zu verändern, ihn aus seiner eigenen Kraft heraus in Bewegung [zu] setzen.“14 Um die These der immanenten und gleichermaßen transformativen Kritik zu erläutern, bezieht sich Adorno weiter auf Marx, der zeige, „daß in dieser Gesellschaft alles mit rechten Dingen zugeht, daß die Äquivalente wirklich getauscht werden, daß es aber an einer entscheidenden Stelle, nämlich wo es sich um die Ware Arbeitskraft handelt, indem es mit rechten Dingen zugeht, zugleich nicht mit rechten Dingen zugeht.“15 Diese These aus der Kritik der politischen Ökonomie weist ihre rechtliche Seite direkt im Gegenstand des Arbeitsvertrags auf, der analog als ‚gerechte Ungerechtigkeit‘ verstanden werden könnte, wenn auch Marx sich von solcherlei Kategorien zu distanzieren wusste.16 Marx hingegen spricht von einer Pattsituation von „Recht wider Recht“17
Vgl. Neumann (1980 [1936]), 310. Horkheimer (1988c [1937]), 189. Ähnlich heißt es im Aufsatz Materialismus und Metaphysik: „Ebenso muß die Forderung einer allgemeinen Durchführung der bürgerlichen Gerechtigkeitsidee dazu führen, die Gesellschaft des freien Tausches, an der diese Idee ursprünglich ihren Inhalt gewann, zu kritisieren und aufzuheben.“ (Horkheimer (1988b [1933]), 82) Die Kritik zielt also auf die Spannung zwischen Begriff und Gegenstand. 12 Menke (2015), 149. 13 Vgl. Harms (2009), 140. 14 Adorno (1979a [1973]), 261. 15 Ebd., 262. 16 Vgl. Wood (1972). Zum Arbeitsvertrag als Kristallisationspunkt siehe Negt (1975), 46 ff. 17 Marx (1965 [1867]), Band 1, 249. 10 11
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im Kampf um den Arbeitsvertrag, wobei die Macht der stärkeren Klasse durchschlägt, letztendlich also Gewalt entscheidet. Diese These also, dass es eben einen Widerspruch zwischen dem Versprechen der bürgerlichen Revolutionen und der materiellen Umsetzung gibt, dass zwischen Begriff und Materie eine Lücke klafft, die nur zu schließen wäre, wenn über die bürgerliche Gesellschaft hinausgegangen wird, taucht bei Adorno und Horkheimer immer wieder in abgewandelter Form auf. Christoph Menke knüpft genau daran an und beschreibt, dass die Normen eben nur in einer bestimmten, unzulänglichen Form verwirklicht wurden und nutzt hierfür die Formulierung, dass die bürgerlichen Revolutionen dem Ideal der Gleichheit „die Form der Rechte“18 gegeben haben. Dies, so Menke, würde aber einem emphatischen Gleichheitsbegriff geradezu entgegenstehen. Anders als eher vulgärmarxistische Positionen sehen Adorno und Horkheimer im Recht also keine unvermittelte Klassenjustiz19; ihre Kritik richtet sich stattdessen aus am Ursprung des Bedürfnisses nach Recht, also jenen Forderungen und Bewegungen, die das moderne Recht letztlich eingesetzt haben, der revolutionären Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Solidarität, und der dazu im Widerspruch stehenden Form der Rechte, also am Selbstwiderspruch des Rechts. Man könnte hier meinen, und tatsächlich legt etwa Robert Fine das nahe, dass sich Adorno und Horkheimer auf eine Art überpositives Recht berufen und mehr oder weniger als Naturrechtler verstanden werden könnten. Moralisches Verhalten, so Fines Lesart von Adorno, könne als kontrafaktische Annahme von Rechten verstanden werden, und zwar solcher Rechte, die nicht durch die Macht gedeckt seien. Er sieht also einen Zusammenhang von der ‚Idee des Rechts‘ und einer Vision moralischen Urteilens.20 Bei aller Kritik an der Kantischen Rechtstheorie, die sich bei Adorno finde, weise er diese nicht zurück, wie es etwa die Faschisten taten; so schreibt Fine aus der Negativen Dialektik zitierend: „Adorno acknowledged the abstract character of equal right but reaffirmed the efficacy of rights in countering the fetishized forms of capitalist society: ‚ […] despite and because of its abstractness, there survives […] something of substance: the egalitarian idea‘.“21 In eine ähnliche Kerbe schlägt Hauke Brunkhorst mit dem Versuch, Kant rückwirkend an Marx und der Kritischen Theorie zu ‚schulen‘ und so seine Rechtstheorie als kontrafaktisches „counter-memory“22 der Volkssouveränität zu deuten bzw. die NichtIdentität im Recht geltend zu machen. Doch auch Fine verweist auf die Ambivalenz: Menke (2015), 7. Was nicht heißt, dass sie keinen Antagonismus sähen, sondern, dass der Klasseninhalt durchaus vermittelt ins Recht eingeht. 20 Vgl. Fine (2013), 226. 21 Ebd., 227. 22 Brunkhorst (2020), 533. Mit Verweis auf § 46 der Metaphysik der Sitten und die Differenz von ‚all‘ (universelle Geltung) und ‚each‘ (jeweilige Perspektive) deutet Brunkhorst hier einen Einklang von Nicht-Identität und Universalismus. 18 19
Das Recht der Selbstaufhebung
Gerade die Naturalisierung bürgerlicher Kategorien, die sich bei Kant findet, ist mit dem Ansatz der Kritischen Theoretiker kaum zu verbinden, wenn sie auch ein gewisses schützendes Moment im Recht entdecken. So folgert er, dass Adorno und Horkheimer die Kantische Rechtsphilosophie zwar gegen ihre Hegelsche Interpretation verteidigen, in der Dialektik der Aufklärung aber gleichermaßen eine „Denaturalisierung und Regeneration des Rechtsbegriffs“23 leisten. Mit dem Stichwort der Denaturalisierung wird aber zugleich die Problematik dieser Interpretationslinie aufgeworfen: Kann ein theoretischer Ansatz, dem es im Kern um die Kritik dessen geht, was sich als naturwüchsig gibt, von etwas wie natürlichen Rechten ausgehen? Oder geht es vielmehr darum, die „Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse“24 aufzudecken und dabei „Rechtsvorstellungen“25 als solche auf der Erscheinungsebene zu fassen? 1.2
These der Internalisierung
Auf diesen ersten Kritikpunkt und im Anschluss an den letzten Absatz könnten eher orthodox marxistisch ausgerichtete Theoretiker:innen antworten, dass die Dominanzverhältnisse, die hinter dem Recht bestehen, doch auch dort gelöst werden müssten, dass das Recht nur Überbau sei und man sich um die Basis, also vor allem die ökonomischen Verhältnisse kümmern müsse. Mit einer Auflösung oder Transformation des Rechts wären die Probleme dementsprechend nicht beseitigt. Auch wenn Adorno und Horkheimer diese Rede vom Recht als Überbauphänomen teils aufgreifen, haben sie doch ein komplexeres Verständnis davon. Es ist geradezu ein Wesensmerkmal Kritischer Theorie, jene vermeintlichen Überbauphänomene wie Recht und damit für Adorno und Horkheimer stark verbunden auch Moral ernst zu nehmen. Friedrich Pollock, der gerade für die Anfänge der Kritischen Theorie sehr prägend war, schreibt in seiner Dissertation von 1923: In der warenproduzierenden Gesellschaft verschwinden die im Produktionsprozess bestehenden Verhältnisse unter gesellschaftlichen Formen (insbesondere unter heterogenen Rechtsnormen, Verkehrsformen usw.), hinter denen sie erst eine eingehende Analyse wieder zu entdecken vermag. Einem römischen Sklaven erscheint seine Sklavenstellung, die er im Produktionsprozess einnimmt, als das, was sie ist, in allen persönlichen Angelegenheiten seines Sklavenlebens: in seiner Rechtsstellung wie in jeder Gepflogenheit des Alltags und es bedarf keines Marxisten, um ihn darüber aufzuklären.26
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Fine (2019), 120. Marx (1965 [1867]), Band 1, 559; siehe auch Reichelt (1973 [1970]), 94. Marx (1965 [1867]), Band 1, 562; siehe auch Reichelt (1973 [1970]), 88. Pollock (2018 [1923]), 33.
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Gerade in der bürgerlichen Gesellschaft, wo diese Dominanzverhältnisse durch die formale Gleichheit verdeckt sind, bedarf es aber einer Analyse der „juristische[n] und sonstige[n] Kulturformen“27, um einerseits die dahinterliegenden Verhältnisse aufzudecken, andererseits auch die eigenständigen Effekte dieser „Kulturformen“ zu untersuchen. Staat und Recht regeln nicht nur das Funktionieren und die Berechenbarkeit des Marktes, sondern transportieren auch eine bestimmte Moral und einen Kollektivgeist, der über die Differenzen hinwegtäuscht. Dies zeigt sich etwa darin, dass gewerkschaftliche Kämpfe als egoistisch diffamiert werden oder unter dem Stichwort des Gemeinwohls die Interessen des Unternehmens als wichtiger gegenüber jenen der einzelnen Mitarbeiter:innen dargestellt werden. Das Recht trägt dazu bei, seinen Subjekten ein Gewissen zu machen, also bürgerliche Normen zu internalisieren, und gibt die bürgerlichen Rechte als Rahmen für Kampfe vor. So heißt es bei Horkheimer: Indem er [der gewissenhafte Bürger; H. K.] für die bürgerlichen Freiheiten kämpft, soll er zugleich sich selbst bekämpfen. Die bürgerliche Revolution führte die Massen nicht in den dauerhaften Zustand einer freudvollen Existenz und allgemeinen Gleichheit, nach der sie verlangten, sondern in die harte Realität der individualistischen Gesellschaft.28
Und auch auf internationaler Ebene kommt diese Zersplitterung zum Tragen, wenn auch hier weniger eine allgemeine Solidarität als vielmehr eine auf das ‚eigene‘ Gemeinwesen bezogene Politik angestrebt wird. Die Rede von ‚der‘ kapitalistischen Gesellschaft im Singular, so Horkheimer, sei irreführend, da gerade durch die ‚Kulturformen‘ des vermeintlichen Überbaus andere Identifikationsräume hervorgebracht werden. Statt als „Proletarier aller Länder“ sähen sich die so subjektivierten Bürger:innen möglicherweise doch eher als „enfants de la patrie“29 und richteten somit ihre Identifikation eher auf die Nation als auf ihre Klassenzugehörigkeit, was problematische Formen der ‚Gleichheit nur für Gleiche‘ hervorbringen kann. In Horkheimers Worten: Aus eben jenen menschlichen Energien, die meist die proletarische Solidarität zu erzeugen schienen, aus dem Leiden am gesellschaftlichen Unterschied, dem Willen zum besseren, gerechteren Leben, zu liberté, egalité, fraternité ergibt sich durch die wirtschaftliche und politische Situation wie durch bewußten Einfluss derer, die am Hebel sitzen, nicht die richtige Gesellschaft, sondern die Volksgemeinschaft.30
Diese Exklusivität und problematische Form der Gleichheit führt zum dritten Punkt.
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Ebd., 34. Horkheimer (1988a [1936]), 25. Horkheimer (2008a [1974]), 367. Ebd.
Das Recht der Selbstaufhebung
1.3
Rechtsform und Gewalt
Vorauszuschicken ist hier, dass Adorno und Horkheimer an dieser Stelle mit einem relativ vagen Begriff der Gewalt operieren, der jedoch zentral für ihre Rechtskritik ist. Sie beschreiben in ihrer Thematisierung des Rechts eine Selbstverständlichkeit bzw. eine Voraussetzung der Gewalt in sozialen Beziehungen – unter anderem rechtlich gedeckt durch Sanktionierungen –, die durch eine Ideologiekritik des Rechts aufzudecken wären.31 Entwickelt wird dies, wie eben angerissen, am Beispiel der Gleichheit: Nicht nur nach außen, als Abschottung der Gemeinschaft gegen andere, sondern auch nach innen wirkt diese hier problematisierte bürgerliche Gleichheit. In der Dialektik der Aufklärung wird auf die Gefahr verwiesen, dass die „Gleichheit des Rechts“ durch sozialen Anpassungsdruck in „das Unrecht der Gleichen“32 umzuschlagen droht. Adorno und Horkheimer stützen sich hier auf Freuds Unbehagen in der Kultur, wonach zur Aufrechterhaltung der Sozialität, Triebhemmung und/oder -verschiebung nötig sei, Repression also letztlich durch ihre Einhegung destruktiver Regungen gerechtfertigt sei.33 Anders als Freud, der den Menschen einen Destruktionstrieb zuschreibt, wollen die Kritischen Theoretiker diese Aggressivität aber sozial aufschlüsseln. Diese werde durch das Recht nicht (nur) eingehegt, sondern mitunter auch erzeugt. Denn durch die Aufgabe eigener Freiheiten wird jene Versagung auch von anderen erwartet, Strafe für diejenigen gefordert, die sich vermeintlich mehr herausnehmen.34 Gleichheit bedeutet dann eben nicht nur Ermöglichung der gleichen Freiheiten für alle, sondern auch Gleichmachung im schlechten Sinne, als Abschneiden dessen, was besonders ist. Diesen Zusammenhang von Freiheit einerseits und Gewalt andererseits in der bürgerlichen Gleichheitsidee hebt unter anderem auch Daniel Loick hervor, wenn er bei Adorno eine Kritik der Differenzen auslöschenden Grammatik des Rechts diagnostiziert.35 Diese Gewaltthese wird bei Adorno nicht zuletzt entlang der Hegelschen Rechtsphilosophie entwickelt, die ihm zufolge, bei aller Sympathie für Hegel, restaurative Tendenzen zeige. Die Ambivalenz gegenüber Hegel – wie sich verschiedentlich zeigt – besteht in der diagnostischen Kraft seiner Theorie, aus der er nach Adorno jedoch die falschen Schlüsse zieht. Entdeckt er die unschlichtbaren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, so stellt er ihnen eine Apologie des Staates gegenüber, der als vermeintlich neutrale Instanz den (von Hegel nicht weiter hinterfragten) Klassenkonflikt Ähnlich wie Sonja Buckel das für Paschukanis diagnostiziert, gilt hier, dass zumindest implizit die ideologiekritische Schiene mit einer Kritik des objektiven sozialen Verhältnisses im Recht verbunden wird. Vgl. Buckel (2015 [2007]), 101. 32 Adorno/Horkheimer (2003 [1947]), 35. 33 Vgl. Freud (1974 [1930]), 191–270. Siehe v. a. Abschnitt V, 244 ff. 34 Das ist dann auch grundlegend für die Analyse des Antisemitismus in der Kritischen Theorie, der maßgeblich mit solchen Projektionen zusammenhängt, die sich aus internalisiertem Zwang ergeben. 35 Vgl. Loick (2019), 337. 31
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befrieden soll. Die potenzielle Transformation, die aus den Spannungen erwächst, werde somit bei Hegel durch einen „Gewaltstreich“36 abgeschnitten, eine falsche Versöhnung des Konfliktes erpresst.37 Nicht unähnlich der Benjaminschen Kritik der Gewalt mit ihrer antithetischen Aufstellung von Recht und Gerechtigkeit resümiert Adorno, dass letztlich in der vermeintlichen Befriedung der Gegensätze im Staat, der Einschreibung in den Zyklus von rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt, das Einzelne unter der Allgemeinheit eben nicht zu seinem Recht kommt, ihm keine Gerechtigkeit widerfährt: „Die Nichtidentität des Antagonistischen, auf die sie [Hegels Philosophie; H. K.] stößt und die sie mühselig zusammenbiegt, ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist.“38 Vielmehr könne zur realen Versöhnung nur die Entfaltung des Widerspruchs führen. Fines Naturrechtsthese setzt auch hier an: Er liest die Zurückweisung der Hegelschen Rechtsphilosophie durch Adorno als eine Kritik der Fetischisierung des Staates. Die Hinwendung zum Staat, so Fine, sei nach Adorno verwoben mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft(en), wobei der progressive Charakter der Rechte in einen repressiven Apparat gewandelt wird. As he saw it, the regression of natural law from a philosophy of right to a philosophy of the state was a mirror of the regression of capitalist society, which was increasingly prone to elevate the state into an object of worship and degrade the individual into its mere executor.39
Es fände sich hier also eine Kritik, aber keine Entwertung der Rechte; vielmehr ginge es Adorno um eine Rückgewinnung des Werts der Rechte durch Kritik und Denaturalisierung, weshalb es genau auf eine Arbeit an der Lücke zwischen Versprechen und Realität der Rechte ankomme.40
Adorno (2003a [1963]), 276. Wenn dieser Vorwurf von Adorno auch vermehrt vorgetragen wird, so bleibt doch die Frage, inwiefern hier eher polemisiert wird, als dass die Theorie Hegels tatsächlich zurückgewiesen wird, ist es doch die Dialektik Hegels, die – wie Heydorn hier offen polemisch schreibt und wie es auch für Adorno gelten könnte – die „Lunte [war], die der devote Professor hinter dem Rücken an das Pulverfaß hielt, um die Gesellschaft gleichzeitig zu genießen und nach seinem Tod in die Luft sprengen zu können.“ (Heydorn 2004 [1970], 122) Mehr noch schlagen Traugott Koch und Klaus-Michael Kodalle vor, dass sich der Vorwurf Adornos weniger an Hegel richtet, oder richten müsste, denn an geschichtsdeterministische Zurichtungen der Dialektik bei Marx (bzw. müsste man hier wohl eher von bestimmten Marx-Lesarten sprechen) (vgl. Koch/Kodalle 1971, 379). Wenn dort von der notwendigen Entwicklung gesellschaftlich immanenter Antagonismen zur Emanzipation die Rede sei, so sei die aus der schlechten geschichtlichen Praxis hervorgehende Versöhnung bereits korrumpiert. 38 Adorno (2003a [1963]), 277. 39 Fine (2013), 228. 40 Vgl. ebd., 236. 36 37
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Um auf die Gleichheit zurückzukommen, aus der die Gewaltthese entwickelt wurde: Es gibt nach Adorno und Horkheimer in der Gleichheitsidee der bürgerlichen Gesellschaft die Tendenz zur schlechten Gleichmachung und zur Affirmation dieser Gleichheit und der Einhaltung des Rechts als Selbstzweck. Je mehr die Subjekte sich unhinterfragt am Recht ausrichten, es als gegeben annehmen, desto mehr wird es auch fetischisiert, zum unhintergehbaren Zweck an sich gemacht. Das Recht erscheint als losgelöste Sphäre, die nicht von den Subjekten und ihren Zwecken ausgeht, sondern umgekehrt, sich die Subjekte einpasst, was Adorno und Horkheimer auch im Bild der Justitia verdeutlicht sehen, deren Augenbinde „nicht bloß [bedeutet], daß ins Recht nicht eingegriffen werden soll, sondern, daß es nicht aus Freiheit stammt.“41 Neben der Durchsetzung der „repressiven Egalität“42 wird hier also auch ein Kampf zwischen der Rechtsform als fixierender, festlegender und vermeintlich unabänderbarer und der Freiheit zur selbstbewussten Einrichtung der Gesellschaft gesehen. Dazu schreibt Adorno: Da das Gesetz die Tendenz hat, sich stärker geltend zu machen als die Freiheit, kommt es darauf an, aufzupassen, aufs äußerste wachsam zu sein gegenüber einer Fetischisierung des Gesetzes, der Rechtsnormen, etwa im Namen der Unwiderruflichkeit einmal gefaßter Beschlüsse. Man kann sich nicht bei einer sogenannten Ordnung bescheiden, denn sobald eine solche Ordnung da ist, pflegt es um die Freiheit geschehen zu sein. Zwischen beiden waltet keine statische Proportion.43
Auch hier greift Adorno auf die Hegelsche Theorie zurück. Mit seiner dialektischen Fassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft trifft er eine Problematik, die er, wenn auch nicht kritisiert, so aber dennoch offenlegt. Seine Hoffnung in die List der Vernunft, die sich hinter dem Rücken der Individuen von selbst einstellen soll, weist diese als gesellschaftlich präformierte und also nicht autonome aus. „Weil Freiheit die der realen einzelnen Individuen wäre, verschmäht er deren Schein, das Individuum, das inmitten der allgemeinen Unfreiheit sich geriert, als wäre es schon frei und allgemein.“44 Er verdeckt also nicht die Spannung, sondern zeigt den Knackpunkt auf, wenn auch mit der Forderung der Unterordnung unter das Allgemeine. Geht man mit dieser Figur über das bürgerliche Denken hinaus, so ließe sich hier eine Kritik der vermeintlich gegebenen Moral entwickeln, deren Internalisierung unter Absehung von sozialen Verhältnissen gefordert wird. So ließe sich auch die ‚schlechte Gleichmachung‘, die Forderung des Verzichts zur Stabilisierung der Gesellschaft kritisieren.45
41 42 43 44 45
Adorno/Horkheimer (2003 [1947]), 39. Ebd., 35. Adorno (2010 [1996]), 181 f. Adorno (2003a [1963]), 290. Vgl. ebd., 292.
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Dass das, wie bei Fine, als Rückgewinnung der Rechte – oder generell in der Grammatik des Rechts – verstanden werden kann, bezweifelt etwa Helmut Reichelt mit Blick auf hier aufgeworfene Problematiken: „Wenn erst die Individuen zu ihrem Recht kommen und nicht mehr unter ein – von ihnen selbst noch in dieser Form produziertes – Abstrakt-Allgemeines subsumiert sind, werden generelle Aussagen unmöglich.“46 Recht als solche abstrakte Vermittlungsform stellt dieser These zufolge also schon einen Index für den verdeckten Konflikt dar, birgt die Gewalt schon in sich. Als System und damit auch in seiner theoretischen Reflexion, so Reichelt, müsste es mit der Verwirklichung der Individualität verschwinden. So schreibt er weiter: „Mit der Aufhebung gesellschaftlicher Objektivität, der abstrakten Negation wirklicher Individualität, verschwindet auch der Gegenstand aller Theorie“47, was sich als Radikalisierung der Nichtidentitäts-These von Adorno verstehen ließe. Speziell wenn man das, was hier als ‚gesellschaftliche Objektivität‘ gefasst wird, in enger Verbindung mit dem Recht sieht, wird der Charakter des Rechts als Index der problematischen Vergesellschaftung sichtbar: Wird das Recht, und insbesondere das Privatrecht, wo sich gegensätzliche Willen im Vertrag verbinden, als Form eines überindividuellen Willens gefasst, erscheint Recht gar als Ausdruck eines allgemeinen Willens, wie es nicht zuletzt Rousseau und Hegel nahelegen, so können wir diesen allgemeinen Willen als eine Form der Einheit dieses gesellschaftlichen Konnexes sehen. Kritisch beleuchtet kann dieser allgemeine Wille allerdings als verdinglichte Form sozialer Objektivität, in den Worten Marx’ als „objektive Gedankenform“48, gefasst werden, die zwar in der Situation Gültigkeit haben mag, aber nur unter den gegebenen Umständen, in der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Konstitution.49 Die Kritische Theorie Adornos zielt nun genau darauf, solche ‚objektiven Gedankenformen‘ im Sinne von Naturalisierungen sozialer Beziehungen zu hinterfragen, positivistische Narrative zu dekonstruieren oder zu entschleiern. Wahre Individualität, so scheint Reichelt nahezulegen, entziehe sich jeder theoretischen Synthetisierung, jedem Versuch, den allgemeinen Willen theoretisch darzustellen, weshalb das Recht, das sich als solcher gibt, immer schon seine gewaltförmige Verteidigung des schlechten Status quo eingehegter Subjektivität transportiert, weil es sich als ‚objektive Gedankenform‘ für mehr ausgibt und seine soziale Produktion verdeckt.50
Reichelt (1973 [1970]), 40. Ebd. Marx (1965 [1867]), 90. Vgl. Meyer (2005), 266 ff. Wie treffend die These vom Ende der Theorie nach der Einsicht in die Gemachtheit und damit auch Veränderbarkeit der sozialen Verhältnisse und des ihnen korrespondierenden Rechts ist, ist fraglich; in der Analyse scheint Reichelt hier aber doch zur Verhältnisbestimmung von Gewalterfahrung, Nichtidentität und Recht beizutragen. 46 47 48 49 50
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2.
Zur Paradoxie der Rechte
Gegenüber dieser sehr negativen Vision der drei entwickelten Kritikpunkte am Recht muss aber auch eine Kehrseite gesehen werden, welche die „Paradoxie der Rechte“51 ausmacht; diese relativiert die Kritiken wiederum in gewissem Maße. Es wird gezeigt werden, dass mit Adorno und Horkheimer eine Selbstkritik des Rechts erkannt werden kann, die darin besteht, dass im Recht Normen angelegt sind, die aber durch es selbst nur schwer verwirklichbar sind – deren folglich fehlerhafte Verwirklichung tendenziell zu Gleichmachung und Beschneidung der Freiheit statt wirklicher Freiheit und Gleichheit führen. Um genau diese Tendenzen zu verhindern, bedarf es eines Rechts auf Kritik, das über den bloßen Schutzcharakter des Rechts hinausgeht. Schutz ist potentiell erpresserisch, da er oft durch Anpassung erkauft werden muss. Gerade dann, wenn autoritäre Bewegungen erstarken, ist es notwendig, darauf hinzuweisen; denn Schutz (zumindest für manche) verspricht im Zweifel auch die Herrschaft der Rackets, wie Horkheimer beschreibt.52 Ein funktionierendes, wie auch immer problematisches Recht, stellt darüber hinaus auch einen Reflexionsraum bereit, der Kritik ermöglicht, nicht zuletzt an sich selbst. Wurde oben gesagt, dass das Recht seinen Subjekten ein Gewissen schafft, durch Moralität Druck aufbaut, so ist aber auch festzuhalten, dass es moralische Reflexion ermöglicht. Das Recht eröffnet Möglichkeiten, sich selbst zu kritisieren und eben die Tendenzen von Verselbständigung und repressiver Gleichmachung anzugehen, indem es als gemachtes Recht und als nicht bloß gegebenes erkannt wird. Es mag zwar „Mittel der Herrschaft“ sein, „setzt sich ihr [aber auch] entgegen als Reflexion, an der sie sich entlarvt“53, wie Horkheimer schreibt. Er stellt also die These auf, dass hier durch die Selbstreflexion die Kluft zwischen Begriff und Gegenstand der Freiheit und Gleichheit deutlich werden kann, die letztlich auch zum Kampf um Gleichheit jenseits der bloßen Gleichheit der Rechte führen kann. Dieser Reflexionsraum, die „Resistenzkraft“54 des Rechts, wird von den autoritären Kritikern angegriffen. Daraus kann nicht gefolgert werden, dass aus Sicht der Kritischen Theorie zur Vermeidung von Schlimmerem auf eine Kritik des Rechts zu verzichten sei, sondern, vielmehr, dass diese Kritik nicht den ‚Feinden zu überlassen‘
Brown (2011 [2000]). Vgl. Horkheimer (1985a), 287 ff. Unter dem Begriff des Rackets fasst Horkheimer die seiner These nach in allen Gesellschaftsformen zu erkennende Herausbildung von Machtgruppen (Rackets) – bei Adorno etwa auch gefasst als Cliquen oder Banden (vgl. Adorno 1979b, 383) – die qua ihrer Stärke herrschen können. Basal ist hierbei das Versprechen von Schutz gegen die Einforderung von Gehorsam, die sich etwa im englischen Begriff des racketeering, der Schutzgelderpressung, ausdrückt (vgl. Horkheimer 1985a, 287 ff.). Jüngst ist ein neues Interesse an den fragmentarisch gebliebenen Überlegungen Horkheimers zum Racket als „Grundform der Herrschaft“ (ebd.) zu erkennen; siehe etwa Fuchshuber (2019) oder Lindemann (2021). 53 Horkheimer (1985a), 290. 54 Ebd., 289. 51 52
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sei. Mit Adorno wäre festzuhalten: „Kritik ist aller Demokratie wesentlich. Nicht nur verlangt Demokratie Freiheit zur Kritik und bedarf kritischer Impulse. Sie wird durch Kritik geradezu definiert.“55 Ein selbstkritisches Recht kann dazu beitragen und die Spielräume der Kritik erweitern; der Paradoxie, dabei immer wieder auch Probleme zu produzieren und nur in seinem Rahmen verhaftet zu bleiben, also Gleichheit immer nur in „Form der Rechte“56 verwirklichen zu können, kann es allerdings nicht entgehen. Darum muss es zugleich Instrument wie auch Adressat der Kritik sein. 3.
Zum Zusammenhang von Recht und Politik
Der Schwenk von der Rechtskritik zur Kritik als Wesensmoment der Demokratie kommt nicht von ungefähr, sieht Adorno doch in Momenten der Re-Politisierung von rechtlich Fixiertem ein Potenzial zur Transformation. Als Aufgabe der Gesellschaftstheorie macht er aus, aufzudecken, wo sich eine Gesellschaft geschlossen – als System – zeigt, aber auch, wie sie gerade Nicht-System und also willkürlich ist; sie soll zeigen wie sich „die Irrationalitäten der herrschenden Gesellschaft aus dem Wesen ihrer eigenen Rationalität heraus selber entwickelt.“57 Dieses Aufzeigen – hier kommen wir zurück zu den Eingangspassagen – geschieht entlang der Widersprüche, etwa mit Marx, der zeigt, dass in kapitalistischen Gesellschaften zwar Gleich um Gleich getauscht wird, dass dabei aber die Gleichheit Ungleichheit (re-)produziert; dass es hier also „mit rechten Dingen zugeht“ und gleichzeitig auch nicht. Recht, das Adorno in seiner berühmten Formulierung aus der Negativen Dialektik als „Urphänomen irrationaler Rationalität“58 beschreibt, bietet sich hier als Kristallisationspunkt an, an dem die dialektische Methode einsetzen kann. Für Adorno besteht jene darin, die Punkte zu reflektieren, die nicht in wissenschaftlicher Allgemeinheit aufgehen, die sich als Fakten präsentieren, ohne ihren irrationalen Ursprung auszuweisen, sich also wie das Recht als Tatsache gerieren, während es Adorno um die Darstellung seiner Genese ginge.59 Der idealistischen Dialektik Hegels kreidet Adorno nun an, das Überschreiten des Gegebenen nicht leisten zu können, sondern bei der Reflexion des Widerspruchs stehenzubleiben. Denn der Gedanke, daß die Vernunft darin beruhe, daß sie sich selbst in der Realität als einem Geistigen wiederfinde, setzt natürlich voraus noch das Pathos oder den Impuls, die
55 56 57 58 59
Adorno (1997 [1969]), 785. Menke (2015), 7. Adorno (2008), 126. Adorno (2003b [1966]), 303. Vgl. Adorno (2003a [1963]), 342.
Das Recht der Selbstaufhebung
Realität selber durch Praxis, das heißt durch die politische Einrichtung der Welt aus Vernunft heraus zu gestalten.60
Das Potenzial schwindet also, wenn die Welt nur als vernünftige begriffen wird, nicht als erst noch vernünftig einzurichtende, wenn also der Bezug auf die Praxis fehlt; oder in anderen Worten: wenn Versöhnung vorausgesetzt und nicht gefordert wird. Möglichkeiten der Praxis sind bei Adorno und Horkheimer meist sehr vage bestimmt, allerdings finden sich wie die obige Referenz zur Demokratie weitere allgemeinere Ausführungen zum Verhältnis von Recht und Politik bzw. zu beiden als vermeintlichem ideologischen Überbau und ihrer Referenz zur ‚Basis‘. So beschreibt Adorno etwa, dass die Sphären von Recht, Regierung und politischen Institutionen zwar eher „Epiphänomene“ seien, die „über dem realen gesellschaftlichen Prozeß, der sie trägt“61, stünden. Träten die Institutionen den Subjekten tatsächlich entgegen, so sei das „Kräftespiel“ dahinter nur durch Denken und Abstraktion zu erkennen. Andererseits sieht Adorno in der Sphäre der Politik auch eine reale Macht, beschreibt sie gar als Sphäre der „Ergreifung von Macht, in der unter Umständen dann auch über die gesamten tragenden, vor allem ökonomischen Lebensverhältnisse entschieden werden kann“62, also zumindest potentiell doch als weit mehr denn nur der Schleier über den realen Verhältnissen. Oder in anderen Worten: „Also die Politik ist, exakt gesprochen, die Gestalt der Ideologie, die ihrerseits den Unterbau ergreifen und den Unterbau tendenziell verändern kann.“63 Die Brücke zum Recht schlägt hier wieder die oben schon angeführte These Brunkhorsts, wonach Adorno Kant und seiner Rechtsphilosophie nahestehe und zwar mit Blick auf die Universalität aber Nicht-Identität im Recht, die Brunkhorst in der Metaphysik der Sitten ausmacht. Die Einlösung des Versprechens unversehrter Nicht-Identität könne das Recht durch die demokratische (deliberative) Selbstgesetzgebung einlösen bzw. negativ „in the negative sense of doing injustice to nobody.“64 Das „counter memory“65 der Volkssouveränität, das Brunkhorst im von ihm so bezeichneten Kantian Mindset beschreibt, fungiere als normative Schranke kapitalistischer Gesellschaften, hege also die Kräfteverhältnisse zumindest in gewisser Weise ein. Schon hier zeigt sich eine Differenz im Messen der Realität an der Norm, die nicht als konservatives Moment der Prüfung an vermeintlich gegebenen Idealen verstanden werden kann. Und es wäre sicher eine Fehlinterpretation, eine umfängliche Kritik an den Ideen der Freiheit und Gerechtigkeit mit der Kritik des Rechts in eins zu setzen. Dagegen kommt es
60 61 62 63 64 65
Adorno (1979a [1973]), 130. Adorno (2008), 66 f. Ebd., 67. Ebd. Brunkhorst (2020), 533. Ebd., 535.
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Adorno und Horkheimer in ihrer materialistischen Kritik nicht darauf an, die Normen insgesamt zurückzuweisen, sondern vielmehr die Verzerrungen aufzudecken und zu zeigen, inwiefern das Recht bzw. die Rechte in ihrer gegebenen Form deren Verwirklichung geradezu im Weg stehen können.66 Dies wiederum widerspricht in gewissem Maß der dargelegten These von Brunkhorst, dass schon in der Form des Rechts eine Art negativer Dialektik angelegt sei, aber mit Blick auf die Rationalitätskritik der Kritischen Theorie kann die These des normativen Überschusses noch in einer weiteren Dimension beschrieben werden. 4.
Normativer Überschuss: aber wie?
Der Rückbezug auf alte Werte zur Kritik des Bestehenden klingt zunächst eher konservativ oder zumindest idealistisch im Sinne des Abwägens von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, ‚Idee‘ und ‚realer Praxis‘. Bei Adorno und Horkheimer findet sich in ihrer Diskussion von Normen einerseits und Vernunft andererseits allerdings eine materialistischere Variante dieser bekannten Spannung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘. In seiner Arbeit zur „instrumentellen Vernunft“67 und anderen, v. a. frühen Texten beschreibt Horkheimer dabei eine zunehmende Aufspaltung von zwei Dimensionen der Vernunft: Einerseits die subjektive Vernunft als die Fähigkeit der Einzelnen, Probleme zu lösen und ihr Eigeninteresse zu verfolgen; andererseits der objektive Gegenpart, der das individuelle Interesse transzendiert und somit über utilitaristisches Denken hinausgeht – diese objektive Vernunft sieht Horkheimer in seiner Zeit jedoch schwinden. Während sich die subjektive Vernunft vorrangig auf die Mittel richtet, wendet sich die objektive den Zwecken zu. Große Systeme objektiver Vernunft, wie etwa religiöse Doktrinen, haben ihre Macht im Zuge der Aufklärung zunehmend eingebüßt, wenn sie auch zunächst nicht ganz verschwanden, sondern etwa durch die idealistischen Systeme ersetzt wurden.68 Wenn auch Adorno und Horkheimer prinzipiell die Entmachtung und Auflösung solcher Glaubenssysteme begrüßen, so sehen sie doch auch, dass deren scheinbarer Niedergang verschiedene Problematiken mit sich bringt. Zum einen weisen sie darauf hin, dass die starre Dichotomisierung der beiden Spielarten von Vernunft und dabei die Abwertung der objektiven Seite dazu führt, dass Vernunft rein instrumentell, also zum bloßen Mittel zur Erreichung von willkürlichen Interessen zu werden droht. An die Stelle der Möglichkeit einer Kritik der Ziele individuellen Handelns werden die subjektiven Ansprüche nur vermittelt und moderiert – solange sie den formalen Kriterien genügen, werden sie als legitim gewertet. Derlei Prozesse kann man besonders in der Form mo66 67 68
Vgl. McCarthy (1993), 145. Horkheimer (2008b [1947]). Vgl. ebd., 27 f.
Das Recht der Selbstaufhebung
derner subjektiver Rechte beobachten, die ihre Träger:innen ermächtigen, willkürlich zu handeln, solange sie dabei nicht die Rechte anderer berühren – so ist es Eigentümer:innen etwa freigestellt, Häuser verfallen zu lassen, statt Menschen darin wohnen zu lassen. Christoph Menke schreibt dazu, dass durch die Suspension der normativen Kontrolle über private Willkür, die in den subjektiven Rechten angelegt ist, gleichzeitig auch Herrschaftsverhältnisse und Strukturen sozialer Dominanz der Kritik entzogen werden.69 Darin besteht das zweite Problem: Die Zurückweisung jedes Gedankens von objektiver Vernunft lässt uns, Adorno und Horkheimer zufolge, mit dem bloß Bestehenden zurück und ohne Instrument, dieses Bestehende herauszufordern. Was als vernünftig gilt, wird radikal individualisiert und kann nur noch an Ideen der Selbsterhaltung oder dem partikularen Interesse gemessen werden. Wenn es keine Vorstellung übergreifender Rationalität gibt, können nur die formell vermittelten Partikularinteressen als Kriterium der Legitimität herhalten. Das Nachdenken über die ‚gute‘ Gestaltung der Gesellschaft – oder zumindest die Kritik der schlechten – wird dann als unwissenschaftlich und nicht mit den bereitstehenden Mitteln messbar aus dem wissenschaftlichen Diskurs verdrängt. Drittens gelangt die subjektive Vernunft, die sich als autonome ausweist, an ihre Grenze. Besonders relevant ist hierbei, wie Adorno beschreibt, dass die subjektive Vernunft gerade durch ihre Betonung der Autonomie immer weiter in Abhängigkeit von den objektiven Begebenheiten gerät. Indem ihre „souveräne“ Freiheit hervorgehoben wird, während die Subjekte doch längst noch abhängig von den sozialen Strukturen sind, werden die Verhältnisse, in die sie verwoben sind, eher verschleiert.70 Herrschaft wird dabei weniger sichtbar; man mag hierbei wiederum an rechtliche Probleme denken, wenn etwa der Bauer oder die Bäuerin von der direkten Kontrolle des Lehensherrn befreit wird, nur um als ‚doppelt freie:r‘ Lohnarbeiter:in in neuen Abhängigkeitsverhältnissen zu landen, denen man immerhin vermeintlich autonom im Arbeitsvertrag zugestimmt hat.71 In breiterer Perspektive betrachtet sehen Adorno und Horkheimer hier eine Form objektiver Vernunft durch die Hintertür zurückkommen: Während die individuellen Akteure scheinbar u. a. durch subjektive Rechte ermächtigt werden, bestätigen und verschärfen sie sogar noch bestehende Formen der Beherrschung, da sie nur ihr Eigeninteresse verfolgen, ohne die (schlechte) Objektivität zu transzendieren oder wenigstens zu reflektieren. Statt der von Hegel affirmierten ‚List der Vernunft‘, wonach die Vernunft sich hinter dem Rücken seiner Subjekte von selbst einstellt, ließe sich mit Adorno und Horkheimer vor einer unreflektierten objektiven Vernunft warnen, die hinter dem Rücken der Subjekte – oder genauer: durch sie und ihre vermeintlich autonome Vernunft hindurch – effektiv wird. Die Besonderheit der Kritik in der Spannung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, wie sie in der frühen Kritischen Theorie zu finden ist, lässt sich aus diesem Komplex von Vernunft 69 70 71
Vgl. Menke (2009), 4. Vgl. Adorno (2006 [2001]), 37 ff. Vgl. Marx (1965 [1867]), 183.
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herauslesen. Die „Resistenzkraft“ des Rechts, wie oben beschrieben, besteht darin, dass „[d]as Mittel der Herrschaft […] sich ihr entgegen [setzt] als die Reflexion, an der sie sich entlarvt.“72 Horkheimer sagt damit also, dass Recht ein Mittel der Herrschaft ist, jedoch nicht der direkten Herrschaft: Es bringt gleichzeitig – zumindest solange es ein mehr oder weniger funktionierendes Recht ist – einen Raum der Reflexion hervor. Und dabei kommen die Normen zurück ins Spiel. Ist Herrschaft durch Recht vermittelt, kann sie an ihren zugrundegelegten Prinzipien und Normen gemessen werden, etwa bei der Fähigkeit, Gleichheit und Freiheit zu gewährleisten. Das muss noch nicht viel heißen, denkt man etwa an die Figur des Michael Kohlhaas, der so versteift darauf ist, sein Recht und die Norm darin erfüllt zu sehen, dass er mit der Fetischisierung des Rechts zugrunde geht.73 Oder basaler in Rückgriff auf die bisherige Kritik: Die auf ihre Selbsterhaltung und ihr Partikularinteresse zurückgeworfenen Subjekte scheitern an der Reflexion des sich hier auftuenden Risses zwischen Norm und Realität, Begriff und Sache. Dennoch führt Horkheimer mit Blick auf das Überschreiten der Einseitigkeit von Vernunft (subjektiver oder objektiver) gerade ein Beispiel aus dem Bereich des Rechts an, nämlich den Prozess des Sokrates. Ist die rein subjektive Vernunft kaum mehr als eine Illusion der Autonomie, so würde wirkliche Autonomie für Horkheimer darin bestehen, subjektive Vernunft mit einer Reflexion der objektiven Gegebenheiten zusammenzubringen, mit den objektiven Normen also und den Institutionen, in denen sie geronnen sind. Für Sokrates nimmt der Prozess offenkundig kein gutes Ende; worauf Horkheimer aber abzielt: die Versöhnung von subjektiver und objektiver Vernunft, von Subjekt und Objekt, ist nichts, was nur in Gedanken oder in der Theorie zu vollziehen wäre, sondern ist eine Sache der Praxis. Recht kann den Raum für die Reflexion öffnen und auf seine eigenen Schwachpunkte, wie auch jene der Gesellschaft, in der es existiert, hindeuten. Dies wäre die notwendige Vorbedingung für eine Veränderung, die dann wiederum zu realer Versöhnung führen könnte. Ein glücklicheres Ende für Sokrates könnte erst herauskommen, wenn die Vorbedingungen zur Versöhnung geschaffen würden. Horkheimer plädiert: Erst wenn die Beziehung von Mensch zu Mensch und damit auch die von Mensch zu Natur anders gestaltet ist als in der Periode der Herrschaft und Vereinzelung, wird die Spaltung von subjektiver und objektiver Vernunft in einer Einheit aufgehen. Dazu aber bedarf es der Arbeit am gesellschaftlichen Ganzen, der geschichtlichen Aktivität. Die Herstellung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem der eine dem anderen nicht zum Mittel wird, ist zugleich die Erfüllung des Begriffs der Vernunft, der in der Spaltung von objektiver Wahrheit und funktionellem Denken jetzt verloren zu gehen droht.74
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Horkheimer (1985a), 290. Vgl. dazu auch Loick (2014). Horkheimer (1985b [1952]), 34 f.
Das Recht der Selbstaufhebung
Mit dieser materialistischen Wendung der ‚normativen Kritik‘ ist sicherlich noch kein explizites Programm einer Rechtskritik formuliert, allerdings eine Trennlinie zwischen den verschiedenen Modi der Rechtskritik sichtbar. Nimmt man auf der einen Seite die regressiven Kritiken, die darauf abzielen, den Reflexionsraum zu schließen und die Momente der Herrschaft noch auszubauen, indem sie doppelt entpolitisiert werden, also aus dem politischen Bereich und dem der geronnenen Politik verdrängt werden, und auf der anderen Seite diejenigen, die Verhältnisse repolitisieren wollen, so zeigt sich, dass das Recht für letztere eine doppelte Rolle spielen kann, die oben benannt wurde als jene des Instruments und jene des Adressaten der Kritik. Beides, so sollte gezeigt werden, muss zusammengehen. Literaturverzeichnis
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Otto Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität (1932) als Ausgangspunkt einer Kritischen Theorie des Rechts*
ANTONIA PAULUS
Otto Kirchheimer’s Essay Legality and Legitimacy (1932) and its Relevance for a Critical Theory of Law Abstract: The article deals with Otto Kirchheimer as a theorist of critical legal theory. It traces how he
combines an analysis of constitutional change, a sociological diagnosis of his time and a critique of jurisprudence to form a critical theory of law. The reasoning is based on Kirchheimer’s essay Legality and Legitimacy from 1932, in which he describes the dissolution of the rule of law into a material concept of legitimacy and places this analysis in the context of social power relations of the late Weimar Republic. Keywords: Critical Theory, Sociology of Law, Constitutional Change, Weimar Republic, Rule of Law, Legitimacy, Otto Kirchheimer Schlagworte: Kritische Theorie, Rechtssoziologie, Verfassungswandel, Weimarer Republik, Rechtsstaatlichkeit, Legitimität, Otto Kirchheimer
Otto Kirchheimer gehörte zu den Juristen im Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Von Zeit zu Zeit wird er als innovativer Denker und „Grenzgänger gelebter Interdisziplinarität“1 wiederentdeckt, nicht aber systematisch rezipiert. Seine Texte gehören weder dem anerkannten Kanon Kritischer Theorie,2 noch dem der
Ich danke Kaie Lemken und Christoph Panzer für die klugen Hinweise und die notwendige Ermunterung im rechten Moment. 1 Kilian (2015), 101. 2 Seine Wahrnehmung beschränkt sich hier meist auf seine Gegenposition zu Horkheimer und Pollock in der Auseinandersetzung um die ‚Staatskapitalismusthese‘ (vgl. Brunkhorst (2019), 643–646) und Habermas’ Rezeption seiner ‚Verrechtlichungsthese‘ (vgl. Loick (2019), 864 und Teubner (1993), 515–517). *
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deutschen Rechtswissenschaft an. Er hat den Status eines „unknown known“3, dessen Namen man zwar kennt, dessen Arbeiten jedoch nur selten rezipiert werden. Ich möchte in diesem Beitrag zunächst der Frage nachgehen, woraus sich dieser Status des „allseitig zitierfähige[n], aber ungelesene[n] Klassiker[s]“4 ergibt, um sodann zu untersuchen, inwiefern man in ihm dennoch einen Theoretiker Kritischer (Rechts-) Theorie5 sehen kann. Bei der Beantwortung dieser Frage stütze ich mich insbesondere auf Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität aus dem Jahr 1932. Als Zugang zu seinem Denken eignet sich dieser Text deswegen besonders gut, weil er zu einem Zeitpunkt geschrieben ist, da Kirchheimer noch in enger Auseinandersetzung und in Reaktion auf die deutsche Staatswissenschaft arbeitet, seine gesellschaftstheoretischen Überlegungen jedoch schon über diesen Bezugsrahmen hinausweisen. Das exemplarische Vorgehen anhand eines einzelnen Textes ergibt sich aus der Methode Kirchheimers, der anlassbezogen und in enger Auseinandersetzung mit tagespolitischen Ereignissen arbeitete. Die Spezifika dieser Methode möchte ich aufzeigen, indem ich verschiedene Lesarten des Textes vorschlage: Man kann ihn meines Erachtens als einen Beitrag zu verfassungsrechtlicher Begriffsarbeit lesen, als eine soziologische Zeitdiagnose und als eine Perspektive Kritischer Theorie auf Recht. Ob es sich bei seinem Zugang um einen aktualisierungsfähigen Ansatz handelt, werde ich im Anschluss erörtern. 1.
Der Grenzgänger Otto Kirchheimer
Die mangelnde Rezeption Kirchheimers in der heutigen Rechts- und Sozialwissenschaft ergibt sich aus seinem Status als Grenzgänger zwischen Ländern, Institutionen und Disziplinen. Dieser Status ist nur teilweise selbstgewählt, wie sich aus seiner Biografie ergibt. Kirchheimer wurde 1905 in Heilbronn geboren, er studierte Staats- und Rechtswissenschaft und war schon früh als bekennender Sozialist bei der SPD und dem sozialistischen Studentenverband engagiert. 1927 promovierte er sich bei Carl Schmitt mit einer Arbeit „Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus“.6 Zu dessen Schülerkreis hatte er aufgrund einer persönlichen Empfehlung durch Rudolf
Vgl. Marsch et al. (2019), die diese Kategorie für eine Rezeptionswissenschaft des öffentlichen Rechts vorschlagen. 4 Schale (2011), 141. 5 Die Schreibweise ‚Kritische Theorie‘ verweist auf die Einordnung Kirchheimers in die Tradition der Frankfurter Schule und grenzt diese von anderen ‚kritischen Theorien‘ des Rechts ab, für ein weiteres Begriffsverständnis vgl. etwa Buckel et al. (2008), 236, 238. 6 Kirchheimer (2017a [1928]); für eine Einordnung der Schrift in sein späteres Werk vgl. Mehring (2011) und Buchstein/Kingsporn (2017). 3
Otto Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität (1932)
Smend Zugang erhalten.7 Nach seiner Referendariatszeit kehrte er 1931 nach Berlin zurück, wo er als Dozent und Anwalt tätig war und wieder an einem Seminar Carl Schmitts zum Thema ‚Staatstheorien der Gegenwart‘ teilnahm. Im Rahmen des Seminars wurde über die Begriffe ‚Legalität‘ und ‚Illegalität‘ diskutiert, woraus der hier besprochene Aufsatz Legalität und Legitimität entstand, den Kirchheimer im Juni 1932 veröffentlichte. Nur kurze Zeit später erschien die gleichnamige Abhandlung Carl Schmitts, auf die Kirchheimer zusammen mit Nathan Leites in einer Replik reagierte.8 Diese schriftlich ausgefochtene Kontroverse führte zur Entfremdung zwischen Kirchheimer und Schmitt. Die Beziehung der beiden war schon immer von ihren politischen Differenzen geprägt, in den Monaten um die Veröffentlichung der drei Aufsätze lässt sich dann aber ein endgültiger Bruch auf fachlicher und persönlicher Ebene feststellen.9 Die Monate nach dem Erscheinen von Legalität und Legitimität sind bei Kirchheimer geprägt durch eine rege Veröffentlichungstätigkeit. Seine Beiträge lassen sich als ein Versuch lesen, der Destruktion des Verfassungsstaats entgegenzuwirken und in der Analyse von Ereignissen wie dem Staatsstreich in Preußen10 an rechtlichen Konzepten festzuhalten, auch wenn diese beständig an Bedeutung verloren. Nach dem Berufsverbot und einer Verhaftung wegen des „Verdachts politischer Umtriebe“ im Mai 1933 flüchtete Kirchheimer nach Frankreich.11 In Paris schloss er sich dem Kreis der Migrierten um das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) an, dem er auch nach der Übersiedlung in die USA 1937 weiterhin angehörte.12 Ab 1943 war er, wie auch einige andere Angehörige des IfS, für das Office für Strategic Services tätig, für das er Analysen des NS-Staats erstellte und an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse und Entnazifizierungsprogramme mitwirkte.13 Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er in den USA, wo er an politikwissenschaftlichen Fakultäten tätig war und 1961 mit Politische Justiz sein Hauptwerk veröffentlichte.14 Zuletzt hatte er eine Professur für Politikwissenschaft an der Columbia University inne, ehe er 1965 an einem Herzinfarkt verstarb.15 Schon aus diesem kurzen Abriss seines Lebenslaufs lässt sich erahnen, warum die Rezeption Kirchheimers in der deutschen Rechts- und Sozialwissenschaft sporadisch
Vgl. Buchstein (2017), Bd.1: 21–23. Vgl. Kirchheimer/Leithes (2017 [1933]). Vgl. Buchstein (2017), Bd.1: 80, 93 zum Wandel in Schmitts Tagebuchaufzeichnungen, in denen sich die Bewertung Kirchheimers von „ganz nett“ hin zu „Scheußlich, dieser Jude“ wandelt. Zum Kontakt der beiden nach 1945 vgl. Kilian (2015), 105 f. 10 Vgl. Kirchheimer (2017d [1932]). 11 Vgl. Buchstein (2017), Bd.1: 108–110. 12 Zu Kirchheimers Tätigkeit für das IfS und den wissenschaftlichen Unstimmigkeiten zwischen ihm und den übrigen Mitgliedern s. Buchstein (2019), 222–232. 13 Zu Kirchheimers Analysen für den OSS vgl. Laudani (2013). 14 Vgl. Arzt (1993), 36 f., 41–51 zu seiner Tätigkeit für den OSS und den nach 1945 in den USA verfassten Schriften; Buchstein/Kingsporn (2017), 293–303 zum Einfluss der Weimarer Erfahrung auf seine spätere Forschung. 15 Für einen sehr persönlichen, mit einer Werkübersicht verbundenen Lebenslauf vgl. Herz (1989). 7 8 9
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blieb. Institutionell bewegte er sich zwischen dem deutschen öffentlichen Recht, dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und der US-amerikanischen Politikwissenschaft. Nach 1945 kehrte er nicht nach Deutschland zurück und obwohl er den akademischen Kontakt nicht abreißen ließ, erschwerte seine Migration die ohnehin schwierige Rezeptionslage wohl noch.16 Inhaltlich betrieb er eine „transdisziplinäre Staats- und Gesellschaftswissenschaft“.17 Er bewegte sich also als Grenzgänger zwischen Ländern, Disziplinen und politischen Systemen, weswegen seine Rezeption für die Einzeldisziplinen teilweise zu voraussetzungsvoll ist. Durch ein close reading von Legalität und Legitimität soll nun ein Versuch unternommen werden, sich seine besondere Perspektive auf Recht zu erschließen. 2.
Ein Beitrag zu verfassungsrechtlicher Begriffsarbeit
Kirchheimer verfasste seinen Aufsatz kurz vor dem Ende des zweiten Kabinetts Brüning. Er fällt damit in die Phase seiner in der Weimarer Republik verfassten Schriften18 und kann als Bilanz des verfassungsrechtlichen Wandels während der Jahre der gemäßigten Präsidialkabinette von 1929 bis 1932 gelesen werden. Im Zentrum steht der Bedeutungswandel, den der verfassungsrechtliche Grundbegriff der Legalität in dieser Zeit erfahren hat. Kircheimer bilanziert, dass durch die breite Anwendung des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), der den Reichspräsidenten ermächtigt im Notzustand gesetzesvertretende Notverordnungen zu erlassen, Rechtsverordnungen nicht mehr am Maßstab von Gesetzen gemessen werden können.19 Das Prinzip der Legalität, also die Notwendigkeit der Übereinstimmung von Regierungs- und Verwaltungsakten mit den Gesetzen, werde seiner Grundlage beraubt. Die Rechtsordnung könne ihre Legitimität daher nicht mehr aus ihrer Legalität speisen, weswegen ein neuer Legitimitätsbegriff an Bedeutung gewinne.20 Das Vordringen dieses neuen Legitimitätsbegriffs zeigt der Autor an Veränderungen im Arbeitsrecht, im Verhältnis von Reich
Vgl. Brachthäuser (2021), 290 zu Kirchheimers Bruch mit seinem akademischen Stammbaum als Rezeptionshindernis und Herz (1989), 21 zu einem Ruf nach Freiburg im Breisgau, den Kirchheimer wegen seines frühen Todes nicht angenommen hat. 17 Van Ooyen/Schale (2011), 13. 18 Zur Einordnung in die verschiedenen Werkphasen vgl. Herz/Hula (1969), xi f. 19 Der vollständige Normtext von Art. 48 Abs. 2 der Verfassung des deutschen Reichs v. 11.8.1919, RGBl. 1919, 1393 lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ 20 Vgl. Kirchheimer (2017c [1932]), 380 f. 16
Otto Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität (1932)
und Ländern und am Parteienrecht auf. Ich möchte im Folgenden die von den dreien am ausführlichsten ausgefallene Analyse zum Parteienrecht aufgreifen. Bisher sei die Legalität der Parteien nach den allgemeinen Gesetzen, insbesondere nach den damaligen Strafnormen § 128 Strafgesetzbuch (StGB) zu ‚Geheimbündelei‘ und § 129 StGB zur ‚Bildung einer staatsfeindlichen Vereinigung‘ bewertet worden. Maßstab der Legalitätsbewertung sei dabei die Legalität der Mittel gewesen, die die Parteien zur Verfolgung ihrer politischen Ziele einsetzten. Strafrechtliche Maßnahmen hätten sich jedoch nur auf einzelne, in der Regel außerparlamentarische Handlungen der Parteien bezogen. Der Organisationskern, die parlamentarische Vertretung der Parteien, sei jedoch unangetastet geblieben und nicht in seiner Gesamtheit Gegenstand einer straf- oder ordnungsrechtlichen Bewertung geworden.21 Kirchheimer beobachtet nun die Etablierung eines neuen Rechtsbegriffs, den der Revolutionären Parteien. Diese stellen, anders als regierungsfähige Parteien, die „nationale Lebensordnung“ in Frage.22 Diese nationale Lebensordnung definiere sich im Wesentlichen über Ehe, Privateigentum und Religion.23 Parteien, die den Fortbestand dieser drei Elemente angreifen, würden die Kontinuität des Volkes selbst und damit die Basis der Verfassung in Frage stellen. Exemplarisch zeige sich an diesem Rechtsbegriff eine Verschiebung der Legalitätsbewertung der Mittel auf eine Bewertung der Legitimität der verfolgten Ziele. Dieses neue Legalitätsverständnis nehme Eingang in die Rechtsanwendung der Verwaltungsbehörden, die bei der Anwendung polizeilicher Ordnungsbegriffe, bei der Bewertung von Versammlungen oder der Öffentlichkeitsarbeit von Parteien Ungleichbehandlungen aufgrund der verschiedenen Zielsetzungen der Parteien vornehmen. Sie würden dabei von den Gerichten kaum korrigiert, die aufgrund der Notverordnungspraxis in vielen Fällen keinen anderen gesetzlichen Beurteilungsmaßstab hätten als den sehr unbestimmten der Verfassung.24 Die Frage nach der Legalität des Handelns wird zunehmend mit der Legitimität der verfolgten Ziele in eins gesetzt. Kirchheimer konstatiert daher einen „Strukturwandel des Legalitätsbegriffs“25, der durch die Passivität des Gesetzgebers verursacht wurde. Einen „ständigen Charakter“26 habe dieser Wandel schließlich angenommen, weil Gerichte, Behörden und Rechtswissenschaft diese Praxis nicht in Frage gestellt hätten. Nach dieser ersten Lesart handelt es sich bei dem Aufsatz um die Darstellung eines verfassungsrechtlichen Begriffswandels, den Kirchheimer in Auseinandersetzung mit Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen der voran-
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Ebd., 385. Ebd., 387. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 381. Ebd. Ebd.
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gegangenen Jahre nachweist. Seine Analyse beschränkt sich jedoch nicht auf die verfassungsrechtliche Ebene, sondern durchbricht den Anschein einer in einem politischen Vakuum existierenden Verfassung. 3.
Eine rechtssoziologische Zeitdiagnose
Kirchheimer geht in seinem Text, angelehnt an Max Weber, von einer Rationalisierungsthese27 aus: Durch rechtsförmige, rationalisierte Verfahren erfährt das soziale System seine Legitimation.28 Im Begriffswandel der Legalität sieht er vor diesem Hintergrund Anzeichen für eine Regression: Die gesetzgebende und die regierende Gewalt sind nicht länger getrennt. Hierdurch schwindet die Chance des politischen Gegners auf Gleichbehandlung. Heute würden wir diese formale Gleichheitschance als die Möglichkeit der Minderheit, Mehrheit zu werden, bezeichnen.29 Von diesem Befund ausgehend untersucht Kirchheimer, wie sich gesellschaftliche Machtverhältnisse ändern: Welche gesellschaftlichen Gruppen profitieren, wer kann seine Befugnisse ausbauen und wie erfolgt jeweils die Rechtfertigung dieser Verschiebungen? Ich möchte einige der von ihm gemachten Beobachtungen aufgreifen: Die formelle Legitimation des Handelns der Reichsregierung wird mangels Gesetzesgrundlage immer prekärer. In der Amtsautorität des Reichspräsidenten sucht sie daher eine neue Legitimationsinstanz. An die Stelle der Legitimität durch Legalität tritt daher ein materielles Legitimationsverständnis, zusammengesetzt aus der Verpflichtung des Volksganzen gegenüber der Autorität von Regierung und Reichspräsident und der Legitimität der verfolgten Zwecke. Eigentlicher Gewinner der Ohnmacht des Gesetzgebungsstaats ist jedoch das Berufsbeamtentum, das sich zum neutralen und von Klasseninteressen anscheinend „unabhängigen Repräsentanten der nationalen Ordnung“30 inszeniert und mit Hilfe dieser vermeintlichen Neutralität das Parlament als Vermittlungsinstanz ablöst. Kirchheimer fasst hierunter auch die Justiz, die er als „richterliche Bürokratie“ bezeichnet.31 Sie versäumt es, über die durchaus justiziablen Grenzen des Art. 48 WRV zu wachen. Der Autor stellt fest, dass die Gerichte die mangelnde Bestimmtheit sowie das Fehlen inhaltlicher und zeitlicher Grenzen bei der Übertragung von Kompetenzen auf die Verwaltung nicht bemängeln, wodurch der Charakter der Spezialermächtigung zunehmend verloren geht. So bleiben als Maßstab der Rechtmäßigkeitskontrolle nur sehr unbestimmte Rechtsbegriffe mit weitem Auslegungsspielraum.32
27 28 29 30 31 32
Vgl. Weber (1925), Bd. 2: 648. Ebd., 376. Vgl. BVerfGE 5, 85, 198 f. (KPD-Verbot); Vosskuhle (2021), 37. Kirchheimer (2017c [1932]), 377. Ebd., 379. Vgl. ebd., 380, 390.
Otto Kirchheimers Aufsatz Legalität und Legitimität (1932)
In dieser Situation sieht Kirchheimer aber nur ein Zwischenstadium. Die soziale Basis des Berufsbeamtentums sei zu schwach, um dauerhaft die im Konflikt befindlichen Wirtschaftsgruppen zu einen. Es bedürfe daher der Unterstützung konservativer gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere des Militärs, der Großagrarier und des Unternehmertums. Die Beamtenschaft entspreche daher deren restaurativen Interessen an der Rückkehr zu den vorrevolutionären Verhältnissen. So werde der Liberalismus als „praktisches Ordnungsprinzip für ein klassengespaltenes Land“ aufgegeben.33 Stattdessen steuere man auf eine „Gesellschaftsordnung [zu], die ihre Legitimität nicht aus sich heraus bauen kann, sondern mit dem erborgten Glanz einer idealisierten Vergangenheit bestreiten muss [und daher] schon vor ihrer Vollendung zum Scheitern verurteilt [ist]“.34 Kirchheimer beschreibt also, wie eine veränderte Verfassungspraxis eine Verschiebung der Rolle staatlicher Akteure in sozialen Konflikten zur Folge hat. In einem ersten Schritt stellt er dar, wie die verändernde Gesetzgebungs- und Verordnungspraxis das Machtgefüge staatlicher Institutionen verändert. In einem zweiten Schritt zeigt er auf, welche gesellschaftlichen Gruppen von diesen Veränderungen profitieren. Diese Überlegungen werden vor allem dadurch interessant, dass er sie mit der Frage verbindet, welche gesamtgesellschaftlichen Narrative diese Veränderungen legitimieren sollen. Ihm entgeht dabei nicht, dass sich eine allein rückwärtsgewandt-restaurative Gesellschaftserzählung auf Dauer wohl nicht durchsetzen wird. Dies lässt sich als hoffnungsvolle Anspielung auf eine bevorstehende sozialistische Revolution lesen oder als einsichtsvolle Randbemerkung zur Notwendigkeit eines Bündnisses von konservativen und nationalsozialistischen Kräften.35 Der Bogen, den Kirchheimer hier spannt, reicht von der Verfassungsanalyse zur soziologischen Zeitdiagnose und macht deutlich, dass Verfassungs- und Gesellschaftsordnung zwar zweierlei sind, nicht jedoch getrennt voneinander verstanden werden können. 4.
Ein Zeugnis Kritischer (Rechts-)Theorie
Der Aufsatz kann also sowohl als Beitrag zu einer verfassungsrechtlichen Debatte, als auch als rechtssoziologische Zeitdiagnose verstanden werden. Warum lese ich ihn darüber hinaus als relevantes Zeugnis Kritischer Theorie? Das Gegenteil zu behaupten, wäre wohl auf den ersten Blick einfacher. Otto Kirchheimer hat nie an einem systematischen Theoriegebäude gearbeitet, seine Arbeiten Ebd., 389. Ebd., 395. Für eine hoffnungsvolle Lesart sprechen etwa Kirchheimer (2017b [1930]), 249; Kirchheimer (2018 [1935]), 181. 33 34 35
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entstanden induktiv aus seinen Beobachtungen gesellschaftlicher und rechtlicher Veränderungen. Dies ist in den Arbeiten bis zu seiner Emigration 1933 besonders augenfällig, die fast ausnahmslos aus dem Anlass konkreter politischer Ereignisse entstanden, die ihn besorgten und zum Schreiben drängten.36 Die Kritische Theorie kann zunächst als konkreter personeller Zusammenhang derjenigen verstanden werden, die am Frankfurter Institut für Sozialforschung arbeiteten. Zum Zeitpunkt der Entstehung des hier zur Diskussion stehenden Artikels hatte sich Kirchheimer jedoch noch nicht dem Kreis um das IfS angeschlossen. Erst in der Migration schloss er sich der Gruppe an und dieser personelle Konnex hielt auch nur bis 1943 an.37 Legalität und Legitimität ist noch fest verankert im Diskurs der deutschen Staatsrechtslehrer, wie sich auch aus den von ihm gesetzten Fußnoten ersehen lässt, in denen er primär Verfassungsrechtler rezipiert. Neben der personellen Zuordnung lässt sich Kritische Theorie aber auch durch thematische und methodische Merkmale beschreiben. Eine solche Beschreibung ist dahingehend problematisch, dass eine nachträgliche Systematisierung notwendigerweise zu Vereinfachungen und Ausschlüssen führt.38 Sie widerspricht auch der in erster Linie negativen Selbstbeschreibung der Kritischen Theorie, die sich zum Beispiel in der Äußerung Horkheimers widerspiegelt, sie habe „keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. […] In einer geschichtlichen Periode wie dieser ist die wahre Theorie nicht so sehr affirmativ als kritisch, wie auch das ihr gemäße Handeln nicht ‚produktiv‘ sein kann“.39 Ich bemühe mich dennoch um ein Verständnis von Kritischer Theorie, das über einen Kanon klassischer Texte hinausgeht. Gemeinsam ist ihr eine Perspektive des Denkens, die sich ihres Beitrags zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung bewusst wird und deren Ziel eine Analyse dieses Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft ist.40 Nach diesem Verständnis zeichnet sich Kritische Theorie durch eine Kritik an einer selbstvergessenen, vermeintlich neutralen Wissenschaft aus, die innerhalb ihrer fachlichen Grenzen an Einzelproblemen und abstrakten Theorien arbeitet. Stattdessen gilt es die einzelwissenschaftliche Begrenztheit zu überkommen, die dem gesellschaftlich-arbeitsteiligen Prozess entsprechend an fachlich isolierten Fragestellungen arbeitet.41 Zudem ist dem Großteil der Beiträge ein Interesse an den Ursachen des Erstarkens faschistischer Ideologien und das Ziel mittels der eigenen Forschung einen
Vgl. Buchstein (2017), Bd. 1: 10. Vgl. zu den Umständen seinen Ausscheidens Buchstein (2017), Bd. 2: 88, 96–100. Vgl. zu dieser Problematik Bittlingmayer (2019), 4–7. Horkheimer (1977 [1937]), 56. Vgl. Demirović (2003), 16 f. Vgl. zu dieser Position Adorno et al. (1950), 975; Horkheimer (1977 [1937]), 31, 37, 57; Adorno (1972 [1962]), 562 f. 36 37 38 39 40 41
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Beitrag dazu zu leisten, „eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt“.42 Dieser Anspruch zeigt sich auch in der Perspektive, die Kirchheimer in seinen Arbeiten einnimmt. In seinen verfassungsrechtlichen Analysen deckt er die gesellschaftlichen Widersprüche auf, die sich auch in der politischen Ordnung widerspiegeln.43 Diese Perspektive entwickelte er in den zahlreichen Aufsätzen, die er von 1928 bis 1932 veröffentlichte und mit denen er versuchte, Einfluss auf die Erosion des Rechtsstaats zu nehmen.44 Wie bereits gezeigt, hat er dabei verfassungsdogmatische Begriffsarbeit, die den normativen Anspruch der Verfassung ernst nimmt und diesen verteidigt, mit herrschaftssoziologischer Gesellschaftsanalyse verbunden. So zeigt er auf, welche Widersprüche zwischen Verfassungsordnung und gesellschaftlichen Machtverhältnissen bestehen und wie sich die beiden gegenseitig beeinflussen. Komplettiert wird diese Perspektive durch einen dritten Aspekt: die Offenlegung der Beteiligung der Rechtswissenschaft an diesen Prozessen. Gerade dieser Aufgabe wird Kirchheimer gerecht, wenn er in Legalität und Legitimität aufzeigt, welchen Beitrag führende Staatsrechtler zum Wandel der Rechtsordnung während der Amtszeit Brünings leisten. So arbeitet er etwa heraus, welche Bedeutung die Schaffung des Rechtsbegriffs der Revolutionären Partei durch Otto Koellreutter für die Ungleichbehandlungen im Parteienrecht hatte. Koellreutter war neben Carl Schmitt der zweite führende NS-Staatsrechtler und beteiligte sich mit seiner Verfassungslehre und seinen Schriften zum deutschen Führerstaat in wesentlicher Weise an der Konstitution und Legitimation des NS-Staats.45 Die bereits angesprochene Kategorie der Revolutionären Partei entwickelte er in einem Aufsatz von 1932.46 Sie zeichne sich im Gegensatz zu den regierungsfähigen Parteien nicht etwa dadurch aus, dass sie einen gewaltsamen Umsturz plane oder grundlegende Verfassungsänderungen herbeiführe. Revolutionär sei eine Partei erst dann, wenn sie, wie oben bereits erwähnt, die „Kontinuität des Volkes als politische Einheit“ infrage stelle.47 Die „Nation als geschichtlich gewordene Einheit“48 wird so zur Grundlage der politischen Existenz. In ihrem Fortbestand gefährdet wäre diese Ordnung durch die Abschaffung von „Privateigentum, Ehe [und ihre] Verbindung mit der Religion“49, weswegen nach Koellreut-
Horkheimer (1977 [1937]), 58; ähnlich auch der in Adorno (1972 [1962]), 565 formulierte Anspruch. Vgl. dazu auch die klarsichtigen Analysen der Schwächen der Weimarer Verfassung in Kirchheimer (2017b [1930]), 209–250. 44 Vgl. etwa Kirchheimer (2017b [1930]); Kirchheimer (2017d [1932]). 45 Vgl. Koellreutter (1934); Koellreutter (1935); vgl. zu Koellreutters NS-Schriften Schmidt (1995), 87– 132; zu seinem Verhältnis zu Carl Schmitt Caldwell (1994). 46 Koellreutter (1932), 107–109. 47 Ebd., 117. 48 Ebd., 133 49 Ebd., 115. 42 43
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ters Konzeption nur KPO und KPD, nicht aber die NSDAP als revolutionäre Parteien anzusehen sind. Kirchheimers Kritik am Begriff der Revolutionären Partei ist einerseits verfassungsdogmatischer Natur. Er hält es für verkürzt, die soziale Struktur einer Gesellschaft durch das Bekenntnis zu Familie, Religion und Privateigentum abzubilden. Zugleich sei es auch von der Verfassung nicht gedeckt, deren Bestand rechtlich absichern zu wollen.50 Das Erfordernis der Legitimität der von Parteien verfolgten Ziele höhlt zudem den Anspruch auf Gleichbehandlung des politischen Gegners aus. Er geht jedoch über diese dogmatische Auseinandersetzung hinaus und zeigt auf, dass der Gesetzgeber bislang keine Möglichkeiten geschaffen hatte, um eine Ungleichbehandlung von Parteien zu rechtfertigen. Die Behörden waren daher in ihren Möglichkeiten beschränkt, gegen politisch unliebsame Parteien vorzugehen. Es blieben nur die strafrechtlichen Normen, insbesondere eine extensive Anwendung des Hochverratsparagrafen.51 Koellreutters Begriffsbildung wurde bereitwillig von der Verwaltungspraxis aufgenommen. Nunmehr steht im Zentrum der Bewertung nicht die Illegalität einer Handlung, sondern die Bewertung der politischen Zielsetzung hinter derselben: Ist diese völkisch-national oder revolutionär? Kirchheimer verdeutlicht dies an der geänderten Einstellungspraxis gegenüber Stellenbewerbern für die Reichswehr aus den Reihen von KPD und NSDAP.52 Er legt damit den unmittelbaren Beitrag und die Verantwortung der Verfassungsrechtler für die Veränderungen der Rechtsordnung offen.53 Zugleich deutet er an, dass eine mit zu vielen unbestimmten Rechtsbegriffen operierende Rechtsordnung beständig in Gefahr ist, solchen Einflussnahmen zu unterliegen. Am Fall Koellreutter lässt sich die Art und Weise, wie sich Kirchheimer mit konservativen Staatsrechtlern auseinandersetzt, besonders gut verdeutlichen: Am Beispiel des Parteienrechts zeigt er den Verfassungswandel auf und stellt dar, welche gesellschaftlichen Gruppen hiervon profitieren. Detailliert weist er dabei nach, welchen Beitrag Koellreutter zu diesem Wandel leistet und wie er dem gesetzlich nicht gedeckten Verwaltungshandeln eine alternative Legitimationsgrundlage verleiht. In dieser Haltung kann man einen Appell an die Rechtswissenschaft sehen, sich der eigenen Verantwortung bewusst zu werden, und zugleich auch die Aufforderung, den Beitrag der Rechtswissenschaft an rechtlichem Wandel wissenschaftlich zu reflektieren. Zugleich entspricht sein Ansatz der Forderung, einzelwissenschaftliche Verengungen zu überkommen. Neben seiner Kritik an Koellreutters Begriffsarbeit befasst sich Kirchheimer in seinem Aufsatz jedoch auch mit Ernst Rudolf Hubers Rechtfertigung der Einsetzung geschäftsführender Regierungen auf Länderebene auf Grundlage der Notstandsermäch50 51 52 53
Vgl. Kirchheimer (2017c [1932]), 387 f. Vgl. ebd., 386. Vgl. ebd., 391, weiterführend Buchstein (2017), Bd.1: 87 f. Vgl. zu dieser Interpretation und Übertragungen auf heute auch Vosskuhle (2021), 31, 35–40.
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tigungen des Art. 48 Abs. 2 WRV54 und nimmt auch mehrfach Bezug auf Thesen Carl Schmitts.55 Diese Auseinandersetzung soll zum Anlass genommen werden, noch einmal auf das Verhältnis von Carl Schmitt und Otto Kirchheimer einzugehen. Wie diese beiden politisch so unterschiedlichen Theoretiker zueinander standen, hat Anlass für viele Auseinandersetzungen gegeben.56 Tatsächlich scheint die Frage, ob Kirchheimer ein ‚Linksschmittianer‘ war, lange Zeit einen Großteil der Kirchheimer Rezeption ausgemacht zu haben.57 Gerade deshalb sollte dieser Beitrag einen anderen Schwerpunkt setzen, möchte jedoch auf einige einordnende Anmerkungen nicht verzichten. Die Gemeinsamkeiten von Schmitt und Kirchheimer bestanden in eingehender Begriffsarbeit, in der Überzeugung, dass rein dogmatische Betrachtungen rechtliche Verhältnisse nicht ganz erfassen können und in einem aufmerksamen Blick für die Widersprüche, die der Weimarer Verfassung zugrunde lagen. Es ist aber wohl eher Ausdruck der begrifflichen Armut der deutschen Rechtswissenschaft, wenn die einzig mögliche Einordnung eines dialektisch arbeitenden Theoretikers jene des ‚Linksschmittianers‘ ist. Wie unterschiedlich die Schlüsse der beiden sind, lässt sich an der Art und Weise, wie Schmitt Kirchheimers Aufsatz in seiner eigenen Abhandlung zu Legalität und Legitimität zitiert, aufzeigen. Aus Kirchheimers These, dass der Gesetzgebungsstaat nur aufgrund seiner Legalität legitim sei, macht Schmitt den Befund, dass die Legitimität der Rechtsordnung „nur noch in ihrer Legalität“ besteht.58 Aus Kirchheimers Verteidigung des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung wird so bei Schmitt ein Abgesang auf die überkommene Weimarer Verfassung.59 Sehr nachdrücklich wendet sich Kirchheimer mit seinem Koautor Nathan Leites daher auch in der Replik gegen Schmitts Vereinnahmung seiner Thesen und dessen Annahme, dass der Weimarer Parlamentarismus aufgrund der mangelnden Homogenität des Wahlvolks zum Scheitern verurteilt sei. Kirchheimer und Leites stellen sich unter anderem gegen Schmitts Homogenitätsthese, indem sie mit Verweis auf andere real existierende demokratische Systeme empirisch nachweisen, dass gesellschaftliche Heterogenität der Funktionsfähigkeit von Demokratien nicht entgegensteht.60 Anders als bei Schmitt löst sich bei Kirchheimer also die normative Ordnung nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen auf. In seinen Arbeiten ist das Recht nicht bloße Fassade, sondern steht der gesellschaftlichen Realität in einem Spanungsverhältnis gegenüber, mit dem es produktiv umzugehen gilt. Dies kann nur durch die differenzierte Analyse des Einzelfalls geleistet werden und auch hier zeigt sich wieder seine 54 55 56 57 58 59 60
Vgl. Kirchheimer (2017c [1932]), 384. Vgl. ebd., 379, 388. Vgl. exemplarisch Schale (2006), 71–81; Bavaj (2007), 34 f.; Perels (2009), 30; van Ooyen (2014), 82–87. Kritisch dazu Perels (1989), 61 und Schale (2011), 142–144, 163 f. Schmitt (1932), 14. Mit ähnlicher Argumentation Buchstein (2017), Bd.1: 89 f. und Schale (2006), 77 f. Vgl. Kirchheimer/Leites (2017 [1933]), 464–466.
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Nähe zu anderen Autoren aus dem Umkreis des IfS. So betonte Horkheimer wiederholt, wie wichtig es ist, die gesellschaftlichen Institutionen nicht als bloße Reflexe der ökonomischen Verhältnisse zu verstehen, sondern stattdessen ihre spezifische ökonomische Bedingtheit herauszuarbeiten.61 Nur in der Hinwendung zum konkreten Fall, zur Frage, welche gesellschaftliche Gruppe wie betroffen ist und wie dies historisch bedingt ist, eröffnet sich die Möglichkeit von Theorieentwicklung und Erkenntnisfortschritt. Diese Hinwendung zum Konkreten, das „radikale Sicheinlassen“62 als Voraussetzungen für das allgemeine theoretische Verständnis verbindet Kirchheimers Analysen mit denen der anderen Forschenden aus dem Umkreis des IfS.63 Seine Einordnung als Vertreter Kritischer Theorie, der entlang der Linien einer auf praktische Kritik hinwirkenden, transdisziplinären Gesellschaftswissenschaft arbeitet, wird seinen Positionen und Methoden daher viel eher gerecht als jene des ‚Linksschmittianers‘. 5.
Eine aktualisierungsfähige Perspektive
Dieser Beitrag sollte ein Plädoyer sein, das Werk Otto Kirchheimers als eine Kritische Theorie des Rechts wiederzuentdecken. Doch wie ist eine Übertragung seiner Analysen auf aktuelle Rechtskritik sinnvoll möglich? Denkbar wäre ein direktes thematisches Anknüpfen, etwa an seine Beobachtungen zum Übergang von Kompetenzen und Legitimierungsstrategien in Phasen politischer Unentschiedenheit mit den Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie seit dem Frühjahr 2020. Dies könnte Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zuwachs exekutiver Gestaltungsbefugnisse oder mit der Debatte um die Verteilung von Bund-Länderkompetenzen sein. An der direkten Übertragbarkeit seiner Thesen hege ich jedoch große Zweifel. Kirchheimer setzt sich ausführlich mit der im Kaiserreich sozialisierten, in weiten Teilen antidemokratisch eingestellten Beamtenschaft der Weimarer Republik auseinander, die nicht mit der sozialen Gruppe der heutigen Beamt:innen in eins gesetzt werden kann. Und auch die Rechts- und Verfassungsordnung der Bundesrepublik entspricht in vielen der hier angesprochenen Hinsichten nicht derjenigen der Weimarer Republik. Zudem beziehen Kirchheimers Analysen ihre Kraft gerade daraus, dass sie aus dem konkreten Anlass entstanden sind, mit einer „fast unheimlichen Fähigkeit, aus dem Strom der Ereignisse das Entscheidende herauszufischen und zu analysieren“.64 Vgl. Horkheimer (1988 [1931]), 32; Horkheimer (1977 [1937), 62 f. Overmann (1983), 234 über Theodor W. Adornos methodische Einstellung; vgl. dazu auch die Positionierung Adornos in der Debatte über die Methoden der Sozialwissenschaften in Horkheimer (1985 [1941]), 551. 63 Zu Untersuchungen mit einem ähnlichen Anspruch vgl. etwa Fromm (1980), 52 f. und Adorno et al. (1950), 971 f. 64 So Herz (1989), 17 über seinen ehemaligen Kollegen. 61 62
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Was sich aber übertragen lässt, ist die von Kirchheimer eingenommene Perspektive. Ihm gelingen die begriffstheoretische Rekonstruktion eines Verfassungswandels, eine treffende Zeitdiagnose und eine kritische Reflektion des Beitrags der Rechtswissenschaft zu diesen Veränderungen. Vor allem aber gelingt es ihm, diese drei Perspektiven meisterlich miteinander zu verbinden und zu einer stimmigen Gesamtbetrachtung zu vereinen. Er zeigt damit auf, dass es innerhalb der Rechtswissenschaft einen Ort für Rechtssoziologie gibt, der über Gesetzesfolgenabschätzung und die Reflexion von Klassikern der Sozialtheorie hinausreicht: eine Perspektive, die Herrschaftsverhältnisse im Recht reflektiert, ohne den normativen Anspruch des Rechts aufzugeben und dabei auch den Beitrag der Rechtswissenschaft selbst mitdenkt. Die sporadische Rezeption seiner Werke zeigt auch, dass Kirchheimers Vorgehensweise mühevoll und voraussetzungsvoll ist. Der Ort für rechtssoziologisches Arbeiten scheint allenfalls als ein theoretisch möglicher auf und hat in der aktuellen Universitätsstruktur keine reale Entsprechung. Sein Werk weist über „die Aufspaltung der Gegenstände und Urteile in die Fächer der einzelnen Wissensgebiete“66 hinaus und leistet damit, was Ziel einer Kritischen Theorie des Rechts sein sollte: die Überwindung der Trennung zwischen Gesellschaftsanalyse und Rechtswissenschaft – trotz der damit notwendig einhergehenden methodischen Herausforderungen. In Abwandlung des Ausspruchs von Adorno und Horkheimer könnte man sagen, dass seine Kritik der Rechtswissenschaft die Rechtswissenschaft nicht preisgibt, sondern sich bemüht theoretisch und praktisch auf die Verwirklichung ihres Anspruchs hinzuarbeiten.67 65
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Teubner, Gunther (1993): „‚Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung‘. Rechtssoziologische Theorie im Werk Otto Kirchheimers“. In: Lutter, Marcus / Stiefel, Ernst / Hoeflich, Michael (Hg.): Der Einfluss deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck, 505–520. Van Ooyen, Robert (2014): Rechts- und Verfassungspolitologie bei Ernst Fraenkel und Otto Kirchheimer. Kritik und Rezeption des Rechtspositivismus von Hans Kelsen und der politischen ‚Freund-Feind-Theologie‘ von Carl Schmitt. Frankfurt am Main: Verlag für Verwaltungswissenschaft. Van Ooyen, Robert / Schale, Frank (2011): „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer. Baden-Baden: Nomos, 9–15. Vosskuhle, Andreas (2021): Kritik als Verfassungsschutz. Zur Dialektik von Recht und Politik im Denken Otto Kirchheimers. Festvortrag zur Verleihung des Otto-Kirchheimer-Preises 2019. Heilbronn: Schriftenreihe des Fördervereins Otto-Kirchheimer-Preis e. V. Weber, Max (1925): Wirtschaft und Gesellschaft. 2 Bde. Tübingen: Mohr. Antonia Paulus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie (Abt. 1) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie hat Rechtswissenschaft und Soziologie studiert und ist Mitbegründerin des Arbeitskreises Rechtssoziologie Freiburg. Derzeit arbeitet sie an einer Promotion zu experimentellem Recht und dessen Bedeutung für Reformdebatten innerhalb der Rechtswissenschaft.
Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?* Privatrecht bei Eugen Paschukanis
JUDITH HANTEL
Socialist Legal Theory without Socialist Law? Evgeniy Pashukanis’ Private Law Abstract: This article examines the theory of private law given by Evgeniy Pashukanis in his anal-
ysis and critique of the legal form in the General Theory of Law and Marxism. I argue that besides his fundamental critique of the legal form, Pashukanis had a particular understanding of private law, which is still hold by legal scholars today. Accordingly private law is based on paradigms of the natural law tradition rather than coined by legal positivism as many of Pashukanis’ contemporaries in the 1930s advocated. Rather, private law consists of a formal system of subjective rights as it was introduced by the legal philosophy of German Idealism as a realm of abstract free and equal subjects. Understood in that way, private law as civil law embodies the isolation of the individual and the growing inequality that stems from the abstract formality of equality and freedom implied by the nature of civil law. Keywords: Critical Legal Theory, Evgeniy Pashukanis, Theory of Private Law, Legal Form, Subjective Rights, Commodity Exchange Schlagworte: Kritische Rechtstheorie, Evgeniy Pashukanis, Privatrechtstheorie, Rechtsform, subjektive Rechte, Warenwirtschaft
Dank gilt den Teilnehmer:innen der Konferenz, die mit kritischen Fragen und hilfreichen Anregungen geholfen haben, die Ausgangsthese zu schärfen. *
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1. Einführung
Der Titel Eugen Paschukanis – Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht? verweist auf die zwei Kernthesen dieses Beitrags: Einerseits soll dargelegt werden, dass der marxistische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis seiner fundamentalen Rechtskritik ein spezifisches Verständnis von Recht zugrunde legt, welches sein umfassendes juristisches Wissen über die europäische Rechtstheorie unter Beweis stellt. Andererseits soll der Titel darauf verweisen, dass Paschukanis in seiner ursprünglichen Rechtskritik die These vom Absterben des Rechts aufstellt, die im Ergebnis sowohl die Form von Recht als auch Recht überhaupt verbietet. Fraglich bleibt insofern, ob und wie ein genuin sozialistisches Recht existieren kann. Es sollen im Folgenden aber nicht die mit letzterem Aspekt zusammenhängenden Überlegungen Paschukanis’ für eine eigene, sozialistische Ordnung im Fokus stehen, sondern seine Arbeit zur Logik des bürgerlichen Rechts und zum Privatrecht allgemein, weil diese erst seine fundamentale Rechtskritik verständlich macht. Paschukanis’ Rechtskritik ist im Kern eine Kritik des bürgerlichen Rechts im bürgerlichen Staat. Dabei spiegelt sie ein besonderes Grundverständnis des bürgerlichen Rechts als Teil des umfassenderen Privatrechts wider, das zwar umstritten, aber nach der hier vertretenen Auffassung auch heute noch als zutreffend angesehen werden kann. Denn für Paschukanis kann Kritik am Recht erst dann gelingen, wenn das Wesen von Recht wirklich verstanden wurde. Oder anders formuliert: Propädeutisch muss die innere Logik von Recht ausformuliert werden, damit sie überhaupt destruiert werden kann. In dieser Hinsicht ist sein kritisches Rechtsverständnis hochaktuell, da die Frage nach dem Wesen von Recht keinesfalls trivial ist, sondern die Rechtstheorie kontinuierlich beschäftigt, insbesondere bei der Frage nach der Reichweite einzelner Rechtsgebiete und deren Verhältnis zueinander. Auf Grund dieses grundlagenorientierten Ansatzes soll Paschukanis’ Analyse auch in aktuelle rechtstheoretische Forschungspositionen eingeordnet werden. So kann gezeigt werden, dass bestimmte Bereiche von Paschukanis’ Ausführungen durchaus anschlussfähig an heutige Debatten sind, insbesondere über den Charakter und die Beschaffenheit von Privatrecht, weil sie ein präzises Wissen um die bürgerliche Rechtstradition enthalten, welches sich in seinem spielerischen Umgang1 mit Strömungen der zeitgenössischen, aber auch der klassisch-philosophischen Rechtstheorie manifestiert. Die Anschlussfähigkeit seiner Kritik an die bürgerlich-rechtliche Rechtstradition lässt sich möglicherweise aus seinem Lebensweg erklären: Als politischer Flüchtling des Zarenreichs studierte Eugen Paschukanis zunächst in den 1910er Jahren Rechtswissenschaften in München, um nach der Revolution für den neu gegründeten Sowjetstaat in der Berliner Botschaft tätig zu sein, bevor er nach Moskau zurückkehrte und
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Vgl. Harms (2000), 43.
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sich an der Ausarbeitung der sowjetischen Verfassung von 1936 beteiligte. Paschukanis fiel im Anschluss daran den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Während der Berliner Zeit hatte er bereits sein Hauptwerk Allgemeine Rechtslehre und Marxismus verfasst. Schon dessen Titel deutet an, dass die juristische Analyse laut Paschukanis nicht ohne die marxistische Theorie zu denken ist. Allerdings bietet die Rechtskritik auch die genannte dezidiert juridische Analyse der inneren Logik von Recht und insbesondere von Privatrecht. Diese soll im folgenden Beitrag im Mittelpunkt stehen und der Anteil an der politökonomischen Warenformanalyse hintangestellt werden. Die juridische Auseinandersetzung findet sich vor allem im dritten Kapitel der Allgemeinen Rechtslehre, das Verhältnis und Norm heißt und die propädeutische Funktion einer Aufklärung über das wahre Wesen rechtlicher Grundbegriffe erfüllt. Dabei ist zu betonen, dass Paschukanis’ Rechtskritik eine Kritik der Rechtsform ist, sich also nicht in den Inhalten von Rechtsvorschriften erschöpft, sondern auf radikalere Weise die Form kritisiert, in der Recht allgemein auftritt. Als solche Rechtsformkritik ist die Kritik jederzeit bereit, das Recht als Ganzes infrage zu stellen. Des Weiteren ist als Ausgangsprämisse Paschukanis’ Rechtskritik zu beachten, dass er das Recht so, wie er es in der Allgemeinen Rechtslehre versteht, freilich nicht für richtig hält. Seine Auffassung des Rechts entspricht vielmehr die Warte, von der aus er radikale Rechtskritik übt: Weil und nur weil Recht auf die noch zu zeigende Weise verstanden werden muss, muss es auch kritisiert werden und schließlich „absterben“2. Für den vorliegenden Beitrag wird daher schwerpunktmäßig Paschukanis’ Verständnis von Recht entfaltet werden. Ausgehend davon lässt sich seine radikale Rechts- und Staatskritik verstehen. Letztere kann aus Platzgründen hier nicht im Detail analysiert werden. Vielmehr soll sich auf drei juridische Kernaspekte konzentriert werden, die Paschukanis zu seiner Kritik führen, weil sich in ihnen die Rechtsform gründet: die Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht (2.), das subjektive Recht (2.1), das Rechtssubjekt (2.2.) und schließlich die Willenstheorie des bürgerlichen Rechts (2.3.). 2.
Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht
Paschukanis’ Verständnis der Rechtsform setzt die strenge Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht voraus, die er im erwähnten Kapitel ‚Verhältnis und Norm‘ etabliert. Das Kapitel bildet unter anderem den Streit zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus ab, der in der Zeit der 1920er Jahre, als Paschukanis die Rechtslehre schrieb, insbesondere von Rechtswissenschaftlern wie Hans Kelsen intensiv geführt wurde. Ausgangspunkt für die behauptete Trennung ist eine Auseinandersetzung
Paschukanis (2020 [1929]), 58 [33 f.], die Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf die Originalpaginierung der Ausgabe von 1929. 2
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mit dem Rechtspositivismus oder dem, was Paschukanis als „dogmatische Jurisprudenz“3 bezeichnet. Anhand der Beziehung zwischen der Norm und dem sogenannten Rechtsverhältnis bezieht Paschukanis in einem ersten Schritt gegen den Rechtspositivismus Stellung. Ein Rechtsverhältnis ist nach der ursprünglichen Definition Savignys die Beziehung zwischen zwei Personen, die durch eine Rechtsregel bestimmt ist.4 Für Paschukanis, im Gegensatz zu Kelsen5, erzeugt aber nicht die Norm das Rechtsverhältnis, sondern die Rechtsnorm ist aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitet.6 Das bedeute in der Konsequenz, dass Gesetze stets Substrate dessen, was sie regeln, in der Wirklichkeit vorfinden könnten. Wo dieses gesellschaftliche Substrat fehle, sei ein entsprechendes Rechtsverhältnis a priori undenkbar und Rechtsverhältnisse existierten deshalb auch außerhalb und unabhängig von der objektiven Norm, und zwar als Lebensverhältnisse.7 Normen komme folglich der Status zu, genau dasjenige darzustellen und nachträglich abzubilden, was in den realen, gesellschaftlichen Verhältnissen immer schon gegenwärtig ist. Dieser Gedanke ist bis zu einem gewissen Grad auch den Positivisten bekannt, so formuliert Jellinek: „Die Rechtsverhältnisse konnten als Lebensverhältnisse schon längst vorhanden sein, ehe sie einer rechtlichen Normierung unterworfen wurden.“8 Dieses Zugeständnis bezieht sich allerdings nur auf den Unterschied zwischen Handlungen, die rechtlich relevant und damit als Rechtsverhältnisse normierbar sind, und rechtlich irrelevanten Handlungen, den bloßen Lebensverhältnissen. Zwar haben auch nach Jellinek alle Rechtsverhältnisse ursprünglich reale Lebensverhältnisse zur Grundlage, aber nur manche dieser Verhältnisse bedürfen überhaupt einer Verrechtlichung in Form von Erlaubnis oder Verbot.9 Die Norm ist und bleibt bei seiner Rechtsanalyse der einzige Anknüpfungspunkt. Paschukanis indes ist in seinem Rechtsdenken radikal auf die den Rechtsverhältnissen zugrundeliegenden Lebensverhältnisse fokussiert. Er plädiert dafür, den Fokus bei der Rechtsformanalyse überhaupt nicht auf abstrakte Normen zu legen, sondern die Rechtsform von den historisch bedingten Lebensverhältnissen her zu verstehen, die den Rechtsverhältnissen zugrunde liegen. Mit dieser Sichtweise auf das Recht legt er gleichzeitig die Grundlage seiner Rechtsformkritik: Um die marxistische Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf das Recht zu übertragen, müsse von einem antipositivistischen, das heißt auf naturrechtlichen Prämissen aufbauenden Rechtsverständnis ausgegangen werden: Denn wenn Recht – wie nach positivistischer Auffassung – ausschließlich von rein logischen Zusammenhängen zwischen Normen, von
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Paschukanis (2020 [1929]), S. 92 [68], 111 [89]. Vgl. Savigny (1844), Bd. 1: 22. Vgl. Kelsen (2008 [1934]), 107, 115. Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 86 [62]. Vgl. ebd., 92 [69], 89 [65]. Jellinek (1963 [1892]), 45. Vgl. ebd., 46.
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einem „unlebendigen Formalismus“10 her verstanden wird, könne Kritik am Recht als materialistische Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen freilich nicht gelingen. Um solche Art von Kritik zu äußern, müsse vielmehr untersucht werden, ob sich der Gehalt der abstrakten Rechtsvorschriften in den meta-rechtlichen, wirklichen Lebensverhältnissen realisiere.11 Die Abgrenzung zum Rechtspositivismus bleibt damit auch im Verlauf der Allgemeinen Rechtslehre eine wichtige Voraussetzung, die gleichsam einem theoretischen Ausgangspunkt Paschukanis’ Ausführungen begleitet. Für die behauptete Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht spielt in einem zweiten Schritt die Aufdeckung der realen, historischen Substrate der Rechtsverhältnisse die zentrale Rolle. Weil die Rechtsform abstrakt sei und mit Begriffen arbeite, die künstlich anmuten, sei es nötig, die „objektive[n] gesellschaftliche[n] Verhältnisse […] dieser gedanklichen Abstraktionen“12 aufzudecken. Laut Paschukanis sind diese tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Rechtsverhältnissen zugrunde liegen, diejenigen der realen Produktionsverhältnisse. Die genannten realen Substrate bestünden damit in denen einer warenproduzierenden Gesellschaft und das Vorhandensein einer Waren- und Geldwirtschaft sei die Grundvoraussetzung, ohne die alle Normen keinen Sinn hätten.13 Die juristischen Begriffe würden dabei die Verhältnisse einer warenproduzierenden Gesellschaft abbilden. Auf diese Weise verstanden seien juristische Begriffe keineswegs das Produkt „irgendwelcher willkürliche[n] Erfindung “14, sondern spiegelten das historisch gewachsene, ökonomische Verhältnis zweier Warenbesitzer wider und begründeten damit die bürgerliche Gesellschaft.15 Interessanterweise wird dieses Ergebnis auch in der rechtshistorischen Forschung vertreten. Selbst die tendenziell eher konservative Privatrechtsgeschichte ist sich einig, dass – so Franz Wieacker – bei Schaffung des BGB das Bild der „bürgerlichen Unternehmerklasse“16 Pate stand. In Paschukanis’ Ausdrucksweise fand der Gesetzgeber im 19. Jahrhundert als Substrat das besitzende, kapitalstarke Bürgertum vor, nach dem er den Normenbestand des BGB gestaltete. Aus der festgestellten Beziehung von Rechtsverhältnis und Norm sowie den genannten Substraten ergebe sich schließlich, dass die Rechtsform wesentlich von privatrechtlichen Strukturen geprägt sei, die wiederum in geschäftlichen Beziehungen zum Zwecke der Warenwirtschaft bestünden. Für das Verständnis der Rechtsform bedeutet dies in einem dritten Schritt, dass laut Paschukanis die privatrechtlichen Strukturen gegenüber dem öffentlichen Recht primär sind.17 In den privatrechtlichen Verhält10 11 12 13 14 15 16 17
Paschukanis (2020 [1929]), 89 [65]. Vgl. ebd., 86 [62]. Ebd., 65 [40 f.], 57 [31], 75 [51]. Vgl. ebd., 95 [71], 92 [68]. Ebd., 57 [32]. Vgl. ebd., 90 [66]. Wieacker (1974), 12. Vgl. Rödl (2015), 379.
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nissen als juristischem Überbau fänden die Verhältnisse einer warenproduzierenden Gesellschaft ihren rechtlichen Abdruck. Überträgt man dieses Vorrangverhältnis auf das heutige Recht, so würde dies bedeuten, dass die Rolle des öffentlichen Rechts in der bürgerlichen Rechtsordnung darin bestehe, die privatrechtlichen Institute anzuerkennen und sie gegen staatliche Eingriffe abzusichern.18 Und in der Tat lässt sich ein solches Verhältnis an demjenigen Substrat zeigen, das für die bürgerliche Rechtsordnung konstituierend ist, dem Eigentum. Für das Verständnis von Art. 14 Abs. 1 GG, der das Eigentum ‚gewährleistet‘, braucht es zunächst die in § 903 BGB festgeschriebenen Befugnisse der Eigentümer:innen.19 Pointierter formuliert gäbe es ohne § 903 BGB gar kein Eigentum, das nach Art. 14 Abs. 1 GG garantiert werden könnte. Genau diesen logischen Vorrang meint Paschukanis, wenn er davon spricht, dass „die allgemeinen Definitionen des Rechts sich lange Zeit als ein Teil der Zivilrechtslehre entwickelten“ und demnach die allgemeine juristische Logik der Logik des Privatrechts entspricht.20 Im Zentrum Paschukanis’ Rechtsformkritik steht also das Privatrecht und seine Begrifflichkeiten, weil dieses die Form des Rechts überhaupt ausmachen. Konsequenterweise wirft dies die Frage auf, ob für Paschukanis öffentliches Recht überhaupt Recht ist. In jedem Fall etabliert dieses Verständnis aber die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Privatrechts in Bezug auf das öffentliche Recht und damit die strikte Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht. Es ist zugleich eine Trennung zwischen Politik und Privatrecht, welche häufig angezweifelt und relativiert wird.21 Dabei wird das öffentliche Recht, das der politischen Sphäre zugeordnet sein soll, mit dem Privatrecht als genuine Sphäre des Individuums kontrastiert. Das Privatrecht soll auf Grund dieser Trennung politischen Entscheidungen – und vor allem im politökonomischen Sinne distributiven Entscheidungen der Vermögensverteilung – entzogen sein.22 Beachtenswert ist, dass ein solches Privatrechtsverständnis, wie Paschukanis es in seiner Rechtslehre vertritt, auch noch in der heutigen Privatrechtstheorie existiert. Freilich in abgeschwächter Form und ohne die damit einhergehende Entwertung der Funktion des öffentlichen Rechts, wie sie bei Paschukanis anklingt23, findet sich ein Verständnis des Privatrechts als formales, abstraktes, auf die bilateralen Beziehungen zwischen zwei privaten Subjekten reduziertes und von den distributiven Erwägungen des öffentlichen Rechts getrenntes Recht auch in der Common Law
Vgl. Kant (1990 [1797]), 350. Vgl. Rödl (2015), 379. Paschukanis (2020 [1929]), 94 (Anm. 5) [71]. U. a. von Arnold (2014); Lomfeld (2015). Beispielsweise Kelsen (2008 [1934]), 111 f.; in der neueren Debatte u. a. Kennedy (1982); Arnold (2014); Lomfeld (2015); s. dazu auch Menke (2018), 34 f. 23 Paschukanis (2020) [1929], 102 f. [80]), wonach „(…) staatsrechtliche Theorien von an den Haaren herbeigezogenen, gekünstelten, bis zur Groteske einseitigen Konstruktionen wimmeln.“ 18 19 20 21 22
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Rechtstheorie wieder.24 Das Anliegen dieser Strömung ist es, das Privatrecht als vom öffentlichen Recht unabhängiges Rechtsgebiet zu explizieren und dessen Normen anhand einer eigenen, dem Privatrecht inhärenten Logik zu rechtfertigen. Auf diese Weise kann das Privatrecht als Einheit zutage treten, in welcher die privatrechtlichen Normen ein kohärentes System bilden. Diese Verbindung zwischen Paschukanis’ Rechtsverständnis und diesem kontemporären Ansatz soll im Folgenden noch eingehender untersucht werden. 2.1
Die Rechtsform als System subjektiver Rechte
Zunächst aber führt das Primat der privatrechtlichen Strukturen Paschukanis zur Analyse und Kritik der wesentlichen Begriffe und Kategorien des Privatrechts: Eine der zentralen Grundkategorien des Privatrechts sei das subjektive Recht, der Kristallisationspunkt des Privatrechts. Einerseits bestehe logisch betrachtet das subjektive Recht als Berechtigung im Sinne der subjektiven Autonomie unabhängig von der ihr entgegengesetzten objektiven Rechtsnorm, welche die Verpflichtung darstelle, diese Norm zu befolgen. Dies ergibt sich daraus, dass für Paschukanis die Berechtigung die der Verpflichtung gegenüber logisch primäre Kategorie ist. Andererseits habe sich historisch betrachtet mit dem Übergang vom Feudalismus in die bürgerliche Epoche die Berechtigung als subjektives Recht von der Verpflichtung als objektivem Recht abgesondert25: Das moderne Recht gewähre der einzelnen Person mit dem subjektiven Recht eine Freiheits- und Machtsphäre, die vor dem Zugriff durch die objektive Rechtsordnung geschützt sei.26 Was das subjektive Recht mithin ausmache, sei die Loslösung des politischen Staates von der bürgerlichen Gesellschaft und somit zunächst die Schaffung einer privaten Machtsphäre, in welcher der Mensch unabhängig von Regeln der Tugend oder Vernunft wollen und handeln darf.27 Anders formuliert ermächtigt das subjektive Recht dazu, den eigenen Willen durchzusetzen, und das auch gegen das Widerstreben anderer Privater.28 Hierbei ist zu beachten, dass bei Paschukanis das subjektive Recht seinen Platz nur in dieser privaten Sphäre hat, und dies auf Grund der oben etablierten Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privat-
Vertreter:innen dieser Sichtweise sind überwiegend der Toronto School of Law zugeordnet, s. Weinrib (2012 [1995]), 21 ff., 210 ff., 455 f.; Ripstein (1999), 246 ff., wobei Ripstein den Fokus weniger auf Paschukanis’ Verständnis von Privatrecht legt, sondern vielmehr seine rechtliche, bzw. nicht-rechtliche Behandlung von individueller Verantwortung im Delikts- und Strafrecht aufarbeitet. Im deutschen Rechtsraum s. Rödl (2015), 26 ff. 25 Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 55 [30], 99 [75], 56 [31]; ähnlich Menke (2018 [2015]), 17 ff. 26 Vgl. ebd., 96 [73], 117 [96]. 27 Vgl. ebd., 101 [78]; dies bereits bei Hegel (2017 [1821]), 327 [Zusatz zu § 182]; s. auch Menke (2018 [2015]), 179, 197. 28 Vgl. Menke (2018 [2015]), 177. 24
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recht. Ein subjektives öffentliches Recht einer Privatperson gegen den Staat wird von Paschukanis auf Grund der begrifflichen Durchmischung beider Sphären als Missverständnis und Widerspruch aufgefasst und damit zurückgewiesen.29 Es sei die subjektive Berechtigung in ihrer privatrechtlichen Ausformung, welche als subjektives Recht eine Machtsphäre erschaffe, in welcher der Mensch als egoistisches Wesen nur auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogen und vom staatlichen Gemeinwesen abgesondert sei. Wenn das Privatrecht also in einem System von subjektiven Rechten bestehen soll, so müsse auch die Rechtsform in einem solchen bestehen, weil sie zuvorderst privatrechtliche Strukturen umfasst. Fraglich bleibt aber, woraus sich das subjektive Recht überhaupt ergibt. Dies lässt sich anhand des Subjekts des subjektiven Rechts erhellen. Denn jedes subjektive Recht setze stets ein Rechtssubjekt voraus, das durch dieses berechtigt sei, über sein subjektives Recht zu verfügen, wie es wolle. Am Beispiel des Eigentums festgemacht symbolisiere das subjektive Recht weiter nichts, als eine Berechtigung dahingehend, dass Eigentümer:innen mit ihrem Eigentum verfahren könnten, wie es ihnen beliebe.30 Diese Berechtigung beinhalte gleichermaßen, andere von der Nutzung oder dem Genuss ihres Eigentums auszuschließen. Das subjektive Recht sei damit notwendigerweise auf ein Rechtssubjekt bezogen, das durch es berechtigt wird. Auf Grund dieser Verknüpfung konzentriert sich Paschukanis bei seiner Analyse der Rechtsform als System subjektiver Rechte in einem weiteren Schritt auf das Rechtssubjekt als sog. ‚Atom der juristischen Theorie‘, um den Ursprung subjektiver Rechte zu beleuchten. 2.2
Das Rechtssubjekt im bürgerlichen Recht
Schlüssel zum Verständnis der Rechtsform als System subjektiver Rechte ist das Subjekt als Rechtssubjekt, denn ohne Subjekt sei ein subjektives Recht kaum denkbar. Unser Verständnis des Rechtssubjekts ist laut Paschukanis durch die idealistischen Rechtstheorien geprägt. Ausgangspunkt für den Idealismus ist, dass das Subjekt aus dem Begriff der Freiheit hergeleitet wird.31 Das Subjekt ist laut Paschukanis frei – er zitiert in diesem Kontext aus Fichtes System der Rechtslehre: „Jeder besitzt seinen Körper als freies Werkzeug seines Willens“32 – weil es als erste Grundbedingung dadurch gekennzeichnet ist, dass es seinen Körper als sein Eigen hat. Gleichzeitig heißt das aber auch, dass das Subjekt die Freiheit anderer Subjekte nicht dahingehend beschränken
Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 102 f. [80]. Vgl. ebd., 110 [88]. Vgl. Paschukanis (2020) [1929], 109 [87]. Ebd., 114 [92 f.]; im Original: „Jeder besitzt seinen Körper, den niemals ein anderer mit seinem Körper verwechseln wird, als freies Werkzeug seines Willens.“, Fichte (1962 [1834]), S. 503. 29 30 31 32
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darf, ihre Körper nach den von ihnen gewählten Zielen einzusetzen. Diese Überlegungen wurzeln im allgemeinen Rechtsprinzip Kants, das beinhaltet, die eigenen Zwecke ungestört wählen und verfolgen zu können.33 Das Wählen und Verfolgen ist die Fähigkeit des freien Willens, verstanden als Willkür.34 Welche Zwecke genau gewählt und verfolgt werden, ist irrelevant für das allgemeine Rechtsprinzip, entscheidend ist, dass die Handlungen eines Subjekts mit der Freiheit anderer zusammen bestehen können.35 Der Bezug auf andere Subjekte ist lediglich ein negativer Bezug auf deren Freiheitssphären; es handelt sich daher sowohl um eine individuelle als auch um eine formale Idee von Freiheit, welche in der atomistischen Vorstellung des Subjekts als von anderen Subjekten unabhängige Entität wurzelt.36 Aus diesem allgemeinen Rechtsprinzip wird auch das subjektive Recht geboren.37 Es umfasst zuerst das Recht auf die Freiheit des eigenen Körpers zum Setzen eigener Zwecke. In einem zweiten Schritt drückt das subjektive Recht aus, dass sich das Subjekt eine äußere Sphäre ihrer Freiheit gibt, indem es die eigenen Zwecke in die Welt ausweitet.38 Dies geschieht im Erwerben und Haben von Rechten wie dem Eigentum, welches das bürgerliche Recht schützt, indem es seine Anerkennung und Durchsetzung von der öffentlichen Gewalt konstatiert. Somit kann das Eigentumsrecht als subjektives Recht wesentlich als ein Recht der bürgerlichen Freiheit bezeichnet werden. Gleichzeitig bringt die formale Freiheit, welche das allgemeine Rechtsprinzip regiert, eine Gleichheit hervor, die darin besteht, dass alle Subjekte unabhängig von ihren jeweiligen persönlichen Eigenschaften und ihrem sozialen Status gleich frei sind. Diese Gleichheit ist damit formal oder abstrakt, weil sie nicht die Besonderheiten in Charakter, Begabung und Herkunft miteinbezieht. Sie ist die bürgerliche Gleichheit, aus welcher sich – neben der formalen Freiheit – das bürgerliche Recht als Ausformung des Privatrechts im 19. Jahrhundert entwickelte. Die Freiheit und Gleichheit des bürgerlichen Rechts ist der zentrale Ausgangspunkt für Paschukanis’ Kritik am selbigen: Zum einen beinhalte die Freiheit, Eigentum zu haben, also das Verfahren mit dem Eigentum nach Belieben des Rechtssubjekts. Ebenso umfasse sie, andere Rechtssubjekte vom Eigentum auszuschließen sowie im Rahmen der formalen Freiheit Eigentum zum Nachteil anderer zu benutzen und produziere damit eine weitere Vertiefung von Ungleichheiten, die auf Grund der heterogenen Ausgangspositionen von Personen bereits von vornherein bestehe. Zum anderen würden sich in der bürgerlichen Abstraktion von Gleichheit alle konkreten Besonderheiten auflösen, die Menschen eigentlich voneinander unterschieden. Die Rechtsform – und damit das
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Vgl. Ripstein (2009), 33 f. Vgl. Kant (1990 [1797]), 226, 230. Vgl. ebd., 230. Vgl. Honneth (2001), 17 f. Vgl. Wieacker (1974), 44. Vgl. Kant (1990 [1797]), 245 ff., 255 f.; Hegel (2017 [1821]), 102 [§ 41].
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bürgerliche Recht an sich – interessiere sich nicht für die individuellen Besonderheiten ihrer Subjekte; sie sehe im Menschen nicht ein natürliches Individuum, sondern nur das juristische Subjekt, welches abstrakt sei.39 Indem die abstrakte Gleichheit des bürgerliche Rechts die individuellen Ausgangspositionen ihrer Subjekte unberücksichtigt lasse, entstehe dadurch jedoch gerade Ungleichheit, weil das stärkere Subjekt und das schwächere Subjekt auf Grund ihres bloßen Subjekt-seins als gleiche angesehen würden. Das bürgerliche Recht basiere zwar auf den hehren Werten von Freiheit und Gleichheit, diese könnten aber eine nur formale Art von Freiheit gewähren und ein Abstraktum an Gleichheit postulieren. Damit stellt das bürgerliche Recht für Paschukanis nichts anderes dar als gerade „ein Recht der Ungleichheit“40. Er destruiert die für die idealistische Rechtskonzeption so zentralen Grundwerte der Freiheit und Gleichheit, weil sie für ihn formal und damit leer sind.41 Es ist deutlich geworden, dass das Verständnis der Rechtsform als System subjektiver Rechte und somit als Sphäre abstrakter, gleicher Freiheitssphären, wie sie vom Idealismus gedacht wird, von Paschukanis als Anknüpfungspunkt für seine Rechtskritik genommen wird. Das bürgerliche Recht – und damit grundsätzlich die Rechtsform – so zu denken, ist eine für Paschukanis’ Zeit als auch für die Gegenwart ungewöhnliche Herangehensweise, weil sie auf den Schultern des Naturrechts steht. Die oben bereits dargestellte Abgrenzung zum Rechtspositivismus gewinnt hier wieder an Bedeutung, denn seit dem Erstarken des Rechtspositivismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts war und ist die Skepsis am Natur- bzw. Vernunftrecht die vorherrschende Tendenz in der Rechtstheorie. Das von Paschukanis verfolgte Programm, die Rechtsform auf eine naturrechtliche Grundlage zu stellen, mutet daher geradezu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in welcher der Rechtspositivismus die akademischen Debatten dominierte, recht ungewöhnlich an. Somit ist es bemerkenswert, wenn Paschukanis in der Allgemeinen Rechtslehre entgegen dem Rechtspositivismus seiner Zeit vertritt, dass das Privatrecht auf den naturrechtlichen Grundlagen der Freiheit und Gleichheit aller Rechtssubjekte beruht. Es ist diese, in der idealistischen Rechtstradition stehende Rekonstruktion des geltenden Rechts, die in ähnlicher Weise auch von kontemporären Common Law Rechtstheoretiker:innen wie Ernest Weinrib und Arthur Ripstein betrieben wird. Die Normen und Doktrinen des geltenden Privatrechts werden anhand philosophischer Grundbedingungen – und das sind maßgeblich die von Paschukanis genannten idealistischen Rechtsauffassungen – erklärt.42 Demzufolge ist Privatrecht wesentlich geprägt von der bilateralen Interaktion zwischen Rechtssubjekten, die als freie und gleiche gelten.43 Zugleich ist den privatrechtlichen Normen
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Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 113 [91], 111 [89], 121 [100]; Hegel 2017 [1821]) 93 [§ 35]. Ebd., 60 [35] mit Verweis auf Marx (1973 [1891]); vgl. auch Bayer (2021), 83. Ripstein (1999), 248. Vgl. Rödl (2017), 31 f.; ders. (2015), 27; Menke (2018, [2015]), 34; Benson (2019), 12. Vgl. Weinrib (2015), 80 ff.; Benson (2019), 12.
Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?
die Gerechtigkeit des Privatrechts in Form der iustitia correctiva, bzw. commutativa44 immanent, die eine lediglich restorative Funktion erfüllen, indem sie den Privatrechtssubjekten vermögenstechnisch das zugestehen bzw. zurückgeben, was diese zu Beginn einer privatrechtlichen Interaktion, sei es Vertrag oder Delikt, hatten. Eine umverteilende, also distributive Funktion wird im Privatrecht verneint und stattdessen der davon getrennten Sphäre des öffentlichen Rechts zugeordnet.45 Auf Grund dieser Aufgabenzuteilung soll Privatrecht keine extrinsischen Zwecke außer sich selbst haben, es ist reiner Selbstzweck.46 Die Vertreter:innen dieser Auffassung finden in der idealistischen Rechtstradition, insbesondere Kants Privatrechtsdarstellung in der Metaphysik der Sitten, eine tragfähige Grundlage, um ein solches Verständnis von Privatrecht zu präsentieren, das nicht instrumentalistisch ist und daher eine Alternative zu Sichtweisen bietet, die im Privatrecht ein bloßes Instrument zur Erfüllung eines ihm externen Zweckes sehen.47 So sehr sie in diesem Unternehmen mit dem Privatrechtsverständnis Paschukanis’ übereinstimmen, so sehr divergieren die Ansätze hinsichtlich der Berechtigung von öffentlichem Recht. Während argumentiert werden kann, dass nach Paschukanis’ Logik das öffentliche Recht streng genommen überhaupt kein Recht sein kann – oder jedenfalls nur eine sekundäre Funktion innehat – geht die kantisch geprägte Rechtsauffassung davon aus, dass der Genuss subjektiver Rechte nicht ohne die gleichzeitige Existenz einer öffentlich-rechtliche Ordnung zu denken ist.48 Hierin unterscheidet sich also die gegenwärtige Strömung von der Allgemeinen Rechtskritik. 2.3
Wille und Vertrag als Rechtsfetisch
Im Folgenden soll nunmehr entfaltet werden, wie Paschukanis das dargestellte idealistische Rechtsverständnis als basale Struktur des Privatrechts nutzt, um die Rechtsformkritik auf den Punkt zu bringen. Aus der Idee der formalen Freiheit und abstrakten Gleichheit geboren, ist für das idealistische Rechtsprinzip das Moment des Willens als weiteres Wesensmerkmal des Rechtssubjekts entscheidend.49 Denn subjektive Rechte erschaffen eine private Machtsphäre, in welcher die Ausübung des eigenen Willens Diese Gerechtigkeitsvorstellung geht ultimativ auf Aristoteles zurück. Bereits bei Aristoteles findet sich eine frühe Theorie von Privat-, Strafrecht und öffentlichem Recht, die in vielerlei Hinsicht als Grundlage für die idealistischen Rechtstheorien diente, vgl. Aristoteles (1985), S. 107 [1131 b]. 45 Weinrib (2012 [1995]), 210 ff. 46 Was in der Analogie gipfelt, Privatrecht sei auf Grund seines Selbstzecks wie Liebe „private law is just like love“, Weinrib (2012 [1995]), 6. Mit dieser Ansicht würde Paschukanis allerdings nur insoweit übereinstimmen, als der Selbstzweck von Privatrecht nicht in Liebe, sondern eigentlich in der Warenzirkulation besteht, s. Paschukanis (2020) [1929], 100 [77]. 47 Beispielsweise die Sichtweise, dass Privatrecht der Effizienz dient, s. u. a. Eidenmüller (2005); Posner (2014). 48 Vgl. Kant (1990 [1797]), 350; Ripstein (2009), 9, 182 ff. 49 Vgl. Hegel (2017 [1821]), 92 [§ 34]. 44
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konstitutiv ist. Subjektive Rechte ermöglichen also den freien Willen des Rechtssubjekts, weil der Tatsache, dass ein Subjekt etwas will, durch das subjektive Recht erst Geltung verliehen wird.50 Aus dieser Grundbedingung ergibt sich die Willenstheorie, auf welcher größtenteils immer noch der vertragliche Erwerb und die vertragliche Veräußerung subjektiver Rechte beruht, und die deswegen zentrales Merkmal der privatrechtlichen Struktur ist.51 Sie ist aber nach Paschukanis auf Grund der abstrakten Beschaffenheit des Rechtssubjekts gar nicht wirklich an der natürlichen, menschlichen Fähigkeit zu wünschen oder zu handeln, interessiert. Der Wille des Rechtssubjekts, so Paschukanis, bezieht sich ausschließlich auf den Tauschakt auf dem Markt: Er manifestiere sich darin, dass das Subjekt „Warenbesitzer“52 sei und über die Waren im Wege der vertraglichen Aneignung und Veräußerung verfüge.53 Die formale Freiheit des Willens, verstanden als Willkür, wie sie vom Idealismus skandiert wird54, bedeute im bürgerlichen Recht nichts weiter als die Freiheit zur Transaktion, die Willkür zum Erwerben und Verfügen über Waren.55 So ist die Freiheit der Selbstbestimmung, die das Recht auf Eigentum bietet, eigentlich das Recht zum vertraglichen Tausch und Paschukanis Rechtslehre ist in Wirklichkeit eine Lehre des Vertragsrechts, denn „die Vertragsform ist die eigentliche Rechtsform“.56 Im Vertrag in Form des Austauschs von wertäquivalenten Gütern und Dienstleistungen gelangt für Paschukanis das Rechtssubjekt erst zu seiner vollkommenen Bestimmung, da der Vertrag das eigentlich privatrechtskonstituierende Merkmal ist. Das Rechtssubjekt könne sich erst im Tauschgeschäft in seiner ganzen Fülle entfalten und seine Freiheit realisieren.57 Auch dieses Vertragsverständnis steht in vielerlei Hinsicht im Einklang mit der Rechtsauffassung des Idealismus: Für Kant bildet der Vertrag eine wichtige, für Hegel sogar die zentrale Funktion von Privatrecht ab.58 Insbesondere in Hegels Konzeption des ‚abstrakten Rechts’ aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts vervollständigen Verträge das Institut des Eigentums und sind somit die vollendete Einrichtung des Privatrechts. Das ergibt sich daraus, dass der Vertrag zwei unterschiedliche Willen vermittelt und die sonst isoliert voneinander agierenden Eigentümer:innen in eine
Vgl. Menke (2018 [2015]), 202. Dabei wird auch heute noch in der Privatrechtslehre darüber gestritten, ob für die Abgabe einer Willenserklärung der Wille des Erklärenden oder die nach außen sichtbare Erklärung relevant ist. Vgl. Flume (1972), Bd. 1: 54 ff.; de la Durantaye (2020), 30 ff. 52 Paschukanis (2020 [1929]), 117 [95]. 53 Vgl. ebd., 114 [92]. 54 Vgl. Kant (1990) [1797], 66 f. [230]; Hegel (2017 [1986]), 343 f. 55 Marx (2008 [1885]), Bd. 13: 157; Menke (2018 [2015]), 272. 56 Reich (1972), 197; Paschukanis (2020), 121 [100]. 57 Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 121 [100], 117 [95]. 58 Kant begründet aber – anders als Hegel – den Vertrag in der gleichen Weise wie das Eigentum: Statt eines Rechts an einem Ding (dingliche Rechte) ist der Vertrag das Recht, eine andere Person zu einer Handlung zu bestimmen, also ein „persönliches Recht“, Kant (1990 [1797]), 117 ff. [271 ff.]. Die Rechtfertigung des Eigentums ist damit dieselbe wie die Rechtfertigung des Vertrages. 50 51
Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?
Einheit treten lässt. Diese Einheit setzt die gegenseitige Anerkennung der Vertragsparteien als Eigentümer:innen der zu tauschenden Gegenstände voraus, welche im Vertrag schon immer angelegt ist, weil es sich um ein Moment der Verwirklichung von Freiheit handelt. Auf Grund dieser gegenseitigen Anerkennung können laut Hegel die Eigentümer:innen im Vertrag gerade mehr sein als nur abstrakte, isolierte Rechtspersönlichkeiten. Durch einen Vertrag kann die reine Beziehung der Rechtspersönlichkeit auf sich selbst und damit ihre Begrenztheit aufgehoben werden. Verlässt man das abstrakte Recht und tritt in den institutionalisierten Rahmen der Sittlichkeit ein, welcher auch die bürgerliche Gesellschaft umfasst, dient der Vertrag wiederum zur Bedürfnisbefriedigung der Bürger:innen auf dem Markt.59 Hier entwickelt sich die rein individuelle Freiheitssphäre des allgemeinen Rechtsprinzips zur Sphäre der kommunikativen Freiheit, in welcher die Subjekte unter den Bedingungen des kapitalistischen Marktes wechselseitig ihre egoistischen Interessen verfolgen können.60 Einerseits sieht Paschukanis in ähnlicher Weise den Vertrag als Schlüsselmoment des Privatrechts überhaupt an, da das Eigentum erst in Vermittlung durch den Vertrag eine Rolle spielt. Die Vertragsform habe in der bürgerlichen Gesellschaft ihre höchste Entfaltung erlangt, weil die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zur feudalen Welt einer Sklavenhaltergesellschaft auf den ersten Blick unabhängig von anderen Personen als freie Vertragspartner aufträten.61 Andererseits besteht für Paschukanis durch Verträge aber eine Abhängigkeit vom Markt, die das Rechtssubjekt entgegen Hegel gerade unfrei mache.62 Um Bedürfnisse der Rechtssubjekte zu befriedigen, müssten Waren oder die eigene Arbeitskraft im Wege der vertraglichen Einigung auf dem Markt zum Marktpreis verkauft werden. Es kann gesagt werden, dass Vertrag und Markt untrennbar zusammengehören, weil das Vertragsrecht den „Austausch von Äquivalenten“63 erfordert und der Markt den Maßstab für die Äquivalenz bietet. Ob eine Ware oder Dienstleistung ein Äquivalent darstellt, kann erst durch den Wert ermittelt werden, welcher auf dem Markt bestimmt wird. Der Marktpreis regiert somit den Wert einer Sache oder Dienstleistung. Zwar führt der vertragliche Äquivalententausch einen Ausgleich zwischen den Vertragsparteien herbei, dieser beruht aber auf den Gesetzen des Marktes.64 So löst sich für Paschukanis die konkrete Mannigfaltigkeit von Gütern und Dienstleistungen in dem Begriff des Wertes auf, wie sich auch die konkrete
Vgl. Hegel (2017 [1986]), 156 f. [§ 73], 155 f. [§ 71], 93 [§ 35], 346 ff. [§ 189 ff.]. Vgl. Honneth (2001), 19. Vgl. Reich (1972), 197; Ripstein (1999), 252. Es lässt sich hinterfragen, ob außerhalb der Sphäre der individuellen Freiheit eine Freiheitsdimension denkbar ist, die Transaktionen auf dem Markt zu moralischen, bzw. sittlichen Bedingungen ermöglicht und damit über die reine Willkür der Rechtsperson hinausgeht. So können in der modernen Gesellschaft möglicherweise auch Märkte eine moralische Grundlage haben, s. Herzog/Honneth (2014 [2018]). 63 Paschukanis (2020 [1929]) 59 [35] mit Verweis auf Marx (1973 [1891]), 19. 64 Der vertragliche Austausch zum Marktpreis wird auch in der heutigen Vertragsrechtstheorie als Grundpfeiler von Verträgen beleuchtet, s. Benson (2001), 185 ff.; ders. (2019), 413 ff.; Gordley, 1587 ff. 59 60 61 62
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Mannigfaltigkeit von Individuen in dem Begriff des Rechtssubjekts auflöst.65 Der Wert eines Gutes korrespondiere mit seiner Profitabilität, weswegen sich das Subjekt stets an die Profitabilität der eigenen Ware und Leistung anpassen müsse und damit reduziert sei auf seine Aktivitäten auf dem Markt.66 Die bereits untersuchten gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Rechtsverhältnissen zugrunde liegen, nähmen als Produktionsverhältnisse auf dem Markt eine dingliche Form an und das sei die Form des Wertes. Auch das Rechtsverhältnis sei somit begrenzt auf das Verhältnis von Waren. Dies führe dazu, dass in einem Rechtsverhältnis das Subjekt ausschließlich dadurch bestimmt wird, dass es einem Ding – der Ware – gegenübergestellt wird. Damit gehe zugleich auch die Vereinzelung des Rechtssubjekts, die Isolation von jeglichem Gemeinwesen in der bürgerlichen Gesellschaft einher. So symbolisiert für Paschukanis das subjektive Recht schließlich das Pendant zum Marx’schen Warenfetisch: Es ist der Rechtsfetisch.67 Wenn das Recht und alle seine Momente – auch die Willenstheorie – auf die Durchführung von Tauschgeschäften gerichtet sei, so wird an diesem Punkt erkennbar, warum die Rechtsform wesentlich in der sogenannten Warenform bestehen soll. Die Pointe des Angriffs auf die dem Privatrecht zugrundeliegenden Willenstheorie ist zu zeigen, dass ihre Auswirkungen verantwortlich für die dem bürgerlichen Recht zugrundliegende Ungleichheit sind: Weil subjektive Rechte logisch als auch zeitlich vor der objektiven Rechtsordnung existierten, schützt die objektive Rechtsordnung subjektive Rechte, wie sie sie vorgefunden hat und das heißt, wie sie auf Grund von bloßer Willensausübung erlangt wurden. Der Wille steht stellvertretend für die Macht des einzelnen Subjekts, „zu erringen und zu erzwingen“68. Das Rechtssubjekt, dessen Wille in den subjektiven Rechten zur Geltung gebracht wird, ist zugleich das Subjekt der Herrschaftsausübung. Weil das subjektive Recht aus der Freiheit des Subjekts geboren wird, ist es zugleich auch ein Recht der Herrschaft, ein Recht der oder des Stärkeren und somit der herrschenden Klasse.69 Die Willenstheorie als Kernaspekt des Privatrechts kann somit auch die Herrschaft durch Recht sowie die damit verbundene, der Rechtsform inhärente Ungleichheit in der Ressourcenverteilung erklären. 3.
Nutzen der Rechtsformanalyse und Zusammenfassung
Was Paschukanis in diesen Passagen der Allgemeinen Rechtslehre vorbereitet, ist der Grund, warum die Rechtsform notwendigerweise „absterben“ muss, um eine Gesellschaftsordnung abseits der bürgerlichen Gesellschaft zu erschaffen: Für ihn ist kein
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Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 111 [89 f.]. Vgl. Ripstein (2020 [1929]), S. 252 f. Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 84 [60], S. 117 [96], 58 [33 f.]; s. auch Hegel (2017 [1821]), 388 [§ 243]. Ebd., 116 [95]. Vgl. Marx (2008 [1885]), Bd. 13: 620; s. auch Menke (2018 [2015]), 268; Fuller (1949), 1164.
Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?
Recht denkbar, das nicht bürgerlich ist, weil Recht stets in der Rechtsform der bürgerlichen Gesellschaft besteht. Ebenso sei es eine Fehleinschätzung, dass Recht als sozialistisches Recht eine adäquate Alternative darstellen oder überhaupt verschieden von bürgerlich-kapitalistischem Recht sein könne.70 Deswegen müsse Recht insgesamt ersetzt werden durch eine technische Form autoritativer Kontrolle. Mit dem Absterben der Rechtsform sterbe aber auch der bürgerliche Staat.71 Was bei Paschukanis bleibt, ist die kommunistische Gesellschaft. Gerade den letzten Punkt musste er bei Ausarbeitung der sowjetischen Verfassung von 1936 unter stalinistischem Einfluss widerrufen, da der stalinistische Machtapparat, der durch staatliche Kontrolle und Repression seine Macht sicherte, freilich die These vom Absterben des Staates nicht akzeptieren konnte. Worin Paschukanis’ Analyse zuzustimmen ist, ist die Kennzeichnung der Sphäre des Privatrechts – und damit der Rechtsform überhaupt – als eigenständige Sphäre der bürgerlichen Werte von formaler Freiheit und abstrakter Gleichheit. Sein Anliegen geht treffenderweise dahin, das Recht als eine historisch vom öffentlichen Recht und damit von der Politik getrennte, eigenständige Form aufzufassen, welches als Privatrecht durch seine eigenen Begriffe beschrieben werden kann.72 Indem die marxistische Theorie die gesellschaftlichen Verhältnisse – und damit auch das Recht – historisch betrachtet, ist für Paschukanis offenbar, dass das Privatrecht das historisch erste Recht ist und damit die allgemeinen Institute und Kategorien des Rechts geprägt hat. In diesem Vorhaben zeitigt seine juridische Analyse Parallelen zu aktuellen, philosophisch basierten Erklärungsversuchen in der Privatrechtstheorie, die eine überzeugende Alternative zur instrumentalistischen, das heißt an einem extrinsischen Zweck orientierten Rekonstruktion von Privatrecht anbieten. Freilich geht Paschukanis’ Rechtskritik über die bloße Deutung von Recht hinaus, da die Erkenntnis, dass das Recht nur so ist und nicht anders sein kann, für ihn notwendigerweise dessen Vernichtung bedeutet. Neben diesem basalen Unterfangen buchstabiert Paschukanis die marxistische Warenformanalyse als Rechtsformanalyse aus. Weil die Rechtsform in ihrer entfalteten Gestalt dem bürgerlichen Recht als System subjektiver Rechte entspricht, ist sie auf den warenförmigen Tausch auf dem Markt reduziert. Das moderne Recht der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist der Höhepunkt einer jahrhundertelangen Rechtsentwicklung, weil es durch die zunehmende Verrechtlichung der Lebensverhältnisse gekennzeichnet ist: Indem mit der Begründung des Menschen als freie Person die Arbeiter:innen nicht mehr einem Herrn gehörten, trugen sie ihre Arbeitskraft zwecks Bedürfnisbefriedigung zu Markte. Dieser Vorgang verlangte nach der rechtlichen Form des Vertrages und mit der Freiheit aller Menschen als Loslösung vom Feudalismus wuchs sodann das Bedürfnis nach rechtlicher Regelung. Die Freiheit führt aber zu Ver70 71 72
Vgl. Fuller (1949), 1163. Vgl. Paschukanis (2020 [1929]), 109 [87]. Vgl. Bayer (2021), 150.
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einzelung. Stellvertretend für diese Vereinzelung lässt sich die Figur des subjektiven Rechts identifizieren, welches „die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen“73 schafft. Die Rechtsform und alle ihre Kategorien bedingen damit die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform; die Rechtsform ist an die bürgerliche Gesellschaft, an das Bestehen einer Waren- und Geldzirkulation geknüpft.74 Trotz Paschukanis’ treffenden Beobachtungen zur Natur des bürgerlichen Rechts ist die Konsequenz des Absterbens des gesamten Rechts keine wünschenswerte Zukunftsvision. Es bedarf des Rechts gerade als Schutzmechanismus, um beispielsweise Minderheiten zu schützen, denn so, wie das subjektive Recht eine persönliche Herrschaftssphäre bietet, bietet es auch eine Sphäre der persönlichen Freiheit und Unverletzlichkeit gegenüber anderen.75 Die Konsequenzen des Fehlens solcher Rechte auch gegen den Staat hat Paschukanis auf tragische Weise am eigenen Leib erfahren.76 Allerdings hilft uns seine Analyse der Rechtsform heute in zweierlei Hinsicht: Einerseits bietet sie die richtige Explikation des Wesens von Privatrecht und der Rechtsform allgemein, indem gezeigt wird, dass auf der idealistischen Idee von Freiheit und Gleichheit der Person unsere bürgerliche Rechtsordnung beruht, andererseits wird erhellt, warum wir auf Grund der Struktur der Rechtsform immer noch in einer Gesellschaft leben, die von Ungleichheit geprägt ist. Denn die Idee der individuellen Freiheit und der formalen Gleichheit der Rechtssubjekte als Grundidee des bürgerlichen Rechts führt zu wirtschaftlichen Asymmetrien und Imparitäten, die sich heutzutage im Willensdogma der bürgerlichen Rechtsgeschäftslehre manifestieren. Dieses Defizit wird von der heutigen Vertragsrechtstheorie durchaus diagnostiziert und kritisiert.77 Statt des Absterbens der gesamten Rechtsform wird zur Abmilderung der Formalität des Willensdogmas die so genannte Materialisierung des Vertragsrechts etabliert: Die strukturellen Ungleichgewichtslagen, die zwischen Vertragsparteien auf Grund ihres Status natürlicherweise vorliegen und von dem formalen Gleichheitsbegriff des bürgerlichen Rechts nicht berücksichtigt werden, sollen durch die Einführung von Schutzvorschriften wie verbraucherschützenden Normen abgefedert werden.78 Für Paschukanis wäre das Vorgehen, die der Rechtsform inhärente Ungerechtigkeit zu beseitigen, freilich fruchtlos, weil der Versuch, einen Teilbereich der Rechtsform von außen zu verändern, ohne aber ihre innere Struktur anzutasten, die dem Recht inhärente Ungleichheit nicht beseitigen kann. Ein solcher Einwand gegen die MateMarx, (1844), 203; Menke (2018), 7. Vgl. Reich (1972), 198. Diese Dimension ist für Paschukanis’ Vorstellung einer perfekten Gesellschaft ohne Recht vermutlich nicht relevant, weil es in ihr keine Ressourcenknappheit gibt und daher interpersonale Konflikte ökonomisch und nicht juristisch gelöst werden, s. Ripstein (1999), 255 f. 76 Vgl. Bayer (2021), 25 ff. 77 Vgl. Canaris (2000), 273 ff. 78 Vgl. ebd. 73 74 75
Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?
rialisierungstendenz sollte ernst genommen werden, da er offenlegt, dass eine wirksame Reformierung der Rechtgeschäftslehre des bürgerlichen Rechts erst die der Rechtsform zugrundeliegenden Paradigmen hinterfragen muss. Indem beispielsweise verbraucherschützende Normen in das bestehende bürgerliche Recht eingepflegt werden, wird die eigentliche Quelle der bürgerlich-rechtlichen Asymmetrie weiterhin vernachlässigt und übersehen. Diese liegt in der Vorstellung von Freiheit und Gleichheit als formale und abstrakte Dimensionen, auf denen unsere heutige bürgerliche Rechtsordnung immer noch beruht. Unbeantwortet bleibt hier die sich daran anschließende Frage, wie eine Privatrechtsordnung aussehen könnte, welche die Unterschiede in den Ausgangspositionen ihrer Rechtssubjekte ernst nimmt und gleichzeitig einen freien Austausch von Gütern zur Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Fest steht, dass Paschukanis mit seiner Vision einer Gesellschaft ohne die Form des bürgerlichen Rechts – und damit ohne Recht überhaupt – in der Sowjetunion unter stalinistischem Einfluss nicht durchgedrungen ist. Indem er diese Vision aber theoretisch erprobt hat, liefert er eine präzise und richtige Analyse des bürgerlichen Rechts, die in aktuellen rechtstheoretischen Debatten sowohl über das Verhältnis von öffentlichem Recht, Politik und Privatrecht als auch über die Form von Privatrecht beachtet werden sollte, weil sie das Wesen dessen treffend expliziert. Es handelt sich bei Paschukanis Programm daher um eine Rechtskritik, welche die innere Logik von Recht versucht zu begreifen, aber nicht, um das Recht der bürgerlichen Gesellschaft zu reformieren, sondern um es im Ganzen zugunsten einer neuen Gesellschaft ohne Recht zu destruieren. Literaturverzeichnis
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Sozialistische Rechtstheorie ohne sozialistisches Recht?
Weinrib, Ernest (2015): Corrective Justice. Oxford: Oxford University Press. Wieacker, Franz (1974): Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung. Frankfurt a. M.: Athenäum-Verlag. Judith Hantel studierte Philosophie, VWL und Rechtswissenschaften in Freiburg und
Berlin. Sie war Mitglied im Promotionskolleg ‚Gerechtigkeit durch Tarifvertrag’ der HansBöckler-Stiftung und schreibt ihre Promotion im Bereich der Vertragsrechtstheorie des BGB. Seit Mai 2022 ist sie Rechtreferendarin am Kammergericht Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Rechtstheorie und -philosophie sowie im kollektiven Arbeitsrecht.
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II. Aktualisierungsbestrebungen und Herausforderungen
Gesellschaftsnahe Rechtskritik?* Von der materialistischen Theorie zur kritischen Praxis der Rechtsphilosophie
DARIA BAYER
Possibilities of Materialistic Legal Theory Close to Society Can there be a Critical Practice of Legal Philosophy? Abstract: The materialistic critique of law inspired by Karl Marx is currently en vogue, especially
within young scholars of legal philosophy. However, there is a discrepancy between the content of the demands made by critical texts and the form in which these demands are presented: The texts call for processes of transformation initiated by responsible citizens. Yet, these demands are dressed up in abstract terms not necessarily accessible to every responsible citizen. This article argues for understanding the critical theory of law also as an aesthetic practice close to society. The article concludes with an invitation to search for new forms and media in order to establish a critical practice of legal philosophy. Keywords: Aesthetics, Bertolt Brecht, Critique of Rights, Epic theater, Karl Marx, Law and Literature, Tragedy of Law Schlagworte: Ästhetik, Bertolt Brecht, Kritik der Rechte, episches Theater, Karl Marx, Recht und Literatur, Tragödie des Rechts
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Ich danke Simon Kneip für konstruktive Anmerkungen.
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Daria Bayer
1. Einleitung
CHOR DER PROFESSOREN Ein bess’res Leben, eine gerechtere Welt Ist der Wunsch, der uns zusammenhält. Doch fraglich ist: Wie wird er echt? Das Recht stirbt ab. Es lebt das Recht.1
Dies ist der Epilog meines Stücks Tragödie des Rechts über die Aktualität der materialistischen Rechtskritik.2 Rechtskritik im Anschluss an den historisch-dialektischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels ist zurzeit, gerade unter jüngeren Rechtsphilosoph:innen, wieder en vogue. Dies zeigt nicht nur diese Tagung, sondern auch die zunehmende Existenz von Marx-Lesekreisen oder der anhaltende Diskurs um Christoph Menkes Kritik der Rechte.3 Ziel der materialistischen Rechtskritik ist es, die sich hinter den rechtlichen Begriffen verbergenden strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar zu machen.4 Sie begreift das Recht als ein Machtinstrument, das unsere kapitalistische Gesellschaft zentral steuert. Dabei wird insbesondere die Abstraktheit der rechtlichen Begriffe, die nur Eingeweihte verstehen, und die Absolutheit des juristischen Denkens, das immer mehr Lebensbereiche umfasst, kritisiert. Teilweise rufen Texte der materialistischen Rechtskritik zu radikalen Gegenmaßnahmen auf: „Revolution des Rechts im Recht“5, „radikale Rechtskritik“6, „offensiv-hegemoniales Projekt“7. Diese Forderungen richten sich, zumindest ihrem Inhalt nach, gerade nicht nur an andere Rechtsphilosoph:innen, sondern an alle „mündigen Bürger und Bürgerinnen“.8 Auffällig ist aber, dass diese Texte selbst die Form von klassischen (rechts-)wissenschaftlichen Texten nicht verlassen und ihre Wirkung besonders in akademischen Diskursen entfalten. Es stellt sich daher die Frage, wie materialistische Rechtskritik, die auf reale gesellschaftliche Veränderung ohne gewaltvolle Revolution zielt, darüber hinaus auch einen praktischen Anwendungsbereich finden kann. Ich möchte im Folgenden anhand des Beispiels meines Theaterstücks Tragödie des Rechts eine Möglichkeit aufzeigen, wie eine solche Praxis der materialistischen Kritik
Bayer, (2021), 61. Bayer (2021); Uraufführung am 29. Mai 2019 im Hamburger Sprechwerk, https://www.kollektivimfenster. com/jewgenij, zuletzt abgerufen am 16.02.2023. 3 Etwa Hilgendorf/Zabel (Hg.) (2021); Buckel (2017); Zabel (2017); besonders kritisch Denninger (2018). 4 Bayer (2021), 20 ff. 5 Menke (2018), 387 ff. 6 Fischer-Lescano (2014). 7 Buckel (2017), 474. 8 Buckel (2015), 9. 1 2
Gesellschaftsnahe Rechtskritik?
des Rechts im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Dabei werde ich zunächst kurz beleuchten, was materialistische Rechtskritik ist und warum sie auch heute noch eine gesellschaftliche Funktion besitzt. In einem zweiten Schritt werde ich mich fragen, wie sie diese Funktion erfüllen kann. Hierzu werde ich mich maßgeblich auf das Medium des epischen Theaters in der Tradition von Bertolt Brecht stützen. Allerdings möchte ich betonen, dass das Theater zwar aufgrund seiner Form und seiner Mittel ein geeignetes, aber nicht das einzig denkbare Medium ist, gesellschaftsnahe Rechtskritik zu betreiben. Schließen möchte ich deshalb mit einigen Überlegungen, wie sich eine eigenständige Praxis der materialistischen Rechtskritik über das Theater hinaus etablieren ließe. 2.
Gesellschaftliche Rolle der materialistischen Rechtskritik
Was ist materialistische Rechtskritik? Hierunter zähle ich aktuell insbesondere zwei Stränge: die kritische Systemtheorie von Sonja Buckel9 und Andreas Fischer-Lescano10 sowie die ästhetische Rechtskritik von Christoph Menke.11 Beide Stränge eint, dass sie Rechtskritik im Anschluss an Karl Marx’ Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und Jewgenij Paschukanis’ Rechtsformanalyse12 als eine grundlegende Kritik der Form des Rechts als solche verstehen.13 Es geht ihnen nicht um die Kritik an einzelnen Normen oder Praktiken des Rechts, also nicht um eine Kritik des Inhalts des Rechts, sondern um die kritische Betrachtung von Sinn und Zweck der Form des Rechts als solcher im Zusammenhang mit einem gewissen Produktionssystem, nämlich dem Kapitalismus.14 Die grundlegende Betrachtung der Form des Rechts aus materialistischer Perspektive stellt folgende Fragen: Was bedeutet es eigentlich, dass eine Gesellschaft durch Recht – und nicht etwa durch andere Regelungsmechanismen wie ein Social Credit System15 – organisiert ist? Sind im Recht wirklich alle gleich oder verschleiert der Gleichheitssatz des Rechts nur die faktisch existierenden Ungleichheiten zwischen den Menschen? Gibt es (gerechtere) Alternativen zur bestehenden Praxis der gesellschaftlichen Organisation durch Recht?
9 Buckel (2015). 10 Amstutz/Fischer-Lescano (Hg) (2013); wobei Fischer-Lescano auch ästhetische Rechtskritik betreibt,
s. Fischer-Lescano (2014). 11 Menke (2011); Menke (2015); Menke (2018). 12 Paschukanis (1970[1924]). 13 Zu anderen möglichen Verständnissen einer Kritik des Rechts vgl. das Interview mit Felix Hanschmann, Inhaber des neugegründeten Lehrstuhls für Kritik des Rechts an der Bucerius Law School, https://www.youtube.com/watch?v=PnDPg1G-Ehc (Stand 07.07.2022). 14 Hierzu ausführlich Bayer (2021), 100 ff. 15 Hierzu instruktiv Abraham (2020).
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Daria Bayer
2.1
Ausgangspunkt: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus
Diese Fragen bringt Jewgenij Paschukanis in seinem 1924 erschienenen Hauptwerk Allgemeine Rechtslehre und Marxismus16 auf den Punkt. Das knapp 150-seitige Buch bildet bis heute den Ausgangspunkt einer systematischem Rechtskritik aus materialistischer Perspektive, weil es die fragmentarischen Thesen von Karl Marx und Friedrich Engels zum Recht zum ersten Mal in einem Buch (wenn auch nicht widerspruchsfrei) darzustellen versucht.17 Paschukanis stellt, in Analogie zu Marx’ Warenformanalyse, eine Kritik der Form des Rechts an sich18 auf, das er als Herrschaftsform demaskiert. Er folgt damit methodisch den Arbeiten von Marx und Engels, die nicht den Inhalt einzelner Normen, sondern die Form an sich, in denen die Gesellschaft organisiert ist, kritisieren. Paschukanis stellt heraus, dass die Form des Rechts als solche eng mit einem egoistischen Denken in Ansprüchen („Das ist meins!“ „Das steht mir zu!“) und einer warentauschorientierten Marktwirtschaft verbunden ist. Recht ist das notwendige Instrument, durch das sich die warentauschenden, in der Realität sehr ungleichen Subjekte als gleiche anerkennen (bzw. so tun müssen, als würden sie sich anerkennen)19 und damit Waren nach dem Äquivalenzprinzip tauschen können. Dabei folgt aus dieser formalen Anerkennung keineswegs reale Anerkennung: Vielmehr verschleiert die formale Gleichheit im Recht die tatsächliche Ungleichheit der Subjekte in einem kapitalistischen Produktionssystem. Zudem ist das Recht derart kompliziert geworden, dass die „Durchschnittsmenschen“ die rechtlichen Abstraktionen, die ihr Zusammenleben zentral steuern, kaum mehr verstehen können, wenn sie sie nicht jahrelang studiert haben. Die Kenntnis der Sprache des Rechts, die Möglichkeit, mit seinen Abstraktionen zu arbeiten und sich die Form des Rechts zunutze zu machen, verleiht daher Macht – und lädt damit zugleich zum Missbrauch ein.20 Paschukanis (1970 [1924]). Bung (2018), 41; dabei bleibt Paschukanis’ Buch, wie er selbst in seinen Vorwörtern klarstellt, voller Ambivalenzen und soll nur einen ersten Versuch, einen Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Kritik des Rechts aus materialistischer Perspektive darstellen, vgl. Paschukanis (1970), 8 f.; ab der zweiten Auflage fügt Paschukanis seinem Buch daher auch den Untertitel Versuch einer Kritik der grundlegenden juristischen Grundbegriffe hinzu, Sharlet (1968, 42 f.); die folgende Rekonstruktion von Paschukanis’ Buch beruht auf Bayer (2021), 75 ff. m. w. N. 18 Im Vergleich zu seinen Kollegen (es waren tatsächlich nur Männer) wie etwa Peteris Stutschka ging es Paschukanis gerade darum, eine Kritik der Form des Rechts als solche aufzustellen, nicht nur um eine Kritik des bürgerlichen Rechts (auch wenn sich natürlich berechtigter Weise fragen lässt, ob Paschukanis damit nicht den Rechtsbegriff auf das bürgerliche (Zivil-)Recht verengt, hierzu Bayer (2021), 106 ff. m. w. N). Das Besondere an Paschukanis’ Analyse ist aber gerade, dass er zu dem Schluss kommt, dass es kein proletarisches Recht mehr geben kann, dass die Rückführung der rechtlichen Kategorien auf ihren materiellen Ursprung den untrennbaren Zusammenhang von Rechts- und Warenform offenbart und daher zum „Tod der Rechtsform im Kommunismus“ führt, Paschukanis (1970), 80. 19 Zu den drei vernachlässigten Kapiteln von Paschukanis’ Buch („Recht und Staat“, „Recht und Sittlichkeit“ und „Recht und Rechtsbruch“) vgl. Bayer (2022). 20 Um diesem Missbrauch vorzubeugen, forderte Lenin: Das Recht sollte derart vereinfacht werden, dass jede:r „nach dem revolutionären Gerechtigkeitssinn der arbeitenden Klasse“ Richter:in sein könnte, s. Beirne/Hunt (1990), 74. 16 17
Gesellschaftsnahe Rechtskritik?
Paschukanis fordert aus diesen Gründen eine Überwindung von Staat und Recht und damit eine Überwindung jeder Form von Herrschaft. Er stellt im Anschluss an Lenin heraus, dass auch die Demokratie eine Form von Herrschaft ist und daher auch die „vollkommenste Demokratie“ in der Utopie einer vollentwickelten kommunistischen Gesellschaft „absterben“ muss.21 In einem vollentwickelten Kommunismus darf es, so Paschukanis, überhaupt keine Herrschaftsformen mehr geben. Deshalb solle an die Stelle des Rechts – worunter Paschukanis maßgeblich das Institut22 subjektiver Vermögensrechte und die Strafgewalt des Staates versteht –23 die sogenannte technische Regel treten, die wir bereits heute in Teilen des besonderen Verwaltungsrechts finden können. Die technische Regel basiert, im Unterschied zum Recht, nicht auf dem Prinzip des egoistischen Interesses, sondern auf dem Prinzip der kollektiven Zweckmäßigkeit. In der kommunistischen Utopie wären damit Recht und staatliches Strafen vollkommen überwunden, weil es keinen durch Gerichte zu lösenden Widerspruch mehr zwischen individuellem und kollektivem Interesse mehr geben würde. Diesen Gedanken formuliert Paschukanis prägnant durch seine berühmte These vom „Tod der Rechtsform“24 im Kommunismus. Dass sich diese Utopie in der Sowjetunion nicht realisiert hat, dass stattdessen ein Terrorsystem entstanden ist, dem Paschukanis schließlich selbst zum Opfer fällt, ist heute eine gesicherte Erkenntnis. Paschukanis’ Schicksal gilt deshalb auch unter westlichen Wissenschaftler:innen als „tragische[r] Ausdruck“ eines „angeblich fehlgeleiteten Utopismus“.25 Paschukanis, einst der „Komet am Rechtshimmel“26 der postrevolutionären Sowjetunion, muss ab 1929 mit dem Aufstieg Stalins zunehmend seine Thesen widerrufen. 1937 wird er verhaftet, in geheimer Gefangenschaft gehalten und schließlich prozesslos liquidiert. Paschukanis’ Buch wird für zwei Jahrzehnte verbannt, sein Name aus der Wissenschaftsgeschichte gestrichen und erst mit seiner Rehabilitierung 1956 wiederentdeckt.27
Lenin (1970 [1917]), 21. Ich verstehe „Institut“ hier als einen technischen Begriff, wie er vor allem in den Rechtswissenschaften verwendet wird. In der Philosophie wird aber teilweise auch von der „Institution“ subjektiver Rechte gesprochen. Der Begriff „Institution“ besitzt in der materialistischen Theorie nach Althusser (neben der ideologischen) auch eine strukturelle und verkörperte Komponente, weshalb ich sagen würde das „Institut subjektiver Rechte“ ist ein Teil der „Institution Staat“ und der ideologischen Staatsapparate (appareils idéologique de l’état). Das genaue Verhältnis der beiden Begriffe „Institut“ und „Institution“ zu klären wäre ein spannendes Unterfangen. 23 Zum „verkürzten Rechtsbegriff von Paschukanis“ s. ausführlich Bayer (2021), 106 ff. m. w. N. 24 Paschukanis (1970 [1924]), 81; zur Bedeutung der Rechtstodmetapher heute auch Bayer (2020) m. w. N. 25 Head (2008), 1: „Among Western legal scholars, one tragic expression of that supposed misguided Marxist utopianism is often said to be the plight of Pashukanis.“ 26 Reich (1972a), 155. 27 Hierzu im Einzelnen Bayer (2021), 210 ff. m. w. N. 21 22
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2.2
Darstellungsweise und Wissenschaftsklima
Das Buch von Paschukanis gilt bis heute als Anknüpfungspunkt für eine Kritik des Rechts aus materialistischer Perspektive.28 Woran liegt das? Grund hierfür ist nicht nur der Inhalt des Buches und die darin aufgestellten Thesen, sondern auch die Art und Weise, in der das Buch geschrieben ist. Der Text ist – für ein wissenschaftliches Buch, das die Form der wissenschaftlichen Darstellung nicht verlässt – relativ lebendig und unterhaltsam geschrieben. Dies liegt unter anderem daran, dass das Buch aus einem Vortrag entstanden ist, den Paschukanis 1923 vor der Sozialistischen Akademie der Geisteswissenschaften in Moskau hielt.29 Es handelte sich um einen Werkstattbericht aus Paschukanis’ Erkenntnissen, die er unter anderem als juristischer Berater des Vertreters der UdSSR in Berlin gewonnen hatte.30 Die Genese des Texts erklärt auch, warum die einzelnen Kapitel assoziativ und sprunghaft aufeinander folgen und wieso im Text immer wieder polemische Spitzen gegen seine Kollegen31 auftauchen.32 Gerade dieser letzte Punkt ist in Bezug auf die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz einer materialistischen Rechtskritik interessant: Denn die Polemik, die Paschukanis’ Text enthält, spiegelt nicht nur das Wissenschaftsklima der Zeit wieder. Sie ist auch Ausdruck der Tatsache, dass es – nach den Revolutionen von 1917 – eine unmittelbare gesellschaftliche Notwendigkeit im postrevolutionären Russland gab, einen großangelegten Diskurs über die Grundfragen des Rechts zu führen. Zwar war mit den Revolutionen von 1917 das alte System abgeschafft, allerdings war vollkommen unklar, was auf dieses alte System folgen sollte. Es fehlte der theoretische Unterbau, auf dem ein neues, postrevolutionäres System gegründet werden konnte. Paschukanis und seine Kollegen33 standen vor einer tabula rasa, die ihnen zumindest in den ersten Jahren eine
Bezeichnend hierfür auch der Beitrag von Judith Hantel zu Paschukanis’ Rechtsformanalyse, S. 237 ff. in diesem Heft. 29 Hierzu Melkevik (2010), 18 f. 30 S. Walloschke (2003). 31 S. Fn. 18. 32 Etwa Paschukanis (1970 [1924]), 48 f.; s. auch die Verarbeitung in Bayer (2021), 35 f.: JEGWENIJ „Ich beschäftige mich zurzeit viel mit der Frage, wie Staat und Recht unsere Beziehungen beeinflussen. Ich habe natürlich Ihre Texte hierzu gelesen, und da ist mir Folgendes aufgefallen: An einer Stelle folgen Sie in diesem Punkt Lew Petratschitzkij, der den Staat als einen rein psychologischen Prozess betrachtet, das heißt, der Staat soll in eine Reihe imperativ-attributiver Emotionen und subjektiver Erlebnisse zerfallen; und an anderer Stelle schreiben Sie genau das Gegenteil, indem Sie nämlich den Staat mit Hans Kelsens formal-abstrakter Rechtslehre als eine über den Kausalgesetzen stehende und damit objektive Idee betrachten.“ / MICHAIL „Und?“ / JEWGENIJ „Entschuldigen Sie, Professor Reissner, aber das ist ein Widerspruch! Und dieser ist durchaus nicht dialektischer Art!“ / MICHAIL „Mein Freund, die Antwort ist ganz einfach: Es ist die Art Ihrer Frage, die diesen Widerspruch kreiert. Staat und Recht sind ideologische Phänomene und Ideologie ist, per definitionem, immer subjektiv.“ / JEWGENIJ „Es lässt sich aber objektiv feststellen, dass der Mensch essen muss. Oder nicht? […]“. 33 S. Fn. 18. 28
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große Freiheit im Denken ermöglichte.34 Deshalb hatte materialistische Rechtskritik im postrevolutionären Russland nicht nur eine theoretische oder negative Funktion, sondern eine praktische und positive – aus der Kritik musste selbst ein neues System entstehen. Rechtskritik war damals also unmittelbar gesellschaftsrelevant. Allerdings begingen die russischen Rechtstheoretiker35 der Zeit bekanntlich den fatalen Fehler, abgekoppelt von der Realität der Arbeiter:innen, in deren Namen sie eine Revolution anstrebten, zu leben. Viele damalige Wissenschaftler:innen, so auch Paschukanis, waren in den Jahren vor der Revolution im Exil gewesen und kehrten erst nach der Revolution nach Russland zurück. Ihre Ideen und Visionen formierten sie hauptsächlich im Austausch mit Gleichgesinnten, ohne die Arbeiter:innen genügend einzubeziehen.36 Die Diskurse spielten sich vor allem in der russischen Intelligenzija, der gebildeten Oberschicht, ab, die allerdings nur einen winzigen Bruchteil der russischen Gesellschaft darstellte. Das war eines der zentralen Gründungsprobleme der sowjetischen Rechtstheorie. Es könnte auch heute noch ein Problem sein, mit dem materialistische Rechtstheoretiker:innen, die sich ihrerseits hauptsächlich in einem rein akademischen Umfeld bewegen, zu kämpfen haben. Die erste berechtigte Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob es überhaupt das Anliegen einer materialistischen Rechtskritik im 21. Jahrhundert ist, in die Praxis überzugehen. Durch das Sozialstaatsprinzip sind viele Forderungen der Arbeiter:innenbewegung bereits in das bestehende System inkorporiert worden.37 Es ist durchaus denkbar, dass die Rolle der Rechtskritik, die vor allem in akademischen Diskursen zirkuliert, sich heute allein im Aufzeigen von Defiziten der herkömmlichen Theorien und Praktiken erschöpft, dass sie sich nur an andere „Eingeweihte“ richtet und selbst gar keine eigenständige Praxis besitzen will. Ich denke aber nicht, dass dies das Ziel einer Rechtskritik in der Tradition von Karl Marx sein kann, auch im 21. Jahrhundert nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn sie, wie bei Buckel und Menke, kämpferisch eine „Revolution des Rechts“ oder ein „gegenhegemoniales Projekt“ fordert. Eine solche Forderung setzt, soll sie ohne Gewalt und basisdemokratisch erfolgen, die Möglichkeit zur eigenen Reflexion über die bestehenden Verhältnisse durch mündige Bürger:innen voraus. Entsprechend verstricken sich Texte, die radikale Veränderungsforderungen aufstellen, zu ihrem erklärten Ziel in einen Widerspruch, wenn sie eine Form wählen, die dieses Ziel gar nicht erreichen kann. Das Head (2008), 1: „One reason for the lasting interest [in Pashukanis work] is that the Soviet Revolution of 1917 marked the first attempt internationally (apart from the short-lived and localised1871 Paris Commune) to fundamentally reorganise economic, social and legal life along anticapitalist, participatory and egalitarian lines.“ 35 S. Fn. 18. 36 Hedeler (2003), VII.; dies versucht die „Bohème“-Szene im I. Akt zu illustrieren, s. Bayer (2021), 33. 37 Menke (2017), 295. 34
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ist, wie Paschukanis selbst an einer Stelle seines Buches schreibt, ein „logischer, kein dialektischer“ Widerspruch.38 2.3 Zwischenfazit
Kritik des Rechts und der Versuch, eine Praxis dieser Kritik zu entwickeln, hingen in Paschukanis’ Werk untrennbar miteinander zusammen. Das lag maßgeblich daran, dass es in der frühen Sowjetunion ein konkretes Bedürfnis nach einer gelebten Praxis, einer Alternative zum Recht gab, weil das (vorher bestehende, bürgerliche) Recht nach der offiziellen politischen Leitlinie abgeschafft war.39 Und zweitens, dass Paschukanis’ Text sich, aufgrund seiner unterhaltsamen und zugänglichen Darstellungsweise, gerade bei der Jugend großer Beliebtheit erfreute40 (und noch bis heute erfreut, wie studentische Lesekreise zeigen). Was lässt sich daraus für eine an Marx und Paschukanis anknüpfende Rechtskritik im 21. Jahrhundert folgern? Besteht heute, angesichts des Sozialstaates, der die Kritik des Rechts erfolgreich inkorporiert hat,41 überhaupt noch ein Bedürfnis nach einer Praxis der Rechtskritik? Kann eine materialistische Rechtskritik heute überhaupt noch ernsthaft die reale Veränderung des Rechts wollen? Würden ihre Vertreter:innen damit nicht ihre eigenen Stellen und ihre Existenzberechtigung abschaffen? Denn würde es eine solche reale Veränderung des Rechts und seiner Wissenschaft geben, würde das Recht tatsächlich ein basisdemokratisches Medium werden oder sich sogar Schritt für Schritt aus den menschlichen Beziehungen zurückziehen, könnte die Kritik des Rechts gegenstandslos werden; jedenfalls dann, wenn man Rechtskritik gerade als Gegenpol zum bestehenden System der Rechte begreift. Zudem besteht auch Einigkeit darin, dass einige zentrale Funktionen des Rechts wie die Schutzfunktion der subjektiven Rechte gegen einen totalen Zugriff des Kollektivs bislang alternativlos sind.42 Welcher praktische Anwendungsspielraum verbleibt dann aber überhaupt noch für eine materialistische Rechtskritik, die auf reale Veränderung abzielt?
Paschukanis (1970 [1924]), 48 f.; s. auch die Verarbeitung in Bayer (2021), 33. In der Realität war das natürlich nicht so, wie die Wiedereinführung der NÖP zeigte, s. hierzu ausführlich Reich (1972b). 40 Pashukanis (1951), 253. 41 Menke (2017), 295. 42 Paschukanis sollte die Verkennung dieser Schutzfunktion in tragischer Weise am eigenen Leib zu spüren bekommen, vgl. Head (2008), 1. 38 39
Gesellschaftsnahe Rechtskritik?
3.
Ein Beispiel: Tragödie des Rechts
Als ein mögliches Beispiel, einen solchen praktischen Anwendungsbereich der Rechtskritik als eigenständige Praxis zu etablieren, möchte ich kurz mein Stück Tragödie des Rechts vorstellen.43 Leider kann ich an dieser Stelle das Stück nicht zeigen, sondern nur auf es verweisen, und verstricke mich damit selbst in den Widerspruch, dass die Form meiner Darstellung hier (Text in einem Tagungsband) nicht dem Inhalt meiner Forderung (gesellschaftsnahe Rechtskritik) entspricht. Ich führe zu meiner Verteidigung an, dass sich dieser Text tatsächlich nur an Eingeweihte – nämlich aktuelle und potenzielle Mitglieder des JFR – richtet. 3.1
Inhalt und Aufbau
Trotzdem möchte ich, um eine Idee des Stücks zu vermitteln, kurz den Inhalt und den Aufbau des Stücks zusammenfassen. Es beginnt im Jahr 1937 mit der Verhaftung von Jewgenij Paschukanis. Paschukanis, sieben Monate in einem Keller des sowjetischen Innenministeriums in Kiew gefangen gehalten, reflektiert in der Zeit der Haft seine eigene Rolle beim Aufbau des Stalinistischen Systems. Er wird aufgrund der Haftbedingungen, die wahrscheinlich mit regelmäßiger Folter verbunden waren, mürbe, gesteht schließlich und beginnt, ernsthaft an der Richtigkeit seines eigenen Handelns zu zweifeln. Das Stück stellt sich den Prozess vor, den Paschukanis nie hatte und der also nur in seinem Kopf stattfinden kann. Paschukanis’ Reflexionsprozess wird komplementiert durch historische Rückblenden, in denen sein Aufstieg und Fall im postrevolutionären Russland der 1920er und 1930er Jahre beschrieben wird. Das Stück wird, im Sinne von Brechts epischem Theater, immer wieder unterbrochen durch Rechtsgelehrte der Gegenwart, die die im Stück auftauchenden rechtsphilosophischen Thesen erklären und die Handlung kommentieren. Diese Momente bieten die Möglichkeit zum Innehalten und zur eigenen Reflexion. Der Chor der Professoren spricht auch den Prolog und den Epilog, er stellt damit die eigentliche Rahmenhandlung des Stücks dar. Die Rechtsgelehrten der Gegenwart beobachten die Protagonist:innen nicht nur, sie brauchen sie regelrecht für die Untermalung ihrer Theorien. Sie machen dabei auch vor dem Tod der Protagonist:innen nicht halt.
Das Stück habe ich als Teil meiner rechtsphilosophischen Dissertation Tragödie des Rechts über Leben und Werk von Paschukanis verfasst (vgl. Bayer (2021), 29 ff.). 43
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3.2
Praktisches Philosophieren
Hinter der Darstellung als Theaterstück steht der Gedanke, die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft aufzubrechen, um die materialistische Rechtskritik plastisch darzustellen.44 Es geht darum, eine dialektische Form der Darstellung zu finden, die mit dem Inhalt einer dialektisch-materialistischen Rechtskritik übereinstimmt. Hierzu bediene ich mich maßgeblich des epischen Theaters von Bertolt Brecht. Brecht, so stellte es schon Louis Althusser fest, nahm Marx’ Forderung nach tatsächlicher gesellschaftlicher Veränderung ernst, indem er diese nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch umzusetzen suchte.45 Brecht ging es darum, die großen gesellschaftlichen Fragen dialektisch zu verhandeln. Seine Stücke basieren daher auf dem Verfremdungseffekt, der die Dinge ungewohnt darstellt. So sollten die Zuschauenden selbst zur Reflexion über die gegenwärtigen Umstände angeregt werden.46 Brecht spielt dabei mit den Regeln des Theaters selbst: Er lässt seine Schauspielenden die sogenannte vierte Wand durchbrechen, das heißt, er lässt sie aus ihrer Rolle treten und als Person, nicht als Figur, auf der Bühne sein; er benutzt Musik und Projektionen; er unterbricht die theatrale Handlung durch erklärende Einschübe.47 All diese Mittel dienen dazu, die Zuschauenden wachzurütteln, so dass sie beginnen, was sie auf der Bühne sehen, nicht nur einfach anzunehmen, sondern selbst kritisch zu hinterfragen. Durch das Durchbrechen der theatralen Illusion zeigt Brecht den Zuschauenden nicht, wie die Welt seiner Meinung nach sein sollte, sondern schlicht, wie sie ist – und überlässt es den Zuschauenden, sich selbst zu überlegen, ob und wie sie diese verändern wollen (wobei natürlich die Welt, die Brecht zeigt, definitiv eine Welt ist, die der Veränderung bedarf). Er legt mit anderen Worten die Welt den Zuschauenden „vor zum Zugriff “.48 Die Methode des dialektischen Theaters unterscheidet sich damit etwa von den Arbeiten des Juristen und Theaterautors Ferdinand von Schirach. Schirach verfasst Stücke, die sich um spezifische rechtliche (und moralische) Fragestellungen drehen und lässt am Ende die Zuschauenden in einem Ja/Nein-Schema abstimmen. Das ist kein dialektisches Theater und auch keines, dass die Form des Rechts als solche grundlegend zum Thema haben kann.49 Vielmehr entkommen Brechts Stücke gerade der Dynamik des rechtlichen Urteilens, weil sie durch ihren Verfremdungseffekt andere Urteile als „richtig/falsch“ zulassen.50
44 45 46 47 48 49 50
Hierzu bereits Bayer (2020). Vgl. Althusser (1995), 545. Hierzu ausführlich Bayer (2021), 186 ff. Für einen Überblick über die Mittel des epischen Theaters Knopf (2004), 286. Brecht (1967a), 303. Vgl. Bayer (Im Erscheinen), 152 f. Menke 2018.
Gesellschaftsnahe Rechtskritik?
Die Aufarbeitung einer rechtsphilosophischen Fragestellung im Rahmen einer Theaterproduktion führt darüber hinaus auch für die Mitwirkenden zu einem Perspektivenwechsel und damit zu einem ganz neuen Zugriff auf die im Stück verhandelten rechtsphilosophischen Fragen. Die theatrale Produktionsweise zwingt zum konkreten Ausdrücken, zum Erklären und zum Ausprobieren. Im Spiel merkt man sehr schnell, welche Dialoge funktionieren und welche nicht, gewinnt jeder gesagte Satz an Bedeutung und wird kritisch überprüft. Deshalb kann in der Theorie das Brecht’sche Lehrstück sogar ohne Inszenierung und ohne Publikum auskommen.51 Ich glaube trotzdem, dass die Inszenierung wichtig ist, nicht nur im Hinblick auf die Öffnung der Diskussionsräume für das (nicht unbedingt wissenschaftliche) Publikum. Sondern auch für die Gruppendynamik und die daraus entstehenden Synergien. Durch das gemeinsame Ziel der Aufführung entsteht eine besondere Form der Verbundenheit und Produktivität. Man lernt beim Spielen zwangsläufig auch den Menschen jenseits der Rolle kennen, die er oder sie spielt. Man ist mit unterschiedlichen Interpretationen desselben Textes oder Stoffes konfrontiert, aber am Ende muss man diesbezüglich einen Konsens finden, denn ohne einen Konsens funktioniert das Spiel nicht. 3.3 Zwischenfazit
Mein Stück ist ein erster Versuch, die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft aufzubrechen, um so die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form der Darstellung der materialistischen Rechtskritik zu überwinden.52 Hierzu bietet sich das Theater als Medium in besonderer Weise an, weil es im Gegensatz zur notwendig vorgeformten Sprache des Rechts durch seine verfremdenden Mittel einen direkten „Zugriff “53 auf die Probleme der modernen (Rechts-)Gesellschaft ermöglicht. Das epische Theater in der Tradition von Bertolt Brecht eröffnet der Kritik des Rechts neue Wirkungsmöglichkeiten, die Subjekte des Rechts – die mündigen Bürger:innen, die die Kritik des Rechts zum eigenen Denken anregen will – auch zu erreichen. Der Fall Paschukanis ist dabei nur einer von vielen möglichen Stoffen, und die Darstellung als Tragödie nur eine von vielen möglichen Darstellungsformen, plastische Rechtskritik zu betreiben. Wieso also nicht als Fazit dieses Textes eine Theaterbühne nach dem Vorbild von Brechts Theater am Schiffbauerdamm gründen und Stücke spielen, die die zentralen Fragen des Rechts plastisch machen: Was ist ein Vertrag? Warum strafen wir? Welche Rolle spielen Verteidigung, Gericht und Staatsanwaltschaft in einem Prozess? Wie sieht das InnenleVgl. Brecht (1967b), 1034 f. Hierzu in Bezug auf die Form der Kritik an der Gesellschaftsvertragstheorie in der politischen Philosophie bereits Nussbaum (1990). 53 Brecht (1967a), 303. 51 52
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ben der Behörden aus, die einen Verwaltungsakt erlassen? Wieso werden Asylbewerber:innen systematisch fundamentale Rechte versagt? 4.
Möglichkeiten und Grenzen des Theaters
Hiergegen lassen sich folgende Bedenken vorbringen: Reicht es aus, Theater zu spielen, um gesellschaftsnahe Rechtskritik zu betreiben? Ist das Theater nicht ein elitäres Medium, zu dem im Endeffekt dieselben Akademiker:innen Zugang haben, die auch rechtsphilosophische Texte lesen?54 Theater ist, wie Literatur, per se eine narrative, textbasierte Form und daher mit der Form des Rechts eng verwandt.55 Es ist traditionsreich, selbstreferenziell und voraussetzungsvoll. Gerade Menschen aus sozio-ökonomisch schwächeren Einkommensschichten finden oft keinen Zugang zum Theater. Zwar gibt es Bestrebungen der Theater, sich zu öffnen.56 Aber diese Aktionen bleiben in ihrem Wirkungskreis sehr beschränkt. Das Theater ist heute nicht mehr das Massenmedium, das es zu Zeiten von Brecht noch war. Selbst der Film ist eigentlich nicht mehr das Medium der Stunde, auch wenn es natürlich durch die Möglichkeit des Streamings niedrigschwelliger zugänglich ist als das Theater. Heute gewinnen vor allem andere (bildbasierte) Medien an Bedeutung: YouTube-Videos, Serien57 oder Soziale Medien.58 Eine gesellschaftsnahe Rechtskritik könnte es sich zur Aufgabe machen, diese Medien stärker auszuschöpfen. Wieso nicht zu einer rechtskritischen Tagung Aktivist:innen einladen und die Tagung über YouTube streamen? Wieso nicht ein rechtskritisches Festival veranstalten? Wieso nicht einen Salon ins Leben rufen, in dem einmal im Monat öffentliche Lesungen von rechtsphilosophischen Texten in einem Club stattfinden? Hier sind viele weitere Formen denkbar, die die Theorie mit der Praxis konfrontieren. Ich denke, dass das Theater dabei, trotz aller berechtigter Kritik an seinem elitären Publikum, aufgrund seiner Unmittelbarkeit und der körperlichen Präsenz vor und hinter der Bühne ein wichtiges Medium zur Begegnung bleiben wird. Dabei kann Theater in diesem weiten Sinne jede Form der spielerischen Auseinandersetzung mit einem Thema sein. Die nachfolgenden Überlegungen basieren u. a. auf einem konstruktiven Austausch mit Felix Hanschmann. 55 Auch wenn sich gerade das Theater zunehmend von einer klassischen Dramaturgie verabschiedet hat, wie das postmoderne Theater zeigt; hierzu kritisch Stegemann (2013). 56 Etwa die Aktion „Platz frei“ aus der Schaubühne. 57 S. zur Bedeutung des Seriellen auch den Essay von Markus Metz und Georg Seßlen, „Erzählen im Wandel: Die Welt als Serie – die Serie als Welt“ in der Reihe „Essay und Diskurs“ des Deutschlandfunks: https://www.deutschlandfunk.de/erzaehlen-im-wandel-die-welt-als-serie-die-serie-als-welt-102.html (Stand 07.07.2022). 58 Ich würde aber nicht so weit gehen, das Internet per se als ein plastisches Medium für die Rechtskritik zu benennen, da das Internet allein nur die Möglichkeit zur Vernetzung und Verbreitung von Inhalten bietet, aber selbst keinen ästhetischen oder verfremdenden Effekt besitzt; hierüber lässt sich aber streiten. 54
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5. Ausblick: Von der materialistischen Theorie zur kritischen Praxis der Rechtsphilosophie?
Nicht jede kritische Theorie des Rechts muss eine unmittelbare praktische Anwendung finden. Es ging mir in diesem Beitrag alleine darum, die Forderungen, die einige Texte der materialistischen Rechtskritik im Anschluss an Marx und Paschukanis aufstellen, konsequent zu Ende zu denken. Diese Forderungen beziehen sich nun einmal auf eine reale Veränderung der gegenwärtigen Form der Rechte bzw. des Rechts und erschöpfen sich gerade nicht in einer reinen Kritik der gegenwärtigen Zustände. Gleichzeitig besteht Einigkeit darin, dass diese Veränderung nicht mit Gewalt erreicht werden soll, sondern im Rahmen eines basisdemokratischen Prozesses (Buckel) oder eines Rückzugs des Individuums (Menke). Gibt es einen Weg, diese radikal klingenden Theorien mit einer gewaltfreien Praxis zu vereinbaren? Ich denke, dass es diesen gibt. Die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form der Darstellung von materialistischer Rechtskritik lässt sich dann auflösen, wenn aktiv nach Formen jenseits von Tagungen und Texten gesucht wird, die den Inhalt adäquat an das Zielpublikum vermitteln können.59 Dies setzt allerdings ein gewisses Verständnis von Rechtskritik und der eigenen Rolle als Rechtskritiker:in voraus: Erstens, dass die Aufgabe der Kritik des Rechts nicht nur darin liegt, die positive Praxis zu verneinen, sondern auch nach Alternativen zum bestehenden Recht zu suchen; und zweitens, dass das Suchen nach diesen Alternativen nicht (alleine) im akademischen Rahmen stattfinden kann, sondern es hierfür einer Öffnung der Diskurse bedarf. Wenn wir von diesen beiden Prämissen ausgehen, die meiner Meinung nach jeder Forderung nach einer Veränderung des Rechts in der Tradition von Marx zu Grunde liegen, dann braucht die materialistische Rechtskritik eine eigenständige Praxis. Eine Praxis, die sich jenseits der Gerichtsräume und der Vorlesungssäle, also als Ergänzung zur juristischen und akademischen Praxis abspielt – eine Praxis dritter Art. Literaturverzeichnis
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Hierzu auch schon Bayer (2020).
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losophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie forscht zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie. Sie sucht dabei gemeinsam mit ihrem Theaterkollektiv (www.kollektivimfenster.com) nach neuen Formen, ihre Forschung zu betreiben und darzustellen. Twitter: @daria_officiel.
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Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt
BARBARA BUSHART
The Emancipatory Dimension of Hannah Arendt’s Concept of Human Dignity Abstract: Arendt’s oeuvre outlines a concept of human dignity which highlights the confines of law
in the European tradition. The human potential for political action leads to the only human right: The right to belong to a political community in which this potential can be realized. But as long as actual states occupy the right to decide whoever belongs to their political body there is no possibility for those excluded to claim their rights for those are still not the rights of man only but those of citizens. Denying that elementary right marks an unjust condition and can only be overcome if the paradigm of modern political communities – sovereignty – is replaced by a rule of law which guarantees the right of inclusion for everyone. Keywords: sovereignty, human dignity, human right, citizens, inclusion, Arendt Schlagworte: Souveränität, Menschenwürde, Menschenrecht, Bürger/Bürgerinnen, Inklusion, Arendt
Dass Arendts Werk in Zeiten globaler Migrationsbewegungen und wiedererstarkender nationalistischer Tendenzen Konjunktur hat, vermag kaum zu verwundern, hat sie doch als eine der ersten eine schonungslose Analyse der Situation von Geflüchteten und Staatenlosen in der Zwischenkriegszeit vorgenommen und ihre Beobachtungen mit der politischen Forderung auf ein sogenanntes ‚Recht auf Rechte‘ geschlossen, das sie aus der differencia specifica des Menschen, sein Potential zum Politischen, ableitete. Auch über ein halbes Jahrhundert nach seinem ersten Erscheinen ist die Aktualität des Abschnitts ‚Die Aporien der Menschenrechte‘ in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951] ungebrochen. So zeigt beispielweise die Situation der Geflüchteten in den Lagern an den europäischen Außengrenzen, dass Menschenrechte bloße Makulatur bleiben, solange sich keine staatliche Institution für die Betroffenen verantwortlich fühlt. Erst der Einschluss in eine politisch verfasste Gemeinschaft vermag eine Ver-
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Barbara Bushart
wirklichung der als universal und unabdinglich gekennzeichneten Rechte zu garantieren. Arendts Begriff charakterisiert dabei eine dezidiert partizipatorische Dimension: Das Recht auf Rechte erschöpft sich nicht in der bloßen Einbindung des Menschen in einen rechtlich verfassten Raum, sondern fordert die Anerkennung des: der Anderen als gleichberechtigtes und handlungsfähiges Gegenüber. Der durch das Potential zum Politischen begründeten menschlichen Würde ist erst dann genügt, wenn das Individuum eine Rechtsposition garantiert bekommen hat, die ein aktives Einbringen und Gestalten der gemeinsamen Welt ermöglicht. Dieses Verständnis rüttelt an den Grundfesten europäischer Traditionen von rechtlicher Verfasstheit, da es mit der Souveränität jenen Begriff in Frage stellt, der als Fundament des modernen Nationalstaates bemüht wird. Um diesen Befund zu erläutern, werden in Abschnitt 1 zunächst die Grundbegriffe des Arendt’schen Denkens und ihre Bedeutung für das Thema dargelegt. Anschließend soll in den Abschnitten 2 und 3 aufgezeigt werden, wie sich die von der Theoretikerin Mitte des 20. Jahrhunderts verhandelten Probleme übertragen lassen und welche „fragwürdigen Traditionsbestände im politischen Denken“1 noch in der Gegenwart Wirkung zeitigen. Die von ihr angestellten Überlegungen zur politischen Gemeinschaft jenseits von Nationalität weisen deutliche Reminiszenzen zum vorwiegend von Sternberger und Habermas entwickelten und verhandeltem ‚Verfassungspatriotismus‘ auf, der als Folie zur Verdeutlichung von Arendts Konzept im vierten Abschnitt dienen soll. Allerdings ist eine Einbindung in eine politische Gemeinschaft voraussetzungsreich, wenn sie tatsächlich jenem von der Denkerin formulierten Anspruch genügen soll, eine aktive Teilhabe an der gemeinsamen Welt zu ermöglichen. Dass das Recht, Rechte zu haben, weit über eine Minimalforderung hinausgeht, ist Untersuchungsgegenstand in Abschnitt 5. In einer Gemeinschaft der Pluralität kommt der Verfassung eine eminente Rolle zu: Nur sie vermag es, die Gleichheit aller Bürger:innen zu garantieren und sie in ihrer Unterschiedlichkeit zu affirmieren, wie im sechsten Abschnitt dargelegt werden soll. Diesem Anspruch genügt auch das deutsche Grundgesetz nicht: Die Prämisse der Volkssouveränität, wie sie Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG normiert, bedingt einen Würdebegriff, der sich auf die Rechtsstaatlichkeit beschränkt, dem jedoch das in Arendts Theorie so wichtige emanzipatorische Element fehlt. Dieser Kontrast und seine Konsequenzen werden im finalen siebten Teil aufgezeigt.
1
So der Titel einer kürzlich erschienen Essaysammlung. Arendt (2021).
Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt
1.
Die Pluralität als conditio humana
Wie einen roten Faden durchzieht Arendts Gesamtwerk der Begriff der Pluralität, die Tatsache, dass „nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern.“2 Das Zusammenleben mit anderen ist Merkmal des Menschseins und Grundbedingung der menschlichen Tätigkeit des Handelns. Es ist die hinreichende Ähnlichkeit, die es braucht, um einander zu erkennen und die gleichzeitig gegebene grundsätzliche Verschiedenheit, die Menschen auszeichnet und die sie im Handeln und Sprechen realisieren und offenbaren. In dem Umgang miteinander entsteht die Welt als ‚Zwischen‘, ein Bezugsgeflecht, das die Einzelnen miteinander verbindet.3 Das Handeln ist Resultat der „formal-anthropologischen Annahme“4 der Natalität, die biologische Grundbedingung für politische Initiative ist. Jeder Mensch stellt mit seiner Geburt einen Neuanfang dar, kann sich selbst in das Bezugsgeflecht der gemeinsamen Welt einbringen und auf dieses einwirken. Es zeichnet ihn also aus, dass er sich mit anderen assoziieren kann, eine Welt, das ‚Zwischen‘, dadurch entsteht und veränderbar ist.5 Weil das jedoch Reziprozität voraussetzt, ist ein atomisiertes Individuum kein zoon politikon, sondern apolitisch.6 Während der Handlungsakt neue Bezüge und Realitäten schafft, dient der Sprechakt nicht nur der Enthüllung der Wirklichkeit, sondern vor allem der Offenlegung des Handelnden, seiner Motive und Motivation.7 Und obgleich kein Mensch auf der Erde sich wohl des Handelns und Sprechens ganz enthalten könnte, hat der von Arendt verwendete Begriff des Handelns eine dezidiert freiheitliche Dimension: Das Handeln ist, anders als das Sich-Verhalten, nur unter Gleichen im herrschaftsfreien Raum möglich, in der Öffentlichkeit.8 Erst hier, losgelöst von Zwängen, offenbart sich die Person in ihrer Einzigartigkeit und Undefinierbarkeit.9 Die Politik als Moment des Handelns und Sprechens sei deswegen die Realisierung jenes menschenimmanenten Potentials zum Politischen, das seinen Grund in der Natalität findet – und der Vollzug jenes Potentials bedeute Freiheit.10 Die „irreduzible politische Disposition des Menschen“11 unterscheide ihn von allen anderen Lebewesen und macht die ihm eigene Würde aus. Um die freiheitliche Dimension des Handelns zu realisieren, muss der Raum des Öffentlichen, in dem Politik allein stattfindet, nach Arendts vielkritisierter Theorie
2 Arendt (2015b), 17. 3 Vgl. ebd., 66. 4 Straßenberger (2015), 54 f. 5 Vgl. Arendt (2015b), 251. 6 Vgl. Jalusic (2011), 308. 7 Vgl. ebd., 214. 8 Vgl. ebd., 50. 9 Vgl. ebd., 217. 10 Vgl. Arendt (2018), 16. 11 Loick (2017), 304.
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strikt von anderen Lebensbereichen, wie jenem des Privaten und Gesellschaftlichen, getrennt werden. Dies geht jedoch nicht, wie häufig angenommen, mit einer Geringschätzung für die nicht-öffentlichen Räume menschlichen Lebens einher.12 Arendt nimmt an, dass – anders als im Politischen – die Mitglieder in Gesellschaft und Familie auch gleich seien, jedoch resultiert diese Gleichheit nicht aus einer Gleichberechtigung, sondern auf gleicher Herkunft oder gleichen Interessen.13 Die Verbindungen abseits des öffentlichen Raumes seien durch Hierarchieverhältnisse im Falle der Familie beziehungsweise Uniformität auf gesellschaftlicher Ebene geprägt.14 Dennoch ist ihre Bedeutung für das menschliche Leben kaum zu überschätzen: Nur abseits der Öffentlichkeit bilden sich individuelle Biografien, nur dort kann an das Verhalten kein gemeinschaftsorientierter, sondern ein persönlicher Maßstab angesetzt werden.15 Im Privaten begegnen sich Menschen als vollkommen Verschiedene, bilden idiosynkratische Verbindungen, wie beispielsweise Liebesbeziehungen, die nicht verallgemeinerbar und deswegen nicht kommunizierbar sind.16 Neben der unterschiedlichen Qualität menschlicher Beziehungen sind es vor allem die in ihnen verrichteten Tätigkeiten, die als Kriterium der Differenzierung der Sphären taugen. Arbeiten, als sich wiederholende Tätigkeit zur Erhaltung des Lebens, ordnet Arendt dem Privaten zu, das Herstellen, das „durch Verdinglichung einen Gegenstand hervorbringt, der fortan unabhängig und objektiv in der Welt erscheint“17, erfolgt im Gesellschaftlichen. Anders als das Handeln bedürfen die vorgenannten Tätigkeiten zu ihrer Verwirklichung nicht der Reziprozität. Vielmehr agiert das Individuum hier als souveränes Subjekt, das nicht auf seine Mitmenschen angewiesen ist. Das unterscheidet diese Sphären von jener des Politischen, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass Menschen hier nur miteinander auf die gemeinsame Welt einwirken können, sich durch das damit einhergehende Exponieren stets auch offenbaren und dadurch auch in ihrem Erscheinen und ihrem Wirken von dem Gegenüber abhängig sind.18 Gleichwohl sind die Topoi nicht isoliert
Arendt wird in diesem Kontext oft vorgeworfen, blind gegenüber tatsächlichen Machtverhältnissen außerhalb der öffentlichen Sphäre zu sein und mit ihrer künstlichen Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten einen Raum der Rechtlosigkeit einzuführen (s. z. B. Butler/Spivak (2011), 15). Meines Erachtens trägt dieser Vorwurf nicht, da sich Arendts Trennung eher auf einen Modus, denn auf Themen zu beziehen scheint. Der politische Diskurs zeichnet sich bei Arendt dadurch aus, dass er verallgemeinernd und geleitet durch Rationalität ist, wohingegen das Geschehen im Privaten und Gesellschaftlichen eben auf idiosynkratischen Vorlieben beruht und an den Sprechakt nicht die Forderung gestellt wird, diesen auf verallgemeinerbare Prämissen zu reduzieren. 13 Vgl. Arendt (2015b), 50. 14 Vgl. ebd., 55. 15 Vgl. Arendt (2005), 332. 16 Passerin d’ Entrèves (1994), 140. 17 Weißpflug et. al. (2022), 79. 18 Vgl. Jaeggi (1997), 73. 12
Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt
voneinander zu verstehen: Außerhalb des Politischen formt sich der Charakter, der im Handeln und Sprechen mit Anderen offenbart, nicht jedoch erst konstituiert wird.19 Die Bedeutung des öffentlichen Raumes und der Fähigkeit, sich darin handelnd und sprechend zu exponieren, resultiert also aus den Axiomen der Arendt’schen philosophischen Anthropologie und der Tatsache, dass sich nur hier der Mensch in seiner Einzigartigkeit enthüllen, von anderen Menschen wahrgenommen werden und sich mit ihnen assoziieren kann. Zur Verwirklichung dieses Potentials kommt dem Recht eine eminente Rolle zu. Arendt wendet sich gegen die Prämisse der Aufklärung, dass es sich beim Recht um eine menschenimmanente Eigenschaft handle, die diesem auch in der Isolation zukomme.20 Die Gleichheit, die das Fundament moderner Ordnungen darstellt, sei durch reziproke Anerkennung des: der Anderen entstanden und damit artifiziell: „Gleichheit ist nicht gegeben, und als Gleiche sind wir nur das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren.“21 Diese Fiktion der Moderne, die angeborenen Rechte, ließ sich nach den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts bewahren, da jeder Mensch mit Geburt auch gleichzeitig Bürger:in eines seine: ihre Rechte zumindest rudimentär garantierenden Staates wurde. Ihr Auseinanderbrechen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges produzierte jedoch eine große Gruppe von Staatenlosen, deren Appell an die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten Menschenrechte wirkungslos verhallte.22 Dem legalen Status des Angehörigen eines bestimmten Staates entkleidet, habe sich an ihnen gezeigt, dass „vor der abstrakten Nacktheit des Menschseins“23 die „Welt keinerlei Ehrfurcht empfunden“24 hat, die Menschenwürde also durch „das bloße Auch-ein-Mensch-sein nicht zu realisieren“25 ist. Arendt plädiert aufgrund dieser, auch persönlichen, Erfahrungen dafür, Menschenwürde und die daraus resultierenden Menschenrechte neu zu fassen und anstelle eines Kataloges angeblich menschenimmanenter Rechte nur ein einziges Recht zu setzen: Das Recht auf Rechte.26 Die Situation der Staatenlosen analysierend stellt sie fest, dass die tragische Dimension ihres Rechtsverlusts nicht darin bestehe, dass sie „des Rechtes auf Leben, auf Freiheit, auf Streben nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz
Vgl. Arendt (2005), 328. Vgl. Arendt (2014a), 616 f. So zum Beispiel Locke, der die Rechte auf Freiheit, Leben und Eigentum als vor-politisch versteht (vgl. Locke (1698), 165). Ebenso Kant, der die äußere Freiheit als ursprüngliches, dem Menschen kraft seines Menschseins zustehendes Recht bezeichnet (vgl. Pinzani (2021), 79). 21 Arendt (2014a), 622. 22 Vgl. ebd., 608. 23 Ebd., 619 f. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd., 614.
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oder gar der Meinungsfreiheit“27 beraubt sind. All dies seien Rechte, die für bereits gegebene Gemeinschaften formuliert wurden, wohingegen die Rechtlosigkeit der Tatsache entspringe, dass das betroffene Individuum keiner Gemeinschaft überhaupt angehöre.28 Daher sei dieses unverfügbare, vorrangige Recht jenes, überhaupt Rechte zu haben und „dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird.“29 Die politische Theoretikerin formuliert hier ein Recht auf Zugehörigkeit zu einer menschengemachten Welt und beruft sich für seine Legitimation auch auf eine lange Tradition politischer Theorie. Die Erfahrungen der Moderne hätten erst dazu geführt, dass die Zugehörigkeit als Recht verstanden werden müsse.30 Zuvor galt die Zugehörigkeit zu einer Ordnung, in der man das „Zusammenleben durch Sprechen, und nicht durch Gewalt“31 regelt, als Kennzeichen des Menschseins.32 Die Fähigkeit zum weltgestaltenden Handeln und Sprechen ist im Menschen selbst angelegt und begründet seine Würde. Diese scheinbar rudimentäre Würdedefinition unterscheidet sich wesentlich von dem auch heute noch im Grundgesetz angelegten Begriff, der die Naturrechte zum Ausgangspunkt nimmt und mit ihnen einen Katalog an Menschenrechten zur Grundlage der Verfassung macht,33 und hat eine emanzipatorische Dimension. Die Definition wirkt zunächst wie eine Minimalforderung, die defizitär im Verhältnis zu all jenen ausdifferenzierten Würdebegriffen wirkt, die bereits Elemente unveräußerbarer Menschenrechte integriert haben. Tatsächlich geht er aber weit über die anderen Würdebegriffe hinaus wie ich in Abschnitt 5 und 7 zeigen werde. 2.
Arendt im 21. Jahrhundert
Arendts in verschiedenen Essays dargelegten Analysen der Staatenlosigkeit geht die Erfahrung des beginnenden 20. Jahrhunderts voraus, in der durch eine Veränderung der politischen Ordnungsstruktur die Staaten- und Rechtlosigkeit von einem individuellen Schicksal zu einem kollektiven Phänomen erwuchs. In der Nachkriegszeit nahmen sich internationale Organisationen des Problems an und bemühten sich um globale Abkommen, die zur Eliminierung dieses Zustandes beitragen sollten.34 So soll beispielsweise die Staatsangehörigkeit nicht mehr entzogen werden können, wenn das
Ebd., 611. Vgl. ebd., 612. Ebd., 614. Vgl. ebd. Ebd., 615. Vgl. ebd., 614 f. Vgl. Hillgruber (2021), Rn. 54. So beispielsweise das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Verhinderung von Staatenlosigkeit vom 30. August 1961. 27 28 29 30 31 32 33 34
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dazu führt, dass die Person staatenlos wird. Und obwohl sich eine Entsprechung auch im deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz findet, zeigt eine Verschärfung aus dem Jahre 2019, dass die Staatsangehörigkeit keineswegs eine unbedingte Verantwortungsübernahme für alle Bürger:innen bedeutet: Nunmehr normiert § 28 Abs. 1 StAG, dass ihr verlustig geht, wer sich an bewaffneten Kämpfen im Ausland beteiligt – eine Norm, die vorwiegend Menschen mit zwei Staatsangehörigkeiten adressiert.35 Die Zugehörigkeit zu einer staatlichen Gemeinschaft bleibt somit insbesondere für diejenigen, die eine Migrationsgeschichte haben, an ihr Verhalten geknüpft und ist keine unverfügbare Garantie. Von jener bedingten Zugehörigkeit ist Arendts Verständnis wesentlich verschieden. Sie verkennt nicht, dass es zur Bildung einer politischen Gemeinschaft bestimmter, wesentlicher Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten bedarf, attestiert jedoch insbesondere europäischen Gesellschaften ein Zugehörigkeitskonzept, das eine Form der Verwandtschaft zur Grundlage der politischen Identität mache. Dies begründe sich in der partikularen Entstehungssituation post-absolutistischer Demokratien. An die Stelle des Monarchen sei das Volk als Souverän getreten, dessen Wollen fortan Legitimation und Quelle aller Gesetze darstellen sollte und als potestas legibus soluta keinen Einschränkungen unterworfen sein konnte.36 Den Willen zur Grundlage des Rechts zu machen, lasse allerdings einen „subjektiven, ephemeren Gemütszustand“37 an die Stelle von Abstraktion, Meinungsaustausch und Konsens treten.38 Um gleichwohl ein Bindeglied zwischen divergierenden Interessen und unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen zu schaffen, sei die Nationalität als einheitsstiftendes Merkmal in das politische Selbstverständnis integriert worden.39 Damit sei suggeriert worden, dass diese präpolitische und unverfügbare Eigenschaft dafür sorge, dass alle Menschen mit dem gleichen Geburtsort ihr Wollen auf das gleiche, nationale Interesse hin ausrichten und diesem Interesse ihre individuellen und partikularen Interessen im Kollisionsfall unterordnen würden.40 Es entstand somit ein unauflösbarer Nexus von Geburtsort und Staatsbürgerschaft, der einen chauvinistisch-nationalistischen Utilitarismus zur Prämisse politischen Handelns macht: Recht ist, was dem Volke nutzt.41 Die Demokratie, verstanden als Herrschaft einer Mehrheit des sogenannten Volkes über eine Minderheit, vermag es somit gegebenenfalls, rechtsstaatliche Grundsätze zu überlagern. In dieser Konzeption wird der menschliche biologische Körper mit seinen Bedingtheiten Kriterium für die juridische Definition des Individuums und das Volk Dies liegt auch daran, dass gem. § 28 Abs. 1 StAG ein Verlust dann nicht eintritt, wenn der: die Betroffene dadurch staatenlos würde. 36 Vgl. Arendt (2014b), 246. 37 Ebd., 204. 38 Vgl. ebd., 211 f. 39 Vgl. Arendt (2014a), 489. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Arendt (2014a), 618. 35
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somit vom demokratischen zu einem demographischen Begriff.42 Derartige Zugehörigkeitsmerkmale produzieren unweigerlich Exklusionen, da die Aufnahme in eine politische Gemeinschaft nicht abhängig von einer individuellen Übereinstimmung mit Grundwerten der bereits verfassten Gruppe ist, sondern von präpolitischen und auch für das Individuum unverfügbaren Eigenschaften. Dieses Defizit ist trotz seiner grausamen Dimension, die sich insbesondere im Nationalsozialismus offenbart hat, nicht vollumfänglich geheilt worden. So basiert das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, wie in § 4 StAG ersichtlich, noch immer auf dem Abstammungsprinzip. Selbst Menschen, die in der Bundesrepublik geboren wurden, müssen, wenn ihre Eltern keine deutschen Staatsangehörigen sind, sich normalerweise qua Verwaltungsakt einbürgern lassen, werden in der deutschen Rechtsordnung also zunächst als nicht zugehörig markiert. 3.
Souveränität und Exklusionsmechanismen
Arendts Kritik an der Volkssouveränität basiert auf zwei wesentlichen Annahmen,43 von denen eine inzwischen als überholt gelten kann: Sie geht von einem Utilitarismus in der Verfasstheit von politischen Gemeinschaften aus, der das Wohlergehen Vieler über die partikularen Rechte Einzelner stellt. Moderne Rechtsordnungen normieren jedoch regelmäßig keine reine Mehrheitsdemokratie, sondern hegen sie stets ein in ein verfassungsrechtlich gesichertes rechtstaatliches Gefüge, an dessen Maßstab sich alle Entscheidungen messen lassen müssen. Die zweite Annahme Arendts findet sich jedoch noch immer in fast jeder Rechtsordnung eingeschrieben und bildet gleichzeitig den Grund für die Unfähigkeit des Rechts, Geflüchtete oder andere Migrant:innen tatsächlich an der Rechtsgemeinschaft teilhaben zu lassen: Die souveräne Entscheidung des demos über seine eigene Verfasstheit, über die Kriterien, nach denen Neuankommende in die politische Gemeinschaft derart aufgenommen werden, dass sie ebenfalls wählen und gewählt werden können. Dabei werden „Selbstbestimmung, identitäre Integrität und territoriales Eigentum“44 als Argumente angeführt, die den Ausschluss beziehungsweise die Vorenthaltung des Einschlusses zu legitimieren suchen.45 Es ist die Überzeugung, dass allein dem bereits bestehenden Volk die Dispositionshoheit über seine Zusammensetzung für Gegenwart und Zukunft zustehen solle.46 Diese zweite Prämisse konterkariert das von Arendt so fundamental gesetzte Recht auf Rechte und ist mit ihrer Vorstellung von der Entstehung und Aktualisierung politischer Gemeinschaften nicht vereinbar, die sie als aufnahmeoffen entwirft. Fundament
42 43 44 45 46
Vgl. Muhle (2008), 45. Vgl. Arendt (2014a), 618. Di Cesare (2021), 70. Vgl. ebd., 71. Vgl. ebd.
Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt
sei ein horizontaler Gesellschaftsvertrag, der sich von einem vertikalen dadurch unterscheide, dass er nicht das Verhältnis von Souverän und atomisiertem Individuum, sondern von Menschen untereinander regle. Das resultiere aus dem Gründungsmoment: Einer idealtypischen Gemeinschaft gehe ein Moment der Macht voraus, in dem sich Menschen zum Handeln zusammengeschlossen haben. Arendts Machtbegriff geht dabei auf die conditio humana der Pluralität zurück: Wenn Menschen miteinander Handeln und Sprechen entstehe ein Erscheinungsraum, der Macht im Sinne eines Potentials bedeutet.47 Dieser setzt keine durch präpolitische Dispositionen zuvor bereits definierte Gemeinschaft voraus, sondern entsteht erst in der Ausübung und ist deswegen auch nicht begrenzt. Jede Person kann durch das aktive Einbringen Teil dieses Erscheinungsraumes werden. Dazu bedarf es keiner vorangehenden Aufnahme durch die bereits gebildete Gemeinschaft, die Partizipation ist bloß von der individuellen Handlung abhängig. Das macht jene Politik der Freundschaft aus, die für ihre Identität nicht auf ein Verwandtschaftsverhältnis, auf Bruderschaft, rekurriert, sondern auf eine gemeinsame Idee und ein gemeinsames Handeln und somit von allen präpolitischen Bedingungen abstrahiert. Diese Offenheit delegitimiert jene Überzeugung, dass die identitäre Integrität Voraussetzung eines Gesellschaftsvertrages ist und bedarf daher keines präpolitisch determinierten Souveräns, um Wirksamkeit zu beanspruchen. Auch der Modus der Rechtserzeugung entspringt jenen Potentialen menschlichen Handelns: Das Versprechen vermag, den flüchtigen Moment gemeinsamer Macht zu perpetuieren und in die Zukunft zu binden.48 Damit sorgt es für Stabilität in den immer fragilen menschlichen Beziehungen. Es normiert den Umgang miteinander und manifestiert die Erfahrung der wechselseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche als Grundlage auch des künftigen Miteinanders. Um ihren Charakter als „Inseln der Sicherheit“49 im Meer der mannigfaltigen Möglichkeiten menschlichen Handelns beizubehalten, müssen die Regeln anschließend beispielweise durch Verschriftlichung perpetuiert und dem direkten Diskurs entzogen werden, um nicht stets wieder zur Disposition zu stehen. Neben den verfahrensrechtlichen Normen profiliert eine Verfassung auch fundamentale Wertentscheidungen, die Maßstab des Gemeinwesens und seiner Fortentwicklung bilden. 4. Verfassungspatriotismus?
Da Menschen aber voneinander verschieden sind, gibt es auch eine Vielzahl von Wertvorstellungen und somit unterschiedlichen Ordnungen. Arendt verkennt dabei nicht, dass auch ihre idealtypische politische Gemeinschaft einer eigenen Identität 47 48 49
Vgl. Arendt (2015b), 253. Vgl. ebd., 313. Ebd., 302.
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bedarf, um Zusammenhalt zu garantieren und Orientierung für Handlungen, Gesetze und Verfasstheit zu bieten. Bloß will sie diese nicht aus einem gemeinsamen Blut, einer gemeinsamen Herkunft, einer gemeinsam erlebten Geschichte oder gemeinsam ausgeübten Religion schöpfen, von denen als präpolitische und teilweise unverfügbare Merkmale im öffentlichen Raum abstrahiert werden soll. Die kollektive Identität bilde sich vielmehr aus geteilten Wertvorstellungen, dem Gespräch und der Sorge um die gemeinsame Welt und ihre Entwicklung.50 Dabei deutet ihr Werk nicht an, dass diese Werte nicht durch Erziehung oder Gewöhnung vermittelt werden könnten. Die Tatsache, dass der Mensch in ein partikulares Gemeinwesen hineingeboren wird, kann zur individuellen Affirmation der dort manifestierten Grundsätze führen. Ausschlaggebend ist jedoch, dass die Herkunft die Zugehörigkeit nicht determiniert. Wenn Arendt rührselige Symbole kollektiver Identität im Politischen zurückweist und allein die geteilten Wertvorstellungen und ihre Aktualisierung für ausschlaggebend hält, erinnert das an das von Sternberger in der FAZ erstmals formulierte, von Habermas weiterentwickelte und seitdem vielzitierte Konzept des Verfassungspatriotismus.51 Es profiliert ein Zugehörigkeitsgefühl aufgrund einer geteilten Vorstellung über die fundamentalen Prinzipien des Zusammenlebens, kombiniert mit der individuellen Bereitschaft, für ebendiese einzutreten. Auch Habermas leugnet nicht, dass Gemeinschaften verschiedene Charaktere haben, die auch abhängig von dem „konsonanten Erbe kultureller Überlieferungen“52 sind. Allerdings gibt es keine singuläre nationale Identität mehr, die alle Ansichten usurpiert und Abweichungen nivelliert. Habermas betont die „abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten“53 die fortan Kern der Verbundenheit bilden kann. Obwohl also auch hier eine Verbindlichkeit verlangt wird, ist diese ‚aufnahmeoffen‘, da sie von der individuellen Affirmation abhängig ist.54 Zudem verlangt der Verfassungspatriotismus keine Assimilierung als Voraussetzung für die Aktivbürgerschaft – die Verfassung strukturiert den politischen Raum, lässt aber gesellschaftliche und private Vorlieben und Lebensformen unberührt.55 Dies entspricht dem Arendt’schen Ideal der Trennung und auch Irrelevanz des Gesellschaftlichen und Privaten von und für das Öffentliche.
50 51 52 53 54 55
Vgl. Arendt (2016b), 51 f. Vgl. Sternberger (1982), 9. Habermas (1987), 173 f. Ebd. Vgl. Sternberger (1982), 9. Vgl. Di Cesare (2021), 77.
Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt
5.
Das Recht, Rechte zu haben
Die von Arendt geforderte Politik der Freundschaft, die nicht eine Verwandtschaft, eine gemeinsame Herkunft, zum Grund des Zusammenschlusses macht, sondern geteilte Werte, genügt ihrem idealtypischen Entwurf jedoch nicht, solange die Entscheidung über die Aufnahme beim demos verbleibt. Bereits in ihrem Abschnitt über die Aporien der Menschenrechte konstatiert Arendt, dass es sich bei der Staatenlosigkeit nicht um ein „Raumproblem, sondern um eine Frage politischer Organisation“56 gehandelt hat, da die Menschheit sich politisch als eine ‚Familie der Nationen‘ organisierte: Wer also keiner ‚Familie‘ angehört, „[fand sich] aus der Menschheit selbst ausgeschlossen.“57 Dem beizukommen, ist nur durch das Recht auf Zugehörigkeit als unbedingtem und individuellem Anspruch, der in der Verfassung garantiert und anschließend im politischen Raum transzendiert wird. Eine der menschlichen Würde entsprechende politische Ordnung, die ein gerechtes Gemeinwesen kennzeichnet, liegt nur dann vor, wenn die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft allein vom Aufnahmewunsch des Individuums abhängig ist und keinen Akklamationsakt des bereits bestehenden demos benötigt. Nur so könne garantiert werden, dass die Verwirklichung des würdebegründenden politischen Potentials nicht dem „demagogisch verhetzbaren Volkswillen“58 anheim und somit stets zur Disposition gestellt wird.59 Das Recht auf Rechte geht allerdings über die bloße Zugehörigkeit zu einer selbstgewählten Gemeinschaft hinaus. Denn diese würde zunächst eine bloße Einbeziehung in die rechtliche Verfasstheit bedeuten. Somit würde der Mensch also von Normen adressiert und könnte mit Pflichten belegt werden. Eine solche Form der Einbindung ist Grundbedingung für ein menschliches Leben, das nicht der bloßen Willkür unterliegt, wie ein Umkehrschluss zeigt: Arendts Negativfolie ist neben der Situation der Staatenlosen in der Zwischenkriegszeit vor allem auch diejenige der Verfolgten im Nationalsozialismus. Sie bewegten sich auf einem Territorium, das – wenn auch drakonisches – Recht noch kannte, waren aber von der Geltung als nicht Rechtsfähige ausgeschlossen. Während der Ausnahmezustand, der bereits in der Literatur umfänglich erörtert wurde,60 stets von der Suspendierung des Rechts für alle Einwohner:innen eines bestimmten Territoriums ausgeht, zeigt sich an den Exkludierten eine besonders perfide Form des Rechtsausschlusses. Sie existieren in einem Gebiet, in dem Normen grundsätzlich gelten, sind aber persönlich von ihrer Geltung ausgeschlossen. Ihnen wird verbildlicht eine Glasglocke übergestülpt, eine unsichtbare und doch unüberwindbare Grenze Arendt (2014a), 608. Ebd. Ebd., 575. Vgl. ebd., 575. Das Werk Carl Schmitts Der Begriff des Politischen ist hier wohl das Grundsatzwerk. Es diente jedoch unter anderem dazu, den Nationalsozialismus zu rechtfertigen. Auf ihn rekurriert, wenngleich kritisch, auch Giorgio Agamben in Homo Sacer. 56 57 58 59 60
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zu all jenen, die sich physisch mit ihnen am selben Ort befinden, rechtlich jedoch in einer anderen Sphäre.61 Es ist keineswegs so, dass sie von jeder staatlichen Gewalt verschont bleiben, es zeichnet die Rechtlosen vielmehr aus, dass ihnen „dauernd Dinge zustoßen, die ganz unabhängig davon sind, was sie tun oder unterlassen.“62 Weil das Recht auf sie nicht anwendbar ist, sie jedoch in einem mit Staatsgewalt ausgestatteten Territorium gewissermaßen als Anomalie leben, sind sie der Gewalt unvermittelt ausgeliefert, ohne die Möglichkeit, Exekutivakte zu suspendieren oder zumindest nachträglich überprüfen zu lassen. Dadurch verschmelzen Normativität und Faktizität. Die Betroffenen leben in einem Polizeistaat, einem „Regime der Verordnungen“63, in dem alle Anordnungen, anders als das Gesetz, das von seinem Vollzug stets getrennt bleibt, sofort exekutiert werden.64 Die Verordnung schafft Tatsachen, die nicht begründet oder gerechtfertigt werden müssen, wohingegen das Gesetz zunächst bloße Handlungsvorgaben machen kann.65 Zwar entspringen Arendts Schilderung und Analyse einem anderen zeitgeschichtlichen Hintergrund und die Situation der von den Nationalsozialisten Verfolgten lässt sich auch nicht auf zeitgemäße Phänomene der Rechtlosigkeit übertragen. Das Recht des sogenannten Dritten Reiches zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass es zur Exklusion instrumentalisiert wurde. Anders verhält es sich allerdings mit dem Staatenlosen der Zwischenkriegszeit. Ihr Ausschluss war nicht Ziel der politischen Neuordnung Europas in Nationalstaaten, allerdings eine in Kauf genommene Nebenwirkung. Ihnen erging es, wie es heute noch Illegalisierte und sans-papiers erleben: Kein Land ist für sie zuständig, die Inanspruchnahme staatlicher Institutionen birgt stets das Risiko der Abschiebung. Ihre prekäre Lage illustriert, dass ohne die rechtliche Einbindung jene Stabilität und Vorhersehbarkeit fehlen, die Gesetze in den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Handelns zu bieten vermögen. In einem Essay über Franz Kafka illustriert Arendt, inwiefern die Ausgeschlossenheit vom Recht menschliches Leben beeinflusst: Die spezifische Welterfahrung der Dorfbewohner hat sie gelehrt, all dies, Liebe und Arbeit und Freundschaft, als eine Gabe anzusehen, die sie ‚von oben‘, aus den Regionen des Schlosses empfangen mögen, derer sie selbst aber keineswegs mehr Herr sind. So haben sich die einfachsten Beziehungen ins geheimnisvolle Dunkle gehüllt; was im Prozeß die Weltordnung war, tritt hier als Schicksal auf, als Segen oder Fluch, dem man sich mit Furcht und Ehrfurcht interpretierend unterwirft.66
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Vgl. Bushart (2019), 217 f. Arendt (2014a), 613. Ebd., 516. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 526. Arendt (2016a), 95.
Die emanzipatorische Dimension der Menschenwürde bei Hannah Arendt
Die Ausgeschlossenen sind ausgeliefert und haben keinen Raum für ein selbstbestimmtes Leben.67 Sie entsprechen damit der griechischen Vorstellung des zoe, des bloßen Lebens, ohne Möglichkeit, sich von ihren prä-politischen Bedingtheiten zu emanzipieren, ihre Geschichte zu artikulieren und um Zustimmung und Unterstützung für eine Veränderung der gegenwärtigen Zustände zu werben. Da dieser Zustand, der den Menschen auf die bloße Tatsache seiner physischen Existenz reduziert, menschenunwürdig ist, bildet die Anerkennung des Individuums als Rechtsadressat:in notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung für ein Leben in Würde und Freiheit. Der Begriff der Adressabilität entstammt der soziologischen Systemtheorie: Ausgehend von der These, dass Bewusstsein und Kommunikation in Interdependenz stehen, bedürfe es zur Ausbildung beider zunächst die Anerkennung des Individuums als adressabel, als Instanz der Mitteilung.68 Anders als jener der Rechtsfähigkeit ist der Begriff der Rechtsadressabilität also geeignet, die subjektkonstituierende Wirkung und Reziprozität des Rechts zu profilieren. Demnach garantiert nur er den Einschluss in die vermittelte Sphäre und die Verhinderung unmittelbar erfahrener Gewalt. Nicht verwirklicht wird damit jedoch die von Arendt als differencia specifica profilierte menschliche Fähigkeit, die eigenen Angelegenheiten durch Handeln und Sprechen im öffentlichen Raum zu regeln und sich so in seiner Einzigartigkeit zu exponieren, wie ich im folgenden Abschnitt darlegen werde. Die Bedeutung, die Arendt dem privaten und dem gesellschaftlichen Raum mit seinen individuellen Erfahrungen zuspricht ist – wenngleich von ihr nicht ausdrücklich formuliert – kaum zu überschätzen. Im Privaten ist neben den Gefühlen und der individuellen Verbundenheit, die nicht nach dem Maßstab der Öffentlichkeit, nämlich Gleichheit, gemessen werden, sondern idiosynkratisch sind,69 auch der Ort für das Arbeiten, Denken und Erinnern, die unerlässlich für die Ausbildung einer individuellen Integrität sind. In ihrem Essay Über das Böse behandelt Arendt die Unfähigkeit zu Denken70 der sogenannten Schreibtischtäter im Nationalsozialismus. Wenngleich ihr Urteil über Eichmann durch neuere Forschung widerlegt wurde, können ihre Feststellungen in Hinblick auf andere Täter wohl bestehen. Das wahrhaft Böse, so Arendt, sei begangen worden von Menschen, die sich weigern zu denken oder sich zu erinnern und deswegen keine Tiefe haben und keine Wurzeln schlagen.71 Erinnern brauche Rückzug, ein Leben, das sich bloß in der Öffentlichkeit abspielt, drohe zu verflachen.72 Denken
Vgl. Benhabib (1996), 54. Vgl. Fuchs (1997), 52. Vgl. Arendt (2014a), 623 f. Arendts Feststellung, dass Eichmann unfähig gewesen sei zu denken, rief bei der Veröffentlichung ihres Prozessberichts Eichmann in Jerusalem Protest hervor. Ihr wurde unterstellt, die grausamen Taten zu verharmlosen. Arendt versteht das Denken allerdings als „stillen Dialog“ (Arendt, (2015a), 83) mit sich selbst, der verhindere, dass man sich in eine Lage bringt, in der man sich selbst verachten müsste (ebd., 35). 71 Vgl. Arendt (2015a), 77. 72 Vgl. Vgl. Arendt (2015b), 86 f. 67 68 69 70
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und Erinnern schaffen die für die Enthüllung der Person im öffentlichen Raum unerlässliche Integritätskonstruktion,73 sie bringen ein Gewissen und somit individuelle Handlungsgrenzen hervor. Auch deswegen ist es unerlässlich, dass zu der Rechtsadressabilität auch die Rechtssubjektivität tritt, also die durch das Recht gewährleistete Freiheit vom Recht. Der Mensch wird als individuell und autonom anerkannt, das Recht garantiert seine Freiheit als bürgerliches Subjekt, das heißt die Möglichkeit, Verträge zu schließen, die eigene Religion zu praktizieren und im Privaten idiosynkratische Beziehungen zu führen.74 Die Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe, die elementar für diesen Status sind, sind Merkmal des Rechtsstaates, bergen jedoch kein demokratisches Element. Vielmehr wird das Individuum in die Sphären des Hauses verwiesen und steht dem Recht in „wohlgeordneter Knechtschaft“75 gegenüber. Diese Feststellung ist auch für die Analyse der rechtlichen Situation der Bevölkerung in Deutschland hilfreich: Denn obgleich die Menschenwürde für alle sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes befindlichen Menschen verfassungsrechtlich verbürgt ist, ist die Ausübung der grundlegenden politischen Rechte in der repräsentativen Demokratie, das aktive und passive Wahlrecht, neben der Erreichung des Wahlalters vor allem an die restriktiv gehandhabte Staatsbürgerschaft geknüpft.76 Über die Gesetze, die das öffentliche, gemeinsame Leben strukturieren, kann also mittelbar nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung disponieren, wenngleich alle durch sie adressiert werden. Auch soweit Rechtssubjektivität für jeden Menschen innerhalb einer politischen Ordnung garantiert wird, sind diejenigen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, nicht in der Lage, ihre Situation durch aktives Einschalten in das politische Geschehen zu verändern, ihnen wird die Rechtskoautor:innenschaft verweigert.77 Die ihnen zugesprochenen Rechte sind daher stets nur abgeleitete und von den Staatsbürger:innen in ihrer Existenz, Ausformung und Entwicklung abhängige.78 Das skizzierte demokratische Defizit beruht auf einem defizitären Gleichheitsbegriff. Die Gleichberechtigung, die die Errungenschaft der Moderne darstellen soll, wird ihrerseits kategorisiert und gilt vollumfänglich bloß für einen Teil der Bevölkerung, für die Staatsbürger:innen. Es ist nicht davon auszugehen, dass es für Arendt grundsätzlich in Problem darstellt, wenn nicht die gesamte Bevölkerung wählen kann. Jedes Einschalten in die gemeinsame Welt durch das Handeln bedeutet stets auch eine Verantwortungsübernahme für den Zustand und die Fortentwicklung des Gemeinsamen. Auch deswegen kann die Partizipationsmöglichkeit normativ an den nicht nur vorübergehenden Aufenthalt in einem Territorium geknüpft werden. Mit Arendt Vgl. Arendt (2015a), 87. Vgl. Bushart (2019), 52. Brunkhorst (2011), 232. Vgl. Art. 38 Abs. 2, Abs. 3 GG i. V. m § 12 Abs. 1 BWahlG Vgl. auch Habermas, der sein Diskursprinzip darauf zurückführt, dass eine Selbstgesetzgebung von Bürger:innen vorliegt, so dass diejenigen, die als Adressat:innen dem Recht unterworfen sind, sich zugleich als Autor:innen des Rechts verstehen können (Habermas (1998), 153). 78 Vgl. Brunkhorst (2011), 232. 73 74 75 76 77
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zu problematisieren ist jedoch die gegenwärtige Verfasstheit der Partizipationsrechte, die den Status als citoyenne noch immer an präpolitische Merkmale knüpft. Denn solange nicht für jeden Menschen innerhalb der Rechtsgemeinschaft eine Teilhabe an der gemeinsamen Welt garantiert ist, ist auch das Recht auf Rechte nicht vollständig verwirklicht. Dies zeigt sich an dem zweiten Teil ihrer Definition: Sie verlangt als Recht auf Rechte nicht die bloße Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Ihre Forderung geht darüber hinaus, wenn sie mit der Zugehörigkeit das Recht auf einen Standort in der Welt benennt, „durch den allein er [der Mensch, B. B.] überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.“79 Die Beurteilung aufgrund von in der Öffentlichkeit ausgeführten Handlungen und Meinungen dient der Sicherung der für Arendt so existenziellen Freiheit der Person. Wie bereits aufgezeigt, lehnt sie eine politische Ordnung basierend auf präpolitischen Eigenschaften ab und unterstreicht, dass die in der Politik verwirklichte Freiheit auch jene sei, sich von individuellen Gegebenheiten zu emanzipieren und sich in seiner personalen Einzigartigkeit zu exponieren. Das sei nur dann möglich, wenn das Gesetz eine Gleichheit garantiert, deren Wirkung jener von Masken im antiken Theater entspricht: Diese haben das Gesicht verdeckt, jedoch die individuelle Stimme hören lassen.80 Nur so kann gewährleistet werden, dass die Person im Öffentlichen nicht rassistischen, sexistischen oder anderen exkludierenden Beurteilungen unterliegt, sondern allein aufgrund ihrer Handlungen und Meinungen beurteilt wird.81 In einer derartigen Formation erfolgt die Anerkennung des: der Anderen nicht aufgrund der Intimität der Verwandtschaft, sondern aufgrund der Gleichheit in der Verschiedenheit, aufgrund des Auch-Person-Sein des Gegenübers.82 6.
Die Zumutung des Anderen: Von der Pluralität und der Kohabitation
Die Pluralität, das Zusammenleben mit Menschen, die wir uns nicht aussuchen können, ist für Arendt die conditio humana.83 Die Verschiedenheit von Individuen ist dabei nicht bloß ein von der Politik zu bewältigendes Faktum, sondern ihr Existenzgrund. Die Axiome der Pluralität und Verschiedenheit sind das Fundament von Arendts Ab-
Arendt (2014a), 613. Vgl. Arendt (2014c), 136–138. Das Maskengleichnis geht über die bloße Illustration der republikanischen Gleichheit hinaus. Rechte und Pflichten, so Arendt, seien ebenfalls an die Maske, die ‚juristische Person‘ (Arendt (2014c), 136) gebunden, nicht an den ‚natürlichen Menschen‘ (ebd.). Damit wendet sie sich gegen die Auffassung, dass Bürger:innen auch ihre Moralvorstellungen oder Lebensweisen harmonisieren müssten und beschränkt den Raum des Rechts auf die Öffentlichkeit. 82 Vgl. Bushart (2019), 263. 83 Vgl. Butler (2013), 179. 79 80 81
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lehnung einer Verfügungsgewalt des demos über seine eigene Verfasstheit. Die Prämisse der modernen europäischen Rechtstradition produziert Exklusionen und verhindert dadurch die Verwirklichung des politischen Potentials des Menschen und schafft somit einen nicht-menschengerechten Zustand. Art. 13 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte normiert das Recht eines jeden Menschen, jedes Land, auch das eigene, zu verlassen. Das ‚Einsperren‘ der Einwohner:innen kennzeichnet also im liberalen Denken gemeinhin eine Diktatur. Allerdings wird die Kehrseite keineswegs mit entsprechendem Nachdruck vertreten. Die Freiheit zu immigrieren wird mit Verweis auf die Vereins- oder Familienstruktur des Staates negiert.84 Das Volk wird als homogene Gruppe verstanden, deren Gleichheit auf prä-politischen Eigenschaften beruht.85 Ein solches Ordnungsverständnis ist mit Arendts Konzept nicht kompatibel. Sie versteht die Erde als gemeinsam bewohnten Ort, der allen gehört, und lehnt daher einen Anspruch auf Zugehörigkeit, abgeleitet aus dem Zufall der Geburt, als menschenunwürdig ab.86 Deswegen zeichnet es eine menschengerechte Gemeinschaft aus, den Anspruch auf Rechte im Sinne der Zugehörigkeit so zu garantieren und zu transzendieren, dass er nicht der Willkür der ephemeren politischen Meinung ausgesetzt ist. Diese Garantie kann die Verfassung bieten, die als Resultat des Gründungsaktes dem unmittelbaren politischen Zugriff entzogen ist und auch von den jeweils Herrschenden befolgt werden muss.87 Der Vorrang, den Arendt als Republikanerin der rechtlichen Verfasstheit vor dem ungezügelten Volkswillen einräumt, entspringt vermutlich auch ihrer eigenen Biografie, ihren Erfahrungen als Jüdin im sogenannten Dritten Reich. Und obwohl sie kaum als Radikaldemokratin bezeichnet werden kann, sondern eine politische Gemeinschaft stets so verfasst wissen wollte, dass „Gesetze, und nicht Menschen herrschen“88 attestiert sie in Über die Revolution, dass eine wahre constitutio libertatis nur dann vorliege, wenn neben den bürgerlichen Rechten auch die politische Freiheit gesichert sei.89 Eine „solche Freiheit ist nie verwirklicht, wenn das Recht auf aktive Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten den Bürgern nicht garantiert ist.“90 Der demos ist bei Arendt also nicht, wie man zunächst vermuten mag, eine politische Größe, deren Bedeutung sich in einem einmaligen Gründungsakt erschöpft, der in einem als Verfassung im politischen Raum transzendierten Gesellschaftsvertrag mündet.91 Der Diskurs über die Verfasstheit der politischen Gemeinschaft ist damit nämlich keines-
So z. B. prominent bei Walzer in Sphären der Gerechtigkeit (vgl. mit weiteren Ausführungen: Cassee (2016), 38–55., 97–111). 85 Vgl. Di Cesare (2021), 71. 86 Vgl. Shklar (2020), 91. 87 Vgl. Arendt (2012), 162. 88 Arendt (2014c), 236. 89 Vgl. ebd., 281. 90 Ebd. 91 Vgl. Maus (2011), 22.
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wegs abgeschlossen und dauerhaft dem Zugriff entzogen. Die Herrschaft der Gesetze beruht auf der Anerkennung der durch sie Adressierten.92 Und diese basiert ihrerseits auf Meinungen, deren Wirkmächtigkeit im öffentlichen Raum davon abhängt, wie viele Menschen sie teilen.93 Dabei sind die Kategorien der Meinung nicht auf Ablehnung und Zustimmung beschränkt, vielmehr können hier auch Veränderungen oder Aktualisierungen bestehender Normen angestoßen werden.94 Insbesondere unter der Annahme eines sich stets aktualisierenden demos kann die Neuaneignung von Gesetzen zu „demokratischen Iterationen“95 führen: Rekurrierend auf Derrida bezeichnet Benhabib damit das Phänomen, dass jede Wiederholung oder Anwendung einer Norm nie genau die ursprüngliche Bedeutung reproduziert, sondern diese dadurch stets (re-) interpretiert und aktualisiert96 und somit an eine sich verändernde Bevölkerung angepasst werden. Deswegen bilden Meinungs- und Versammlungsfreiheit die grundlegenden politischen Rechte in Arendts Theorie. Während die Meinungsfreiheit fundamental für den Prozess der politischen Willensbildung, für das Sprechen als Teil des Handelns, ist, dient die Versammlungsfreiheit der Emanzipation der Marginalisierten: Arendt, die eigentlich nicht für ihre empathische Sicht auf Armut und ihr Verständnis für soziale Fragen bekannt ist, erkennt in Über die Revolution [1963] an, dass gerade prekäre Lebensverhältnisse Menschen aus der Öffentlichkeit verdrängen. Sie zitiert Brecht „Denn die einen sind im Dunkeln/ Und die andern sind im Licht/ Und man siehet die im Lichte/ Die im Dunkeln sieht man nicht“97 und verweist anschließend auf das Potential der Versammlung. In der Öffentlichkeit erscheinende Körper vermögen das kollektive Anliegen durch physische Präsenz sichtbar zu machen und so in den politischen Diskurs einzubringen. 7.
Ein „anthropologischer Universalismus“98
Die irreduzible Disposition zum Politischen, die in Arendts Theorie aus der Pluralität als conditio humana hergeleitet wird, bildet den Kern der menschlichen Würde. Damit geht ihr Würdebegriff auch über jenen hinaus, der sich im Art. 1 des Grundgesetzes findet. Dieser normiert einen Achtungsanspruch, der dann verletzt wird, wenn „der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“99 Dieses Instrumentalisierungsverbot findet sich in verschiedenen 92 93 94 95 96 97 98 99
Vgl. Arendt (2014b), 42. Vgl. ebd. Vgl. Benhabib (2008), 175 f. Ebd., 176. Ebd. Arendt (2014c), 86. Behabib (1996), 49. Dürig (1956), 127.
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Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, wie beispielsweise zur Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes oder auch zum Folterverbot. Ihm liegt eine Vorstellung vom Menschen als Subjekt zugrunde, das das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeits-, auf Glaubens- und Religionsfreiheit, auf den Schutz der Familie hat. Die konkrete Ausgestaltung der Verfassung illustriert jedoch, dass die Befähigung zum Politischen kein Bestandteil des Kerns menschlicher Existenz ist, der die Würde bildet. So ist – wie dargelegt – das Wahlrecht an die restriktiv gehandhabte Staatsangehörigkeit geknüpft, über die wiederrum nur der bereits gebildete Souverän disponieren kann. Nicht enthalten ist somit die Möglichkeit, aktiv an der Gestaltung des Gemeinwesens teilzuhaben und als Gleiche:r unter Gleichen über diejenigen Gesetze mitzubestimmen, denen man unterworfen ist. In dieser Gegenüberstellung offenbart sich das emanzipatorische Potential des Arendt’schen Würdebegriffs: Er ist nicht beschränkt auf ein unbehelligtes Leben als burgeoise, sondern bildet Grundlage eines Anspruchs auf Partizipation. Seine Entfaltung wirft ein Licht auf jene Grenzen des Rechts, die sich nicht nur als territoriale Demarkationslinien finden, sondern auch innerhalb einer politisch verfassten Gemeinschaft. Auch in aktuellen Rechtsordnungen sind jene Probleme nicht bewältigt, die insbesondere auf ein noch immer auf Nationalismus und Souveränität beruhendes Rechtssystem zurückzuführen sind. Arendt geht mit ihrer Forderung eines subjektiven Anspruchs auf Teilhabe weit über Kants Weltbürgerrecht hinaus, da sie sich nicht in einem Besuchs- oder Asylrecht erschöpft, sondern eine aktive Aufnahme der interpersonalen Beziehungen verlangt.100 Und so bietet Arendts vielfach rezitiertes Recht auf Rechte eine Argumentationslinie, die den Einschluss von Ankommenden als aus der menschlichen Würde erwachsende politische Notwendigkeit kennzeichnet. Literaturverzeichnis
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Rechtspersonalität und die Zerstörung der Person im Nationalsozialismus verfasst und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Walter Pauly am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Recht- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort befasst sie sich vorwiegend mit den Interdependenzen von Recht und Politik.
Teilnahme und Teilnahmefähigkeit Eine Herausforderung für Habermas’ Diskurstheorie des Rechts
TATJANA NOEMI TÖMMEL
Participation and the Capacity to Participate A Challenge for Habermas’ Discourse Theory of Law Abstract: A central element of Jürgen Habermas’ philosophy of law is the legitimation of legal norms
through a fair democratic process. If the legitimacy of the law is based on equal participation in political discourses, but these presuppose a certain degree of rationality and the capacity for autonomy, the equal right to participate is ultimately based on a minimum of empirical equality. The paper illuminates the requirement of the competence to participate and addresses the problem of persons who cannot be authors of their own rights. Finally, possible implications of non-participation for legal practice and legal theory will be discussed and a more inclusive way to justify legal norms is suggested. Keywords: theory of law, discourse theory, Habermas, justification of norms, participation, autonomy, advocatory ethics Schlagworte: Rechtstheorie, Diskurstheorie, Habermas, Rechtfertigung von Normen, Partizipation, Autonomie, advokatorische Ethik
1.
Grundlinien von Habermas’ Diskurstheorie des Rechts
In diesem Beitrag will ich erstens die Grundlinien von Habermas’ Diskurstheorie des Rechts skizzieren (1). Zweitens will ich die Voraussetzung faktischer Teilnahmefähigkeit für die gleichberechtigte Teilnahme am öffentlichen Diskurs beleuchten und dabei auf Personengruppen eingehen, deren Teilnahmefähigkeit eingeschränkt ist (2). Im letzten Teil sollen die Implikationen der Nichtteilnahme für die Rechtspraxis und Rechtstheorie erörtert werden (3).
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Tatjana Noemi Tömmel
Der emanzipatorische Impetus, der die Kritische Theorie der Frankfurter Schule seit ihren Anfängen auszeichnet, zeigt sich auch in der Rechtstheorie, wie sie u. a. durch Jürgen Habermas geprägt wurde. Besonderer Verdienst dieser Theorie, die er in Faktizität und Geltung (1992) entwickelt, ist die Vereinigung normativistischer und positivistischer Ansätze.1 Die spannungsreiche Doppelnatur des Rechts zwischen Sein und Sollen, Faktizität und Geltung, Positivität und Legitimität knüpft einen roten Faden, der sich durch das ganze Buch zieht.2 So geht Habermas davon aus, dass sich im „Geltungsmodus des Rechts […] die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimität begründenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden Verfahren der Rechtssetzung“ verschränke.3 Anders als der Rechtspositivismus oder die Systemtheorie annimmt, entwickelt sich das Recht laut Habermas nicht autopoietisch, d. h. es erschafft sich nicht aus sich selbst heraus. Dem Recht gelingt es, normative Ansprüche der Lebenswelt in die Systeme der Administration oder Ökonomie wirksam zu transformieren, da die „Sprache des Rechts“, im Gegensatz zur rein moralischen Kommunikation, für verschiedene Systeme wie die Verwaltung oder die Wirtschaft verständlich sei.4 So kann Habermas am Ideal der legitimen Geltung des Rechts festhalten. Wie aber begründet Habermas die Legitimität des Rechts? Was ist ihre Quelle? Habermas weist natur- oder vernunftrechtliche Ansätze, die Rechtsnormen inhaltlich aus der Moral ableiten, zurück. Das Moralprinzip kann ihm zufolge „keine höhere Legitimität gegenüber dem politischen Gesetzgebungsprozeß […] beanspruchen“5. Rechtsordnungen können zwar nur legitim sein, wenn sie moralischen Grundsätzen nicht widersprechen, aber die Moral sei nicht dem Recht übergeordnet, es bestehe kein „platonisches Abbildungsverhältnis“ zwischen Natur- oder Vernunftrecht und positivem Recht.6 Wenn die inhaltliche Ausgestaltung des positiven Rechts nicht moralisch vorbestimmt sein soll, bleibt der politische Prozess eine mögliche alternative Quelle der Legitimität:7 Ein Ziel von Habermas’ Werk ist es, das Konkurrenzverhältnis zwischen den häufig moralisch verstandenen Menschenrechten und dem genuin politischen Prinzip der Volkssouveränität aufzuklären und zu zeigen, dass beide sich wechselseitig voraussetzen.8 Obwohl Habermas den „Spielraum der politischen Autonomie der
Vgl. Habermas (1994), 21. Vgl. ebd., 124. Ebd., 46. Ebd., 108. Ebd., 117. Ebd., 137. Vgl. ebd., 117: „Gewiß liegt im demokratischen Rechtsetzungsprozeß die Quelle aller Legitimität; und dieser beruft sich wiederum auf das Prinzip der Volkssouveränität.“ 8 Vgl. ebd., 111 f. 1 2 3 4 5 6 7
Teilnahme und Teilnahmefähigkeit
Bürger“9 nicht durch moralische oder natürliche Rechte einschränken will, gibt er dem „Demokratieprinzip“10 durch die Rechtsform und das „Diskursprinzip“11 einen Rahmen vor. Der so entwickelte „Diskursbegriff des Rechts“12 greift auf seine in früheren Schriften entwickelte Diskursethik zurück.13 Das Diskursprinzip soll den „Gesichtspunkt klären, unter dem Handlungsnormen überhaupt unparteilich begründet werden können“14; als solches geht es der Unterscheidung in Moral und Recht noch voraus. In seiner klassischen Formulierung besagt es, dass „genau die Handlungsnormen“ gültig seien, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“15 Obwohl Habermas’ Diskurstheorie sichtbar von Kant geprägt ist und er an einem Vernunftbegriff ebenso festhält wie am universellen Geltungsanspruch, gibt es entscheidende Unterschiede: Anders als Kant, aber auch als Rawls oder Mead, sichert Habermas die universale Geltung von Normen nicht durch Gedankenexperimente wie den ‚Schleier des Nichtwissens’ im fiktiven Urzustand oder Rechtfertigungsprinzipien wie den kategorischen Imperativ, sondern durch den praktischen Diskurs, also durch einen zugleich sozialen und rationalen Prozess des gemeinsamen Argumentationsaustausches.16 Auf diese Weise will Habermas sicherstellen, dass die Interessen jeder einzelnen Person vertreten sind, ohne dass das „soziale Band“ zerreiße, „das jeden mit allen objektiv verknüpft.“17 Die „ideale Rollenübernahme, die nach Kant von jedem einzeln und privatim vorgenommen wird“ wird in der Diskursethik also „in eine öffentliche, von allen gemeinsam durchgeführte Praxis“18 überführt. In welchem Verhältnis stehen Moral, Politik und Recht aus diskurstheoretischer Sicht? Das Demokratieprinzip ergibt sich laut Habermas durch die Anwendung des Diskursprinzips auf solche „Handlungsnormen, die in Rechtsform auftreten und mit Hilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Gründe – und nicht allein moralischer Gründe – gerechtfertigt werden können.“19 Während sich moralische Fragen auf die Menschheit bzw. eine fiktive Republik von Weltbürgern bezögen und die Gründe für ein moralisches Urteil „im Prinzip von jedermann akzeptiert werden
9 Ebd., 161. 10 Das Demokratieprinzip soll das „Verfahren legitimer Rechtsetzung festlegen“ (ebd., 141). Es sage nur,
wie die Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert werden kann, „nämlich durch ein System von Rechten, welches jedermann die gleiche Teilnahme an einem solchen, zugleich in seinen Kommunikationsvoraussetzungen gewährleisteten Prozeß der Rechtsetzung sichert.“ (ebd., 142) 11 Ebd., 140. 12 Ebd., 111. 13 Vgl. insbesondere Habermas (1983) und Habermas (1991). 14 Habermas (1994), 140. 15 Ebd., 138; vgl. auch Habermas (1991), 12. 16 Vgl. Habermas (1991), 9–30. 17 Habermas (1994), 18. 18 Ebd., 141. 19 Habermas (1994), 139.
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können“ müssen, beziehe sich das Demokratieprinzip nur auf die Lebensform eines bestimmten Gemeinwesens und müsse deswegen nur für alle akzeptabel sein, welche die jeweiligen Traditionen und Wertungen teilen.20 Innerhalb solch einer Gemeinschaft können nur diejenigen Gesetze legitime Geltung beanspruchen, „die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können.“21 Um das Prinzip der Universalität zu wahren, impliziert dies allerdings die Zumutung an die Bürger:innen, dass sie nicht nur ihre Privatinteressen verfolgen, sondern ihren Willen am Gemeinwohl orientieren,22 d. h. „aus der Rolle privater Rechtssubjekte“ herausschlüpfen, um „mit ihrer Staatsbürgerrolle die Perspektive von Mitgliedern einer frei assoziierten Rechtsgemeinschaft zu übernehmen“.23 Die Vorteile des Diskurses liegen auf der Hand: So sehr wir uns auch redlich bemühen mögen, in foro interno eine ideale, unparteiliche Rolle einzunehmen, um Normen zu finden, die tatsächlich für alle gleichermaßen akzeptabel sind – wer kann wirklich aus der Perspektive ganz anderer Personen oder Gruppen denken, gerade wenn sie ganz unterschiedliche Lebenssituationen haben? Der wesentliche Grund, warum Habermas die Volkssouveränität bzw. die politische Autonomie der Bürger so stark macht, liegt darin, dass Normen nur dann legitim sind, wenn die Bürger selbst sich über ihre Geltung verständigt haben. Die „Idee der Selbstgesetzgebung von Bürgern fordert nämlich, daß sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, zugleich als Autoren des Rechts verstehen können.“24 Habermas wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass sich die Beteiligten selbst erst verständigen müssen, was eine emanzipierte Lebensform ausmacht:25 „Letztlich können die privaten Rechtssubjekte nicht in den Genuss gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klarwerden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll.“26 Ob alle Betroffenen aus guten Gründen zustimmen können, könne sich deshalb nur „unter den pragmatischen Bedingungen von Diskursen herausstellen, in denen auf der Grundlage einschlägiger Informationen allein der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt.“27 Damit macht Habermas die
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Ebd., 139. Ebd., 141. Vgl. ebd., 111. Ebd., 50. Ebd., 153. Vgl. ebd., 12. Ebd., 13. Ebd., 133.
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Legitimität des Rechts von der Institutionalisierung demokratisch strukturierter Diskurse abhängig.28 Vor diesem Hintergrund betont er den „intersubjektive[n] Sinn der subjektiven Rechte“, die „auf der reziproken Anerkennung kooperierender Rechtssubjekte“29 beruhen. Rechte werden also nicht primär als subjektive Ansprüche verstanden, sondern als Beziehungen mit wechselseitig geltenden Pflichten und Ansprüchen.30 Da der Rechtsstaat ohne diese grundlegenden demokratischen Strukturen nicht funktionieren kann, geht Habermas davon aus, dass die „Existenzberechtigung des Staates […] nicht primär im Schutz gleicher subjektiver Rechte [liegt], sondern in der Gewährleistung eines inklusiven Meinungs- und Willensbildungsprozesses, worin sich freie und gleiche Bürger darüber verständigen, welche Ziele und Normen im gemeinsamen Interesse aller liegen.“31 Moralprinzip und Demokratieprinzip sind also zwei unterschiedliche Anwendungsformen des Diskursprinzips, wobei sich das Demokratieprinzip „vom praktisch-moralischen Diskurs vor allem dadurch [unterscheidet], dass es selbst mit den Mitteln der Rechtsform institutionalisiert werden muss.“32 Voraussetzung für die „paradoxe Entstehung von Legitimität aus Legalität“33 ist aus diskurstheoretischer Sicht folglich die Institutionalisierung eines fairen Verfahrens, das der Schöpfung von Rechtsnormen zugrunde liegt. Diese sind legitim, weil sie auf der gleichberechtigten, nach gerechten Grundsätzen ablaufenden Teilnahmemöglichkeit an genau diesem Meinungs- und Willensbildungsprozesses bzw. öffentlichen Diskurs beruhen. Statt die Volkssouveränität an inhaltlich ausgestaltete Menschenrechte zu binden, entwirft Habermas vier bzw. fünf transzendentale Rechte, welche die Bedingungen der Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme sicherstellen sollen und somit allen anderen, politisch erst auszugestaltenden Rechten, noch vorausgehen. Es handelt sich hierbei also nicht um Grundbedingungen des guten Lebens oder des Menschseins wie in anderen, konkurrierenden Ansätzen, sondern um die Bedingungen politischer Autonomie.34 Vgl. ebd., 142 und 134: „Wenn aber Diskurse […] den Ort bilden, an dem sich ein vernünftiger Wille bilden kann, stützt sich die Legitimität des Rechts letztlich auf ein kommunikatives Arrangement: Als Teilnehmer an rationalen Diskursen müssen die Rechtsgenossen prüfen können, ob eine strittige Norm die Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen findet oder finden könnte.“ 29 Ebd., 116. 30 Vgl. ebd., 117: „Subjektive Rechte sind nicht schon ihrem Begriffe nach auf atomistische und entfremdete Individuen bezogen, die sich possessiv gegeneinander versteifen. Als Elemente der Rechtsordnung setzen sie vielmehr die Zusammenarbeit von Subjekten voraus, die sich in ihren reziprok aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten als freie und gleiche Rechtsgenossen anerkennen. Diese gegenseitige Anerkennung ist konstitutiv für eine Rechtsordnung, aus der sich einklagbare subjektive Rechte herleiten. […] Irreführend ist freilich ein etatistisches Verständnis des objektiven Rechts; denn dieses geht erst aus den Rechten hervor, die sich die Subjekte gegenseitig zuerkennen.“ 31 Ebd., 329. 32 Günther (2006), 201. 33 Habermas (1994), 110. 34 Vgl. Forst (2012), 198–204. 28
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Welche Grundrechte liegen Habermas’ prozeduraler Theorie des Rechts zugrunde?35 Habermas nennt vier absolut geltende Grundrechte,36 die jeweils politisch ausgestaltet werden müssen: 1. Das Recht auf ein größtmögliches Maß an Handlungsfreiheit 2. Das Recht auf die Mitgliedschaft in einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen 3. Das Recht auf die Einklagbarkeit von Rechten, ein faires Verfahren und individuellem Rechtsschutz 4. Das Recht auf die „chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungsund Willensbildung, worin Bürger […] legitimes Recht setzen“37 Diese vier Rechte begründen den Status von freien und gleichen Bürgern, die dann in der Lage sein sollen, die „materiale Rechtsstellung mit dem Ziel der Interpretation und Ausgestaltung privater und öffentlicher Autonomie zu verändern.“38 Hinzu kommt 5. ein relativ geltendes Teilhaberecht, nämlich „auf die Gewährung von Lebensbedingungen, die in dem Maße sozial, technisch und ökologisch gesichert sind, wie dies für eine chancengleiche Nutzung der (1) bis (4) genannten bürgerlichen Rechte […] notwendig ist.“39 Mit diesen wenigen transzendentalen Rechten scheint Habermas den größtmöglichen politischen Gestaltungsspielraum mit wenigen, aber notwendigen Grundprinzipien vereinbaren zu wollen, ohne die legitime Entscheidungen nicht möglich sind. Allerdings ist es fraglich, ob diese rechtliche Rahmung des demokratischen Verfahrens tatsächlich eine „paradoxe Entstehung von Legitimität aus Legalität“40 darstellt, oder ob die Möglichkeit der Legitimität nicht schon in der normativen Fundierung des Verfahrens selbst wurzelt. Denn die Grundrechte auf Freiheit und Gleichheit, die Habermas nennt, beruhen letztlich auf einer Moral der gleichen Achtung, die nicht im Diskurs gefunden wird, sondern diesem schon vorausgesetzt ist.41 Ich komme später auf diesen Verdacht einer zirkulären Begründung zurück.
Habermas’ diskurstheoretisch rekonstruierte System der Rechte soll „genau die Grundrechte enthalten, die sich Bürger gegenseitig einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen.“ (Habermas (1994), 151, vgl. auch 668). 36 Ebd., 155 f. 37 Ebd., 156. 38 Ebd., 156. 39 Ebd., 156 f. 40 Habermas (1994), 110. 41 Vgl. die Kritik von Tugendhat (1993), 161–176. 35
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2.
Gleiche Teilnahmefähigkeit als Voraussetzung gleichberechtigter Teilnahme
Im vorangegangenen Teil habe ich die aus meiner Sicht wichtigsten Grundlinien von Habermas’ Rechtstheorie dargestellt. Es sollte dabei deutlich geworden sein, dass die tatsächliche, aktive Teilnahme am Diskurs für Habermas zentral ist, um die Legitimität eines Rechtssystems zu begründen. Dieses Element seiner Theorie birgt aber ein offensichtliches Problem: Wie steht es um die individuelle Teilnahmemöglichkeit oder Teilnahmewahrscheinlichkeit verschiedener Personen? Die „künstliche Vereinfachung“42, die Habermas vornimmt, wenn er eine Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen im Diskurs voraussetzt, erweist sich als problematisches Fundament seiner Theorie. Denn ganz offensichtlich haben nicht alle Bürger:innen dieselbe Teilnahmemöglichkeit – sie kann relativ eingeschränkt sein durch ökonomische, soziale, kulturelle, geschlechtsstereotype oder rassistische Hürden, die die Teilnahme zwar nicht ausschließen, aber wesentlich unwahrscheinlicher machen. Oder sie kann absolut eingeschränkt sein, wenn die Personen nämlich nicht teilnahmefähig sind – ich denke hier an (kleine) Kinder und Menschen mit schweren geistigen Behinderungen oder schweren, dauerhaften psychischen Krankheiten.43 Der Ausschluss ist hier nicht einfach ein willkürlicher Akt der Diskriminierung, der durch emanzipatorische Fortschritte überwunden werden könnte. Personen, die alters- oder krankheitsbedingt solch gravierende mentale Kompetenzunterschiede gegenüber der Norm aufweisen, dass sie nicht als gleichberechtigte Partner:innen auftreten können, erhellen die stillschweigende Voraussetzung faktischer Gleichheit, welche alle rechtstheoretischen Konstruktionen machen, die auf symmetrischen Beziehungen beruhen. Auf den ersten Fall, die relative Einschränkung, geht Habermas in einem Kapitel über Gleichstellung ein.44 Angesichts der „Dialektik von rechtlicher und faktischer Gleichheit“45 scheint es nicht nur die Aufgabe des Staates zu sein, Freiheit und Gleichheit formal zu garantieren, sondern auch tatsächlich herzustellen. Habermas setzt sich ausführlich mit den u. U. paradoxen Wirkungen von Schutz- und Antidiskriminierungsmaßnahmen auseinander.46 So weist er z. B. darauf hin, dass gewerkschaftlich erkämpfte Rechte teilweise von „Schematisierungen und Verhaltensdirektiven“ geprägt seien, die sich als „freiheitseinschränkende Normalisierungen“47 auswirken könnten. Günther (2006), 201. Es sind diese drei Personengruppen, die bereits von den Klassikern des Naturrechts immer wieder erwähnt wurden als solche Personen, die nicht Autor:innen ihrer Rechte sein können (vgl. Hobbes (1985 [1651]), 219 und Locke(1977 [1689]), 236; vgl. in Bezug auf Habermas: Brune (2010)). 44 Vgl. Habermas (1994), 493–515. 45 Ebd., 502. 46 Vgl. ebd., 509 f. 47 Ebd., 498. 42 43
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Er gesteht aber zugleich ein, dass es notwendig sei, „ungleich[e] Lebenslagen und Machtpositionen“ auszugleichen, um rechtliche Gleichheit zu verwirklichen.48 Auch hier betont Habermas wieder, dass die Betroffenen nicht nur entlastet und beschützt, sondern vor allem in ihrer aktiven Beteiligung unterstützt werden sollen, dass sie selbst es sein müssen, die eine „Gegenmacht“49 aufbauen. Fürsorge oder die Abnahme der Problemlösungen allein stellt dagegen eine Entmündigung dar: Ausführlich geht Habermas auf die Gefahr ein, dass die Schutzabsichten, beispielsweise im Arbeits- und Familienrecht, der Intention entgegengesetzte Folgen haben können,50 in eine autoritäre Fürsorge umschlagen und letztlich Freiheit in „Betreuung“ verwandeln würden.51 So könnte beispielsweise eine großzügige Ausgestaltung der Mutterschutz-, Elternund Kindergeldregelung dazu beitragen, durch finanzielle Anreize tradierte Rollen zu verfestigen, statt die politische Autonomie der Eltern selbst zu fördern. Habermas geht allerdings davon aus, dass diese ungewollten Folgen der Gleichstellung durch sein prozeduralistisches Paradigma (also seine Theorie eines gerechten Rechtsetzungsverfahrens) vermieden oder abgeschwächt werden können, wie er am Beispiel der feministischen Gleichstellungspolitik erörtert.52 Als Maßstab dafür, ob eine Gleichstellungs- oder Antidiskriminierungsmaßnahme Autonomie fördert oder hemmt, schlägt Habermas vor, dass die private Autonomie der Bürger:innen diese „für ihre Rolle als Staatsbürger hinreichend qualifizier[en]“ soll.53 Im Anschluss an die feministische Rechtstheorie unterstreicht er, dass die privatautonome Lebensgestaltung von Frauen nur gelingen kann, wenn diese mit dem gleichen Zuwachs an politischer Selbstbestimmung einhergeht – nicht aber durch das sozialstaatliche „Distributionsparadigma“, das die Strukturen der Abhängigkeit nur verdeckt.54 Die Stärkung der privaten Autonomie, beispielsweise durch Umverteilungsmaßnahmen, solle deshalb immer auch der Stärkung der politischen Autonomie dienen.55 Denn der Kampf gegen Unterdrückung und Missachtung, der Kampf um Anerkennung, wie Habermas mit Honneth formuliert, kann nicht an Stellvertreter:innen delegiert werden.56 Auf den zweiten Fall, bei dem eine Teilnahme im skizzierten Sinne ausgeschlossen ist, geht er in Faktizität und Geltung nicht ein.57 Auf diesen Fall will ich jetzt ausführEbd., 501, 495: „Deshalb liegt die Forderung nach einer kompensatorischen Rechtsschutzpolitik nahe, die die Rechtskenntnis, die Wahrnehmungs- und Artikulationsfähigkeit, die Konfliktbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit schutzbedürftiger Klienten stärkt.“ 49 Ebd., 495. 50 Vgl. ebd., 498, 509. 51 Vgl. ebd., 502. 52 Vgl. ebd., 493–515. 53 Ebd., 503. 54 Vgl. ebd., 506. 55 Vgl. ebd., 503, 506, Habermas stützt sich hier auf Iris Marion Young. 56 Vgl. ebd., 514. 57 Dies scheinen auch Dietrich Böhler und Ulf Liedke anzunehmen, vgl. Böhler/Liedke (2018) sowie: Liedke (2018). 48
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licher zu sprechen kommen, weil ich ihn für zentral für die Frage der Rechtspraxis und Rechtstheorie halte. 3.
Implikationen der Nichtteilnahme von einigen Personengruppen für die Rechtstheorie und Rechtspraxis
Wenn sich, wie Habermas schreibt, „mit der Idee einer gerechten Gesellschaft […] das Versprechen von Emanzipation und Menschenwürde“58 verbindet, sich aber zugleich Rechte nur genießen lassen, indem man sie ausübt,59 wie steht es dann um die Würde und die Emanzipation von denjenigen Personen, die auch in der besten aller möglichen Welten nicht gleichberechtigt am politischen Willensbildungsprozess teilnehmen und damit Autor:innen ihrer eigenen Rechte sein können?60 Zumindest (kleine) Kinder ebenso wie mental schwerst beeinträchtigte Menschen sind vom demokratischen Diskurs, in dem über ihre subjektiven Rechte beratschlagt wird, per se ausgeschlossen. Sie werden weder als autonome Wesen respektiert61 noch können sie sozio-politische Entwicklungen gezielt beeinflussen62 oder öffentlich um die Anerkennung ihrer spezifischen Interessen kämpfen.63 Wenn ich richtig sehe, bietet Habermas’ Ansatz für all diese Fälle keine Lösung.64 Er spricht zwar davon, dass die „kommunikative Freiheit eines jeden“ „gleichmäßig“ zum Zuge kommen solle, doch der Kreis ist de facto auf diejenigen Betroffenen eingeschränkt, die „an rationalen Diskursen teilnehmen“ können.65 Die immerzu beschworene reziproke Anerkennung findet nur zwischen „zurechnungsfähige[n] Subjekte[n]“66 statt. Einige Diskurstheoretiker:innen gehen deswegen davon aus, dass die Interessen von „unmündigen“ Personen stellvertretend wahrgenommen werden müssen, sonst
Ebd., 504. Vgl. ebd., 505. Vgl. zu dieser Frage auch Nussbaum (2014), 35. Forst (2012), 199. Ebd., 203. Zum Aufbegehren gegen Missachtung als Ausgangspunkt eines Kampfes um rechtliche und soziale Anerkennung vgl. Honneth (1992). 64 Der Aufsatz „Die Zukunft der menschlichen Natur“ zeigt allerdings, dass Habermas sich dem Problem, dass beispielsweise Ungeborene nicht ihre subjektiven Rechte verteidigen können, bewusst ist (vgl. Habermas (2005), 129). Da sowohl ungeborene Menschen als auch zukünftigen Generationen zwar mit den von mir genannten Personengruppen gemein haben, dass sie nicht am Diskurs teilnehmen können, darüber hinaus aber wichtige Unterschiede zu ihnen aufweisen, werde ich im Folgenden nicht auf sie eingehen. 65 Habermas (1994), 161. 66 Habermas (1991), 18. Habermas behauptet, dass „alle Moralen“ um „Gleichbehandlung, Solidarität und allgemeines Wohl“ kreisen würden – dies seien „Grundvorstellungen, die sich auf die Symmetriebedingungen und Reziprozitätserwartungen des kommunikativen Handelns zurückführen“ ließen (vgl. ebd., 17). 58 59 60 61 62 63
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sei das universalistische Programm der Diskursethik nicht haltbar.67 Wenn aber tatsächlich nur „die Betroffenen selbst die jeweils ‚relevanten Hinsichten‘ von Gleichheit und Ungleichheit klären können“68, kann die Nichtteilnahme nicht durch einen antizipierten oder hypothetischen Konsens69, also durch reflexiv gerechtfertigte Stellvertreterentscheidungen ausgeglichen werden.70 Das Dilemma, das damit einhergeht, wird dadurch verschärft, dass es sich bei den Ausgeschlossenen häufig um besonders verletzliche Personen handelt, die in besonderem Maße von Grundrechtsverletzungen betroffen sein können. Was wissen „wir“ davon, wie es sich beispielsweise für Säuglinge, Kinder oder mental schwer beeinträchtigte Personen anfühlt, in ihrem Leben überwiegend fremdbestimmt zu sein? Wenn diese Fremdbestimmung in unzulässigen Zwang und in Gewalt übergeht, ist es für diese Personengruppen schwer, die Unrechtserfahrung zu artikulieren und unmöglich, sich selbst durch den Verweis auf die eigenen subjektiven Rechte zu schützen und zu verteidigen. Wie geht man mit diesem Dilemma um? Aus meiner Sicht ergeben sich aus ihm zwei Fragen: 1. Wie geht man (rechts-)praktisch mit Personen um, deren Autonomiefähigkeit stark eingeschränkt ist? 2. Wie geht man rechtstheoretisch mit diesem Ausschluss von Personengruppen um? Lässt sich die Legitimität eines Rechtssystems anders begründen als durch symmetrische Anerkennungsbeziehungen und gleiche Teilnahmechancen? 3.1 (Rechts-)Praxis
In diesem Abschnitt will ich sowohl die Auslegung von Gesetzen durch die richterliche Rechtsprechung als auch Handlungen von Personen betrachten, die keine Rechtsexpert:innen sind. Auch wenn sich diese Personen in ihren Handlungsentscheidungen eher an moralischen Maßstäben orientieren dürften, findet ihr Handeln vor der Folie geltender Gesetze statt und kann deshalb als eine praktische Auslegung der Rechtslage verstanden werden. Wie können die berechtigten Ansprüche von Personen, die sich nicht selbst am politischen Willensbildungsprozess beteiligen können, verstanden, politisch vertreten
Vgl. Brumlik (2013), 7; Brune (2010), 455; Böhler (2013), 532. Habermas (1994), 506. Dies scheint Habermas in seinen bioethischen Überlegungen über den Umgang mit Embryonen vorzuschweben (vgl. Habermas (2005), 78 f.). 70 Die diskursethischen Ansätze von Karl-Otto Apel und Dietrich Böhler dagegen sind nicht nur gut mit einer advokatorischen Ethik vereinbar, sondern diese stellt sogar ein grundlegendes Element dar (vgl. Böhler/Liedke (2018), 436 f.; Böhler (2013), 466). 67 68 69
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und rechtlich umgesetzt werden?71 Das Problem der eingeschränkten Autonomiefähigkeit betrifft sowohl die politische als auch die private Autonomie. Letztere dürfte das im Alltag häufiger zu Tage tretende Problem sein, beispielsweise bei Entscheidungen über medizinische Behandlungen oder andere Verträge. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass die Privatautonomie bedeutsamer wäre als die politische Autonomie, zumal beide in Habermas’ Augen zwar unterschieden, aber nicht voneinander zu trennen sind: Subjektive Rechte schützen die private Autonomie der Rechtsadressat:innen, die aber nur durch die Aktualisierung ihrer politischen Autonomie, d. h. durch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs, der einen Einfluss auf den demokratischen Gesetzgebungsprozess haben kann, auch Autor:innen dieser Rechte sein können. Insofern setzen sich politische und private Autonomie laut Habermas wechselseitig voraus bzw. sind „gleichursprünglich“.72 Grundsätzlich scheinen drei Modelle zur Verfügung zu stehen, wie die Selbstbestimmung von Menschen mit eingeschränkter oder aufgehobener Autonomiefähigkeit realisiert werden kann: Erstens können sie auf Basis des sogenannten natürlichen Willens73 selbst entscheiden. Zweitens könnten Stellvertreterentscheidungen in ihrem Sinne getroffen werden und drittens ließen sich beide Möglichkeiten im Sinne einer unterstützten Selbstbestimmung vereinen. Zur ersten Möglichkeit: Inwieweit sollten die genannten Personengruppen auf Basis des natürlichen Willens selbst entscheiden? Im Gegensatz zum rechtlich bindenden autonomen Willen bezeichnet der „natürliche Wille“ juristisch jene Willensäußerungen „eines Menschen, dem zum Äußerungszeitpunkt die Fähigkeiten zur freiverantwortlichen Willensbildung fehlen“74. Er kann sowohl durch verbale Äußerungen als auch durch Mimik, Gestik oder körperlichen Widerstand kundgetan werden. Obwohl einige Autor:innen den Begriff für verwirrend und „entbehrlich“75 halten, ist sein Status und die Frage, inwieweit er berücksichtigt werden sollte, in den letzten Jahren vermehrt diskutiert worden.76 Hintergrund dieser Debatte ist die zunehmende Problematisierung von Zwangsbehandlung bei einwilligungsunfähigen Patient:innen.77 So hat die neuere deutsche Rechtsprechung die Anforderungen an die rechtliche Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen erhöht und gefordert, den natürlichen Willen der Patient:innen stärker als bisher zu berücksichtigen. Die Ärzt:innen sind verpflichtet zu versuchen, „eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erhalten“78. Obwohl sich
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Zu diesem Anliegen: Ulf Liedke in Böhler/Liedke (2018), 439. Habermas (1994), 155. Ausführlich bei Neuner (2018). Jox et al. (2014), 395; vgl. auch Neuner (2018), 15. Beckmann (2013), 604. Joerden (2018). BverfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011–2 BvR 882/09, Rn. 1–83. Nossek et al. (2018), 108.
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das Urteil auf Patient:innen in der Psychiatrie bezog, lassen sich dieselben Prinzipien grundsätzlich auch auf andere Personengruppen wie Kinder übertragen. Der Status des natürlichen Willens ist allerdings umstritten: Einerseits wird kritisiert, dass eine Aufwertung des natürlichen Willens als Form der Selbstbestimmung die Gefahr birgt, die fundamentale Bedeutung des Autonomieprinzips nachhaltig zu beschädigen.79 Andererseits wird hervorgehoben, dass die Rechtsfähigkeit nicht von mentalen Fähigkeiten abhängen dürfe, sondern nur vom reinen Menschsein,80 und der natürliche Wille gerade gegenüber dem mutmaßlichen Willen sein eigenes Gewicht habe.81 So können die aktuellen Präferenzen des natürlichen Willens zum Beispiel stark von denjenigen abweichen, die sich aus den früheren autonomen Entscheidungen einer Person oder ihren allgemeinen Wertmaßstäben mutmaßlich ableiten lassen. Zweifellos ist die Achtung des natürlichen Willens in manchen Aspekten der Lebensgestaltung eine vertretbare und auch praktizierte Möglichkeit. Zum Beispiel ist ein Vetorecht in Bezug auf Eingriffe in die körperliche Integrität ein wichtiges Instrument der Selbstbestimmung, solange die Person sich nicht selbst (oder andere) dadurch in Gefahr bringt. In anderen Fällen aber ist der Verweis auf den natürlichen Willen entweder überhaupt keine Option – etwa für Komapatient:innen – oder eine grobe Verletzung der Schutzpflicht, beispielsweise wenn man Kindern oder schwer beeinträchtigten Menschen zumuten würde, komplexe Entscheidungen mit weitreichender Konsequenz zu treffen, welche die Fähigkeit voraussetzen, Risiken und Chancen gegeneinander abzuwägen. Ein Baby beispielsweise könnte die Vor- und Nachteile eines medizinischen Eingriffs nicht einmal verstehen. Ein Vorschulkind wäre vielleicht in der Lage, diese theoretisch zu begreifen, nicht aber, durch die Antizipation der zukünftigen Vorteile seinen Willen so zu bestimmen, dass es bereit wäre, kurzfristige Nachteile (wie etwa Schmerz) in Kauf zu nehmen. Sollen nicht autonomiefähige Personen in bestimmten Fällen also einem Paternalismus82 bzw. Maternalismus überantwortet, also genau jener wohlmeinenden Betreuung und Fürsorge unterworfen werden, die Habermas aus guten Gründen ablehnt? Selbst wenn sie wirklich aus rein benevolenten Motiven getroffen werden, sind Stellvertreterentscheidungen immer ausgesprochen fehleranfällig, insofern die Möglichkeit, für einen anderen zu handeln, immer Irrtümern unterliegen und vor diesem Hintergrund leicht in Zwang und Gewalt münden kann.83 Selbst wenn man ein gewisses Maß von Paternalismus für unvermeidlich hält, stellt sich die Frage, was überhaupt der Maßstab dieser stellvertretenden Entscheidungen Vgl. Jox et al. (2014), A 396. Vgl. Neuner (2018), 17. Dörner (2004), A 2236. Unter ‚Paternalismus‘ verstehe ich mit Dworkin die Einschränkung der Freiheit einer Person in ihrem eigenen Interesse, also eine benevolente Bevormundung (vgl. Dworkin (2015), 21). 83 Böhler/Liedke (2018), 437. Die Fehlentscheidungen, die man in Bezug auf sich selbst trifft, sind damit insofern nicht vergleichbar, weil dem Freiwilligen kein Unrecht geschieht (volenti non fit inuiria). 79 80 81 82
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sein soll: etwa eine neoaristotelische Anthropologie, die hilft, objektive Bedürfnisse zu ermitteln, wie sie z. B. Martha Nussbaum mit ihrem „Fähigkeitenansatz“84 vorgelegt hat? Am Anfang dieses „ergebnisorientierten Ansatz[es]“ steht eine substantielle Vorstellung des Guten, nämlich eine Liste von zehn menschlichen Fähigkeiten oder Ansprüchen, deren Ermöglichung für ein Leben in Würde wesentlich sein soll.85 Da Nussbaum zufolge aber nicht alle möglichen menschlichen Fähigkeiten um ihrer selbst willen geschützt werden sollen, sondern nur solche, die als normativ gerechtfertigt gelten,86 scheint man wieder auf die von Habermas zurückgewiesene reflexive Prüfung der moralischen Gültigkeit von Handlungsmaximen, also ein an Kants Moralphilosophie angelehntes Modell, zurückverwiesen, welches das Diskursprinzip im Sinne eines hypothetischen Konsenses auslegt und damit die konjunktivische Formulierung – alle Betroffenen sollen zustimmen können – ernst nimmt. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Frage zurückkommen, welchen Status die Beteiligung im Diskurs bei Habermas für die Legitimität des Rechts eigentlich hat. Ist die Zustimmung der betroffenen Personen die notwendige Bedingung, um zu inhaltlich legitimen Entscheidungen zu gelangen, oder dient sie eher der performativen Anerkennung der Betroffenen? Sind es wirklich die Betroffenen selbst, die die besten, d. h. moralisch oder politisch legitime Entscheidungen treffen können?87 Habermas sieht, dass der moralische oder rechtliche Diskurs auf einen qualifizierten Konsens hinauflaufen muss, nicht bloß auf einen durch Mehrheitsbeschluss oder die Macht einer durchsetzungsfähigen Minderheit beruhenden Kompromiss. Um dies sicherzustellen, fordert er erstens eine ideale Rollenübernahme von allen Diskursteilnehmer:innen und sichert zweitens die Legitimität des Rechtsdiskurses durch fünf vorgängige Grundrechte ab. Er schränkt mit anderen Worten den Entscheidungsspielraum der Akteur:innen im Diskurs von vorneherein deutlich ein. Vor diesem Hintergrund ist es erstens fraglich, ob es sich tatsächlich noch um die authentischen Entscheidungen der Betroffenen handelt, die ja gerade nicht ihre eigenen Interessen artikulieren und durchsetzen, sondern für das allgemein Richtige argumentieren sollen. Zweitens zeigt diese Einschränkung, dass nicht die Zustimmung der Betroffenen das Kriterium der Legitimität ist, sondern das moralische Prinzip, alle anderen Personen als freie und gleiche zu achten.88 Wenn diese Kritik an Habermas’ Diskurstheorie zutrifft, ist das wesentliche Hindernis, das einer advokatorischen Vertretung im Wege steht, beiseite geschafft: Denn nicht die tatsächliche Zustimmung der betroffenen Person bestimmt über die Legitimität einer Entscheidung, sondern umgekehrt ist nur dasjenige zu-
Nussbaum (2014). Vgl. zum Bezug auf Aristoteles z. B. ebd., 125. Ebd., 220; 112–114; 122. Vgl. ebd., 232. Tugendhat (1993), 175, bestreitet dies unter dem Hinweis, dass die Unparteilichkeit die beste Voraussetzung für legitime Urteile ist. 88 Vgl. Tugendhat (1993), 174. 84 85 86 87
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stimmungsfähig, was aus der Perspektive einer egalitären Moral richtig ist. Vor diesem Hintergrund scheint die reflexive Prüfung von Handlungsentscheidungen für nicht autonome Personen vertretbar. Doch selbst wenn man wie Tugendhat davon ausgeht, dass Habermas’ Diskurstheorie eine Kantische Moral der gleichen Achtung voraussetzt,89 und vor diesem Hintergrund reflexiv gewonnene Urteile als legitim verteidigen kann, ist die Urteilskraft nicht nur auf allgemeine Prinzipien, sondern auch auf die lebendige Erfahrung der anderen Person angewiesen, um konkrete Handlungsentscheidungen für sie oder mit ihr zu treffen.90 Hier bieten sich zur Orientierung Ansätze an, welche die fundamentale Andersheit der anderen und die Asymmetrie zwischen Menschen für gegeben nehmen.91 In der Beziehung zum anderen wären dann weniger allgemeine Bedürfnisse oder abstrakte Prinzipien von Bedeutung als die Begegnung zwischen Ich und Du,92 die responsive Erfahrung der anderen Person in einer konkreten Situation, von der ein „Appell“ ausgeht, der durch das „Gefühl der Verantwortung“ Gehör finden kann.93 Solch eine responsive Beziehung kann den „natürlichen“ Willens-, Gedankenund Gefühlsäußerungen der Person Rechnung tragen und sie in ihre stellvertretenden Entscheidungen miteinbeziehen. Aufgabe der Stellvertreter:innen wäre damit primär, den Betroffenen selbst zuzuhören und gleichsam als Übersetzer:innen eine Stimme im Diskurs zu geben. Die dritte und letzte Möglichkeit schließlich wäre der Versuch, die eigene Entscheidung auf Basis des natürlichen Willens und die advokatorische Vertretung miteinander zu verbinden, indem die Selbstbestimmung und aktive Beteiligung von Personen mit eingeschränkter Autonomiefähigkeit so weit als irgend möglich unterstützt wird. Das Ziel wäre nicht mehr Fürsorge, sondern Empowerment. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist die schon praktizierte ‚Entscheidungsassistenz‘ als betreuungsvermeidende Hilfe in Übereinstimmung mit Art. 12, Abs. 3 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006.94 Gerade bei Kindern kommt die Förderung der Autonomie durch die – nicht ganz paradoxiefreie – „Erziehung zur Mündigkeit“ als wichtiger Baustein hinzu.95 Tugendhat (1993), 165. Vgl. zu dieser Überzeugung auch Benhabib (1995), 161–220. Vgl. Nussbaum (2014); Jonas (1979); Levinas (1999). Der phänomenologische Ansatz ist auch ein Vorschlag von Brumlik (2013), 7. 92 Buber (1923). Brumlik (2013), 7, weist zurecht daran hin, dass diese Moraltheorien ein „kognitives Defizit“ haben. 93 Jonas (1979), 162. 94 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2018), 472; Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2016). Darauf weist auch Ulf Liedke hin (vgl. Böhler/Liedke (2018), 440). 95 Brumlik (2013), 8 f.: „Welche späteren Zustände der zu Erziehenden sind im Lichte auch ihrer möglichen Zustimmung (universal) begründbar, sowie: wie ist das Erreichen dieser Zustände, bzw. wie sind die Handlungen, die auf das Erreichen dieser Zustände zielen, zu vollziehen?“? 89 90 91
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Ich gehe davon aus, dass aus pragmatischer Sicht nur eine Kombination all dieser Ansätze (also eigene Entscheidungen auf Basis des natürlichen Willens, assistierte Entscheidungen sowie Stellvertreterentscheidungen, die ihren Maßstab sowohl in verallgemeinerbaren moralischen Prinzipien als auch in der responsiven Begegnung finden) realistisch ist. Angesichts der Schutzbedürftigkeit lassen sich paternalistische oder maternalistische Ansätze bei allen ihren Schwächen nicht ganz vermeiden – es wäre beispielsweise keine gute Idee, das elterliche Sorgerecht abzuschaffen und Kinder gänzlich ihrem natürlichen Willen zu überlassen. Aber das Sorgerecht impliziert zuallererst eine Sorgepflicht, die sich an den Rechten und Interessen des Kindes orientiert und von den Eltern verlangt, „die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln“ zu berücksichtigen und „mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge“ zu besprechen und „Einvernehmen“ anzustreben.96 Um herauszufinden, was diese – zukünftigen ebenso wie gegenwärtigen – Interessen eigentlich sind, obliegt den Sorgenden die Pflicht, die andere Person in ihrer Freiheit, Gleichheit und Eigenständigkeit zu respektieren und gerade deshalb in eine engagierte Interaktion mit ihr zu treten, die ihren zunächst nur natürlichen, zunehmend autonomen Willen ernst nimmt. Dabei sehe ich keinen Gegensatz zwischen der Orientierung an moralischen Prinzipien und der Orientierung an der persönlichen Begegnung, sondern ein Ergänzungsverhältnis: Gerade weil es zwingend geboten ist, alle Personen unabhängig von ihrer Entwicklung und ihren Fähigkeiten zu achten und ein größtmögliches Maß an freier Persönlichkeitsentfaltung zu ermöglichen, besteht die Pflicht, sich auf die persönliche Begegnung einzulassen und ein Ethos der Responsivität zu üben, das die andere Person in ihrer komplexen Individualität wahrnimmt.97 Dies gilt für die Interaktion mit nichtautonomen Personen in vielleicht noch größerem Maße als für die Beziehung zwischen autonomen Personen. Denn gerade da, wo eine rationale Kommunikation nicht möglich ist, muss sie durch eine empathische Beziehung und durch Vertrauen ersetzt werden, das eine ernsthafte Perspektivübernahme derjenigen fordert, die das Vertrauen gewinnen will.98 Schließlich sollte die Möglichkeit, sich als Assistent:in, nicht als Betreuer:in der Person zu verstehen, so weit wie möglich ausgeschöpft wer-
§ 1626 BGB. Vgl. Benhabib (1995), deren Ansatz sich für einen „interaktiven Universalismus“ stark macht, der „Fairneß, Reziprozität und ein Verfahren der Verallgemeinerung“ für unabdingbar hält, zugleich aber Differenz zum Ausgangspunkt nimmt (ebd., 167). „Eine solche Moraltheorie erlaubt uns, der Würde des verallgemeinerten Anderen durch die Anerkennung der moralischen Identität des konkreten anderen [sic!] gerecht zu werden.“ (ebd., 183) 98 Vgl. dazu die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes: BverfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011–2 BvR 882/09. Hier besonders das kluge Urteil, dass ein „Eingriff in die körperliche Integrität […] als umso bedrohlicher erlebt [wird], je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sieht“ (Rn. 44).
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den, um ein größtmögliches Maß an privater Handlungsfreiheit zu ermöglichen. Dass die jeweilige Gewichtung dieser einzelnen Möglichkeiten bei jedem Individuum ganz verschieden sein muss, versteht sich von selbst. Diese Bemerkungen mögen den Eindruck erwecken, als würden moralische und rechtliche Prinzipien vermischt. Ich gehe davon aus, dass es in der vorliegenden Fragestellung „Wie geht man rechtspraktisch mit Personen um, deren Autonomiefähigkeit stark eingeschränkt ist?“ tatsächlich die Aufgabe des Rechts ist, die berechtigen moralischen Ansprüche von Personen in die allgemein verbindliche und durchsetzbare Form des Rechts zu transformieren. Dass dies auch tatsächlich geschieht, zeigen sowohl die genannten Beispiele aus der Zivilgesetzgebung als auch der Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Der Verweis auf die Transformation in die Rechtsform darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die lebendige Ausgestaltung und Verwirklichung der Gesetze und Urteile dem persönlichen kommunikativen Handeln obliegt. Doch selbst wenn all diese Ansätze zu einer halbwegs gelingenden Praxis beitragen mögen, bleibt der eigentliche Kern von Habermas’ Theorie ungelöst: Sie mögen vor allem helfen, die Privatautonomie von eingeschränkt mündigen Personen zu verbessern, weniger ihre höchstpersönlich ausgeübte politische Autonomie, die auf die advokatorische Vertretung durch Stellvertreter:innen angewiesen bleibt.99 3.2
Implikationen für die Rechtstheorie?
Kann man aus diesen ersten Überlegungen zur Praxis etwas für die Rechtstheorie, genauer für die Rechtsbegründung lernen? Berühren sie überhaupt das Legitimationsproblem? Sowohl das klassische Naturrecht100 als auch verschiedene aktuelle Positionen101, wie die von Habermas, stützen ihre Normenbegründungen auf Gleichheit und symmetrische Reziprozität. Es ist meine Überzeugung, dass dieser symmetrischen Reziprozität eine falsche, nämliche faktische Gleichheitserwartung zugrunde liegt.102 Wenn alle natürlichen Personen Rechtssubjekte sind, so lässt sich die Legitimität eines Rechtssystems nicht damit begründen, dass sie zugleich Adressat:innen und Autor:in-
Esther Neuhann hat mich zurecht darauf hingewiesen, dass die unterstützte Selbstbestimmung z. B. auch assistierte Wahlentscheidungen umfassen könnte. 100 Vgl. auch Tugendhat (1998), 57, der „die fragwürdige Voraussetzung“ kritisiert, welche „die Theoretiker des Naturzustandes immer explizit“ gemacht haben, nämlich „dass alle von Natur ungefähr gleich stark sind“. Er geht deswegen davon aus, dass die „Idee eines Kontrakts“ immer schon ein „ideologisches Konstrukt“ derjenigen gewesen ist, die in der Lage waren, einen einigermaßen symmetrischen Vertrag zu schließen. Ebenso Nussbaum (2014), 33 und Kittay (1999). 101 Z. B. Höffe (1998), 29–47. 102 Vgl. Nussbaum (2014), 15, 55, die ebenfalls kritisiert, dass der Unterschied zwischen normativer und faktischer Gleichheit in der philosophischen Tradition nicht immer klar genug gemacht wurde. 99
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nen dieses Rechtssystems sind, denn ein Teil der Rechtsträger:innen ist nicht Autor:in ihrer eigenen Rechte. Wenn ein Rechtssystem für alle Menschen gelten soll, kann seine Legitimität weder von spezifischen Fähigkeiten, einer faktischen Gegenleistung oder dem offenen Ergebnis eines politischen Prozesses abhängig gemacht werden, der dadurch gerechtfertigt wird, dass alle prinzipiell an ihm teilnehmen können.103 Sowohl eine Rechtsbegründung, die vom empirischen Besitz von Eigenschaften wie Vernunft oder Autonomiefähigkeit abhängt, als auch eine, die von einer bestimmten sozialen Tauschbeziehung oder dem politischen „Kampf um Anerkennung“ abhängig ist, vermag nicht zu überzeugen, weil sie die Verleihung von Rechten an Bedingungen knüpft und deswegen zur Disposition stellt.104 Lässt sich die Legitimität eines Rechtssystems auch anders begründen als durch symmetrische Anerkennungsbeziehungen und gleiche Teilnahmechancen? Ich denke, dass die von Habermas vorgeschlagenen transzendentalen Rechte nicht ausreichen, um die Legitimität eines Rechtssystem für alle zu begründen. Die von ihm aufgeführten vier Grundrechte stehen ganz in der Tradition der ersten Generation der Menschenrechte105 und zielen als solche auf Freiheit und Partizipation ab. Sie sind auf jene privilegierten Teilnehmer:innen zugeschnitten, die tatsächlich am politischen Diskurs teilnehmen können, berücksichtigen aber nicht die essentiellen Bedürfnisse von Personen, die in besonderem Maße auf Schutz und Hilfe angewiesen sind, um ein Leben in Würde führen zu können. Die Ermöglichung politischer Autonomie ist zwar zweifellos eine der wesentlichen und vornehmsten Aufgaben der Grundrechte, doch ihr eigentlicher Zweck scheint es zu sein, die Bedingungen der Möglichkeit einer menschenwürdigen Existenz für alle Menschen zu sichern bzw. erst zu schaffen. Ein Rechtssystem ist nur dann legitim, wenn es Strukturen schafft, die allen Menschen eine menschenwürdige Existenz sichert.106 Orientiert man sich an den ‚Generationen‘ von Menschenrechten, verlagert sich der Schwerpunkt damit von der ersten auf alle drei Generationen, wobei soziale Teilhaberechte oder auch kollektive Rechte wie die Rechte auf Frieden, eine gesunde Umwelt und Entwicklung107 nicht nur im Dienst der politischen Autonomie stehen (wie in Habermas’ Modell), sondern um ihrer selbst willen wesentlich sind. Diese Verschiebung des Schwerpunktes von der Autonomie zur menschenwürdigen Existenz hat den Vorteil, dass sie die gerechtfertigten Bedürf-
Vgl. zu dieser Thematik bei Habermas: Brune (2010). Brune untersucht die Spannung zwischen der vorpolitischen Norm der Menschenwürde und dem radikaldemokratischen Prozess der politischen Willensbildung und geht dabei darauf ein, dass Rechtsadressat:innen und Rechtsautor:innen faktisch nicht deckungsgleich sein können (vgl. Brune (2010), 9). 104 Dies zeigt sehr überzeugend auch Sabrina Zucca-Soest (2015). 105 Vgl. Weiß (2012), 228–231. 106 Hier stimme ich mit Nussbaum (2014), 121 überein. 107 Vgl. Weiß (2012), 230. 103
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nisse aller Menschen, auch derjenigen, die ihre Interessen nicht selbst vertreten können, berücksichtigen kann.108 Lässt sich dieser von mir behauptete Anspruch aller Menschen auf eine menschenwürdige Existenz auch diskurstheoretisch begründen? Oder wäre es naheliegender, eine „Theorie elementarer Ansprüche“109 zu entwerfen wie z. B. Nussbaum es mit ihrem ‚Fähigkeitenansatz‘ unternimmt? Obwohl ich mit Nussbaum die Überzeugung teile, dass es die Aufgabe des Rechtssystems ist, eine menschenwürdige Existenz zu garantieren, halte ich ihren Ansatz auf der Begründungsebene für defizitär. Tatsächlich beruht Nussbaums Liste von Ansprüchen auf dem Kantischen Instrumentalisierungsverbot110 bzw. der Idee der Menschenwürde,111 auch wenn diese nicht wie bei Kant explizit begründet, sondern als intuitiv gegeben angesehen werden.112 Meines Erachtens muss eine Rechtsbegründung auf zwei Teilbegründungen beruhen: Erstens dem Nachweis, dass Menschen Rechte brauchen, weil sie ihrer bedürftig sind, und zweitens, dass ihnen Rechte zustehen, weil sie ihrer würdig sind.113 Während der Aspekt der Bedürftigkeit angesichts der Verletzlichkeit und vielfältigen Angewiesenheit der Menschen keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, ist der Punkt der Würdigkeit Gegenstand einer zugleich weit zurückreichenden und andauernden Kontroverse.114 Ich gehe dennoch davon aus, dass das Recht nicht ohne einen Würdebegriff als Fundament aller Rechte auskommt. In einer Zeit, der „theologische, metaphysische oder axiomatische Vorannahmen“115 suspekt geworden sind, ist es allerdings nicht leicht, in der Würde ein Fundament zu finden, dass solide genug ist, um die beschriebenen Ausschließungen zu vermeiden, ohne dabei beliebig oder unbegründet116 zu sein. Wenn ich im folgenden Abschnitt erläutere, was dieser Würdebegriff im Rahmen der Diskurstheorie bedeuten könnte, handelt es sich eher um einen Versuch oder Vorschlag, nicht um eine abgeschlossene Begründung.
Zweifellos wirft sie aber neue Fragen auf, wie diejenigen, was eine menschenwürdige Existenz überhaupt sein soll bzw. wie man feststellen soll, welche Ansprüche gerechtfertigt sind und welche nicht. Darauf kann ich in diesem Rahmen nicht mehr eingehen. 109 Nussbaum (2014), 218. 110 Vgl. ebd., 105. 111 Nussbaum will die „Idee der Menschenwürde“ (ebd., 219) nicht kantianisch, sondern aristotelisch verstehen (ebd., 223 f.). Trotz verschiedener Affinitäten zwischen ihrer und meiner Position wecken ihre Überlegungen, dass Personen, die von der „Speziesnorm“ (ebd., 260) stark abweichen, eventuell gar keine Menschen seien, in mir die schlimmsten Assoziationen. Ich halte sie auch Nussbaums eigenen Intentionen, asymmetrische Beziehungen ernst zu nehmen, für entgegengesetzt (vgl. ebd., 251, 260). 112 Vgl. ebd., 122. 113 Nussbaum vermischt diese Aspekte: „In der Würde unserer menschlichen Bedürftigkeit selbst ist ein Anspruch auf Unterstützung begründet.“ (ebd., 225) 114 Burkhart (1999); Wetz (2019). 115 Burkhart (1999), 672. 116 Vgl. den zweifellos wichtigen Einwand, dass die essentialistisch verstandene Menschenwürde durch ihre „Begründungslosigkeit“ defizitär ist: Zucca-Soest, (2015). 108
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Habermas selbst hebt in dem Aufsatz Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte (2010) die Bedeutung der menschlichen Würde als Grundlage der Menschenrechte hervor. Auch wenn er diesen Aufsatz nicht als „Revision“117 von Faktizität und Geltung verstehen will, ist die Aufwertung der Moral gegenüber dem politischen Prozess m. E. unübersehbar.118 Habermas will nachweisen, dass der Würdebegriff keine „Attrappe“, „sondern die moralische ‚Quelle‘“ sei, aus der sich der Inhalt der Menschenrechte ableiten lasse.119 Er geht davon aus, dass dem Würdekonzept eine „Entdeckungsfunktion“ zukomme, da die erlebte Verletzung der Menschenwürde zur „Konstruktion neuer Grundrechte“ führen könne.120 Besteht also doch ein „platonisches Abbildungsverhältnis“121 zwischen Moral und Recht? Obwohl Habermas in seinem Aufsatz die fundamentale Bedeutung der Menschenwürde betont, versucht auch er nicht, sie zu begründen. Die Lektüre seines Beitrags zur Bioethik Die Zukunft der menschlichen Natur legt allerdings nahe, dass er die Menschenwürde nicht als „Eigenschaft, die man von Natur aus ‚besitzen‘ kann“122, versteht, sondern sie mit der Verletzlichkeit und Angewiesenheit von Wesen verbindet, die sich nur durch soziale Beziehungen individuieren und autonom werden können.123 Damit grenzt er die Menschenwürde aller geborenen, nämlich vergesellschafteten Menschen von der Würde ungeborenen menschlichen Lebens ab.124 Obwohl Habermas keineswegs vorgeburtliches Leben preisgeben will,125 zeigt seine Argumentation, dass er sich wieder auf die problematische Figur der reziproken Anerkennung126 stützt, um menschliche Würde zu begründen. In kritischer Absetzung von Habermas wollen Dietrich Böhler und Jens Peter Brune die Würde aller Menschen nicht durch symmetrisch-reziproke Anerkennungsbeziehungen, d. h. durch aktuelle Diskursfähigkeit begründen. Um den gleichen Würdeanspruch angesichts empirischer Ungleichheit zu verteidigen, heben sie hervor, dass alle Menschen nur „potentiell diskursbeteiligte Wesen“127 seien. Da man nicht bezweifeln könne, dass die Menschenwürde, die man selbst gerade für sich beansprucht, sich Habermas (2010), 348 (Anm. 15). Ebd., 350: Der Begriff der Menschenwürde übertrage eine „Moral der gleichen Achtung für jeden auf die Statusordnung von Staatsbürgern“. 119 Ebd. 120 Ebd., 346. 121 Habermas (1994), 137. 122 Habermas (2005), 62. 123 Ebd., 62–64. 124 Ebd., 65. Ich stimme mit Habermas nicht darin überein, die Geburt als entscheidende Zäsur zu sehen. 125 Habermas geht davon aus, dass die Würde des menschlichen Lebens auch in diesem Stadium den Anspruch erheben kann, unverfügbar zu sein und Embryos vor eugenischen Eingriffen geschützt werden müssen, um die zukünftige symmetrische Anerkennungsbeziehung zwischen Eltern und Kindern nicht zu verletzen (vgl. ebd., 56–69). 126 Zu dem Problem, dass Habermas auch die Menschenwürde an symmetrische Anerkennungsbeziehungen bindet und damit bestimmte Menschen ausschließt: Brune (2010), 475 f. 127 Ebd. (2010), 539. 117 118
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nur auf solch ein „diskursives Potential“128 beziehe, das „ein komplementäres negatives Potential zu diskursiver Indisposition“129 einschließe, sei man verpflichtet, auch die Würde derjenigen zu achten, die aktuell nicht ihr Vernunftpotential verwirklichen können.130 Weil wir aber alle zu Beginn unseres Lebens zumindest so viel Hilfe und Schutz erfahren haben, dass wir überleben konnten und jetzt an einem Diskurs teilnehmen können, können wir in diesem Diskurs nicht widerspruchsfrei den Anspruch anderer Menschen auf Hilfe und Schutz leugnen.131 Die Schutz- und Hilfspflicht gegenüber nicht teilnahmefähigen Personen ergibt sich also aus der Idee einer nur potentiellen Reziprozität: Weil alle Menschen einmal diskursunfähig waren und jederzeit wieder diskursunfähig werden können, haben alle diskursfähigen Personen die Verpflichtung, auch nicht teilnahmefähige Personen als normativ Gleiche zu achten132 und sich ernsthaft darum zu bemühen, ihre Perspektive und ihre Interessen zu verstehen, zu unterstützen und advokatorisch im politischen Diskurs zu vertreten. Mit anderen Worten: Die Achtung und die aktive Unterstützung von Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht diskursfähig sind, ist keine optionale Gewissenssache, sondern die Pflicht aller, die selbst schon in den Genuss dieser Rechte gekommen sind.133 Eine Rechtstheorie darf nicht die Augen davor verschließen, dass der „Kampf um Anerkennung“ in einigen Fällen durch Stellvertreter ausgefochten werden muss, denn wir alle sind früher oder später angewiesen auf die „anwaltschaftliche Vertretung des menschlichen Achtungs- und Lebensanspruchs“.134 Zwar können sich die Advokaten am Diskursprinzip im Habermasschen Sinne orientieren, aber nur, wenn sie es im Sinne einer hypothetischen Zustimmung der Betroffenen verstehen. Wie ich oben gezeigt habe, setzen sowohl Habermas’ Diskurstheorie als auch Nussbaums Fähigkeitenansatz eine Moral der gleichen Achtung voraus. Um die Interessen und Ansprüche der betroffenen Personen möglichst akkurat zu erfassen, können sie sich einerseits auf die responsive Erfahrung stützen, kommen aber andererseits nicht um die Prüfung der Universalisierbarkeit ihrer Handlungsmaximen herum. Sie müssen also nach Normen suchen, von denen sie berechtigterweise behaupten könnten, dass sie dem Wohl der Betroffenen dienen. Verändert dies die Beziehung zwischen Recht, Moral und Politik? – Die klassischen Normenbegründungen von Locke bis Habermas behalten insofern Recht, als dass nur der von mündigen Diskursteilnehmer:innen tatsächlich geführte politische Prozess Recht schaffen kann. Dieses Recht ist aber nur dann legitim, wenn es die moralischen Böhler (2013), 531. Brune (2010), 559. Böhler (2013), 531. Böhler (2019), 81. Brune (2010), 545. Auch Menschen, die z. B. aufgrund einer angeborenen Behinderung nie am Diskurs teilnehmen werden, verfügen qua Menschsein über solch ein Potential. 134 Böhler (2013), 532. 128 129 130 131 132 133
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Ansprüche aller Menschen berücksichtigt. Der intersubjektive Sinn des Rechts liegt also gerade nicht darin, dass freie und gleiche Bürger:innen sich wechselseitig anerkennen, sondern dass sie auch diejenigen anerkennen, die diese Anerkennung nicht im selben Maße erwidern können. Aus dieser Perspektive sind nicht Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit die Ausgangspunkte der Normbegründung, sondern gleicher Würdeanspruch, Verschiedenheit und Angewiesenheit: Denn „wir allesamt, auch vitale Diskursteilnehmer, brauchen entgegenkommende Anerkennung und Hilfe in vielen defizitären Situationen – von der Wiege bis zum Sterbelager …“135. Literaturverzeichnis
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Teilnahme und Teilnahmefähigkeit
Tatjana Noemi Tömmel studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München,
Berlin und Paris. Sie wurde 2012 in Frankfurt am Main mit einer Dissertation über den Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt promoviert. Nach Stationen am Center for Subjectivity Research in Kopenhagen, im BMBF-Projekt ‚Anthropofakte. Schnittstelle Mensch‘, als Stipendiatin der Fritz Thyssen Stiftung (‚Die Ästhetik der jüdischen Aufklärer‘) und als Visiting Scholar an der Columbia University ist sie seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Ethik und Technikphilosophie der Technischen Universität Berlin. In ihrem Habilitationsprojekt untersucht sie die Patientinnenautonomie unter der Geburt aus moral- und rechtsphilosophischer Perspektive. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ethik, Rechtsphilosophie, Sozialphilosophie und Ästhetik.
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Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
CLEMENS BOEHNCKE
A Critique of ‘Post-Juridical’ Theories of Law Abstract: This article engages critically with the philosophical critiques of law that have recently
been put forward by Christoph Menke and Daniel Loick. Three arguments are put forward: on a methodical level, these approaches wrongly try to conceive of and criticize the ‘present’ and ‘actuality’ of law from the reconstruction of a philosophical discourse only; on a substantial level, what is criticized as ‘the law’ is actually limited to the conception of state-enforced (roman) private law; on a normative level, the counterproposals offered have both unacknowledged and questionable implications. Keywords: legal philosophy, critique of law, subjective rights, critical theory, Menke, Loick Schlagworte: Rechtsphilosophie, Rechtskritik, subjektive Rechte, Kritische Theorie, Menke, Loick
1. Einleitung
Da das Recht eines der wichtigsten, wenn nicht gar das wichtigste Medium moderner Vergesellschaftung darstellt, behandelt die philosophische Kritik moderner Gesellschaften zumeist auch gesondert Entstehungs- wie Wirkungsweisen des Rechts. Aus dem intellektuellen Umfeld der sogenannten ‚Frankfurter Schule‘1 haben hierzu in den letzten Jahren Christoph Menke2 und Daniel Loick3 neue Ansätze formuliert. Laut Zu dieser Realfiktion der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vgl. Claussen (2000). Als zentrale Arbeiten sind zu nennen Menke (2015); ders. (2016a); ders. (2016b); ders. (2018b). Replizierend oder anderweitig weiterentwickelt wurden die Thesen in Menke (2018a); ders. (2018c); ders. (2018d); vgl. auch ders. (2021). Als Vorarbeiten können gelten: Menke (2008); ders. (2009); ders. (2013); ders. (2014). Die Grundlegung dieser Rechtskritik lässt sich zurückverfolgen bis hin zu Menke (1996). 3 Als zentrale Arbeiten sind zu nennen Loick (2017a); ders. (2019). Replizierend oder anderweitig weiterentwickelt wurden die Thesen in Loick (2017b); ders. (2018a); ders. (2018b); Loick (2021). Als Vorarbeiten können gelten: Loick (2011); ders. (2012); ders. (2013); ders. (2015); ders. (2016). 1 2
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Selbstauskunft sind sie einem „originär Frankfurter Kontext“, einer frankfurter „Denktradition“ bzw. „Theorietradition“ zuzuschlagen.4 Menke sucht die Form subjektiver Rechte, welche den Eigenwillen des Subjekts ohne jede damit verbundene Vorstellung von Sittlichkeit oder Tugend ermächtigen und naturalisieren, genealogisch nachzuvollziehen und programmatisch zu überwinden.5 Auch Loick zielt auf Genese und Kritik der als „im Westen hegemonial“ bestimmten Form des Rechts, hebt allerdings stärker auf die ethische Dimension einer solchen Kritik ab, nimmt daher verstärkt die vom Recht erzeugten sozialen Pathologien in den Blick, die es auszusöhnen gelte.6 Die Arbeiten werden mittlerweile unter der Bezeichnung ‚post-juridische‘ Rechtstheorien7 einer eigenen Strömung kritischer Rechtstheorie zugeordnet: Gemeinsam sei ihnen die Verbindung von „Rechtskritik mit einer Bewegung, die auf eine entscheidende Transformation der modernen, westlichen Rechtsordnung abzielt“.8 Zweifelsohne haben diese Überlegungen der philosophischen Rechtskritik im deutschsprachigen Raum wichtige neue Impulse gegeben. Ihnen wurde nicht nur in Fachwissenschaft9 und Feuilletons10 große Aufmerksamkeit zuteil, sie wurden zudem auch in eigenen Sammelbänden11 und Sonderheften12 diskutiert und weiterentwickelt. Der vorliegende Beitrag übt sich in der Kritik dieser ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien. Es wird damit zugleich die bisherige (kritische) Rezeption systematisch zusammengefasst. Leitend ist dabei die Frage, ob die Autoren dem selbstgesetzten Anspruch, die rechtliche „Gegenwart“13 bzw. die „Wirklichkeit“14 zu erfassen und zu kritisieren, gerecht werden. Hieran werden Einwände auf methodischer, inhaltlicher und normativer Ebene erörtert. Auf methodischer Ebene wird erstens gezeigt, dass die ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien einen Spagat versuchen: Aus der Aufarbeitung eines philosophischen Dis-
So Loick (2019), 336 über die eigenen Arbeiten wie die Arbeiten Menkes. Menke (2018c), 15. Loick (2017a), 12. Franzki (2020). Dabei ist für den vorliegenden Aufsatz eine Einschränkung zu machen: Franzki rechnet auch Walter Benjamin dieser Strömung zu. Wenngleich die Arbeiten Benjamins ein entscheidender Bezugspunkt sowohl für Menke wie auch für Loick sind, werden sie hier nicht eigens diskutiert. Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass der Ausdruck ‚post-juridisch‘ weder von Benjamin noch von Menke, sondern allein von Loick explizit verwendet wird, Loick (2017a), 293. 8 Franzki (2020), 67. 9 Für Einzelrezensionen zu den Arbeiten Christoph Menkes vgl. Buckel (2017); Denninger (2018); Heidenreich (2018); Hellmich (2020); Möllers (2016); Röhl (2016); Zabel (2017). Zu den Arbeiten Daniel Loicks vgl. Baum (2018); Boehncke/Holzinger (2018), 208–210; Brunkhorst (2018); Gaigg (2018); Hellmich (2021); Klenner (2018); Niesen (2020); Pichl (2018). 10 Zu den Arbeiten Menkes vgl. Auer (2016); Geyer (2019); Möllers (2015). Zu Loick vgl. Möllers (2017). 11 Vgl. Augsberg et al. (2020); Fischer-Lescano et al. (2018); Menke et al. (2018); Hilgendorf/Zabel (2021), insbesondere zu den Arbeiten Menkes. 12 Vgl. mit Bezug auf die Arbeiten Menkes Schmidt/Zabel (2017). 13 So Menke (2015), 13; vgl. ders. (2018c), 13. 14 So Loick (2017a), 13; ebenso Menke (2018c), 16. 4 5 6 7
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
kurses soll eine bestimmte Wirklichkeit erfasst und kritisiert werden. Die Ressource der Kritik bleibt aber stets ein philosophischer Diskurs, sodass die Frage bleibt, ob die Methode dem Anspruch gerecht werden kann (Kap. 2). Auf inhaltlicher Ebene wird zweitens zwar fortan Kritik an ‚dem Recht‘ (bzw. an ‚den Rechten‘) geübt, dahinter verbirgt sich jedoch mehr oder weniger implizit ein Rechtsbegriff, der letztlich in der Hauptsache auf staatlich sanktioniertes Privatrecht römisch-rechtlicher Prägung abstellt. Dann kann die Kritik aber mit Blick auf das Recht der Gegenwart eine eher geringe Reichweite haben; oder aber diese (Selbst-) Beschränkung gründet auf eine an Marx angelehnte Gesellschaftstheorie, wobei gezeigt wird, dass gerade das Verhältnis zu Marx sich als unklar charakterisieren lässt (Kap. 3). Auf normativer Ebene werden drittens die mit diesen Rechtskritiken verbundenen Überlegungen zu einer ‚Transformation‘ des Rechts auf ihre Stichhaltigkeit sowie ihre Stoßrichtung hin diskutiert. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Forderung nach einer ‚Depotenzierung‘ bzw. ‚Deprivilegierung‘ bestehenden Rechts dergestalt politisch richtungslos und insofern fragwürdig erscheint; weiterhin, dass die Gegenentwürfe (die ‚Gegenrechte‘ bzw. der ‚Exodus‘) institutionell amorph bleiben; zuletzt, dass insbesondere der Konzeption des ‚Exodus‘ ein anspruchsvolles Modell kommunikativer Vernunft eingebaut ist und insofern ein tendenziell intellektualistisches Verfahren der Rechtsfindung veranschlagt (Kap. 4). 2.
Zur methodischen Konstruktion der Rechtskritik
Zuerst soll verdeutlicht werden, dass aufgrund der methodischen Konstruktion der Arbeiten von Menke und Loick die Frage nach der Verortung der Kritik – die Frage, aus welchem Material sich die Kritik speist –, ein eigenes Problem darstellt. Beide Autoren versuchen einen mutigen Spagat: Zunächst wird nämlich die Kritik am Recht anhand von ebenso aus- wie tiefgreifenden Literaturreferaten rekonstruiert. Wesentliche, wenn nicht gar einzige „Ressource der Rechtskritik“15 ist also zunächst ein – mehr oder weniger chronologisch aufgearbeiteter – Diskurs der rechtskritischen Philosophie und Theorie.16 Unproblematisch ist dies nicht: Möllers hat bereits darauf hingewiesen, dass das methodische Risiko einer solchen Vorgehensweise in der möglichen Verwechselung (oder Gleichsetzung) der „Geschichte des Rechts“ mit der „Geschichte der Philosophie des Rechts“ bestünde.17 Zum eigentlichen Problem für die ‚post-juridischen‘ Als Möglichkeit der methodischen Selbstreflexion der Rechtskritik entworfen bei Reinhardt/Schmalz (2021). 16 Vgl. hierzu auch Klenner (2018), 410. 17 Möllers (2016), 309. 15
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Rechtstheorien wird diese Art des Zugangs vor allem, wenn zugleich – das wurde bereits zu Beginn dieses Beitrags erwähnt – aus diesen Literaturen eine radikale Kritik an der eigenen Gegenwart abgeleitet wird. Menke möchte explizit „anhand der Lektüre geeigneter Texte die Gegenwart des bürgerlichen Rechts“ erfassen.18 Loick schreibt in einem dem Buch zugrundeliegenden Aufsatz, hier werde „für die Existenz der Pathologien des Juridismus argumentiert“.19 In der Juridismus-Studie wird gleich zu Beginn behauptet, das Recht privilegiere „in Wirklichkeit“ eine bestimmte „Subjektivität“.20 Menke wiederum spricht von einer „Krise des bürgerlichen Rechts“, dessen „Falschheit“ zudem „real“ sei. An einer anderen Stelle wird betont, es ginge um den „Aufweis der Darstellungsoperation, die die rechtliche Wirklichkeit selbst“ ausmache21; ebenso umschreibt er aber das Problem der subjektiven Rechte als eines, das allein die Philosophie „exponieren“ könne.22 Die Rechtskritik zehrt also aus der Aufarbeitung eines Diskurses, meint damit zugleich aber, eine bestimmte gegenwärtige Wirklichkeit erfassen und kritisieren zu können. Um welche Art von Gegenwart oder Wirklichkeit es sich hierbei handelt, bleibt unklar. Klonschinski hat entsprechend die Verständnisfrage aufgeworfen, ob die Kritik sich nun bloß an einem bestimmten philosophischen Diskurs oder einer tatsächlichen Wirklichkeit abarbeite.23 Sie wäre wohl so zu beantworten, dass der Anspruch darin zu bestehen scheint, vermittelst der Rekonstruktion eines philosophischen Diskurses Aussagen über die eigene Gegenwart – und nicht zuletzt über deren Schwächen und die Möglichkeiten ihrer Veränderung – zu machen. Es muss allerdings bezweifelt werden, ob diese Methode überhaupt den Anspruch, etwas über rechtliche Wirklichkeit auszusagen, verbürgt. 3.
Zum Rechtsbegriff der Rechtskritik
Neben Einwänden auf methodischer stehen Unklarheiten auf inhaltlicher Ebene. Diese betreffen zuvorderst den Rechtsbegriff. Nun bringt selbstverständlich die Frage, was Recht sei, schon bei Kant „den Rechtsgelehrten […] in Verlegenheit“24; William Seagle überbot dies noch mit der Spöttelei, bei dieser Frage handele es sich um die „Katze im Sack“ der Jurisprudenz, die kein Jurist beantworten könne („nicht einmal gegen Honorar“25). Selbstverständlich lassen sich zu unterschiedlichen historischen 18 19 20 21 22 23 24 25
Menke (2015), 13. Loick (2015), 189. Loick (2017a), 13. Menke (2018b) 16; Herv. CB. Menke (2015), 166, 171; vgl. hierzu bereits Möllers (2016), 312. Klonschinski (2020), 171. Kant (1973), 30. Seagle (1969), 11; vgl. Trotha (2000), 327.
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Antworten finden.26 Auch rechtskritische Ansätze, insofern sie eine „Kritik der Rechte“27 oder aber „Konturen einer kritischen Theorie des Rechts“28 formulieren wollen, müssen sich selbstverständlich dieser Frage stellen; keinesfalls mit der Absicht einer endgültigen Klärung, aber im Sinne einer Selbstklärung: es muss ein „Arbeitsbegriff “29 von Recht entwickelt werden, denn dieser entscheidet letztlich maßgebend über Stoßrichtung und Reichweite der Kritik. Die erste Frage muss in diesem Fall also lauten: Was ist Recht für die ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien? 3.1
Rekonstruktion des Rechtsbegriffs
Menke, für den der „revolutionäre[] Akt der modernen Politik“ in der Einführung einer neuen rechtlichen Form besteht, d. i. „das Recht als das Recht der Rechte“ zu begreifen,30 möchte die Kritik der Rechte verstanden wissen als eine Kritik der „moderne[n] Form der Rechte“, die er als „bürgerliches Recht“ in der gegenwärtigen Gestalt „subjektiver Rechte“ identifiziert.31 Dieses bürgerliche Recht wird als die „geschichtlich und gesellschaftlich herrschende Gestalt des modernen Rechts“ bestimmt.32 Subjektive Rechte sind dabei für Menke all jene Rechte, die dem Einzelnen umfassende individuelle Gestaltungsmacht einräumen und in einem nicht weiter begründungsbedürftigen Einzelwillen wurzeln, wodurch „die Materie des Rechts – das, was oder wozu sie berechtigen – der politischen Bestimmung und Veränderung“ entzogen sei.33 Diese Stilllegung, „Entpolitisierung“ des Einzelwillens bestimme gerade das „moderne“ gegenüber dem „traditionalen“ Recht.34 Es liegt nahe, dass sich der Autor durch solche Bestimmungen in seinem Rechtsbegriff zunächst grosso modo auf das materielle Privatrecht bescheidet, respektive dass eben dieses Rechtsgebiet den „Paradefall“ für Menkes Arbeit darstellt.35 Anfangs wird dies noch erwähnt36, im Verlauf jedoch ist immer wieder von „dem Recht“ die Rede bzw. wird „das Recht“ kritisiert37, sodass der Eindruck entsteht, das Privatrecht werde hier als pars pro toto behandelt.
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Vgl. statt aller hierzu Herberger (1992); Loos/Schreiber (1984). Menke (2015), 13. So der Untertitel bei Loick (2017a). So die allgemeine Forderung an Philosophie und Rechtstheorie bei Herberger (1992), Sp. 226. Menke (2015), 29. Ebd., 164. Hierzu zuletzt Zabel (2020), 154 f. Ebd., 165; vgl. Denninger (2018), 326. Menke (2018c), 29. Ebd., 225. So Möllers (2015), 309. Menke (2015), 17 f. Statt aller Menke (2015), 87, 164, 192, 298, 388.
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Ähnlich pauschal bezeichnet Loick als Juridismus die „Dominanz des Rechts in den zwischenmenschlichen Interaktionsweisen westlicher Gesellschaften“.38 Pauschal deshalb, weil nicht spezifiziert wird, wie eigentlich eben jene ‚Dominanz‘ bestimmt ist und welche ‚Interaktionsweisen‘ gemeint sind. In einer früheren Arbeit ist leicht konkretisiert vom „ethisch defizitären Charakter rechtsförmig verfasster Beziehungen“ die Rede, wobei insbesondere die angeführten „Alltagsbeispiele“ aufschlussreich sind: „[E]ine Liebe, eine Freundschaft, eine Wohngemeinschaft oder eine Geschäftsbeziehung sind schon ruiniert, wenn ihre Mitglieder sich gegenseitig zu verklagen beginnen“.39 Oder aber es heißt an anderer Stelle in der Umkehrung: „Dass Menschen prinzipiell in der Lage sind, sich ohne Gerichtsbeschluss zu einigen, dafür gibt es ausreichend Belege aus dem täglichen Leben“.40 Auch für Loick zeigt sich hier, dass mit der ‚Dominanz des Rechts‘ zunächst und in der Hauptsache, insofern es sich um die rechtliche Lösung von Streitfragen zwischen Privatpersonen handelt, das Zivilrecht gemeint ist. Weiterhin bleibt jenes (sozial-)philosophisch verhandelte und kritisierte (Privat-) Recht bei beiden Autoren einem sehr konkreten institutionellen Ordnungsrahmen verhaftet. Menke meint: „Es gibt kein Recht außerhalb des politischen Gemeinwesens“.41 Dass sich hinter dieser Formulierung im Grunde das westfälische Modell von Staatlichkeit verbirgt42, wird an anderer Stelle deutlich, wenn es heißt: „Das Recht ist eine der mächtigsten Formen der Herrschaft […], weil das Recht ein Herrschaftsapparat ist, durch den der Staat die Geltung seiner Normen durchsetzt“.43 Um ‚Recht‘ handelt es sich also gerade aufgrund der staatlichen Sanktionierung. Hieraus lässt sich in der Umkehrung vermuten, es kämen für die Kritik der Rechte alternative normative Ordnungen, die jenseits (oder aber unterhalb) dieses institutionellen Rahmens lägen, nicht eigens in Betracht.44 Bei Loick lässt sich diese enge Verknüpfung von Recht und Staat bei der Auseinandersetzung mit seinem Vorschlag aufzeigen, sich an der von ihm so bezeichneten „jüdischen Rechtstradition“45 zu orientieren (hierzu ausführlicher in Kap. 4). Dieser Gegenvorschlag ist die Konsequenz aus der von Loick vorgelegten Kritik der Souveränität46, in der es bereits programmatisch darum ging, eine „prinzipiell anti‐etatistische, anarchistische Position“ und damit auch ein „Recht ohne Souveränität“ zu fin-
Loick (2017a), 288, Herv. CB. Loick (2013), 307 f. Loick 2012, 251. Zurecht wurde hervorgehoben, dass Loick hier die übliche Bezeichnung für eine solche Form der Einigung unterschlägt, nämlich den Vertrag, vgl. Peitsch (2020), 160. 41 Menke (2018b), 28. 42 Vgl. hierzu bereits kritisch mit Bezug auf Menke Fischer-Lescano (2013), 182. 43 Menke (2018a), 144. 44 Vgl. hierzu bereits Hellmich (2020), 592. 45 Loick (2017a), 313; vgl. ders. (2018a), 102. 46 Vgl. Loick (2012). 38 39 40
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
den.47 Die sogenannte „jüdische Rechtstradition“ erscheint ihm gerade aufgrund ihrer historisch bedingten Distanz zum staatlichen Recht attraktiv48 – und nur aus diesem Grund.49 Somit fordert auch die Juridismuskritik im Kern zunächst den „Auszug aus den konventionellen Nationalstaaten mit ihren exkludierenden Gewaltapparaten“.50 Das „hegemoniale europäische Recht“ zeichne sich gerade durch die Verbindung mit einem „staatlichen Gewaltapparat“ aus.51 Wie bei Menke ist also auch bei Loick das kritisierte Recht in erster Linie als innerhalb einer (national-)staatlichen Ordnung verfasstes Recht gedacht. Zuletzt nehmen die beiden Autoren dezidiert ein Zivilrecht römisch-rechtlicher Prägung in den Blick. Bei Loick ist das bereits dem Umstand geschuldet, dass seine genealogische Rekonstruktion der (seiner Ansicht nach ‚ethisch defizitären‘) Rechtssubjektivität bei einem bestimmten philosophischen Diskurs ansetzt: Neben den Nachschriften von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte ist hierbei Nietzsches Genealogie der Moral maßgeblich. In beiden Texten wird der Gegensatz zwischen einer sittlichen und unsittlichen Vorstellung von Rechtssubjektivität zurückverfolgt auf den Gegensatz zwischen griechischer Polis und römischem Imperium. Damit wird auch für die Juridismuskritik „Rom“ zur „Gründungsstätte der Rechtssubjektivität“.52 Menke wiederum schlägt zwar den Weg einer solchen Rekonstruktion nicht ein, für ihn ist allerdings der romanistische Zivilrechtler schlechthin, Friedrich Carl von Savigny, zentraler Bezugspunkt in der Auseinandersetzung mit der Gestalt subjektiver Rechte und der ihnen zugrundeliegenden Willenstheorie.53 3.2
Kritik des Rechtsbegriffs
Was bedeutet es aber für den Anspruch der ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien, die „Gegenwart“54 bzw. die „gegenwärtige Wirklichkeit“55 des Rechts einer Kritik zu unterziehen, sich dabei aber mehr oder weniger implizit auf ein römisch-rechtlich geprägtes, innerstaatliches Zivilrecht zu beschränken? Zwei Möglichkeiten kommen hier in Betracht.
Loick (2011), 214. Loick (2018a), 103, 109; ders. (2016), 123. Vgl. hierzu bereits kritisch Scheit (2015), 121 mit Blick auf Loick (2012). Es gilt ebenso für die Juridismus-Studie, vgl. hierzu ausführlicher Kap. 4. 50 Loick (2017a), 306. 51 Ebd., 324. Ähnlich auch ders. (2019), 330. Vgl. auch Klenner (2018), 409. 52 Loick (2017a), 118, 186; vgl. ders. (2015). Ob die Auseinandersetzung mit dem römischen Recht dabei inhaltlich stichhaltig ist wurde zuletzt bezweifelt bei Ladeur (2018), 11 f., 75. 53 S. Menke (2015), 29–33, 183–192. 54 Ebd., 13. 55 Menke (2018c), 16; ähnlich bei Loick (2017a), 13; ders. (2019), 347. 47 48 49
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Entweder es handelt sich schlichtweg um eine grobe Verkürzung in mehrerlei Hinsicht: Erstens mag zwar ein wie auch immer geartetes Privatrecht eine herausragende Stellung in der Vermittlung und Koordination menschlichen Verhaltens der Gegenwart einnehmen. Es stellt aber keinesfalls das Ganze des Rechts dar.56 Zwar diskutiert beispielsweise Menke auch unter der Bezeichnung des „Sozialrechts“ ein weiteres Rechtsgebiet, das zugleich als Gegenstück zum Privatrecht fungiert. Dabei bleibt aber, so Lohmann, der Begriff des Sozialrechts „unausgeführt und zu vage“.57 Zweitens mögen wiederum zwar subjektive Rechte inner- wie außerhalb des Privatrechts eine grundlegende Rolle spielen, aber auch hier wäre eine Reduzierung der ‚Wirklichkeit‘ des Rechts auf subjektive Rechte, zumal orientiert am „Leitbild des privaten Ausschluss- und Verfügungsrechts der deutschen Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts“58, vereinfachend. Möllers hat darauf verwiesen, dass beispielsweise in den für gegenwärtige Gesellschaften ganz erheblich relevanten Teilrechtsgebieten des Steuer- wie des Strafrechts subjektive Rechte allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen.59 Sind dann aber diese Rechtsmaterien für die Rechtskritik irrelevant? Oder können sie nicht von ihr erreicht werden? Drittens kann in berechtigten Zweifel gezogen werden, ob die Vorstellung eines nicht weiter hinterfragbaren Einzelwillens, der Menkes Konzeption subjektiver Rechte zugrunde liegt, der gegenwärtigen rechtlichen Wirklichkeit gerecht wird; ob es sich, in einer Formulierung Harts, beim einzelnen Rechtssubjekt tatsächlich um einen „small-scale sovereign“60 handelt. Zunächst ist nämlich der subjektive Wille im innerstaatlichen Privatrecht, zumindest gegenwärtig, keineswegs konzipiert als subjektive Willkür. Denninger hat dies in seiner Auseinandersetzung mit der Kritik der Rechte am sog. ‚Nassauskiesungsbeschluss‘ des Bundesverfassungsgerichts exemplarisch vorgeführt.61 Nach diesem Urteil62 unterliegen die Befugnisse des Eigentümers nach § 903 BGB auch dem Rahmen der Sozialgebundenheit des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG. Der ‚subjektive Wille‘ eines Eigentümers ist also keineswegs schrankenlos: Eigentümer können nicht – hier sitzt auch Loick insofern einer falschen Vorstellung auf – „mit ihrem Eigentum willkürlich verfahren, ohne dafür anderen Rechenschaft ablegen zu müssen“.63 Es wird eben auch im Zivilrecht, so bereits Möllers, „permanent
Vgl. Hellmich (2020), 592. Vgl. hierzu weiterführend zuletzt Brunkhorst (2020) in Bezug auf Auer (2014). 57 Lohmann (2018), 452; vgl. dahingehend auch Neuhann (2020), 79. 58 So die zutreffende Feststellung bei Wihl (2021), 295. 59 Vgl. Möllers (2016), 308. 60 Hart (2011), 182; vgl. Menke (2015), 248. 61 Vgl. Denninger (2018), 317. 62 BVerfGE 58, 300. 63 Loick (2018b), 338 in seiner Auseinandersetzung mit dem Regelungsinhalt von Art. 14 GG. Ähnlich bei Menke (2018c), 29. 56
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
introspiziert, es werden Motive ermittelt und an einem Maßstab bewertet“.64 Eine eindeutige „Naturalisierung“65 des subjektiven Eigenwillens ist nicht feststellbar. Müsste dann aber nicht die Kritik der Rechte grundlegend relativiert werden? Heißt das dann weiterhin, dass die Rechtssubjektivität, wie Loick sie rekonstruiert, doch nicht vollständig ‚entsittlicht‘ ist? Viertens ist die Vorstellung einer auf bloß staatliches bzw. staatlich sanktioniertes Recht umfassenden Rechtsordnung – welche Materien auch immer betreffend – mindestens „grau geworden“66, keinesfalls lässt sich mit ihr die „Gegenwart des bürgerlichen Rechts“67 erfassen. De facto findet, gerade im Bereich des Privatrechts, Rechtsentstehung68 wie Rechtsumsetzung im transnationalen Raum beispielsweise im Rahmen einer Fülle nicht-legislativer Kodifikationen – systematischer Normtexte, die nicht durch einen staatlichen Gesetzgeber verabschiedet wurden –, statt. Da deren Rechtscharakter außer Frage steht69, ist eine Rechtskritik, die nicht eine solche Pluralität von Rechtsordnungen und deren Überlappungen zugleich mitbedenkt, kurzsichtig. Als institutionellen Ordnungsrahmen nur den Staat im Blick zu haben, kann jedenfalls nicht genügen. Liegen all diese rechtlichen Phänomene der Gegenwart dann aber schlicht jenseits der Armlänge einer ‚post-juridischen‘ Rechtstheorie? Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit, sich den Rechtsbegriff der ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien zu erklären. Sie besteht darin, dass er von Menke und Loick in Verknüpfung mit einer Gesellschaftstheorie betrachtet wird, welche die „Dominanz“70 bzw. „herrschende Gestalt“71 des von diesem speziellen Rechtsbegriff erfassten Rechts als Grundlage wie Folge einer bestimmten Gesellschaftsformation begreift.72 Diese Gesellschaftstheorie basiert auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie73, in der das Privatrecht als „Koordinationsrecht“74 von Marktakteuren und somit als funktionales Erfordernis einer bestimmten historischen Phase der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmt wird: Dieses Recht wäre demzufolge nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch formgenetisch mit der Ware in Beziehung zu setzen.75
Möllers (2015), 309. So aber Menke (2018c), 20; vgl. ders. (2015), 97. Fischer-Lescano (2013), 183. Menke (2015), 13. Vgl. exemplarisch Pistor (2021); Michaels/Jansen (2008); Berman (1995). Fischer-Lescano (2013), 185. Loick (2017a), 288. Menke (2015), 165. Vgl. hierzu bereits Buckel (2017). Vgl. Marx (1969a[1867]). Brunkhorst (2020), 64. Der ‚orthodox‘ marxistische Versuch findet sich bei Paschukanis (1970); vgl. Harms (2009). Auf die folgenreichen methodischen Verknappungen eines solchen Versuchs der ‚Ableitung‘ hat zurecht hingewiesen Arndt (2016), 115–118; vgl. ders. (2017). 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
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Insofern stellen sich auch die ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien „explizit“ in die „Tradition der Marx’schen Rechtskritik“76, allerdings – so bereits Buckel – auf eine „eigensinnige“77 Weise: Das Verhältnis der Rechtskritiken von Menke und Loick zu Marx muss insofern als ungeklärt, wenn nicht gar widersprüchlich charakterisiert werden, was sich anhand der beiden folgenden Punkte näher entfalten lässt. Erstens erfolgt die Rezeption von Marx unsystematisch, insofern die Entwicklung vom frühen, ‚philosophisch‘ argumentierenden Junghegelianer zum späten, an der bürgerlichen politischen Ökonomie sich abarbeitenden Marx nicht berücksichtigt wird. Für ein adäquates Verständnis von Marx’ Rechtskritik ist diese Entwicklung aber keineswegs unerheblich: Dem frühen Marx ist die Menschenrechtskritik des Beitrags Zur Judenfrage zuzurechnen.78 Die darin formulierte Rechtskritik, die Menschenrechte würden zwar de jure die Gleichheit eines jeden Menschen proklamieren, jedoch de facto bloß dem rein egoistischen Individuum – wortwörtlich – zu seinem Recht verhelfen, steht bei Marx noch gänzlich unter dem Eindruck von Ludwig Feuerbachs Überlegungen zum Menschen als Gattungswesen. Sie gehen nicht darüber hinaus; darauf hat zuletzt Peitsch hingewiesen.79 Die ‚gesellschaftlichen Verhältnisse‘ sind in diesem Text für Marx noch keine eigenständige Kategorie. Diese wird zentral erst für den ‚späten‘ Marx der Kritik der politischen Ökonomie. Bei Loick jedoch werden die entsprechenden Arbeiten Marx’ ohne jede Reflexion auf diesen qualitativen Unterschied der Kritik durcheinander zitiert und insofern entweder verkürzt oder verzerrend dargestellt.80 Für Menke wird dieser übersehene Bruch zu einem systematischen Problem, da die Kritik der Rechte anhebt mit einer Frage aus Marx’ Zur Judenfrage: warum die politische Erklärung gleicher Rechte zugleich der Entmachtung der Politik gleichzukommen scheint.81 Diese von Menke als „Marx’ Rätsel“ betitelte Ausgangsfrage hat jedoch im Spätwerk ihres Urhebers ein Angebot zur doppelten Auflösung erhalten: Als relativ entmachtet erscheint die Politik aufgrund des Primats der Produktionsverhältnisse, welche die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ darstellen82; die politisch-praktische Enträtselung dieser Zustände findet sich in der Herbeiführung des Kommunismus.83 Darüber hinaus ist zweitens die Rezeption Marx’ überhaupt sehr selektiv. Für Menke folgt die Kritik der Rechte Marx’ Rechtskritik nur als methodisches Analogon: Wie Marx versucht hätte nachvollziehen, warum ein bestimmter Inhalt (im Falle Marx’ die
So Loick (2018b), 326 über Menke. Buckel (2017), 464. Vgl. hierzu zuletzt Rickert (2021). Peitsch (2021) in Replik auf Rickert (2020); vgl. auch Peitsch (2020), 205; Lohmann (2018), 457; Arndt (2016), 119. 80 Vgl. hierzu ausführlich bereits Peitsch (2020), 197. 81 Vgl. Menke (2015), 8. 82 Marx (1969b[1859]), 7. 83 Das hat zu Menke erneut bereits angemerkt Buckel (2017), 472. 76 77 78 79
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
Arbeit) eine bestimmte Form (hier die des Wertes) annähme, wolle Menke nun zeigen, warum das moderne bürgerliche Recht die Form subjektiver Rechte annimmt, d. i., die „innere[] Genesis“ bzw. den „Geburtsakt“84 der Form subjektiver Rechte begreifen.85 Allerdings macht der Autor deutlich: „[D]ie Kritik der politischen Ökonomie ist nicht die Grundlage der Kritik der Rechte“.86 Auch Loick verabschiedet sich für seine Überlegungen von dieser Grundlage. Für ihn hat eine Gesellschaftstheorie, „die von einem kapitalistischen ‚Haupt-‘ oder ‚Grundwiderspruch‘ ausgeht, jede Plausibilität verloren“.87 Gleichzeitig wird an anderer Stelle geäußert, es könne „zumindest potentiell auch ein ganz anderes Recht geben, als dies in der kapitalistischen Gesellschaft funktional war, ein ganz anderes Recht als dasjenige isolierter Privatmonaden“.88 Das legt wiederum die Vermutung nahe, dass für den Autor dies eben die Gestalt des Rechts der Gegenwart ist – damit rückt aber die Juridismuskritik wieder in direkte Nähe zu ebenjener Gesellschaftstheorie, der zugleich ‚jede Plausibilität‘ abgesprochen wird. Im Ergebnis befinden sich die ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien insofern in einem widersprüchlichen Verhältnis zu Marx: Sie erscheinen aufgrund einer als ‚dominant‘ bzw. ‚herrschend‘ bestimmten Gestalt des Rechts der wie auch immer idiosynkratischen Rezeption Marx’ als mit dieser Richtung der Rechtskritik verschränkt, lehnen aber das konkrete gesellschaftstheoretische Angebot, welches hiermit unweigerlich in Verbindung steht, ab. Möllers meinte dahingehend, eine Gesellschaftstheorie bleibe höchstens „implizit“89, Buckel und Denninger halten diese Frage für schlichtweg ungeklärt und damit die Kritik für gesellschaftstheoretisch bodenlos.90 Als Konsequenz scheinen bei Menke und Loick Wesen, Entstehung und Wirkungsweisen ‚des Rechts‘ immer aus dem Recht selbst heraus geklärt oder auf es selbst zurückbezogen werden zu müssen: ‚Das Recht‘ wird als potentes Subjekt geschildert91 und erscheint als „großes Lebewesen“ mit eigenen Verhaltensweisen.92 Dies ist insofern nicht allein Ausdruck eines gewöhnungsbedürftigen „Stils“93 oder einer merkwürdigen „Diktion“,94 sondern liegt in der Sache selbst. Dass aber weiterhin ohne jede gesellschaftstheoretische Einhegung die Bedeutung des Rechts von Beginn an systematisch überhöht wird, So Marx (1969c[1927]), 296. Vgl. Menke (2018c), 17. Ebd., 14, Herv. CB. Insofern ist es unzutreffend, dass Bayer meint, Menke belebe mit der Kritik der Rechte die „materialistische Kritik“ wieder, s. Bayer (2020), 45. 87 Loick (2019), 313; vgl. ders. (2017a), 14 f. 88 Loick (2017a), 183. 89 Möllers (2016), 310. 90 Vgl. Buckel (2017), 465; Dennninger (2018), 326. Vgl. kritisch explizit zu Loick Möllers (2017). 91 Vgl. bereits Buckel (2017), 465. 92 Vgl. Denninger (2018), 326 mit vielen Beispielen aus Menke (2015). Gleiches aber auch bei Loick (2017a), 12, 14, 135, 227. 93 So Heidenreich (2018), 173. 94 So Klonschinski (2020), 170. 84 85 86
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liegt auf der Hand. Oder, um einen Einwand gegen den historischen Materialismus zu spiegeln: Warum sollte es plausibler erscheinen, allein im Recht selbst die „alles formierende Kraft der modernen Gesellschaft“95 zu suchen? Zuletzt argumentieren die ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien hierbei erneut an der ‚Gegenwart‘ und ‚Wirklichkeit‘ des Rechts vorbei – nicht nur, weil die gesellschaftstheoretischen Grundlagen unklar bleiben, sondern vor allem, weil vermittelst des eben erwähnten eigenwilligen Duktus auch nicht gezielt unterschieden werden kann zwischen einer Kritik am Recht und einer Kritik an den Recht um- und durchsetzenden Institutionen. Insofern es aber als akzeptable Ausgangsposition gelten kann, dass es nicht das Recht selbst ist, welches „vollzieht und verleugnet“ oder etwas „sicherstellt“,96 sondern dies nur durch Akteure und Institutionen geschieht ( Justiz, Polizei, Verwaltung), dann muss jede Kritik an einer irgendwie defizitären Praxis in dieser Hinsicht an diese Akteure und Institutionen sich richten, nicht an ‚das Recht‘.97 Rechtskritik wird ansonsten fortwährend vermengt mit Justiz-, Polizei- oder etwa Strafvollzugskritik. 4.
Zur normativen Dimension der Kritik
Zuletzt wollen beide Autoren nicht bei einer bloßen Bestandsaufnahme und Kritik des Ist-Zustands verbleiben, sondern zugleich programmatische Entwürfe eines post-juridischen Zustands anbieten. Dahingehend soll hier abschließend erörtert werden, wie diese Entwürfe zu bewerten sind. 4.1
Depotenzierung und Deprivilegierung
Die ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien verbinden ihre Kritik an der Gegenwart zunächst mit einer recht direkten normativen Forderung. Menke spricht sich für eine „Depotenzierung“ aus, in welcher die Durchsetzung des Rechts zu bloß einer Möglichkeit wird, die ergriffen werden kann oder nicht. Depotenzierung des Rechts heißt: seine Durchsetzung zu politisieren, von einer prinzipiellen in eine strategische Frage zu verwandeln.98
Brunkhorst (2018), 575 über Loick. Menke (2015), 388, 394. Somek meinte dahingehend, die Kritik subjektiver Rechte sei letztlich etwas für „Menschen mit Geld“, da über die von ganz eigenen Machtmechanismen geprägte Praxis des rechtlichen Urteilens hinweggesehen würde, Somek (2018), 119. 98 Menke (2014), 142; Herv. i. O.; vgl. ders. (2018b), 102; ders. (2009), 95. 95 96 97
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
In einer vergleichbaren Absicht spricht Loick von der „Deprivilegierung der Rechtssphäre als Medium politischer Veränderung“.99 Hierzu möchte ich zwei Einwände nennen. Erstens ist hervorzuheben, dass die Anwendung und Durchsetzung von Normen (auch rechtlicher Normen) schon immer nicht mehr als eine bloße Möglichkeit darstellt:100 Wären rechtliche Normen mehr als Verhaltenserwartungen und ihre NichtAnwendung oder -Durchsetzung unmöglich, wären sie damit zugleich auch obsolet. Dass umgekehrt rechtliche Normen gerade auch bei Nichteinhaltung nicht ihre normative Geltung verlieren – und Vollzugsdefizite sind „eher die Regel als die Ausnahme“101 –, ist nur der logische Schluss aus diesem Umstand. Weiterhin muss festgehalten werden, dass unklar bleibt, was mit der ‚Durchsetzung‘ von Recht ‚als strategische Frage‘ gemeint ist. Die strategische Dimension beispielweise von Prozessführung ist schließlich keinesfalls die Eigenschaft einer noch herbeizuführenden Zukunft, sie wird seit langer Zeit unter den Stichworten strategic litigation102 oder aber forum shopping103 diskutiert. Weiterhin müssen zweitens die normativen Implikationen der Forderung einer ‚Depotenzierung‘ bzw. ‚Deprivilegierung‘ des gegenwärtigen Rechts in den Blick genommen werden. Nimmt man folgend der in Kap. 3 vorgenommenen Aufarbeitung des Rechtsbegriffs der ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien an, dass für die ‚Gegenwart‘ hauptsächlich staatlich sanktioniertes Recht diskutiert und kritisiert wird, dann geht es also um die ‚Depotenzierung‘ bzw. ‚Deprivilegierung‘ eben jenes Rechts. Das Problem besteht dann aber in der Richtungslosigkeit dieser Forderung. Schließlich ist hier nicht ausgemacht, gegenüber welchen alternativen Normordnungen die ‚Depotenzierung‘ stattfinden soll: Das Faustrecht könnte ebenso gemeint sein wie transnationale Schiedsgerichtsbarkeit – ob man in den dann wehenden Winden noch aufrecht stehen könnte, ist eine offene Frage.104 Gleiches gilt für die Forderung, die ‚Durchsetzung‘ von Recht ‚zu politisieren‘.105 4.2
Gegenrechte und Exodus
Jenseits der eher abstrakten Forderung einer ‚Deprivilegierung‘ bzw. ‚Depotenzierung‘ staatlichen Rechts haben jedoch beide Autoren – Menke in Gestalt der ‚Gegenrechte‘, Loick mit seinen Überlegungen zum ‚Exodus‘ – Entwürfe formuliert, die das spezifisch post-juridische ihrer Ansätze darstellen sollen. Die Auseinandersetzung wird sich 99 Loick (2017a), 181. 100 Vgl. statt aller hierzu Möllers (2015). 101 Bryde (1992), 9. 102 Vgl. statt aller Juenger (1988). 103 Vgl. statt aller Graser/Helmrich (2019). 104 Vgl. Zabel (2018), 198. 105 Vgl. hierzu, wenn auch sehr polemisch, Voßkuhle (2018), 3157; ebenso kritisch Denninger (2018), 325.
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an dieser Stelle aus zwei Gründen auf eine Auseinandersetzung mit Loicks Entwurf des Exodus konzentrieren. Erstens sind die Gegenrechte begrifflich „vage“106 geblieben und wurden vom Autor auch seitdem wenig expliziert.107 Zweitens versteht Loick die Konzeption des Exodus als eine Ausdeutung der Gegenrechte108, weshalb sie als ein möglicher „Konkretisierungsschritt des Menk’schen Programms“109 rezipiert wird.110 Die von Loick geforderte „Transformation des Rechts“111 nimmt in der Figur des Exodus ihr Modell sehr konkret am alttestamentarisch geschilderten Auszug der Israeliten aus Ägypten. Für Loick attraktiv wird diese Figur überhaupt erst durch spezifische Merkmale der sogenannten „jüdischen Rechtstradition“ bzw. des „jüdischen Rechtsdiskurses“, welcher der sogenannten „römisch-christlichen Tradition“ gegenübergestellt wird.112 Vier solche Merkmale werden genannt: Erstens sei die „Rechtsgemeinschaft des Judentums nicht territorial umgrenzt“. Durch die Abwesenheit eines „staatlichen Gewaltapparates als Durchsetzungsagentur“ hätten sich zweitens „andere Persuasionsressourcen entwickeln müssen, welche der römisch-christlichen Tradition gar nicht zur Verfügung standen“; es handle sich um ein „nur noch […] studierte[s] Recht“. Insofern verstünde sich drittens das jüdische Recht mehr als „Lehre“ denn als „Befehl“. Viertens sei dieser Tradition „das römischrechtliche Konstrukt der Instanzenhierarchie fremd“, wodurch ein „verstärktes Bewusstsein der Kreativität und Flexibilität der Rechtsauslegung“ hervorgerufen würde. Diese vier Merkmale werden als „differentia specifica des jüdischen Rechts“ bezeichnet.113 Nach Loick liegt das „Potential“ der Überlegungen in der Möglichkeit der Konstruktion transversaler Sozialitäten, die keine nationalen Grenzen kennen. Es sind plurale diasporische Gemeinschaften, die sich durch den Auszug aus den konventionellen Nationalstaaten mit ihren exkludierenden Gewaltapparaten konstituiert haben, welche eine aterritoriale Kohabitation auf dem geteilten Planeten antizipieren und auf diese Weise das fundamentale Recht der Sozialität ins Werk setzen.114
Hierzu möchte ich vier Dinge einwenden: Die Formulierungen verdeutlichen erstens, dass die angestrebte ‚radikale Transformation‘ eigentlich weniger eine des Rechts und mehr grundlegender eine der politischen Ordnung in toto ist. Den Autor holt hier der
So Franzki (2020), 80; ähnlich auch Denninger (2018), 324; Pichl (2018), 131; Wihl (2021), 298; Zabel (2020), 164 f.; Lohmann (2018), 442. 107 Vgl. Menke (2018c), 24. 108 Loick (2017a), 312. 109 So bei Franzki (2020), 80. 110 Weitere mögliche Weiterentwicklungen finden sich im Abschnitt „Zur Aktualität von Gegenrechten“ und „Gegenrechte als transsubjektive Rechte“ im Sammelband von Fischer-Lescano et al. (2018). 111 Loick (2017a), 18. 112 Ebd., 313–329; ders. (2016); ders. (2018a), 102–105. Grundzüge schon in ders. (2012), 279–310. 113 Loick (2016), 122–124. 114 Loick (2017a), 306. 106
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eigene, nicht eingestandene Rechtsbegriff ein: Weil mit ‚dem Recht‘ eigentlich ‚staatliches Recht‘ kritisiert wird, ist die Rechtskritik immer mit Staats- bzw. Herrschaftskritik verbunden. Die Juridismuskritik erscheint eigentlich als eine bloße Verlängerung der Kritik der Souveränität (Loicks vorheriges Projekt).115 Dabei ist zweitens die Gegenüberstellung mit der sogenannten ‚römisch-christlichen Tradition‘ mindestens vereinfachend116, wenn nicht gar verzerrend. Hier scheint Loick zu übersehen, dass es sich sämtlich nicht um prinzipielle, sondern um historisch-kontingente Unterschiede handelt. Das heißt aber auch, dass eventuell die Beziehung der ‚Pathologien des Juridismus‘ und der sogenannten ‚römisch-rechtlichen Tradition‘ eine nicht-notwendige ist, respektive sich nicht „systematisch“ auf das „europäische Recht als solches“ zurückführen lässt.117 Schließlich hatte auch das römische Recht zu Zeiten des ius commune, also bis ins 18. Jahrhundert hinein, eine sehr laxe Haltung zu territorialen Grenzen, mit der erst das Kodifikationszeitalter wirklich bricht.118 Ebenfalls ließ sich hier noch die Vorstellung eines rein gelehrten Rechts ‚jenseits eines staatlichen Gewaltapparates‘ finden. Und ein ‚Bewusstsein von Kreativität und Flexibilität der Rechtsauslegung‘ muss sich nicht allein in Ermangelung von Institutionen der Rechtspflege entwickeln, sondern kann auch das Produkt von Krisenzeiten oder schlichtweg rechtspolitischem Opportunismus sein. Hiervon kennt gerade das Privatrecht – und gerade das deutsche – im 20. Jahrhundert genügend Beispiele: statt aller sei hier nur auf die Zeit der Inflationskrise in den frühen 1920er Jahren verwiesen, während der die in § 242 BGB enthaltene Generalklausel von Treu und Glauben in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu einem Vehikel wurde, um die Möglichkeit einer Aufwertung von Hypothekenforderungen durch die Richterschaft zu bejahen. Somit wurde § 242 BGB zu einem „Mantel, unter dem der Richter als Gesetzgeber“ tätig wurde: Ein Sachverhalt von – insbesondere zu dieser Zeit – „unerhörter Tragweite“.119 Zugespitzt könnte man sagen, dass der indirekte Vorwurf Loicks, die ‚römisch-christliche Tradition‘ habe ein unausgeprägtes ‚Bewusstsein für die Kreativität und Flexibilität der Rechtsauslegung‘, Funktion und Geschichte der juristischen Methodenlehre120 missachtet. Umgekehrt erscheint drittens die von Loick so genannte jüdische Rechtstradition nur sehr schemenhaft und zugleich idealisiert121 dargestellt. Beispielsweise wird behauptet, das jüdische Recht „entails scope, content, and function typical for a legal regime“.122 Worin genau diese Reichweite, der Inhalt und die Funktionalität besteht, welche die jüdische Rechtstradition zu einer äquivalenten Rechtsordnung macht, 115 116 117 118 119 120 121 122
Loick (2012); vgl. ders. (2011). Vgl. Hellmich (2020), 161. So aber Loick (2017a), 295. Vgl. hierzu Wieacker (1968), 18, 204–248. Rüthers (2017[1968]), 87. Vgl. hierzu statt aller Rückert et al. (2017). Vgl. dahingehend auch Möllers (2017); Klenner (2018), 410. Loick (2018b), 102.
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wird nicht weiter ausgeführt. Weiterhin wird behauptet, jüdisches Recht „has proven its capacity to reliably solve conflicts and regulate human behavior over centuries“123, erneut ohne Hinweise, worin diese Kapazitäten bestehen, um welche Art von Konflikten es sich handelt, oder wie welches menschliche Verhalten ‚reguliert‘ wurde. Ebenso wird die Bedeutung des Antisemitismus, also die gesellschaftliche Voraussetzung von Struktur und Praxis dieser Rechtstradition, nicht eigens angeführt.124 Zuletzt werden die religiösen Quellen dieses Rechts für den post-juridischen Zustand disqualifiziert. Es wird allerdings nicht diskutiert, ob nicht gerade dort die entsprechenden ‚Persuasionsressourcen‘ dieses Rechts wurzeln, ohne welches es kaum verhaltenssteuernd wirken kann.125 Betreffend diese ‚Persuasionsressourcen‘ muss zuletzt viertens Loicks Konzeption sich die normativen Ansprüche eines Modells kommunikativer Vernunft aufbürden, wenn sie effektive Verhaltenssteuerung bewirken, aber dafür nicht auf eine Zwangsgewalt oder einen ‚Befehl‘ zurückgreifen will.126 Denn was nach ihrem Auszug aus den Nationalstaaten die Einzelnen innerhalb der „Gemeinschaft der Interpret*innen“127 zur Befolgung des post-juridischen Rechts anhält, sind für Loick bestimmte „Bindungsenergien“128 der Deliberationen zwischen den Mitgliedern jener Gemeinschaft. Entsprechend seien die Orte jener Deliberationen nicht „Gerichtshäuser“, sondern „Schulen und Akademien“.129 Dabei stellt sich jedoch zum einen die Frage, ob ein solcher Modus der Rechtsfindung und Konfliktlösung, wie Pichl bemerkt hat, nicht „die Praxis einer bestimmten sozialen Gruppe verabsolutiert: die Praxis der akademischen Intellektuellen“.130 Das wird von der Juridismuskritik nur angezeigt, aber nicht weiter diskutiert.131 Zum anderen bleibt das post-juridische Recht in seiner Umsetzung allein auf eine unterstellte Rationalität der Sprache gestützt. Peitsch spricht hier mit Blick auf die Praktikabilität solcher Überlegungen, nicht ganz zu Unrecht, vom „Prinzip Hoffnung“.132 Honneth hat bemerkt, der normative Anspruch von Habermas’ Sprachtheorie werde hier wider dessen Willen zur Ordnungskraft eines „aufgeklärten Anarchismus“.133 Nicht allein liegt dem ein prinzipiell wohlgesonnenes Bild menschlichen Denkens und Handelns zugrunde, es sollte weiterhin nicht vergessen werden, dass die Transformation allein eine des Rechts sein soll. Es scheinen beispielsweise die gesell-
123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133
Ebd., 103; ebenso ders. (2012), 284. Vgl. hierzu bereits Scheit (2015), 121 in Bezug auf Loick (2012). Vgl. Loick (2017a), 319 f. Vgl. hierzu bereits kritisch Honneth (2012), 16 f. in Bezug auf Loick (2012). Loick (2017a), 313. Loick (2017a), 320; vgl. auch ders. (2012), 286; ders. (2016), 123. Ebd., 123; vgl. auch Loick (2018a), 104; ders. (2019), 343; ders. (2011), 213; vgl. auch Menke (2009), 95. So Pichl (2018), 131. Vgl. Loick (2017a), 335. Peitsch (2020), 114. Honneth (2012), 16.
Zur Kritik ‚post-juridischer‘ Rechtstheorien
schaftlichen Produktionsverhältnisse von ihr unberührt zu bleiben.134 Ob die „experimentelle Rechtstransformation“135 des ‚Exodus‘ dann aber die gewünschten Folgen – eine Art ‚Heilung‘ der Pathologien des Juridismus – zeitigen würde, muss bezweifelt werden. 5. Schluss
Die vorangehende Darstellung hat eine systematische Kritik der sogenannten ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien formuliert: sie fußen ihre Kritik bloß auf einen bestimmten philosophischen Diskurs, haben einen impliziten, letztlich engen Rechtsbegriff, vermengen unzulässigerweise Rechtskritik mit der Kritik an Recht um- und durchsetzenden Institutionen und diskutieren die möglichen politischen Konsequenzen ihrer normativen Stoßrichtung nicht angemessen (oder gar nicht). Der selbst gesetzte Anspruch jener rechtskritischen Strömung, ‚Gegenwart‘ wie ‚Wirklichkeit‘ des Rechts zu erfassen, zu kritisieren und in Gegenentwürfen zu überwinden, scheint schwerlich erfüllt. All diese Einwände wurden aber keineswegs in der Absicht vorgebracht, die Kritik an sich zu delegitimieren, sondern nur deren eigene Voraussetzungen und mögliche Unklarheiten der Folgen dieser Voraussetzungen aufzuzeigen. Es böte sich sogar an, hierüber die Rechtskritik der ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien zu schärfen, damit sie nicht als letztlich unbrauchbar dem Bereich des „Gedankenexperiments“136 oder einer Spielart „spätbürgerliche[r] Theorieseligkeit“137 zugewiesen werden. Insofern ist der freudigen Feststellung Fischer-Lescanos von 2013, das Recht sei spätestens mit der sogenannten ‚dritten Generation‘ der sogenannten ‚Frankfurter Schule‘ zu einem „zentralen Forschungsfeld avanciert“,138 zuzustimmen. Es scheint sich jedoch in den hieraus hervorgegangenen ‚post-juridischen‘ Rechtstheorien dieser Fokus in einen unplausiblen Monismus verwandelt zu haben, der anderen gesellschaftlich nicht minder relevanten Kräften zu wenig Bedeutung beimisst und damit ‚das Recht‘ ab ovo überfrachtet.139 Dann stünde nach meiner Ansicht hinter jedem einzelnen der hier vorgebrachten Einwände gegen die Entwürfe Menkes wie Loicks letztlich die Forderung einer notwendigen Rückbesinnung: Keine ‚kritische Theorie des Rechts‘ ohne kritische Theorie der Gesellschaft.140
Vgl. schon diese Vermutung bei Scheit (2015), 126. Loick (2017a), 336. Denninger (2018), 326. Möllers (2017). Fischer-Lescano (2013), 179. Vgl. hierzu auch Klenner (2018), 410. Der Aufsatz berücksichtigt nur bis Mitte des Jahres 2022 erschienene Literatur. Insbesondere anhand von Christoph Menkes kürzlich erschienenem Buch Theorie der Befreiung wären daher wohl einige der hier vorgebrachten Einwände weiter zu erörtern. 134 135 136 137 138 139 140
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forschung. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Historischen Soziologie und der Rechtswissenschaftsgeschichte. Das aktuelle Buchprojekt trägt den Arbeitstitel „Otto Liebmann und sein Verlag, 1890–1933“.
III.
Konkrete Problemfelder einer kritischen Theorie des Rechts
Justitias Blinder Fleck* Antisemitismus, Adorno und das AGG
JEREMIAS DÜRING / CONSTANTIN LUFT
Justitia’s Blind Spot Anti-Semitism, Adorno and the General Act on Equal Treatment (AGG) Abstract: There are ample legal provisions to combat Anti-Semitism. However, a problem of appli-
cation is apparent before the German courts as they are not sufficiently sensitized to forms of modern antisemitic behavior (1.). After some conceptual groundwork (2.), we therefore draw on insights from the Critical Theory of modern Anti-Semitism (3.) in order to ultimately sketch five continuing education goals for the judiciary (4.). Keywords: Anti-Semitism, Critical Theory, Legal Philosophy, Discrimination, Racism, Anti-Judaism, Anti-Zionism Schlagworte: Antisemitismus, Kritische Theorie, Rechtsphilosophie, Diskriminierung, Rassismus, Antizionismus
Es gibt Dinge, zu denen viel gesagt werden könnte, aber noch nicht viel gesagt wurde. Es gibt Dinge, zu denen das Viele, das gesagt werden könnte, bereits gesagt wurde. Es gibt Dinge, zu denen Vieles gesagt wurde, obwohl es gar nicht viel zu sagen gab. Und es gibt Dinge, zu denen (noch ganz) viel gesagt werden muss, gerade weil schon so viel zu Ihnen gesagt werden musste. Der Antisemitismus gehört in die letzte Kategorie. Über antisemitische Verhaltensweisen und Codes kann man nie genug lernen – das gilt im Alltag genauso wie vor Gericht. So hat Ronen Steinke mit seiner Monografie Terror gegen Juden vehement darauf hingewiesen, dass die bundesdeutsche Justiz im Umgang mit antisemitischen Vorfäl-
*
Für wertvolle Anmerkungen, Hinweise und Kritik danken wir Claudia Wirsing und Peer Schäfer.
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len defizitär agiert.1 In diesem Aufsatz versuchen wir insofern, Einsichten einer Kritischen Theorie des modernen Antisemitismus als Reflexionsfolie zu nutzen, um einige Lernziele für eine verbesserte Rechtsprechung formulieren zu können. 1.
Antisemitismus und die deutsche Rechtsordnung
Das Normengefüge unserer Rechtsordnung ist im Ausgangspunkt eigentlich mit ausreichenden Wertungsreserven ausstaffiert, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen.2 Statt eines Regelungs- lässt sich jedoch ein Anwendungsdefizit diagnostizieren.3 Es bedarf nicht neuer Normen, sondern stringenterer Auslegung und Applikation des vorhandenen Normenbestands.4 Der ‚Kuwait Airways-Fall‘5 illustriert diese Tendenz besonders anschaulich: 2018 hatten zwei Frankfurter Gerichte über die Nichtbeförderung eines israelischen Staatsbürgers6 durch eine kuwaitische Fluglinie zu entscheiden.7 Unter der Berufung auf das heimische Boykottgesetz Nr. 21/1964, das kuwaitischen Staatsbürgern jegliches kontrahieren mit Israelis untersagt, weigerte sich Kuwait Airways – trotz wirksamen Transportvertrages – einen Israeli nach Bangkok zu fliegen. Neben einiger rechtlicher Klippen, die das internationale Privatrecht bereithält, blieb vor allem in Erinnerung, mit welcher geradezu naiven Begründung das Landgericht ein Schadensersatzbegehren nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) abschmetterte: Die Ungleichbehandlung erfolge allein aufgrund der Staatsbürgerschaft8, die kein Diskriminierungsmerkmal nach dem AGG ist.9 Auch mit Bezug auf solche unreflektierten Verkürzungen erhob eine rechtswissenschaftliche Analyse der Berücksichtigung aktueller Ausdrucksweisen des Antisemitismus in der deutschen Rechtsprechung erst kürzlich folgenden Befund: Auf sicherem Boden fühlt sich die Justiz, wenn sie sich in historisch bekannten Parametern bewegt. Hat eine antisemitische Äußerung einen Bezug zum Nationalsozialismus oder zur
Vgl. Steinke (2020), 83 ff., 134. Etwa Art. 1 I, 3 III 1 GG, Art. 21 I GrCh, Art. 14 EMRK, §§ 46 II 2, 130 StGB, AGG; vgl. Weller/Lieberknecht (2019), 320 ff. sowie Liebscher et al. (2020), 897 f. 3 Vgl. Liebscher et al. (2020), 902. 4 Vgl. ebd. 5 Dazu Mörsdorf (2018). 6 Wir verwenden männliche und weibliche Formen grds. abwechselnd. Es sind stets alle Geschlechteridentitäten adressiert. 7 Vgl. LG Frankfurt, 16.11.17, 2–24 O 37/17 sowie OLG Frankfurt, 25.09.18–16 U 209/17. 8 Reformorientiert Weller et al. (2020). 9 Vgl. Weller/Lieberknecht (2019), 325. 1 2
Justitias Blinder Fleck
Schoa, ist die Entscheidung häufig schnell getroffen. Mit aktuellen Formen des Antisemitismus setzt sich die Justiz [hingegen] erst langsam auseinander.10
Den Gerichten und Staatsanwaltschaften fehlt offenbar bereits die sozialwissenschaftlich informierte Sensibilität für das Phänomen des ‚modernen Antisemitismus‘11. Es mangelt an theoretischer Fortbildung.12 Deswegen soll im weiteren Verlauf eine instrumentelle These plausibilisiert werden, wonach die Beschäftigung mit der Kritischen Theorie des modernen Antisemitismus ein hilfreiches Vehikel ist, um dieses Wissensdefizit der Rechtsprechung zu schließen. 2.
Definitionen und Phänomene
Bevor wir uns mit konkreten Fragen des Phänomenbereichs befassen, ist ein wenig konzeptuelle Präzisierung notwendig. Wir müssen wissen, worüber genau gesprochen werden soll. In diesem Sinne sollen drei – sich partiell überlagernde – Begriffe analytisch schärfer gestellt werden: Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus. In der zeitgenössischen metaphilosophischen Debatte haben sich im Wesentlichen zwei Leitbilder für ein solches Projekt der Begriffsexplikation13 herausgebildet – theoretische Designs und praktische Designs: theoretisches Design Einige Begriffe sollten so definiert werden, dass sie die Welt skrupulös an ihren Gelenken tranchieren (carving the world at its joints).14 praktisches Design
Andere Begriffe sollten so definiert werden, dass sie die bestverfügbaren Instrumente zur Förderung einer gerecht(er)en Gesellschaft sind.15
Den nachfolgenden stipulativen Definitionen liegt ein praktisches Design zugrunde, das von der Überzeugung getragen wird, den eigentlichen Zweck der Antisemitismusbekämpfung nicht in der sukzessiven Erstellung einer (extensional) möglichst umfassenden Antisemitinnenliste, sondern in der möglichst flächendeckenden Vermeidung von antisemitischen Verhaltensweisen in der Gesellschaft zu sehen. Insofern schlagen wir Liebscher et al. (2020), 900. Dazu Salzborn (2010), 317–342. Vgl. Liebscher et al. (2020), 900. Zur Klarstellung: Wir verwenden den Ausdruck ‚Explikation‘ hier in einem informellen Sinne (und sind damit nicht auf die strenge Explikationsmethode nach Rudolf Carnap festgelegt). 14 Vgl. Burgess/Plunkett (2013), 1093. 15 Vgl. ebd. 1093 f. 10 11 12 13
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anstelle einer Explikation von ‚Antisemit‘ eine solche von ‚antisemitischem Handeln‘ vor. Davon versprechen wir uns letztlich sogar eine höhere diskursive Beschäftigungsbereitschaft mit dem Themenkomplex: Psycholinguistische Einsichten legen nämlich nahe, dass Nominalisierungen der Machart ‚x ist Antisemitin‘ stets die Assoziation einer essentiellen Eigenschaft von x hervorrufen, während dies für sprachliche Wendungen wie ‚x verhält sich antisemitisch‘ gerade nicht gilt.16 Die dringend nötige kritische Selbstreflexion eigener antisemitischer Verhaltensweisen wird eher gelingen, sofern man sich damit selbst nicht automatisch zum ewig unveränderlichen Antisemiten erklären muss.17 Kommen wir also zur ersten stipulativen Definition: (ANTISEMITISCH)
x handelt gegenüber y antisemitisch: ↔ ∑φ [1a] x’s φ ist gegen y gerichtet [2a] und zwar deshalb, weil x y als „jüdisch“ klassifiziert [3a] und sich in φ eine Einstellung von x manifestiert, die von der normativen Überzeugung getragen wird, dass Juden als solche minderwertig sind.18
Den Quantor ‚∑φ‘ bitten wir dabei als Abkürzung der Vorrede ‚für mindestens eine Ersetzung der Variablen ‚φ‘ durch ein Verhalten gilt Folgendes‘ zu verstehen. Die Merkmale [1a]–[3a] zeigen, dass drei Ebenen für antisemitisches Verhalten relevant sind – die der (i) Akteure, der (ii) Handlungen sowie der (iii) Einstellungen19. Das erste Konjunkt [1a] ist der Grund dafür, dass Hannah Arendts berühmte Klage „Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher“20 bereits aus begrifflichen Gründen wahr ist. Für antisemitisches Handeln braucht es mindestens zwei. Vermittels des zweiten Konjunkts [2a] soll transparent gemacht werden, dass antisemitisch handelnde Personen selbst darüber befinden, wer in ihren Augen „jüdisch“ ist.21 Das konstruktivistische antisemitische Labeling ist vollständig von realen Religions- oder Gruppenzugehörigkeiten entkoppelt.22 Die durch x erfolgte Setzung des Jüdisch-Seins von y entpuppt sich als derart willkürlich, dass sogar offensichtlich widersprüchliche Aussagen keine Seltenheit sind. Zu nennen wäre etwa das Vorurteil, wonach der Jude nicht nur raffgieriger Kapitalist, sondern gleichzeitig auch bolschewistisch-kommunistischer Verschwörer sei. Unser drittes Konjunkt [3a] enthält schließlich den Nukleus jeden antisemitischen Handelns: die antisemitische Einstellung. Freilich stellt sich 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. für generische Sätze Leslie (2008) und Sterken (2015). Angelehnt an Koch (2020). Die Merkmale sind von Meggle (2021), 494 inspiriert. Vgl. Meggle (2021), 492. Vgl. Arendt (2000 [1941–1945]). Vgl. Salzborn (2010), 319 f. Vgl. zur Entkoppelung Schulze-Wessel (2006), 155 ff.
Justitias Blinder Fleck
an dieser Stelle ein intrikates „Verifikationsproblem“23, weil es in der Praxis eigentlich immer schwierig ist, aus äußerlichen Verhaltensweisen einer Person zureichende Belege oder Indizien für gewisse Einstellungen zu gewinnen.24 Antijudaistisches Handeln kann in einem nächsten Schritt als Spezialfall von antisemitischem Handeln aufgefasst werden: (ANTIJUDAISTISCH) x handelt gegenüber y antijudaistisch: ↔ ∑φ [1a]–[3a] [4j] und die Einstellung von x historisch mit religiösen Stereotypen verknüpft oder religiös motiviert ist. Das entscheidende Merkmal [4j] träfe beispielsweise auf den „Urantisemitismus“ mit seinem Anwurf der jüdischen Kollektivschuld am Tode Jesu oder auf die bis zum heutigen Tage beliebten Gerüchte von den „Wucherjuden“ zu. Ein wenig diffiziler ist der Fall antizionistischen Handelns: (ANTIZIONISTISCH) x handelt antizionistisch: ↔ ∑φ [1z] x’s φ ist von außen betrachtet gegen den Staat Israel (seine Repräsentanten) oder seine Symbole gerichtet [2z] und zwar deshalb, weil x Israel als Instanziierung eines politischen Projektes des 19. Jahrhunderts ansieht, das ‚Zionismus‘ genannt wird [3z] und sich in φ eine Einstellung von x manifestiert, die dieses historische politische Projekt oder seine Weiterentwicklungen negativ evaluiert. Zunächst zeigt uns das erste Konjunkt [1z], dass eine antizionistische Handlung sich nicht zwingend gegen eine als „jüdisch“ individuierte menschliche Person richtet. Freilich darf dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat Israel häufig bloß als semantischer Platzhalter für den „kollektiven Juden“ fungiert, der – mehr oder weniger subtil – als eigentliches Ziel der Kritik anvisiert wird. Wie das zweite Konjunkt [2z] illustriert, kann antizionistisches Handeln gewissermaßen durch eine causal chain (of references)25 mit einem genuin politischen Taufakt verbunden werden. Die begriffliche Trennung von antisemitischem und antizionistischem Handeln ist letztlich im dritten Konjunkt [3z] fixiert. Auf der konzeptuellen Ebene ist nicht jede Meggle (2021), 497. Es darf also nicht verwundern, dass Antisemitismusforschung häufig auf Einstellungsuntersuchungen hinausläuft. Ein mit Blick auf das exilierte IfS gewähltes Beispiel sind die Studies in Prejudice, dazu Grimm (2019), 583 f. 25 Vgl. Kripke (1980), 135 f. 23 24
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antizionistische Handlung automatisch auch eine antisemitische. Das liegt daran, dass es zumindest denkbar ist, die historische Bewegung des Zionismus zu kritisieren, ohne damit gleichzeitig antisemitisch i. S. v. [3a] eingestellt zu sein. Ein Beispiel ist die moralisch vertretbare Position, sämtliche nationalistische Projekte grundsätzlich für illegitim zu halten. Die schulbuchmäßige Anti-Nationalistin evaluiert (auch) Theodor Herzls Projekt negativ. Sie handelt damit jedoch nicht antisemitisch. In diesem Sinne ist Jean Amérys Diagnose, dass der Antisemitismus im Antizionismus enthalten sei „wie das Gewitter in der Wolke“26, keine begriffliche Wahrheit. Antizionistisches Handeln kann, muss aber nicht antisemitisch sein.27 Die Forschung hat uns gelehrt, dass der Antisemitismus – ungeachtet seiner extrem langen kulturgeschichtlichen Tradition28 – spezifisch moderne Varianten, Stilmittel und Ausdrucksweisen29 kennt. Die gegenwärtig dominanten Erscheinungsformen sind häufig chiffriert, sekundär und mehrheitlich israelbezogen.30 Insbesondere der antizionistische Antisemitismus ist damit hochaktuell und (empirisch) sehr relevant. 3.
Das Projekt des Instituts für Sozialforschung
Gerüstet mit dem im vorherigen Abschnitt gewonnenen begrifflichen Werkzeug und dem Bewusstsein gegenüber heute anzutreffenden Phänomenen des Antisemitismus werfen wir nun einen Blick zurück auf einen Text, der sich bereits in den 1940er Jahren dem Problem des Antisemitismus gewidmet hat.31 In der „thesenhaften Erörterung“32 – wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihr Kapitel mit dem Titel Elemente des Antisemitismus selbst klassifizieren – wird der Versuch unternommen, eine „philosophische Urgeschichte des Antisemitismus“33 zu entwerfen, in deren Mittelpunkt die „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarbei“34 steht; das Umschlagen der Vernunft in ihr Gegenteil. Wie wir im Folgenden zeigen wollen, sind in den Elementen des Antisemitismus35 wesentliche Einsichten enthalten, die auch für die theoretische und empirische Befassung mit dem zeitgenössischen Antisemitismus einschlägig sind. Der Abschnitt
Améry (1969). Faktisch ist der Antizionismus ein Tummelbecken für Menschen, die sich klarerweise antisemitisch verhalten, vgl. Salzborn (2018), 139 ff. 28 Vgl. Nirenberg (2013). 29 Vgl. Schwarz Friesel/Reinharz (2013). 30 Vgl. Salzborn (2018), 139–148, 156–164. 31 Allgemein zur Antisemitismusforschung des IfS Ziege (2018). 32 Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 6. 33 Ebd., 7. 34 Ebd., 6. 35 Für ausführliche Kommentierungen vgl. König (2016). 26 27
Justitias Blinder Fleck
gliedert sich deshalb in zwei Teile. Zunächst werfen wir einen genaueren Blick auf die Untersuchung des Antisemitismus durch das exilierte Institut für Sozialforschung in Personalunion von Horkheimer und Adorno. Anschließend werden wir diese Erkenntnisse auf die Möglichkeit eines Brückenschlages zur heutigen Antisemitismusforschung befragen. Die Elemente des Antisemitismus sind nicht nur rezeptionsgeschichtlich ein spannendes philosophisches Fragment. Wie es im Vorwort zur Dialektik der Aufklärung heißt, in der die Elemente als prominentes Kapitel enthalten sind, standen die von Horkheimer und Adorno „im strengsten Sinn gemeinsam verfaßten, nämlich buchstäblich zusammen diktierten“36 Thesen „in unmittelbarem Zusammenhang mit empirischen Forschungen des Instituts für Sozialforschung“37. Es schlossen sich zahlreiche weitere empirische sowie theoretische Arbeiten zum Antisemitismus von anderen namenhaften Autoren aus dem Umfeld des IfS an die Elemente an und sie fanden auch, wie sich Adorno erinnerte, in dessen späteren Studien zum autoritären Charakter von 1950 „ihren literarischen Niederschlag“.38 Wie die Dialektik der Aufklärung insgesamt sind auch die Elemente eine Sammlung verschiedener bruchstückhafter Gedanken, die in Form von sieben Thesen zum Antisemitismus herausgearbeitet werden. Diese sieben Thesen werden im Folgenden kurz präsentiert, um im Anschluss aus diesem reichen Fundus mehrere Gedanken herauszugreifen, die für die heutige Antisemitismusforschung vielversprechende Anknüpfungspunkte darstellen. 3.1
Rasse und Religion
Die erste These behandelt zwei verschiedenen Lesarten des Antisemitismus, die als „wahr und falsch zugleich“39 klassifiziert werden. Der ersten, faschistischen Lesart zufolge seien „die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen“40. Dem steht die zweite, religiöse Lesart entgegen, wonach „die Juden, frei von nationalen und Rassenmerkmalen […] eine Gruppe durch religiöse Meinung und Tradition, durch nichts sonst, [bildeten]“41. In einer dialektischen Gedankenbewegung konstatieren Horkheimer und Adorno, dass obwohl sich beide Thesen widersprechen, jede doch Adorno (2003 [1968]), 721 f. Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 7. Adorno (2003 [1968]), 721. Vgl. Adorno (1995 [1950]) sowie für weitere Untersuchungen Löwenthal/ Guntermann (1949); Pollock (1955); Fromm (1980 [1929]); Fromm (2014 [1949]). Vgl. außerdem Salzborn (2010), 98. 39 Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 177. 40 Ebd. 41 Ebd. 36 37 38
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einen wahren Kern hat. Die erste These sei wahr, weil der Faschismus sie wahr gemacht habe. In einem zynischen Sinne seien die Juden „das auserwählte Volk“, das „praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht“42. Drastischer formuliert würden sie „vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt“43. Dieser ultimative Vernichtungswille zum Zweck der Bewahrung der eigenen völkischen Reinheit ist laut Horkheimer und Adorno ein wesentliches Merkmal des Antisemitismus: [D]ie Neger will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu vertilgen, Widerhall.44
Die religiöse Lesart hingegen sei wahr als Idee. Sie gehe als „liberale These“ von der „Einheit der Menschen“ aus, welche versucht „durch Minoritätenpolitik und demokratische Strategie die äußerste Bedrohung abzuwenden“.45 Der liberalen These stehe jedoch entgegen, dass „Dasein und Erscheinung der Juden […] die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung“46 kompromittierten. Trotz der beträchtlichen Assimilierungsbemühungen vieler Jüdinnen, die äußerlich nicht von der christlichen Mehrheit der Bevölkerung zu unterscheiden sind, ziehen sie den Vernichtungswillen der Faschisten auf sich, worin sich der eigentliche Rassebegriff des völkischen Gedankenguts zu erkennen gebe. Die Autoren grenzen sich in dieser ersten These von beiden Lesarten – der völkischrassistischen sowie der religiös-antijudaistischen – ab. Stattdessen kennzeichnen sie Antisemitismus als Resultat der „dialektischen Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft“47. Damit gehen zwei Feststellungen einher:48 Erstens unterscheidet sich der „moderne Antisemitismus“49 sowohl von anderen Arten der Diskriminierung (z. B. rassistischen Ressentiments) als auch vom historischen Antijudaismus. Zweitens hat der (moderne) Antisemitismus seinen Ursprung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft und zeichnet sich dadurch aus, dass er gegen diese als abstrakt und verdinglichend wahrgenommene Lebensform gewaltsam rebellieren will.
42 43 44 45 46 47 48 49
Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 177. Ebd. Ebd., 177. Ebd., 178 f. Ebd., 178. Ebd. Vgl. Salzborn (2010), 100 f. Ebd., 100.
Justitias Blinder Fleck
3.2
Projektion und Affekt
Die zweite These beschäftigt sich mit dem Phänomen des Antisemitismus als völkischer Bewegung, deren wesentlicher Antrieb die „Gleichmacherei“50 sei. Es gehe dieser eben nicht um, wie man heute sagen würde, die liberal-egalitaristische Idee gleicher Freiheit und Verwirklichungschancen – also nicht um gesellschaftliche Emanzipation –, sondern um die diebische Freude, dass die anderen auch nicht mehr haben als man selbst. Die von der bürgerlichen Gesellschaft „Geprellten“, die „weder ökonomisch noch sexuell auf ihre Kosten komm[en]“, suchen ein Ventil für ihre blinde Wut.51 Hierin, in der „Sanktionierung seiner Wut durch das Kollektiv“, liegt der einzige Gewinn, den der „Volksgenosse“ aus dem Antisemitismus zieht.52 Die blinde Wut des Kollektivs ergießt sich schließlich „auf den, der auffällt ohne Schutz“53. Sie ist gleichermaßen intentionslos und willkürlich und doch nicht zufällig. Ihre primäre Funktion ist das Entladen von Affekten54, um einen Begriff aus der Psychoanalyse zu bemühen, auf den sich auch Horkheimer und Adorno hier berufen. Prinzipiell könnte jeder die gesellschaftliche Funktion eines Juden einnehmen; es gebe weder einen genuinen Antisemitismus noch geborene Antisemitinnen.55 Antisemitismus ist blind und intentionslos; seine „Blindheit erfaßt alles, weil sie nichts begreift“56. Es handelt sich um ein Phänomen der modernen Gesellschaft. Er ist das wilde Aufbegehren der „durch Herrschaft Verstümmelten“ und richtet sich gegen die vermeintlichen Symbole dieser Herrschaft, so willkürlich und realitätsfern dies auch erscheinen mag.57 3.3
Kapitalismus und Ökonomismus
Im Fokus der dritten These stehen die ökonomischen Hintergrundbedingungen der modernen kapitalistischen Gesellschaft und ihr Zusammenhang zum Antisemitismus.58 In jener Gesellschaft, „in der nicht bloß mehr die Politik ein Geschäft ist, son-
Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 179. Ebd., 180. Ebd., 179. Ebd., 180. Vgl. zur Triebtheorie Berger (2015); vgl. außerdem Angehrn (2017) sowie Konstantinos (2001) für die Anleihen der Kritischen Theorie bei der Psychoanalyse (insbesondere Konstantinos (2001), 89–130 für die Elemente). 55 Vgl. Salzborn (2010), 102 f. 56 Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 181. 57 Ebd. 58 Selbstverständlich ist Kapitalismus nicht gleich Kapitalismus. Horkheimer und Adorno sprechen in der Dialektik auch vom sogenannten „Spätkapitalismus“ (Ebd., 207). Wir können die heute wieder entflam50 51 52 53 54
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dern das Geschäft die ganze Politik“59, verkleidet sich die Herrschaft im Gewand der Produktion. Auf der Suche nach einem „Sündenbock“60 für die Ausbeutung der Arbeiterklasse fand man den Juden, dem, obwohl er „die Zirkulationssphäre zwar nicht allein besetzt“ hatte, dennoch „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wurde“.61 Seit die Juden „als Kaufleute römische Zivilisation im gentilen Europa verbreiteten“, gelten sie als die Stellvertreter städtischer, bürgerlicher, schließlich industrieller Verhältnisse; so trugen sie als Treiber des Fortschritts „kapitalistische Existenzformen in die Lande“, zogen dabei aber „den Haß derer auf sich, die unter jenen zu leiden hatten“62. In dieser dritten These greifen Horkheimer und Adorno zwei bis in die Antike zurückreichende Vorurteile auf und setzen diese in Verbindung mit der kapitalistischen Produktionsweise. Einerseits setzen sie sich mit dem religiösen Stereotyp der raffgierigen, schachernden Jüdin auseinander; andererseits spielen sie auf das Bild des heimatlosen Fremdkörpers an, den man „keine Wurzeln schlagen [ließ] und […] ihn darum als wurzellos [schalt]“63. Historisch betrachtet wurde den Juden „nur schwer und spät“ – „im Gegensatz zum arischen Kollegen“ – der „Zugang zum Ursprung des Mehrwertes“ erlaubt.64 Dennoch stehen die Juden innerhalb der antisemitischen Ideologie stellvertretend für die Zirkulationssphäre. 3.4 Genesis und Cultural Code
In der vierten These kommen Horkheimer und Adorno auf den bereits in der ersten These angeführten Zusammenhang zwischen völkischem und religiösem Antisemitismus zurück. Obwohl ersterer absehen wolle von der Religion und in erster Linie auf die Reinheit von Rasse und Nation abziele, erkennen die beiden Autoren doch einen religiösen Ursprung dieser Form des Antisemitismus an. Der alte religiöse Hass, der über zweitausend Jahre hinweg zur Hetze gegen und Verfolgung von Juden in Europa antrieb, sei nie ganz erloschen. Im Zuge der Aufklärung wurde die Religion „als Kulturgut eingegliedert“65 und wurde dabei fatalerweise zu einem nützlichen Werkzeug des Faschismus umgeformt:
mende Debatte um verschiedene Phasen des Kapitalismus an dieser Stelle nicht vertiefen und verweisen stattdessen auf Fraser/Jaeggi (2020). 59 Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 182. 60 Vgl. insbesondere Parsons (1942). 61 Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 183. 62 Ebd., 184. 63 Ebd. 64 Ebd., 183 65 Ebd., 185.
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die unbeherrschte Sehnsucht wird als völkische Rebellion kanalisiert, die Nachfahren der evangelistischen Schwarmgeister werden […] in Verschworene der Blutsgemeinschaft und Elitegarden verkehrt, die Religion als Institution teils unmittelbar mit dem System verfilzt, teils ins Gepräge von Massenkultur und Aufmärschen transportiert.66
Mittlerweile wird der moderne Antisemitismus (im Anschluss an die Forschungen von Shulamit Volkov67) sogar ganz allgemein als Cultural Code beschrieben. 3.5
Idiosynkrasie und Mimesis
Mit der Idiosynkrasie wird in der fünften These die psychologische Komponente des modernen Antisemitismus behandelt. Diesen Begriff aus der Psychosomatik, der eine Überreaktion auf äußere Reize beschreibt, bezeichnen Horkheimer und Adorno als eine „alte Antwort aller Antisemiten“.68 Der wesentliche Impuls der Idiosynkrasie ist eine quasinatürliche Reaktion des Körpers auf Impulse aus der äußeren Umwelt. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbstständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen […]. Für Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur.69
Dieser Impuls ist pathologisch, weil so „das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben bloßer Natur sich nähert [und] es sich ihr zugleich [entfremdet]“70. Weiter heißt es, dass wo immer Menschliches werden wolle wie Natur, sich diese zugleich gegen den Menschen verhärte. Horkheimer und Adorno bezeichnen die Idiosynkrasie, also den Impuls einer „organischen Anschmiegung ans andere“, deshalb auch als „[u]nbeherrschte Mimesis“.71 Damit wären wir beim zweiten für diese fünfte These zentralen Begriff: der Mimesis. Er bezeichnet im Anschluss an die antike Tradition die Praxis des Nachahmens der Natur. Im Kontext der Dialektik der Aufklärung ist die Mimesis als im direkten Gegensatz zur durch die Aufklärung vorangetriebenen Beherrschung der Natur durch die Wissenschaft stehend zu verstehen.72 Von Zivilisation und Technik weitgehend unterbunden blitzt die triebhafte menschliche Natur doch immer wieder hervor. Die Verbindung zum Antisemitismus ist dabei die Folgende: Durch die Projektion vermeintlich rückständiger, zivilisationsfeindlicher Eigenschaften auf das Bild des Juden 66 67 68 69 70 71 72
Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 185. Vgl. Volkov (1978). Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 188. Für eine Begriffserklärung vgl. Geyken (2021). Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 189. Ebd. Ebd. Vgl. Kelly (1998), 236 f.
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eröffnet sich die Chance, der „mimetischen Verlockung“ nachzugehen: „Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu.“73 Allein, „[d]aß einer Jude heißt“, gelte schon als „Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht“.74 Die bei der hier zitierten Stelle von uns hervorgehoben Worte machen deutlich, dass diese Reaktion jeglichen Bezugs zu den realen gesellschaftlichen Gegebenheiten entbehrt. Sie beruht gleichermaßen auf einer enormen Abstraktionsleitung und einer falschen Projektion bestimmter, sich zum Teil widersprechender Attribute auf die vermeintliche Jüdin. Dieses Verhalten, auf das auch in der sechsten These noch ausführlicher eingegangen wird, ist gleich in zweifacher Hinsicht irrational: Erstens genügt es, dass einer Jude heißt, d. h. es ist unerheblich, ob die als „Jude“ bezeichnete Person wirklich jüdisch ist – es zählt allein, dass sie innerhalb der antisemitischen Ideologie als Jude wahrgenommen wird; zweitens ist es egal, ob die tatsächlich in einer Gesellschaft vorzufindenden Juden wirklich jene Eigenschaften besitzen, die auf sie projiziert werden – sie werden ganz einfach solange zugerichtet, bis sie dem Bild (d. h. den Vorurteilen) der Antisemiten entsprechen. Die offensichtlichen Widersprüche der attribuierten Merkmale sind dabei kein Hindernis, sondern vielmehr ein fester Bestandteil der antisemitischen Symbolwelt: So gelten sie [die Juden] der fortgeschrittenen Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran, für ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm […] Die Antisemiten machen sich zu Vollstreckern das alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.75
3.6
Falsche Projektion
Mit der sechsten These wird der bereits angerissene Begriff der falschen Projektion weiter konkretisiert. Antisemitismus beruhe auf falscher Projektion; sie wiederum sei das Gegenteil der Mimesis. Während letztere „sich der Umwelt ähnlich macht“, macht die falsche Projektion „die Umwelt sich ähnlich“.76 Auch in dieser These sind die Anleihen bei der Theorie der Psychoanalyse zu erkennen – sie kommen sogar deutlich zum Vorschein, wenn Horkheimer und Adorno direkt auf die psychoanalytische Denkfigur der pathischen Projektion verweisen, der zufolge das Ich unter dem Einfluss des Über-Ichs die vom Es ausgehenden Aggressionslüste in die Außenwelt projiziere und diese Aggressionslüste so durch die Reaktion auf das nach außen Projizierte abstreifen kann.77
73 74 75 76 77
Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 193. Ebd., 194, eigene Hervorhebungen. Ebd., 195 f. Ebd., 196. Vgl. Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 201; Angehrn (2017); Konstantinos (2001), 89–130.
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Letztlich sei alles ‚Wahrnehmen‘ in einem gewissen Sinne ‚Projizieren‘.78 Das Krankhafte bei der falschen Projektion besteht darin, dass die Grenzen „zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material“ – d. h. die Grenzen zwischen der eigenen inneren Welt und der Außenwelt – verwischt würden. Es ist also nicht das projektive Verhalten als solches problematisch, sondern das vollkommene Ausbleiben der Reflexion. Im Normalfall erfolgt die Wahrnehmung durch Austausch von Innenwelt und Außenwelt, von Subjekt und Erkenntnisobjekt. Dabei gebe das Subjekt dem Objekt stets zurück, was es von diesem empfangen habe. Genau dies bleibt im Falle der falschen Projektion aber aus. Das Subjekt verliert die Fähigkeit zur Reflexion in beide Richtungen. [D]a es nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz. Anstatt der Stimme des Gewissens hört es Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Protokoll der eigenen Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Protokolle der Weisen von Zion den andern zu.79
Gefangen in der eigenen Echokammer – oder, auf Leibniz anspielend, in „fensterlosen Monadenwäll[en]“80 – geben die Antisemiten sich ganz ihrer Paranoia hin und verwandeln so „die Welt in die Hölle, als welche sie sie schon immer sahen.“81 Die falsche Projektion allein erklärt das Massenphänomen Antisemitismus jedoch nicht. Weil der Antisemit sich von nach außen projizierten Feinden umzingelt glaubt, versucht er sein Remedium im Kollektiv – oder genauer im kollektiven Wahn – zu finden. Durch die Teilnahme an der kollektiven Empörung löst der Einzelne „seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigenden Formen des Wahns.“82 Die eigene und die Echokammer seiner Mitstreiterinnen verstärkend festigt sich auf diese Weise ein im Kollektiv geteiltes und geschlossenes Weltbild, das im Sündenbock des Juden als Ursprung aller Übel der modernen bürgerlichen Gesellschaft kulminiert. 3.7
Die Ticketmentalität
Die siebte und letzte These, die im Jahr 1947 nachträglich zu den Elementen hinzugefügt wurde, fällt gleich mit dem ersten Satz von den vorausgegangenen Thesen ab: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr.“83 Selbstverständlich haben die Antisemitinnen drei
78 79 80 81 82 83
Vgl. Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 196 ff. Ebd., 199. Ebd., 201. Ebd., 209. Ebd., 206. Ebd. 209.
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Jahre nach der Niederlage Nazi-Deutschlands nicht einfach aufgehört zu existieren. Angedeutet wird vielmehr, dass die in den sechs vorhergehenden Thesen ausführlich beschriebene „antisemitisch[e] Psychologie“84 nicht mehr unaufhörlich in der Lage ist, die Massen zu bewegen. An ihre Stelle sei das „bloße Ja zum faschistischen Ticket getreten“85. Der Schlüsselbegriff, um diese Feststellung besser einordnen zu können, ist die sogenannte „Ticketmentalität“86. Als Relikt der antisemitischen Psychologie sei heute einzig die „Stereotypie des Denkens“87 übriggeblieben. Mit „heute“ nehmen Horkheimer und Adorno eine bestimmte Art der ökonomischen und politischen Organisation der Welt ins Visier. Auf der einen Seite befinden sich die von Amerika dominierten und zu dieser Zeit vor allem durch Großindustrie und staatliche Wirtschaftsintervention geprägten kapitalistischen Massendemokratien des Westens; auf der anderen Seite der Kommunismus sowjetischer Prägung. Zwar werde – zumindest im westlichen Teil der Welt – noch gewählt, aber was in diesen Massenkulturen noch zur Wahl stehe, seien nicht mehr als vorgefertigte Tickets, die ohne jede Rücksicht auf das dahinterstehende Subjekt aufgeklebt würden wie eine Spielmarke. Die „ideologischen Kernpunkte“ der einzelnen Tickets sind „auf wenigen Listen kodifiziert“; ein jeder bekommt ein vorgefertigtes Ticket vorgesetzt, so „wie die Konsumenten ihr Automobil von den Verkaufsfilialen der Fabrik.“88 Ein Ticket zu wählen, bedeute, seine Individualität aufzugeben; „Realitätsgerechtigkeit […] ist nicht mehr Resultat eines dialektischen Prozesses zwischen Subjekt und Realität, sondern wird unmittelbar vom Räderwerk der Industrie hergestellt.“89 Durch dieses Abstrahieren vom Menschen „als Person, als Träger der Vernunft“ schlage die Dialektik der Aufklärung schließlich „in den Wahnsinn um“.90 Welches Ticket gezogen wird, hängt allein von den kontingenten gesellschaftlichen Umständen und Machtverhältnissen ab – so auch beim faschistischen Ticket: Antisemitismus ist kaum mehr eine selbstständige Regung […]: wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, subskribiert mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden […] Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen […] gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen der Einzelnen mit Juden keine Rolle spielen.91
84 85 86 87 88 89 90 91
Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 210. Ebd. Ebd., 217. Ebd., 210. Ebd., 210, 215. Ebd., 215. Ebd., 214. Ebd., 210.
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Obwohl der Antisemitismus tendenziell „nur noch als Posten im auswechselbaren Ticket vorkommt“, den man eben miteinkauft, wenn man dieses Ticket zieht, mahnen Horkheimer und Adorno in einer letzten Bemerkung an, dass „nicht erst das antisemitische Ticket […] antisemitisch [sei]“, sondern der Kern des Ticketdenkens, „die Ticketmentalität überhaupt“.92 In ihr kulminiere „[j]ene Wut auf die Differenz“ und das „Ressentiment der beherrschten Subjekte […] gegen die natürliche Minderheit“, die auch schon vor dem Aufkommen der Ticketmentalität einen wesentlichen Teil des Kerns des Antisemitismus ausmachte.93 3.8
Vier Zentralthesen einer Kritischen Theorie des modernen Antisemitismus
Die Elemente sind zweifelsohne ein sehr dichter, beeindruckender Text. Ihr bruchstückhafter Charakter und die in ihnen enthaltende Gedankenfülle machen es allerdings schwer, den Kern der darin vorgebrachten Antisemitismustheorie auszumachen. Deshalb haben wir uns die Mühe gemacht, jede der sieben Thesen im close reading nachzuvollziehen. Nach alledem lassen sich die sieben Thesen zu vier Kernaussagen kondensieren: (1) Antisemitismus ist das Aufbegehren des verdinglichten Individuums gegen die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Wenngleich Antisemitismus sich gegen die Moderne richtet, ist er doch nur innerhalb dieser möglich und denkbar. (2) Antisemitismus beruht auf (falscher) Projektionen der eigenen Gefühlswelt auf die vermeintliche Jüdin, von deren Person vollständig abstrahiert wird. (3) Zeitgenössischer Antisemitismus ist mehr als Rassismus94 und Antijudaismus. (4) Der moderne Antisemitismus zeichnet sich durch eine sogenannte Ticketmentalität aus. Welche Erkenntnisse für die heutige Beschäftigung mit dem Phänomen des Antisemitismus lassen sich hieraus ziehen? Es sei vorausgeschickt, dass auch diese Theorie ihren eigenen Zeitkern hat. Wir sollten uns davor hüten, die sieben Thesen zum Antisemitismus einfach unkritisch auf die heutige Zeit zu übertragen. Denn es ergäben sich gleich mehrere Probleme: Zu nennen wäre zunächst das übergeordnete Projekt der Dialektik der Aufklärung als Kritik des begrifflich-rationalen Denkens, die von ihren Urhebern aber ebenfalls in Form von Argumenten geäußert wird (Selbstanwendungsproblem) und auch von jüngeren Theoretikern der Frankfurter Schule wie Jürgen 92 93 94
Horkheimer/Adorno (2002 [1969]), 216 f. Ebd., 217. Die Reduktion von Antisemitismus auf Rassismus nimmt z. B. Butler (2019) vor.
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Habermas scharf kritisiert wurde.95 Des Weiteren wird den „Erkenntnissen“ der Psychoanalyse, die einen Großteil der psychologischen Untersuchung des Antisemitismus ausmachen, heute mit großer Skepsis begegnet.96 Und schließlich herrscht auch bei vielen Wissenschaftlerinnen Einigkeit darüber, dass sich der Kapitalismus, wie er im Zusammenhang mit der Ticketmentalität charakterisiert wird, spätestens seit den 1980iger Jahren grundlegend gewandelt hat, sodass sich die Prämissen für das Entstehen des Ticketdenkens kaum noch akzeptieren lassen.97 Im Bewusstsein dieser Schwierigkeiten spricht dennoch Vieles für die Anschlussfähigkeit der vier Zentralthesen an die zeitgenössische Antisemitismusforschung. Auch der gegenwärtig anzutreffende Antisemitismus unterscheidet sich von vormodernen religiösen Ressentiments gegenüber Juden und ist mehr als plumper antijüdischer Rassismus (3). Antisemitische Vorurteile und Verschwörungsfantasien haben rein gar nichts mit den tatsächlichen in einer Gesellschaft lebenden Jüdinnen zu tun. Sie beruhen auf einer enormen Abstraktionsleistung, bei der die eigenen Vorurteile gegenüber der verhassten Moderne auf die (vermeintlichen) „Juden“ projiziert werden, ungeachtet dessen, ob die Opfer antisemitischer Straftaten nun überhaupt Jüdinnen sind – es reicht aus, dass die Täter sie für solche halten. Obwohl wir das kapitalismuskritische Fundament der Ticketmentalität nicht für restlos überzeugend halten, trifft der Ausdruck die psychologische Disposition vieler antisemitisch Handelnder dennoch sehr gut (4). Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn hat diese Denkstruktur in seiner Studie Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne auf folgende Formel gebracht: Antisemitismus […] ist […] letztlich eine Art zu denken und […] eine Art zu fühlen: Antisemitismus ist zugleich Unfähigkeit und Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen; im Antisemitismus wird beides vertauscht, das Denken soll konkret und das Fühlen abstrakt sein.98
Antisemitismus richtet sich also zum einen gegen das auf die Jüdinnen projizierte Element der abstrakten Herrschaft; zum anderen wird gleichzeitig von den tatsächlich in der Gesellschaft lebenden Jüdinnen abstrahiert und ihnen jegliches Mitgefühl verweigert (2). Von Rassismus und auch Xenophobie grenzt sich der Antisemitismus durch seinen absoluten Vernichtungswillen und ein simplifizierendes Freund-Feind-Denken ab (3). Dieser Punkt kann durch ein Bild Achille Mbembes veranschaulicht werden. Laut Mbembe liegt dem Rassismus die Idee eines gigantischen Zoos der Kulturen zugrun-
Vgl. Habermas (1997 [1981]), 490 ff. Vgl. Popper (1963), 43–86 und Dybel (2014). Ein Stichwort der zeitgenössischen Kapitalismuskritik ist z. B. die neoliberale Revolution vgl. Hartmann/Honneth (2004), 7. 98 Salzborn (2010), 334. 95 96 97
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de. Einer „Logik des Einzäunens“99 folgend sollen die einzelnen „Rassen“, „Kulturen“ oder „Identitäten“ feinsäuberlich getrennt und eine Vermischung tunlichst vermieden werden (jeder bleibt in seinen Käfig gesperrt). Doch dieser „Logik“ gehorcht der Antisemitismus offensichtlich nicht. Ihm geht es nicht ums Einzäunen (ein weiterer Käfig für die Juden), sondern er wittert eine diffuse Macht im Hintergrund, von deren Eliminierung das Glück seiner „Leidenschaft und […] Weltanschauung“100 abhängt. Die Rassistin ist mit Käfigen zufrieden; der Antisemit nicht. Er wird stets die Frage in den Raum werfen, ‚was eigentlich mit der Zoodirektorin – der grauen Eminenz, die im Hinterzimmer die Fäden zieht und damit für alle Übel der Welt verantwortlich zu machen ist – geschehen soll‘. Die Antwort lautet freilich, dass diese Bedrohung dringend eliminiert werden müsse, da sie sich in keinen Käfig sperren lässt. Antisemitismus gipfelt also in einer umfassenden manichäischen Weltanschauung, die einerseits vollkommen immun gegen empirische Widerlegungsversuche zu sein scheint und andererseits als gemeinsamer „Code“ fungiert, der „im Denken und Sprechen der Antisemitinnen nicht weiter ausgeführt werden muss“.101 Antisemitismus ist in seinen Vorurteilen und in der Auswahl seiner Opfer vollkommen willkürlich. Dennoch – und das ist die wichtigste Lehre aus den Elementen des Antisemitismus – war das Aufkommen des Antisemitismus alles andere als zufällig. Er ist vielmehr als negative Leitidee fest mit der Moderne verknüpft (1). Antisemitismus als „organisierte Gedankenflucht“102 ist nur im Zusammenhang mit der Moderne erklärbar; er ist nur mit der Moderne möglich und richtet sich als zutiefst antimoderne Haltung gegen diese und die mit ihr identifizierten Träger der Merkmale moderner Herrschaft: Der moderne Antisemitismus bedurfte […] der Aufklärung, um in die Barbarei umschlagen zu können; er ist zugleich die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft, wie ihre Negation.103
4.
Fünf Lernziele für die Gerichtspraxis
Der direkte Brückenschlag von der Dialektik der Aufklärung zu einem Urteilsspruch der deutschen Justiz wird freilich kaum gelingen. Insbesondere der Weg von der Kapitalismuskritik oder Psychoanalyse zur täglichen Justizpraxis dürfte gänzlich unwegsam sein. Dennoch vermag die Kritische Theorie des modernen Antisemitismus uns auf
99 Mbembe (2014), 77–80. 100 Sartre (1994 [1946]), 14. 101 Salzborn (2010), 336. 102 Adorno (2017 [1946]), 131. 103 Salzborn (2010), 318.
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fünf Lernziele stoßen zu lassen, die dazu beitragen können, die Gerichte stetig für die virulenten Erscheinungsformen antisemitischen Handelns zu sensibilisieren: (i) (ii)
(iii)
(iv)
(v)
Distinktionssensibilität: Antisemitische Verhaltensweisen (nur) als irgendeine Art rassistischer Diskriminierung zu beschreiben, greift zu kurz.104 Abstraktionssensibilität: Zusätzlich erschwert das Abstraktionselement der modernen Erscheinungsformen die Subsumtionsarbeit. Gerade scheinbar nicht-personalisierter Hass auf Symbole der modernen Welt105 beinhaltet oftmals codierten Antisemitismus. Projektionssensibilität: Moderner Antisemitismus ist zutiefst projektiv. Antisemitinnen definieren selbst, was als „jüdisch“ geschmäht wird. Hinsichtlich dieser „Gerücht[e] über die Juden“106 sind weder Konsistenz noch irgendwelche Bezüge zur Realität zu erwarten: Stereotype werden nicht obwohl, sondern weil sie falsch sind, befeuert.107 Globalideologie-Sensibilität: Antisemitismus fungiert als globale „Integrationsideologie“108. Deshalb können auf den ersten Blick untypische Allianzen entstehen (Neonazis, Islamisten und linke Antiimperialisten demonstrieren gemeinsam gegen Israel), von denen man sich nicht irritieren lassen sollte. Manichäismus-Sensibilität: Sind die antisemitischen Projektionen bereits zu einem alternativen Weltbild mit Allerklärungsanspruch geronnen, gehen damit letztendlich Vernichtungsfantasien einher.109
Im ‚Kuwait Airways-Fall‘ hätte es so viel einfacher sein können: Das Boykottgesetz gegenüber Israel ist kein unverfängliches Embargo, sondern strukturell antisemitisch (antisemitischer Antizionismus).110 Es geht der Sache nach nämlich um klassische Stereotype („zionistische Banden im besetzten Palästina“111), die auf Israel als den kollektiven Juden projiziert werden und nicht um ein legales Differenzierungskriterium (Staatsbürgerschaft). Die §§ 21 II 1, 19 I Var. 1, 2, 4, II AGG (Schadenersatz) wären einschlägig gewesen.112
104 105 106 107 108 109 110 111 112
So auch Liebscher et al. (2020), 898. Die „kapitalistische Heuschrecke“, die „globalistischen Eliten“ usw. Adorno (2001 [1951]), 200. Vgl. Salzborn/Kurth (2019), 6. Salzborn (2018), 139 ff. Dies könnte z. B. für eine strafrechtliche Beurteilung wichtig sein („überschießende Innentendenz“). Vgl. Weller/Lieberknecht (2019), 323. Zitiert nach OLG Frankfurt, 25.9.2018–16 U 209/17, juris Rn. 49. Im konkreten Fall war freilich noch die Ausschlussfrist (§ 19 V AGG) zu beachten.
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ten an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Er ist derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg 2696 „Transformationen von Wissenschaft und Technik seit 1800“ an der Bergischen Universität Wuppertal beschäftigt. Dort arbeitet er an seiner Dissertation mit dem Titel „Pluralism in Economic Thought? On Scientific Pluralism and its Implications for Contemporary Economics“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Berich der politischen Philosophie, der Wirtschafts- und der Wissenschaftsphilosophie. Constantin Luft (*1997) hat in Münster Rechtswissenschaften und Philosophie studiert
und ist Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte (Lehrstuhl: Nils Jansen) der WWU. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der analytischen Rechtsphilosophie (insbesondere der Privatrechtstheorie) sowie der Wissenschafts- und Metaphilosophie. Er war Gast am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt (Abteilung: Marietta Auer) und ist derzeit Visitor am ARCHÉ, Philosophical Research Centre for Logic, Language, Metaphysics, and Epistemology (University of St Andrews).
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Intersektionale Rechtskritik* Kimberlé Crenshaw als Kompass
INES RÖSSL
Intersectional Legal Critique Kimberlé Crenshaw as a Guideline Abstract: In the field of legal studies, the concept of intersectionality has mainly been used to tackle
multidimensional discrimination. In this article, we shift the focus and inquire whether intersectional thinking can be used as a critical legal methodology in general and what it means to analyse law from an intersectional perspective. Kimberlé Crenshaw’s multifaceted oeuvre offers rich insights which are often ignored in the widespread uptake of her work and can hence serve as a guideline when trying to identify fundamental parameters of intersectional legal critique. Keywords: intersectionality, law, legal theory, Critical Legal Studies, Critical Race Theory, methodology Schlagworte: Intersektionalität, Recht, Rechtstheorie, Critical Legal Studies, Critical Race Theory, Methodologie
1. Einleitung
‚Intersektionalität‘ verweist – so könnte man eine vorläufige Annäherung an den Begriff versuchen – auf die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen und darauf, dass sich Identitäten, individuelle Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftliche Strukturen nie entlang nur einer einzigen Kategorie sozialer Ungleichheit (wie z. B. Ge-
Ich bedanke mich bei den Teilnehmer:innen der Tagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie, die vom 6.–8. Mai 2021 zum Thema „Kritische Theorie(n) des Rechts“ stattfand, für die produktive Diskussion sowie bei Elisabeth Holzleithner, Christian Berger, Joachim Stern, Petra Sußner und Caroline Voithofer für hilfreiches Feedback. *
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Ines Rössl
schlecht, Klasse, rassialisierte Differenz1) erfassen lassen. Vielmehr sind diese Kategorien miteinander verflochten und müssen auch in der Analyse zusammengedacht werden. In den Rechtswissenschaften wird einem intersektionalen Zugang zumeist die Aufgabe zugeschrieben, mehrdimensionale Diskriminierungslagen sichtbar zu machen und zu rechtspraktischer Relevanz zu verhelfen. Insbesondere in Bezug auf das Antidiskriminierungsrecht2 – aber auch im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes3 – finden ausführliche Debatten statt. Diese fokussieren sich darauf, dass es Diskriminierungserfahrungen gibt, die Menschen nur deshalb machen, weil sie mehrere diskriminierungsanfällige Merkmale auf sich vereinen. So hatte sich etwa der Europäische Gerichtshof (EuGH) in den letzten Jahren immer wieder mit der Diskriminierung gegenüber muslimischen Arbeitnehmerinnen, die ein Kopftuch aus religiösen Gründen tragen, zu beschäftigen.4 In diesen Fällen führt das Ineinandergreifen von Geschlecht, Religion und Rassialisierung zu einer Diskriminierung, von der weder nicht-muslimische Frauen (oder Musliminnen, die kein Kopftuch tragen) noch muslimische Männer betroffen sind.5 Der vorliegende Beitrag möchte den Fokus verschieben und die Frage stellen, inwiefern intersektionales Denken ganz allgemein als Variante rechtskritischer Methodologie begriffen werden kann. Was bedeutet es, aus intersektionaler Perspektive auf Recht zu blicken? Der Gedanke, dass Herrschaftsverhältnisse miteinander verwoben sind, hat eine lange und vielstimmige Geschichte.6 Auf diese aufbauend wurde ‚Intersektionalität‘ als Begriff schließlich Ende der 1980er Jahre von der US-amerikanischen Rechtswissenschafterin Kimberlé Williams Crenshaw geprägt, die sich dabei explizit auf die Tradition des feministisch-antirassistischen Denkens aus der Perspektive von Black Women stützte.7 Mittlerweile ist Intersektionalität in verschiedensten Disziplinen zu einem „buzzword“8 und zum Gegenstand weitverzweigter theoretischer und forschungspraktischer Auseinandersetzungen geworden.9
Zur Begrifflichkeit vgl. Liebscher (2021), 22. Anders hingegen Barskanmaz (2019). Vgl. z. B. Atrey (2019); Chege (2011); Holzleithner (2022); Philipp et al. (2014); Schiek/Lawson (2011). Vgl. z. B. Atrey/Dunne (2020); Bond (2003); Dale (2018). EuGH (GK) 14.3.2017, C-157/15, Achbita/G4S Secure Solutions NV; EuGH (GK) 14.3.2017, C-188/15, Bougnaoui/Micropole SA; EuGH (GK) 15.7.2021, C-804/18 und C-341/19, IX/WABE e. V. und MH Müller Handels GmBH/MJ. 5 Vgl. Holzleithner (2022). 6 Vgl. z. B. Davis (1983); Combahee River Collective (2015 [1977]); hooks (1992 [1981]); Moraga/ Anzaldúa, (2015 [1981]); für den deutschsprachigen Raum insb. relevant Ayim et al. (2021 [1986]). 7 Vgl. Crenshaw (1989), 139. 8 Davis (2008), 75. 9 Beispielhaft siehe Bereswill et al. (2015); Bohrer (2019); Carastathis (2016); Collins/Bilge (2016); Hancock (2016); Kallenberg (2013); Klinger/Knapp (2007); Kóczé (2009); May (2015); Meyer (2017); Winker/Degele (2010). 1 2 3 4
Intersektionale Rechtskritik
Eine Referenz auf Crenshaw darf dabei in keinem einschlägigen Aufsatz fehlen. Ihr Werk wird aber oft nur sehr selektiv und teilweise verzerrend rezipiert.10 So wird mitunter auch übersehen, dass Crenshaw dem Nachdenken über die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen eine spezifisch rechtswissenschaftliche Note verliehen hat.11 Bei Crenshaw finden sich besonders hilfreiche Ansatzpunkte für eine Konkretisierung dessen, was es bedeutet, intersektional auf eine Rechtsmaterie zu blicken. Das liegt auch daran, dass sie zu vielen verschiedenen Rechtsfeldern gearbeitet hat und arbeitet. Ihr Werk dient mir daher als Kompass, um Parameter einer intersektionalen Rechtskritik näher zu bestimmen. Gleichzeitig lese ich Crenshaw im Lichte der – mehr oder weniger – an sie anknüpfenden Literatur. Im Folgenden wird sich mein Beitrag auf jene Aspekte fokussieren, die für die Entfaltung einer intersektionalen rechtskritischen Methodologie besonders hilfreich erscheinen. Demgegenüber wird manches, das üblicherweise den Kern der Beschäftigung mit Crenshaw ausmacht,12 lediglich skizziert oder auch nur erwähnt. Es lässt sich an vielen anderen Stellen nachlesen.13 Der Beitrag führt in intersektionale Grundgedanken ein und stellt Crenshaws Rechtskonzeption vor (Kap. 3), bestimmt ihr Verhältnis zu Critical Legal Studies und Critical Race Theory (Kap. 4) und arbeitet schließlich Aspekte einer Methodologie intersektionaler Rechtskritik heraus (Kap. 5). Bevor es aber in medias res geht, wird als erstes eine kurze Erklärung des Begriffs ‚Intersektionalität‘ vorgenommen (Kap. 2). 2. Begriffsklärung
Der Begriff ‚Intersektionalität‘ wird in der Literatur höchst unterschiedlich verwendet: Er bezeichnet manchmal ein analytisches Konzept, dann wieder einen methodologischen Zugang. Man vergleiche etwa folgende Sätze aus einschlägigen Aufsätzen: 1. „Intersektionalität bezeichnet die Mehrdimensionalität oder Verschränktheit von Diskriminierungen oder Identitäten.“14 2. „[It] is our view that intersectionality is best framed as an analytic sensibility.“15 Im ersten Satz beschreibt Intersektionalität die sozialen Verhältnisse, im zweiten eine bestimmte Analyseperspektive auf diese VerhältnisKritisch Bilge (2013); Cho (2013); Crenshaw (2011a). Vgl. aber Chebout (2012); Rössl (2021). Dazu zählt insb. die berühmte „Straßen-Kreuzungs-Metapher“. Stark verkürzt lässt sie sich wie folgt skizzieren: Die Verkehrsströme, die bei einer Kreuzung aus verschiedenen Richtungen kommen, entsprechen unterschiedlichen Diskriminierungen (wie z. B. rassistische oder geschlechtsbezogene Diskriminierung). Wenn an dieser Straßenkreuzung ein Unfall passiert, können daran Fahrzeuge aus mehreren Richtungen gleichzeitig beteiligt sein. An dieses grundsätzliche Bild schließen verschiedene Fallvarianten an, die jeweils illustrieren, in welcher Weise das Antidiskriminierungsrecht beim Umgang mit intersektionalen Sachverhaltskonstellationen scheitert. Vgl. Crenshaw (1989), 149. 13 Vgl. z. B. Carastathis (2016), insb. 50–56. 14 Markard (2009), 353. 15 Cho et al. (2013), 795. 10 11 12
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se. Intersektionalität bezeichnet also „sowohl die Sache wie den Blick auf die Sache“16, sie ist Gegenstand und Methode zugleich. Dass diese Ebenen immer wieder verschwimmen, verwundert nicht, weil sie tatsächlich eng verbunden sind: ‚Intersektionalität‘ als Forschungsperspektive entwickelte sich aus der Beschäftigung mit ‚Intersektionalität‘ als sozialem Phänomen. Trotzdem plädiere ich für eine genauere sprachliche Differenzierung der beiden Begriffsbedeutungen. Denn wie Catharine MacKinnon festhält: „Method concerns the way one thinks, not what one thinks about, although they can be related.“17 Ich selbst reserviere daher das Wort ‚Intersektionalität‘ für das Phänomen intersektionaler sozialer Verhältnisse sowie für das theoretische Konzept der Intersektionalität, mithin die abstrahierte Vorstellung einer Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen, die als Analyseinstrument, als „Brille“ für die soziale Wirklichkeit, dienen kann. In beiden Fällen bezeichnet ‚Intersektionalität‘ einen (konkreten oder abstrahierten) Aspekt der Wirklichkeit. Demgegenüber vermeide ich es, das Wort ‚Intersektionalität‘ für die Bezeichnung einer Methodologie oder eines Forschungsansatzes zu verwenden, sondern benutze dafür stattdessen Phrasen wie ‚intersektionales Denken‘, ‚intersektionale Methodologie‘ o. ä. Intersektionale Forschungsansätze arbeiten natürlich mit dem theoretischen Konzept der Intersektionalität, setzen dieses häufig als Prämisse ihrer Erkundungen, lassen sich aber – wie im Laufe des Beitrags deutlich werden wird – nicht darauf reduzieren. Denn sie zeichnen sich eben nicht nur durch die Beschäftigung mit Intersektionalität aus, sondern auch durch spezifische Denkweisen. 3.
Crenshaws intersektionale Rechtskonzeption
Berühmt geworden sind insbesondere zwei Aufsätze von Crenshaw, nämlich Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics (1989) und Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color (1991).18 Crenshaw behandelt in diesen Texten einerseits diskriminierungsrechtliche Probleme und andererseits Fragen rund um geschlechtsbezogene Gewalt. In späteren Texten beschäftigt sie sich auch mit Fragen der Meinungs- und Kunstfreiheit,19 mit internationalem Menschenrechtsschutz,20 mit sexueller Belästigung,21 mit Disziplinierungsmaßnahmen22
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Meyer (2017), 18. MacKinnon (2013), 1019. Crenshaw (1989); Crenshaw (1991). Crenshaw (1993). Vgl. Crenshaw (2021 [2000]); Yuval-Davis (2006). Crenshaw (1992). Crenshaw (2015).
Intersektionale Rechtskritik
und mit dem US-amerikanischen Gefängnissystem23. Crenshaw selbst fokussiert sich durchgehend auf die Situation Schwarzer Frauen in den USA, regt jedoch an, auch Fragen von „class, sexual orientation, age, and color“24 zu untersuchen. In den Rechtswissenschaften werden insbesondere zwei Grundgedanken aufgegriffen, die Crenshaw in ihren einflussreichen frühen Texten dargelegt hat: Erstens, es gibt Diskriminierungslagen, die durch das spezifische Verwobensein mehrerer Diskriminierungsgründe erzeugt und bestimmt sind. Das Antidiskriminierungsrecht verfehlt diese komplexen Diskriminierungen, wenn es an einem „single axis“-Framework25, das sich je nach Rechtsordnung und Kontext unterschiedlich manifestiert,26 festhält. Diese Kritik erstreckt sich auch auf Versäumnisse des internationalen Menschenrechtsschutzes.27 Ein zweiter nachhaltig rezipierter Grundgedanke betrifft die Gefahr der Eindimensionalität emanzipatorischer (rechtspolitischer) Bewegungen. Er lässt sich mit dem bekannten Zitat von Audre Lorde auf den Punkt bringen: „There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.“28 Es werden, so Crenshaws Befund, die Lebensrealitäten und Anliegen von Personen(gruppen), die entlang mehrerer Ungleichheitsachsen29 marginalisiert sind, auch innerhalb emanzipatorischer Bewegungen (wie Feminismus oder Antirassismus) vernachlässigt – sie landen gewissermaßen „zwischen den Stühlen“. Crenshaw spricht in diesem Zusammenhang von „politischer Intersektionalität“.30 Um der Frage nachzugehen, was intersektionale Rechtskritik ausmacht, bedarf es weiterführender Überlegungen, die über diese Grundgedanken intersektionaler Theoriebildung hinausgehen und die unter anderem Crenshaws Rechtskonzeption in den Blick nehmen. Crenshaws bekannte Dreiteilung bietet hierfür einen Ansatzpunkt. Sie unterscheidet drei Dimensionen von Intersektionalität: strukturelle, politische und repräsentationale Intersektionalität.31 Diese korrespondieren mit unterschiedlichen Dimensionen von Herrschaft: „I believe three aspects of subordination are important: the structural dimensions of domination […], the politics engendered by a particular system of domination […], and the representations of the dominated“.32 Daraus lassen sich meines Erachtens Schlüsse ziehen, wie Crenshaw Recht konzipiert. (1.) Strukturelle Intersektionalität (structural intersectionality) bezeichnet das Zusammenwirken von verschiedenen strukturellen Faktoren, das zu einer spezifischen
23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Crenshaw (2012). Crenshaw (1993), 114. Detailliert Atrey (2019), 85–108. Für ein aktuelles Beispiel vgl. EuGH 24.11.2016, C-443/15, Parris/Trinity College Dublin and Others. Vgl. Crenshaw (2021 [2000]). Lorde (2007 [1982]), 138. Vgl. Klinger/Knapp (2007). Crenshaw (1991), 1251–1282. Ebd. Vgl. zum Folgenden auch Rössl (2021). Crenshaw (1993), 114.
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gesellschaftlichen Positionierung von Personen führt. Crenshaw erläutert beispielsweise die Kontextbedingungen, die es migrantischen Women of Color besonders erschweren, aus Gewaltbeziehungen auszusteigen: Denn Armut, Sorgepflichten, geringe berufliche Qualifikation, rassistische Diskriminierung am Arbeits- und Wohnungsmarkt, Sprachbarrieren und migrationsrechtliche Regelungen erzeugen eine spezifische Form der Vulnerabilität, die Auswirkungen auf die individuellen Handlungsmöglichkeiten hat.33 (2.) Intersektionalität bezeichnet aber bei Crenshaw, wie bereits angedeutet, nicht nur die Mehrdimensionalität sozialer Positionierung, sondern auch eine „politische Intersektionalität“34 im Sinne der politischen Unsichtbarkeit eben dieser Positionierung: ein „Zwischen-den-Stühlen-Landen“ in Bezug auf emanzipatorische Diskurse sowie gleichheitsrechtliche und sozialpolitische Maßnahmen (etwa Antidiskriminierungsrecht oder Gewaltschutzmaßnahmen). (3.) Die repräsentationale Form von Intersektionalität (representational intersectionality) bezieht sich auf die Darstellung intersektional positionierter Personen im gesellschaftlichen Imaginären. Repräsentationale Intersektionalität bezeichnet, wie Identitäten und Herrschaftsverhältnisse im kulturellen Raum verhandelt werden.35 So lässt sich etwa danach fragen, von welchen stereotypen Zuschreibungen und Bildern, welchen medialen und popkulturellen Darstellungsformen Schwarze Frauen betroffen sind. Die verschiedenen Dimensionen von Intersektionalität sind nicht streng voneinander abgrenzbar, sondern bilden einen zusammenhängenden Komplex.36 Das Recht lässt sich bei Crenshaw als Arena begreifen, in der die genannten drei Dimensionen zusammenkommen. Dabei greifen materielle und diskursive Aspekte ineinander: Recht ist als Teil strukturell-materieller Rahmenbedingungen wie auch als (ideologischer) Diskurs zu verstehen, in dem Bedeutungen (re-)produziert und legitimiert werden. „Legal discourse“, sagt Crenshaw, „is both ideological and material“.37 Darüber hinaus ist das Recht ein Ort politischer Auseinandersetzung – gerade auch in emanzipatorischer Hinsicht. Es ist Teil institutionalisierter Ordnung und gleichzeitig ist es ein Feld, in dem Macht laufend reproduziert und in Frage gestellt wird. Intersektionale Rechtskritik betrachtet daher beides: „what is structured […] and what is dynamic“.38
Vgl. Crenshaw (1991), 1245–1251; Crenshaw (1993), 114–115. Crenshaw (1991), 1251–1282; Crenshaw (1993), 115–116. Vgl. Crenshaw (1991), 1282–1295; Crenshaw (1993), 116–117. Vgl. ebd., 114. Crenshaw (2016), 15. Ebd. 15. In Bezug auf das Zusammenspiel zwischen vorstrukturierten Bedingtheiten und ereignishaften („dynamic“) Geschehnissen vgl. auch Crenshaw (2021 [2000]), 155 f. 33 34 35 36 37 38
Intersektionale Rechtskritik
4.
Critical Race Theory und Critical Legal Studies
Dass Recht auch emanzipatorisch genutzt werden kann (und soll), ist ein Charakteristikum von Crenshaws Rechtsdenken, das mit ihrer Verortung in der Critical Race Theory (CRT) zusammenhängt. Crenshaws berühmte Texte, in denen sie Ende der 1980er Jahre ihr Intersektionalitätskonzept entwickelte, entstanden im Kontext der Herausbildung der CRT, und sie ist eine ihrer wichtigsten Vertreter:innen.39 CRT wiederum ist eng verknüpft mit den Critical Legal Studies (CLS)40, greift einige Grundgedanken der CLS auf, befindet sich aber gleichzeitig in einem produktiven Spannungsverhältnis zu ihnen. Crenshaws frühe Texte zu Intersektionalität intervenierten in bestimmte rechtswissenschaftliche Diskurse und waren eine Reaktion auf Debatten innerhalb der sich selbst als progressiv und kritisch verstehenden Teile der US-amerikanischen Rechtswissenschaft. Crenshaw hält fest, dass sie Demarginalizing the Intersection of Race and Sex geschrieben habe, „to bridge a number of divisions and discursive traditions that made up critical legal studies (CLS) in the 1980s“41. Damals bewegte sie sich im Umfeld der Critical Legal Studies („CLS was the place to be for progressive, left wing, and other non-conformist law-folks“42), musste jedoch feststellen, dass das Problem rassifizierter Herrschaft eine Leerstelle war.43 CRT entstand aus den an diese Leerstelle anknüpfenden theoretischen Debatten innerhalb der CLS, den Einflüssen feministischer Rechtswissenschaft,44 sowie aus studentisch-aktivistischen Erfahrungen.45 Ihr Kritikpunkt an den CLS lautete zum einen, dass diese das Phänomen rassistischer Unterdrückung nicht adäquat in ihre Theorie integrieren konnten.46 Zum anderen wandte sich CRT gegen die dekonstruktivistische Methode der CLS. Die von den CLS propagierte Demystifizierung jener „liberal legal ideology“,47 die den Menschen vorgaukelt, dass die herrschende Ordnung gerecht wäre, sei für Betroffene von Rassismus keine Option. Denn diese willigen gerade nicht aufgrund von irgendeiner Art von falschem Bewusstsein, es handle sich um eine gerechte Ordnung, in ihre Unterdrückung ein, sondern werden in solche Verhältnisse gezwungen. Sie benötigen daher Hebel, um hegemoniale Strukturen zu verändern. Die von den CLS gepflogene Methode des trashing, des Herausarbeitens der Unbestimmtheit und Inkonsistenzen des Rechts,
Vgl. Crenshaw et al. (1995). Vgl. Frankenberg (2006). Innerhalb der CLS lässt sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen poststrukturalistischen Einflüssen und Einflüssen der Frankfurter Schule beobachten, vgl. Whitehead (1999). 41 Crenshaw (2011a), 224. 42 Ebd. 1288. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. ebd., 1290 (Anm. 120). 45 Vgl. ebd., 1253; Möschel (2021). 46 Dazu Crenshaw (1988), 1356–1366, 1369–1381. 47 Ebd., 1366. 39 40
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sei zwar in einem ersten Schritt nützlich, reiche jedoch nicht aus. Vielmehr müsse das Recht selbst in den Dienst emanzipatorischer Kämpfe genommen und seine argumentative Kraft genutzt werden.48 Crenshaw antwortet auf die ausgeprägte Skepsis innerhalb der CLS, was die emanzipatorische Nutzung von Rechten49 anbelangt, mit einer gewissen Lakonie: On the other side were those of us who weren’t particularly shocked by the notion that law was an indeterminate and sometimes counterproductive tool in social struggle. […] [L]aw was obviously a discourse of domination, but at the same time, it constituted an arena through which the rules of racial subordination might be engaged.50
Auch für Crenshaw bleibt es ein ambivalentes und je nach Kontext unterschiedlich zu bewertendes Unterfangen, sich auf Recht zu berufen – es handelt sich um einen „inevitably co-optive process“.51 Denn Recht ist an der Legitimierung herrschender Verhältnisse beteiligt. Aber gerade weil das Recht ein anerkannter „Rechtfertigungsraum“52 ist, kann es ein effektives Mittel der Kritik sein, sich seiner Sprache zu bedienen.53 Die ihm innewohnende Unbestimmtheit ermöglicht es, Widersprüche zwischen den rechtlich institutionalisierten Selbstvergewisserungen einer Gesellschaft (z. B. dem Gleichheitsprinzip) und der Realität offenzulegen und zu politisieren.54 Die Herausforderung besteht darin, sich zwar der Logik des Rechts zu bedienen, dabei aber sowohl hegemoniale juristische Deutungsmuster zu kritisieren als auch herauszuarbeiten, wie sich soziale Machtverhältnisse ins Recht übersetzen. Die Aufgabe intersektionaler Rechtskritik ist „rendering analysis that is simultaneously recognisable and disruptive within specific discursive communities.“55 5.
Aspekte einer Methodologie intersektionaler Rechtskritik
Auf Basis dieser grundlegenden Verortungen von Crenshaws Werk sollen nun Aspekte einer Methodologie intersektionaler Rechtskritik skizziert werden, wobei Methodologie weit, im Sinne einer „analytischen Sensibilität“56, zu verstehen ist.
48 49 50 51 52 53 54 55 56
Vgl. ebd., 1366–1369, 1381–1387. Zum Begriff emanzipatorischen Rechts vgl. Holzleithner (2014). Crenshaw (2011a), 226. Crenshaw (1988), 1387. Forst (2009), 159. Crenshaw (1988), 1366. Vgl. Crenshaw (1988), 1367; vgl. auch Crenshaw (2011a), 227. Ebd., 231. Ebd., 795.
Intersektionale Rechtskritik
5.1
Geteilte Debattenfelder intersektionaler Denkansätze
Das transdisziplinäre „field of intersectionality studies“57 ist überaus heterogen, greift aber doch auf ein geteiltes Reservoir von Begriffen und Problemdiagnosen zurück. Drei Debattenfelder bzw. „common themes“58 kehren in der einschlägigen Literatur immer wieder und konstituieren gewissermaßen das intersektionale „Sprachspiel“59: Intersektionale Denkansätze versuchen (1.) marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen und ins Zentrum zu rücken; sie arbeiten (2.) mit Ungleichheitskategorien, betonen jedoch gleichzeitig deren sozial konstruierten Charakter und kontextabhängige Verwobenheit; und schließlich nehmen intersektionale Ansätze (3.) einen herrschaftskritischen und auf Gerechtigkeit bezogenen Blickwinkel ein.60 Das Anliegen der Sichtbarmachung und (De-)Zentrierung bedeutet eine bewusste Entscheidung dafür, den Fokus auf ein Thema zu verschieben und jene Perspektiven ins Zentrum zu rücken, die für gewöhnlich aufgrund von gesellschaftlicher (intersektionaler) Marginalisierung wenig Aufmerksamkeit erhalten. Für rechtswissenschaftliche Analysen kann dies z. B. heißen, dass Personengruppen oder Lebenssituationen ins Zentrum gerückt werden, die im herrschenden rechtswissenschaftlichen Diskurs über eine bestimmte Rechtsmaterie kaum vorkommen. So stellte denn auch Crenshaw gleich zu Beginn ihrer antidiskriminierungsrechtlichen Analysen programmatisch fest: „I will center Black women.“61 Intersektionale Ansätze arbeiten mit Kategorien (wie etwa Geschlecht, rassialisierter Differenz, Klasse, sexueller Orientierung etc.), insbesondere auch mit jenen, die sich im Recht finden. Damit grenzen sie sich von Ansätzen ab, die ein Denken in Kategorien von vornherein ablehnen, weil damit eine Reifizierung gesellschaftlicher Teilungsverhältnisse62 einhergehe.63 Dass intersektionale Analysen Kategorien zum Ausgangspunkt und Gegenstand machen, bedeutet aber nicht, dass sie diese bzw. die ihnen zugrunde liegenden Kategorisierungsprozesse nicht problematisieren. Im Gegenteil: Sie fokussieren sich auf Wechselwirkungen64 und Verflechtungen zwischen
Ebd. Chow (2016), 457. Auf Wittgensteins bekannten Sprachspiel-Begriff zurückgreifend Meyer (2017), 61. In der Literatur finden sich ähnliche, jeweils etwas unterschiedliche Versuche, zentrale Elemente intersektionaler Forschungsansätze zu charakterisieren, siehe etwa Chow (2016), 457 f.; Hancock (2016), 29, 33; Meyer (2017), 62; Lutz et al. (2013), 17; Dill/Zambrana (2009), 5. 61 Crenshaw (1989), 139. Für ein anderes Beispiel vgl. Sußner (2013). 62 Zum Begriff social divisions siehe Anthias (2013). 63 Eine Kritik an intersektionalen Ansätzen aufgrund deren Bezugnahme auf Kategorien formuliert etwa Lorey (2008). 64 Vgl. Walgenbach (2007). 57 58 59 60
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Kategorien, auf deren innere Diversität65 und Unabgeschlossenheit66 sowie auf die Widersprüchlichkeit und Kontextabhängigkeit ihrer Bedeutung. Dass Crenshaw Kategorien trotz aller Ambivalenz als brauchbare Werkzeuge betrachtet, hat mehrere Gründe: Zum einen nehmen politische und rechtliche Diskurse nun einmal auf Kategorien Bezug, zum anderen lassen sich mit ihrer Hilfe Verdichtungen von Macht bzw. Vulnerabilität beschreiben:67 „[C]ategories have meaning and consequences“.68 Crenshaws intersektionaler Zugang dient gerade der Analyse und Kritik des Phänomens, dass Herrschaftsverhältnisse interdependent miteinander verflochten sind, aber in wirkmächtigen Diskursen (wie dem Recht) als einander ausschließende Kategorien adressiert und mobilisiert werden.69 Eine intersektionale Konzeption von Kategorien soll u. a. eine Kritik hegemonialer kategorialer Framings ermöglichen. Kurz gesprochen geht es also (auch) um Kategorienkritik mithilfe von Kategorien: In examining the intersections of race and gender, I engage the dominant assumptions that these are essentially separate; by tracing the categories to their intersections, I hope to suggest a methodology that will ultimately disrupt the tendencies to see race and gender as exclusive or separable categories.70
In der Umsetzung dieses Anliegens begeben sich intersektionale Ansätze oftmals geradezu auf die Suche nach Phänomenen, in denen sich das Zusammenspiel mehrerer Kategorien zeigt: Sie sind „interaction-seeking“71. Dabei kann eine von Mari Matsuda vorgeschlagene Fragetechnik hilfreich sein, die unter der Devise ‚ask the other question‘ bekannt geworden ist: „When I see something that looks racist, I ask, ‚Where is the patriarchy in this?‘ When I see something that looks sexist, I ask, ‚Where is the heterosexism in this?‘ When I see something that looks homophobic, I ask, ‚Where are the class interests in this?‘“72 Weiter ist aus intersektionalen Ansätzen nicht wegzudenken, dass sie – je nach Disziplin und theoretischer Verortung – irgendeine Form von Gerechtigkeitsbezug oder Herrschaftskritik aufweisen. Es handelt sich eben gerade nicht um eine rein deskriptive Theorie gesellschaftlicher Diversität, sondern es geht um die Untersuchung und Kritik von Machtverhältnissen. Dabei verfolgen intersektionale Ansätze letztlich ein
Vgl. McCall (2005), 1780–1784. Vgl. z. B. verschiedene Modellierungsvarianten von Komplexität bei Dhamoon (2011). Vgl. Crenshaw (1991), 1296 f.; Crenshaw (2012), 1441; Crenshaw (2016), 13–16. Crenshaw (1991), 1297. Vgl. Crenshaw (1989), 160. Crenshaw (1993), 114. Choo/Ferree (2010), 134. Die Autorinnen bezeichnen so nur eine bestimmte Art intersektionaler Ansätze. 72 Matsuda (1991), 1189. 65 66 67 68 69 70 71
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Transformationsziel.73 Für eine intersektionale Rechtskritik bedeutet dieser Anspruch auch die Verbindung von juristischem Denken und aktivistischer Praxis, mithin die Bezugnahme auf den konkreten politischen Kontext, in dem das eigene juristische Denken und Handeln stattfindet, und die Anbindung an soziale Bewegungen.74 Die genannten drei Themen (De-/Zentrierung, Kategorien, Kritik) ziehen sich disziplinenübergreifend durch die Intersektionalitätsliteratur. Mit Blick auf Crenshaws spezifischen Zugang möchte ich im folgenden Abschnitt einige weitere, miteinander verbundene Charakteristika ihres Denkens besonders hervorheben: Die Untersuchung von Widersprüchlichkeiten in Gleichheits- und Differenzdiskursen, ein Plädoyer für Kontextbezogenheit und einen Denkstil des ‚both/and‘. 5.2
Wider das Glätten von Widersprüchen mithilfe abstrakter Begriffe
Mitunter wird an intersektionalen Ansätzen kritisiert, sie würden überall Differenzen sehen und die Bildung immer kleinerer Subgruppen propagieren.75 Zumindest mit Blick auf Crenshaw lässt sich diese Kritik nicht halten. Ihr geht es – und hier sieht man deutlich die Verwandtschaft zu den Critical Legal Studies – im Gegenteil darum, dass das in politischen wie auch juridischen Diskursen eingesetzte Gleichheits- und Differenzparadigma letztlich unbestimmt ist: Sowohl mit dem Verweis auf Gleichheit als auch mit dem Verweis auf Differenz lassen sich Dominanzverhältnisse rechtfertigen, worauf im Rahmen der Legal Gender Studies seit langem hingewiesen wird.76 Crenshaw zeigt das in ihren antidiskriminierungsrechtlichen Analysen eindrücklich auf. Berühmt wurde ihre Besprechung eines Falles (DeGraffenreid v. General Motors)77, in dem eine Diskriminierung, von der nur Schwarze Frauen betroffen waren, nicht als solche anerkannt wurde, weil sie nicht in das antidiskriminierungsrechtliche Framework zu passen schien. Die Klägerinnen hätten nach Ansicht des Gerichts nur rassistische und/oder Geschlechterdiskriminierung getrennt voneinander vorbringen können, jedoch keine kombinierte Form.78 Aber es geht Crenshaw nicht nur um Fallkonstellationen wie in DeGraffenreid, in denen den Klägerinnen verwehrt wurde, eine Diskriminierung ‚als Schwarze Frauen‘ vorzubringen. Sondern auch um den umgekehrten Fall, dass Schwarze Frauen nicht vorbringen konnten, dass sie ‚als Frauen‘ diskriminiert wurden. So durfte etwa in Moore v. Hughes Helicopter, Inc eine Schwarze Vgl. Atrey (2019), 51–53. Vgl. Lawrence et al. (1993), 3; Cho et al. (2013), 786. Vgl. z. B. Conaghan (2009), 31. Crenshaw bezieht sich ausdrücklich auf Catharine MacKinnon, vgl. Crenshaw (2010), 155 f. United States District Court, E. D. Missouri, 4.5.1976, 413 F. Supp. 142 (1976); United States Court of Appeals, 8th Circuit, Emma DeGraffenreid et al. v. General Motors Assembly Division, St. Louis, et al., 15.7.1977, No. 76–1599. 78 Vgl. Crenshaw (1989), 141–143. 73 74 75 76 77
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Frau die von ihr eingeklagte betriebliche Geschlechterdiskriminierung nicht mithilfe von Statistiken nachweisen, die alle Frauen eines Unternehmens erfassten. Sondern ihr wurde entgegnet, dass sie statistisch nachweisen müsste, dass gerade Schwarze Frauen in dem Unternehmen diskriminiert werden.79 Das Gericht hatte Schwierigkeit anzuerkennen, „that discrimination experienced by Black women is indeed sex discrimination“.80 Manchmal werden also die Erfahrungen intersektional marginalisierter Personen nicht in ihrer Partikularität anerkannt (siehe DeGraffenreid) und manchmal nicht in ihrer Allgemeinheit (siehe Moore). Sie sind aber beides: „[I]ntersectional discrimination is defined by both sameness and difference simultaneously“.81 Shreya Atrey fasst die Pointe (hier mit Blick auf Schwarze Frauen) treffend zusammen: Their disadvantage was one that was both similar to the disadvantage suffered by Black men and white women since they were both Black like Black men and women like white women, but also different in terms of being both Black and women at the same time and thus suffering disadvantage not just as Blacks or women alone but as Black women.82
Intersektionale Rechtskritik untersucht dementsprechend die kontextabhängigen Dynamiken von Gleichheits- und Differenzdiskursen im Recht. „[W]hat makes an analysis intersectional“, halten Cho/Crenshaw/McCall fest, „is its adoption of an intersectional way of thinking about the problem of sameness and difference and its relation to power.“83 Der kritische Blick richtet sich dabei nicht nur auf unterdrückungslegitimierende, sondern auch auf emanzipatorisch intendierte Behauptungen von Gleichheit oder Differenz. Historisch hat sich gezeigt, dass für sich genommen weder Gleichheitsnoch Differenzansätze „stabile oder durchgehend progressive Kritiken“84 garantieren. Crenshaw ist daher grundsätzlich skeptisch gegenüber „theoretical abstractions“, sondern plädiert bei jedem kritischen Unterfangen „for deft navigation of both the descriptive and political dimensions of the context“ und fordert kontextbezogene Analysen („context specific analysis“).85 Der Ruf nach Kontextualisierung und konkreter Problembeschreibung zieht sich durch Crenshaws gesamtes Werk. Kategorien (wie Geschlecht, rassialisierte Differenz, Klasse) können nicht als vorgefertigte Schablonen über die soziale Wirklichkeit gelegt werden, sondern sie erhalten erst im jeweiligen Kontext ihre spezifische Bedeutung. Nur so lassen sich auch ihre intersektionalen Verflechtungen, Interdependenzen und Widersprüchlichkeiten aufdröseln. Und auch ju-
Vgl. ebd., 143–146. Ebd., 148. Atrey (2019), 117. Ebd., 38 f. Cho et al. (2013), 795. Beispiele für intersektionale Analysen, die gängige Sichtweisen, was das Partikulare und was das Allgemeine ist, herausfordern, finden sich etwa bei Catharine MacKinnon (2013) oder Elisabeth Holzleithner (2022). 84 Crenshaw (2010), 178 (Übers. I. R.). 85 Ebd., 178; vgl. Crenshaw (2021 [2000]), 158 f. 79 80 81 82 83
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ristische Probleme sowie damit zusammenhängende Gerechtigkeitsfragen lassen sich nicht abstrakt und losgelöst vom jeweiligen Kontext beurteilen.86 Es ist nun vielleicht schon deutlich geworden, dass intersektionales Denken einem ‚both/and‘-Stil folgt, mithin von der Denkfigur des ‚sowohl/als auch‘ (im Gegensatz zum ‚entweder/oder‘) geprägt ist. Drei knappe Hinweise auf bereits Vorgebrachtes sollen genügen, um zu illustrieren, was gemeint ist: Erstens, aus intersektionaler Perspektive erscheint Recht nicht nur als ein Herrschaftsinstrument, sondern eröffnet auch (und gerade deswegen) emanzipatorische Möglichkeiten. Zweitens, Kategorien sind Konstrukte und Ausdruck eben jener Herrschaftsverhältnisse, in denen wir leben, und doch kommen wir ohne sie nicht aus, um über diese Herrschaftsverhältnisse nachzudenken bzw. um über die Kategorien selbst hinauszudenken. Und drittens zeugt auch die intersektionale Betrachtung des Gleichheits- und Differenzparadigmas von dieser gedanklichen Bewegung des ‚both/and‘: Die Frage, ob bestimmte Personen(gruppen) als gleich oder different anzusehen sind, muss aus intersektionaler Perspektive mit ‚sowohl/als auch‘ beantwortet werden. Abermals zeigt sich, dass ein intersektionaler Denkstil nach kontextbezogenen Analysen verlangt: Denn in welchen Hinsichten Personen(gruppen) sowohl gleich als auch different sind, wird deutlich, sobald man näher an bestimmte (Rechts-)Phänomene „heranzoomt“. Ein ‚both/and‘-Denken zeichnet sich durch eine beständige gedankliche Bewegung aus, durch ein Denken in Relationen, Interaktionen und Spannungsverhältnissen. Dass dieser Denkstil ein wesentlicher Aspekt intersektionaler Ansätze ist, wird in Teilen der Intersektionalitätsliteratur besonders hervorgehoben,87 in anderen hingegen gar nicht thematisiert. Crenshaw selbst weist darauf hin, dass „intersectionality as a repudiation of [an] either/or thinking“ entstanden sei.88 Begibt man sich übrigens auf die Suche, wo der Gedanke noch vorkommt, so stößt man auf eine Passage in Horkheimers Aufsatz Zum Problem der Wahrheit, in der er das dialektische Denken charakterisiert: Es handle sich hierbei um einen „Stil der Darstellung“, der „sich mehr durch das Sowohlals-auch als das Entweder-Oder“ auszeichnet.89 5.3
Praktisches Vorgehen intersektionaler Rechtskritik
Crenshaw selbst ist keine Freundin abstrakten Theoretisierens: „My own take how to know intersectionality has been to do intersectionality.“90 In einem 2011 erschienenen Beitrag antwortet Crenshaw auf die in der Intersektionalitätsliteratur gewälzte Frage,
86 87 88 89 90
Vgl. Crenshaw (2010), 165; Atrey (2019), 48–51; Lawrence et al. (1993), 15. Vgl. z. B. Collins (2002 [1990]), 152, 206, 246; May (2015), 226–244 et passim; Carastathis (2016), 72. Crenshaw (2016), 14 Horkheimer (1935), 350 f. Crenshaw (2011a), 222.
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ob intersektionale Forschungsansätze nicht über eine eigene, gemeinsame Methode verfügen müssten, durchaus lakonisch: „methodologies are specific to disciplines“.91 Ihre eigene Arbeit verortet sie innerhalb der Rechtswissenschaften und ihrer Methoden, bleibt aber auch hier einem ‚both/and‘-Zugang treu: So waren beispielsweise ihre intersektionalen Analysen des Antidiskriminierungsrechts einerseits „fully recognisable as legal method within the law“ und andererseits Teil eines rechtskritischen und subversiven Unterfangens in der Tradition der Critical Legal Studies.92 Das in intersektionalen Analysen untersuchte Rechtsmaterial kann beispielsweise aus Gerichtsentscheidungen bestehen, denn Urteilsbegründungen sind, so Crenshaw, wie Magnetresonanztomographie-Bilder, in denen die Architektur eines Rechtsgebiets sichtbar wird.93 Eine intersektionale Kritik von Gerichtsentscheidungen lässt sich methodologisch in drei Aspekte gliedern: Erstens werden die in den rechtsdogmatischen Argumentationslinien des Gerichts liegenden Annahmen, Wertungen und Framings untersucht. Dazu zählt auch, welche Kategorien und Normsubjekte das Gericht voraussetzt bzw. (re-)produziert. Crenshaw spricht von einem „ideological process“94, der im Recht vonstattengeht und intersektionale Realitäten (verzerrt) sichtbar oder unsichtbar werden lässt. Zweitens geht es in der Analyse darum, die sozio-ökonomischen Strukturen (beispielsweise komplex stratifizierte Arbeitsmärkte) in den Blick zu nehmen, in deren Rahmen das Recht operiert.95 So werden die materiellen Konsequenzen herrschender juristischer Framings deutlich, insbesondere die strukturellen Diskriminierungen, die dadurch (mit-)erzeugt, aufrechterhalten und legitimiert werden. Der dritte Schritt intersektionaler Rechtskritik ist ein normativer: Denn auf Basis der vorangegangenen Analyse sollen schlussendlich normative Argumente „for reversing […] dominant conceptions“ formuliert werden.96 Intersektionale Rechtskritik richtet also ihren Blick darauf, wie Herrschaftsverhältnisse im Recht zusammenspielen und in juristische Kategorien übersetzt werden, insbesondere welche Rolle Gleichheits- und Differenzdiskurse spielen. Dabei haben die Analysen – ganz im Sinne des ‚both/and‘-Stils – immer eine doppelte Stoßrichtung, denn es geht um: „using intersectional analysis to advance an argument within law while at the same time interrogating certain dynamics about law and its relation to social power“ [Hervorh. im Original].97
Ebd., 223. Ebd., 225. Vgl. ebd., 227. Intersektionale Analysen können aber bspw. auch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten, die üblicherweise isoliert voneinander betrachtet werden, in den Blick nehmen. Vgl. im Anschluss an Crenshaw Rössl (2021), 39. 94 Crenshaw (2011a), 228. 95 Vgl. Crenshaw (2011a), 228–230. 96 Ebd., 229. 97 Ebd., 231. 91 92 93
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6. Schluss
Crenshaws Werk kann als Kompass dienen, um Parameter einer intersektionalen Rechtskritik näher zu bestimmen. Wie gezeigt, lassen sich Aspekte identifizieren, die eine intersektionale rechtskritische Forschung nicht aus den Augen verlieren sollte: Die Verflechtung aus strukturell-materiellen und ideologischen Elementen im Recht, die Zentrierung marginalisierter Perspektiven, die kategorienkritische Bezugnahme auf Kategorien, das grundsätzlich herrschaftskritische Selbstverständnis und damit zusammenhängend die (wenn auch ambivalente) emanzipatorische Nutzung von Recht, die Problematisierung von pauschalen Gleichheits- und Differenzbehauptungen, ein dialektischer ‚both/and‘-Denkstil und die unbedingte Notwendigkeit von kontextbezogenen Analysen. Davon ausgehend muss intersektionale Rechtskritik vor allem praktisch angewandt werden. Dass sie sich dabei an den jeweiligen Untersuchungsgegenstand anpassen muss, liegt auf der Hand. Crenshaw selbst erweist sich als pragmatische Denkerin, der es um das Aufzeigen und Transformieren ganz konkreter Problemlagen geht. Sie betont immer wieder, dass ihr eigener intersektionaler Ansatz keineswegs als „Großtheorie“ („grand theory“) sozialer Ungleichheit missverstanden werden sollte.98 Damit unterscheidet sie sich von Ansätzen wie etwa jenen von Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp, die in der Tradition der Kritischen Theorie stehen und aus gesellschaftstheoretischer Perspektive über das Zusammenspiel von Herrschaftsverhältnissen auf der Makroebene nachdenken.99 Crenshaw hingegen betrachtet ihr Intersektionalitätskonzept schlicht als heuristisches Werkzeug, als „an analytical, a heuristic or hermeneutic tool – one designed to amplify and highlight specific problems“.100 Immer wieder verwendet sie in diesem Zusammenhang die Metapher eines Prismas.101 Wie ein Prisma das einfallende Licht in sein Farbspektrum auffächert, so dient intersektionale Rechtskritik dazu, kaum beleuchtete Probleme in ihren Facetten sichtbar zu machen.102 Literaturverzeichnis
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Der Band publiziert die Ergebnisse der Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie 2020 und 2021. Die Beiträge der Tagung „Recht und Zeit“ folgen der Intuition, dass die Zeit normativ relevant ist. Im Recht zeigt sich dies etwa daran, dass Straftaten und Ansprüche verjähren oder mit der zeitigen und lebenslangen Freiheitsstrafe die strafrechtliche Schuld zeitlich quantifiziert wird. Die Beiträge untersuchen, wo und wie die Zeit im Recht eine Rolle spielt und ob es rechtliche Phänomene gibt, die sich erst durch ein angemessenes normatives Zeitverständnis erklären lassen. In jüngerer Zeit lässt sich ein erstarktes Interesse am Recht und der Kritik des Rechts innerhalb der Kritischen Theorie verzeichnen (insb. Christoph Menke und Daniel Loick). Die unter dem Titel „Kritische Theorie(n) des Rechts“ erscheinenden Beiträge setzen sich vor diesem Hintergrund mit rechtsphilosophischen Texten der Frankfurter Schule auseinander, die innerhalb dieser Tradition eine eher randständige Rolle spielen und verhältnismäßig wenig rezipiert wurden. Zudem werden die rechtstheoretischen Perspektiven der Kritischen Theorie auf ihre Aktualität und eigenen Ausschlüsse hin befragt.
ISBN 978-3-515-13483-5
9 783515 134835
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag