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German Pages 308 [310] Year 2010
Konflikte im Recht – Recht der Konflikte
ARSP BEIHEFT 125
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale Archivo de Filosofía Jurídica y Social
Edward Schramm / Wibke Frey / Lorenz Kähler / Sabine Müller-Mall / Friederike Wapler (Hg.)
Konflikte im Recht – Recht der Konflikte Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Tübingen und Göttingen
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09729-1 Zugleich: 978-3-8329-5900-5 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany
VORWORT VORWORT Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Konflikt ist eine nach der Funktion und der Struktur des Rechts. Denn ist die Lösung von Konflikten nicht eine ureigene Aufgabe des Rechts, und ist das Recht nicht selbst von inneren Konflikten geprägt? Um die wesentliche Bedeutung von Konflikten für die Funktion des Rechts herauszustellen, ließe sich auf die mit der Entstehung von Recht stets einhergehende Genese von Rechtsprechungsorganen ebenso verweisen wie auf den status quo, den namentlich in Deutschland häufigen Gang zum Richter bei Streitigkeiten verschiedener Art. Allerdings, so könnte man einwenden, beschäftigt sich die Wissenschaft vom Recht zwar mit konkreten Konflikten in vielerlei Formen und Arten; auf einer allgemeinen Ebene jedoch werden in der Rechtswissenschaft – anders als etwa in der politikwissenschaftlichen Konfliktforschung – Konflikte kaum thematisiert. Die Selbstbeschreibung des Rechts handelt von Selbstbestimmung und Freiheit, von Steuerung und Optimierung, von Ordnung und Schutz oder auch von der Förderung bzw. dem Ausgleich von Interessen. Doch der Begriff des Konflikts als Gegenstand des Rechts erfährt dabei eine vergleichsweise geringe theoretische Beachtung. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass ihm solche Beachtung gar nicht zukommen muss, etwa weil er kein eigenständiges Erklärungspotential bereithält oder weil er als Gegenstand des Rechts so selbstverständlich ist, dass es unnötig erscheint, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Umgekehrt wäre aber auch möglich, dass hier eine Lücke in der Rechtswissenschaft besteht, die zu schließen produktiv sein könnte. Dies herauszufinden, unternimmt der vorliegende Band: Ausgehend von der Annahme, dass der Umgang mit Konflikten eine wesentliche Funktion und Aufgabe des Rechts darstellt, untersucht er das Verhältnis von Recht und Konflikt aus verschiedenen Perspektiven, um daraus Einsichten für die Theorie des Rechts zu gewinnen. In der Sprache des Rechts tauchen Konflikte zwar auf, aber – so deuten die dafür verwendeten Bezeichnungen an – als Konflikte innerhalb des Rechts: „Kompetenzkonflikte“, „Interessenkonflikte“, „Grundrechtskollisionen“ oder „Kollisionsrecht“. Wenn das Recht der Lösung von Konflikten dient oder jedenfalls dienen soll, ist allerdings weitergehender zu fragen: Welcher Art sind diese Konflikte, in welchen Lebensbereichen tauchen sie auf, und auf welche Weise werden sie zu Konflikten im oder des Rechts? Konflikte treten in der sozialen Welt stets konkret auf, Interessen konfligieren in speziellen, definierbaren Situationen miteinander. Ihrer Anlage nach erscheinen Konflikte allerdings häufig wie Dilemmata, indem sie jedenfalls im Moment ihres Auftretens Unlösbarkeit suggerieren. Um einen Ausweg aus einer Konfliktsituation zu finden, scheint eine weitere Perspektive als die der Beteiligten und ihrer Interessen notwendig, es braucht eine neue Ebene, die entweder geeignet ist, den konfligierenden Parteien ein gemeinsames, sich von den widerstreitenden Belangen unterscheidendes Interesse aufzuzeigen und die den Konflikt produzierende Situation damit in eine neue zu überführen, die weniger problematisch ist; oder aber die neue Ebene muss die „Lösung“ des Konflikts erzwingen können, wobei dann allerdings in Frage steht, ob die juristische Beendigung des Streits als „Lösung“ des Konflikts begriffen werden kann.
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Vorwort
Beide Möglichkeiten und Funktionen umfasst das Recht materiell, normativ und institutionell. Es kann Inhalte bereithalten, die von allgemeinerer Art sind als die Interessen in konkreten Konflikten. Denn Recht zeichnet sich dadurch aus, dass es den Anspruch der Allgemeinheit erhebt, während Konflikte gar nicht anders als konkret denkbar sind. Gleichzeitig wohnt dem Recht Normativität inne; es ist als Sollen formuliert und wird als solches behandelt. Dadurch kann es die Konfliktparteien binden und in Streitigkeiten entscheiden. Institutionell hält es alle Notwendigkeiten bereit, um seinen normativen Anspruch zu begründen (Legislative), zu explizieren (Judikative) und durchzusetzen (Exekutive). Alle drei Aspekte führen im Zusammenhang von Konflikten und ihrer Lösung zu Schwierigkeiten, die sowohl für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Recht als auch mit Konflikten von Belang sind: Der Anspruch der Allgemeinheit des Rechts ist zwar generell in der Lage, Konflikte in eine andere Ebene zu heben oder die Perspektive der im Konflikt verflochtenen Parteien zu erweitern, aber ob ein Konflikt schon dadurch gelöst werden kann, ist fraglich. Eng damit im Zusammenhang steht die Frage, wie die Lösung eines Konfliktes überhaupt beschrieben werden kann. Gibt eine Partei ihr Interesse auf, und bleibt eines übrig, welches dann die Lösung vorgibt, ist eine Lösung immer in irgendeiner Hinsicht ein Kompromiss für beide Seiten oder stellt die Lösung ein Novum dar, in dem die Interessen anders als bislang ausbalanciert werden? Die besondere Eigenschaft des Rechts liegt allerdings darin, dass es den materiellen Anspruch der Allgemeinheit mit der Möglichkeit zur konkreten, zwingenden Entscheidung koppelt. Eine juristische Entscheidung setzt einem Konflikt zunächst einen Endpunkt, indem sie die Parteien an eine bestimmte Regelung bindet. Über eine Lösung – im Sinne eines für alle Beteiligten zufrieden stellenden Ausgangs – ist damit noch nichts gesagt. Damit wird ein wesentlicher Aspekt des Rechts berührt, der in der Frage des Umgangs mit Konflikten vielleicht eine paradigmatische Konstellation findet: Recht muss transformieren, wenn es die Sphäre außerhalb des Rechts berühren und verändern soll. Es muss etwa einen sozialen, familiären oder politischen Konflikt in einen rechtlichen überführen, eine rechtliche ‚Lösung‘ finden, die ihrerseits wiederum geeignet ist, in außerrechtliche Sphären ‚rückumgewandelt‘ und dort umgesetzt zu werden. Darüber hinaus ist es nicht ausgeschlossen, dass der ins Recht transformierte Konflikt rechtsintern seine Konfliktqualität völlig verliert oder umgekehrt eine neue, verschärfte oder andere Konfliktqualität gewinnt. So könnte der normative Anspruch des Rechts Konflikte mit anderen normativen Ansprüchen, etwa moralischen, erst generieren. Die Transformation von Konflikten in das Recht kann vermieden werden, wenn die Lösung des Konflikts außerhalb des Rechts gesucht wird, etwa in Schlichtungsverfahren oder in der außergerichtlichen Mediation. Doch auch solche Verfahren, die nach ihrer Konzeption eine versöhnungsorientierte und den tatsächlichen Problemen vielleicht sogar angemessenere Behandlung in Aussicht stellen, werfen Probleme auf: Welchen Stellenwert hat eine außergerichtlich bzw. „außerrechtlich“ verhandelte Konfliktlösung gegenüber dem juridischen Weg? Kann z. B. ein Täter-Opfer-Ausgleich eine Kriminalstrafe ersetzen oder zumindest relativieren, eine Bitte um Verzeihung in einer Wahrheitskommission die Pflicht zur materiellen Entschädigung der Opfer von Unrecht begründen oder ausschließen? Wie lässt sich in informellen Konfliktlösungsverfahren eine „Waffengleichheit“ der Beteiligten und eine ausgewogene Verhandlungsführung gewährleisten – erfordert dies nicht auch wieder „Verrechtlichung“ jedenfalls des Verfahrens?
Vorwort
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Schon eine erste, kursorische Betrachtung des Verhältnisses von Recht und Konflikt wirft eine Reihe von Fragen auf, welche aus diesem Zusammenhang entstehen und die Grundbedingungen des Rechts ebenso wie wesentliche Fragen der Theorie davon betreffen. Sie zeigen, dass es durchaus sinnvoll sein kann, die wissenschaftliche Betrachtung des Gegenstands ‚Recht‘ auf solche Weise anzugehen. Diesen Versuch unternimmt der vorliegende Tagungsband. Er umfasst Beiträge, die auf Vorträge zweier Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie zum Titelthema auch dieses Bandes in Tübingen und Göttingen zurückgehen. Im ersten Kapitel sind Beiträge gesammelt, die den Umgang des Rechts mit konkreten Konstellationen bzw. mit bestimmten Konfliktfeldern untersuchen. Dazu zählen etwa Fragen nach dem rechtlichen Umgang mit politischen Konflikten und dem Zusammenspiel von kulturellen Konflikten mit dem Juridischen. Dass allgemeine Beiträge zum Umgang des Rechts mit Konflikten in diesem Band fehlen, mag als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Art und Entstehung eines Konflikts für seine rechtliche Behandlung eine erhebliche Rolle spielen könnte. Um Konflikte anderer Art geht es im zweiten Kapitel: Es ist solchen Konflikten gewidmet, die innerhalb des Rechts und seiner Theorie erst entstehen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen einerseits nicht zwingend konkrete Konstellationen in der außerrechtlichen Welt entsprechen, die Art ihrer Lösung aber andererseits dennoch außerrechtliche Folgen nach sich ziehen kann. Das dritte Kapitel betrifft schließlich Konfliktlösungsmethoden, die an den Grenzen des Rechts ansetzen oder mit dem Recht konkurrieren. Dadurch sollen externe Perspektiven auf das Recht und seinen Umgang mit Konflikten geliefert werden, und durch diesen Vergleich mit anderen Methoden Einsichten in die besonderen Probleme und Möglichkeiten des Rechts bei der Bearbeitung einzelner Konfliktfelder gewonnen werden. Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen im Einzelnen ausgefallen und welche Diversität der Beiträge hierbei zum Vorschein gekommen ist: Die Aufgabe des Rechts, Streit zu schlichten, bleibt bestehen – und mit ihr die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Konflikt. Göttingen und Tübingen, im März 2010 Edward Schramm, Wibke Frey, Lorenz Kähler, Sabine Müller-Mall, Friederike Wapler
INHALT INHALT VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. DER UMGANG DES RECHTS MIT KONFLIKTEN – EINZELNE KONFLIKTFELDER Wie geht das Recht mit Konflikten der sozialen, kulturellen und internationalen Welt um? A.
POLITISCHE, SOZIALE UND MORALISCHE KONFLIKTE
Theoretische Perspektiven auf die Verrechtlichung politischer Konflikte . . . . . Detlef von Daniels Das Verfassungsgericht als Schiedsrichter der Politik. Die öffentliche Vernunft, demokratische Legitimität und „politische“ Entscheidungen des tschechischen Verfassungsgerichts im Jahre 2008 . . . . . . Jan Wintr
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Hegung oder Lösung? Zur Rolle des Rechts in Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Campagna
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Freiheit als Interesse höchster Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elif Özmen
51
Solidarität und soziale Ausgrenzung im Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juliane Ottmann
69
Das Problem der Weigerung aus Gewissensgründen und die Gewährung von Ausnahmen im Recht – Bemerkungen zum Ansatz von John Rawls . . . . Anne Kühler B.
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KULTURELLE KONFLIKTE
Recht und Kultur in Konflikt? Normativität und kulturelle Philosophie in der Frage der Menschenrechte . . . Daniela Kühne
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Konflikt und Konfliktlösung. Die Rechte indigener Frauen in Guatemala . . . 113 Anja Titze C. INTERNATIONALE
KONFLIKTE
Globale Konflikte und die Heterogenität des Rechts. Rechtsphilosophische Anmerkungen zur kantischen und hegelschen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Michael Reder
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Inhalt
Interrechtskulturelle Konflikte im Völkerstrafrecht. Rechtssoziologische und rechtsprinzipielle Erkenntnisquellen für die Internationalisierung des (Straf-)Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Christoph Burchard II. DER UMGANG MIT KONFLIKTEN IM RECHT UND SEINER THEORIE Konflikte innerhalb des Rechts und seiner Theorie Rechtskonflikte, Wertfolgen und Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Hänni
173
Rechtsprinzipien: Konsens oder Konflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Seinecke
187
Kollisionsrechtliches Denken in der Rechtstheorie. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Maurer/Moritz Renner
207
Konflikt und Prävention. Paradoxien der Moderne und ihre Wirkungen im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Benno Zabel Einschätzungsspielraum des Staates oder der Gesellschaft? Zu Ladeurs Abwägungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Mônica Weitzel III. KONFLIKTLÖSUNG AN DEN GRENZEN DES RECHTS Mit dem Recht konkurrierende Konfliktlösungsmethoden Juristische Mediation oder mediative Jurisprudenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Christian Nierhauve Zum Verhältnis von sozialer Anerkennung und Rechtsprinzip im Rahmen der Bewältigung historischen Unrechts: Konkurrenz oder Komplementarität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanja Hitzel-Cassagnes und Franziska Martinsen
273
Mittler, Vermittler, Fürsprecher. Rechtliche Figuren der Konfliktlösung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Johanna Bergann
I. DER UMGANG DES RECHTS MIT KONFLIKTEN – EINZELNE KONFLIKTFELDER WIE GEHT DAS RECHT MIT KONFLIKTEN DER SOZIALEN, KULTURELLEN UND INTERNATIONALEN WELT UM? A.
POLITISCHE, SOZIALE UND MORALISCHE KONFLIKTE
DETLEF VON DANIELS* THEORETISCHE PERSPEKTIVEN AUF DIE VERRECHTLICHUNG POLITISCHER KONFLIKTE† I. DIE THEORETISCHE DEBATTE ZWISCHEN SCHMITT UND KELSEN Wir haben uns in der Bundesrepublik daran gewöhnt, dass Gerichte im politischen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Das betrifft nicht nur die nationale Ebene, auf der das Bundesverfassungsgericht durch Entscheidungen und Leitsätze den politischen Prozess dauerhaft mitbestimmt, sondern auch die europäische Ebene, deren heutige Bedeutung nicht zuletzt auf zielgerichtete Interventionen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zurückgeht.1 Man könnte diese Entwicklung als Ausdruck einer fortschreitenden Konstitutionalisierung sehen, die angefangen von nationalen Verfassungen über mittlere, regionale Ebenen schließlich auch das Völkerrecht umfasst.2 Fortschrittsgeschichten dieser Art operieren jedoch typischerweise mit analytischen Begriffen, die bereits normativ aufgeladen sind, so dass das Eigentümliche dieser Art der Verrechtlichung nicht in den Blick kommt. Um das Verhältnis von Recht und Politik grundsätzlich zu reflektieren möchte ich einen anderen Weg wählen und die klassische Debatte zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen über den Hüter der Verfassung noch einmal aufnehmen.3 Diese Diskussion ist aus zwei Gründen interessant. Zunächst treffen in ihr zwei konträre theoretische Positionen aufeinander, die in dieser Schärfe heute nicht mehr zu finden sind.4 Außerdem bietet das Umfeld der Weimarer Republik und der zeitgenössischen internationalen Verhältnisse reichhaltiges Anschauungsmaterial für eine Vielzahl von äußerst zugespitzten Konflikten. Ich möchte jedoch nicht die Fehler oder Versäumnisse der Weimarer Republik analysieren, sondern prüfen, ob oder unter welchen Voraussetzungen die Argumente der beiden Kontrahenten tragfähig sind. Dazu werde ich zunächst den Disput zwischen Schmitt und Kelsen im historischen Kontext präsentieren und in einem zweiten Schritt jeweils überlegen, ob die Argumente unter gegenwärtigen Umständen des
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Postdoctoral Fellow, Humanities Center at Harvard Für hilfreiche Anregungen und Diskussionen danke ich den Teilnehmern der Jahrestagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie, insbesondere Isabelle Ley für ihren schriftlichen Kommentar. Zur Rolle des EuGH im Prozess der europäischen Integration siehe Weiler, The Constitution of Europe. „Do the New Clothes Have an Emperor?“ and Other Essays, Cambridge 1999. Siehe Habermas, Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?, in: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005. Die Auseinandersetzung startete jeweils mit einem Zeitschriftenaufsatz, ist aber heute in zwei Büchern gut dokumentiert. Siehe Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, hrsg. von van Ooyen, Tübingen 2008 [1931] sowie Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 4. Aufl., Berlin 1996 [1931]. Zu den historischen Hintergründen siehe Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Justiz – Richterliche Normenkontrolle in der Weimarer Republik, in: de Wall/ Germann, Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link, Tübingen 2003, S. 705–724.
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Detlef von Daniels
europäischen Mehrebenensystems reformuliert werden können. Meine These ist, dass einzelne Elemente der Schmittschen Argumentation genutzt werden können, um Kelsens monistischen Rechtspositivismus in Richtung eines realistischen Rechtspluralismus fortzuentwickeln. Von einer solchen Position aus ist es möglich, die Mechanismen von Konfliktlösung durch Verrechtlichungen in Mehrebenensystemen zu analysieren und die Rolle politischen Handelns in solchen Umständen einzuschätzen. II. DER ZEITGESCHICHTLICHE HINTERGRUND: DIE REPUBLIK IN DER KRISE Carl Schmitt schrieb den Text „Der Hüter der Verfassung“5 als Reaktion auf die politische Lähmung und Verfassungsstreitigkeiten während der Endphase der Weimarer Republik (1929–1933). Im Parlament gab es keine regierungsfähigen stabilen Mehrheiten, gleichzeitig lehnten die am linken und rechten Rand des politischen Spektrums erstarkenden radikalen Parteien die Staatsform der Weimarer Republik insgesamt ab. Reichspräsident Paul von Hindenburg war zwar mit einer Mehrheit von SPD und konservativen Parteien gewählt, neigte aber persönlich der Monarchie zu und wurde von vielen als Repräsentant republikfeindlicher Kreise gesehen.6 Nachdem 1930 die letzte große Koalition aus SPD und bürgerlichen Parteien gescheitert war, ernannte Hindenburg Heinrich Brüning als Reichskanzler, der in der Folge nicht mehr gestützt auf parlamentarische Mehrheiten, sondern auf Grundlage des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten (Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung) regierte. Carl Schmitt nahm diese Entwicklung vorweg. Bereits 1929 plädierte er dafür, dass aus rechts- wie verfassungstheoretischen Gründen einzig der Reichspräsident „Hüter der Verfassung“ sein könne. Er wehrte sich damit gegen die Vorstellung, dass Verordnungen der Exekutive oder Konflikte über Kompetenzstreitigkeiten gerichtlich überprüft bzw. entschieden werden. Ebenso grundsätzlich reagierte Hans Kelsen auf die Einlassung und versuchte zu zeigen, dass Schmitt sein Ergebnis lediglich durch unzulässige Vermengung von theoretischen und wertenden Begriffen erreicht, rechtstheoretisch aber ebenso ein Gericht mit der Aufgabe betreut werden könnte, als Hüter der Verfassung zu fungieren. Während Schmitt sich explizit auf die zeitgenössischen Umstände in der Weimarer Republik bezieht, ist das Modell für Kelsens Überlegungen der österreichische Verfassungsgerichtshof, an dessen rechtlicher Ausgestaltung Kelsen bei der Abfassung der österreichischen Verfassung beteiligt war. Da sich der Disput zwischen Schmitt und Kelsen anhand einer konkreten Frage entfaltet, ist er besonders dazu geeignet, die praktischen Konsequenzen der jeweiligen Theorien zu reflektieren. III. SCHMITTS ARGUMENTE GEGEN VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT Schmitt entwickelt seine Position anhand der Frage, ob ein Gericht Hüter der Verfassung sein könne. Er führt dagegen im Wesentlichen vier Argumente an, zwei rechts5 6
Schmitt (Fn. 3). Siehe umfassend: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, S. 512–541.
Theoretische Perspektiven auf die Verrechtlichung politischer Konflikte
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theoretische, ein demokratietheoretisches, sowie ein verfassungstheoretisches. Ich werde zunächst diese Argumente im Überblick darstellen und dann anhand von Kelsens Erwiderung prüfen, ob sie sich auf das europäische Mehrebenensystems übertragen lassen. Der erste rechtstheoretische Einwand Schmitts bezieht sich auf die juristische Technik der Subsumption. Schmitt behauptet zunächst, Verfassungsgerichtsbarkeit sei keine echte Justiz, da es keine tatbestandmäßige Subsumtion eines Falls unter ein allgemeines Gesetz gebe, sondern lediglich zwei widersprechende Normen verglichen würden und eine an die Stelle der anderen gesetzt werde. „Es wird überhaupt nicht subsumiert, es wird nur ein Widerspruch festgestellt und dann entschieden, welche der einander widersprechenden Normen gelten und welche ‚außer Anwendung‘ bleiben soll“.7 Da es sich dabei in aller Regel nicht um offensichtliche Widersprüche handele, sondern um eine inhaltliche Festsetzung, werde ein Gerichtshof zu einem „Verfassungsgesetzgeber in hochpolitischer Funktion“.8 Dass das Verfassungsgericht inhaltlich entscheidet, sei unvermeidlich, da jedes Urteil einen Moment der Dezision beinhalte, und sein Sinn „eben nicht überwältigende Argumentation, sondern eben Entscheidung durch autoritäre Beseitigung des Zweifels [ist].“9 Das zweite rechtstheoretische Argument schließt daran an, bezieht sich aber auf die Unabhängigkeit der Justiz als Merkmal der Gewaltenteilung. Ausgangspunkt für Schmitts Argumentation ist die spezifisch kontinentale Tradition der Rechtsstaatlichkeit. „Im bürgerlichen Rechtsstaat gibt es Justiz nur als Richterspruch aufgrund eines Gesetzes.“10 Darauf beruhe auch die besondere Objektivität und Unabhängigkeit des Richters. „Verlässt der Richter den Boden, auf dem eine tatbestandsmäßige Subsumtion unter generellen Normen und damit eine inhaltliche Bindung an das Gesetz wirklich vorhanden ist, so kann er nicht mehr unabhängiger Richter sein.“11 Die Folgen davon seien nicht eine Juridifizierung der Politik, sondern eine „Politisierung der Justiz.“12 Der Kern des Arguments ist nicht in erster Linie folgenorientiert („Politisierung der Justiz“), sondern zielt auf die Grundsätze der Gewaltenteilung sowie auf die Voraussetzungen für eine unabhängige Justiz. Dafür spricht, dass Schmitt die beamtenrechtliche Stellung als Absicherung der Neutralität des Richters anführt13 und auf die Grenzen richterlichen Handelns hinweist. Ein Richter könne immer nur post eventum, also nach Eintritt eines Falles entscheiden, aber nicht politische Maßnahmen treffen. Versuche er dies jedoch beispielsweise durch Erlass von einstweiligen Maßnahmen, so könne ihn „seine richterliche Unabhängigkeit ... dann vor der politischen Verantwortlichkeit nicht mehr schützen.“14 Schmitts demokratietheoretisches Argument gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit baut auf einer bestimmten Lesart der Weimarer Reichsverfassung auf. „Dadurch, dass sie [die Weimarer Reichsverfassung] den Reichspräsidenten zum Mittelpunkt eines Systems plebiszitärer wie auch parteipolitisch neutraler Einrichtungen und Befugnis7 8 9 10 11 12 13 14
Schmitt (Fn. 3) S. 43. AaO., S. 48. AaO., S. 48. AaO., S. 37. AaO., S. 19. AaO., S. 22. AaO., S. 152. AaO., S. 32.
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Detlef von Daniels
se macht, sucht die geltende Reichsverfassung gerade aus demokratischen Prinzipien heraus ein Gegengewicht gegen den Pluralismus sozialer und wirtschaftlicher Machgruppen zu bilden und die Einheit des Volkes als eines politischen Ganzen zu wahren.“15 Der Reichspräsident habe eine gegenüber anderen Organen herausgehobene demokratische Legitimation, da er direkt gewählt sei, die Einheit des ganzen Volkes verkörpere und neutral gegenüber anderen partikulären Gruppierungen sei. Schmitt ergänzt, dass der Reichspräsident zugleich legitimiert sei, Letztentscheidungen zu treffen. Denn anders als in konstitutionellen Monarchien sei das Volk in der Weimarer Reichsverfassung gegenüber Regierung und Parlament der höhere Dritte, so dass Verfassungskonflikte wie im 19. Jahrhundert „unmöglich und undenkbar“ seien.16 Schließlich nennt Schmitt noch ein verfassungstheoretisches Argument, das man im Auge behalten sollte, um Schmitts Argumentationsweise zu verstehen. Schmitt behauptet nicht, dass ein politisches System mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit undenkbar wäre oder nicht funktionieren könne, da er natürlich das amerikanische und österreichische Beispiel kennt. Er behauptet allerdings, dass die Umformung des Staatsgerichtshofs in ein Verfassungsgericht den Charakter der Verfassung grundlegend ändern würde. Um das zu zeigen, führt er eine Unterscheidung zwischen Verfassungsgesetz und Verfassung ein.17 Letztere sei die Gesamtentscheidung des Souveräns, die bestimme, wo der Schwerpunkt der Verfassung liege. „Man kann alle Staaten nach dem Gebiet staatlicher Tätigkeit einteilen, auf dem sie das Zentrum ihrer Tätigkeit finden. Danach gibt es Justiz- oder besser: Jurisdiktionsstaaten, daneben Staaten, die wesentlich Regierung und Exekutive sind, und endlich Gesetzgebungsstaaten.“18 Die Weimarer Reichsverfassung sei als Gesetzgebungsstaat konzipiert. Voraussetzung für das Gedeihen eines Gesetzgebungsstaat seien allerdings eine Sphäre der Gesellschaft, die frei ist von umfassender staatlicher Regulierung sowie Parteien, die nicht nur Abbildung der pluralistischen Zersplitterung der Gesellschaft seien, sondern Gebilde, die um wechselnde Mehrheiten konkurrieren.19 Beide Voraussetzungen sieht Schmitt in der Wirklichkeit der Weimarer Republik nicht gegeben, da der Staat zu einem totalen Wirtschafts- und Regulierungsstaat geworden sei und die Parteien zu gegeneinander abgeschlossenen sozialen Machtkomplexen.20 Aufgabe des Souveräns sei daher, die politische Gesamtentscheidung des Volkes für den Gesetzgebungsstaat zu bewahren. Gerichtliche Überprüfung exekutiver Entscheidungen hingegen würde den Charakter der Verfassung hin zu einem Jurisdiktionsstaat ändern, da ein Gerichtshof in solchen Fällen nur noch verschiedene Ansprüche von Individuen und kollektiven Akteuren ausgleichen könnte, die Verfassung aber nicht mehr „Entscheidung des ganzen Volkes“ sein würde.21
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AaO., S. 159. AaO., S. 130. Vgl. hierzu auch Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, S. 20 ff. Schmitt (Fn. 3), S. 75; ausführlich diskutiert Schmitt diese Unterscheidung in Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 263 ff. 19 Vgl. Schmitt (Fn. 3), S. 87. 20 Vgl. aaO., S. 87. 21 Vgl. aaO., S. 70.
Theoretische Perspektiven auf die Verrechtlichung politischer Konflikte
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IV. VOM SUBSUMPTIONSARGUMENT ZUM RECHTSPLURALISMUS Man mag in Versuchung geraten, diese Argumente unter Verweis auf das Schicksal der Weimarer Republik und der weltweiten Etablierung des Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den Akten zu legen. Da es hier aber nicht um ein Nachzeichnen geschichtlicher Entwicklungen gehen soll, sondern um die theoretische Frage, wie die Rolle der Gerichte im politischen Gefüge eingeschätzt werden kann, möchte ich im folgenden Kelsens Erwiderung auf Schmitt nicht als Vorwegnahme der „richtigen“ Auffassung lesen, sondern Kelsens Argumente dazu nutzen, den theoretischen Kern der jeweiligen Positionen herauszuarbeiten. Kelsens Einwände gegen Schmitt sollen dementsprechend nicht nur im Hinblick auf die Weimarer Zeit betrachtet werden, sondern als Ausdruck einer alternativen theoretischen Position, die prinzipiell auf andere Umstände anwendbar ist. Schmitts erstes Argument beruht auf einer bestimmten Deutung der juristischen Methode der Subsumption. Verfassungsgerichtsbarkeit sei im Unterschied zu echter Justiz keine tatbestandsmäßige Subsumtion, sondern erschöpfe sich im Vergleich verschiedener Normen und sei daher aufgrund des Moments der Dezision inhaltliche Festsetzung der Verfassung. Kelsen wendet dagegen ein, dass bei jeder Entscheidung unterschiedliche Rechtsauffassungen gegeneinander stehen und die Aufgabe in jedem Fall die verfassungsgemäße Erzeugung einer individuellen Norm sei.22 Schmitt hingegen reaktiviere, entgegen seiner eigenen Einsicht in den dezisionistischen Charakter der Gerichtsurteile,23 das Bild vom Richter als Rechtserzeugungsautomaten. In der Praxis der Prüfung von Fällen sei kein grundlegender Unterschied zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht zu erkennen. Der Tatbestand in verfassungsrechtlichen Fällen sei nämlich, so Kelsen, nicht „die Norm“, sondern „die Erzeugung der Norm.“ Zu prüfen sei also, ob ein Gesetz verfassungsgemäß zustande gekommen ist, bzw. wenn es verfassungswidrig ist, ob es als verfassungsänderndes Gesetz erlassen worden ist.24 Das Kriterium der „inhaltlichen Festsetzung“ könne ebenfalls nicht der entscheidende Unterschied sein, da dies immer der Fall sei, wenn Rechtsfragen entschieden werden.25 Kelsens Kritik überzeugt bezogen auf die konkrete historische Problemlage, wo in Frage stand, ob ein Gericht überhaupt Akte der Exekutive überprüfen könne. Fraglich ist jedoch, ob Kelsens Entgegnung selbst eine überzeugende theoretische Alternative bietet. Kelsens Argument beruht auf der Voraussetzung, dass Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit wesensgleich sind,26 insofern beide Akte der „Normerzeugung“ sind. Da außerdem beide ein Element der Dezision enthalten, seien auch beide „politisch“. Nach Kelsen stehen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit also in einer durchgehend politischen Praxis der Normerzeugung. „Jeder Rechtskonflikt ist doch ein Interessen- bzw. Machtkonflikt, jeder Rechtsstreit daher ein politischer Streit, und jeder Konflikt, der als Interessen-, Macht- oder politischer Konflikt bezeichnet wird,
22 Vgl. Kelsen (Fn. 3), S. 70 f. 23 Vgl. Schmitt, Gesetz und Urteil, München 1912, in dem Schmitt selbst die Gesetzesbindung als Fiktion entlarvt. 24 Kelsen (Fn. 3), S. 71. 25 AaO., S. 73. 26 AaO., S. 74.
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Detlef von Daniels
kann als Rechtsstreit entschieden werden.“27 Kelsen macht zwar zu Recht auf den dezisionistischen Charakter jeder Rechtsentscheidung aufmerksam, seine zu Grunde gelegte Theorie des Stufenbaus der Rechtsordnung, wobei jede Stufe aufgrund vorhergehender Ermächtigung handelt, zeigt aber zu viel und verliert das Spezifische der richterlichen Entscheidung aus dem Auge. Sicher handelt das Parlament aufgrund der Verfassung bzw. nach den Regeln der Geschäftsordnung und der Richter entscheidet aufgrund von Gesetzen. Aber in demselben Sinn ist auch jeder Geschäftsfähige aufgrund des BGBs ermächtigt, Kaufverträge abzuschließen. Jedoch ist die Bindung des Einzelnen durch das BGB offenbar eine andere als die des Richters durch das Gesetz. Kelsens Argument macht also lediglich auf den ganz allgemeinen Umstand aufmerksam, dass jeder dieser Fälle eine institutionelle Tatsache im Rahmen des Rechtssystems ist. Fraglich ist hier aber, was das Spezifische der richterlichen Entscheidung im Unterschied zum parlamentarischen Verfahren oder zur Verwaltung ist. Darauf liefert Kelsens Theorie des Stufenbaus keine Antwort.28 Bezeichnenderweise räumt Kelsen dennoch ein, dass es zu einer „politisch höchst unangebrachten Machtverschiebung“ zum Verfassungsgericht hin kommen kann.29 Das sei insbesondere zu befürchten, wenn dieses aufgrund von unbestimmten Rechtsbegriffen entscheide. Kelsen zählt darunter „Schlagworte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit“.30 Für Kelsen sind das allerdings keine rechtstheoretischen Fragen, da diese durch den Stufenbau bereits geklärt sind, sondern rechtspolitische bzw. Fragen der Zweckmäßigkeit. Die Grenzen von Kelsens Modell werden deutlich, wenn man über dem Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit in wohlgeordneten Staaten hinausgeht und Fälle im europäischen Kontext betrachtet. Es ist dann keineswegs selbstverständlich, dass es einen einheitlichen Stufenbau der Rechtsordnung ausgehend von dem jeweiligen höchsten Gericht gibt. Das ist schon deshalb nicht gegeben, weil es beispielsweise in Menschenrechtsfragen keine europaweit einheitliche Auffassung darüber gibt, was das jeweilige höchste Gericht ist, ob es die nationalen Verfassungsgerichte sind oder der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).31 Die jeweiligen Kompetenzen der einzelnen Gerichte und das Ausmaß der Prüfungsbefugnisse sind vielmehr selbst umstritten. Dieser Punkt müsste in einer Rechtstheorie abgebildet werden können. Kelsens Theorie ist dazu, solange sie an einem durchgehenden Stufenbau festhält, nicht in der Lage. Aber auch Schmitts Subsumptionsargument bietet keinen Ausweg, sondern bestenfalls einen Ansatzpunkt, das Problem zu formulieren. Wenn Schmitt schreibt, dass Verfassungsgerichtsbarkeit keine echte Subsumption sei, sondern verschiedene Normen verglichen würden, so ist das eine, wenn auch sehr vage, Be-
27 AaO., S. 67. 28 Siehe auch Kelsen, General Theory of Law and State, New Brunswick and London 2006 [1949], S. 274 ff. Kelsen vertritt dort offensiv die These, dass es zwischen den verschiedenen Gewalten keine wesentlichen sondern nur historisch erklärbare Unterschiede gebe. 29 Kelsen (Fn. 3), S. 76. 30 AaO. 31 Zur unterschiedlichen Auffassung der Stellung des EGMR siehe Polakiewicz, The Status of the Convention in National Law, in: von Blackborn/Polakiewicz, Fundamental Rights in Europe. The European Convention on Human Rights and its Member States, 1950–2000, Oxford, 2001, S. 31–53.
Theoretische Perspektiven auf die Verrechtlichung politischer Konflikte
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schreibung der Praxis des EGMR.32 Wenn dieser einen Fall entscheidet, der in einzelnen Ländern aufgrund verfassungsrechtlicher Argumentation unterschiedlich gehandhabt würde, ist es zumindest nicht ganz falsch zu sagen, dass verschiedene Normen oder Praxen verglichen werden. Diesen Punkt haben allerdings weder Schmitt noch Kelsen entwickelt, da Schmitt von der Faktizität einer entscheidungskräftigen politischen Einheit ausgeht und Kelsen von der Notwendigkeit einer einheitlichen juristischen Normenpyramide. Die Möglichkeit einer politischen Normsetzung durch gegenseitige Beobachtung höchster Gerichte33 kommt so von beiden Positionen aus nicht in den Blick. Geht man weder von der Notwendigkeit einer einheitlichen Normordnung aus, sondern von einem Rechtspluralismus aus,34 noch von der Faktizität einer sich in jedem Fall durchsetzenden politischen Einheit, sondern von einer Vielzahl von politischen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen, so zeigt sich ein ganzes Spektrum von Konflikten zwischen juristischen und politischen Akteuren.35 Die Diskussion über das Subsumptionsargument kann also produktiv aufgenommen werden, um eine theoretische Perspektive zu gewinnen, die gleichermaßen über Schmitt und Kelsen hinausweist. Schmitts Diagnose kann dabei, wertfrei gelesen, als realistischer Einspruch gegen eine konstitutionalistische Sicht36 gelesen werden, die Konflikte systematisch ausblendet. V. VON DER GEWALTENTEILUNG ZUR RICHTERSOZIOLOGIE Diese so skizzierte Perspektive ist auch nützlich, um das zweite rechtstheoretische Argument, das Neutralitäts- bzw. Gewaltenteilungsargument genauer zu untersuchen. Nach Schmitt erfordert die Gewaltenteilung, dass die Justiz neutral bzw. unabhängig ist.37 Würde ein Gerichtshof über politisch umstrittene Fragen urteilen, so wäre er „Verfassungsgesetzgeber in hoch politischer Funktion“.38 „Keine noch so krampfhafte Fiktion könnte es verhindern, dass Jeder einen solchen Gerichtshof für eine politische Instanz hält und als solchen bewertet.“39 Wieder ist es so, dass Kelsen zunächst leichtes Spiel zu haben scheint. Kelsen zufolgt ist es unvermeidlich, dass Gerichte, sofern sie entscheiden, auch an der politischen Gewalt partizipieren. Das sei legitim, da der Gesetzgeber dem Richter diese Befugnis zur Rechtschöpfung übertragen habe. 32 Für eine detaillierte Analyse der Rechtsprechung siehe Krisch, The Open Architecture of European Human Rights Law, The Modern Law Review 7 (2008), S. 183–216. 33 Der französische Conseil d’Etat kennzeichnet das Verhältnis zum EGMR als einen „Dialogue des Judges“, siehe Krisch, aaO., S. 192. Ähnlich das Bundesverfassungsgericht mit der These des Kooperationsverhätnisses zum EuGH, etwa BVerfGE 89, 115 ff. 34 Zu einer rechtspluralistischen Sicht auf die EU siehe Barber, Legal Pluralism and the European Union, European Law Journal 12 (2006), S. 306–329. 35 Allott sieht in der EU aufgrund ihrer unregelmäßigen Struktur ein Ungeheuer, das durch den Schlaf der Vernunft geboren wurde. Siehe Allott, Epilogue: Europe and the Dream of Reason, in: Weiler/Wind, European Constitutionalism beyond the State, Cambridge 2003, S. 202–225. 36 Vgl. Craig, Constitutions, Constitutionalism and the European Union, European Law Journal 7 (2001), S. 125–150. 37 Schmitt und Kelsen benutzen in der Diskussion die Ausdrücke „neutral“ und „unabhängig“ synonym. 38 Schmitt (Fn. 3), S. 48. 39 AaO., S. 31.
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Dementsprechend bestehe „zwischen dem politischen Charakter der Gesetzgebung und dem der Justiz … nur eine quantitative, keine qualitative Differenz.“40 Kelsen wirft Schmitt daher vor, einen ideologischen Begriff von Neutralität zu verwenden, nämlich als eine Instanz jenseits aller Machtkämpfe und Interessen. Eine solche Instanz kann es nach Kelsen aber nicht geben, weil alle Institutionen an dem einheitlichen Rechtserzeugungszusammenhang partizipieren. Der Grundsatz der Gewaltenteilung könne daher nicht als vollständige Isolierung verstanden werden, sondern nur als „gegenseitige Kontrolle der Gewalten“41 durch genau spezifizierte Eingriffsrechte. Dabei sei die genaue Ausgestaltung wieder nur eine Frage der Zweckmäßigkeit. Ergänzend führt Kelsen allerdings an, dass im Unterschied zum gewählten Staatsoberhaupt der Richter „schon durch seine Berufsethik zur Neutralität gedrängt [werde].“42 Beim Vergleich der Argumentationsstrategien fällt auf, dass Schmitt die „Politisierung der Justiz“ rhetorisch dramatisiert, wohingegen Kelsen Politik und Justiz so weit annähert, dass sie fast ununterscheidbar werden. Bezeichnenderweise verrät Schmitt jedoch nie, was genau die Gefahr einer Politisierung ist, wohingegen Kelsen es unterlässt zu erläutern, durch welche Strukturen eine „übermäßige Politisierung“ vermieden werden kann. Was an dieser Stelle bei beiden Autoren fehlt, ist eine Soziologie der Justiz und insbesondere des Richterstandes. Kelsen deutet das mit dem Hinweis auf das Berufsethos an, wodurch sich der Richter vom gewählten Vertreter unterscheide. Schmitt nennt beiläufig die beamtenrechtliche Status als Absicherung der Neutralität und erklärt außerdem, was ein unabhängiger Richter nicht sein dürfe, nämlich nicht „fremd“ und nicht „politisch festgelegt.“43 Diese verstreuten Bemerkungen, die sowohl bei Schmitt als auch bei Kelsen zu finden sind, können zusammen genommen als soziale Bedingung für richterliche Unabhängigkeit ausbuchstabiert werden. So könnte man erklären, dass das Berufsethos der Richter, worauf sich Kelsen stützt, durch spezifische Faktoren begünstigt wird, wie zum Beispiel die Art der akademischen Ausbildung, die einen Korpsgeist begünstigt, relative etablierte Karrierewege, oftmals auch eine gewisse soziale Homogenität und natürlich die beamtenrechtliche Stellung. Die Kriterien, die Schmitt nennt, weisen darüber hinaus darauf hin, dass die Rolle des Richters in Anerkennungsbeziehungen abgesichert sein muss. Dass der Richter nicht „fremd“ sein dürfe, kann man sowohl auf den zu Grunde liegenden Rechtskorpus beziehen, der mehr oder weniger stark im Rechtsbewusstsein verankert sein kann, als auch auf die Herkunft des Richters, wobei „nicht fremd“ ganz allgemein zu übersetzen wäre mit „den üblichen Gepflogenheiten für Richter entsprechend“, die natürlich ebenfalls einem sozialen Wandel unterliegen.44 Schließlich ist bei der politischen Unabhängigkeit, die Schmitt anmahnt, zu fragen, ob es sich dabei um eine Selbst- oder eine Fremdeinschätzung handelt. Schmitt weist zu Recht darauf hin, dass entscheidend für die soziale Funktion der Unabhängigkeit nicht die Innenansicht, die „krampfhafte Fiktion“ ist, sondern die Fremdeinschätzung durch 40 41 42 43 44
AaO., S. 67. AaO., S. 79. Kelsen (Fn. 3), S. 95. Vgl. Schmitt (Fn. 3), S. 103 f. Man könnte beispielsweise überlegen, ob die Neubesetzung fast aller Richterstellen nach der Wende durch westdeutsche Juristen in den neuen Bundesländern zum Gefühl einer westdeutschen Kolonialisierung beigetragen hat.
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die Gesellschaft. Wie sich diese aber zur Institution Verfassungsgerichtsbarkeit verhält, lässt sich, anders als Schmitt insinuiert, nicht theoretisch vorhersagen, sondern nur praktisch beobachten. Die soziologische Dechiffrierung der richterlichen Unabhängigkeit führt also zur Entschärfung der Schmittschen Position. Anstatt richterliche Unabhängigkeit im Wesen der Justiz zu vermuten, wird so ihre vielfältige soziale Bedingtheit deutlich. Diese Einsicht lässt sich auch für das europäische Mehrebenensystem nutzen. Mit Blick auf die sozialen Bedingungen lässt sich beispielsweise erklären, weshalb die Ausweitung der Kompetenzen des EuGH in den 60ziger Jahren von nationalen Gerichten klaglos akzeptiert wurde, obwohl zur gleichen Zeit in der Politik, beispielsweise in Frankreich unter Charles de Gaulle, eine europaskeptische Haltung vorherrschte.45 Eine wichtige Rolle spielt dabei der Umstand, dass der EuGH mit verdienten Richtern aus den Mitgliedsländern besetzt wird, die Richter also nicht „fremd“ sind, dasselbe „Berufsethos“ haben und innerhalb ihres Standes aufgrund ihrer Seniorität als Autoritäten anerkannt sind. Allgemein kann man formulieren, dass je mehr die Bedingungen für Unabhängigkeit gegeben sind, desto eher auch parteipolitisch stark umstrittene Fragen von Gerichten mit behandelt werden können, ohne dass deswegen Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit aufkommen. Auch im Verhältnis zwischen Gerichten, die nicht einem einheitlichen Gerichtszug angehören, wie z. B. zwischen dem EuGH und dem EGMR, lässt sich beobachten, dass neben der „anonymen Kommunikation“ über Urteile auch informelle Kontakte bestehen. Sie tragen dazu bei, dass sich die Richter als Teil einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur verstehen und sich auch deswegen zunehmend problemlos auf Urteile des jeweils anderen Gerichts beziehen können.46 Der Disput zwischen Schmitt und Kelsen über die richterliche Unabhängigkeit kann also nicht theoretisch entschieden werden. Er ist vielmehr als Hinweis zu verstehen, einen rechtsvergleichenden Blick auf die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen zu entwickeln und das Zusammenwirken verschiedener Systeme zu beobachten. Allerdings lässt sich auf diese Weise ein Aspekt des Schmittschen Arguments nicht erfassen, nämlich die Frage der Gewaltenteilung. Schmitts Argument hierzu lautet, dass Gewaltenteilung Neutralität der Justiz erfordere, die bei gerichtlichen Entscheidungen über politische Fragen nicht mehr gewährleistet sei. Kelsens wendet dagegen ein, dass Gewaltenteilung nicht vollständige Trennung bedeuten könne, da Gerichte an der Normbildung mitwirken, sondern besser als „gegenseitige Kontrolle“ zu verstehen sei, die „allzu große Machtkonzentration in einem Organ“ verhindern solle.47 Im Unterschied zur bloßen Beschwörung der Unabhängigkeit und Gesetzesbindung wie bei Schmitt bietet Kelsens Vorschlag für nationale Kontexte einen besseren Analyseansatz. Man könnte damit, auch soziologisch fundiert, untersuchen, wie genau die Machtbalance organisiert ist. Fraglich ist aber, ob diese Lösung auch in transnationalen Zusammenhängen bzw. für Mehrebenensysteme anwendbar ist. Kelsens beschwichtigende Analyse, dass Gewaltenteilung gegenseitige Kontrolle im-
45 Vgl. hierzu Weiler (Fn. 1), S. 32 ff. 46 Siehe hierzu Scheeck, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 65 (2005), S. 837– 885. 47 Kelsen (Fn. 3), S. 79.
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pliziere, erscheint vor diesem Hintergrund nicht hilfreich. Denn dies hieße in der Konsequenz, dass durch jede zusätzliche Verrechtlichung, sei es durch Beitritt in ein multilaterales Vertragsregime mit bindender Justiz oder durch Privatisierung bestimmter Bereiche, automatisch eine neue Art der Gewaltenteilung entstünde. Kelsens Lösung, das Problem der Gewaltenteilung als verfassungsmäßig gewollte Gewaltengliederung darzustellen, ist als allgemeine Theorie also genauso nichts sagend wie Schmitts rhetorische Beschwörung der richterlichen Neutralität als notwendig unabhängige Gewalt. Kelsens Theorie krankt daran, dass in der rein rechtswissenschaftlichen Betrachtung politische Verschiebungen zwischen verschiedenen Organen nicht weiter analysiert werden können, da sie nur als theoretisch unergiebige Fragen der Zweckmäßigkeit erscheinen. Geht man jedoch von einer Pluralität von Akteuren aus und beobachtet ihr Zusammenwirkung in rechtsrealistischer Hinsicht, so kann man in der Analyse noch einen Schritt weiter kommen. Vergegenwärtigt man sich die Rolle, die der EuGH bei der europäischen Einigung gespielt hat, so erkennt man, dass das Verhältnis zwischen politischen Organen und Gerichten nicht wie bei Kelsen als „gegenseitige Kontrolle“ beschrieben werden kann, sondern eher als semipermeable Membran zu sehen ist. Grund dafür ist, dass die Exekutive nicht gegen das eigene Justizsystem regieren kann. Das verdeutlicht das Beispiel des EuGH. Nachdem nationale Gerichte begonnen hatten, sich aufgrund der Doktrin der Direktwirkung an Urteilen des EuGH zu orientieren, konnte die Exekutive diese Form der Integration praktisch nicht mehr rückgängig machen.48 Ein weiterer Grund für das systematisch bedingte Übergewicht der Judikative ist, dass in dem Moment, wo Gerichte sich mit einer Materie befassen, sich politische Akteure auf diese Argumentationsweise einstellen, was wiederum zukünftige justizförmige Erledigungen von Streitigkeiten begünstigt. Die systematische Folge von Gerichtsbarkeit über politische Fragen ist also nicht nur eine Politisierung der Justiz, sondern ebenso eine Verrechtlichung der Politik, d. h. ein Argumentationsstil, der sich von vornherein auf den Bahnen der vorherrschenden juristischen Meinung bewegt. Die beiden rechtstheoretischen Argumente, die Schmitt anführt, das Subsumtionsargument und das Neutralitätsargument, können also weiterentwickelt werden, wenn man den staatlichen Rahmen überschreitet. Man erkennt dann erstens, dass es theoretisch sinnvoll ist, von der Möglichkeit eines Rechtspluralismus auszugehen, zweitens dass die sozialen Voraussetzungen richterlicher Unabhängigkeit mitreflektiert werden müssen und drittens, dass durch Verrechtlichung die Justiz ein systematisches Übergewicht erhält, was sich auch im Stil der politischen Auseinandersetzung bemerkbar macht. Damit ist eine theoretische Perspektive benannt, die man realistischen Rechtspluralismus nennen kann.49 Allerdings ist das zentrale Problem des Disputs damit noch nicht angesprochen, nämlich Schmitts demokratietheoretisches Argument. Es ist gewissermaßen das Gravitationszentrum seiner Kritik. 48 Ausführlich zu den Motiven politischer Akteure, die Integration durch den EuGH nicht in Frage zu stellen, siehe Alter, Establishing the Supremacy of European law: The Making of an International Rule of Law in Europe, Oxford 2001, S. 182–208. 49 Die Position wird als realistisch bezeichnet, um sie von systemtheoretischen Ansätzen des Rechtspluralismus abgrenzen zu können, die jedes Regime zu einem autopoetisch geschlossenen Subsystem mit eigener Rationalität idealisieren. Siehe hierzu Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt am Main 2006.
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VI. VORAUSSETZUNGEN DER DEMOKRATIE Schmitts demokratietheoretisches Argument lässt sich am besten im Kontext der Weimarer Reichsverfassung rekonstruieren. Schmitt vertritt die Ansicht, dass der Reichspräsident im Mittelpunkt des Systems der Weimarer Reichsverfassung stehe, da er unmittelbar gewählt sei. Aus diesem Grund repräsentiere nur der Reichspräsident die „Einheit des gesamten Volkes“ und müsse diese gegen die auseinander strebenden gesellschaftlichen Tendenzen sichern. Zu diesen zählt Schmitt den Parteienpluralismus, die Polykratie, d. h. die Macht von Wirtschaftskartellen, und den Föderalismus. Kelsen hat im nationalen Rahmen gegen diese Interpretation ein relativ leichtes Spiel. Zunächst macht Kelsen auf die offensichtlich ideologische Verwendung des Ausdrucks „Neutralität des Staatspräsidenten“ aufmerksam. Da dieser in einem demokratischen Verfahren gewählt wurde, stehe er ebenso für eine bestimmte Fraktion der Gesellschaft.50 Er symbolisiere eine gedachte Einheit, repräsentiert aber keineswegs, wie Schmitt suggeriere, eine reale Einheit des ganzen Volkes. „An die Stelle des positiv rechtlichen Verfassungsbegriffs schiebt sich die Einheit als ein naturrechtliches Wunschideal.“51 Tatsächlich herrscht nach Kelsen in einer Demokratie nicht das ganze reale Volk, sondern eine Parlamentsmehrheit, die einer Parlamentsminderheit gegenüber steht.52 Die Verfassung habe dabei den Zweck, eine Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit zu verhindern, wozu unter anderem die Klagerechte der Minderheit dienen.53 Indem Schmitt den Staatspräsidenten als neutral auszeichnet und ihn als Hüter der Verfassung bezeichnet, werde in der Tat ein bestimmter Teil der Regierung, nämlich die vom Präsidenten ernannte Exekutive, von Begrenzung freigestellt und ihrem Machtmissbrauch Tür und Tor geöffnet. Mit dem Begriffspaar „Neutralität des Reichspräsidenten“ und „verfassungswidriger Pluralismus“ liefere Schmitt also eine tendenziöse Analyse der politischen Situation.54 Zweifellos ist Kelsens Analyse der politischen Intention hinter Schmitts Ausführungen treffend und – wie die weitere historische Entwicklung gezeigt hat – weitsichtig. Hier soll jedoch nicht gefragt werden, ob Kelsens Position einen Ausweg aus dem Weimarer Dilemma zeigen könnte, sondern ob sie systematisch für die postnationale Konstellation weiter entwickelt werden kann. Bezogen auf das europäische Mehrebenensystem scheint der Disput zunächst wieder zugunsten von Kelsen auszugehen. Die diffizile Machtverteilung zwischen Ministerrat, Kommission und Parlament mit den genau abgestimmten nationalen Quoren lassen sich mit Kelsen als Spielregeln eines politischen System verstehen, das um arbeitsteiligen Interessensausgleich und Minderheitenschutz bemüht ist. Zwar interpretieren Gerichte diese Art der Integration durchaus unterschiedlich. Der EuGH versteht seine Rolle darin, die Einheit der EU zu vertiefen, wohingegen das Bundesverfassungsgericht stärker die Vorbehalte nationaler Souveränität betont.55 Jedoch 50 51 52 53
Vgl. Kelsen (Fn. 3), S. 102. AaO., S. 103. AaO., S. 90. Ausführlich entwickelt Kelsen diesen Punkt in dem Aufsatz aus dem Jahr 1929 „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“, wiederabgedruckt in: Kelsen (Fn. 3). 54 AaO., S. 103. 55 Besonders deutlich wird das im Lissabon-Urteil, in dem das Bundesverfassungsgericht postuliert, dass die „Identität der Verfassung“ gewahrt bleiben müsse, BVerfG, 2 BvE/08 vom 30. Juni 2009.
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sind die Gerichte insgesamt um Zusammenarbeit bemüht, beziehen sich wechselseitig auf ihre Entscheidungen und lassen unterschiedliche Auffassungen selten zu offenen Konflikten eskalieren.56 Sogar Kelsens These, das Volk sei ein zum Zwecke der Legitimation gebildetes Staatsorgan ist in Bezug auf das europäische Volk plausibel, da die wechselnde Zusammensetzung des Volkskörpers aufgrund neuer Beitritte und die auf kontingenten Umständen beruhenden Ein- und Ausschlüsse (die Bevölkerung der französischen Übersee-Departments gehört zum „europäischen Volk“, die Schweizer aber nicht) gegen jede Fiktion einer vorgegebenen sozial-historischen Einheit sprechen. Dagegen erscheint Schmitts Insistenz, dass nur ein durch Plebiszit gewählter Präsident die Einheit des gesamten Volkes repräsentieren könne, ein Dogma zu sein, das keine Aktualisierung erlaubt. Jedoch kann man Schmitts Bemerkungen einen Sinn abgewinnen, wenn man sie als Hinweis auf die Grenzen juristischer Konstruktion und justizieller Letztentscheidung sieht. Zwar ist die konkrete Zusammensetzung des Staatsvolkes bestimmt durch die jeweiligen staatsrechtlichen Normen und insofern ist die Einheit des Volkes eine gedachte juristische Einheit. Jedoch symbolisiert ein Repräsentant zugleich, dass das Volk auch eine Schicksalsgemeinschaft ist, deren Angehörige positive wie negative Konsequenzen politischer Entscheidungen gemeinsam tragen und in Notlagen auch existentiell füreinander einstehen müssen. Diese existentielle Einheit muss nicht genau deckungsgleich mit der juristischen Konstruktion sein, wird aber bei politischen Leitentscheidungen vorausgesetzt. Gerade bei Entscheidungen über Kriegseinsätze, die einen nennenswerten Beitrag von Wehrpflichtigen erfordert, wird dieses Moment deutlich. Die Einheit des Volkes ist dann nicht nur „naturrechtliches Wunschideal“ wie Kelsen schreibt, sondern zeigt sich ganz real in den Opfern, die einem Volk abverlangt werden. Nun könnte man erneut darauf verweisen, dass auch diese Einheit des Volkes durch soziale Normen konstruiert ist, die Frage wer sich zu einem Volk zugehörig fühlt also ebenso wenig natürlich ist und auch „Opfer“ diese Einheit nicht herstellen. Entscheidend ist jedoch lediglich der Punkt, dass die juristische Konstruktion nicht allein maßgebend ist, sondern in Krisensituationen auch soziale Identifikation nötig ist, um Opfer abverlangen zu können. Kelsens rein rechtwissenschaftliche Sicht hingegen verleitet dazu, die existentiellen Voraussetzungen zu überspringen und je nach Zweckmäßigkeit Legitimationsketten zu konstruieren. Nun könnte man dies bejahen, aber dennoch darauf verweisen, dass Gerichte, wie jüngst das Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung, es als ihre Aufgabe ansehen können, auf die Einhaltung genau dieser Voraussetzungen zu achten. Schmitt hat an dieser Stelle kein weiteres systematisches Argument, weist aber in negativer Formulierung auf ein Problem hin: Gerichte können selbst keine politische Verantwortung übernehmen.57 Dieser Punkt wird relevant, wenn gerichtliche Entscheidungen den Charakter politischer Leitentscheidungen haben. Richter können solche Entscheidungen treffen, aber sie repräsentieren dabei nicht das Volk und können auch nicht durch Abwahl zur Verantwortung gezogen werden. Die Lissabon
56 Das trifft auf höchste Gerichte in anderen Ländern nicht zu. Siehe Weiler, A Quiet Revolution: The European Court of Justice and its Interlocutors, Comparative Political Studies 26 (1994), S. 510–534. Für einen Überblick über die Entwicklung in verschiedenen Ländern siehe Alter (Fn. 48). 57 Vgl. Schmitt (Fn. 3), S. 32.
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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führt genau auf dieses Problem. Das Gericht argumentiert, dass es die „Identität der Verfassung“ auch vor dem verfassungsändernden Gesetzgeber schützen müsse.58 Es beansprucht damit zugleich, in einer politisch umstrittenen Frage einen Volkswillen zu repräsentieren (denn anders kann sich das Gericht nicht legitimieren), der aber, ohne die Freiheit anders handeln zu können, dem Volk nicht verantwortlich zurechenbar ist. Das Gericht kann aber ebenso wenig für die Folgen politisch verantwortlich gemacht werden, so dass die Volkssouveränität von diesem Aspekt entleert wird. Schmitts demokratietheoretisches Argument gegen Gerichtsbarkeit kann also in seiner ursprünglichen Form zurückgewiesen werden. Unter gegenwärtigen Umständen kann es aber – trotz seiner überzogenen Formulierung – auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, der souveränen Politik einen herausgehobenen Ort zu reservieren, um politische Verantwortung zurechnen zu können. VII. MÖGLICHKEITEN POLITISCHER GESTALTUNG Schmitt rundet seine Argumentation für den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung mit einem verfassungstheoretischen Argument ab. Kurz gefasst lautet es, dass die „formelle Verfassung oder das Verfassungsgesetz durch eine spezifische Verfassungsart konkretisiert werde. Diese sei in der Demokratie der Gesetzgebungsstaat. Werde dieser jedoch zur Beute der Parteien bzw. wirtschaftlicher Machtkonglomerate oder föderaler Sonderinteressen, so müsse der unmittelbar gewählte Staatspräsident die Verfassungsentscheidung hüten. Kelsen zeigt scharfsinnig, wie Schmitt die gesamte Verfassung letztlich auf Art 48 reduziert und schließlich Hüter der Verfassung als Gegengewicht zum Parlament definiert.59 In der Kennzeichnung des Parlaments als Ausdruck eines verfassungswidrigen Pluralismus sieht Kelsen nur ein implizites Werturteil aber keine Verfassungstheorie.60 Nach Kelsen hat eine Verfassung die Funktion, die Mitwirkungsrechte aller Organe zu sichern und den Machtmissbrauch einzelner zu begrenzen. Schmitts Interpretation der Weimarer Reichsverfassung hingegen sei so angelegt, dass nur das Parlament die Verfassung „missbrauchen“ könne, wohingegen Machtmissbrauch der Exekutive nicht einmal als theoretische Möglichkeit erwogen werde.61 Für Kelsen ist Schmitts Argumentationsweise auch Zeichen eines methodologischen Fehlers. Schmitt führe Begriffe erst deskriptiv ein, verwende sie dann aber präskriptiv und qualifiziere andere politische Positionen als theoretisch verfehlt ab.62 Kelsen nutzt den Hinweis auf die ideologische Schlagseite der Schmittschen Position, um das eigene Credo einer strikten Trennung zwischen Werturteilen und wissenschaftlicher Erkenntnis herauszustellen.63 Bezogen auf die Weimarer Republik oder allgemein einen staatlichen Rahmen hört sich Kelsens Analyse demokratischer Prozeduren nicht nur nüchterner an, sie
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BVerfG, 2 BvE/08 vom 30. Juni 2009, Paragraph 216. Vgl. Kelsen (Fn. 3), S. 103. AaO., S. 105. AaO., S. 101. AaO., S. 103. AaO., S. 105.
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scheint aufgrund der Betonung des Minderheitenschutzes, des notwendigen Wechselspiels von Regierung und Opposition sowie der Rolle der politischen Parteien für die Bildung mehrheitsfähiger Positionen auch wegweisend zu sein für das Modell parlamentarischer Demokratien nach dem 2. Weltkrieg. Allerdings verfehlt Kelsen die Intention Schmitts, eine rechtsrealistische Beschreibung der Zeitumstände zu liefern. Diese kann nach Kelsen nicht Teil der Theorie sein. Jedoch ist auch Kelsens Theorie nicht ganz „rein“, sondern rechnet ebenfalls mit bestimmten sozialen Voraussetzungen. Kelsens Theorie „passt“ auf die Nachkriegszeit, da sie geordnete politische Verhältnisse voraussetzt, die sich in einem staatlichen Rahmen beschreiben lassen. Überschreitet man diesen Rahmen, so stößt auch Kelsens Theorie auf Grenzen, da sie die sozialen Prozesse und Verschiebungen innerhalb eines juristischen Rahmens nicht abbilden kann. Es bleibt daher zu fragen, ob sich über die theoretische Perspektive eines realistischen Rechtspluralismus sowie der Notwendigkeit, politische Verantwortung zu übernehmen hinaus noch etwas aus Schmitts Argumentation gewinnen lässt. Im europäischen Mehrebenensystem fordert niemand, dass mit einem bestimmten Amt, schon gar nicht dem neugeschaffenen Amt des Präsidenten der EU, praktisch unbegrenzte Entscheidungsbefugnisse gegeben sein müssen, so dass Schmitts Argumentation, hätte es nicht die unheilvolle Entwicklung in Weimar gegeben, in diesem Punkt kurios erscheinen könnte. Jedoch ist auch hier noch ein vernünftiger Kern zu entdecken, der folgendermaßen rekonstruiert werden kann. Schmitts Unterscheidung zwischen Verfassungsgesetz und materieller Verfassung kann allgemein als methodischer Hinweis auf eine realistische Betrachtung der Rechtswirklichkeit gelesen werden. Entscheidend ist danach nicht, was im „formellen Gesetz“ steht, sondern was die Akteure tatsächlich tun. Das gilt für alle am politischen Prozess beteiligten Akteure, sowohl die Staatsorgane als auch für Verbände, Interessensgruppen, Parteien etc. In diesem Sinn hat Schmitt eine, wenn auch tendenziöse, realistische Analyse der Verhältnisse am Ende der Weimarer Republik vorgelegt. Schmitts ständige Betonung der Notwendigkeit souveräner Politik in Gestalt des Reichspräsidenten verdeckt jedoch, dass er noch einen zweiten Begriff von Politik hat, der für die gegenwärtige Diskussion anschlussfähig ist. Schmitt spricht von Politik auch im Sinne von auctoritas, was man als Führung durch Überzeugung übersetzen könnte. Schmitt umschreibt diese Art der politischen Gestaltung als „vermittelnd, wahrend und regulierend“ und weist darauf hin, dass sie besondere moralische Qualitäten erfordere.64 Allerdings hält Schmitt diesen zweiten Begriff von Politik nicht konsequent durch. Obwohl er zugesteht, dass beispielsweise moralische Qualitäten gegeben sein müssen und nicht von der Verfassung dekretiert werden können, behauptet Schmitt in der Folge, dass nur der Reichspräsident auctoritas haben könne. Dadurch geht jedoch die Einsicht in die allgemeine Struktur von Politik als Führung durch Überzeugung wieder verloren. Gerade wenn man von einer realistischen Betrachtung ausgeht und rechtspluralistische Mehrebenensysteme mit einbezieht, kann dieser Begriff von Politik nicht mehr vorab für ein bestimmtes Staatsorgan reserviert werden. Politik in diesem Sinn heißt, dass einzelne Personen oder Institutionen eine Aufgabe, die ihnen zufällt, aktiv ergreifen und gestalten. In diesem Sinn hat der EuGH in den 60ziger Jahren seine auctoritas genutzt, um Europa zu gestalten. Ebenso ist es aber möglich, dass politische 64 Schmitt (Fn. 3), S. 135.
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Gestaltung von anderen Akteuren ausgeht und unvorhergesehene oder chaotische Wirkungen entfaltet.65 VII. AUSBLICK Der Disput zwischen Schmitt und Kelsen wurde im Vorfeld des 3. Reiches geführt. Keine der beiden theoretischen Vorschläge führte zu einem Ausweg aus der Krise, die sich sowohl in Österreich als auch in Deutschland abzeichnete. In Österreich wurde der Verfassungsgerichtshof entmachtet, bevor er über die Rechtmäßigkeit der Machtübernahme durch Engelbert Dollfuß entscheiden konnte. In Deutschland hatte keine Partei oder gesellschaftliche Gruppierung die Kraft, sich dem Machtstreben Hitlers zu widersetzen. Die Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Kelsen weist jedoch in ihrem theoretischen Kern über die historischen Umstände hinaus. In Anbetracht der Entwicklung einer ausgeprägten Verfassungsgerichtsbarkeit in vielen Ländern scheinen Schmitts grundsätzliche Einwände zwar zunächst obsolet geworden zu sein. Jedoch stößt auch Kelsens konstitutionalistisches Modell an Grenzen, wenn Verhältnisse in Mehrebenensystemen analysiert werden sollen. Schmitts Einwände können bezogen auf diese weitgehend verrechtlichten Verhältnisse dazu dienen, eine stärker realistisch orientierte Sicht auf die tatsächlichen Voraussetzungen zu entwickeln und das Politische, sowohl als Zuschreiben von Verantwortung als auch als Ergreifen von Möglichkeiten, als theoretischen Ort offen zu halten. Anschrift des Verfassers Detlef von Daniels Humanities Center at Harvard 12 Quincy Street Cambridge, MA 0238
65 Die Umgestaltung des Hochschulsystems durch den Bologna-Prozess bietet Anschauungsmaterial für misslungene politische Gestaltung.
JAN WINTR* DAS VERFASSUNGSGERICHT ALS SCHIEDSRICHTER DER POLITIK DIE ÖFFENTLICHE VERNUNFT, DEMOKRATISCHE LEGITIMITÄT UND „POLITISCHE“ ENTSCHEIDUNGEN DES TSCHECHISCHEN VERFASSUNGSGERICHTS IM JAHRE 2008 I. EINFÜHRUNG Die aktuellen „politischen“ Entscheidungen des tschechischen Verfassungsgerichts im Jahre 2008 haben zu großen Diskussionen in Tschechien geführt. Ich möchte über diese Diskussionen informieren und dieses Thema im rechtsphilosophischen Kontext zeigen. Die heutige Politik realisiert sich oft in der Form des Rechts. Konflikte gesellschaftlicher Interessen finden ihre Lösung vor allem in Gesetzen, die nach dem Willen der aktuellen Parlamentsmehrheit gefasst sind. Wichtige und besonders kontroverse Gesetze unterliegen aber noch einem weiteren Verfahren, sie werden sehr oft vor dem Verfassungsgericht als verfassungswidrig angefochten. „Die Schlüsselentscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht zeigen die Konflikthaltigkeit wichtiger Gesetze an. 40 % kamen vor das Gericht. (…) Immerhin wurde fast ein Sechstel der Urteile (14,8 %) auf Nichtigkeit oder Teilnichtigkeit erkannt. Fast ein Fünftel der Urteile sahen ein Gesetz als mit dem Grundgesetz unvereinbar an (19,4 %),“ sagt Klaus von Beyme,1 der 150 Schlüsselentscheidungen des deutschen Bundestags in den Jahren 1949–1994 untersucht hat. Hans Schneider sieht im „Gang nach Karlsruhe“ eine bedeutende Funktion und sogar Pflicht der parlamentarischen Opposition: „Auf diesem Wege, der häufig eingeschlagen wird, um den politischen Kampf mit juristischen Mitteln fortzusetzen, kann die Opposition ihre verfassungsrechtlichen Bedenken, die zu äußern nicht nur ihr gutes Recht, sondern geradezu ihre Pflicht ist, nun auch in einem Gerichtsverfahren mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Geltung bringen. Schon allein durch das Vorhandensein einer solchen Möglichkeit und durch die bloße Drohung mit dem ‚Gang nach Karlsruhe‘ sorgt sie sowohl für mehr Verfassungsdisziplin der parlamentarischen Mehrheit bereits im Gesetzgebungsverfahren als auch für die Erhaltung des Primats der Verfassung gegenüber der Gesamtrechtsordnung und stärkt damit zugleich die Geltungskraft des Grundgesetzes im politischen Alltag; ein eminent wichtiges Anliegen des demokratischen Rechtsstaats.“2
In den letzten Jahren ist in Tschechien „der Gang nach Brünn“ immer häufiger zu sehen. Die Schlüsselentscheidungen des Parlaments werden immer häufiger angefochten, sowohl aus inhaltlichen als auch aus formellen Gründen. Im ersten Halbjahr 2008 hat das Verfassungsgericht zwei große Fälle entschieden – den Antrag der ehemaligen rechten Opposition gegen das sozialdemokratische Arbeitsgesetzbuch von 2006 und den Antrag der heutigen linken Opposition gegen das Reformgesetz „zur
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JUDr. Mag., Ph. D., Wiss. Assistent, Karlsuniversität Prag. Beyme, Der Gesetzgeber, Opladen 1997, S. 302–304. Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, Berlin 1989, S. 1065.
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Stabilisierung der öffentlichen Haushalte“ von 2007. Diese heiklen politischen Entscheidungen führten zur Diskussion über die Rolle des Verfassungsgerichts.3 Wie ist die vernünftige Arbeitsteilung zwischen dem Parlament und dem Verfassungsgericht? „Grundrechte sind Positionen, die so wichtig sind, dass ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann,“ sagt ein klassischer Satz von Robert Alexy.4 Auf der anderen Seite muss das Verfassungsgericht die Doktrin der judicial self restraint respektieren. Welche Rolle im politischen Kampf spielt das Verfassungsgericht (oder soll es spielen)? Ist es ein Schiedsrichter? Die öffentliche Vernunft? Oder ein Mitspieler? Auf der anderen Seite kann die Wahl der Richter durch politische Organe in manchen Fällen aus dem Verfassungsgericht auch ein politisches Organ machen, sogar mit dem Verdacht, dass es im Dienste einer politischen Gruppe steht. Ich möchte zuerst über diese zwei Ebenen der Konfliktlösung sprechen – über die parlamentarische und über die verfassungsgerichtliche, also über zwei unterschiedliche und zugleich ähnliche Diskurse. Dann möchte ich die Entscheidungen des tschechischen Verfassungsgerichts im Lichte dieser rechtsphilosophischen Ansätze vorstellen. II. ZWEI UNTERSCHIEDLICHE DISKURSE Das gerichtliche und das parlamentarische Verfahren konzentrieren sich natürlich auf ganz andere Schwerpunkte. Nach John Rawls5 sollte sowohl das Parlament als auch das Gericht die Idee der öffentlichen Vernunft ausdrücken; die Idee bezieht sich auf die Diskussion von Fragen im öffentlichen politischen Forum: „Innerhalb dieses Forums lassen sich drei Teile unterscheiden: der Diskurs von Richtern in ihren Urteilen und insbesondere von Verfassungsrichtern, der Diskurs der Regierungsbeamten und insbesondere der leitenden Personen und Gesetzgeber und schließlich der Diskurs der Kandidaten für öffentliche Ämter...“6. Der Inhalt der öffentlichen Vernunft ist: „Die auf dem Kriterium der Reziprozität beruhende Idee der politischen Legitimität besagt demnach: Unsere Ausübung politischer Macht ist nur dann angemessen, wenn wir aufrichtig davon überzeugt sind, dass die Gründe, welche wir für unsere politische Handlungen anführen würden – wenn wir sie als Regierungsbeamte formulieren müssten – , ausreichen, und wenn wir außerdem vernünftigerweise davon überzeugt sind, dass andere Bürger diese Gründe ebenfalls vernünftigerweise akzeptieren könnten.“7(...) „Wir appellieren auch nicht an das Eigeninteresse jeder Person oder jeder Gruppe... Vielmehr betrachten wir Personen als vernünftig und rational, als freie und gleiche Bürger mit den beiden moralischen Vermögen8...“9 3
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In den nächsten zwei Jahren kamen noch kontroversere Entscheidungen: die Aufhebung des Verfassungsgesetzes über die Verkürzung der fünften Wahlperiode des Abgeordnetenhauses (Urteil N. 318/2009 Sb.) und das Urteil über die Teilverfassungswidrigkeit des Rentenversicherungsgesetzes (N. 135/2010 Sb.). Diesmal waren die Vorwürfe des Gerichtaktivismus noch viel stärker zu hören. Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1996, S. 406. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main 1998, S. 312–363. Rawls, Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft, in: ders., Das Recht der Völker, Berlin 2002, S. 168. Rawls (Fn. 6), S. 172. D. h. die Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten. Rawls (Fn. 6), S. 208.
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So läuft auch die Diskussion im Parlament, nicht aus der Sicht gesellschaftlicher Gruppen, sondern aus der allgemeinen Sicht – mindestens in der offenen Debatte. Justiz ist aber trotzdem „der einzige Zweig der Staatsgewalt, bei dem es offen zutage liegt, dass er ein Geschöpf dieser Vernunft und nur dieser Vernunft ist. Bürger und Parlamentarier dürfen in Übereinstimmung mit ihren umfassenderen Überzeugungen abstimmen, wenn es nicht um wesentliche Verfassungsinhalte und Fragen grundlegender Gerechtigkeit geht, sie müssen nicht durch öffentlichen Vernunftgebrauch rechtfertigen, wofür sie ihre Stimme abgeben, und sie müssen die Gründe für ihre Entscheidungen auch nicht mit einer kohärenten Interpretation der Verfassung in Übereinstimmung bringen. Die Aufgabe der Richter ist es dagegen, genau dies zu tun, und dabei stehen ihnen keine andere Vernunft und keine anderen Werte zur Verfügung als die politischen. Darüber hinaus müssen sie dem folgen, wovon sie glauben, dass es von den bereits vorliegenden Verfassungsgerichtsurteilen, Praktiken, Traditionen und verfassungsrechtlich relevanten historischen Texten gefordert wird.“10
Dieser Unterschied, also ein höherer Objektivitätsgrad des richterlichen Diskurses, erinnert uns an Ronald Dworkin und seine Unterscheidung von principles und policies. In jeder politischen Entscheidung, sowohl in der Gesetzgebung, als auch in der Justiz, spielen nach Dworkin eine Rolle erstens Forderungen der Gerechtigkeit, der Fairness oder einer anderen Dimension der Moral (Prinzipien) und zweitens kollektive Ziele der Gesellschaft, also Sicherstellung einer bestimmten politischen, ökonomischen oder sozialen Lage (Politiken).11 Politiken sind aber grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten, der Richter soll nach Prinzipien entscheiden. Rawls und Dworkin unterscheiden also beide Diskurse sehr ähnlich. Wir werden jedoch sehen, dass das Verfassungsgericht ziemlich oft auch policies, also Gemeinwohlargumente, anwendet. III. KONTROVERSE ENTSCHEIDUNGEN DES TSCHECHISCHEN VERFASSUNGSGERICHTS IM JAHRE 2008 1. ARBEITSGESETZBUCH: URTEIL PL. ÚS 86/06, N. 116/2008 SB., VOM 12. MÄRZ 2008 (TEILVERFASSUNGSWIDRIGKEIT DES NEUEN ARBEITSGESETZBUCHES) Im Mai 2006 hat die sozialdemokratische Regierung mit Hilfe der kommunistischen Stimmen und gegen den Willen des Senats und des Präsidenten in der Abgeordnetenkammer das neue Arbeitsgesetzbuch12 durchgesetzt. Nach der Opposition sollte das alte Arbeitsgesetzbuch vom Jahre 1965 durch ein viel liberaleres ersetzt werden, aber die linke Regierung hat dies mit einem vermutlich von den Gewerkschaften geschriebenen Gesetz unterlaufen. Auf Antrag der konservativ-liberalen Senatoren von der Demokratischen Bürgerpartei (ODS), die aber inzwischen Regierungspartei wurde, hat das Verfassungsgericht Teile des Arbeitsgesetzbuches im März 2008 aufgehoben.
10 Rawls (Fn. 6), S. 339. 11 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main 1984. 12 Gesetz N. 262/2006 Sb.
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Das Verfassungsgericht griff erstaunlicherweise in die Konstruktion des Gesetzbuches mit dem Argument der Einheit des Privatrechts ein. Im Folgenden möchte ich einige interessante Elemente dieser Entscheidung erörtern. 1. Aufhebung des Delegationsprinzips. Die Tradition eines selbstständigen Arbeitsgesetzbuches ist in Tschechien älter als 40 Jahre. Es stellt uns vor das Problem der Beziehung zum tschechischen Bürgerlichen Gesetzbuch. Das neue Arbeitsgesetzbuch hat die subsidiäre Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Arbeitsrecht verhindert und wählt die Methode der speziellen, direkten Verweise auf bestimmte Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches (Delegationsprinzip). Das Bürgerliche Gesetzbuch darf nach § 4 nur angewendet werden, wenn es ausdrücklich geregelt ist. Das Verfassungsgericht fand jedoch das Delegationsprinzip verfassungswidrig wegen einer Kollision mit dem Rechtsstaatsprinzip. Das bürgerliche Recht ist historisch und systematisch das allgemeine Privatrecht, und deswegen gilt das Bürgerliche Gesetzbuch subsidiär für das ganze Privatrecht. Ohne diese Subsidiarität ist die Beziehung zwischen privatrechtlichen Rechtsgebieten gebrochen und das führt zur beträchtlichen Unsicherheit in arbeitsrechtlichen Beziehungen. 13 Zu dieser Argumentation des Gerichts kann man sagen, dass sie rechtsdogmatisch überzeugt. Das Gericht schützt hier System und Effizienz des Privatrechts. Es ist aber fraglich, ob solche Verstöße des Gesetzgebers gegen das System auch verfassungsrechtliche Dimension haben und zur Derogation führen sollen. 2. Zwingende und einseitig zwingende Normen. Das Verfassungsgericht fand auch Teile der allgemeinen Bestimmung über die zwingenden Normen im § 2 Abs. 1 AGB verfassungswidrig. Aufgehoben wurde vor allem der Grundsatz, dass von den verpflichtenden Bestimmungen nur zugunsten des Arbeitnehmers abgewichen sein kann. Der Grund für die Aufhebung war eine zu weit zu gehende Beschränkung der Vertragsfreiheit als eines allgemeinen liberalen Prinzips und eine Kollision mit der Berufs- und Unternehmensfreiheit des Arbeitgebers.14 Welche Bestimmung zwingend ist und welche nicht, entscheidet jetzt nur das Kriterium von der „Natur der Bestimmung“ im ersten Satz. 3. Relative und absolute Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte. Das Gesetzbuch bevorzugt die relative Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte, aber mit Ausnahme derer, die auf Entstehung des Arbeitsrechtsverhältnisses gerichtet sind (§ 20). Diese Ausnahme hielt das Verfassungsgericht für verfassungswidrig wegen mangelndem Schutz jener Arbeitnehmer, die nach mangelhaftem Arbeitsvertrag gearbeitet haben. Das soll ein Verstoß gegen das Rechtssicherheitsprinzip sein.15 Diese Aufhebung ist auch problematisch. Natürlich ist die Regelung im Gesetzbuch unpraktisch und wahrscheinlich auch ungerecht. Das muss jedoch nicht für die Verfassungswidrigkeit genügen, wenn weitere verfassungsrechtliche Argumentation fehlt. 4. Weisungs- und Kontrollkompetenz der Gewerkschaften. Das neue Arbeitsgesetzbuch favorisierte stark die Gewerkschaften und gab ihnen Befugnisse zu kontrollieren, ob der Arbeitsgeber alle Rechtsvorschriften einhält (§ 321). Zum Schutz 13 Urteil Pl. ÚS 86/06, N. 116/2008 Sb., v. 12. März 2008, Ziff. 209. 14 Urteil (Fn. 13), Ziff. 198. 15 Urteil (Fn. 13), Ziff. 227.
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des Lebens und der Gesundheit dürften die Gewerkschaften gegenüber dem Arbeitsgeber verbindliche Weisungen erlassen (§ 322). Beides hat das Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Diese Verfassungswidrigkeit ist meiner Meinung nach weniger umstritten. Die Argumentation des Gerichts, dass die Gewerkschaften damit de facto die typische Obrigkeitsfunktion des Staates übernehmen zum Last der Gleichheit in Privatrechtsbeziehungen,16 ist überzeugend. Die Gewerkschaften könnten auf solche Weise Pflichten ihres Kontrahenten einseitig bestimmen und das ist im Rechtsstaat nicht möglich. Zusammenfassung. Das Verfassungsgericht hat in diesem Fall in manchen Fragen eher eine Rolle eines Professors im Zivilrecht übernommen und zeigt die richtige Beziehung des Arbeitsrechts und des Bürgerlichen Rechts, dann den richtigen Umgang mit den zwingenden Normen und der absoluten Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte. Das Verfassungsgericht benutzte eher rechtspolitische als verfassungsrechtliche Argumente und wiederholte den Parlamentsdiskurs. 2. GESETZ ZUR STABILISIERUNG DER ÖFFENTLICHEN HAUSHALTE a) Urteil Pl. ÚS 24/07, N. 88/2008 Sb., vom 30. Januar 2008 (Verfassungsmäßigkeit der gesetzgebenden Prozedur) Nach den Wahlen von 2006 wurde das umfangreiche Reformgesetz „zur Stabilisierung der öffentlichen Haushalte“ von 200717 von der linken Opposition nach Brünn geschickt. Die Rechts-Mitte-Koalition hatte nämlich 50 Gesetzesänderungen aus verschiedenen Rechtsgebieten in einem umfassenden Gesetzentwurf vorgelegt. Das Paket beinhaltete wesentliche Änderungen im Steuerrecht, Sozialrecht, Arbeitsrecht und Verwaltungsrecht, u. a. die umstrittene Einführung der gesetzlichen Gebühren für allgemeine Gesundheitspflege und Aufhebung des Krankengeldes in den ersten drei Tagen der Krankheit. Auch das Gesetzgebungsverfahren wurde angefochten. Das Verfassungsgericht hat (zum ersten Mal in der Geschichte) den Fall geteilt und getrennt entschieden; zuerst über die Gesetzgebungsprozedur, dann über das Sozialwesen und schließlich über das Gesundheitswesen. Diese Entscheidungen waren noch kontroverser als der Fall Arbeitsgesetzbuch. Der Antrag gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzgebenden Prozedur stützte sich auf das Urteil Pl. ÚS 77/06, N. 37/2007 Sb., wo das Gericht die Gesetzesänderungen, die keinen unmittelbaren Sachzusammenhang mit dem Entwurf haben (wild riders), für verfassungswidrig erklärt. Zum Nachteil der Rechtssicherheit war der Gesetzentwurf der Regierung thematisch äußerst divergent und dazu noch im Parlament von den Regierungsparteien wesentlich geändert worden. Das Gericht wich vom älteren Urteil ab und fand das Gesetz nicht verfassungswidrig, formulierte jedoch Bedenken hinsichtlich des Vorgehens des Regierungslagers. Diese zwei Urteile aus den Jahren 2007 und 2008 sind sehr bedeutend, weil sie die Bahn zur Aufhebung der Gesetze aus formellen Gründen weitgehend öffnen.
16 Urteil (Fn. 13), Ziff. 296–298. 17 Gesetz N. 261/2007 Sb.
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b) Urteil Pl. ÚS 2/08, N. 166/2008 Sb., vom 23. April 2008 (Verfassungswidrigkeit keines Krankengeldes in den ersten drei Tagen der Krankheit) Nach einigen Monaten kam es zur materiellen Überprüfung des Gesetzes. Das Verfassungsgericht stand vor einer schwierigen Aufgabe, die verfassungsrechtlich verankerten sozialen Rechte grundsätzlich auszulegen. Die tschechische Grundrechtscharta schützt die sozialen Rechte in Art. 26 – 35, u. a. das Recht auf Arbeit, soziale Versorgung, Gesundheitspflege und Bildung. Diese Rechte kann man jedoch nach Art. 41 nur im Rahmen der Ausführungsgesetze geltend machen. Das hindert aber nicht einen Antrag in der abstrakten Normenkontrolle. Das Verfassungsgericht legt es so aus, dass die konkrete Gestaltung der sozialen Rechte weitgehend in Händen des Gesetzgebers liegt. Die Höhe der Sozialleistungen ist von den Haushaltsmöglichkeiten des Staates abhängig. Die sozialen Rechte dürften jedoch nicht ganz negiert oder annulliert werden; der minimale Standard, der unantastbare Kern der sozialen Rechte, muss beibehalten werden.18 Dieser Auslegung kann man nur zustimmen. Erstaunlicherweise hat das Gericht in diesem Urteil die dreitägige Karenzfrist, in der das Krankengeld nicht zusteht, aufgehoben. Das Gericht sah darin eine Negation des Rechtes auf soziale Versorgung, weil in den ersten drei Tagen der Krankheit das Krankengeld auf Null sinkt. Der Staat, so sagt das Gericht, reagiere zu bequem und willkürlich auf Missbrauch der sozialen Leistungen durch eine unbestimmte Zahl der Bürger.19 Es ist aber zweifelhaft, ob die Karenzfrist, die in Europa ziemlich üblich ist, wirklich eine Negation des allgemeinen Rechtes auf eine angemessene materielle Versorgung während der Arbeitsunfähigkeit (Art. 30 Grundrechtscharta) bedeutet. Das Urteil kann kritisiert werden wegen mangelhafter Verbindung zwischen allgemeinen Prinzipien und der konkreten Sachlage. Umstritten ist es vor allem im Vergleich mit dem folgenden abweisenden Urteil im Gesundheitswesen.
c) Urteil Pl. ÚS 1/08, N. 251/2008 Sb., vom 28. Mai 2008 (Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Gebühren für allgemeine Gesundheitspflege) Die Einführung von gesetzlichen Gebühren für die allgemeine Gesundheitspflege war ein großes politisches Thema des Jahres 2008. Trotz des Widerstands der linken Opposition, der Öffentlichkeit und auch der Ärzte hat die Regierung Gebühren in Höhe von etwa 1 (bzw. 3) Euro für jeden Arztbesuch eingeführt. Das Gesetz spricht von Regulationsgebühren; sie sind gegen die Überbeanspruchung der Gesundheitspflege gerichtet. Vom Anfang an stießen die Gebühren auf verfassungsrechtliche Bedenken. Art. 31 Satz 2 der Grundrechtscharta lautet nämlich: „Die Bürger haben aufgrund der öffentlichen Versicherung das Recht auf eine kostenlose Gesundheitspflege unter gesetzlichen Bedingungen.“ Eine Flächeneinführung der Gebühren scheint prima facie verfassungswidrig zu sein. Auf der anderen Seite sind solche Gebühren oder Zahlungen in Europa üblich und wahrscheinlich auch notwendig zur vernünftigen Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. 18 Urteil Pl. ÚS 2/08, N. 166/2008 Sb., v. 23. April 2008, Ziff. 52 – 56. 19 Urteil (Fn. 18), Ziff. 63.
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Das Verfassungsgericht bedient sich in diesem Fall mehrerer theoretischer Konstruktionen. Zuerst spricht es über das Prinzip der Zurückhaltung und des minimalen Angriffs in solchen politischen Fragen.20 Dann kam das Gericht zum Vernünftigkeitstest und bietet vier Schritte zur Prüfung einer Sozialrechtsbeschränkung an: 1. Bestimmung des Kerns jedes sozialen Rechtes. 2. Bewertung, ob das Gesetz diesen Kern antastet. Wenn doch, wendet das Gericht das Verhältnismäßigkeitsprinzip an. Wenn nicht, dann 3. Beurteilung, ob das Gesetz einen legitimen Zweck hat und nicht willkürlich ist. 4. Bewertung, ob der Einsatz der gesetzlichen Mittel vernünftig ist.21 Dieses Schema ist sehr freundlich gegenüber den sozialen Rechten, denn es ermöglicht auch Angriffe, die außerhalb des unantastbaren Kerns des sozialen Rechtes liegen, als verfassungswidrig anzusehen, wenn kein legitimer Zweck verfolgt wird oder wenn sie unvernünftig sind. Das steht in gewissem Widerspruch zur These des vorigen Urteils, dass die konkrete Gestaltung der sozialen Rechte weitgehend in Händen des Gesetzgebers liegt. Interessanterweise führte jedoch diese veränderte theoretische Basis zum umgekehrten Ergebnis. Das Verfassungsgericht wendet sein Schema eher oberflächlich an. Das Recht auf eine kostenlose Gesundheitspflege auf Basis einer öffentlichen Versicherung soll den Kern in einem obligatorischen System der öffentlichen Versicherung darstellen, und dieser Kern wurde nicht angetastet. Den legitimen Zweck der Regelung sieht das Gericht in der Übernutzungsverhinderung und in der höheren Wahrscheinlichkeit, dass die Pflege gerade die wirklich Kranken bekommen.22 Und die Regelung sei auch nicht „offensichtlich unvernünftig“, weil die Gebühren keinen allgemeinen „Drosselungseffekt“ haben und nicht zur Unzugänglichkeit der Gesundheitspflege führen.23 Die Abstimmung war jedoch sehr knapp, mit 8 Ja-Stimmen und 7 Gegenstimmen (beim Krankengeld war das Urteil einstimmig) und viele große Persönlichkeiten des Gerichts, u. a. sein Präsident Pavel Rychetský, Vizepräsident Prof. Pavel Holländer und Vizepräsidentin Eliška Wagnerová, schrieben ihr votum separatum. Diese drei Urteile über das Gesetz zur Stabilisierung der öffentlichen Haushalte führten zu heftigen Diskussionen auch in der Gesellschaft. Die Politisierung der Justiz wurde zuerst der Opposition und dann auch dem Verfassungsgericht selbst vorgeworfen. Die sozialdemokratische Opposition hat jedoch nur seine Pflicht im Sinne Schneiders erfüllt, ihre verfassungsrechtlichen Bedenken zu äußern. Es wurde bezweifelt, ob das Verfassungsgericht, dessen Richter überwiegend von dem rechten Staatspräsidenten mit der Zustimmung vom ebenfalls rechten Senat ernannt sind, solchen links-rechten Streit unparteiisch entscheiden kann. Es gibt jedoch keine Indizien, dass das Gericht nicht unabhängig ist, und solche Kritik finde ich (im Gegensatz zur theoretischen und rechtsdogmatischen Kritik) unbegründet. Es ist aber klar, dass das Verfassungsgericht in diesem Fall auf seine starke Machtsposition unbeabsichtigt aufmerksam machte.
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Urteil Pl. ÚS 1/08, N. 251/2008 Sb., v. 28. Mai 2008, Ziff. 88. Urteil (Fn. 20), Ziff. 103. Urteil (Fn. 20), Ziff. 106–108. Urteil (Fn. 20), Ziff. 118.
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Das Verfassungsgericht stand vor einer sehr schwierigen Aufgabe. Es musste so heikle Streitigkeiten um das Sozialstaatsprinzip bisher nicht entscheiden. In einem demokratischen, liberalen und sozialen Rechts- und Verfassungsstaat ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle unentbehrlich, das Verfassungsgericht muss sich aber auf den Schutz des unantastbaren Kerns der sozialen Rechte beschränken und seine Entscheidungen (sowohl den Inhalt, als auch die Legitimität) gut begründen und sich einer ständigen öffentlichen Diskussion stellen. Es ist aber problematisch, wenn die Entscheidungen wegen ihres mangelnden rechtsphilosophischen und theoretischen Hintergrunds widersprüchlich sind. Rechtssicherheit kann nur eine klare Rechtsdogmatik und eine gute Rechtsphilosophie geben. IV. ROLLE DES VERFASSUNGSGERICHTS Tschechien hat nach deutschem Vorbild ein sehr starkes Verfassungsgericht. Das Gericht besitzt die Kompetenz, nicht nur verfassungswidrige Gesetze aufzuheben, sondern auch alle Entscheidungen anderer Gerichte, wenn sie die Grundrechte verletzen. Was sind „politische Fragen“ (political questions)? Diese Kategorie hat wenig Sinn im kontinentalen System, das Verfassungsgericht muss als Schiedsrichter der Politik wirken. Entscheidungen über den Inhalt der sozialen Rechte sind ein Musterbeispiel. Es ist sehr dringend zu fragen, ob hier nicht das Prinzip der Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bevorzugt werden soll. Robert Alexy bietet zur Lösung der möglichen Konflikte zwischen dem Parlament und dem Verfassungsgericht sein Abwägungsmodell so an, dass „jedem die leistungsrechtlichen Positionen als soziale Grundrechte zukommen, die vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus so wichtig sind, dass ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann. Nach dieser Formel ist die Frage, welche sozialen Grundrechte der einzelne definitiv hat, eine Frage der Abwägung zwischen Prinzipien. Auf der einen Seite steht vor allem das Prinzip der faktischen Freiheit. Auf der anderen Seite stehen die formellen Prinzipien der Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und das Gewaltenteilungsprinzip sowie materielle Prinzipien, die sich vor allem auf die rechtliche Freiheit anderer, aber auch auf andere soziale Grundrechte sowie auf kollektive Güter beziehen“.24
Rechtssicherheit kann nur, wie gesagt, eine klare Rechtsdogmatik und eine gute Rechtsphilosophie stiften. Unter dieser Bedingung könnten auch policies im Sinne Dworkins in der verfassungsrechtlichen Argumentation berücksichtigt werden, bei den „politischen“ Fragen, wie beim Sozialstaatsprinzip, geht es nicht anders. Robert Alexy hat Recht, dass wir eine solche Rechtsanwendungsprozedur brauchen, deren Wertungen einer rationalen Kontrolle zugänglich sind: „Die Erarbeitung einer rationalitätssichernden Prozedur der Rechtsanwendung ist Gegenstand der Theorie der juristischen Argumentation. Diese steht vor zwei Aufgaben: (…) Entwicklung von Methodenregeln, die die Bindung an sie sichern (…) ein System von Methodenregeln, das in jedem Fall genau ein Ergebnis festlegt, nicht möglich ist. (…) sind Wertungen erforderlich, die sich nicht dem autoritativ vorgegebenen Material nicht zwingend entnehmen lassen. Die Ratio-
24 Alexy (Fn. 4), S. 465.
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nalität der Rechtsanwendungsprozedur hängt damit wesentlich davon ab, ob und in welchem Umfang diese zusätzlichen Wertungen einer rationalen Kontrolle zugänglich sind.“25
Alexy fordert ein Höchstmaß an sprachlich-begrifflicher Klarheit, empirischer Informiertheit, Verallgemeinerbarkeit und Vorurteilsfreiheit als Postulate prozeduraler praktischer Rationalität.26 Die Zurückhaltung des Verfassungsgerichts liegt dann meiner Meinung nach vor allem darin, dass die Argumentation des Gerichts diese Postulate praktischer Rationalität berücksichtigt. Erst dann gilt Alexys Satz, dass ein gemäßigter Konstitutionalismus diejenige Konzeption des Rechtssystems ist, die ein Höchstmaß praktischer Vernunft zu realisieren vermag.27 Das Verfassungsgericht ist in heutigem Verfassungsstaat ein Schiedsrichter der Politik, das kann man nicht bezweifeln. Am besten ist es, wenn das Gericht in dieser Rolle auch die Idee der öffentlichen Vernunft verkörpert. Dazu führt nur der Weg der rechtsphilosophischen Klarheit der Kompetenzen, der Schranken und einer methodischen Vorgehensweise des Verfassungsgerichts, die rational kontrollierbar sind. Das tschechische Verfassungsgericht bemüht sich, diesen Weg zu suchen, und trotz der Kritik mancher seiner Einzelentscheidungen ist sein Streben erfolgreich. Das Verfassungsgericht trägt wesentlich zur Kultivierung der Politik und des öffentlichen Diskurses in Tschechien bei. Anschrift des Autors JUDr. Mgr. Jan Wintr, Ph.D. Karlsuniversität Prag Juristische Fakultät Lehrstuhl für die Rechtstheorie und Rechtslehre nám. Curieových 7 116 40 Praha 1 E-Mail: [email protected] Homepage: http://wintr.webz.cz/
25 Alexy, Rechte und Prinzipien, in: Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs: Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 229. 26 Alexy (Fn. 25), S. 230. 27 Alexy (Fn. 25), S. 231.
NORBERT CAMPAGNA* HEGUNG ODER LÖSUNG? ZUR ROLLE DES RECHTS IN KONFLIKTEN I. EINLEITUNG Der menschliche Alltag, von den privaten zwischenmenschlichen bis hinauf zu den öffentlichen zwischenstaatlichen Beziehungen, ist durch Konflikte gekennzeichnet. Die Gründe und Ursachen für diese Konflikte sind ganz unterschiedlicher Natur, und dasselbe gilt auch für die Art und Weise, wie sie ausgetragen werden. Dies reicht von besonnenen, friedlichen Diskussionen über hitzige Debatten bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, in denen die Gewaltbereitschaft sich bis zur Tötungsbereitschaft steigern kann. An diesem Faktum wird sich bis auf weiteres kaum etwas Wesentliches ändern – wie sehr man dies auch in einzelnen Fällen bedauern mag. Cicero und Machiavelli1 unterscheiden grundsätzlich drei Weisen, in denen solche Konflikte ausgetragen werden können, wovon zwei als nicht-ideal, aber manchmal notwendig, und die dritte als ideal, aber nicht immer möglich betrachtet werden. Die nicht-idealen Austragungsweisen werden jeweils mit einem Tier in Verbindung gebracht. Wer die Überhand in einem Konflikt behalten will, kann dies entweder mit Hilfe der Gewalt des Löwen oder mit Hilfe der List des Fuchses erreichen. Will er aber den Konflikt auf die dem Menschen einzig angemessene Weise austragen, dann muss er es mit Hilfe des Rechts und des Gesetzes tun, was aber, so beide Autoren, nicht immer möglich ist. Dass jede der Konfliktparteien den Konflikt zu ihrer eigenen Gunst entschieden sehen will, ist verständlich, zumal dann, wenn sie sich in ihrem guten Recht wähnt – und dies dürfte ziemlich oft der Fall sein. Jede Partei wird natürlich damit rechnen müssen, dass sie im Konflikt unterlegen sein wird, selbst dann, wenn sie von der Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs oder ihrer Position überzeugt ist. Wir leben nicht in einer Welt, in welcher das Recht immer obsiegt, und man kann sich höchstens mit dem Gedanken trösten, dass nach dem Tode die rechtmäßigen Verhältnisse wieder hergestellt werden. Hat eine Partei sich aus einer völlig anormativen Perspektive für eine der drei Austragungsweisen zu entscheiden, so wird sie jene Weise wählen, die ihr die größten Chancen auf Erfolg bietet. Dabei wird sie, wenn sie glaubt, das Recht auf ihrer Seite zu haben, ihren Sieg als einen Sieg des Rechts betrachten. Und um das Recht zum Sieg zu bringen, wird sie auch den Rückgriff auf gewalttätige bzw. listige Mittel als gerechtfertigt betrachten. Zumindest bei Cicero scheint es plausibel anzunehmen, dass die These der punktuellen Notwendigkeit gewalttätiger Mittel auch den Fall abdeckt, in dem der mit dem Recht auf seiner Seite Kämpfende den Konflikt nur dann zu seinen, und damit auch der Gerechtigkeit Gunsten entscheiden kann, wenn er einen anderen Weg als den des Rechts wählt. Dies wird meistens dann der Fall sein, * 1
Professeur-associé an der Université du Luxembourg Marcus Tullius Cicero, De officiis/Vom pflichgemäßen Handeln, Stuttgart 1995, S. 41; Niccolò Machiavelli, Il principe, in: ders., Tutte le opere, Florenz 1992, S. 283.
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wenn sein Widersacher sich der List oder der Gewalt bedient. Der Mensch wird zum Fuchs oder Löwen, wenn er sich den Angriffen von Füchsen oder Löwen ausgesetzt sieht und diese nicht mehr als Mensch abwehren kann. Und sollte er dann gar aus den Füchsen oder Löwen Teufel machen, dann wird er sich selbst auch nicht mehr als Mensch, sondern als Gott betrachten. Und es gibt zumindest einen theologischen Traditionsstrang, der Gott an keine normativen Vorgaben bindet und ihm das Recht zuspricht, absolut frei darüber zu entscheiden, wen er vernichten will. In diesem Beitrag möchte ich die Rolle des Rechts in Konflikten untersuchen. Ich werde also die Konturen einer Art Kritik der rechtlichen Vernunft skizzieren, wobei ich mich auf die Dimension der Konfliktualität beschränke. Ich werde von einem Recht ausgehen, das mit dem Anspruch auftritt, die Konflikte lösen zu können. Als solches wähnt es sich über den Konfliktparteien und löst den Konflikt gewissermaßen an ihrer Stelle. Im Lösungsprozess liefern die Parteien lediglich den Anlass zur Lösung. Ein über ihnen stehendes Recht, ausgelegt durch einen über ihnen stehenden Richter, entscheidet. Dabei kann es durchaus der Fall sein, dass die Parteien sich freiwillig dafür entschieden haben, dem Recht und seinen autorisierten Interpreten die Lösung des Konflikts zu überlassen. Sie haben also freiwillig darauf verzichtet, eine andere als eine eben rechtliche Lösung zu finden. Dass dabei das Recht entscheiden soll, impliziert nicht nur, dass nicht die Gewalt und die List entscheiden, sondern es impliziert auch, dass nicht durch eine Diskussion zwischen den Konfliktparteien versucht wird, eine Entscheidung zu finden, eine Entscheidung die dann nicht den Parteien durch einen überparteilichen Dritten vorgegeben wird. Das Problem, das in diesem Beitrag behandelt werden soll, könnte wie folgt formuliert werden: Ist es immer wünschenswert, dass die Konflikte eine rechtliche Lösung finden? Oder anders gesagt: Sollte man immer im Recht eine Lösung für Konflikte finden können und sollte einem Zustand entgegen gestrebt werden, in dem das Recht jeden Konflikt löst? Damit soll keineswegs der Gedanke nahegelegt werden, dass es manchmal wünschenswert sein könnte, den Konflikt mittels Gewalt oder List zu lösen oder zu beenden. Zu einem solchen Schluss wird man nur dann kommen, wenn man nicht den Unterschied zwischen der Substanz der Lösung und den Modalitäten des Lösungsfindungsprozesses unterscheidet. Oder mit anderen Worten, wenn man nicht unterscheidet zwischen einer Rechtsnorm, die den Inhalt der Lösung bzw. die fertige Lösung liefert, ohne dass die Parteien diesen Inhalt im Rahmen des Konfliktes auch nur im Geringsten mitbestimmen konnten, und einer Rechtsnorm, die den Lösungsfindungsprozess umrahmt, ohne allerdings den substantiellen Inhalt der Lösung zu beeinflussen. Man wird also unterscheiden müssen zwischen einem Recht, das mit dem Anspruch auftritt, die Konflikte zu lösen, und einem Recht, das sich bescheidener hält und nur den Anspruch erhebt, den Prozess der Konfliktlösung zu hegen. In seinem zuerst 1942 veröffentlichten Buch The new Leviathan, schreibt der englische Philosoph Robin Collingwood: Granted that these ,conflicts‘ (non-agreements, not disagreements) are inevitable, how are they to be dealt with? There are two possibilities. They may be dealt with dialectically: that is by a process leading from non-agreement to agreement; or they may be dealt with eristically, that is, by hardening non-agreement into disagreement and settling the disagreement by a victory of one party over the other. To adopt the second alternative is to make war2.
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Robin G. Collingwood, The new Leviathan, Oxford 2000, S. 229.
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Das Recht sollte dazu beitragen, den Übergang vom „non-agreement“ zum „agreement“ zu ermöglichen, allerdings zu einem „agreement“, das von beiden Seiten frei akzeptiert werden kann. Gleichzeitig sollte das Recht dazu beitragen zu verhindern, dass aus dem „non-agreement“ ein „disagreement“ wird. Wo es letzteres nicht verhindern kann, sollte es sich darum bemühen, die Bedingungen aufrecht zu erhalten, unter denen sich das „disagreement“ wieder in ein bloßes „non-agreement“ verwandeln kann bzw. unter denen zukünftige „non-agreements“ sich nicht unbedingt wieder in „disagreements“ verwandeln. II. MICHEL VILLEYS ZURÜCKWEISUNG EINER RECHTLICHEN EINMISCHUNG IN INNERFAMILIÄRE UND INTERNATIONALE KONFLIKTE Sehen wir uns die menschliche Geschichte an, so werden wir leicht feststellen können, dass der rechtliche Diskurs seinen Eintritt in immer mehr Sphären der menschlichen Existenz gefunden hat, dass es also zu einer stetigen Verrechtlichung menschlicher Beziehungen gekommen ist. Wo in der Vergangenheit gar keine oder höchstens bloß moralische Ansprüche erhoben wurden, werden heute rechtliche, durch das positive Gesetz anerkannte Ansprüche erhoben. Als eines unter vielen Beispielen seien hier nur die Prozesse erwähnt, in denen Kinder ihre Eltern vor Gericht ansuchen, damit diese ihnen das Studium weiter finanzieren. Vor einem Vierteljahrhundert schrieb der sich an eine bestimmte Interpretation des Römischen Rechts inspirierende französische Rechtsphilosoph Michel Villey noch Folgendes: Das Recht hat sich nicht in die interne Ordnung der Familie einzumischen (Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern und den Sklaven), noch in die Beziehungen zwischen politischen Gemeinschaften. Denn der Jurist wird eine gewisse Proportion nur dann bestimmen können, wenn die Personen verschieden, aber gleichzeitig auch unter bestimmten Gesichtspunkten gleich sind. Die Mitglieder einer selben Familie, verbunden durch die Liebe und am selben ökonomischen Leben teil habend, sind nicht genügend ‚anders‘, wenn man ihr Verhältnis zueinander betrachtet – ‚der Sohn ist etwas vom Vater‘. Der Gleichheitsfaktor fehlt zwischen Bürgern und Fremden3.
Villey schließt hier die Möglichkeit aus, dass bei innerfamiliären und bei internationalen Konflikten das Recht seinen Platz hat. Einen Platz gibt es nur dort für das Recht, wo weder die Gleichheit noch die Ungleichheit zwischen den sich im Konflikt befindenden Parteien ein bestimmtes, höchstens qualitativ und nicht quantitativ zu definierendes, Maß übersteigt. Im Falle der Familie herrscht eine zu große Gleichheit zwischen den Mitgliedern – es fehlt der Ungleichheitsfaktor – , und im Fall der politischen Gemeinschaften herrscht eine zu bedeutende Ungleichheit zwischen dem Mitglied einer Gemeinschaft und demjenigen einer anderen – es fehlt also der Gleichheitsfaktor. Die eben zitierte Stelle Villeys lässt sich auf eine doppelte Weise interpretieren. Zunächst so, wie Villey sie wahrscheinlich interpretiert haben wollte. Dieser Interpretation zufolge dürfte es innerhalb einer ihrem Wesen entsprechenden Familie eigentlich zu keinen Konflikten kommen. Die Familie, so wie Villey ihr Wesen begreift, ist der Ort der Liebe. Und jeder weiß, dass die Liebe nicht entzweit, sondern vereint. 3
Michel Villey, Le droit et les droits de l’homme, 2. Aufl., Paris 1990, S. 58 f.
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Wenn es demnach zu Konflikten innerhalb der Familie kommt, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass die familiäre Struktur dabei ist, sich von ihrem eigentlichen Wesen zu entfernen. Insofern Villey nun allerdings prinzipiell die Einmischung des Rechts in familiäre Beziehungen auszuschließen scheint, wird es für ihn wohl die autoritäre Figur des paterfamilias sein, die mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen wird, dass der Konflikt beendet wird. So will es nicht nur das positive Recht, sondern auch die hierarchische Ordnung der Natur. Diese autoritäre Lösung ist nicht mit der Liebe unvereinbar, wie es folgendes französische Sprichwort zum Ausdruck bringt: „Qui aime bien, châtie bien“ – frei übersetzt: Wer heftig liebt, bestraft heftig. Der Vater bestraft den rebellischen Sohn also nicht etwa, weil er ihn hasst, sondern weil er ihn dadurch wieder in die natürliche Ordnung der Familie integrieren will. Sieht man sich dann die zwischenstaatlichen Konflikte an, so wird man darauf hinweisen können, dass es hier während Jahrtausenden keine überstaatliche Autorität gab, dass es sie heute höchstens in sehr embryonaler Form gibt, und dass auch kein Staat von Natur aus einem anderen Staat unterworfen ist. Diese Konflikte scheinen somit nur durch Krieg einer Lösung zugeführt werden zu können. Entscheidet im Rahmen der Familie der paterfamilias auf Grund der Liebe, was jedem zukommt, so entscheidet dies im Falle der zwischenstaatlichen Beziehungen der Krieg. Die Mitglieder unterschiedlicher Staaten sind sich laut Villey derart fremd, dass sich kein ihnen gemeinsames Maß finden lässt. Und da sich für Villey Gerechtigkeit nicht in abstrakten Normen erschöpft, sondern ein real existierendes Verhältnis zwischen zum Teil Gleichen ausdrückt, kann es keine rechtliche Lösung zwischenstaatlicher Konflikte geben. Villeys These der Nicht-Einmischung des Rechts in intrafamiliäre und internationale Konflikte schließt sowohl die lösende wie auch die hegende Funktion des Rechts aus – zumindest scheint dies mir die Intention Villeys zu sein. Aber da ich die Passage aus Villeys polemischem Buch Le droit et les droits de l’homme nur als Anlass gewählt habe, um meinen eigenen Standpunkt zu entwickeln und es mir insofern nicht um eine möglichst angemessene Interpretation der Villeyschen Intentionen geht4, will ich einfach einmal davon ausgehen, dass man die These der Nicht-Einmischung des Rechts in die beiden oben genannten Konfliktarten sowohl auf die lösende wie auch auf die hegende Funktion des Rechts anwenden kann und dass Villey sie eben auf beide Funktionen ausgedehnt wissen will. Dagegen möchte ich behaupten, dass, wenn man Villey auch zustimmen kann, was die lösende Funktion betrifft, dies nicht für die mögliche hegende Funktion des Rechts gilt. Mag also das Recht den Familienmitgliedern und den Mitgliedern der internationalen Staatengemeinschaft keine fertigen Lösungen aufzuoktroyieren berechtigt sein, so ist es dazu berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet, den Weg zur Lösungsfindung zu umrahmen, und zwar so, dass einerseits die Möglichkeit einer gerechten, die beiden Parteien zufrieden stellende Lösung gefördert wird und dass andererseits die Vertrauensbasis aufrecht erhalten und gegebenenfalls gefördert wird, vor deren Hintergrund allein konsensuelle Lösungen möglich sind. Im Folgenden möchte ich diese Gedanken im Rahmen der innerfamiliären wie im Rahmen der zwischenstaatlichen Beziehungen entwickeln. 4
Für eine Gesamtinterpretation des Villeyschen Denkens sei verwiesen auf Norbert Campagna, Michel Villey. Le droit ou les droits ?, Paris 2004.
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III. DAS RECHT IN INNERFAMILIÄREN KONFLIKTEN Was die Familie betrifft, so könnte man unter Umständen sagen, dass die Liebe genügt, um den Konflikt zu hegen, wenn er denn schon ausgebrochen ist. Eine hegende Intervention des Rechts ist also hier gar nicht nötig. Anders im Falle der zwischenstaatlichen Beziehungen. Hier scheint es nichts zu geben, was den Konflikt hegen könnte – sieht man eventuell einmal vom Selbsterhaltungswillen einer politischen Gemeinschaft ab, der z. B. während des Kalten Krieges die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion davon abhielt, einen Nuklearkrieg zu führen, der für beide Staaten einen katastrophalen Ausgang gehabt hätte. Im Kontext der innerfamiliären Konflikte gebraucht Villey ein ontologisch angehauchtes Unerwünschtheits- sowie ein Unnötigkeitsargument, während er im Kontext der zwischenstaatlichen Beziehungen ein ontologisches Unmöglichkeitsargument benutzt. Was die innerfamiliären Konflikte betrifft, soll und braucht das Recht sich nicht einzumischen, und was die zwischenstaatlichen Konflikte betrifft, kann es sich nicht einmischen. In diesem Teil meines Beitrags werde ich mich mit dem Unnötigkeits- und dem Unerwünschtheits-, und im nächsten Teil mit dem Unmöglichkeitsargument auseinandersetzen. Ich werde zeigen, dass ein die Austragung der Konflikte hegendes Recht in innerfamiliären Beziehungen durchaus nötig und auch durchaus erwünscht sein kann, und dass ein solches Recht auch in zwischenstaatlichen Konflikten seinen Platz haben kann. Der Fehler Villeys, oder zumindest des von mir interpretierten Villeys, liegt prinzipiell nicht darin, vor der Illusion gewarnt zu haben, überall eine ihre Substanz im Recht – seien dies positive staatliche Normen oder eine von Natur aus existierende, den Willen und die Interessen der Parteien transzendierende Gerechtigkeit – suchende und findende Konfliktlösung haben zu wollen, sondern darin, dem Recht auch eine den Weg der Konfliktlösung hegende Funktion abzusprechen. Ich werde also einen großen Wert auf den Unterschied zwischen substantiellem und prozeduralem Recht legen. Das Recht sollte womöglich keine fertigen oder vorgefertigten Lösungen vorlegen oder gar aufzwingen, wohl sollte es aber Prozeduren definieren, die zu einer für alle Parteien, sofern sie bereit sind, auf die Vernunft zu hören, akzeptablen Lösung führen können. Wenn man den allgemeinen Gedanken Villeys akzeptiert, dass das Recht die Aufgabe hat, jedem das Seine zuzusprechen – suum cuique tribuere –, so wird man durchaus sagen können, dass, insofern dem Schwachen Schutz gegenüber dem Starken zukommt, das Recht vor allem die Funktion haben wird, den Schwachen vor dem Starken zu schützen – wobei man die Stärke sowohl im Sinne von Gewalt wie auch von List verstehen kann. Das Recht, so eine These, die ich hier vertreten will, soll den Schwachen in eine Position versetzen, die es ihm erlaubt, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit gleichen oder doch fast gleichen Waffen – der Begriff hier in einem metaphorischen Sinn gebraucht – gegen den Starken anzutreten. Dies kann einerseits dadurch geschehen, dass dem Schwachen, wieder metaphorisch gesprochen, die gleichen Waffen gegeben werden wie dem Starken, oder dass dem Starken untersagt wird, mit Waffen zu kämpfen, über die der Schwache nicht verfügt. Wo es einen zu großen Unterschied zwischen den Konfliktparteien gibt, scheint der Schwächere keine andere Wahl zu haben als nachzugeben oder zu Grunde gerichtet zu werden.
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In innerfamiliären Beziehungen gibt es einen sehr großen Machtunterschied zwischen den Eltern und den Kindern. Dieser ist nicht nur physischer, sondern auch ökonomischer oder finanzieller sowie affektiver Natur. Der Familienvater – aber dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Mutter – kann seine Macht nicht nur dadurch ausüben, dass er seine Kinder schlägt, sondern auch dadurch, dass er ihnen die nötigen finanziellen, affektiven oder sonstigen Ressourcen entzieht, auf die sie angewiesen sind. Es wäre sicherlich schön, wenn die Liebe der Eltern zu den Kindern erstere von solchen Maßnahmen abhalten würde, aber in vielen Familien wird man leider nicht auf diese Liebe zählen können. Hatte Machiavelli seiner Zeit im Principe geschrieben, der Fürst solle davon ausgehen, dass alle Menschen böse sind, so geht unser heutiges Rechtssystem davon aus, dass die Liebe der Eltern für die Kinder keine Selbstverständlichkeit mehr ist5 und dass man demnach nicht mehr davon ausgehen kann, dass die eventuell auftretenden Konflikte zwischen Eltern und Kindern im Geiste der Liebe ausgetragen und gelöst werden. Die Kinder bedürfen zwar immer noch der Liebe der Eltern, aber sie bedürfen auch des Schutzes durch das Recht. Somit lassen sich bereits geltende oder doch zumindest verlangte Rechtsnormen erklären, wie etwa das Verbot körperlicher Strafen – wobei natürlich die Frage aufgeworfen werden kann, ob damit jede Ohrfeige als Delikt zu betrachten ist, oder ob ein bestimmtes Maß nicht überschritten werden darf – oder Normen des Familienrechts. Das Rechtssystem mischt sich also in die innerfamiliären Beziehungen ein, allerdings nicht ausschließlich, um eine bestimmte Lösung aufzudrängen, sondern um die Konflikte zu hegen und um zu verhindern, dass die mächtigste Partei ihre Macht schonungslos ausnutzt. Eine solche Einmischung scheint mir notwendig zu sein und widerspricht nicht den wesentlichen Aufgaben des Rechts. Aber bedroht sie nicht das Wesen der Familie? Sollte diese nicht ein Ort sein, in dem die Beziehungen durch die Liebe und nicht durch das Recht gestaltet werden? Ist also die Einmischung des Rechts in die innerfamiliären Beziehungen nicht etwas Unerwünschtes? Unerwünscht wäre eine solche Einmischung, wenn sie per se die Liebesbeziehungen zerstören wollte. Aber dies ist keineswegs die Absicht. Das Recht soll nur subsidiär eingreifen, also dann, wenn die Liebe, aus welchen Gründen auch immer, versagt hat. Das Recht stellt vielmehr einen Zwischenraum zwischen Liebe und Gewalt zur Verfügung, und zwar tut es dies in einer Situation, in der man schon nicht mehr auf die Liebe zählen kann. Es reagiert auf einen Verfall der Liebe, und auch wenn man ihm vielleicht vorwerfen kann, durch diese Reaktion den Verfall der Liebe noch weiterzutreiben, so kann es darauf antworten, dass dies zwar stimmen mag, dass es aber keine andere Möglichkeit gibt, um den Verfall in die Gewalt zu verhindern. Wenn das Ideal schon bald zur Illusion geworden ist, dann sollte man sich zumindest darum bemühen, das Schlimmste zu vermeiden, auch wenn durch diese Bemühungen das Ideal noch weiter aufgegeben wird. Immer noch im Rahmen der innerfamiliären Beziehungen kann man auf die Beziehung zwischen den Ehepartnern hinweisen. Auch hier kommt es, mit mehr oder weniger großer Häufigkeit, zu Konflikten, die so banale Dinge wie das Abwaschen des Küchengeschirrs oder so bedeutsame Dinge wie die Erziehung der Kinder betreffen. Man könnte sich prinzipiell eine Gesellschaft vorstellen, in welcher das Recht eine Lösung für alle diese Konflikte anbietet. So könnte das Familienrecht 5
Wobei man fragen darf, wie weit die Wirklichkeit diesem Ideal jemals entsprochen hat.
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explizit festhalten, dass jeder der Ehepartner die Hälfte der Hausarbeit zu übernehmen hätte – zumindest dort, wo beide einer geregelten Arbeit nachgehen. Falls einer der Ehepartner sein tägliches Pensum nicht erfüllen würde, könnte er dafür sanktioniert werden. Diese Dinge könnten auch explizit in einem Ehevertrag festgehalten werden, was zumindest den Vorteil hätte, dass es die Parteien selber sind, und nicht der Gesetzgeber, die im Voraus die Modalitäten des Zusammenlebens definieren. In unserer heutigen Gesellschaft funktioniert die Ehe – glücklicherweise – nicht so. Es ist vielmehr den Ehepartnern selbst überlassen, eine beide zufrieden stellende Lösung solcher Konflikte zu finden. Das Recht interveniert aber insofern, als es, soweit es seine Mittel erlauben, die Gewalt als Medium der Lösungsfindung untersagt und deren Gebrauch unter Strafe stellt. Auch eröffnet es einer der Parteien die Möglichkeit, die Ehegemeinschaft aufzulösen, falls sie bei Konflikten systematisch oder zumindest öfter auf der Verliererseite steht. Betrachtet man die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten etwas genauer, so wird deutlich, dass das Rechtssystem vor allem versucht hat, die Stellung der Frau in solchen Konflikten zu stärken, und zwar einerseits durch Maßnahmen die sie, als meistens die schwächere der beiden Parteien, vor der Gewalt der stärkeren Partei schützt – man denke hier an die Gesetze gegen häusliche Gewalt –, und andererseits durch Maßnahmen, die ihr ein Aufkündigen der Beziehung erleichtern – Ermöglichung und daran anschließend Vereinfachung der Scheidungsprozeduren. Eine Frau kann sich heute scheiden lassen, ohne dadurch mittellos auf der Straße zu stehen. Es soll natürlich nicht verschwiegen werden, dass durch diese Maßnahmen, so wichtig und notwendig sie auch ansonsten sein mögen, sowie durch den ihnen teils schon vorhergehenden, aber sie auch begleitenden Mentalitätswandel, die offenen Konflikte sich vermehrt haben. Wer weiß, dass er keine für ihn dramatischen Konsequenzen aus dem offenen Austragen eines Konfliktes ziehen muss, wird leichter dazu neigen, auf Konfliktkurs zu gehen und seine Position dort zu behaupten, anstatt sofort nachzugeben. Kommt dann auch noch die Unfähigkeit dazu, mit Konflikten umzugehen – wie dies mir in modernen Gesellschaften der Fall zu sein scheint –, lässt sich die heutige hohe Scheidungsrate zum Teil erklären. Aus der Unfähigkeit, im Dialog eine für beide Parteien zufrieden stellende Lösung des Konflikts zu finden, entspringt der Rückgriff auf das Recht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Recht durchaus in konflikthafte innerfamiliäre Beziehungen eingreifen darf, dass es dabei aber primär darauf bedacht sein sollte, einen die Austragung dieser Konflikte hegenden Rahmen bereitzustellen. Es sollte den Parteien klare Grenzen ziehen, gegebenenfalls Prozeduren vorsehen, aber so wenig wie möglich vorgefertigte substantielle Lösungen zur Verfügung stellen. Der Inhalt dieser Lösungen sollte von den Parteien selbst, im gegenseitigen Einverständnis, ausgearbeitet werden. III. DAS RECHT IN INTERNATIONALEN KONFLIKTEN Wenn wir jetzt den Sprung von der Intimsphäre der innerfamiliären Beziehungen zur globalen Sphäre der internationalen Beziehungen wagen, so lässt sich auch der Versuch ausmachen, mittels des Rechts – zunächst des natürlichen, dann auch zunehmend des positiven –, die Konflikte zu hegen. Paradigmatisch ist hier natürlich
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die Theorie des gerechten Krieges zu nennen bzw. die Theorietradition, da man innerhalb dieser Tradition zum Teil sehr unterschiedliche Theorien wiederfindet, die, auch wenn sie alle ein gemeinsames Ziel verfolgen, dieses Ziel jedoch durch unterschiedliche Einschränkungen zu erreichen versuchen. In den Theorien des gerechten Krieges, und dort vor allem im ius in bello Teil, also in jenem Teil, der sich mit den konkreten Modalitäten der Austragung eines bewaffneten Konfliktes befasst, werden bestimmte mögliche militärische Handlungen formell untersagt. Einige der bekanntesten Beispiele sind etwa die absichtliche, durch keinen militärischen Zweck gerechtfertigte Tötung von Personen, die keine unmittelbare Gefahr darstellen, das Verbot des Gebrauchs bestimmter Waffen oder noch das Verbot der Brunnenvergiftung6. Die Theorien des gerechten Krieges tragen der Tatsache Rechnung, dass die Konflikte zwischen politischen Gemeinschaften eskalieren und zu bewaffneten Konflikten, also Kriegen, führen können. Wo zwei Staaten sich nicht über den Weg der Verhandlungen einigen können, kann es, wenn für eine oder gar beide Parteien viel auf dem Spiel steht, zu einem bewaffneten Konflikt kommen. Wo dieser schon als solcher nicht vermieden werden kann, soll zumindest vermieden werden, dass er derart ausartet, dass er jede Basis zerstört, auf der sich neue friedliche Beziehungen aufbauen lassen. Im Paragraph 57 seiner Rechtslehre verbietet Kant es den Kriegsparteien, „sich solcher heimtückischen Mittel zu bedienen, die das Vertrauen, welches zur künftigen Gründung eines dauerhaften Friedens erforderlich ist, vernichten würden“.7 Es wird kein ausdrückliches Kriegsverbot ausgesprochen – auch wenn für Kant, langfristig gesehen, der Krieg aufhören soll, ein Mittel internationaler Politik zu sein –, aber es wird zumindest darauf gepocht, rechtliche Grenzen für den Gebrauch militärischer Mittel zu ziehen. Ciceros berühmtes Inter armas silent leges wird damit zu Gunsten einer Konzeption verworfen, die eine Art minimaler Notgesetzgebung für den Kriegsfall vorsieht. Mögen auch bestimmte Gesetze im Krieg schweigen, so schweigen sie doch nicht alle, und das Recht findet auch noch einen Platz in jenem oft als gesetzeslos gekennzeichneten Zustand des Krieges. Indem beide Parteien nicht auf alle erdenklichen Mittel zurückgreifen, um den Sieg zu erringen, zeigen sie einander, dass sie in der Lage sind, sich an normativen Vorgaben auszurichten, und die Erwartung der Präsenz einer solchen Fähigkeit ist ein wesentliches Element für die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Die Theorien des gerechten Krieges bieten meistens keine ausgefeilte Lösung für den Konflikt an und schreiben auch nicht kategorisch einen bestimmten Lösungsfindungsweg vor. Sie zielen vornehmlich darauf ab, einen faktisch eingeschlagenen Lösungsfindungsweg normativ zu umgrenzen, mit dem Ziel, wie eben gesagt, das Einschlagen eines anderen, friedlichen Weges offen zu lassen. Um das am Anfang angeführte Bild wieder aufzugreifen, könnte man sagen, dass man als Löwe nicht nur löwisch, sondern gegebenenfalls auch menschlich kämpfen kann. Die Alternative ist also nicht „Löwe oder Mensch“, sondern es besteht auch eine Kombination beider Elemente, wobei die Löwen sich stets der Tatsache bewusst bleiben, dass sie eines 6 7
Einen guten Überblick über diese ganze Problematik findet man etwa bei Frederick H. Russell, The just war in the Middle Ages, Cambridge 1975. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, in: ders., Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. VIII, 5. Aufl. Frankfurt am Main 1982, S. 471.
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Tages vielleicht wieder als Menschen kämpfen werden. Und dieses Bewusstsein drückt sich konkret dadurch aus, dass sie, trotz des primär löwischen Charakters der Konfliktaustragung, die andere Partei immer noch ein Mensch bleibt und nicht völlig zum Löwen oder zur Gazelle wird, also zum Tier, gegen das man, selbst völlig Tier geworden, zumindest im Rahmen der vorgegebenen Beziehung, auf jedes Mittel zurückgreifen darf. Bei der Diskussion der innerfamiliären Beziehungen wurde darauf hingewiesen, dass das Recht zwar nicht anstelle der Parteien den Konflikt lösen kann, dass es aber dazu beitragen kann, eine Situation zu schaffen, in welcher eine für beide Parteien zufrieden stellende, und zumindest in diesem Hinblick gerechte Lösung herbeigeführt werden kann. Die Frauen müssen heute nicht mehr die ihnen durch die Männer, manchmal durch Schläge oder offenen bzw. strukturell gegebenen ökonomischen Druck, aufgedrängte Lösung akzeptieren. Eine ähnliche Bemerkung lässt sich auch für die internationalen Beziehungen machen. Im 5. Buch seines leider nur selten bis zu Ende und genau gelesenen Werkes The wealth of nations, weist Adam Smith auf die Ungerechtigkeiten hin, die die Europäer straflos gegenüber den Indianern ausüben konnten, als sie den amerikanischen Kontinent entdeckten. Wenn es also zu einem Konflikt zwischen den Einheimischen und den Europäern kam, nutzten letztere ihren enormen Machtvorsprung, bedingt vor allem durch die Feuerwaffen und die Rüstungen, aus, um ihn zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Einheimischen konnten nur auf der Verliererseite stehen, und die einzige Frage war, ob sie in einem von asymmetrischen Bedingungen ausgehenden Krieg oder in von einer asymmetrischen Basis ausgehenden Verhandlungen unterlegen sein wollten. Smith glaubt nun, dass dieser Machtunterschied eines Tages aufgehoben werden kann, so dass the inhabitants of all the different quarters of the world may arrive at that equality of courage and force, which, by inspiring mutual fear, can alone overawe the injustice of independent nations into some sort of respect for the rights of one another. But nothing seems more likely to establish this equality of force than that mutual communication of knowledge and of all sorts of improvements which an extensive commerce from all countries to all countries naturally, or rather necessarily, carries along with it8.
Die von Smith hier gewünschte „mutual communication of knowledge and of all sorts of improvements“ setzt ein internationales Recht voraus, das den Protektionismus verbietet und für den freien Zugang aller Nationen, und in allererster Linie natürlich der schwachen, zum Wissen und zur Technologie fördert. Genauso wie das nationale Recht die Stellung der Frau innerhalb der Ehe gestärkt und ihr somit erlaubt hat, einen größeren Einfluss auf den Inhalt der Lösung der Konflikte auszuüben, womit zumindest prima facie angenommen werden kann, dass diese Lösung auch gerechter ist, kann das internationale Recht die Stellung der schwachen politischen Gemeinschaften im Rahmen der internationalen Beziehungen stärken und ihnen somit erlauben, einen größeren Einfluss auf den Inhalt der Lösung der Konflikte auszuüben, womit man auch hier wieder zumindest prima facie annehmen kann, dass die Lösungen gerechter ausfallen werden. Man wird natürlich einen kleinen Unterschied zwischen der Situation der Ehe und derjenigen der internationalen Staatengemeinschaft feststellen können. Im Fall der Ehe geht es nicht darum, die Frau in eine Situation zu versetzen, in der sie die 8
Adam Smith, The wealth of nations, London 1986, S. 210.
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physischen Angriffe des Mannes durch gekonnte Judogriffe neutralisieren kann9. Vielmehr gilt es, sie rechtlich zu schützen, wobei es der Staat ist, der gegebenenfalls auf physische Gewalt zurückgreift, wenn der Mann die Frau schlägt. In dem von Smith dargestellten Fall sind es die Staaten selbst, die gegebenenfalls auf Gewalt zurückgreifen sollen können, wenn sie merken, dass die andere Partei von ihrer Machtposition profitieren will, um die ihr genehme Lösung durchzusetzen. Es sei hier daran erinnert, dass Michel Villey, wie oben angedeutet, die Unmöglichkeit einer zwischenstaatlichen Gerechtigkeit behauptet hat. Diese These wurde durch die radikale Verschiedenheit der Parteien begründet. Die Behauptung einer solchen radikalen Verschiedenheit scheint mir allerdings maßlos überzogen zu sein. Auf beiden Seiten leben Menschen, die nicht leiden wollen und die den Anspruch erheben, gehört und respektiert zu werden. Die von mir in diesem Beitrag vertretene Position verlangt vom Recht, dass es sich dieser Ansprüche annimmt und einerseits dafür sorgt, dass Bedingungen hergestellt werden, die es jeder politischen Gemeinschaft erlauben, respektiert zu werden, und andererseits dafür, dass die unausweichlich entstehenden Konflikte nicht derart ausarten, dass das Vertrauen zwischen den Parteien völlig unterhöhlt wird und dass damit die Möglichkeit einer auf Grund einer geteilten Vertrauensbasis ausgearbeiteten Lösung zunichte gemacht wird. IV. SCHLUSS Fasst man Gerechtigkeit nicht als eine den Konfliktparteien transzendente Größe auf, die eine Drittinstanz ihnen auf Grund ihrer besseren Einsicht aufoktroyieren darf und soll, sondern geht man davon aus, dass sich eine gerechte Lösung des Konflikts dadurch erreichen lassen kann, dass die Parteien miteinander diskutieren und dadurch eine beide zufrieden stellende Lösung finden, dann erscheint es zumindest plausibel zu behaupten, dass es zu den Funktionen des Rechts in Konflikten gehört, die Ausgangsbedingungen der Parteien so zu gestalten, dass keine der beiden allein schon durch ihre faktische Überlegenheit den Konflikt zu ihren Gunsten entscheiden kann. Das Recht sollte also dazu beitragen, die Bedingungen der Möglichkeit herzustellen, unter denen eine faire Konfliktaustragung zwischen den Parteien stattfinden kann. In der Welt der Philosophen lässt sich Gerechtigkeit als Fairness dadurch erreichen, dass man sich vorstellt, hinter einem Schleier der Unwissenheit zu stehen, um sich dann aus dieser Position relativer Ignoranz heraus für bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien zu entscheiden10. Da wir uns in der realen Welt nicht hinter einen solchen Schleier verstecken können – womit nichts gegen den methodologischen Wert der Rawlsschen Prozedur gesagt werden soll –, muss eine Art von Substitut gefunden werden. Und dieses besteht in einer möglichen Angleichung der tatsächlichen Positionen der Konfliktparteien, eine Angleichung die durch das Recht gefördert werden kann. Indem das Recht etwa den Ehepartnern verbietet, ihre Konflikte durch Gewalt auszutragen, schützt es die physisch schwächere Partei und nimmt der stärkeren eine 9 Es ging bislang in erster Linie meistens darum, die Frau zu schützen. Allerdings sollte dies nicht nur im Hinblick auf ihre physische, sondern auch auf ihre ökonomische usw. Unterlegenheit geschehen. 10 Dazu John Rawls, A theory of justice, Cambridge 1971.
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Möglichkeit weg, sich im Konflikt durchzusetzen – eine Möglichkeit, die der schwächeren Partei nicht offen steht. Es wurde allerdings gezeigt, dass eine solche Angleichung der Bedingungen, unter denen jede Partei den Konflikt austrägt, zu einer Zunahme der offen ausgetragenen Konflikte beitragen kann. Eine schwache Partei, die es ansonsten nicht zu einem offenen Konflikt hätte kommen lassen bzw. die sich nicht bis zur letzten Konsequenz für die von ihr vertretenen Ansprüche eingesetzt hätte, kann sich nunmehr eine Chance ausrechnen, einen solchen offenen Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden, und wird dementsprechend auch stärker dazu neigen, den offenen Konflikt zu suchen, und das heißt dann auch, dass sie nicht so schnell nachgeben wird. Hier kommt ein zweiter Gedanke ins Spiel, den wir in diesem Beitrag zu unterstreichen versucht haben, nämlich der Gedanke, dass es zu den wesentlichen Aufgaben des Rechts in Konflikten gehört, hegend zu wirken, und zwar in dem Sinne, dass das Recht von beiden Parteien verlangt, keine Handlungen auszuführen, durch welche das Vertrauen der beiden Parteien ineinander radikal zerstört wird. Das Recht sollte also auch die Bedingungen der Möglichkeit bewahren, unter denen eine auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Konfliktlösung stattfinden kann. In einer auf das Jahr 1951 datierten Eintragung seines Glossariums schreibt Carl Schmitt: „Recht durch Frieden ist sinnvoll und anständig; Friede durch Recht ist imperialistischer Herrschaftsanspruch“11. Ein Jahr zuvor hieß es in Der Nomos der Erde im jus publicum europaeum: „Eine Einhegung, nicht die Abschaffung des Krieges war bisher der eigentliche Erfolg des Rechts“12. Für Schmitt ist das jus ad bellum ein allen politischen Gemeinschaften zustehendes Recht, über dessen Ausübung niemand anders als sie selbst zu entscheiden haben. Wo demnach versucht wird, eine politische Gemeinschaft durch die Mittel des Rechts dazu zu zwingen, keinen Krieg mehr zu führen – etwa indem es ihr rechtlich untersagt wird, ein eigenes Heer zu besitzen oder bestimmte Waffen13 –, vermutet Schmitt einen imperialistischen Herrschaftsanspruch, womit gemeint ist, dass bestimmte Nationen sich das Recht reservieren, Krieg zu führen, während sie anderen Nationen dieses Recht absprechen oder sie – und das ist sicherlich effizienter – in einen Zustand versetzen, der es ihnen unmöglich machen wird, das Recht sinnvoll auszuüben. Für Schmitt hätte das Recht sich auf seine hegende Rolle beschränken sollen, das heißt es hätte weiterhin jeder politischen Gemeinschaft das Recht zuerkennen sollen, frei darüber zu entscheiden, ob es auf den Krieg zugreifen will oder nicht, die Ausübung dieses Rechts aber dann durch das die kriegerische Gewalt einhegende jus in bello einrahmen sollen. Wenn es nicht zu
11 Carl Schmitt, Glossarium, Berlin 1991, S. 316. 12 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im jus publicum europaeum, 3. Aufl., Berlin 1988, S. 159. 13 Das Problem stellt sich heute bezüglich des Besitzes von Nuklearwaffen. Auch wenn man den Gedanken durchaus nachvollziehen kann, dass es besser wäre, wenn der Iran keine Atomwaffen besäße, so wird man sich trotzdem fragen können, ob es gerecht ist, dass eine Nuklearmacht wie die Vereinigten Staaten von Amerika – die ihre militärische Macht durchaus auch (manche werden sagen: ausschließlich) für die Förderung ihrer Interessen durchsetzt – den Iran mit allen Mitteln daran hindern wollen, Nuklearwaffen zu bauen. Siehe zu dieser konkreten Frage Norbert Campagna, Equality and the law of nations, in: S. Heuser/H.G. Ulrich, Political practices and international order. Proceedings of the Annual Conference of the Societas Ethica, Oxford 2006, Zürich 2007, S. 30–39.
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einem imperialistischen Herrschaftsinstrument werden will, muss das Recht, so Schmitt, den Krieg immer nur hegen wollen, nicht aber ihn abschaffen. Die Einhegung, nicht die Lösung der Konflikte, sollte das primär anzustrebende Ziel des Rechts sein, so ließe sich, in Anlehnung an Schmitt, die in diesem Beitrag vorgebrachte These zusammenfassen. Das Recht sollte einen für alle Konfliktparteien annehmbaren Rahmen schaffen, innerhalb dessen sie gemeinsam und auf friedlichem Weg nach einer Lösung des Konflikts suchen sollten. Ob das Recht diese Funktion wahrnehmen kann und wird, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Denn erstens muss vorausgesetzt werden, dass die Parteien sich auf einen sie bindenden rechtlichen Rahmen zur gemeinsamen Konfliktlösung einigen werden. Und selbst wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, so muss zweitens vorausgesetzt werden, dass sie sich auch dann an diesen Rahmen halten werden, wenn sie merken, dass es zumindest zu ihrem kurz- oder mittelfristigen, wenn nicht sogar zu ihrem langfristigen Nachteil sein kann. Der hegende rechtliche Rahmen, ohne den Willen der Parteien, sich an diesen Rahmen zu halten, ist so gut wie wirkungslos. Diesen Willen kann das Recht allerdings nicht erzeugen, noch kann es ihn wirksam fördern. Das die Konflikte hegende Recht setzt ihn vielmehr voraus. Ob diese Voraussetzung allerdings noch für unsere heutige Gesellschaft gilt, sei am Schluss dieses Beitrags als Problem erwähnt – ein Problem, mit dem sich die praktische Philosophie ernsthaft befassen sollte. Anschrift des Autors Prof. Dr. Norbert Campagna 3, allée des Marronniers F-54560 Serrouville Frankreich [email protected]
ELIF ÖZMEN* FREIHEIT ALS INTERESSE HÖCHSTER STUFE JOHN RAWLS ÜBER POLITISCHE UND SOZIALE GRUNDRECHTE Die politische Philosophie der Gegenwart ist nachdrücklich durch das Werk des amerikanischen Philosophen John Rawls geprägt. Nicht nur die Renaissance der normativen politischen Philosophie ist seiner zunächst kritisch aufgenommenen, im Laufe der Jahre zunehmend anerkannten Theory of Justice aus dem Jahre 1971 geschuldet.1 Auch die Revisionen und Verwerfungen, die Rawls selbst in (zumeist indirekter) Reaktion auf die Kritik an der ursprünglichen Theorie ab den 80er Jahren vorgenommen hat, entwickelten ihrerseits nachhaltige, die philosophische Debatte begrifflich und methodisch prägende Kraft. Zugleich ist es John Rawls wie nur wenigen gelungen, seine politikphilosophischen Überlegungen in andere Disziplinen zu vermitteln, insbesondere die Politikwissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaft.2 Nun gibt es zwar eine regelrechte und nicht versiegende Flut von Sekundärbeiträgen zur Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption. Aber hierunter findet sich, abgesehen von dem hobbesianischen Einwand, dass keine Staatstheorie im Sinne einer Rechts- und eben auch Zwangsordnung vorgelegt werde, auffällig wenig zur Rechtskonzeption von Rawls. Das erscheint insofern bemerkenswert, als dass die Frage der Gerechtigkeit als Frage nach einem Kriterium der Verteilung von Grundgütern verstanden wird, zu denen auch Grundrechte gehören, und der Akt der Verfassungs- und Gesetzgebung eigens behandelt wird. Im Folgenden werden die Grundgedanken der Theorie dargestellt, insofern sie für die Konzeption politischer und sozialer Grundrechte relevant sind (I.). Da die Theorie selbst keine ausgearbeitete Theorie des Rechts oder der Rechte enthält, wird anschließend versucht werden, den Inhalt und das Verhältnis von politischen und sozialen Rechten zueinander zu rekonstruieren (II.) und in eine Theorie des Rechts und der Grundrechte einzubetten (III.). Schließlich wird der Vorschlag von Rawls analysiert und kritisch diskutiert werden, dass sich potentielle Konflikte der Rechte rational lösen ließen, insofern man Freiheit als „Interesse höchster Stufe“ betrachtet und die daraus resultierenden politischen Grundrechte lexikalisch allen anderen Rechten und Gütern vorordnet (IV.). * 1
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PD Dr. phil. Elif Özmen, Ludwig-Maximilians-Universität München Einen Überblick über diese ersten, z. T. vehementen Einwände – etwa, dass Kontraktualismus und Kohärentismus unvereinbar seien, dass keine überzeugende Alternative zum Utilitarismus geboten werde, keine Klassenanalyse erfolge oder der Staat unnötig aufgebläht bzw. zur Umverteilungsmaschinerie umgedeutet werde – bieten Daniels, Reading Rawls: Critical Studies of A Theory of Justice, New York 1974, und Höffe, Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1977. Bemerkenswert etwa das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 2 BvF 2/98 v. 11.11.1999 (http:// www.bverfg.de/entscheidungen/fs19991111_2bvf000298.html, Rn. 282).: „Auch wenn sich nicht ein allgemeiner „Schleier des Nichtwissens“ (J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1. Aufl., 1975, S. 29 ff., 159 ff.) über die Entscheidungen der Abgeordneten breiten läßt, kann die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes eine institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten, die einen Maßstab entwickelt, ohne dabei den konkreten Anwendungsfall schon voraussehen zu können.“ Für diesen Hinweis danke ich Edward Schramm.
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I. GRUNDGEDANKEN DER THEORIE DER GERECHTIGKEIT3 Der Gegenstand der Theorie der Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit, verstanden als die erste Tugend sozialer Institutionen. Gerechtigkeitsfragen entstehen durch unvermeidliche Interessenskonflikte zwischen rationalen Individuen unter den Bedingungen moderater Güterknappheit, d. h. Güter sind weder im Überfluss vorhanden – dann bestände keine Notwendigkeit zu gesellschaftlicher Kooperation –, noch so knapp, dass jede Kooperation zum Scheitern verurteilt wäre. Die gemeinsame Respektierung eines Regelsystems – zu dem insbesondere die Rechtsordnung und die damit verbundenen Sanktionen gehören – erscheint somit von Anfang an vernünftig, um friedliche Interaktion und wechselseitige vorteilhafte gesellschaftliche Kooperation sicherzustellen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit beziehen sich nicht auf individuelles Handeln – und somit nicht auf genuin moralische Gerechtigkeit –, sondern auf das System etablierter Rechte und Pflichten, die die Verteilung gesellschaftlicher Grundgüter regeln. Zu diesen Grundgütern, d. h. „Dinge(n), von denen man annehmen kann, daß sie jeder vernünftige Mensch haben will“4 und die als gesellschaftlich bedingt gelten können, gehören für Rawls Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen und Selbstachtung. Das Ziel der Theorie ist es, ein Gerechtigkeitskriterium für die Beurteilung der Grundstruktur, d. h. der institutionellen Verteilung von Grundrechten und -pflichten und der Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, zu benennen, auf das sich vernünftige, freie und gleiche Personen einigen würden. Die Grundstruktur umfasst politische, aber auch gesellschaftliche Institutionen: ein demokratisch verfasstes Parlament, eine unabhängige Justiz, eine rechenschaftspflichtige Regierung, aber auch die Wirtschaftsverfassung und Sozialgesetzgebung und allgemein anerkannte, mit einem Normengefüge sanktionierte Gesellungsformen (z. B. die Eltern-Kind-Beziehung oder die monogame Ehe). Gerechtigkeit ist somit für Rawls eine Frage der gerechten Verteilung, wobei er sich nicht für ein Kriterium der konkreten Verteilung von Einzelgütern interessiert, sondern für die Frage, auf welche Grundsätze für Institutionen, die die Verteilung regeln, sich Personen in einem Entscheidungsverfahren, das fairen Bedingungen genügt, einigen würden. Das ist der Adäquatheitstest, den Rawls für Gerechtigkeitskriterien entwickelt: Nur diejenigen Gerechtigkeitskriterien sind adäquat, „die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“.5 Die Bedingungen der Fairness, denen dieser freiwillige Akt der Übereinstimmung unterliegt, konstituieren den Urzustand, der
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Vgl. auch die ausführlichere Darstellung von Nida-Rümelin/Özmen, John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, in: Brocker, Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2007, S. 651–666. Trotz aller Modifikationen, die Rawls später hinsichtlich eines genuin politischen Liberalismus vorgenommen hat, bleiben diese Grundgedanken im Wesentlichen erhalten, siehe Michelman, Rawls on Constitutionalism and Constitutional Law, in: Freeman, The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge 2003, S. 394–425. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, im Folgenden „Theorie“, S. 83, auch S. 112 ff. Rawls, Theorie, S. 28.
Freiheit als Interesse höchster Stufe
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charakterisiert ist durch Anwendungsverhältnisse, formale Bedingungen, die Rationalität der Vertragspartner und den Schleier des Nichtwissens.6 Diese Kombination von strategischer Rationalität und extremem Informationsdefizit der Personen im Urzustand ermöglicht es, normative Regeln letztlich durch das aufgeklärte Eigeninteresse (und nicht etwa durch die moralische Motivation) der Personen zu begründen. Der Anspruch, dass die Theorie einen Teil der Theorie rationaler Entscheidung darstellt, wird vom späteren Rawls zwar fallen gelassen, insbesondere die Anthropologie des individuellen Nutzenmaximierers durch einen liberalen Personenbegriff ersetzt.7 Aber es bleibt richtig zu sagen, dass es sich um eine normative Theorie handelt, die quasi-moralische Verfahrensbedingungen im Design des Urzustandes festschreibt und nicht etwa in der Motivationsstruktur der Personen. Personen sind für Rawls durch zwei, letztlich gegensätzliche Handlungsorientierungen motiviert: Zum einen haben sie den individuellen Vorteil gesellschaftlicher Kooperation im Blick, d. h. den Vorteil, den die allgemeine Befolgung von Verhaltensregeln ihnen bringt. Zum anderen erstreben sie einen möglichst großen Anteil an den durch gesellschaftliche Kooperation produzierten gesellschaftlichen Gütern. Die menschliche Gesellschaft muss sich inmitten dieses Spannungsfeldes bewähren: als gemeinsames Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Wohls („Interessenharmonie“), das von einem umfassenden Konflikt um den größten individuellen Anteil an Grundgütern durchdrungen ist („Interessenkonflikt“). Die Lösung dieses spannungsreichen Verhältnisses sieht Rawls in einem Kriterium der Verteilung der Grundgüter, das weder auf die natürlichen oder gesellschaftlichen Gegebenheiten, noch auf die spezifischen Verhältnisse Einzelner zugeschnitten ist und es auch niemandem gestattet, seine Neigungen und individuellen Vorstellungen vom Wohl in die Bestimmung des Gerechtigkeitskriterium einfließen zu lassen. Deswegen soll die rationale Entscheidung für das Gerechtigkeitskriterium unter einem extremen Informationsdefizit, hinter dem Schleier, erfolgen. Die Personen im Urzustand müssen somit in Unkenntnis ihrer konkreten inhaltlichen Interessen dennoch ihre Interessen vertreten.8 Einerseits wissen sie zwar, „daß sie einen vernünftigen Lebensplan haben, aber sie kennen nicht seine Einzelheiten, die einzelnen Ziele und 6 7
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Vgl. Rawls, Theorie, Kap. 3. Vgl. Rawls, Der Vorrang der Grundfreiheiten, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 159–254, im Folgenden „Vorrang“. Das ist ein seltenes Beispiel dafür, dass er direkt auf eine Kritik, nämlich die Einwände von H. L. A. Hart, reagiert. Dieser hinterfragt sowohl die enge Interpretation eines allgemeinen Prinzips der größtmöglichen gleichen Freiheit als ein Prinzip der Grundfreiheiten bzw. Grundrechte, als auch die Prioritätsregel, da Freiheit nicht bloß um der Freiheit willen, sondern auch, um Schaden und Leid zu verhüten, eingeschränkt werden könne. Desweiteren bleibe unklar, wie die egoistischen Personen im Urzustand eine rationale Wahl der Grundfreiheiten und der Prioritätsregel treffen könnten, vgl. Hart, Freiheit und ihre Priorität bei Rawls, in: Höffe (Fn. 1), S. 131–161. Dieses Anonymitätskriterium stellt eine Operationalisierung des Standpunktes der Unparteilichkeit dar; so wird die parteiliche individuelle Nutzenoptimierung gewissermaßen moralisch „überlistet“, vgl. hierzu Özmen, Unparteilichkeit, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2008, S. 1376–1380. Der späte Rawls hält dieses Szenario nicht mehr für hinreichend und entwickelt die Konzeption einer liberalen Person, die nicht durch Nutzenerwägungen, sondern durch zwei moralische Kompetenzen gekennzeichnet wird, vgl. Rawls, Vorrang, S. 171 ff., die er dann aber für eine genuin politische Konzeption der Person wieder aufgibt, vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 97 ff.
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Interessen, die er fördern soll“. Daher gehen sie davon aus, „daß sie gewöhnlich lieber mehr als weniger gesellschaftliche Grundgüter haben möchten“, und versuchen ganz allgemein, „ihre Freiheiten zu schützen, ihre Möglichkeiten auszuweiten und ihre Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele, welcher Art sie auch seien, zu vermehren.“9 Das Gerechtigkeitskriterium, auf das sich die Personen im Urzustand schließlich einigen, stellt für jede Person angesichts der eingeschränkten Umstände, der „verschleierten“ Kenntnisse und Interessen, die beste verfügbare, rationale Möglichkeit dar, ihre Ziele, deren Inhalt sie nicht kennen, zu befördern. Das ist der Clou der gesamten begründungstheoretischen Argumentation: Einerseits wird die Frage nach politischen und sozialen Rechten, die Rawls als einen Typ von Grundgütern, die es gerecht zu verteilen gilt, versteht, als ein Entscheidungsproblem für nutzenkalkulierende Individuen präsentiert. Auch die Lösung des Problems, das aus zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen bestehende Gerechtigkeitskriterium, wird als Produkt eines durch strategische Rationalität angeleiteten Interessenskalküls dargestellt. Andererseits unterliegt die Entscheidungssituation durch den Schleier so starken Informationsbeschränkungen, dass nur eine Entscheidung unter Unsicherheit möglich ist. Da Rawls die Personen als risikoavers betrachtet, wählen sie letztendlich notwendigerweise und einstimmig ein Gerechtigkeitskriterium, das aus den bekannten zwei Grundsätzen besteht, nämlich „1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“10
II. RAWLS ÜBER POLITISCHE UND SOZIALE GRUNDRECHTE Zu dem „gleichen Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist“, also zum ersten Gerechtigkeitsgrundsatz zählt Rawls ein ganzes Paket von Grundfreiheiten bzw. Grundrechten:11 a) fundamentale Grundrechte, wie das Recht auf Leben, Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit der Person, Recht auf persönliches Eigentum; b) persönliche Grundfreiheiten, d. h. Gewissens-, Gedanken- und Religionsfreiheit; 9 Rawls, Theorie, S. 166. 10 Rawls, Theorie, S. 81. 11 Vgl. Rawls, Theorie, S. 81, und Vorrang, S. 179. Die Liste der Grundfreiheiten, die sowohl allgemeine als auch spezielle Grundfreiheiten aufführt, ist nicht ganz eindeutig, insbesondere wird das Eigentumsrecht auf persönliches Eigentum eingeschränkt und umfasst nicht das Privateigentum an Produktionsmitteln oder natürlichen Ressourcen oder gesellschaftliches Eigentum. Auch fehlen eindeutige Aussagen zu Berufsfreiheit und Freizügigkeit, das wird auch durch die Erläuterungen in Rawls, Politischer Liberalismus, S. 312–363, nicht verbessert. Ungenannt bleibt die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Kunst, explizit ausgeschlossen ist allgemeine Handlungsfreiheit. Zur Theorie der Grundfreiheiten vgl. Pogge, The Interpretation of Rawls’ First Principle of Justice, Grazer Philosophische Studien 1982 (15), S. 119–147, Alexy, John Rawls’ Theorie der Grundfreiheiten, in: Hinsch, Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, S. 263–303, und ders., Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, Berlin/New York 2002, Kap. 1 und 2.
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c) politische Wahl-, Partizipations- und Kommunikationsrechte, wie das Wahlrecht, das Recht öffentliche Ämter zu bekleiden, die Freiheit der politischen Rede und Presse sowie Versammlungsfreiheit; d) Garantien der Rechtssicherheit und –staatlichkeit, d. h. der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft, habeas corpus, das Recht auf ein baldiges Gerichtsverfahren sowie das Recht auf Einhaltung publizierter Verfahrensregeln. Das Verteilungskriterium für diese politischen Grundgüter ist gemäß dem ersten Grundsatz der Gerechtigkeit streng egalitaristisch – es geht um gleiche Rechte – und maximierend – die Rechte werden als möglichst umfangreichstes Gesamtsystem erfasst.12 Zugleich hat der erste gegenüber dem zweiten Grundsatz der Gerechtigkeit Vorrang, d. h. Grundfreiheiten dürfen nur um anderer Grundfreiheiten willen eingeschränkt werden, etwa bei fehlender Kohärenz oder bei einem Konflikt verschiedener politischer Grundrechte.13 Aber es können „Verletzungen der vom ersten Grundsatz geschützten gleichen Grundfreiheiten nicht durch größere gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorteile gerechtfertigt werden.“14 Sowohl für die Prioritätsregel als auch für die Grundsätze selbst beansprucht Rawls, dass sie von den Personen im Urzustand relativ zu einer gegebenen Aufzählung traditioneller Alternativen bevorzugt werden würden. Diese Wahl ist eindeutig, kraftvoll und nachdrücklich, denn die Personen entscheiden mit der Wahl eines allgemeinen Gerechtigkeitskriteriums „ein für allemal [...], was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll.“15 Dieses „ein für allemal“ wird erst durch den Vier-Stufen-Gang abgeschwächt: Nach der Bestimmung des allgemeinen Gerechtigkeitskriteriums wird der Schleier des Nichtwissens von Stufe zu Stufe dünner, was eine vernünftige und unparteiische Anwendung der Grundsätze bezüglich spezifischer Gerechtigkeitsfragen ermöglichen soll. So wird auf der zweiten Stufe in Einklang mit dem allgemeinen Gerechtigkeitskriterium die Verfassung erarbeitet, wobei die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung noch keine Kenntnisse über Einzelpersonen, dafür aber Grundwissen über ihre Gesellschaft haben, z. B. den wirtschaftlichen Entwicklungsstand oder die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen.16 Auf dieser Stufe wird die Liste der Grundfreiheiten, die Teil des allgemeinen Gerechtigkeitskriteriums ist, zu einem Katalog von
12 Eine genauere Bestimmung des Umfangs der gleichen Grundfreiheiten legt Rawls allerdings nicht vor, so auch O’Neill, The Most Extensive Liberty, Proceedings of the Aristotelian Society 1980 (80), S. 45–59. Indem der späte Rawls den rational-egoistischen Personbegriff aufgibt, wird auch das Maximierungskriterium revidiert, siehe Rawls, Vorrang, S. 203 ff. 13 Allerdings geht er davon aus, dass die „Grundfreiheiten […] zumindest in ihrem zentralen Geltungsbereich vereinbar“ sind, Rawls, Vorrang, S. 167. 14 Rawls, Theorie, S. 82. 15 Rawls, Theorie, S. 28. Gegen die Vorstellung einer einstimmigen, notwendigen, ein für allemal erfolgenden Wahl richtet sich der Einwand, dass Rawls’ Theorie keine Vertragstheorie sei, vgl. Hoerster, John Rawls’ Kohärenztheorie der Normenbegründung, in: Höffe (Fn. 1), S. 57–76. 16 Die dritte Stufe leistet die Gesetzgebung; die vierte Stufe bezieht sich auf die Rechtssprechung, also auf die Anwendung der Regeln auf Einzelfälle durch Verwaltung und Justiz sowie auf die allgemeine Befolgung der Regeln durch die Bürger. Hier sind Einzeltatsachen über die Menschen – ihre natürlichen und gesellschaftlichen Eigenschaften, ihre Interessen – nicht länger unbekannt, vgl. Rawls, Theorie, S. 223 ff.
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subjektiven, d. h. verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten transformiert.17 Grundfreiheiten den Status von Grundrechten zu geben bedeutet, sie den Launen, Interessenlagen und somit den Kontingenzen der demokratischen Mehrheitsentscheidung zu entziehen. Hier wird das „ein für allemal“ der ursprünglichen Wahl der Liste der Grundfreiheiten dem Katalog der Grundrechte sozusagen verfassungsmäßig eingeschrieben. Mit welchen Argumenten rechtfertigt Rawls aber die ursprüngliche Wahl des ersten Grundsatzes, das enthaltene Paket von Grundfreiheiten sowie ihr absolutes Gewicht und ihre Priorität? Man könnte nahe liegender Weise vermuten, dass Freiheit – Rawls macht keinen systematischen Unterschied zwischen „Freiheit“, „Grundfreiheiten“ und „Grundrechten“ – für die Personen im Urzustand einen inhärenten Wert darstellt, etwas, das um seiner selbst willen gewollt oder geschätzt wird. Aber diese nahe liegende Vermutung trifft aus zwei Gründen nicht zu. Zum einen haben wir es in der Theorie mit rationalen Egoisten zu tun, die gar keine stabilen, d. h. dem Interessenskalkül entzogenen Werte haben. Zum anderen kennen die Personen die Inhalte dessen, was sie wollen und schätzen ja nicht, diese sind, wie die anderen Merkmale ihrer individuellen Persönlichkeit und ihres vernünftigen Lebensplans, hinter dem dicken Schleier des Nichtwissens verborgen. Schließlich betrachtet Rawls Freiheit grundsätzlich nicht als inhärenten Wert und nimmt deswegen auch allgemeine Handlungsfreiheit ausdrücklich nicht in die Liste der Grundfreiheiten auf.18 Wie kann aber, wenn die nahe liegende Vermutung unzutreffend ist, der hervorgehobene Status der Freiheit bzw. der Grundfreiheiten erklärt werden? Die Begründung, die Rawls vorlegt, reflektiert die Überlegungen, die die Personen im Urzustand hinter dem dicken Schleier vernünftigerweise anstellen können. Folgendes werden sich diese rationalen, freien und gleichen, aneinander desinteressierten Personen vernünftigerweise fragen: Welche Güter nützen mir, egal welche Person mit welchen individuellen Merkmalen ich auch immer bin? Über welche Güter kann ich unabhängig von anderen Personen verfügen und mir zugute kommen lassen? Welche dieser Güter sind überhaupt möglicher Gegenstand der gesellschaftlichen Verteilung? Welche Güter sind für meine autonome Lebensgestaltung und Selbstbestimmung notwendig? Die Antwort auf diese Fragen ist die Liste der Grundgüter, an denen eben jeder ein vernünftiges Interesse hat. Im Hintergrund dieser Fragen – bzw. des Urzustandsszenarios, das zu genau diesen und keinen anderen Fragen hinführt – steht ein Individualismus, der sich, wie die Theorie selbst, in die Tradition des Liberalismus und Kontraktualismus einfügt. Demzufolge sind alle sozialen und politischen Phänomene, wie Ordnungsstrukturen, Institutionen, gemeinschaftlichen Ziele, Unternehmun17 Es wird nicht klar, wie diese Transformation letztlich vor sich gehen soll, vor allem, ob es sich um eine einfache und direkte Übertragung der ursprünglichen Liste oder eher um ihre Interpretation, Konkretisierung, Regulierung, Gewichtung, Erweiterung handelt; für beides lassen sich Belegstellen finden. Zu den Problemen der Anwendung der Grundrechte siehe Moore, Rawls on constitution-making, Nomos 1979 (20), S. 238–268, Hart (Fn. 7), Alexy (Fn. 3). Dagegen weist Parker, The Jurisprudential Uses of John Rawls, Nomos 1979 (20), S. 269–293, darauf hin, dass die zweite Stufe lediglich „expository devices [...], a graphic way of summarizing a whole set of normative and empirical premises“, S. 272, formuliere und keine Anleitung zur Anwendung. 18 Rawls, Vorrang, S. 161: „Der Freiheit als solcher kommt kein Vorrang zu, so als ob die Ausübung von etwas, das als ‚Freiheit‘ bezeichnet wird, einen überragenden Wert hätte und das wichtigste, wenn nicht das einzige Ziel politischer und sozialer Gerechtigkeit wäre.“
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gen und Verantwortungen, das Ergebnis von Konventionen, die sich auf das Individuum herunter brechen lassen. Das Individuum – seine Interessen und Ziele einerseits, seine freiwillige Zustimmung andererseits – ist der Ausgangs- und Endpunkt oder, anders gesagt, das Legitimations- und Funktionskriterium der Gesellschaft. Frank Michelman bezeichnet das als Grundlage eines rationalen Universalismus, wie ihn die Theorie zu begründen versucht: „Constitutional contractarianism begins in liberal individualism with the idea that exercises of political power surely are justified when every affected, competently reasoning individual can approve them as in line with his or her own actual balance of reasons and interests.“19 Daher denken die Personen im Urzustand zunächst und primär an sich selbst, wenn es darum geht, eine Entscheidung über Gerechtigkeitsgrundsätze zu fällen. In Unkenntnis ihrer konkreten individuellen Interessen und Lebenspläne werden sie vernünftigerweise Grundsätze wählen, die zunächst und primär ihnen selbst ein Höchstmaß an Freiheit und somit die freie, möglichst ungehinderte Verfolgung der Interessen und Lebenspläne, die sie überhaupt nur haben könnten, gewähren. Freiheit ist in diesem Sinne ein „Interesse höchster Stufe“,20 wenn sie in Form gleicher Freiheitsrechte das Individuum und seine Privatsphäre vor anderen und vor dem Staat schützt, dabei den Vollzug ganz unterschiedlicher Lebenspläne und Lebensstile ermöglicht und deren Tolerierung garantiert. Somit sind es der im Design des Urzustandes festgelegte Individualismus und die strategische Rationalität in Kombination mit einem extremen Informationsdefizit, die das Gewicht und den Vorrang der Freiheit begründen. Warum nun dieses und kein anderes Paket von Grundfreiheiten? Hierfür nennt Rawls drei Gründe, die die Überlegungen der Personen im Urzustand leiten. Um ein möglichst umfangreiches Gesamtsystem von Grundfreiheiten abzudecken, wird erstens eine Liste präsentiert, die vier Gruppen von allgemeinen Grundfreiheiten (a-d) mit konkreteren Grundrechten beinhaltet und möglichst umfassend ist, insofern alle Freiheiten, die von höchstem Interesse sind, aufgenommen werden. Zweitens soll diese Liste aber nicht bloß umfangreich, sondern auch möglichst explizit sein, damit Kollisionen der Freiheiten untereinander, so weit möglich, vermieden werden. Denn: „Immer dann, wenn wir die Liste der Grundfreiheiten erweitern, riskieren wir, den Schutz gerade der wichtigsten unter ihnen zu schmälern und innerhalb des Systems der Freiheiten wieder die ungewissen und unbestimmten Abwägungsprobleme zu schaffen, von denen wir gehofft hatten, wir könnten sie durch einen angemessen umschriebenen Begriff des Vorrangs vermeiden.“21 Daher ist die Liste schlank wie auch konventionell. Sie umfasst zwar, um mit Benjamin Constant zu sprechen, die Freiheiten der Alten und der Neuen, 22 aber nicht die neuerdings diskutierten Freiheiten im Sinne von sozialen Grundrechten. Schließlich drittens: Das Paket soll als 19 Michelman (Fn. 3), S. 395. Eben dieser Individualismus wird Rawls als starke, ideologische bzw. metaphysische Voraussetzung vorgeworfen, etwa Nagel, Rawls über Gerechtigkeit, in: ders., Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit, Paderborn et al 1994, S. 275–299, und Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Honneth, Kommunitarismus, Frankfurt a. M. 1993, S. 18–35. 20 Rawls, Theorie, S. 589. Pogge (Fn. 11) S. 63 ff., schlägt als zweites höchstes Interesse „Selbstachtung“ vor, ein Grundgut, zu dem Rawls in der Theorie leider wenig sagt. 21 Rawls, Vorrang, S. 166. 22 Siehe Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen, in: ders., Werke in vier Bänden, Berlin 1972, Bd. 4, S. 363–396.
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Ganzes möglichst wertvoll sein. Es werden nur die grundlegenden und wichtigsten, die politischen Grundgüter Freiheiten und Rechte, in den ersten Grundsatz aufgenommen, und nur diese werden streng gleich verteilt, gegenüber anderen Grundgütern und Werten absolut gewichtet und vorrangig behandelt, nur diese werden Teil der Verfassung. Somit kann die Abgrenzung zum zweiten, nicht-egalitaristischen Gerechtigkeitsgrundsatz möglichst scharf gezogen werden, was eine klare Rangordnung schafft, Abwägungen oder Kollisionen von Grundrechten mit anderen Rechten verhindert und den „Handel“ von politischen mit sozio-ökonomischen Gütern von vornherein unmöglich macht. Gleichzeitig erscheint das Paket im Ganzen wertvoll und vorzugswürdig gegenüber alternativen Güterpaketen, weil es auf die Entscheidungssituation im Urzustand zugeschnitten ist. So wenig hier die Personen über sich wissen, das Folgende gehört jedenfalls dazu: Sie wissen zwar nicht welche konkreten, aber dass sie Interessen haben. Für jede Person, die irgendwelche Interessen hat, muss der Schutz ihres Lebens, von Freiheit, Unversehrtheit, Rechtssicherheit, Eigentum usw. rational und somit vorziehenswert, wertvoll erscheinen. Des Weiteren wissen sie zwar nicht welche konkreten, aber dass sie Ziele und Lebenspläne verfolgen. Für jede Person, die irgendwelche Ziele und Lebenspläne hat, muss Gewissensfreiheit, Versammlungsfreiheit ebenso wie unbeschränkte Entscheidungsfreiheit bzgl. der eigenen Religion, des Lebensstils, der Erziehung u. ä. wertvoll erscheinen. Schließlich wissen die Personen, dass sie Gerechtigkeitsgrundsätze nicht für irgendeinen modus-vivendi wählen, sondern für eine wohlgeordnete, stabile, „von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert(e)“23 Gesellschaft. Für jedes Mitglied einer wohlgeordneten Gesellschaft müssen gleiche politische Partizipations- und Kommunikationsrechte vernünftig und wertvoll erscheinen. Wenn wir in der Logik der Rawlsschen Argumentation bleiben, ist der Ausschluss bestimmter Rechte und Güter aus dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz nur folgerichtig, dann fallen weder natürliche, noch kollektive Güter und vor allem nicht soziale Rechte unter das „gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.“ Bei den ersten beiden versteht sich das gewissermaßen von selbst: natürliche Güter werden nicht durch die Grundstruktur, sondern durch die natürliche Lotterie verteilt; kollektive Güter sind nur in Kooperation mit anderen verfügbar und nutzbar zu machen. Im Fall der sozialen Rechte versteht sich der Ausschluss aus dem Katalog der Grundrechte aber nicht von selbst. Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Unterhalt sind als menschliche Grundbedürfnisse von der Art, dass jede rationale Person ein vernünftiges Interesse an ihnen hat. Aber bezüglich dieser Grundgüter meint Rawls weder, dass sie politische Rechte konstituieren, noch dass die sozialen Rechte, die sie wohlmöglich begründen, zu subjektiven Grundrechten transformiert werden können. Soweit eine Theorie der genuin politischen Gerechtigkeit solche Rechte auf das Existenzminimum überhaupt verhandeln kann, müsse das durch einen Grundsatz der gerechten Verteilung von sozio-ökonomischen Grundgütern geregelt werden.24 Im Unterschied zu konstanten politischen Grundgütern sind diese auch von gesellschaftlicher Wertschöpfung und individueller Leistung abhängig, so dass eine kompetitive Wirtschafts- und Sozialordnung zur Vermehrung 23 Rawls, Theorie, S. 21. 24 Siehe hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a. M. 1994, Kap. 9.
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der sozio-ökonomischen Grundgüter führen kann. Wenn diese Produktivitätssteigerung allen dient, wären ungleiche Verteilungen nicht von vorneherein oder begrifflich ungerecht. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit verlangt daher, dass wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen und mit Ämtern und Positionen verbunden sein müssen, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen. Er ergänzt Egalitarismus – zunächst ist auch hier Gleichverteilung der „Ausgangspunkt für die Beurteilung von Verbesserungen“25 – mit Wohlfahrt – denn wenn Ungleichverteilung zu einer solchen Verbesserung führt, indem sie eine höhere Lebensqualität für alle mit sich bringt, ist sie zulässig. Es kann demnach gerechtfertigte Ungleichheit geben, genau dann nämlich, wenn jedermann, und besonders die am schlechtesten gestellte Gruppe der Gesellschaft, Vorteile davon hat.26 Der zweite ist gemäß der Prioritätsregel dem ersten Grundsatz nachgeordnet, dieser Vorrang gebührt auch politischen Grundfreiheiten vor sozialen Rechten und Ansprüchen. Diese können nicht zu subjektiven Grundrechten transformiert werden, ihnen wird durch die Verfassung keine „Ein-für-allemal“-Geltung eingeschrieben, stattdessen sind sie durch den Gesetzgeber mittels parlamentarischer Meinungs- und Willensbildung erst zu verhandeln. Das erscheint den Personen im Urzustand nicht nur aus den genannten Gründen rational, sondern entspricht den historischen Erfahrungen: „In der Tat legt die Geschichte erfolgreicher Verfassungen nahe, daß Grundsätze zur Regelung ökonomischer und sozialer Ungleichheiten und andere distributive Grundsätze sich im allgemeinen nicht als verfassungsrechtliche Schranken eignen. Vielmehr scheint eine gerechte Gesetzgebung am besten durch Gewährleistung einer fairen Repräsentation und andere verfassungsrechtliche Vorkehrungen erreicht zu werden.“27 III. THEORIE DES RECHTS UND DER GRUNDRECHTE Es wurde bereits festgestellt, dass John Rawls keine Theorie der Rechte fomuliert und auch das Verhältnis von Gerechtigkeit zu Rechten, von Freiheit zu Grundfreiheiten, von Grundfreiheiten zu Rechten und zu Grundrechten nicht systematisch geklärt wird. Man kann die Grundpfeiler einer Rawlsschen Rechtstheorie aber anhand relativ unstrittiger Definitionselemente und Geltungsbegriffe des Rechts rekonstruierend skizzieren.28 Mit Hilfe von drei Definitionselementen des Rechts und den damit korrespondierenden Geltungsbegriffen ist eine einfache Unterscheidung von Rechtsbegriffen möglich. Das erste Definitionselement, die ordnungsgemäße Gesetztheit des Rechts, verweist auf die rechtliche Geltung in einem positiven Recht. Dem zweiten Definitions25 Rawls, Theorie, S. 83 f. 26 Auf die vieldiskutierten Probleme der Wahl und des Inhalts dieses Grundsatzes, insbesondere des Differenzprinzips, braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. 27 Rawls, Vorrang, S. 210. 28 Vergleichbar Koller, Der Begriff des Rechts und seine Konzeptionen, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008, S. 157–180, oder Alexy (Fn. 24) und ders., Begriff und Geltung des Rechts, München 2002, wobei seine eigene Theorie, die Recht und Moral eng verknüpft, natürlich nicht „relativ unstrittig“ ist.
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element, der sozialen Wirksamkeit, korrespondiert soziale Geltung, also die Befolgung sowie Sanktionierung der Nichtbefolgung des Rechts. Das dritte Definitionselement, inhaltliche Richtigkeit, wird zwar von existierenden Rechtssystemen regelmäßig beansprucht. Aber dieser Anspruch auf Richtigkeit muss zu Recht erfolgen, er muss begründet sein, damit aus dem bloßen Anspruch Geltung wird. Diese normative Geltung resultiert somit aus einer gelingenden Rechtfertigung bzw. Begründung. Je nachdem, wie man diese drei Definitionselemente gewichtet, ergeben sich die folgenden Rechtsbegriffe. Fokussiert man auf das Element der inhaltlichen Richtigkeit, kommt man zu einer Vernunfts- oder Naturrechtskonzeption, wie sie etwa John Locke oder Robert Nozick formulieren.29 Für John Rawls sind Rechte hingegen nicht angeboren oder gegeben, sondern Rechte gehören zu den Grundgütern, über deren Verteilungskriterium erst eine Entscheidung getroffen werden muss. Zu dem Problem der gerechten Verteilung von Rechten gehört auch die Frage, wem welche Rechte in welchem Maße überhaupt zukommen sollen. Die Theorie ist somit keine Vernunft- oder Naturrechtskonzeption. Verzichtet man vollständig auf das Definitionselement der inhaltlichen Richtigkeit, gelangt man zum Rechtspositivismus, demzufolge, um Hans Kelsen zu zitieren, „jeder beliebige Inhalt Recht sein (kann).“30 Dem kann sich Rawls insofern anschließen, als er keinen begrifflich notwendigen Zusammenhang von Recht und Moral sieht und der Inhalt und Umfang von Rechten im Urzustand zur Entscheidung gebracht werden. Jedoch erfolgt die Wahl des Gerechtigkeitskriteriums – und somit auch die Entscheidung über den Inhalt und den Umfang der Rechte – aufgrund des Designs des Urzustandes einmütig, notwendig und ein für allemal. Rawls ist daher auch kein Rechtspositivist. Der Rechtsbegriff von John Rawls verbindet alle drei Definitionselemente miteinander und stellt zwar keinen begrifflichen, aber einen normativen Zusammenhang zwischen ordnungsgemäßer Gesetztheit, sozialer Wirksamkeit und inhaltlicher Richtigkeit her. Das Element der ordnungsgemäßen Gesetztheit, das in dem der philosophischen Begründung gewidmeten Teil I der Theorie keine nennenswerte Rolle spielt, kommt in Teil II („Institutionen“) zum Tragen. Nachdem das allgemeine Gerechtigkeitskriterium hinter dem dicken Schleier des Nichtwissens bestimmt wurde, werden Fragen der Konstitutionalisierung, der Gesetzgebung und Rechtsprechung geklärt. Das Element der sozialen Wirksamkeit ist Gegenstand des Teil III der Theorie („Ziele“). Die Stabilität einer Gesellschaft hängt laut Rawls wesentlich vom Gerechtigkeitssinn der Bürger ab. Dieser äußert sich in der aktiven Anerkennung der Gerechtigkeitsgrundsätze, genauer: der Anerkennung und der Bereitschaft, an der Errichtung und dem Erhalt gerechter Institutionen mitzuwirken.31 In seinem späteren Werk hält Rawls diese Konzeption eines Gerechtigkeitssinns nicht mehr für ausrei29 „Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll“, Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M. 1977, S. 203. Auf diesen vorstaatlichen Rechten gründet Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, München 2006, seine libertaristische Theorie. 30 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 201. 31 Zum Gerechtigkeitssinn vgl. Rawls, Theorie, Kap. 8.
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chend. Zur Lösung des Stabilitätsproblems entwickelt er einen genuin politischen, nicht metaphysischen (aber auch nicht mehr den starken Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit erhebenden) Liberalismus.32 Aber sowohl hier wie auch in der früheren Theorie äußert sich Rawls erstaunlich sparsam hinsichtlich der Notwendigkeit der Bewehrung von Rechten. Es geht ihm, anders als den klassischen Vertragstheoretikern, nicht primär um eine Rechts- als eine Sanktionsordnung; daher beunruhigt oder beschäftigt ihn die Befugnis des Rechts zu zwingen auch nicht weiter.33 Rawls ist von Anfang an auf der Suche nach einem Gerechtigkeitskriterium, das in besonderer Weise geeignet ist, die Stabilität der wohlgeordneten Gesellschaft zu sichern. Wenn dieses Kriterium aus sich selbst heraus systemstabilisierende Kräfte mobilisieren kann, indem es den begründeten Wunsch weckt, der geteilten Gerechtigkeitsvorstellung entsprechend zu handeln, wenn es also den Gerechtigkeitssinn der Bürger prägt, dann erscheinen Sanktionen vernachlässigenswert. Und Rawls ist der Auffassung, in den beiden Grundsätzen ein Gerechtigkeitskriterium gefunden zu haben, das freiwillige Vertragstreue ermöglicht, das Ausdruck der Achtung und Selbstachtung von Personen ist und das derart zu seiner eigenen Unterstützung durch den Gerechtigkeitssinn motiviert.34 Das dritte Definitionselement, inhaltliche Richtigkeit, weist auf den so genannten Clou der Theorie zurück. Zwar verfügen wir über keinen unabhängigen Maßstab für Richtigkeit – kein Naturrecht, Vernunftrecht, göttliches Recht. Aber wir können ein korrektes und faires Verfahren konstruieren – den gemäß Fairneßbedingungen gestalteten Urzustand als Ausgangssituation –, das zu einem korrekten und fairen Ergebnis führt – den zwei Grundsätzen, die Gerechtigkeit inhaltlich spezifizieren. In Bezug auf diese Grundsätze wird nicht nur der Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit erhoben, sondern durch die Argumentation in Teil I („Theorie“) auch eingelöst. Die rationale Zustimmung aller Personen im Urzustand begründet die Grundsätze im Sinne ihrer rationalen allgemeinen Akzeptabilität. Ihre inhaltliche Richtigkeit – und somit auch die im ersten Grundsatz konstatierte inhaltliche Richtigkeit der Liste der Grundfreiheiten – hängt nicht von gesetzten oder gegebenen Normen, sondern von einem Verfahren der rationalen Rechtfertigung ab. Diese Kombination von strategischer Rationalität der Personen und Operationalisierung des moralischen Standpunktes durch den Schleier des Nichtwissens führt zu einem Ergebnis, das dem Ergebnis der Naturrechts- oder Vernunftsrechtstheorie à la Locke und Kant aber auffällig ähnelt. In diesem Sinne sind wohl auch die einleitenden Worte von Rawls zu verstehen, dass
32 Hier ist die Begründungsfrage marginalisiert, Rawls konzentriert sich auf die Lösung des „ernsten“ Stabilitätsproblems, denn wie „können einander zutiefst entgegengesetzte, aber vernünftige umfassende Lehren zusammen bestehen und alle dieselbe politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejahen? Wie müssen Struktur und Inhalt einer politischen Konzeption beschaffen sein, damit diese die Unterstützung eines übergreifenden Konsenses für sich gewinnen kann?“, Rawls, Politischer Liberalismus, S. 27 f. 33 Für die liberale Tradition ist diese freiheitsbeschränkende, vielleicht gar freiheitsverletzende Zwangsbefugnis aber stets erklärungsbedürftig, vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe hg. von W. Weischedel, Bd. VIII, 9. Aufl. Frankfurt 1991, Einleitung in die Rechtslehre, S. 336–341. 34 Zugleich gehören diese zu erwartenden Stabilitätseffekte der Grundsätze zu den Gründen ihrer Wahl, siehe Rawls, Theorie, S. 201 ff.
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er an die altehrwürdige Theorie des Gesellschaftsvertrages anschließt in dem Bemühen, sie zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsebene zu heben.35 In dieser skizzenhaften Darstellung der Grundpfeiler der Theorie des Rechts wurde deutlich, dass Rawls keine juristische, soziologische oder historische Theorie der Rechte im Sinne hat, obwohl die Geschichte der Menschenrechtserklärungen und ihrer Inkorporation in spezifische Rechtssysteme und auch die soziale Funktion von Grundrechten als Institutionen im Hintergrund durchaus eine Rolle spielen. Er intendiert eine philosophische Theorie der Grundrechte als Begründung eines allgemeinen und umfassenden Systems subjektiver Rechte.36 Hierunter fallen „Freiheiten“ als Erlaubnisse bzw. als Negationen von Geboten und Verboten, insbesondere „Rechte auf etwas“ im Sinne von negativen Handlungen des Staates. Das entspricht der Liste der Grundfreiheiten bzw. dem Katalog der Grundrechte, die im vorherigen Abschnitt ausführlich dargestellt wurden. Nun wäre es durchaus möglich, unter „Rechte auf etwas“ neben Rechten auf negative Handlungen auch soziale Grundrechte im Sinne von Leistungsrechten als „Rechte auf positive Handlungen des Staates“ zu fassen, z. B. subjektive verfassungsgemäße Rechte wie ein Grundrecht auf Fürsorge, Arbeit, Bildung, Wohnung, medizinische Versorgung. Hier zeigt sich Rawls aber, wie wir gesehen haben, äußerst zurückhaltend. Zwar erlauben manche seiner Formulierungen und insbesondere bestimmte Interpretationen des Differenzprinzips eine sozialstaatliche Lesart der Theorie. Jedoch sprechen andere Formulierungen gegen eine weitergehende leistungsrechtliche Interpretation. IV. KRITISCHE DISKUSSION Für eine sozialstaatliche Interpretation spricht für manche Autoren das Differenzprinzip, das ja nicht nur ein Kriterium für gerechtfertigte Ungleichheit, sondern auch ein Kriterium für die Kompensation unverdienter Ungleichheiten formuliert.37 Den weiteren Schritt zu einer leistungsrechtlichen Interpretation des Differenzprinzips gehen allerdings nur wenige. Rex Martin, von dem eine der wenigen Monographien zu Rawls und Rechten stammt, stellt daher eine Ausnahme dar, wenn er den zweiten Grundsatz der Gerechtigkeit so interpretiert, dass einige sozio-ökonomische Grund-
35 So Rawls, Theorie, S. 27 f. 36 Eine philosophische Perspektive auf das Recht „sucht nach den relativ überzeitlichen, überräumlichen und überkulturellen, also jenseits konkreter Vorkommnisse eines Phänomens bzw. Gegenstandes liegenden, das heißt nach den relativ notwendigen Merkmalen oder Bedingungen“, von der Pfordten, Was ist Recht? Eine philosophische Perspektive, in: Brugger/Neumann/Kirste (Fn. 28), S. 261– 285, S. 261 f. 37 Die Ergebnisse der natürlichen und sozialen Lotterie – natürliche Fähigkeiten wie Talente, Intelligenz, Temperament oder soziale Umstände wie ein besserer Startplatz in der Gesellschaft durch eine fürsorgliche, wohlhabende Familie – gelten Rawls als unverdient, da sie durch die Betroffenen weder verursacht, noch kontrolliert, noch verantwortet werden. Rawls, Theorie, S. 122: „Das Unterschiedsprinzip bedeutet faktisch, daß man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Weise als Gemeinschaftssache betrachtet […]. Wer von der Natur begünstigt ist, sei es, wer es wolle, der darf sich der Früchte nur so weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert.“ Gegen diesen brute-luck-Egalitarismus argumentiert etwa Nozick (Fn. 29), Kap. 7 und 8.
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güter ebenfalls als Grundrechte verstanden werden, die den politischen Grundrechten nicht nachgeordnet, sondern gleichwertig sind.38 Gegen eine sozialstaatliche Interpretation lässt sich vorbringen, dass weder in dem ersten, noch in dem zweiten Grundsatz der Gerechtigkeit solche Phänomen wie chronische Krankheiten und Behinderungen, dauerhafte Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit erfasst werden. Die Theorie geht von einer Konvergenz der Gemeinschaft der Kooperationsfähigen – der freien, gleichen, nutzennoptimierenden Egoisten im Urzustand – und der Gerechtigkeitsgemeinschaft aus – den kooperations-, partizipations- und marktfähigen Bürgern. Aber die „Adressaten sozialstaatlicher Versorgung sind gerade die Mitmenschen, die entweder aus der Kooperationsgemeinschaft ausgestoßen oder nicht in sie aufgenommen werden.“39 Fälle von Kooperationsunfähigkeit fallen für Rawls nicht in den Anwendungsbereich der politischen Gerechtigkeit, somit auch nicht in die Verantwortung staatlicher Institutionen. Er meint, dass man sich gegen mögliche Nachteile von Krankheit, Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, privat versichern könne und man grundsätzlich seine Interessen und Ziele seinen individuellen Mitteln anpassen müsse.40 Ob nun das Differenzprinzip sozialstaatliche Maßnahmen rechtfertigt oder nicht – jedenfalls schließt Rawls ausdrücklich aus, dass diese Maßnahmen als Akt der Konstitution sozialer Rechte verstanden werden. Sozio-ökonomische Grundgüter – Einkommen, Besitz, mit beruflichen Positionen verknüpfte Befugnisse und Vorrechte, die sozialen Grundlagen des Selbstwertgefühls – haben ihren Platz nicht als Leistungsrechte in der Verfassung, sondern unterliegen den einfachgesetzlichen Regelungen des parlamentarischen Gesetzgebers. Sie entfalten ihren vollen Wert im Bereich des Marktes, des Sozialen und des Privaten. Die Gründe, die Rawls für diese Position benennt oder nahe legt, werden im Folgenden zusammengeführt und abschließend kritisch gewürdigt. Individualismus und der strategische Wert der Freiheit. Freiheit ist für Personen von höchstem Interesse, denen ihre Autonomie, die Möglichkeit zur freien Verfolgung ihrer Interessen und zur Selbstbestimmung ihres Lebens sowie die Freiheit von Zwang durch Dritte, insbesondere durch politische Institutionen, besonders wichtig sind. Für solche Personen, die Rawls in Fortführung des liberalistischen Individualismus als freie und gleiche Eigennutzenmaximierer in den Urzustand stellt, hat Freiheit einen strategischen Wert für den Schutz des autonomen Individuums. Dieser Wert 38 Vgl. Martin, Rawls and Rights, Lawrence 1985, S. 110 ff. Vergleichbar Michelman, In Pursuit of Constitutional Welfare Rights: One View of Rawls’ Theory of Justice, Pennsylvania Law Review 121 (1973), S. 962–1019; Parker (Fn. 17), S. 274 f. Siehe auch Hinsch, Rawls’ Differenzprinzip und seine sozialpolitischen Implikationen, in: Blasche/Döring, Sozialpolitik und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1998, S. 17–74. 39 Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar 2000, S. 161. Kersting ist der Auffassung, dass Rawls wichtige Motive egalitaristischer Sozialstaatstheorie entwickelt, aber eben nicht ausgeführt habe. 40 Was so herzlos klingt, hat seinen Grund darin, dass in der Theorie der Schutz vor institutionellen Formen des Unrechts zentral ist und etwa Behinderungen und chronische Krankheiten nicht institutionell verursacht oder geregelt werden können, und im Falle der Arbeitslosigkeit aus Effektivitätsgründen nicht institutionell geregelt werden sollen. Das entspricht durchaus der Rechtsprechung des Supreme Court seit Ende der 1980er Jahre, siehe Michelman (Fn. 3), S. 408 ff. Gegen diesen Mainstream argumentiert er in: The Constitution, Social Rights, and Liberal Political Justification, International Journal of Constitutional Law 2003 (13), S. 13–34.
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ist so groß, dass die Grundfreiheiten ein absolutes Gewicht und Vorrang vor allen anderen Gütern und Werten, insbesondere der Wohlfahrt und der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit, erhalten. Einschränkungen dieser Freiheiten werden nur in begründeten Ausnahmefällen hingenommen; sie sind in besonderer Weise legitimationspflichtig. Das leitet über zu: Normabstufungen im Verfassungsstaat. Das Recht geht mit organisierten Zwangsmitteln zu seiner Durchsetzung einher, die gegebenenfalls tief in die Freiheit des Individuums eingreifen. Grundrechte sind als verfassungsgemäße subjektive Rechte in besonderer Weise garantiert, daher behält sich Rawls eine möglichst kurze, klar begrenzte, essentielle Liste unbedingt zu gewährleistender Jedermann-Rechte vor.41 Für deren Schutz und lexikalische Vorordnung müssen zum einen politische Institutionen „Kosten“ veranschlagen – etwa einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die gegebenenfalls gegen den Gesetzgeber vorgeht. Zum anderen ist die starke Bewehrung der Grundrechte ja auch für den Einzelnen mit „Kosten“ verbunden, insofern er gegebenenfalls Beschränkungen seiner Handlungsfreiheit und seiner Lebenspläne hinnehmen muss, wenn diese Grundfreiheiten Dritter verletzen. Das spricht für die Normabstufungen, die Rawls zwischen politischen und sozio-ökonomischen Rechten vorsieht und die im Einklang mit der verbreiteten Praxis liberaler Demokratien stehen. Historische Erfahrungen. Das nordamerikanische und kontinentaleuropäische Verfassungsverständnis gründet auf einer Tradition des Verfassungsdokuments. Hierbei begründet der konstitutive Akt der Verfassungsgebung, dem vernünftige Überlegungen der am Verfassungsgebungsprozess Beteiligten vorangehen, häufig zugleich eine politische Ordnung. Diesem rational-voluntaristischen Verfassungsverständnis steht das englische, historisch-evolutionäre Verfassungsverständnis gegenüber. Hier wird seit Jahrhunderten kein Verfassungsdokument, sondern eine historisch gewachsene und anerkannte Reihe von Gesetzen, Bestimmungen und Institutionen als ungeschriebene, nichtsdestoweniger handlungsleitende Verfassungsordnung begriffen.42 In beiden Verfassungstraditionen zeigt man sich zurückhaltend bei der Konstitutionalisierung konkreter sozialer Rechte, wobei etwa das deutsche Grundgesetz mit dem Sozialstaatsprinzip einen allgemeinen Regelungs- und Gestaltungsauftrag festschreibt, insbesondere die Schaffung einer gerechten Sozialordnung und den Ausgleich sozialer Gegensätze. Schließlich gibt es eine dritte, neuere Verfassungstradition, in der nicht nur sozialstaatliche Verpflichtungen, sondern konkrete Leistungsrechte festgeschrieben werden, etwa in der brasilianischen Verfassungsordnung, die subjektive soziale Grundrechte auf Arbeit, Wohnung, Gesundheit, Erziehung nennt.43 Zugleich gehört Brasilien mit einem Gini-Koeffizienten von über 60 zu den Ländern mit der weltweit größten Ungleichverteilung. Die historischen Erfahrungen, die für die Theorie im Hintergrund ja durchaus eine Rolle spielen, sprechen also nicht für einen konzeptuellen Zusammenhang von der schriftlichen Fixierung von Leistungsrechten in einer Verfassung und der Realisierung von sozialer und wirtschaftlicher Gerechtig-
41 Zum constitutional essentialism vgl. Michelman (Fn. 3), S. 395 f. 42 Vgl. hierzu Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 3. Aufl. München 2009, Kapitel I und III. 43 Diese sind in den Art. 193–232 der Verfassung festgeschrieben, vgl. Ramos, Sind Grundrechte in Deutschland und Brasilien gleichbedeutend?, Mitteilungen der deutsch-brasilianischen Juristenvereinigung 2004 (22), S. 26–34.
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keit. Gegen einen solchen Zusammenhang spricht hingegen ein basales Rechtsstaatsprinzip: Gewaltenteilung. Die „Ein-für-allemal“-Geltung der in der Verfassung verankerten Grundrechte dient einerseits der Immunisierung gegenüber den Launen, Interessenslagen und Kontingenzen der Mehrheitsentscheidungen eines parlamentarischen Gesetzgebers. Für diese Konstitutionalisierung erwartet Rawls auf der zweiten Stufe des Vier-Stufen-Gangs allgemeine Zustimmung. Hingegen sind die gesetzlichen Regelungsprozesse sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit eben diesen Launen, Interessenslagen und Kontingenzen, die der demokratischen Willensbildung unwiderruflich aneignen, zu unterwerfen. Da aber diese Regelungen nicht wie Grundrechte „unbedingt“ zu gewährleisten, sondern nach Lage der Dinge, nach Ermessen sowie den Möglichkeiten, über die eine Gesellschaft tatsächlich verfügt, zu „gewähren“ sind, wird der Idee der Gewaltenteilung auch besser entsprochen, als wenn sich die verfassungsgebende Versammlung oder die Verfassungsgerichtsbarkeit diese hypertrophe Aufgabe aufbürdete und damit Gefahr liefe, den Gesetzgeber zu bevormunden.44 Ein weiteres rechtstheoretisches Argument betrifft die Lösung des Problems der Rechte im Konflikt. Mit dem konstitutionellen Essentialismus verbindet Rawls die Erwartung, dass eine schlanke, wohlbestimmte, transparente Liste der Grundfreiheiten zu einer Verminderung von Grundrechtskollisionen führt. Eine enge Grundrechtstatbestandstheorie lasse rationalerweise eine höhere Kohärenz der Grundrechte untereinander erwarten.45 Des weiteren schaffe die absolute Gewichtung und Priorität der Grundrechte eine klare Rangordnung zwischen politischen und sozio-ökonomischen Grundgütern, so dass potentielle Konflikte von politischen und sozialen Rechten von vorneherein ausgeschlossen werden. Wo es keine Abwägungen und Verhandlungen dieser Güter und Rechte gegeneinander gebe, sei auch eine geringere Wahrscheinlichkeit interpersoneller bzw. gesellschaftlicher Konflikte zu erwarten. Das ist die Grundlage für Das Stabilitätsargument. Die Zustimmung der Personen im Urzustand für zwei lexikalisch geordnete Grundsätze, ihre reziproke rationale Akzeptabilität, ist die begründungstheoretische Grundlage des Gerechtigkeitssinns. Die Stabilität der wohlgeordneten Gesellschaft ist auf dieses bürgerschaftliche Einverständnis bezüglich einer gemeinsamen und institutionalisierten Gerechtigkeitsvorstellung gegründet. Die Personen im Urzustand werden rationalerweise solche Grundsätze wählen, von denen sie erwarten können, dass sie den Gerechtigkeitssinn befördern.46 Für den Grundsatz der gleichen Freiheit ist eine solche allgemeine Zustimmung zu erwarten, weil er dem normativen Selbstverständnis demokratischer Bürger und ihrem Bedürfnis nach Selbstachtung entspricht. Gleiche umfassende, garantierte subjektive Grundrechte „passen“ zu den Bürgern pluralistischer moderner Gesellschaften. Da die Bürger dieser Gesellschaften aber auch von einem individualistischen Leistungs-, Verdienst- und Verantwortungsprinzip überzeugt sind, des weiteren die Vorteile einer kompetitiven Wirtschaftsordnung, den Wert der Wohlfahrt genießen wollen, „passt“ es zu diesen Bürgern und ihrem Gerechtigkeitssinn, dass Fragen der politischen Ge44 So auch Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftstheorien, Tübingen 1990, S. 234. 45 Zu den Details einer solchen engen Grundrechtstatbestandstheorie vgl. Alexy (Fn. 24), S. 278 ff. 46 Zum Stabilitätsargument ausführlich Hinsch (Fn. 11), Gerechtfertigte Ungleichheit, S. 38 ff.
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rechtigkeit anders behandelt werden als Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Aber der Vorrang des ersten Grundsatzes darf nicht als Vorrang der politischen Gerechtigkeit verstanden werden, die beiden Grundsätze sind miteinander verknüpft durch den Wert der Freiheit. Rawls ist sich durchaus darüber im Klaren, dass die wirtschaftliche und soziale Dimension der Gerechtigkeit nicht einfach von der politischen Dimension getrennt werden kann. Gleiche Grundfreiheiten sollen nicht bloß „formal“ gelten.47 Der Wert der Freiheit erhöht sich durch entsprechende sozial- und wirtschaftspolitische Regelungen, denn die „Freiheit besteht in dem gesamten System der gleichen bürgerrechtlichen Freiheiten; der Wert der Freiheit für einzelne oder Gruppen hängt von deren Fähigkeit ab, innerhalb dieses Rahmens ihre Ziele zu erreichen“.48 Diese Fähigkeit ist unter anderem von sozio-ökonomischen Strukturen abhängig, hier muß – und wie Rawls annimmt, wird – für den fairen Wert der gleichen politischen Freiheiten für alle gesorgt werden.49 Es mag zutreffen, dass für Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben müssen, der Wert der Freiheit gering, vielleicht zu gering wäre. Aber diesen Fall versuchen die Personen im Urzustand ja gerade auszuschließen durch die Wahl und Interpretation des zweiten Grundsatzes gemäß demokratischer Gleichheit.50 So wird laut Rawls niemand unter das Existenzminimum fallen und außerdem ein relativ hoher gesellschaftlicher Wohlstandssockel erreicht werden.51 Diese facettenreiche Argumentationsweise von John Rawls ist mit drei grundsätzlichen kritischen Einwänden zu konfrontieren. Erstens: Ist die Theorie überhaupt geeignet, die lokalen und globalen Gerechtigkeitsprobleme der Gegenwart erfassen? Zweitens: Bedeutet die lexikalische Nachordnung der Grundbedürfnisse, dass wir auch eine Gesellschaft als gerecht betrachten müssen, in der alle gleiche umfassende politische Rechte und Freiheiten haben, aber in der viele extrem arm sind, vielleicht ums Überleben kämpfen müssen? Und schließlich drittens: Ist das Vertrauen, das Rawls dem Gesetzgeber und dem Markt in Fragen der sozialen Sicherung entgegenbringt, gerechtfertigt? Erscheint der Ausschluss eines Prinzips wie das der Solidarität, die Verbannung des Gewissens in private und freiwillige Barmherzigkeit, wünschenswert oder auch nur rational? Der erste Einwand ist kraftvoll: Zu sehr scheint die Theorie mit ihrem Fokus auf die U.S.-amerikanische Gesellschaft der 60er Jahre in ihren Entstehungsbedingungen verhaftet zu sein, um die gegenwärtigen lokalen und globalen Probleme der Gerechtigkeit zu erfassen. Schon in den westlichen liberalen Demokratien mit der zuneh-
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Rawls, Theorie, S. 197: „Viele und insbesondere radikale Demokraten und Sozialisten haben argumentiert, daß – obwohl die Bürger vielleicht gleich scheinen – die mutmaßlich entstehenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten zu groß seien, wenn die Grundstruktur die Grundfreiheiten und faire Chancengleichheit umfasse. Die Zahlungsfähigeren und Vermögenderen könnten den Lauf der Gesetzgebung zu ihren Gunsten beeinflussen.“ Rawls, Theorie, S. 233. Eine auch von Rawls aufmerksam rezipierte Kritik dieser Unterscheidung ist Daniels, Equal Liberty and the Unequal Worth of Liberty, in: ders. (Fn. 1), S. 253–281. Vgl. die Maßnahmen, die Rawls, Theorie, S. 255 f., vorschlägt. Siehe hierzu die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des zweiten Grundsatzes, Rawls, Theorie, S. 86 ff. Er erwartet ein gerechtes Niveau der Bedürfnisbefriedigung und materiellen Sicherung, vgl. Theorie, S. 589.
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menden Globalisierung von Wirtschafts- und Sozialleistungsströmen und der Lokalisierung von Armut, insbesondere der Verknappung von Arbeit, verliert der Glaube an das individualistische Verdienst-, Leistungs- und Verantwortungsprinzip und an die „sozialen Kräfte“ des Marktes an Anziehungskraft. Für eine Theorie der internationalen Gerechtigkeit hingegen kann die Rawlssche Argumentationsweise für das Gewicht und die Priorität der politischen Grundfreiheiten schwerlich überzeugen, wie Thomas Pogge betont: „Thus starvation, malnutrition, and many eradicable diseases common in the Third world today may constitute violations of basic liberties, as do deaths, injuries, and health-problems which are due to the lack of effective handgun-legislation, or caused by products, equipment, or jobs which are unsafe as a consequence of intention or negligence.“52 Rawls selbst nimmt in Reaktion auf diesen Einwand eine wichtige, aber in ihren Konsequenzen ungeklärte Modifikation der Theorie vor. So heißt es in Politischer Liberalismus, dass dem ersten Grundsatz, „der die gleichen Grundrechte und Freiheiten betrifft, ohne weiteres ein vorrangiger Grundsatz vorangestellt werden (kann), der fordert, daß die Grundbedürfnisse von Bürgern befriedigt werden, jedenfalls insoweit dies eine Bedingung dafür ist, daß Bürger diese Rechte und Freiheiten verstehen und nutzenbringend ausüben können. Gewiß müssen wir irgendeinen Grundsatz dieser Art bei der Anwendung des ersten Grundsatzes voraussetzen.“53 Weniger gewiss ist, wie das „ohne weiteres“ vonstatten gehen könnte mit einem dritten Grundsatz der Gerechtigkeit. Wenn intendiert ist, eine starke Sozialstaatsklausel voranzustellen, müsste man das Verhältnis zum ersten und insbesondere zum zweiten Grundsatz klären. Wenn stattdessen ein soziales Minimum für jeden garantiert sein soll, ist zu fragen, warum Rawls nicht einfach ein Recht auf das Existenzminimum in die Liste der Grundfreiheiten aufnimmt.54 Das ist die Stoßrichtung des zweiten Einwandes. Diesem ist zu entgegnen, dass gerade weil Rawls anerkennt, dass der Wert der Freiheit von sozioökonomischen Voraussetzungen abhängt, das Gerechtigkeitskriterium zwei Grundsätze umfasst. Die Wahl und Interpretation des zweiten Grundsatzes als demokratische Gleichheit hängt aber von der Voraussetzung ab, dass die Gesellschaft keine extreme, gar lebensbedrohliche Armut aufweist. Für eine solche Gesellschaft (aber z. B. nicht für eine Dritte-Welt-Gesellschaft) können die Personen im Urzustand rationalerweise davon ausgehen, dass ein Recht auf das Existenzminimum überflüssig ist und dass das Differenzprinzip, in seiner sozialstaatlichen Interpretation, für alle Bürger selbstverständlich viel mehr als ein Existenzminimum ermöglichen wird. Schließlich zum dritten Einwand: Gesellschaften mit einem relativ hohen allgemeinen Wohlstand, moderater Güterknappheit und moderater Güterungleichheit sowie einer etablierten Tradition der Solidarität, Wohltätigkeit und karitativem Engagement werden die beiden Rawlsschen Grundsätze mit ihren politischen, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen vernünftigerweise anerkennen können. Und nur für solche Gesellschaften und deren Bürger beansprucht Rawls, dass „die Grundsätze, die gewählt würden, unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen oder sie auf annehmbare Weise erweitern. Man kann ja feststellen, ob 52 Pogge (Fn. 11), S. 61. 53 Rawls, Politischer Liberalismus, S. 71/2. 54 Als Fazit des Versuchs, diese Wendung konsistent zu interpretieren, stellt Michelman (Fn. 3), S. 407, fest: „It does all make one’s head spin, a little.“
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die Anwendung dieser Grundsätze uns zu denselben Urteilen über die Grundstruktur der Gesellschaft führen würde, die wir jetzt intuitiv und mit größter Überzeugung fällen.“55 Wir stellen zusammenfassend fest, dass keiner der kritischen Einwände wirklich durchschlägt. Mit Berücksichtigung der empirischen Voraussetzungen bezüglich der historischen, sittlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verfasstheit der Gesellschaft, für die die Theorie ein Gerechtigkeitskriterium begründet, überzeugt die vorgestellte Argumentationsweise für das Gewicht und die Priorität des ersten Grundsatzes durchaus. Anschrift der Autorin PD Dr. Elif Özmen Ludwig-Maximilians-Universität Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft Lehrstuhl für Philosophie IV Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München
55 Rawls, Theorie, S. 37.
JULIANE OTTMANN* SOLIDARITÄT UND SOZIALE AUSGRENZUNG IM SOZIALSTAAT I. EINLEITUNG Die sozialrechtlichen Reformen der letzten Jahre („Agenda 2010“, „Hartz IV“) haben dazu geführt, dass das Selbstverständnis des Sozialstaats zunehmend in Frage gestellt wird. Während ein stetig expandierender Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten dafür gesorgt hatte, dass das Gefühl der sozialen Sicherheit für die große Mehrheit der Bevölkerung zu einer Selbstverständlichkeit geworden war, nimmt bei den Menschen nun das Gefühl der „sozialen Unsicherheit“1 und die Angst vor „sozialer Exklusion“2 zu. Auch die Diskussion in den Medien über das „Prekariat“ und die „neue Unterschicht“ hat das Thema der sozialen Ausgrenzung in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. In der Wissenschaft, und dort vor allem in den Sozialwissenschaften, wird das Problem der sozialen Ausgrenzung als „neue soziale Frage“3 diskutiert und in einer Debatte über die „Überflüssigen“ thematisiert.4 Der vorliegende Artikel nähert sich dem Thema aus rechts- und sozialphilosophischer Sicht. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob die Reformen des Sozialstaates zu zunehmender sozialer Ausgrenzung führen. Zu diesem Zwecke wird zunächst der Begriff der sozialen Ausgrenzung näher betrachtet. Dann werden die Grundlagen des Sozialstaats aus rechts- und sozialphilosophischer Sicht untersucht und anhand einer Analyse des Begriffes der Solidarität dargelegt, wie sich die Reformen des Sozialstaates auf dessen Grundlagen auswirken. Dabei wird insbesondere auf den Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum und deren Verhältnis zueinander eingegangen. Abschließend soll gezeigt werden, wie ein Paradigmenwechsel im Sozialstaat dazu beiträgt, dass es zu einer sozialen Ausgrenzung bestimmter Personen und Personengruppen kommt. II. DER BEGRIFF DER SOZIALEN AUSGRENZUNG Hinter dem Begriff der sozialen Ausgrenzung können sich, abhängig von Zusammenhang und wissenschaftlicher Disziplin, ganz unterschiedliche Bedeutungen verbergen. Auch ist die Terminologie nicht einheitlich; in den Sozialwissenschaften ist
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Juliane Ottmann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005. Bude, Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Rekonstruktion, Mittelweg 2004 (36), S. 3–15, S. 3. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 357 ff. Bude/Willisch, Exklusion: Die Debatte über die „Überflüssigen“, Frankfurt a.M. 2007; Vogel, „Überzählige“ und „Überflüssige“. Empirische Annäherungen an die gesellschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit, Berliner Debatte Initial 2004 (2), S. 11–21, S. 11.
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der Begriff der sozialen Exklusion am gebräuchlichsten.5 Dieser Begriff hat seinen Ursprung im politischen Raum, wo er „der Kennzeichnung neuartiger sozialer Probleme dient, die den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaften gefährden.“6 In diesem Zusammenhang kam der Begriff der Exklusion zuerst in Frankreich auf, wo Politiker, Journalisten und Wissenschaftler in den 1960iger Jahren begannen, von den Armen als „les exclus“ zu sprechen.7 Der französische Staatssekretär René Lenoir schätzte in den 1970iger Jahren, dass etwa 10% der französischen Bevölkerung zu den Ausgeschlossenen zählten, nämlich diejenigen, die nicht von der Sozialversicherung erfasst wurden (körperlich und geistig behinderte Menschen, suizidgefährdete Menschen, ältere Invaliden, missbrauchte Kinder, Drogenabhängige, Delinquenten, Alleinerziehende, u.v.m.).8 Im Laufe der Jahre wurde der Begriff der sozialen Exklusion in Frankreich dann auf weitere gesellschaftliche Gruppen ausgedehnt. So weitete man ihn in den frühen 1980iger Jahren auf diejenigen aus, die nicht vom ökonomischen Aufschwung profitieren konnten und richtete seit den 1990iger Jahren den Blick auf immer weitere Gruppen von Ausgegrenzten. Dazu zählten dann, um nur einige Beispiele zu nennen, Langzeitarbeitslose, sozial benachteiligte und von der Bildung ausgeschlossene Jugendliche und Immigranten. Durch die Ausweitung des Begriffes der sozialen Ausgrenzung auf immer neue gesellschaftliche Gruppen wurde dessen Bedeutung nicht nur kontinuierlich ausgedehnt, sondern zunehmend auch mehrdeutig. Castel spricht von der „Heterogenität seiner Verwendungsweisen“9 und mahnt an, dass in der Verwendung des Exklusionsbegriffs, der ihm zufolge kein analytischer Begriff ist, Zurückhaltung geboten sei. Vielmehr sollte er „durch einen angemesseneren Begriff ersetzt werden, wenn es darum geht, die aktuellen sozialen Risiken und Brüche zu bezeichnen und zu analysieren.“10 Allerdings lassen die meisten Exklusionsbegriffe ein gemeinsames Merkmal erkennen, nämlich die Vorstellung von einer gesellschaftlichen Mitte und einem Rand der Gesellschaft, an den die Ausgeschlossenen gedrängt werden. Hilary Silver beschreibt soziale Exklusion in diesem Sinne als einen Prozess der Verringerung von Teilhabe, Zugang und Solidarität.11 Auf individueller Ebene bedeutet soziale Exklusion ihr zufolge „die Unfähigkeit an normativ erwarteten sozialen Aktivitäten teilzunehmen und soziale Beziehungen aufzubauen.“12 Hier wird also ein Marginalisierungsprozess13 5 Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Berding, Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1994, S. 15–45, S. 15; Silver, Social Exclusion, in: Encyclopedia of Sociology, Oxford 2006, S. 4411–4413; ders., Social Exclusion and Social Solidarity: Three Paradigms, International Labour Review 1994/5–6 (133), S. 531–578, S. 531; Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat: Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland, Wiesbaden 2007; Bude/Willisch (Fn. 4), S. 9 ff. 6 Bude (Fn. 2), S. 4. 7 Silver, Paradigms, (Fn. 5), S. 532. 8 Lenoir, Les Exclus. Un Français sur dix, 2. Aufl., Éditions du Seuill, Paris, 1989; Silver, Paradigms (Fn. 5), S. 532. 9 Castel, Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, in Bude/Willisch (Fn. 4), S. 69–86, S. 69. 10 AaO, S. 69. 11 Silver, Encyclopedia (Fn. 5), S. 4411: „a process of declining participation, access and solidarity.“ 12 Silver, Encyclopedia (Fn. 5). S. 4411: „the incapacity to participate in normatively expected social activities and to build meaningful relations.“ 13 Castel (Fn. 9), S. 83.
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beschrieben. Auf gesellschaftlicher Ebene spiegelt soziale Exklusion, Hilary zufolge, einen Mangel an sozialem Zusammenhalt und Integration wider.14 In der Politik werden Fragen der sozialen Ausgrenzung sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene seit einigen Jahren zunehmend thematisiert. Die Europäische Kommission legte 2001 auf der Basis des European Household Panels (ECHP)15 vier Bereiche fest, in denen sie soziale Ausgrenzung bekämpfen will.16 Dazu zählen die Armutsbekämpfung (financial poverty), Arbeit (employment), Gesundheit (health) und Bildung (education). Ähnlich unterscheidet auch der Bericht über „Poverty and Social Exclusion in Britain“ aus dem Jahr 2000 „dimensions of exclusion“ und untersucht die vier folgenden Dimensionen von Ausgrenzung: Verarmung und mangelnder Zugang zu einem adäquaten Einkommen (impoverishment, or exclusion from adequate income or resources), mangelnden Zugang zum Arbeitsmarkt (labour market exclusion), mangelnden Zugang zu Dienstleitungen (service exclusion) sowie den Ausschluss von sozialen Beziehungen (exclusion from social relations).17 Die Bundesregierung konstatierte bereits in ihrem 2001 vorgelegten „Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesrepublik“, dass in Deutschland „soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen hat“.18 Als eine der wesentlichen Ursachen für soziale Ausgrenzung nennt der Bericht Armut und stellt fest, dass die Hauptursachen für erhöhte Armutsrisiken „in der Erwerbssituation, im Bildungsstatus und in der Familiensituation liegen.“ 19 Eine wichtige Rolle im Kampf gegen soziale Ausgrenzung soll die Beschäftigungsund Arbeitsmarktpolitik spielen. Denn die „Teilhabe an der Erwerbsarbeitsgesellschaft und das dadurch erzielbare Einkommen bestimmen die Lebenssituation der Menschen wesentlich. Arbeitslosigkeit, vor allem über einen längeren Zeitraum, bedeutet Einkommensverlust und kann zu Unterversorgungslagen und zu sozialer Ausgrenzung führen.“ 20 Auch der „Dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ von 2008 thematisiert soziale Ausgrenzung unter dem Gesichtspunkt des Bildungsmangels und des Ausschlusses aus dem Arbeitsmarkt.21 Zu den besonders armutsgefährdeten – und
14 Silver, Encyclopedia (Fn. 5), S. 4411: „It reflects inadequate social cohesion or integration.“ 15 European Household Panel, siehe: http://circa.europa.eu/irc/dsis/echpanel/info/data/information.html (Stand 9. März 2009). 16 Dazu ausführlich Dennis/Guio, „Statistics in Focus: Poverty and social exclusion in the EU after Laeken- art 1“, Brüssel, 2003. Siehe auch: Joint report by the Commission and the Council on social inclusion 101/04), Brüssel, 5. März 2004. 17 Gordon et al., Poverty and Social Exclusion in Britain, York 2000. Der Bericht ist zu finden unter http://ww.jrf.org.uk/bookshop/eBooks/185935128X.pdf (Stand 9. März 2009). 18 Bundesregierung, Lebenslagen in Deutschland, Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2001. S. XV. Der aktuelle, dritte Armutsbericht (2008) ist nachzulesen unter: www. bmas.de/coremedia/generator/26742/property=pdf/dritter__armuts__und__reichtumsbericht. pdf (Stand 9. März 2009) 19 Bundesregierung (Fn. 18), S. XXXV. 20 Bundesregierung (Fn. 18), S. XXVII. 21 Bundesregierung, Lebenslagen in Deutschland. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht, 2008 (Fn. 18). Allmendinger/Leibfried, Bildungsarmut, Aus Politik und Zeitgeschichte 2003 (21–22), S. 12–18, S. 12.
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damit ausgrenzungsgefährdeten – Gruppen zählen Arbeitslose, Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung und Alleinerziehende.“22 In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird diese Form der Ausgrenzung auch als „exclusion at the bottom“ bezeichnet. Der Ausdruck exclusion at the bottom beschreibt das Phänomen der unfreiwilligen Ausgrenzung von Personen oder Personengruppen und deren Verdrängung an den Rand der Gesellschaft. Dem gegenüber steht das Phänomen einer „exclusion at the top“. Dieser Ausdruck bezeichnet die freiwillige Abgrenzung bestimmter, privilegierter gesellschaftlicher Gruppen aus der Gemeinschaft, z. B. im Bereich der Krankenversicherung und des Bildungssystems. Beide Formen der Ausgrenzung haben eine Auswirkung auf das soziale Gefüge einer Gesellschaft und auch auf den Sozialstaat. Gleichwohl liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Betrachtungen auf der unfreiwilligen sozialen Ausgrenzung, denn gerade diese Form der Exklusion ist es, die nach dem Selbstverständnis des Sozialstaates bekämpft werden soll. III. DIE RECHTS- UND SOZIALPHILOSOPHISCHEN GRUNDLAGEN DES SOZIALSTAATS 1. INTEGRATION ALS AUFGABE DES SOZIALSTAATS Der Sozialstaat ist in Artikel 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankert und hat nach § 1 Absatz 1 SGB I die Aufgabe, zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit beizutragen. Ziel sozialstaatlicher Maßnahmen ist darüber hinaus die „Stärkung von Teilhabe und sozialer Integration“.23 Auch in der Sozialpolitik der Europäischen Union spielt der Begriff der Integration eine zentrale Rolle. Zwar sind die Zuständigkeiten der EU im Bereich des Sozialrechts beschränkt, jedoch befasst sie sich gerade in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch mit sozialen Fragen und spricht schon von einem „Europäischen Sozialmodell“. Nach dem Verständnis der Europäischen Kommission steht Europa „für harmonische, von Zusammenhalt und Integration geprägte Gesellschaften“.24 So stützt sich denn die erneuerte Sozialagenda von 2008 auf die drei Pfeiler „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität“.25 Allerdings erfüllt der Sozialstaat seine integrative Funktion nicht, wenn es zu einer zunehmenden Ausgrenzung bestimmter Menschen und Bevölkerungsgruppen kommt. Es stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass das Augenmerk des Sozialstaates zwar auf die Frage der sozialen Integration gerichtet ist, gleichzeitig aber das Problem der sozialen Ausgrenzung zu wachsen scheint. Um diese Frage zu beantworten, soll der Blick nun auf die rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen des Sozialstaats gerichtet werden.
22 Bundesregierung (Fn. 21), S. IV. 23 Bundesregierung (Fn. 21), S. IV, 5. 24 Presseerklärung der Europäischen Kommission zur erneuerten Sozialagenda vom Juli 2008 IP/08/1070. 25 Europäische Kommission (Fn. 24).
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2. PARADIGMENWECHSEL IM SOZIALSTAAT Die Frage der zunehmenden sozialen Ausgrenzung steht im Zusammenhang mit einem der Reform des Sozialstaats zugrunde liegenden Paradigmenwechsel, der die rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen des Sozialstaates berührt. Der neue Sozialstaat will die Bürger nicht mehr bloß verwalten – er will sie aktivieren. Er ist darauf gerichtet, gesellschaftlich brachliegende Arbeitskraft zu aktivieren und die Menschen für neue, dynamische Arbeitsmärkte zu befähigen. Die erste Reformwelle des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates begann in den 1990iger Jahren in den USA unter dem Slogan „from welfare to workfare“. Groß-Britannien schlug kurz darauf den „Third Way“ ein und versteht sich seitdem als „Social Investment State“. 26 Auch in Deutschland wurde bald der „Dritte Weg“ gesucht und seit der Einführung der „Agenda 2010“ vermehrt vom „leistungsfähigen Sozialstaat“ gesprochen. In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 14. März 2003 hieß es dazu: „Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten.“27 Was aber ist die Substanz des Sozialstaates? Diese Frage lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln beantworten. Während die Politik in erster Linie die ökonomischen Grundlagen des Sozialstaats im Blick hat, soll sich das Augenmerk hier auf die rechtsund sozialphilosophische Substanz des Sozialstaates richten. 3. SOLIDARITÄT IM SOZIALSTAAT Eine wichtige Grundlage des Sozialstaats bildet das Prinzip der Solidarität.28 Das Historische Wörterbuch der Philosophie definiert Solidarität als „die Bereitschaft, sich für gemeinsame Ziele oder für Ziele anderer einzusetzen, die man als bedroht und gleichzeitig als wertvoll und legitim ansieht“, besonders „die engagierte Unterstützung eines Kampfes gegen Gefährdung, vor allem gegen Unrecht, im weiteren Sinne auch Zusammenhalt, soziale Bindung, Zusammengehörigkeitsgefühl.“29 Im Rahmen des Rechts wird Solidarität auch als „juristisches Strukturprinzip des sozialen Rechtsstaats“ bezeichnet.30 26 Giddens, The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge 1998, S. 104–105. 27 Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag. 28 Zu anderen rechtsphilosophischen Begründungen des Sozialstaats, siehe Kersting, Rechtsphilosophische Probleme des Sozialstaats, Baden-Baden, 2000. 29 Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9: Se-Sp, Basel 1995, Sp. 1004 f. 30 Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat. Grundlegung einer normativen Theorie der Verteilung, Bonn 1991, S. 290. Die Literatur zum Solidaritätsbegriff im Recht ist umfangreich: Denninger, Rechtsperson und Solidarität. Ein Beitrag zur Phänomenologie des Rechtsstaates unter besonderer Berücksichtigung der Sozialtheorie Max Schelers, Frankfurt a.M., Berlin 1967; Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip, Frankfurt a.M., 1973; Bizer/Koch, Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts? Symposium zum 65. Geburtstag Erhard Denningers am 20. Juni 1997, Baden-Baden 1998; Dassmann/Depenheuer/Heinze, Solidarität in Knappheit: zum Problem der Priorität, hrsg. von Josef Isensee, Berlin 1998; C. Calliess, Subsidiaritäts- und Soli-
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a) Solidarität durch Arbeitsteilung (Émile Durkheim) Als einer der ersten31 hat sich Émile Durkheim in seiner Dissertation De la division du travail social (1893) eingehend mit den Grundlagen des juristischen Begriffs der Solidarität befasst und eine funktionale Theorie rechtlicher Solidarität aufgestellt.32 Obwohl manches heute als überholt gelten kann, lassen sich aus seinem Ansatz für die aktuelle Diskussion der rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen des Sozialstaats noch Erkenntnisse gewinnen.33 Durkheim definiert Solidarität als das soziale Band, welches das Individuum an die Gesellschaft bindet.34 „Solidarität“, sagt er, „verbindet die Individuen untereinander, die sonst unabhängig wären. Statt sich getrennt zu entwickeln, vereinigen sie ihre Anstrengungen.“35 Dabei knüpft Durkheim an Auguste Comte an und stützt seinen Begriff der (organischen) Solidarität auf das Prinzip der Arbeitsteilung. Durkheim geht davon aus, dass die Menschen in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft funktional aufeinander angewiesen sind und darum ihre Kräfte bündeln. Dabei ist die Arbeitsteilung für Durkheim kein rein ökonomisches Phänomen, sondern sie hat aus seiner Sicht auch eine moralische Funktion. Ihm zufolge besteht „die bedeutsame Wirkung der Arbeitsteilung nicht darin, dass sie den Ertrag der geteilten Funktionen erhöht, sondern dass sie sie voneinander abhängig macht.“36 Grundlage des Begriffes der Solidarität ist bei Durkheim die Vorstellung vom Individuum als sozialem Wesen, das sich mit den anderen Individuen in gegenseitiger Abhängigkeit befindet. Seinem Solidaritätsbegriff liegt damit auch ein bestimmtes Gesellschaftsbild zugrunde, das er unter dem Einfluss der Ökonomie und der Biologie entwickelte. Dieses Gesellschaftsbild wird von François Ewald so zusammengefasst: „Die Individuen führen ein Doppelleben: einerseits als Individuen, mit der Illusion ihres Bewusstseins und ihrer Freiheit, und andererseits als Teile des Ganzen, die dessen Gesetzen gehorchen und zu dessen Ordnung sie beitragen.“37 Das heißt, dass bei Durkheim die Identität der Individuen nicht als vorgängig gedacht
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daritätsprinzip in der Europäischen Union: Vorgaben für die Anwendung von Art. 5 (ex-Art. 3b) EGV nach dem Vertrag von Amsterdam, 2. Aufl., Baden-Baden 1999; von Bogdandy/Kadelbach, Solidarität und europäische Integration. Kolloquium zum 65. Geburtstag von Manfred Zuleeg, Baden-Baden 2002; Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, Frankfurt a.M. 2003; Gussone, Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen, Berlin 2006; Lais, Das Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, Baden-Baden 2007; Blanke, Die Reform des Sozialstaates zwischen Freiheitlichkeit und Solidarität, Tübingen 2007; Frauenkron, Das Solidaritätsprinzip im Umweltvölkerrecht, Berlin 2008. Der Begriff der Solidarität war bereits mit den Schriften Saint-Simons (De l’organisation sociale, Paris 1824) und Comtes (Système de politique positive, 4 Bände, Paris 1851–1854) zu einem zentralen Thema der französischen Sozialwissenschaft geworden. Ebenfalls in der Tradition SaintSimons stand Léon Bourgeois, dessen Schrift Solidarité im Jahre 1896 erschien, also kurz nach ersten Auflage von Durkheims De la divison du travail social. Durkheim war, soweit ersichtlich, der erste, der eine auf den Begriff der Solidarität basierte Theorie des Rechts entwarf. Zitiert wird im Folgenden aus der deutschen Übersetzung: Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992. In diesem Sinne auch Koenig, Wie weiter mit Emile Durkheim?, Hamburg 2008. Durkheim (Fn. 32), S. 180 ff. Durkheim (Fn. 32), S. 107. Durkheim (Fn. 32), aaO. Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 450.
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wird, sondern als Ergebnis eines Prozesses der Individualisierung. Es kann daher auch keinen Teil geben, der nicht Bestandteil eines Ganzen ist – eines Ganzen, das als soziale Tatsache (fait social) einen eigenen Existenzmodus hat, also eine Wirklichkeit sui generis ist, die anderen Gesetzen gehorcht als die Elemente, aus denen sie besteht.
b) Solidarität durch Risikoteilung (François Ewald) François Ewald entwickelt einen Solidaritätsbegriff, dessen zentraler Anknüpfungspunkt die Kategorie des Risikos ist. „Das Risiko“, so sagt er, „belegt die Tatsache, dass wir in Gesellschaft leben.“38 Ewald erläutert dies anhand des Unfalls, dessen soziale Bedeutung sich im Zuge der Industrialisierung gewandelt hat. „Der Unfall verweist nicht länger auf Gott oder auf die Vorsehung zurück und noch weniger auf das Verschulden des einen oder anderen. Er entsteht aus dem normalen, regulären Zusammenspiel der Aktivitäten, aus dem Streben nach dem Wohl als dem Gemeinwohl. Das Paradox an dieser Art von Übel besteht darin, dass es nicht durch ein Fehlverhalten des einen oder anderen, sondern aus dem Zusammenspiel der Tätigkeiten der einen und anderen entsteht. In ihm stellt sich das Soziale als Beziehung der Solidarität und Interdependenz dar. Das soziale Übel beweist, dass wir in Gesellschaft leben.“39 Die Quelle des Übels, so erklärt Ewald, verbirgt sich nicht in den Individuen, sondern in ihren Beziehungen zueinander. Darum lässt es sich auch nicht dadurch bekämpfen, dass man den Individuen individuelle Schuld zuweist, sondern indem man „die Gesellschaft als […] Subjekt jener Verpflichtungen setzt, die selbst sozial sind.“ 40 Das (soziale) Übel wird darum über das Prinzip der sozialen Solidarität kollektiviert. Die Gesellschaft wird als solidarische, gesamtschuldnerische Ganzheit gedacht, und die Kosten der eingetretenen Schäden werden sozialisiert.41 IV. SOZIALE AUSGRENZUNG IM SOZIALSTAAT Wie gezeigt wurde, stützt sich die Idee der Solidarität im Sozialstaat auf die Vorstellung des Menschen als sozialem Wesen, das nicht für sich allein gedacht werden kann, sondern immer Teil eines Ganzen ist. „Solidarisch bedeutet“, so François Ewald, „dass wir, ohne es zu wissen und bevor es uns bewusst wird – denn das Bewusstsein ist […] selbst ein Produkt der Gesellschaft –, Mitglieder in einer Vereinigung sind: Wir brauchen die anderen […].“42 Durch den Paradigmenwechsel vom verwaltenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat hat das Verständnis von Solidarität im Sozialstaat eine Veränderung erfahren.
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Ewald (Fn. 37), S. 483. Ewald (Fn. 37), S. 20. Ewald (Fn. 37), S. 24. Ewald (Fn. 37), S. 457. Ewald (Fn. 37), S. 474.
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Insbesondere die dem Solidaritätsbegriff implizite Vorstellung von Individuum, Gesellschaft und deren Beziehung zueinander, hat sich verändert. Anhand von zwei Beispielen sollen diese Veränderungen nun skizziert und gezeigt werden, wie das veränderte Solidaritätsverständnis die soziale Ausgrenzung bestimmter Personen und Personengruppen fördert. 1. INTERDEPENDENZ Die erste Veränderung betrifft die Idee der gegenseitigen Abhängigkeit der Individuen voneinander. Der neue Wohlfahrtsstaat vermittelt den Anschein, dass die Vorstellung gegenseitiger Abhängigkeit zunehmend aufgegeben wird. Hier sei noch einmal Durkheims Begriff der Arbeitsteilung aufgegriffen: Ein solches Verständnis von Arbeitsteilung basiert auf der Annahme einer funktionalen Nützlichkeit eines jeden Teils für das Ganze. Es geht davon aus, dass jeder einzelne für das Ganze einen Nutzen hat und darum gebraucht wird – doch setzt eine solche gegenseitige Abhängigkeit voraus, dass jedem Teil eine Rolle im ganzen Gefüge zukommt; dies ist nicht mehr der Fall, wenn ein Teil der Gesellschaft scheinbar überflüssig wird und die Gesellschaft für diesen keine Rolle mehr bereit hält. Heinz Bude thematisiert dieses Phänomen anhand der „Problematisierungskategorie“ der „Überflüssigen“. Er will damit „auf eine neue Rhetorik der Gefährdung durch Ausgrenzung, Ausgliederung und Aussortierung“ reagieren.43 Ähnlich formuliert es auch Robert Castel, der einen wichtigen Aspekt der „neuen sozialen Frage“ in der Existenz der so genannten „Überzähligen“ sieht. Damit sollen Personen bezeichnet werden, die für den Arbeits- und Produktionsprozess keine Funktion mehr besitzen und die als „Kostgänger“ wahrgenommen werden, die dem Sozialstaat zur Last fallen.44 Wenn es dabei zu einer strukturellen Verfestigung der Arbeitslosigkeit durch sozialstaatliche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik kommt, kann man von sozialer Ausgrenzung im Sozialstaat sprechen. Hierzu zählen zum Beispiel Fälle, in denen Arbeitslose „Opfer ihrer eigenen Mobilitätsbereitschaft“ werden und auf eine regelrechte „Maßnahmenkarriere“ zurückblicken.45 Dabei handelt es sich um Menschen, denen immer wieder – und gegebenenfalls sogar zwangsweise – Umschulungs-, Eingliederungs-, Überbrückungs- oder andere Arten von Maßnahmen angedient wurden, ohne dass diese Aktivitäten eine Rückkehr in stabile Beschäftigungsformen möglich gemacht hätten. Aus Sicht dieser Arbeitslosen wird ihre ohnehin prekäre Arbeitsmarktlage dadurch verschärft, dass sie dazu gedrängt werden, perspektivlose Maßnahmen zu durchlaufen oder Beschäftigungen zu akzeptieren, die unterhalb ihrer beruflichen Qualifikation liegen. Hinzu kommt, dass auf die berufliche Deklas43 Bude/Willisch (Fn. 4), S. 31. 44 Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 357 ff. Allerdings geht Budes Kategorie der „Überflüssigen“ noch weiter, da sie diejenigen bezeichnen soll, die „durchs Netz fallen und für die es keine Art von Schutzorganisation gibt, an die sie sich im Zweifelsfall wenden können, die für sie intern selbstorganisatorische Bedeutung hätte und ihnen andererseits eine Stimme in der Gesellschaft verliehe.“ Bude/Willisch (Fn. 4), S. 33. 45 Vogel (Fn. 4), S. 14.
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sierung häufig auch eine soziale Ausgrenzung folgt.46 Denn wenn Erwerbsarbeit – wie ja auch in der Reform des Sozialstaats immer wieder betont wird – ein zentraler gesellschaftlicher Anerkennungs- und Integrationsmechanismus ist, dann ist der Verlust der Arbeit in einer erwerbsarbeitsfixierten Gesellschaft auch immer eng mit Gefühlen sozialer Unterlegenheit und des Ausgeschlossenseins verknüpft.47 2. SOZIALES RISIKO Die zweite Veränderung betrifft die Zuordnung des sozialen Risikos. Wie gezeigt, basiert der von Ewald vorgeschlagene Begriff der Solidarität auf der Idee einer Vergesellschaftung des sozialen Risikos. Diesem Ansatz liegt die Durkheim’sche Vorstellung von der Gesellschaft als soziale Tatsache sui generis zugrunde. Damit einher geht die Vorstellung, dass soziale Risiken, die durch das Zusammenleben entstehen, auch auf der Ebene der Gesellschaft zu lösen sind und sich nicht dadurch bekämpfen lassen, dass man Individuen eine individuelle Schuld zuweist. Dagegen geht der „aktivierende Sozialstaat“ davon aus, dass jeder und jede mit Hilfe entsprechender Integrations- und Schulungsmaßnahmen „aktiviert“ und „eingegliedert“ werden kann. Gelingt diese „Aktivierung“ und „Eingliederung“ nicht, oder weigert sich der oder die Betreffende, sich „aktivieren“ oder „eingliedern“ zu lassen, dann droht eine Kürzung des Anspruchs auf Sozialleistung, und das soziale Risiko wird nicht (mehr) von der Gesellschaft als ganzer bekämpft, sondern dem Individuum mit der Geste „selbst schuld“ zugewiesen. Auf diese Weise verwandelt sich der Empfang von Sozialleistungen „von einer Ausübung bürgerlicher Rechte in das Stigma der Unfähigkeit und Sorglosigkeit.“48 Diese Stigmatisierung erläutert Zygmunt Bauman anhand des Begriffes der „Sünde“ und zeigt, wie Sozialleistungen so immer mehr als „Sündenlohn“ wahrgenommen werden: „,Nur für die wirklich Bedürftigen‘, abhängig von immer strengeren und demütigenderen Überprüfungen, verunglimpft als Belastung für den Steuerzahler, im öffentlichen Bewusstsein assoziiert mit Schmarotzertum, tadelnswerter Gleichgültigkeit, sexueller Freizügigkeit oder Drogenmissbrauch, verwandeln sich Sozialleistungen immer mehr in die zeitgenössische Variante eines Lohns der Sünde – eines Sündenlohns, den wir uns nicht nur ‚nicht leisten können‘, sondern für den wir auch keinen moralischen Grund sehen, warum wir ihn uns leisten sollten.“ 49
Eine solche Stigmatisierung von nicht eingliederungsfähigen oder aktivierungsresistenten Personen und die damit einhergehende Schuldzuweisung zeugen davon, dass unter zunehmendem Finanzierungsdruck die rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen des Sozialstaats, und damit auch dessen Legitimation, zunehmend in Frage gestellt werden.
46 Vogel (Fn. 4), S. 14. 47 Zur Rolle der Erwerbsarbeit siehe auch Engler, Bürger, ohne Arbeit: für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, 1. Aufl., erw. Ausg., Berlin 2006. 48 Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg, 1999, S. 70. 49 Bauman (Fn. 48), S. 70.
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V. SCHLUSS Obwohl der Frage der sozialen Ausgrenzung sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene eine große Bedeutung beigemessen wird, und obgleich hier wie dort die Komplexität des Problems erkannt wird,50 bleibt festzustellen, dass der Schwerpunkt sozialstaatlicher Integrationsmaßnahmen nach wie vor im Bereich der Arbeits- und Beschäftigungspolitik liegt.51 Diese Konzentration auf die Integration in den Arbeitsmarkt führt zu einer einseitigen Erfassung des Problems, und es stellt sich die Frage, was mit den Menschen geschieht, die sich trotz aller institutioneller Angebote nicht aktivieren und eingliedern lassen. Die Ausgegrenzten werden so leicht zu „Überflüssigen des neuen Wohlfahrtsstaats“.52 Es bedarf daher einer umfassenderen Debatte über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und deren Muster sozialer Einbeziehung. Dazu gehört das Hinterfragen der Erwerbsarbeit als zentralem Integrations- und Anerkennungsinstrument ebenso wie die Klärung dessen, was Solidarität im Sozialstaat heute bedeuten kann und ob dieser Begriff auf die Frage der Einbeziehbarkeit in den Arbeitsmarkt beschränkt werden sollte. Dazu gehören auch Überlegungen darüber, welch anderen Mechanismus der sozialen Teilhabe als die der Erwerbsarbeit unsere Gesellschaft bereithält. Anschrift der Autorin Juliane Ottmann Freie Universität Berlin Fachbereich Rechtswissenschaft Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Van’t-Hoff-Str. 8 14195 Berlin
50 Die Bundesregierung will eine „Gesamtstrategie“ anwenden: Sie will eine Politik verfolgen, „die zu Selbstverantwortung, Solidarität, Innovation und Kreativität anregt und die ökonomische Effizienz, soziale Sicherheit und ökologische Verantwortung miteinander verknüpft. Die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Unterversorgungslagen ist wesentlicher Bestandteil ihrer Gesamtstrategie.“ (Fn. 18), S. 215. Die EU Kommission will dem Problem der sozialen Ausgrenzung mit einem „multidimensional approach“ begegnen. Dazu: Dennis/Guio (Fn. 16), S. 2. 51 Joint report by the Commission and the Council on social inclusion (Fn. 13), S. 4: „A truly multidimensional approach will require further attention to issues such as housing, lifelong learning, culture, e-inclusion, and transport.“ 52 Bude/Willisch (Fn. 4), S. 9 ff.
ANNE KÜHLER* DAS PROBLEM DER WEIGERUNG AUS GEWISSENSGRÜNDEN UND DIE GEWÄHRUNG VON AUSNAHMEN IM RECHT – BEMERKUNGEN ZUM ANSATZ VON JOHN RAWLS I. EINLEITUNG: DAS PROBLEM DER WEIGERUNG AUS GEWISSENSGRÜNDEN 1. PROBLEMSTELLUNG Rechtliche Vorschriften werden aus verschiedenen Gründen nicht befolgt. So mögen es beispielsweise einige Menschen als unbequem empfinden, beim Motorradfahren einen Helm zu tragen, obschon sie rechtlich dazu verpflichtet wären. Der Grund für die Weigerung, die rechtliche Pflicht zu erfüllen, liegt diesfalls lediglich in einer abweichenden Präferenz. Nebst diesen gewöhnlichen Gesetzesverstössen gibt es Fälle, in denen Einzelne aus moralischen Gründen gegen das Gesetz verstossen, weil sie durch dieses verpflichtet werden, so zu handeln, wie sie es aus moralischen Gründen nicht tun dürften.1 Solche Fälle gewinnen in pluralistischen Demokratien an Bedeutung, besteht doch heute ein weitgehender Dissens über das Gute und Richtige.2 Dieser Umstand steht in einem Spannungsverhältnis zum Faktum, dass zunehmend Bereiche rechtlich geregelt werden, welche für den Einzelnen moralische Implikationen haben können. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Einzelne den moralischen Implikationen rechtlicher Anordnungen nicht immer zustimmen kann und diese deshalb nicht befolgt, obschon er an deren Erlass partizipiert hat oder jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad die Möglichkeit gehabt hätte, dies zu tun.3 Wie weit soll das individuelle Gewissen in einem solchen Fall dennoch Berücksichtigung finden? Das bekannteste Beispiel für eine solche Konstellation ist die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Ähnliche Probleme können sich indessen auch in anderen Zusammenhängen ergeben, in welchen rechtliche Vorschriften mit indivi-
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lic.iur. LL.M. (Columbia), Universität Bern. Vgl. Greenawalt, Conflicts of Law and Morality, New York/Oxford 1987, S. 230. Vgl. hierzu den Überblick bei Gowans, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Moral Disagreements, London/New York 2000, S. 2. Diese Formulierung impliziert die Möglichkeit sich widersprechender oder kollidierender moralischer Pflichten. Die Kollision von Pflichten besteht demnach darin, dass einerseits eine moralische Pflicht besteht, das Recht zu befolgen und andererseits die moralische Pflicht besteht, den Geboten des Gewissens zu folgen. Über die Frage nach der Möglichkeit intrapersoneller Pflichtenkollisionen wird in der Moralphilosophie nach wie vor gestritten. Dabei ist grundsätzlich anerkannt, dass es verschiedene Gründe für Handlungen gibt, welche kollidieren und zu Konflikten führen können. Ungeklärt ist, ob solche Pflichtenkollisionen unauflösbar sind oder nicht. Dieser Streit kann indessen vorliegend offen bleiben. Es wird davon ausgegangen, dass es Menschen gibt, welche dem Ruf ihres Gewissens folgen müssen und dadurch in Konflikt mit einem rechtlichen Gebot geraten. Wäre der ihnen dadurch entstehende Konflikt ein unauflösbarer, stellte dies einen weiteren Grund dar, der rechtlichen Vorschrift nicht zu folgen. Vgl. zum Problem der Pflichtenkollision Anderheiden, Pluralismus und Pflichtenkollision als Grenze und Aufgabe der Sozialphilosophie, Würzburg 2000, S. 34 ff. und S. 93 ff.
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duellen moralischen Geboten konfligieren. Zu denken ist an die Weigerung, am Schulunterricht oder an bestimmten Schulfächern zu partizipieren, oder an die Leistungsverweigerung im medizinischen Bereich, was etwa beim Schwangerschaftsabbruch oder bei der Sterbehilfe eine Rolle spielt. Die Gründe dafür, dem eigenen Gewissen zu gehorchen, sind vielfältig. Gesetzesverstösse aus Gewissensgründen können etwa Ausdruck der persönlichen Identität oder des moralischen Selbstkonzepts sein oder sich aus einer Treuepflicht gegenüber Verbindlichkeiten ergeben, welche man eingegangen ist. Weiter werden Gewissensbefehle beispielsweise auf einen „inneren Gerichtshof “, auf Gottes Willen oder auf Selbstrespekt zurückgeführt. 2. DEFINITION UND ABGRENZUNGEN Unter „Weigerung aus Gewissensgründen“ wird hier die Nichterfüllung einer mehr oder weniger unmittelbaren gesetzlichen Verpflichtung oder Verwaltungsanordnung aus Gewissensgründen verstanden.4 Sie ist von anderen Formen der Nonkonformität im demokratisch verfassten Rechtsstaat zu unterscheiden. Anders als beim zivilen Ungehorsam geht es hierbei nicht um einen appellhaften Verstoss gegen das Gesetz, mit dem Zweck, die Öffentlichkeit auf einen Missstand aufmerksam zu machen.5 Die Weigerung aus Gewissensgründen ist in diesem Sinne, wie Rawls festhält, keine Handlung vor dem Forum der Öffentlichkeit. Im Unterschied zur Ausübung eines Widerstandsrechts stellt die Verweigerung aus Gewissensgründen keinen politisch motivierten Gesetzesbruch dar, der einen Regierungs- oder Systemwechsel herbeiführen will.6 Und anders als andere Formen der Nichtbefolgung des Gesetzes ist sie moralisch motiviert. 3. WEIGERUNG AUS GEWISSENSGRÜNDEN UND DAS PROBLEM DER AUSNAHMEGEWÄHRUNG VON ALLGEMEINEN RECHTLICHEN PFLICHTEN In der Praxis geht es beim Problem der Weigerung aus Gewissensgründen oftmals um die Frage, ob eine gewissensbedingte Ausnahme von einer allgemeinen Norm gewährt werden soll.7 Das Recht kennt verschiedenste Instrumente, welche eine Ausnahmeregelung für solche Fälle ermöglichen. Es können hierfür sowohl verfassungsmässige
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Vgl. hierzu Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, S. 405. Ich beziehe mich im Folgenden auf die deutschen Übersetzungen von Rawls’ Werken. Bestimmte Handlungen können allerdings sowohl Akte zivilen Ungehorsams als auch Weigerungen aus Gewissensgründen darstellen – eine scharfe Trennung der beiden Konzepte ist nicht möglich. Vgl. die Begriffe und Unterscheidungen bei Rawls (Fn. 4), S. 399 ff. Raz, The Authority of Law, Oxford 1979, S. 263. Im Folgenden wird Bezug genommen auf Ausnahmen von allgemeinen rechtlichen Pflichten, d.h. von solchen rechtlichen Pflichten, welche nicht an eine bestimmte Religion oder Weltanschauung anknüpfen und somit ,neutral‘ sowie von allgemeiner Geltung sind. Diese bezwecken zwar die Förderung legitimer säkularer öffentlicher Interessen, können dabei aber nicht beabsichtigte Wirkungen auf die Ausübung von Religion oder Gewissen entfalten. Dabei sind nicht nur Gesetze im formellen Sinne, sondern auch Gesetze im materiellen Sinne wie beispielsweise Verordnungen angesprochen.
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Rechte wie die Gewissensfreiheit als auch gesetzliche Ausnahmeklauseln in Anspruch genommen werden. So wird das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen je nach Rechtsordnung entweder durch die Verfassung garantiert oder gesetzlich geregelt. Gewissensbedingten Ausnahmesituationen kann ferner mittels der verfassungskonformen Auslegung von einfachem Gesetzesrecht Rechnung getragen werden. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit wirkt sich zudem mittelbar über bekannte Rechtfertigungsgründe wie die Wahrnehmung berechtigter Interessen im Zivil- und im Strafrecht dahingehend aus, dass an sich Verbotenes gerechtfertigt werden kann. Im Folgenden richtet sich der Fokus indessen auf philosophische Positionen zu dieser Frage. Dabei zeigt der Blick auf Lösungsansätze aus der Philosophie eindrucksvoll das Spannungsfeld zwischen gesetztem Recht und individueller Autonomie auf, in welchem die Fragestellung zu verorten ist. Schliesslich wird der Ansatz von Rawls diskutiert und der Bogen zum Recht gespannt, indem dieser Ansatz aus rechtlicher Sicht gewürdigt wird. II. VORRANG DES GESETZTEN RECHTS ODER DES INDIVIDUELLEN GEWISSENS? 1. VORRANG DES GESETZEN RECHTS? Unter den Lösungsansätzen für das Problem der Weigerung aus Gewissensgründen finden sich sowohl „radikale“ als auch differenzierte Positionen. „Radikale“ Positionen räumen entweder dem gesetzten Recht oder dem individuellen Gewissen apriorisch den Vorrang ein. Einen solchen Ansatz, nämlich die apriorische Bevorzugung des gesetzten Rechts, vertreten etwa Hobbes und Rousseau. Sie gehen davon aus, dass die Bürger eine moralische Pflicht haben, das Recht zu befolgen, ungeachtet von Gewissenskonflikten. So stellt das subjektive Gewissen des Individuums in der Staatslehre von Hobbes nur eine Bedrohung für die staatliche Souveränität dar.8 Ein Recht des Individuums, zu entscheiden, „was gute und schlechte Handlungen sind“, würde die Autorität der höchsten Gewalt untermauern sowie Sicherheit und Frieden gefährden. Nicht das eigene Urteilen, sondern das bürgerliche Gesetz soll Richtschnur für das Handeln des Einzelnen sein und der „einzige Erkenntnisgrund für gute und böse Handlungen“.9 Allein der Herrscher besitze das Recht, über „gut“ und „schlecht“ zu urteilen. Für die Berufung auf das individuelle Gewissen lässt die staatliche Ordnung nach Hobbes deshalb keinen Raum. Rousseau postuliert die dem Volk übertragene Souveränität in seiner Staatsvertragslehre als schrankenlos und unbeschränkbar. Die Einzelnen unterstellen sich im Gesellschaftsvertrag dem Gemeinwillen („volonté générale“), welcher durch den Zusammenschluss der Einzelinteressen entsteht. Der „volonté générale“ als souveräner Gewalt schuldet der Bürger Gehorsam.10 Da die Gesetze Ausdruck des Gemeinwillens 8 Vgl. Hobbes, Leviathan, Stuttgart 1980, S. 269. 9 Hobbes (Fn. 8), aaO. 10 ,(W)er (…) sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, (wird) von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen (…), was nichts anderes heisst, als dass man ihn zwingt, frei zu sein.‘ Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1996, S. 21.
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sind, kann es zu keinem Widerspruch zwischen individuellem Gerechtigkeitsempfinden und dem Gesetz kommen. Nach Rousseau kann das Gesetz nicht ungerecht sein, weil niemand gegen sich selbst ungerecht sein könne. Einen möglichen Konflikt zwischen individueller moralischer Norm und dem Gesetz diskutiert Rousseau nicht; seine Theorie des politischen Gemeinwesens schliesst einen solchen – so muss vermutet werden – von vornherein aus. Auch Kant betrachtet die individuelle, mit allgemeinen Rechtsnormen konfligierende Gewissensverpflichtung nicht ohne weiteres als hinreichenden Grund dafür, durch diese Rechtsnormen nicht verpflichtet zu werden.11 Sein Begriff der Autonomie unterstellt nicht, dass der autonome Mensch an keine objektiven Normen gebunden sei. Das Recht enthält nach Kant das moralische Gebot seiner Befolgung.12 Legitimes Recht, d.h. solches, welches dem kategorischen Imperativ folgt und mit dem Sittengesetz vereinbar ist, kann – folgt man Kant – nicht mit dem im Gewissen vergegenwärtigten allgemeinen Vernunftgesetz kollidieren. Die kategorische Verpflichtung zur Rechstbefolgung findet bei Kant aber dann eine Grenze, wenn sie „dem inneren Moralischen widerstreitet“.13 Sollten die Gesetzgeber den Rechtsunterworfenen etwas gebieten, „was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist“, so dürfen und sollen diese die gesetzlichen Anordnungen nicht befolgen.14 Die Folgen solchen passiven Widerstands müssten aber die Einzelnen selber tragen – nach Kant würden sie wegen ihrer Gewissensüberzeugung nicht privilegiert werden.15 2. VORRANG DES INDIVIDUELLEN GEWISSENS? Heute werden konfligierende Gewissensüberzeugungen in der Philosophie stärker berücksichtigt. Spricht nicht die moralische Autonomie des Subjekts gar dafür, im Falle der Unvereinbarkeit von moralischen Überzeugungen mit rechtlichen Anordnungen Ersteren den Vorrang zuzugestehen? Dieses Problem wird auch als „Dilemma der Autonomie“ beschrieben.16 Würde der moralischen Autonomie in jedem Fall Priorität gegenüber der Rechtsbefolgungspflicht eingeräumt, müssten staatliche Autorität im allgemeinen und auch die Verbindlichkeit rechtlicher Normen im Ergebnis negiert werden. Eine solche anarchistische Position würde im Fall eines Konflikts zwischen gesetzlichen und moralischen Vorschriften den apriorischen Vorrang der individuellen Gewissenspositionen postulieren. Es liegt auf der Hand, dass ein derart radikaler Ansatz kaum zur Lösung des Problems beitragen kann. 11 Vgl. hierzu Ludwig, Kants Rechtslehre, in: Kant Forschungen, Band 2, Hamburg 1988, S. 175. 12 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Band VIII, Frankfurt a.M. 1977, S. 438 u. 497. Vgl. Ludwig (Fn. 12), S. 96 f.; Kersting, Kant über Recht, Paderborn 2004, S. 191 ff. 13 Kant (Fn. 12), S. 497. 14 Siehe hierzu Ludwig (Fn. 11), S. 175. 15 Absolut unzulässig wäre demgegenüber aktiver Widerstand gegen die Anordnungen der ,Obrigkeit‘. Kant stellt die Frage, wer denn in diesem ‚Streit zwischen Souverän und Untertan Richter sein soll‘. Vgl. Kant (Fn. 12), S. 440. 16 ,If the individual retains his autonomy by reserving to himself in each instance the final decision whether to cooperate, he thereby denies the authority of the state; if, on the other hand, he submits to the state and accepts its claim to authority then (…) he loses his autonomy.‘ Vgl. Wolff, In Defense of Anarchism, New York 1976, S. 40.
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Es herrscht denn heute auch die differenziertere Auffassung vor, dass weder dem Gewissen noch dem gesetzten Recht apriorisch der Vorrang einzuräumen ist, sondern dass ein moralisches und/oder ein juridisches Recht auf die Weigerung aus Gewissensgründen besteht oder eine Weigerung wenigstens gerechtfertigt werden kann. Im Folgenden wird der Ansatz von John Rawls, welcher die Weigerung aus Gewissensgründen im Sinne einer differenzierten Position diskutiert, beispielhaft dargestellt. III. WEIGERUNG AUS GEWISSENSGRÜNDEN BEI RAWLS UND DAS KONZEPT DES GUTEN ALS DAS VERNÜNFTIGE 1. ALLGEMEINES Rawls führt die Legitimität staatlicher Herrschaft auf die hypothetische, also gedachte Zustimmung und auf die freiwillige Selbsteinschränkung der Person im Urzustand zurück.17 Er konstruiert eine Ausgangssituation, in welcher die hypothetische Zustimmung zu den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen erteilt wird.18 Auf der Grundlage dieser Zustimmung werden demnach allgemein verbindliche Prinzipien ermittelt. Rawls stützt die Verpflichtungskraft des Rechts jedoch nicht allein auf die hypothetische Zustimmung der Einzelnen ab, sondern er führt weitere, unabhängige Gründe an, nämlich das Prinzip der Fairness und die natürliche Pflicht, gerechte Institutionen zu erhalten.19 Damit begründet er eine moralische Pflicht des Einzelnen, das Recht zu befolgen. Er diskutiert kein (moralisches oder juridisches) Recht auf die Weigerung aus Gewissensgründen, sondern lediglich deren Rechtfertigung. 2. DER ANSATZ IN DER „THEORIE DER GERECHTIGKEIT“: WEIGERUNG AUS GEWISSENSGRÜNDEN UND DAS PROBLEM DER KRIEGSDIENSTVERWEIGERUNG In seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) unterscheidet Rawls zwischen der Weigerung aus Gewissensgründen, welche auf „politischen Grundsätzen“ beruht, und der 17 Rawls (Fn. 4), S. 27 ff. 18 Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz lautet: ,Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten, das mit demselben System für alle vereinbar ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert der gleichen politischen (und nur der politischen) Freiheiten garantiert.‘ Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz lautet: ,Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.‘ Siehe Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 69 f. (kursiv im Original). 19 Gemäss dem Prinzip der Fairness ist jeder verpflichtet, sich gemäß den Regeln einer Institution zu verhalten, wenn er freiwillig ihre Vorteile in Anspruch genommen hat oder sich der von ihr gebotenen Möglichkeiten zu seinem Vorteil bedient hat, vorausgesetzt, die Institution ist gerecht oder fair, d.h. erfüllt die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze. Die Pflicht, gerechte Institutionen zu unterstützen, besagt, dass jeder und jede die natürliche Pflicht hat, das Recht zu befolgen, wenn die Grundstruktur der Gesellschaft gerecht oder jedenfalls so gerecht ist, wie man es vernünftigerweise unter den gegebenen Umständen erwarten darf. Vgl. dazu Rawls (Fn. 4), S. 369 ff.
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Weigerung aus Gewissensgründen, welche anderen, „privaten Gründen“ folgt.20 Politische Grundsätze entsprechen den Gerechtigkeitsgrundsätzen, welche der Verfassung zugrunde liegen. So würde sich beispielsweise die gewissensbedingte Weigerung, ein Gesetz zu befolgen, welches uns verpflichten würde, bei der Versklavung anderer mitzuwirken, oder das uns selbst zu Sklaven machen würde, an anerkannten politischen Prinzipien orientieren. Private Gründe, hierzu zählen auch religiöse Grundsätze, müssen demgegenüber nicht mit der verfassungsmässigen Ordnung übereinstimmen. Hätten etwa die frühen Christen für ihre Weigerung, die vom heidnischen Staat vorgeschriebenen Kulthandlungen auszuführen, nur religiöse Überzeugungen und keine Gerechtigkeitsgründe angeführt, wäre ihre Begründung – so Rawls – „privat“ gewesen. Rawls diskutiert in der „Theorie der Gerechtigkeit“ primär die Rechtfertigung der Weigerung aus Gewissensgründen, welche sich auf politische Grundsätze stützt. Er veranschaulicht seine Position am Beispiel der Kriegsdienstverweigerung.21 Dabei unterscheidet er zwischen der Weigerung, an einem ungerechten Krieg teilzunehmen, und der Weigerung, bei einem gerechten Krieg mitzuwirken.22 Eine Nation sei dann berechtigt, Krieg zu führen, wenn sie die Grundsätze der Gerechtigkeit zwischen Staaten (wie etwa den Gleichheitsgrundsatz, den Grundsatz der Selbstbestimmung, das Recht auf Selbstverteidigung und den Grundsatz, dass Verträge einzuhalten sind) beachte.23 Es widerspreche hingegen dem Völkerrecht, einen anderen Staat anzugreifen, um wirtschaftliche Vorteile oder nationale Macht zu erlangen. Im Falle eines solchen ungerechten Kriegsgrundes sei die Weigerung, Militärdienst zu leisten, gerechtfertigt, da sich diese Position auf die Grundsätze der Gerechtigkeit zwischen Völkern und damit auf anerkannte Gerechtigkeitsgrundsätze stützt. Auch in einem gerechten Krieg seien sodann bestimmte Formen der Gewalt absolut unzulässig, und die Kriegsführung sei im Hinblick auf das Ziel des Krieges, einen gerechten Frieden herzustellen, zu beschränken. So hält Rawls fest, dass ein Soldat, welcher gewisse unrechtmässige Kriegshandlungen ausführen muss, diese verweigern darf, wenn er vernunft- und gewissensgemäss glaubt, dass die Prinzipien der Kriegsführung offenkundig verletzt seien. Die Prinzipien des Völkerrechts stellen gemäss Rawls zulässige Rechtfertigungsgründe für eine selektive Kriegsdienstverweigerung dar, weshalb diese Art von „Ungehorsam“ gerechtfertigt sei, obschon sie einen Affront gegen den Staat bedeute und dessen Macht empfindlich schwächen könne. Für Rawls ist eine solche Form von „contingent pacifism“ eine vernünftige Einstellung, im Gegensatz zu einem allgemeinen Pazifismus. Die allgemein pazifistisch begründete Weigerung, an einem gerechten Krieg, also beispielsweise an einem Krieg zu Verteidigungszwecken mitzuwirken, muss jedoch – so Rawls – nicht geachtet werden, da
20 Rawls (Fn. 4), S. 406 f. Als Beispiele für die Weigerung aus Gewissensgründen nennt Rawls die Weigerung, im Militär zu dienen, die Weigerung der frühen Christen, bestimmte, vom heidnischen Staat vorgeschriebene Kulthandlungen auszuführen, die Weigerung der Zeugen Jehovas, die Flagge zu grüßen sowie die Weigerung, eine Steuer zu bezahlen, weil man damit zu einer schweren Ungerechtigkeit gegen andere beitragen würde. 21 Rawls (Fn. 4), S. 415. Dies erfordert, so Rawls, die Grundlegung von Gerechtigkeitsgrundsätzen zwischen Staaten und eine Erweiterung der Vorstellung vom Urzustand. 22 Vgl. die Ausführungen zum gerechten Krieg bei Rawls (Fn. 4), S. 416 f. 23 Rawls (Fn. 4), aaO.
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Verteidigungskriege von der einem konstitutionellen System zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellung gebilligt werden. Im Zusammenhang mit der Weigerung aus religiösen oder weltanschaulichen Gewissensgründen betont er, dass das Gesetz das Gewissen nicht immer respektieren müsse. Der Grundsatz der gleichen Freiheit sei stets einzuhalten.24 Es dürfe jedenfalls niemand dazu gezwungen werden, gegen sein Gewissen religiöse Handlungen auszuführen, die die gleiche Freiheit verletzten. Wesentlich für eine Rechtfertigung ist hierbei, dass die Weigerung auf politischen Grundsätzen beruht. Die Weigerung aus Gewissensgründen lässt sich gemäss Rawls, übernimmt man seine hauptsächlich am Beispiel der Kriegsdienstverweigerung entwickelte Konzeption, m.a.W. nur dann rechtfertigen, wenn die Gründe für die Weigerung der Gerechtigkeitsstruktur der Verfassung entsprechen. Im Folgenden wird untersucht, ob das Rawls’sche Konzept der achtenswerten Gewissensgründe für die in einer pluralistischen Gesellschaft auftauchenden Konflikte zwischen Recht und Gewissen taugliche Lösungen bietet. 3. DAS RAWLS’SCHE KONZEPT DES GUTEN – GEWISSEN UND VERNUNFT Rawls stützt sich zur Begründung seiner Position auf das kantische Gedankenexperiment, wonach die zu berücksichtigenden Gewissenspositionen Gegenstand von Vernunftentscheidungen sind.25 Im Gewissen vergegenwärtigt sich – so Kant – das allgemeine Vernunftgesetz.26 Rawls ergänzt dieses Gedankenexperiment mit dem Konzept des Urzustands. Moralische Grundsätze sind demgemäss das Ergebnis von Vernunftentscheidungen, welchen die Menschen als freie und vernünftige Wesen im Urzustand zustimmen würden. So hält Rawls fest: „Das Gewissen eines Menschen ist fehlgeleitet, wenn er den anderen Bedingungen aufdrängen möchte, die die Grundsätze verletzen, denen jeder in dieser Situation zustimmen würde.“27 Er hält weiter fest: „Hat jemand irgendwelche Zweifel an der Vernünftigkeit seiner moralischen Gesinnungen, wenn er an ihre Entstehung denkt, so zerstreuen sie sich, wenn er erkennt, dass sie den Grundsätzen entsprechen, die im Urzustand beschlossen würden; tun sie es nicht, so wird er seine Urteile revidieren (...).“28 Für die Rechtfertigung der Weigerung aus Gewissensgründen stellt Rawls im Ergebnis auf das Kriterium der Vernünftigkeit der Gewissensgründe ab. Diese beruhen auf den politischen Grundsätzen, welche im Urzustand festgelegt würden und allgemeingültig sind. Der Kreis der vernünftigen Lehren ist somit auf jene beschränkt, welche mit den gesellschaftlich anerkannten Gerechtigkeitsgründen vereinbar sind. Denkt man an die sich in heutigen pluralistischen Verfassungsstaaten stellenden Fragen der Weigerung aus Gewissensgründen, insbesondere im Zusammenhang mit religiös-kulturellen Konflikten, stellt sich die Frage, ob Rawls genügend Raum lässt für individuelle moralische Ap24 Rawls (Fn. 4), S. 407. 25 Vgl. hierzu Rawls (Fn. 4), S. 283 ff. 26 In der 1788 erschienenen „Kritik der praktischen Vernunft“ beschreibt Kant das Gewissen als die zentrale Form, in der sich das Vernunftgesetz im Menschen Geltung verschafft. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Band VII, Frankfurt a.M. 1968, S. 223 f. 27 Rawls (Fn. 4), S. 563. 28 Rawls (Fn. 4), S. 564.
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pelle. Es scheint angesichts der Vielfältigkeit der individuellen Gewissensappelle jedenfalls problematisch, die Nichtbefolgung einer Norm aus moralischen Gründen nur dann zu rechtfertigen, wenn die moralischen Gründe auf den allgemein anerkannten, politischen Grundsätzen einer bestimmten Gesellschaft beruhen. Bei der Bezugnahme auf vernunftgeprägte Gewissenskonzepte muss man sich mit der Frage auseinandersetzen, ob diese das verfassungsrechtlich zu schützende „Gewissen“ zu erfassen vermögen. Oftmals finden sich psychologische, nicht rationale Gründe für Gewissensurteile, welche beispielsweise als Resultat der Erziehung in die Kindheit zurückreichen und als starke innere Stimme oder als Gefühle wahrgenommen werden. Wenn, dem Konzept Rawls’ folgend, bei der Bestimmung des Gewissens auf ein vernunftgeprägtes Moralverständnis abgestellt und der Schutz auf solche Gewissensüberzeugungen begrenzt würde, setzte man sich im Hinblick auf eine verfassungsrechtliche Betrachtungsweise dem Vorwurf aus, den Grundrechtsschutz zu verkürzen. Nimmt man den verfassungsrechtlichen Schutz der Gewissensfreiheit in den Blick, erweist sich das in der „Theorie der Gerechtigkeit“ vertretene Konzept achtenswerter Gewissensgründe daher als zu eng. Demokratische Verfassungsstaaten kennen heute überwiegend einen ausdrücklichen verfassungsmässigen Schutz der Gewissensfreiheit – und zwar unabhängig davon, ob das Gewissen zu „vernünftigen“ Erwägungen führt. 4. VERNACHLÄSSIGUNG DES PROBLEMS INTENSIVER GEWISSENS- UND LOYALITÄTSKONFLIKTE? Die Weigerung aus Gewissensgründen ist oftmals mit intensiven Gewissens- und Loyalitätskonflikten verbunden. Solche Konflikte können sich in konkreten Fällen etwa dann ergeben, wenn die Betroffenen einer religiösen Familie oder Gemeinschaft angehören, welche gewisse Forderungen an sie stellt, die mit ihren rechtlichen Verpflichtungen konfligieren. Diese Problematik spielt in der rechtlichen Debatte über gewissensbedingte Gesuche um Befreiung von allgemeinen rechtlichen Pflichten eine wichtige Rolle. Als Beispiele können die Entscheide über Dispensationsgesuche vom obligatorischen Schwimmunterricht genannt werden. Im Hinblick auf die rechtliche Beurteilung von entsprechenden Gesuchen stellt sich die Frage, ob das Rawls’sche Konzept den intensiven Gewissens- und Loyalitätskonflikten genügend Rechnung trägt. So würde die Argumentation, dass die geforderte Befreiung vom Schwimmunterricht deshalb gewährt wird, weil die betroffene Schülerin damit vor einem intensiven und unzumutbaren Konflikt zwischen religiös geprägter Familie und Schule geschützt wird29, das starre Konzept achtenswerter Gewissensgründe im Rawls’schen Sinne in Frage stellen. Ebenso wenig mit dem Rawls’schen Modell kompatibel wäre das Argument, dass die Befreiung vom Militärdienst einem Antragssteller deshalb gewährt wird, weil dieser zu einer religiösen Gemeinschaft gehört, welche ihm droht, ihn aus der Gemeinschaft auszuschliessen, wenn er den Militärdienst absolviert, und die psychischen Folgen eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft für ihn untragbar wären.
29 Vgl. beispielsweise das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 18. Juni 1993, BGE 119 Ia 178 E. 8.a S. 194.
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Diese Argumentationen stützen sich auf das Kriterium der Intensität des Gewissenskonflikts, welches m.E. ein wesentliches Gerechtigkeitskriterium für die Beurteilung von Konflikten zwischen Recht und Gewissen darstellt. Damit wird die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer (religiösen) Gemeinschaft für das Wohlergehen und die Identität des Menschen30 angemessen berücksichtigt und den hier angesprochenen Loyalitäten ausreichend Rechnung getragen. 5. VERNACHLÄSSIGUNG DES ANLIEGENS DES MINDERHEITENSCHUTZES? Die von Rawls konzipierte Rechtfertigungsmöglichkeit der Weigerung aus Gewissensgründen, welche auf die gesellschaftlich anerkannten politischen Gerechtigkeitsgrundsätze abstellt, steht zudem in einem Spannungsverhältnis zum Anliegen des Minderheitenschutzes. Die mit der Weigerung aus Gewissensgründen angesprochene Konfliktsituation betrifft aber im politisch-rechtlichen Bereich naturgemäss einen Konflikt zwischen Minderheit und Mehrheit. Für die rechtliche Debatte ist in diesem Zusammenhang von der „Konfliktaustragungs-Funktion“ der verfassungsmässigen Gewissensfreiheit die Rede. Mit Blick auf die Anliegen des Minderheitenschutzes sind gewisse Autonomiebereiche auf dem Gebiet der Religion, der Weltanschauung und der Lebensführung anzuerkennen. Damit wenden sich Vertreter des liberalen Multikulturalismus zu Recht gegen eine erzwungene Assimilation der Angehörigen von religiösen oder kulturellen Minderheiten an die „Mehrheitskultur“. Aufgrund des Werts der Zugehörigkeit zu einer religiös-kultuerellen Gemeinschaft sind Angehörigen von Minderheiten spezielle Rechte wie etwa Ausnahmen von einer allgemein geltenden rechtlichen Pflicht zu gewähren.31 Auch diese Problematik fordert das starre Konzept achtenswerter Gewissensgründe und das Rawl’sche Konzept der Person in der „Theorie der Gerechtigkeit“ heraus.
30 Damit ist u.a. das von Rawls vertretene Konzept der Person angesprochen, welches bereits von Vertretern des Kommunitarismus kritisiert wurde. Zu dieser Kritik eingehend Pogge, Realizing Rawls, Ithaca/London 1989, S. 63 ff. Vertreter des liberalen Multikulturalismus fordern, der Abhängigkeit des Individuums von sozialen Beziehungen und von der Anerkennung in der jeweiligen Gemeinschaft sei Rechnung zu tragen. Der Schutz des Individuums in seiner Möglichkeit, bestimmten Gruppen anzugehören, wird von dieser Denkrichtung als wesentliches Element seiner Freiheit und Autonomie bewertet. Der Verlust der Gemeinschaft würde mit dem Verlust der individuellen Identität oder des Selbstrespekts einhergehen. Vgl. Parekh, Rethinking Multiculturalism: Cultural Diversity and Political Theory, Basingstoke 2000, S. 241. 31 Vgl. Raz, Multiculturalism: A Liberal Perspective, in: ders., Ethics in the Public Domain, Oxford 2001, S. 170 ff.; Kymlicka, Liberalism, Community and Culture, Oxford 1991, S. 165; ders., Multicultural Citizenship, Oxford 1995, S. 84 ff.
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IV. DAS RAWLS’SCHE IDEAL DES DEMOKRATISCHEN BÜRGERS UND DAS PROBLEM DER GRUPPENINTERNEN BENACHTEILIGUNGEN („INTERNAL RESTRICTIONS“) 1. DAS RAWLS’SCHE IDEAL DES DEMOKRATISCHEN BÜRGERS UND DER KREIS VERNÜNFTIGER GRÜNDE IN „POLITISCHER LIBERALISMUS“ In seinem Werk „Politischer Liberalismus“ (1993) nimmt Rawls zahlreiche Ergänzungen und Revisionen seiner Gerechtigkeitstheorie vor. Er ändert das in der „Theorie der Gerechtigkeit“ vertretene Konzept der moralischen Autonomie, welches stark kritisiert wurde, da es kaum als Grundlage für einen übergreifenden Konsens in einer liberalen Gesellschaft dienen könnte. Rawls trägt nun dem Umstand stärker Rechnung, dass in einer solchen Gesellschaft unterschiedlichste Konzeptionen des Guten nebeneinander bestehen. Er schränkt die Reichweite der Idee der Autonomie deshalb beträchtlich ein und wendet diese lediglich im politischen Kontext an. Im Vordergrund der nun politischen Konzeption der Gerechtigkeit steht Rawls’ Ideal des demokratischen Bürgers, welcher die Grundsätze gesellschaftlicher Gestaltung vor den anderen Bürgern öffentlich rechtfertigen und diese Grundsätze als anerkennungswürdig ausweisen muss, ungeachtet der sozialen Stellung und der je besonderen Interessenlage einer Person.32 Die Bürger müssen ihre persönlichen moralischen Appelle in vernünftige Gründe übersetzen. Wesentlich ist hierbei das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs.33 Die Bürger haben demgemäss die Pflicht, sich auf die politische Ebene zu begeben, ihre Gründe vorzutragen und in die öffentliche Diskussion einzubringen.34 Rawls sagt somit nicht, dass die persönlichen moralischen Anschauungen kein Gewicht haben. Er etabliert aber gewissermassen eine „Bringschuld“, aufgrund welcher die vernünftigen Gründe in die öffentliche Auseinandersetzung eingebracht werden müssen.35 Dabei unterscheidet er zwischen den der Hintergrundkultur zugehörenden umfassenden Lehren einerseits und den Konzeptionen des Guten, welche die Bedingungen der Öffentlichkeit erfüllen, andererseits. Er hält fest: „ (...) Ideen des Guten (können), falls nötig, zur Ergänzung der politischen Gerechtigkeitskonzeption ungehindert eingeführt werden, solange es sich um politische Ideen handelt, das heisst, solange sie zu einer vernünftigen politischen Gerechtigkeitskonzeption für einen Verfassungsstaat gehören; denn unter dieser Voraussetzung dürfen wir annehmen, dass sie von allen Bürgern geteilt werden und nicht von einer besonderen umfassenden Lehre abhängen.“36 Im Vergleich zur „Theorie der Gerechtigkeit“ zieht Rawls den Kreis vernünftiger Theorien in „Politischer Liberalismus“ weiter. Nichtsdestotrotz ist auch das revidierte Modell mit einer Ungleichbehandlung verbunden, denn diejenigen Bürger, deren Positionen bereits vernünftige Strukturen aufweisen, sind durch die Verpflichtung, den anderen Mitgliedern der Gesellschaft ihre Gründe darzulegen, weniger belastet. Viele Fragen bleiben deshalb offen, insbesondere jene, ob Rawls nicht zu Unrecht allgemein diejenigen Positionen, welche er „comprehensive doctrines“ nennt, aus dem rechtlichen Bereich ausschliesst. 32 33 34 35 36
Rawls (Fn. 18), S. 316 f. Vgl. Rawls (Fn. 18), S. 312 ff. Rawls (Fn. 18), S. 326 f. Siehe zur Öffentlichkeitsbedingung Rawls (Fn. 18), S. 141 ff. Rawls (Fn. 18), S. 317 f. und S. 328 f. Rawls (Fn. 18), S. 291.
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2. RAWLS’ ANSATZ IN „POLITISCHER LIBERALISMUS“: DAS BEISPIEL DER RELIGIÖS BEDINGTEN SCHULDISPENSATION Es stellt sich die Frage, wie sich die Revisionen in „Politischer Liberalismus“ auf das Problem der Weigerung aus Gewissensgründen auswirken. Rawls spricht dieses Problem in seinem Werk „Politischer Liberalismus“ indessen nicht mehr direkt an. Es lässt sich deshalb lediglich mutmassen, dass er diesbezüglich eine grosszügigere Regelung der Dispensation vorsieht als noch in der „Theorie der Gerechtigkeit“ und mehr Raum belässt für die individuellen Gewissens-Appelle. Das Problem der Weigerung aus Gewissensgründen akzentuiert sich bei der Frage, welche Beschränkungen umfassenden Lehren auferlegt werden dürfen, wenn diese die Bedingungen einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit nicht anerkennen. Rawls sieht keinen Grund, solche Anschauungen zu achten oder zu fördern, da die von ihm angestrebte Gesellschaft eine Grundstruktur erfordert, welcher alle Bürger zustimmen können. Rawls illustriert seinen Ansatz am Beispiel der religiös begründeten Gesuche um Befreiung vom obligatorischen Schulunterricht. Er erachtet es als Pflicht des liberalen Gemeinwesens, Kinder zu freien und vernünftigen Bürgern („reasonable citizens“) zu erziehen, welche in der Lage sind, ihr Leben selbst zu gestalten und für ihren Unterhalt selbst zu sorgen.37 Würden es die Eltern aus religiösen Gründen nicht zulassen, dass ihre Kinder den Sexualkundeunterricht besuchen, wären sie verpflichtet, darzulegen, weshalb diese Verweigerung ihre Kinder nicht daran hindere, freie und gleiche Bürgerinnen und Bürger zu werden. Rawls’ Politischer Liberalismus verlangt, dass die öffentliche Schule die Kenntnis der verfassungsmässigen und bürgerlichen Rechte vermittelt, was insbesondere auch den Umstand einschliesst, dass allen Menschen die gleiche Gewissensfreiheit gewährt ist. So müssen Kinder in der Schule beispielsweise darüber aufgeklärt werden, dass Abtrünnigkeit („apostasy“) kein rechtliches Verbrechen ist. Damit soll gewährleistet werden, dass diese, wenn sie älter werden, nicht an der Möglichkeit gehindert sind, aus ihrer religiösen Gemeinschaft auszutreten. Ihre Erziehung sollte sie darauf vorbereiten, autonome Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Aus Sicht der politischen Konzeption der Gerechtigkeit geht es darum, die Kinder auf ihre zukünftige Rolle als Bürgerinnen und Bürger vorzubereiten. 3. DER ÖFFENTLICHE BEREICH UND „INTERNAL RESTRICTIONS“ Nimmt Rawls damit auch Stellung zum Problem der „internal restrictions“?38 Es stellt sich nämlich in Bezug auf die Gewährung von gewissensbedingten Ausnahmen aufgrund religiöser oder kultureller Verpflichtungen die Frage, ob diese dazu führen, dass bestimmte Mitglieder einer Gemeinschaft unterdrückt und in ihrer Fähigkeit
37 Rawls (Fn. 18), S. 297. 38 Zu diesem Begriff Kymlicka, Multicultural Citizenship (Fn. 31), S. 35 f. Die folgenden Ausführungen zu den ,internen Restriktionen‘ beschränken sich auf die Gestaltung der Erziehung und die Pflicht zum Schulbesuch.
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beeinträchtigt werden, ein erfülltes Leben zu führen.39 Rawls setzt sich zwar nicht explizit mit der Gefahr der Unterdrückung, welche mit der Gewährung von kulturellreligiös bedingten Ausnahmen einhergehen kann, auseinander. Die Forderungen, welche er im Zusammenhang mit der Schulpflicht anspricht, sind indessen wesentlich für die Beurteilung des Problems der „internal restrictions“: Der politische Liberalismus fordert, dass die Schulausbildung die Kenntnis der verfassungsmässigen Rechte mitumfasst (also u.a. auch das Wissen um die Gleichberechtigung der Frauen und die Freiheit, jederzeit aus einer Religionsgemeinschaft austreten zu können), dass die Schüler autonome, selbständige Mitglieder der Gemeinschaft werden und dass ihre politischen Tugenden gefördert werden. Rawls geht es dabei nicht um die Durchsetzung von Werten wie Autonomie und Individualität. Der politische Liberalismus habe, so Rawls, ein anderes Ziel und fordere weniger: Es gehe um die Förderung der politischen Tugenden, welche notwendig seien für die Teilnahme an den Debatten der öffentlichen Vernunft und somit für die politische Konzeption der Person.40 Der Bereich des Öffentlichen wird in dieser Version des politischen Liberalismus allerdings strikt getrennt von der Hintergrundkultur. Er bezieht sich lediglich auf die wesentlichen Verfassungsinhalte und schliesst die umfassenden Lehren aus, welche somit in den privaten Bereich verbannt werden. Dies führt dazu, dass viele religiöskulturell bedingte Konflikte von der öffentlichen Deliberation ausgeschlossen werden. Dasjenige, was nur Angehörige einer bestimmten religiösen Gruppe angeht und nicht von allgemeinem Interesse ist, wird nicht dem übergreifenden Konsens, sondern der Hintergrundkultur zugeordnet. Nur in den Debatten im Bereich der Hintergrundkultur sind gemäss Rawls moralische, philosophische und religiöse Argumente zulässig, die mit umfassenden philosophischen und religiösen Lehren zusammenhängen. Zu Recht kritisiert Benhabib, dass damit der Austausch zwischen der Hintergrundkultur und dem öffentlichen Bereich verhindert wird, was die Lösung von solchen Konflikten blockiere. Bleiben die Regeln etwa von Religionsgemeinschaften ausschliesslich eine Sache des privaten Bereichs, sei es schwierig, Unterdrückungen anzugehen, denn solche Probleme fehlten auf der beschränkten Agenda des Rawls’schen Modells des öffentlichen Vernunftgebrauchs.41 Es ist in der Tat nicht geklärt, wie und warum sich diejenigen in die öffentliche Debatte einbringen, welche die Regelung der Kindererziehung, Fragen der Geschlechtergleichstellung und körperlicher Integrität einer Religionsgemeinschaft überlassen wollen.42 Rawls’ Konzeption des politischen Liberalismus liefert dennoch wertvolle Aufschlüsse darüber, wie sich eine demokratische Gesellschaft mit Fragen der Ausnahmen auseinandersetzen sollte, wenn damit eine gruppeninterne Unterdrückung einzelner Mitglieder einhergeht. Rawls betont in seinem Konzept der Person das Streben nach 39 Mendus drückt die damit verbundene Problematik folgendermassen aus: ,Locked in their cultural communities, deprived of access to higher education, possibly lacking even competence in the English language, members of these groups are doomed to real and increasing poverty of a sort that cannot be justified by middle-class invocation of the value of ,belonging‘.‘ (Mendus, Choice, Chance and Multiculturalism, in: Kelly (Hrsg.), Multiculturalism Reconsidered, Culture and Equality and Its Critics, Malden 2002, S. 42). 40 Rawls (Fn. 18), S. 291. 41 Benhabib, The Claims of Culture, Equality and Diversity in the Global Era, Princeton/Oxford 2002, S. 108 ff. 42 Dazu eingehend auch Kymlicka, Multicultural Citizenship (Fn. 31), S. 158 ff.
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Selbstbestimmung. Damit zeigt er eine Grenze auf, an welche die Achtung des Gewissenskonfliktes und die Gewährung von Ausnahmerechten für Mitglieder einer religiösen oder kulturellen Gemeinschaft stösst. Die Betonung der Selbstbestimmung ist insbesondere dann attraktiv, wenn es darum geht, sozial auferlegte und objektiv identifizierbare Unterdrückung zu bekämpfen. Dieser Gedanke ist auch für die verfassungsrechtliche Debatte zentral. Da staatliche Gesetze den Anschauungen der Mehrheit entsprechen, sind abweichende Gewissensanschauungen als Minderheitenproblem aufzufassen. Auf diesen Umstand macht das Argument des Minderheitenschutzes zu Recht aufmerksam. Die Gewährung von speziellen Ausnahmerechten für Angehörige von Minderheitengruppen darf jedoch nicht dazu beitragen, sprachliche und erzieherische Nachteile zu konsolidieren und damit längerfristig die Chancen des Einzelnen auf ein gelungenes, selbstbestimmtes Leben einzuschränken.43 Ausgerichtet ist der verfassungsrechtliche Schutz gemäss dem hier vertretenen Verständnis auf das einzelne Indivduum. Ihm stehen Rechte nicht nur qua Zugehörigkeit zu seiner allenfalls minoritären Gruppe zu, sondern als Person an sich. V. WEIGERUNG AUS GEWISSENSGRÜNDEN UND PATERNALISTISCHE GESETZE Mitbestimmend für die Rawls’sche Konzeption der Rechtfertigung der Weigerung aus Gewissensgründen ist unter anderem auch seine Begründung der Legitimität der politischen Ordnung und der Rechtsbefolgungspflicht. Der Schleier des Nichtwissens führt zur Einigung auf die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, mithin zum Grundsatz der gleichen Freiheit und somit auch der gleichen Gewissensfreiheit. Der Rückgriff auf die hypothetische Vereinbarung im Urzustand, welche so ausgestaltet ist, dass sich alle auf die gleiche Gewissensfreiheit einigen, scheint aber zirkulär, da diese Vereinbarung eben gerade zu den Bedingungen in dem Fall nichts sagt, in welchem jemand eine rechtliche Pflicht aus Gewissensgründen, jedoch nicht mit Bezug auf die gesellschaftlich anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätze verweigert. So hält Rawls fest: „Eine Theorie der Gerechtigkeit muss aus ihrer Sicht klären, wie diejenigen zu behandeln sind, die nicht mit ihr übereinstimmen. Das Ziel einer wohlgeordneten oder einer fast gerechten Gesellschaft ist die Erhaltung und Stärkung der Institutionen der Gerechtigkeit. Werden einer Religion Beschränkungen auferlegt, so wohl deshalb, weil sie die gleichen Freiheiten anderer verletzen würde.“44 Die Diskussion lässt die Rechtsverweigerung aus Gewissensgründen bei solchen Gewissenspositionen unberücksichtigt, welche nicht in die Freiheiten anderer eingreifen, sich aber auch nicht auf anerkannte politische oder vernunftgemässe Grundsätze berufen, sie ignoriert somit eine ganze Reihe von Problemkonstellationen. Nebst der erwähnten gewissensbedingten Weigerung, der Schulpflicht nachzukommen, sind hier ebenso die Fälle der Weigerung, paternalistische Vorschriften einzuhalten, zu nennen. Es ist insbesondere zu fragen, ob nicht eine grosszügigere Regelung für die gewissensbedingte Verweigerung paternalistischer Rechtsvorschriften, also solcher, die
43 Mendus (Fn. 39), S. 40 und 43. 44 Rawls (Fn. 4), S. 407.
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hauptsächlich dem Selbstschutz dienen, angemessen wäre.45 Der Zwang, gegen sein Gewissen eine rechtliche Vorschrift zu befolgen, welche den Schutz der eigenen Interessen bezweckt, ist wohl kaum zu rechtfertigen. Ist der Zweck des Gesetzes vor allem im Schutz des Individuums zu sehen, beispielsweise in dessen körperlicher Integrität, so scheint eine grosszügigere Ausnahmegewährung eher vertretbar als dann, wenn die Befolgung eines Gesetzes in Frage steht, welches gewichtige öffentliche Interessen schützt.46 Die Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Regelung, deren Befolgung zu einem Gewissenskonflikt führt, ist daher von wesentlicher Bedeutung für die Beurteilung der Weigerung aus Gewissensgründen. Sie würde in manchen Fällen eine weniger strikte Regelung der Rechtfertigung erlauben, als Rawls’ Konzeption es vorsieht.47 VI. SCHLUSS Während die Diskussion über die Weigerung aus Gewissensgründen in der „Theorie der Gerechtigkeit“ im Zeichen der Frage nach der Möglichkeit des gerechten Krieges und der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen steht, verschiebt sich der Akzent der Auseinandersetzung in Rawls’ späterem Werk auf die Frage nach dem Umgang mit kulturell-religiöser Vielfalt. In „Politischer Liberalismus“ steht diesbezüglich das Problem der gewissensbedingten Ausnahmen von allgemeinen rechtlichen Pflichten unter Bedingungen multikultureller Gesellschaften im Vordergrund. Es zeigt sich, dass Rawls ein restriktives Konzept der Rechtfertigung der Weigerung aus Gewissensgründen vertritt. So erachtet er die Weigerung aus Gewissensgründen in der „Theorie der Gerechtigkeit“ nur dann als gerechtfertigt, wenn die zugrunde liegende moralische Auffassung vernünftig ist und auf den allgemein anerkannten politischen Grundsätzen beruht. Eine solche Beschränkung der achtenswerten Gewissenspositionen erweist sich angesichts der Vielfalt von rechtlich zu berücksichtigenden Gewissensgründen indessen als problematisch. Das Rawls’sche Konzept ist für die rechtliche Diskussion in verschiedener Hinsicht nicht sachgerecht, insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewissensfreiheit. In seinem Werk „Politischer Liberalismus“ spricht Rawls das Problem der Weigerung aus Gewissensgründen nicht mehr direkt, sondern im Zusammenhang mit der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs und dem Ideal des Bürgers nur noch indirekt an. Die Modifikationen in „Politischer Liberalismus“ lassen diesbezüglich viele Fragen offen, insbesondere jene, ob Rawls nicht zu Unrecht diejenigen Positionen, welche er „comprehensive doctrines“ nennt, aus dem rechtlichen Bereich ausschliesst. Indessen beweist nicht zuletzt die im Zusammenhang mit Konflikten zwischen allgemeinen rechtlichen Pflichten und religiösen Vorschriften hervorgehobene, politisch konzipierte Idee der Selbstbestimmung, dass der Rawls’sche Ansatz wesentliche Anhalts45 Zum Problem des Paternalismus im Recht grundsätzlich Anderheiden et. al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, Tübingen 2006. 46 Raz hält fest: ,It is hard to imagine a situation in which coercing the conscience of a normal adult by law in his own interest could be justified. If the ideals of autonomy and pluralism are not enough to enable a person to pursue his moral convictions at his own expense then they count for very little indeed.‘ Vgl. Raz (Fn. 6), S. 283. 47 Hierzu grundsätzlich Raz (Fn. 6), aaO.
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punkte für die Lösung konkreter Probleme – zu denken ist an die Schuldispensationsfälle – bietet. Schliesslich könnte man der hier nicht weiter vertieften Frage nach den Grenzen der Möglichkeit, die Rechtfertigung der Weigerung aus Gewissensgründen im Rahmen einer Sozialvertragstheorie zu begründen, nachgehen. Diese Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf paternalistische Regelungen. Es besteht deshalb zumindest ein Differenzierungsbedarf des Rawls’schen Ansatzes, vor allem in Bezug auf den Zweck des Gesetzes, um welches es im Einzelfall geht. Anschrift Anne Kühler Bundesverwaltungsgericht Postfach 3000 Bern 14 Schweiz
B.
KULTURELLE KONFLIKTE
DANIELA KÜHNE* RECHT UND KULTUR IN KONFLIKT? NORMATIVITÄT UND KULTURELLE PHILOSOPHIE IN DER FRAGE DER MENSCHENRECHTE I. EINLEITENDE BEMERKUNGEN Über fünfzig Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) im Jahr 1948 gelten Menschenrechte heute als einer der zentralen Bestandteile des Völkerrechts und stoßen unter westlichen Juristen und Philosophen auf breite Anerkennung. Die Menschenrechtsidee basiert dabei auf der Annahme, dass jeder Einzelperson unabhängig von allen biologischen, sozialen und individuellen Unterschieden a priori moralisch begründete Rechte zukämen, welche der moderne Staat mittels des Instrumentes des Rechts garantieren solle. Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes ist dabei in historischer Perspektive durchaus nicht als selbstverständlich zu erachten. Auch wenn sie sich ideengeschichtlich bis in die Antike zurückverfolgen lassen, setzten sich Menschenrechte auf nationaler Ebene erst im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert, auf internationaler Ebene erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dauerte die Epoche des so genannt klassischen Völkerrechts, während derer internationales Recht auf der staatlichen Souveränität aufbaute und ausschließlich ein Regelwerk zwischen Staaten war, in dem Individuen nicht unmittelbare Träger von persönlichen Rechten sein konnten. Erst mit dem Ende dieser Epoche wurde das Prinzip der individuellen Freiheit zu einem der grundlegenden Paradigmen des Völkerrechts.1 Insbesondere das Jahr 1945 wird dabei als „kopernikanische Wende des Völkerrechts“ bezeichnet.2 Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben Menschenrechte nicht nur auf nationaler Ebene an Bedeutung gewonnen, sondern auch in zahlreichen völkerrechtlichen Dokumenten Einzug gehalten, so z. B. in der Charta der Vereinten Nationen (Art. 1 Ziff. 3), in der bereits erwähnten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, in den beiden unter dem Dach der UNO ausgehandelten internationalen Menschenrechtspakten von 1966 oder in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950.3 In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beispiels* 1 2
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lic. iur., Universität Zürich (Schweiz). Die Autorin dankt. Dr. iur. Lorenz Engi für wertvolle Hinweise. Vgl. zu diesem Epochenwechsel im Völkerrecht z. B. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1988, S. 685 f. Christian Tomuschat, Einführung. Die Vereinten Nationen und die Menschenrechte, in: ders., Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz, Bonn 1992, S. 4–21, S. 5. Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (UN-Charta), in Kraft getreten am 24. Oktober 1945; Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (AEMR); Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbpR), in Kraft getreten am 23. März 1976; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPwskR), in Kraft getreten am 3. Januar 1976; Konvention zum
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weise werden Menschenrechte als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ beschrieben.4 Auch in anderen Völkerrechtsdokumenten und internationalen Vereinigungen wird der weltweit gültige Charakter der Menschenrechtre ausdrücklich bekräftigt. Die Idee der Menschenrechte erhebt so, obwohl sie zunächst in der modernen westlichen Staatenwelt Eingang in die politische Realität gefunden hatte, Anspruch auf Universalität und ist deshalb bis heute, insbesondere in der Völkerrechtsphilosophie, Streitgegenstand einer interkulturellen Debatte über Rechte, Pflichten und Verantwortung des Individuums. Während Juristen und Philosophen der westlichen Hemisphäre auch heute größtenteils davon überzeugt sind, dass die Freiheit des Individuums und der Schutz dieser Freiheit vor Eingriffen des Staates ein zentraler Bestandteil moderner Staatstheorie und jedes Rechtssystems darstellen muss und am besten mittels gesetzlicher Regelungen gewährleistet werden kann, stößt dieses Konzept im Zuge der zunehmenden Erstarkung des Völkerrechts in anderen Kulturkreisen auf Widerstand. Stärkste Gegenposition zum Universalismusgedanken der Menschenrechte beziehen Vertreter des Kulturrelativismus. Sie bestreiten die Geltung universaler Normen und wenden ein, dass der Geltungsanspruch von Werten und Normen stets kontextabhängig sei. Das Konzept der Menschenrechte sei historisch betrachtet ein Produkt der westlichen Geschichte und deshalb an die kulturellen Voraussetzungen des abendländischen Denkens gebunden. Menschenrechten liege das individualistische Menschenbild der europäischen Aufklärung zugrunde, welches mit dem Menschen- und Weltbild asiatischer oder afrikanischer Kulturen nicht vereinbar sei. Insbesondere würden die individuellen Freiheiten und Pflichten einer Person in nicht-westlichen Kulturkreisen nicht durch den Rechtsstaat mittels Gesetzen, sondern durch das nahe, soziale Umfeld des Individuums mittels Selbstregulation und -kontrolle bestimmt. Deshalb sei die Idee der Menschenrechte auf beispielsweise buddhistische, hinduistische oder islamische Kulturkreise nicht anwendbar; westliches Recht stehe hier mit nicht-westlicher Kultur in unüberwindbarem Konflikt.5 In Anbetracht der aktuellen Probleme bei der internationalen Umsetzung von Menschenrechtsgarantien stellt sich für Vertreter eines menschenrechtlichen Universalismus in der Tat die Frage, ob und wie ein internationaler Menschenrechtsstandard etabliert werden kann, der die Vielfalt nebeneinander existierender Kulturen nicht abwertet, sondern im Gegenteil Ausdruck von interkulturellen, allgemeingültigen Werten ist. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung soll deshalb die Frage sein, ob die Idee der Menschenrechte an die westliche Rechtskultur gebunden ist und mit anderen Kulturen in Konflikt steht, oder ob Menschenrechte universal, d. h. in allen Kulturen Geltung beanspruchen können. Kulturelle Philosophie und Normativität sollen dabei als Annäherungsweisen zur Beantwortung dieser Frage im Zentrum der Untersuchung stehen.
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Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK), in Kraft getreten am 3. September 1953. Die AEMR ist im Gegensatz zu der UN-Charta und den beiden UN-Pakten eine rechtlich nicht-verbindliche Deklaration; zentrale Elemente der AEMR gelten heute aber als ius cogens. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, General Assembly Official Records (GAOR) III, Resolutions (UN-Doc. A/810), Präambel. Vgl. dazu z. B. Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, New York 2003; Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel 2005, S. 28 ff.
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Im Folgenden werden zuerst die Entstehungsgeschichte der Menschenrechtsidee in der Geistesgeschichte Europas und das damit verbundene Argument der NichtÜbertragbarkeit auf nicht-westliche Kulturkreise untersucht (II.), um anschließend einen Überblick über die Debatte bezüglich der kulturell verschiedenen Menschenbilder und Grundwerte zu geben (III.). Abschließend sollen Lösungsansätze gemäß einer interkulturellen Philosophie dargelegt und eine Würdigung der Debatte vorgenommen werden (IV.). II. ZUM DURCHBRUCH DER MENSCHENRECHTE IM WESTLICHEN RECHTSKREIS 1. GENESE UND NATURALISTISCHER FEHLSCHLUSS Die Menschenrechte sind, aus historischer Perspektive, unbestritten in Nordamerika und Europa zum Durchbruch in der politischen Realität gelangt. Ebenso hat die Idee der Menschenrechte als universeller, politisch-rechtlicher Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität ihre Wurzeln in der Geistes- und Rechtsgeschichte Europas und Nordamerikas. Ein ideengeschichtlicher Rückblick zeigt, dass sich Vorstellungen über vorgesetzliche Gerechtigkeit, Würde und Gleichheit aller Menschen bis in die griechische Antike zurückverfolgen lassen. Danach finden sich Ansätze der Menschenrechtsidee in der stoischen Philosophie – insbesondere bei Seneca (1–65 n. Chr.) und Cicero (106 v. Chr.-43 n. Chr.) –, im aufkommenden Christentum, der hochmittelalterlichen Scholastik und Renaissance bis hin zur Aufklärung. Gerade die durch das Christentum entstandene Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Herkunft und Stand,6 war eine Quelle der Anerkennung der Würde jedes Menschen und damit ein Vorläufer der heute in nationalen und internationalen Dokumenten festgehaltenen Menschenwürde. In der hochmittelalterlichen Scholastik und Renaissance wurde dieser Gedanke einer allgemeinen Menschenwürde mit der Idee des autonomen Individuums verbunden, beispielsweise durch Thomas von Aquin (1225–1274).7 Erste politische Dokumente, welche Vorläufer der Menschenrechte enthalten, sind die englische Magna Charta (1215), die Petition of Rights (1628), der Habeas Corpus Act (1679) und die Bill of Rights (1689).8 Erst im Zuge der europäischen Aufklärung und der daran anschließenden Französischen Revolution im 17. und 18. Jahrhundert jedoch gelangte das auf der Menschenwürde basierende Konzept der Menschenrechte zum Durchbruch und fand damit nachhaltig Eingang in die politische Realität der europäischen Staatenwelt. Als eigentliche Begründer liberaler Menschenrechte gelten unter anderem Naturrechtsdenker wie John Locke (1632–1704), Jean-Jacques Rousseau (1712–1278) und Immanuel Kant (1724–1804).9 Gerade Kants Annahme, dass der Mensch autonom und vernunftbegabt sei, und damit eine ur-
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Genesis 1, 26 f. Ähnliche Vorstellungen existieren im Islam, beispielsweise in Sure 17, Vers 70 des Korans. Kälin/Künzli (Fn. 5), S. 25 ff. Vgl. dazu z. B. Eva Brems, Human Rights: Universality and Diversity, The Hague 2001, S. 17. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998, S. 36 f.; Kälin/Künzli (Fn. 5), S. 26 f.
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sprüngliche, also vorstaatliche Freiheit besitze, spielte für die Fortentwicklung der Menschenrechtsidee eine wichtige Rolle. Diese ursprüngliche Freiheit steht nach Kant allen Individuen zu, wodurch deren grundsätzliche Gleichheit begründet wird. „Der Ausgleich zwischen den autonomen Individuen wird gefunden, wenn jeder sein Handeln so ausrichtet, dass dieses als Maxime für ein allgemeines Gesetz taugt (kategorischer Imperativ). Dies führt zu einer Rechtsordnung, die für alle gleiche Freiheit garantiert.“10 Die oben beschriebenen philosophischen Grundkonzepte vorstaatlich freier und gleichberechtigter Individuen flossen in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die amerikanische Bill of Rights (1789) und die Französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 ein und bildeten anschließend bis ins 20. Jahrhundert Grundlage für nationale europäische Verfassungen und völkerrechtliche Menschenrechtsverträge.11 Aus der oben beschriebenen Entstehungsgeschichte ziehen Vertreter des kulturellen Relativismus den Schluss, dass sich Menschenrechte, die aus kulturellen und philosophischen Voraussetzungen der abendländischen Geschichte erwachsen seien, nicht auf Staaten bzw. Kulturen mit divergierender historischer Vergangenheit übertragen ließen. Der Charakter der Menschenrechte wird dabei entweder soziologisch, juristisch-institutionell oder ideengeschichtlich als rein „westlich“ aufgefasst.12 Zu Recht wird diesem relativistischen Standpunkt entgegengehalten, dass auch ein regional entwickeltes Rechtsinstitut interkulturelle Gültigkeit beanspruchen darf, sofern seine Legitimation von den Entstehungsverhältnissen abgekoppelt werden kann.13 Aus dem Nachweis historischer und ideengeschichtlicher westlicher Wurzeln darf nicht gefolgert werden, die Grundlagen der Menschenrechtsidee seien lediglich im kulturellen Potential der abendländischen Tradition angelegt und deshalb exklusiv an diese gebunden. Nur so lässt sich ein naturalistischer Fehlschluss umgehen, durch welchen Kulturrelativisten fälschlicherweise vom Sein auf ein Sollen, von der abendländischen Genese einer Norm auf deren ausschließliche Geltung in derselben Region schließen. Vielmehr muss die Menschenrechtsidee losgelöst von der geographischen Entstehungsgeschichte entweder auf ihre Kompatibilität mit Grundwerten und philosophischen Ideen nicht-westlicher Kulturkreise oder auf ihre Normativität unabhängig von aller Kultur untersucht werden.14
10 Bielefeldt (Fn. 9), S. 45 ff.; Kälin/Künzli (Fn. 5), S. 27. 11 Walter Kasper, Die theologische Begründung der Menschenrechte, in: Dieter Schwab/Paul Mikat/ Dieter Giesen/Josef Listl, Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Berlin 1989, S. 99–118, S. 105. 12 Siehe z. B. Wolfgang Fikentscher, Die heutige Bedeutung des nicht-säkularen Ursprungs der Grundrechte, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann, Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S. 43– 73, S. 64; Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, München 1987, S. 284; Georg Picht, Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Stuttgart 1980, S. 127. 13 Vgl. zur Legitimation der Menschenrechte in nicht-westlichen Kulturen hinten III.2 und III.4. 14 Siehe dazu z. B. Jens Hinkmann, Argumente für und wider die Universalität der Menschenrechte, in: J.C. Wolf, Menschenrechte interkulturell, Freiburg 2000, S. 185–206, S. 190; Otfried Höffe, Die Menschenrechte im interkulturellen Diskurs, in: W. Odersky, Die Menschenrechte: Herkunft, Geltung und Gefährdung, Düsseldorf 1994, S. 119–137, S. 120.
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2. MENSCHENRECHTE ALS POLITISCH-RECHTLICHES FREIHEITSETHOS IN ZEITEN DER GLOBALISIERUNG Vertreter des universalistischen Standpunktes weisen darauf hin, dass die Idee der Menschenrechte einst auch in Europa nicht selbstverständlich war, sondern sich in langwierigen Prozessen durchsetzen musste. Menschenrechte lassen sich nicht kulturgenetisch aus der abendländischen Tradition ableiten, sondern sind demnach auch als Antwort auf historische (Unrechts-)Erfahrungen zu betrachten, welche in einer Geschichte der Umbrüche und der Innewerdung menschlicher Mündigkeit gewonnen worden sind.15 Maßgeblich für die Durchsetzung der Menschenrechte in Europa waren einerseits die Epoche der Aufklärung, die Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts und der damit verbundene Übergang von einem theozentrischen zu einem anthropozentrischen Weltbild, andererseits die langsame Herausbildung des neuzeitlichen modernen Nationalstaates. In all diesen Prozessen stieß die Menschenrechtsidee stets auf gesellschaftlichen Widerstand. Insbesondere die katholische Kirche begegnete der Idee der Menschenrechte nicht nur in dieser Umbruchszeit, sondern bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mit offener Ablehnung.16 In diesem Zusammenhang weisen nicht nur westliche, sondern beispielsweise auch afrikanische oder asiatische Juristen und Philosophen darauf hin, dass Menschenrechte neben aller normativen Begründung und unabhängig von verschiedenen Kulturen eine Antwort auf die Machtmittel des modernen Staates seien. Das Konzept des modernen Nationalstaates habe sich heute aber global, bzw. auch in nicht-westlichen Kulturkreisen durchgesetzt (insbesondere die damit verbundene staatliche Monopolisierung des Gewalteinsatzes in Form von Armee, Polizei und Gerichtszwang), und damit zusammenhängend zeigten sich ähnliche strukturelle (Unrechts-) Erfahrungen wie die oben beschriebenen. Eine Regierung kann demnach, unabhängig von der geographischen Lage, nicht glaubwürdig ein modernes Staatskonzept vertreten und gleichzeitig aus kulturellen Gründen Menschenrechte vollkommen ablehnen. Letztere erscheinen als notwendiges Gegenstück zum Gewaltmonopol und den Machtmitteln des modernen Staates. Stößt die Idee der Menschenrechte in solchen Staaten auf Widerstand, so lassen sich gemäß Vertretern des Menschenrechtsuniversalismus durchaus Parallelen zur zuvor beschriebenen Entstehungsgeschichte in Europa ziehen. Des Weiteren stellen die Globalisierung der Modernisierungsprozesse und die gemeinsamen Interessen der modernen Staatengemeinschaft von der Friedenssicherung bis hin zu wirtschaftlichen Investitionen Realgrund und Ansatzpunkt für die weltweite Konsensbildung bezüglich der Menschenrechtsidee dar.17 So betrachtet sind universelle Menschenrechte politische Reaktion auf den Prozess der Globalisierung, „infolgedessen auch manche Krisen und Unrechtserfahrungen weltweite Dimension 15 Bielefeldt (Fn. 9), S. 121 ff.; Dieter Senghaas, Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz, Frankfurt a. M. 1994, S. 112. 16 Joseph Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten, in: E. W. Böckenförde/R. Spaemann, Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S. 138–174, S. 138 ff. 17 Vgl. dazu z. B. auch Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: H.R. Reuter, Ethik der Menschenrechte, Tübingen 1999, S. 43–73, S. 51 f.; Kälin/Künzli (Fn. 5), S. 31, 33 f.
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angenommen haben“.18 Menschenrechte sollen demnach in erster Linie als modernes politisch-rechtliches Freiheitsethos betrachtet werden, das sich zwar mittels verschiedener Kulturen und Traditionen vermitteln lässt; diese Vermittlung darf dabei aber nicht in kulturgenetische Essentialisierungen umschlagen, durch welche die universelle Menschenrechtsidee zu einer „kulturimperialistischen“ Kategorie verkommen würde.19 Der iranische Autor Reza Afshari beispielsweise schreibt: „Although human rights originated in the West, their particular substantive foundation belongs to a moral vision that was the result of accumulated experiences in dealing with the abuses of the modern state and market economies.“ In diesem Sinne verteidigt Afshari die Idee der universalen Menschenrechte als: „[…] a response to the almost universality of the modern state as a globally convergent mode of governance.“20 Ähnlich äußert sich der indische Philosoph Panikkar, welcher feststellt: „For an authentic human life to be possible within the modern world, Human Rights are imperative. In the contemporary political arena as defined by current socio-economic and ideological trends, the defense of Human Rights is a sacred duty.“21
III. MENSCHENRECHTE, MENSCHENBILDER UND WELTANSICHTEN 1. VORBEMERKUNGEN Einwände gegen die Menschenrechte werden nicht nur bezüglich ihrer westlichen Entstehungsgeschichte erhoben, sondern auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Grundlagen. Kulturrelativisten nehmen vielfach den Standpunkt ein, Menschenrechte seien Ausdruck eines westlich-individualistischen Menschenbildes, welches auf Selbstverwirklichung des Individuums ausgerichtet und deshalb unvereinbar sei mit dem kommunitären Ethos kultureller Gesellschaften in Afrika oder Asien. Die modernen Menschenrechte könnten deshalb auf islamische, hinduistische oder buddhistische Kulturen nicht angewandt werden. Obwohl eine eindeutige Begriffsbestimmung von „asiatischen“, „afrikanischen“ oder „europäischen“ Betrachtungen zum Wesen des Menschen kaum möglich ist, lässt sich doch feststellen, dass zwischen Menschenbildern verschiedener Kulturen gewisse Unterschiede bestehen.22 Das christliche Menschenbild beruht, wie bereits erwähnt, auf der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, wodurch dem Individuum eine grundsätzliche Würde zugesprochen wird. Abendländische Philosophen wie
18 Bielefeldt (Fn. 9), S. 39. 19 Bielefeldt (Fn. 9), S. 204. 20 Reza Afshari, An Essay on Islamic Cultural Relativism in the Discourse of Human Rights, Human Rights Quarterly 1994 (2), S. 235–276, S. 248. 21 Raimundo Panikkar, Is the Notion of Human Rights a Western Concept?, Diogenes 1982 (120), S. 75–102, S. 101. Vgl. zur Weiterführung der Thematik Menschenrechte, Kultur und Globalisierung Verena Metze-Mangold, Zum Verhältnis von Recht und Kultur und idealen Werten im Zeitalter der Globalisierung und der allgemeinen Vernetzung, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha, Kultur und Gerechtigkeit. Kulturwissenschaft interdisziplinär Band 2, Baden-Baden 2007, S. 141– 152. 22 Nicht vertieft werden soll in diesem Aufsatz auf die Frage, ob die Menschenbilder verschiedener Kulturkreise tatsächlich so verschieden voneinander sind, wie gemeinhin angenommen wird.
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Locke oder Kant gingen von der Autonomie, ursprünglichen Freiheit und Gleichberechtigung der Individuen aus, welche potentiell fähig sind, aus eigener Vernunft selbständig zu erkennen. In verschiedenen afrikanischen Gemeinschaften hingegen wird der Mensch nicht per se als eigenständiges Individuum betrachtet, sondern als ein Wesen, welches erst durch einen langwierigen Prozess der sozialen Integration und der Erfüllung seiner Pflichten zur vollwertigen, mit Rechten ausgestatteten Person heranwächst. Erkenntnis gewinnt das auf diesem Menschenbild beruhende Individuum nicht aus eigener Vernunft, sondern durch die Mitteilung Gottes. Auch das Menschenbild in asiatischen Kulturkreisen wird im Vergleich zum abendländischen oft als kollektivistisch bezeichnet. Asiatische Kulturrelativisten halten dem Konzept der Menschenrechte entgegen, dass sich beispielsweise der Begriff der Person im hinduistischen Kontext nicht mit dem westlich-rationalistischen Individuum decke, da eine Person im Hinduismus ein ganzes Netz von Beziehungen zu Familienangehörigen, Vorfahren und Kasten bezeichne und durch soziale Pflichten und Handlungsnormen, jedoch weniger durch individuelle Freiheiten definiert werde.23 2. MENSCHENRECHTE, INDIVIDUALISMUS UND KOMMUNITÄRES ETHOS Unterschiedliche Konzepte des Menschen oder der moralischen Person – wobei bereits bei der Verwendung dieser Begriffe Sorgfalt geboten ist, da sie häufig sehr verschieden verwendet oder miteinander vermischt werden24 – gibt es nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb der philosophischen, juristischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Debatten des so genannt westlichen Kulturkreises. Zu Recht weisen Vertreter eines universalistischen Standpunktes darauf hin, dass es verkürzt wäre, aus den verschiedenen Herangehensweisen an das Menschenbild automatisch auf die Unvereinbarkeit der Menschenrechte mit gewissen Menschen- oder Personenkonzepten zu schließen. Insbesondere gehen Kulturrelativisten gemäß diesen Autoren zu schnell davon aus, „dass die moralische Person von einer umfassenden kulturellen Ordnung vollständig determiniert sei. In einem zweiten Schritt wird der Geltungsbereich der moralischen Konzepte grundsätzlich auf den Einflussbereich der unterstellten kulturellen Ordnung eingeschränkt.“25 Demnach gilt es einmal mehr, das den Menschenrechten zugrunde liegende Konzept auf seine Kompatibilität mit auf den ersten Blick verschiedenen Menschenbildern oder seine Normativität zu untersuchen. Menschenrechte sind insofern individualistisch, als sie jedem Menschen als Subjekt gleicher Würde und gleicher Freiheit Rechtspositionen einräumen. Die Betonung der individualistischen Seite birgt jedoch die Gefahr einer einseitigen Betrachtung. Menschenrechte enthalten vielmehr verschiedene Stoßrichtungen und zielen unter anderem auch darauf ab, den kollektiven Zusammenschluss in Ehe, Familie, Religionsgemeinschaften, kulturellen Verbänden und politischen Parteien zu gewährleisten. 23 Heinrich von Stietencron, Menschenrechte? Sichtweisen südasiatischer Religionen, in: W. Odersky, Die Menschenrechte. Herkunft, Geltung und Gefährdung, Düsseldorf 1994, S. 65–89, S. 65 ff. 24 Siehe dafür z. B. Alex Sutter, Ist das Personenkonzept der Menschenrechte kulturell voreingenommen?, in: J.C. Wolf, Menschenrechte interkulturell, Fribourg 2000, S. 226–241, S. 228. 25 Sutter (Fn. 24), S. 228 f.
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Menschenrechte stehen somit einem Gemeinschaftsdenken nicht a priori entgegen, sondern vielmehr autoritären Kollektivismen und unfreiwilliger sozialer Ausgrenzung von Seiten des Staates.26 Das „Menschenbild der Menschenrechte“ zielt also nicht auf eine „Kultur des Egoismus“ ab, wie oft angenommen wird, sondern auf einen gesellschaftlich integrierten Individualismus.27 Insbesondere gelten Menschenrechte in der Regel nicht zwischen einzelnen Mitgliedern privater Gemeinschaften, sondern zwischen staatlichen Behörden und Individuum, sei letzteres Teil einer sittlichen Gemeinschaft oder nicht. Es geht bei Menschenrechten also nicht primär, wie manchmal angenommen wird, um den abstrakten Vorrang des Individuums gegenüber der Gemeinschaft oder um einen Eingriff in die sittlichen Regeln zwischen Mitgliedern privater Gemeinschaften, sondern um die Durchsetzung politisch-rechtlicher Freiheit in Form einer Abwehr übermäßiger staatlicher Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen und eben gerade seiner privaten Gemeinschaft.28 Die Ausgestaltung des Lebens im privaten Kollektiv bleibt grundsätzlich den Individuen selbst überlassen und wird durch die Menschenrechte nur sekundär eingeschränkt. Des Weiteren ist festzuhalten, dass sich die aktuelle völkerrechtliche Debatte einer fortwährenden und neuen Inspiration durch kollektivistische Konzepte keineswegs verschließt, was z. B. bereits völkerrechtlich verankerte Grundsätze wie das Recht auf Arbeit oder der lang anhaltende Diskurs über eine mögliche dritte Generation von Menschenrechten aufzeigen. Eine solche weitere menschenrechtliche Ebene würde ein Bündel von kollektiven Rechten wie beispielsweise das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, das Recht auf Erhalt der natürlichen Umwelt oder auf nachhaltige Entwicklung beinhalten.29 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, insbesondere von Minderheitengruppen innerhalb eines Staatsgebildes, hat bereits in Art. 1 Ziff. 2 UN-Charta und Art. 27 IPbpR Eingang gefunden und wird von der heutigen Völkerrechtsdoktrin zumeist als Rechtsanspruch anerkannt, wobei die Ausmaße dieses Anspruches bis heute nicht eindeutig festgelegt sind. Auch wenn der Vorschlag einer dritten Generation von Menschenrechten in der heutigen Völkerrechtsdebatte sehr umstritten ist, geht daraus doch hervor, dass das ideelle Fundament dieser Generation in Begriffen wie Solidarität und kollektiver Verantwortung liegt und dadurch eine Tendenz beobachtet werden kann, kollektives Denken in das Konzept der Menschenrechte miteinzubeziehen. Allerdings ist bezüglich der Berücksichtigung einer stark kollektivistischen Komponente in den der Menschenrechte Vorsicht geboten; nicht weil die Existenz kollektiver Rechte auf Grundlage internationaler Solidarität grundsätzlich bestritten werden soll, sondern deshalb, weil ihr formaler Einbezug in das momentane Konzept der Menschenrechte als zweifelhaft erscheint. Zum einen ist, wie bereits erwähnt, die grundsätzliche Lebensgestaltung des Einzelnen in privaten sittlichen Gemeinschaften durch traditionelle Menschenrechte viel mehr geschützt als gemeinhin angenommen. Zum anderen bestünde die Gefahr, dass repressive Regimes Menschenrechte im Namen von kollektiven Rechten beschneiden würden, z. B. bürgerliche Rechte im Namen einer „kulturellen Entwicklung“ massiv einschränken könnten. Die Konturen kollektiver 26 27 28 29
Bielefeldt (Fn. 17), S. 65. Sutter (Fn. 24), S. 228 f. Vgl. dazu z. B. auch Bielefeldt (Fn. 9), S. 204. Bielefeldt (Fn. 9), S. 64 f.; Hinkmann (Fn. 4), S. 186 f.
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Rechte als Ansprüche sind bis anhin sehr unscharf und somit schwer operationalisierbar.30 Deshalb kann insbesondere kulturelle Identität, sofern eine solche definiert werden kann, gemäß mancher Autoren nur beschränkt oder indirekt zum Gegenstand rechtlicher Instrumente gemacht werden und sollten Kollektivrechte eine eigene Rechtskategorie bilden, welche den Menschenrechten grundsätzlich unterzuordnen wäre.31 Andernfalls würden solche Kollektivrechte möglicherweise zu einem „freiheitsfeindlichen“, kulturellen „Artenschutz“ von Seiten des Staates umfunktioniert.32 Nur die freiheitlichen Voraussetzungen für die Wahrung, aber auch Entwicklung und Veränderung kultureller Identitäten, nicht aber die Überlebensgarantie für eine kulturelle Tradition bilden demnach den Schutzbereich rechtlicher Instrumente wie den Menschenrechten. Auch wenn die kommunitäre Bedeutung von beispielsweise kulturellen Minderheitenrechten unbestritten ist, „bleiben die Träger dieser Rechte zuletzt die Individuen, die gemeinsam mit anderen ihr kulturelles Leben pflegen und entwickeln, denen es aber auch freistehen muss, sich von der gegebenen Kultur zu distanzieren und sie gegebenenfalls zu verlassen. Ohne die Freiheit der Individuen ist kommunitäres Engagement zur Wahrung und Förderung kultureller Identität unmöglich.“33 3. ZUR KORRESPONDENZ VON RECHTEN UND PFLICHTEN Auch die Beziehung zwischen Menschenrechten und Menschenpflichten, auf welche sich Kulturrelativisten asiatischer oder afrikanischer Kulturkreise oft berufen, ist den westlichen philosophischen Grundkonzepten durchaus nicht fremd und findet sich hier in verschiedenen Ausgestaltungen. Nach Kant beispielsweise verpflichten sich die Menschen mit jeder Inanspruchnahme eines Rechts sowohl moralisch als auch rechtlich, das gleiche Recht jedes anderen Individuums zu achten und die Rechtsordnung insgesamt zu schützen.34 Ähnliche Ansichten werden auch unter heutigen Vertretern des Universalismus vertreten.35 Des Weiteren ist allerdings darauf hinzuweisen, dass eine Symmetrie zwischen Rechten und Pflichten verschiedener Art in erster Linie moralisch, aber nur beschränkt rechtlich eingefordert werden kann. Gemäß universalistischer Autoren wäre es ein voreiliger Schluss, aus der internationalen rechtlichen Regelung von Menschenrechten, nicht aber von Menschenpflichten, auf die Unvereinbarkeit des Menschenrechtskonzeptes mit nicht-westlichen Kulturkreisen zu schließen, in welchen Menschenpflichten stark betont werden. Wenn letztere nur beschränkt durch eine Rechtsordnung geregelt werden, wird ihre Existenz damit nicht bestritten, sondern lediglich die Tatsache, dass sie durch rechtliche Instrumente und staatliche Ansprüche gegenüber dem Einzelnen vollends umfasst werden können und 30 Vgl. dazu z. B. Dieter Witschen, Christliche Ethik der Menschenrechte, Münster, Hamburg, London 2002, S. 134 f. 31 Siehe dazu z. B. Sutter (Fn. 24), S. 235 f. 32 Jürgen Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Amy Gutmann/Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 147–196, S. 173. 33 Bielefeldt (Fn. 9), S. 174. 34 Siehe für weiterführende Hinweise Bielefeldt (Fn. 9), S. 163. 35 Siehe dazu hinten III.4.
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sollen. Es soll also gerade nicht primär dem Staat überlassen sein, welche Pflichten der Einzelne zu erfüllen hat, sondern dem Individuum selbst und seinem privaten Umfeld; dadurch ist die Möglichkeit der rechtlichen Regulierung solcher Pflichten automatisch beschränkt.36 Gerade in diesem Zusammenhang, aber auch bezüglich des Diskurses über die kollektive Stoßrichtung von Menschenrechten weisen Befürworter der universalen Idee zu Recht darauf hin, dass Menschenrechte sich auf die Anfangsbedingungen, nicht auf die „Vollendungsbedingungen des Humanum“ beziehen.37 Menschenrechte sollen sittliche Verpflichtung und innere Bindung in ein Kollektiv keineswegs ausschließen, da sie eben gerade keine sittlichen Gebote, sondern lediglich rechtliche Prinzipien darstellen, die dem Einzelnen einen sehr grundsätzlichen Schutz vor staatlichen Übergriffen in seine individuelle Freiheit und in die Freiheit des Lebens in seiner nächsten Gemeinschaft gewährleisten sollen. Der universalistische Standpunkt erachtet Menschenrechte so gerade als Schutzhülle eines Freiraumes sittlicher Identität und kultureller Vielfalt.38 4. KULTURELL UNTERSCHIEDLICHE LEGITIMATIONSANSÄTZE Universalistische Vertreter setzen dem relativistischen Argument der kulturell divergierenden Menschen- und Weltansichten als Ausschlussgrund der Menschenrechte entgegen, dass die Legitimation der Menschenrechte begründungsoffen sei, solange sie auf universal existierenden Werten basiere. Insbesondere wird, wie in anderem Zusammenhang bereits angedeutet, von Universalisten ins Feld geführt, dass sich auch im westlichen Kulturkreis ganz unterschiedliche Menschenbilder, Weltansichten und Modelle zur Begründung der Menschenrechte finden, welche aber der Anwendbarkeit von Menschenrechten nicht entgegenstehen. Naturrechtliche Begründungen stehen hier beispielsweise neben religiösen und rechtspositivistischen Legitimationsmodellen. Historisch (und normativ) betrachtet spielen insbesondere naturrechtliche Begründungen zur Legitimation von Menschenrechten eine Rolle; dies deshalb, weil Menschenrechte meist als Argumente gegen positive Rechtsordnungen angerufen wurden, denen man einen freiheitsbeschränkenden oder menschenverachtenden Charakter vorwarf. Die ideengeschichtliche Entwicklung der naturrechtlichen Argumentation wurde bereits dargelegt, ebenso die wichtigsten Vertreter solcher Legitimationsmodelle, wie beispielsweise Locke, Kant und Bodin.39 Grundsätzlich lässt sich sagen, dass allen westlich-naturrechtlichen Legitimationsmodellen gemeinsam ist, dass sie den Menschen als ein Wesen betrachten, das allein durch sein Menschsein eine Werthaftigkeit innehat, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Herkunft, Stand oder eben Kultur. Der Mensch wird als ethisch konstituiertes Vernunftwesen betrachtet, 36 Vgl. dazu z. B. Bielefeldt (Fn. 9), S. 162 ff.; vgl. zur Weiterführung der Thematik auch Konrad Hilpert, Menschenrechte und Theologie. Forschungsbeiträge zur ethischen Dimension der Menschenrechte, Freiburg i.B. 2001, S. 48 ff. 37 Höffe (Fn. 14), S. 125. 38 Hans-Richard Reuter, Relativistische Kritik am Menschenrechtsuniversalismus? Eine Antikritik, in: H.R. Reuter, Ethik der Menschenrechte, Tübingen 1999, S. 75–102, S. 92. 39 Siehe vorne II.1.
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das von Natur aus, also vorstaatlich, frei ist. Der Zweck des Staates ist es, diese Freiheit der autonomen Individuen zu sichern und zu schützen, insbesondere in Form von Abwehransprüchen des Einzelnen. Rechtspositivistisch wird die universelle Geltung der Menschenrechte insbesondere dadurch begründet, dass praktisch alle Staaten der Welt Mitglied der UNO und dadurch auch die Verpflichtung eingegangen sind, im Sinne von Art. 55 und 56 UNCharta zusammen zu arbeiten, um die Hauptziele der Charta zu erreichen. Zu diesen Hauptzielen gehören neben der internationalen Sicherheit vor allem die Achtung und Förderung von Menschenrechten gemäß Art. 1 Ziff. 3 UN-Charta. Des Weiteren haben die meisten Staaten die Menschenrechtsdeklaration von 1948 und die beiden UN-Pakte von 1966 unterzeichnet und ratifiziert und somit ihre grundsätzliche Beipflichtung zur Menschenrechtsidee zum Ausdruck gegeben. Unter diesen 162 Staaten sind, um einige Beispiele zu nennen, Staaten wie Indonesien, Indien, die Mongolei, Kambodscha, Iran, Irak, Bahrain, Libyen, Botswana und Nigeria; Staaten also, die oft genannt werden, wenn es darum geht, die Nicht-Anwendbarkeit von Menschenrechten in nicht-westlichen Kulturkreisen geltend zu machen.40 Darüber hinaus hat die überwiegende Mehrheit der unabhängigen Staaten dieser Welt „ungeachtet politischer, ideologischer, ökonomischer und kultureller Unterschiede Menschenrechtsbekundungen in die jeweilige nationale Verfassung einfließen lassen; das verbale Bekenntnis zu Menschenrechten war nie universeller als in der Gegenwart.“41 Nicht nur im historischen Rückblick, auch in der heutigen westlichen Philosophie finden sich neben rechtspositivistischen Begründungen verschiedene Legitimationsansätze. Otfried Höffe beispielsweise begründet Menschenrechte auf einem anthropologischen Begriff des Tausches von allen Menschen gemeinsamen, transzendentalen Interessen, welche mit dem Menschsein selbst gegeben und somit kulturunabhängig sind. Zu diesen Interessen zählt Höffe z. B. das physische Überleben, die Bedingungen der Handlungsfähigkeit sowie die Enfaltungsmöglichkeiten von Denk- und Sprachfähigkeit. Menschenrechte werden zur Wahrung der transzendentalen Interessen und unter der Bedingung der Gegenleistung erbracht, damit Menschen in rechtlicher Koexistenz ihre wie auch immer beschaffenen Interessen verfolgen können. Menschenrechte stehen demnach immer in einer Wechselbeziehung zu Menschenpflichten. Höffe zufolge basieren Menschenrechte durch dieses Kriterium der Tauschgerechtigkeit auf einem interkulturellen Element ähnlich der Goldenen Regel, wobei sich dieser Ansatz sowohl im Hinduismus (Mahabharata XIII, Vers 5571), Konfuzianismus, im Alten (Tob 4, 16) und Neuen Testament (Mt 7, 12; Lk 6, 31) und schließlich auch im Koran wieder findet.42 In nicht-westlichen Kulturkreisen finden sich inzwischen zahlreiche Befürworter der universellen Menschenrechtsidee. Der indische Philosoph Ram Adhar Mall beispielsweise erachtet die Idee der Menschenrechte als Ausdruck einer inneren, kulturunabhängig ethischen Haltung und als Allgemeingut der Menschheit, so sehr die theoretischen Grundlagen auch variieren mögen. In der indischen Geschichte lässt
40 Vgl. hierzu die Ratifikationsliste zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbpR), in Kraft getreten am 23. März 1976. Vgl. dazu http://www. unhchr.ch/pdf/report.pdf. 41 Kühnhardt (Fn. 12), S. 37. 42 Höffe (Fn. 14), S. 131; vgl. dazu auch Hinkmann (Fn. 4), S. 199 ff.
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sich die Menschenrechtsidee gemäß Mall bis in die Zeiten des Königs Ashoka im 3. Jh. v. Chr. zurückverfolgen. Der buddhistische Herrscher erhob auf Grundlage eines vielfältigen Dharma-Begriffes43 Gewaltlosigkeit, Toleranz und Respekt aller Religionen zu einem Leitmotiv und verbreitete seine Lehren, insbesondere die Forderung nach Religionsfreiheit, durch Eingravieren in Felsen und Säulen, wodurch die bekannten Säulen- und Felsenedikte Ashokas entstanden. Ein anderes Beispiel findet sich in den zehn menschlichen Freiheiten und Tugenden, welche Grundlage buddhistischer und hinduistischer Traditionen bilden, nämlich fünf soziale Freiheiten (Freiheit von Gewalt, von Not, von Ausbeutung, von Entehrung, von verfrühtem Tod und Krankheit), zu denen fünf Tugenden treten (Toleranz, Gemeinschaftsgefühl, Wissen, Freiheit des Gewissens und der Gedanken, Freiheit von Furcht). Die grundlegenden Vorstellungen des Menschen an die Gestaltung von Gemeinschaften sind in diesen Ideen ebenso wie in den westlichen Menschenrechten enthalten.44 Vertreter eines universalistischen Menschenrechtskonzeptes finden sich ferner auch unter muslimischen Denkern. Der muslimische Philosoph Mohamed Talbi legitimiert die Anerkennung der Religionsfreiheit mit dem Argument, dass sich niemand anmaßen dürfe, in das Verhältnis zwischen Gott und Mensch einzugreifen; die Religionsfreiheit sei „aus muslimischer Sicht“ ein Akt grundlegender Achtung vor der Souveränität Gottes und „vor dem Geheimnis seiner Absicht mit dem Menschen, der das erschreckende Vorrecht empfangen hat, selbst und in eigener Verantwortung sein Schicksal hier auf Erden und im Jenseits zu übernehmen. Die Freiheit des Menschen achten heißt letztlich, die Absicht Gottes achten“.45 Der sudanesische Autor Abudllahi An-Na’im erachtet Menschenrechte ebenfalls als Ausdruck kulturübergreifender grundlegender Werte und schreibt: „Despite their apparent peculiarities and diversity, human beings and societies share certain fundamental interests, concerns qualities, traits and values that can be identified and articulated as a framework for a common culture of universal human rights.“46 Des Weiteren berufen sich verschiedene muslimische Autoren auf koranische Begründungen der Menschenwürde oder auf koranische Quellen zum Verbot von Zwang in Fragen der Religion und leiten daraus islamische Motive für die Unterstützung von Menschenrechten wie der Religionsfreiheit oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau ab.47 Ideen wie Menschenwürde, prinzipielle Gleichheit und Religionsfreiheit finden sich so auch in den buddhistischen, hinduistischen und muslimischen Traditionen wieder. Menschenrechte enthalten demzufolge einen genuin ethischen Grundanspruch
43 Dharma ist sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus ein zentraler Begriff und steht in beiden Religionen für eine Bandbreite verschiedener Bedeutungen, wie z. B. Logos, Geist, Gerechtigkeit oder Pflicht; im vorliegenden Zusammenhang bezeichnet Dharma in erster Linie ethisch-moralische Tugenden wie Mitgefühl, Wahrhaftigkeit, Wohlwollen und Gewaltlosigkeit. Vgl. dazu Ram Adhar Mall, Interkulturelle Philosophie und die Idee der Menschenrechte, in: J.C. Wolf, Menschenrechte interkulturell, Freiburg 2000, S. 124–149, S. 146. 44 Vgl. dazu z. B. Mall (Fn. 43), S. 134. 45 Mohamed Talbi, Religionsfreiheit – eine muslimische Perspektive, in: J. Schwardtländer, Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, S. 53–71, S. 71. 46 Abdullahi An-Na’im, Human Rights in Cross-Cultural Perspectives, Philadelphia 1992, S. 21. 47 Vgl. dazu die Hinweise bei Bielefeldt (Fn. 9), S. 131 ff.
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aller Kulturen; sie können jedoch in nicht-westlichen Kulturen auf anderen Menschenbildern und im Vergleich zu westlichen Kulturen auf kosmozentrischeren Weltbildern beruhen, in welchen den Rechten des Individuums seine Pflichten und dem Menschen allgemein andere Lebewesen entgegengesetzt werden. Mall bezeichnet diese auf verschiedenen Begründungen beruhenden, aber schließlich gemeinsamen Werte aller Kulturen als „orthafte Ortlosigkeit“ der Menschenrechte.48 IV. LÖSUNGSANSÄTZE UND SCHLUSSBEMERKUNGEN In der Debatte um Kulturrelativismus und Universalität werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die sich nicht immer leicht beantworten lassen, eine Positionierung aber erfordern. Unterschiedliche kulturelle Praktiken und Traditionen wie die Beschneidung weiblicher Genitalien oder der Ausschluss einer Wahlfreiheit der Ehe oder Religion rücken Menschenrechte wie körperliche Unversehrtheit, Gleichberechtigung, Ehe- und Religionsfreiheit in den Brennpunkt der Diskussion und erfordern wichtige Entscheidungen in der Ausgestaltung dieser einzelnen Rechte. Auch zahlreiche nicht-westliche Befürworter der universellen Menschenrechtsidee befassen sich inzwischen mit verschiedenen Methoden und Lösungsansätzen. Diese reichen von einem gemäßigten (oder minimalistischen) Universalismus mit universalen Fundamentalwerten einerseits und derivativen Rechten andererseits, die in ihrer Ausgestaltung mehr oder weniger kontextabhängig sein dürfen, bis zu einem strikten (oder maximalistischen) Universalismus.49 So werden im gemäßigten Universalismus beispielsweise das Recht auf Leben, auf Rechtssubjektivität und auf eine eigenständige Lebensform als universale Rechte bezeichnet, während die daraus abzuleitenden Rechte wie zum Beispiel Religions- oder Redefreiheit durchaus kontextabhängig gestaltet werden dürfen. Der minimalistische Ansatz basiert dabei weniger auf einer inhaltlichen als vielmehr auf der pragmatischen Argumentation, dass mit einem strikten Universalismus keine globale Anerkennung für die Menschenrechte zu finden ist.50 Vertreter des maximalistischen Standpunktes wenden dagegen ein, dass eine „falsche“ Bescheidenheit die Menschenrechtsidee eher gefährden würde und weisen darauf hin, dass eine Sicherung der fundamentalsten Menschenrechte nicht zu erreichen ist, ohne daraus zwingend folgende, weitere Rechte zu gewährleisten.51 Unabhängig davon, ob man einem strikten oder gemäßigten Universalismus folgt, scheint die Idee der Menschenrechte einem respektvollen Umgang mit kultureller Vielfalt nicht entgegenzustehen. Dies war im Grunde schon 1948 zu erkennen, als die UNESCO kurz vor Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine Umfrageaktion durchführte, um festzustellen, ob die in der Erklärung festgehaltenen Rechte der weltweiten kulturellen Vielfalt Rechnung tragen. Die Antwort der unterschiedlichen Länderexperten, welche durchgehend keine nationalen politischen Führungsstellungen einnahmen und somit unabhängig von Vorgängen
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Mall (Fn. 43), S. 145 f. Vgl. dazu z. B. Reuter (Fn. 38), S. 97 ff. Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007, S. 126. Menke/Pollmann (Fn. 50), S. 125 f.
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der politischen Herrschaftssicherung waren, fiel fast einhellig bejahend aus.52 Hinter der relativistischen Argumentation gegen die universelle Menschenrechtsidee steht gemäß dieser Vertreter zumeist ein Interesse an der Aufrechterhaltung eines bestimmten Herrschaftsregimes, so z. B. im Falle der „asiatischen Werte“, auf welche sich die Regierungen verschiedener asiatischer Staaten zu Beginn der Neunziger Jahre beriefen.53 In diesem Sinn liest sich auch die Aussage des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan, welcher feststellte: „It was never the people who complained of the universality of human rights, nor did the people consider human rights as a Western or Northern imposition. It was often their leaders who did so.“54 Zur Stärkung der universellen Menschenrechtsidee betonen Universalisten einerseits die Wichtigkeit einer interkulturellen Debatte, um die Verwandtschaft der ethischen Grundwerte aller Gemeinschaften herauszuschälen, und andererseits die philosophische Rückbesinnung auf den normativen Anspruch der Menschenrechte unabhängig von aller Kultur. Beide Ansätze können dazu beitragen, „falsche Dichotomien zu überwinden, die die Verständigung gelegentlich blockieren. Die politische Philosophie kann damit konzeptionell einen Raum öffnen, in dem Menschen über das angemessene Verständnis und die optimale Verwirklichung der Menschenrechte streiten können.“55 In diesem Sinne spricht sich der bereits zitierte indische Philosoph Ram Adhar Mall für einen Verzicht auf eine kulturspezifische Vereinnahmung der Menschenrechtsidee und für eine verstärkt interkulturelle Philosophie aus. Dadurch werde ein Bewusstsein der „Familienähnlichkeit“ der unterschiedlichen Philosophien, Kulturen und Religionen, welche „alle ihren je eigenen Zugang zum einen Wahren haben“, erst ermöglicht.56 Mall schlägt vor, Menschenrechte im Geiste der Lehre Buddhas wie ein Boot zu betrachten, „das uns hilft, das andere Ufer voller Frieden und Freiheit zu erreichen. Das Boot der Menschenrechte ist das Mittel und nicht das Ziel.“57 Deshalb seien auch die Begründungsvielfalt und die den Menschenrechten zugrunde liegenden Menschenbilder und Weltanschauungen zwar wichtig, aber in der Frage der Menschenrechte zweitrangig. Nicht durch eine interkulturelle Philosophie, jedoch durch eine normative Begründung suchte auch der US-amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) mit seinem Begriff des Overlapping Consensus nach dem „einen Wahren“ bezüglich der Menschenrechtsidee. Nach Rawls ist der Begriff des Overlapping Consensus nicht nur eine bloße Schnittmenge zwischen den in unterschiedlichen Kulturen vorhandenen Wertvorstellungen, sondern darüber hinaus ein normativer Anspruch, der mit verschiedenen kulturellen Wertorientierungen durchaus in Konflikt geraten kann und in einem solchen Fall Vorrang beansprucht. Der Begriff bezeichnet also einen SollKonsens, welcher zwar vielfältige kulturelle Orientierungen mit einschließt, gleich52 Mall (Fn. 43), S. 137. 53 Vgl. dazu z. B. Dieter Senghaas, Über asiatische und andere Werte, in: Leviathan 1995 (1), S. 5–12. 54 Zitat des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan, vgl. dazu José Lindgren Alves, The Declaration of Human Rights in Postmodernity, Human Rights Quarterly 2000 (22), S. 478–500, S. 498. 55 Bielefeldt (Fn. 9), S. 205. 56 Mall (Fn. 43), S. 144. 57 Mall (Fn. 43), S. 133, 140.
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zeitig aber auch Grenzen der Toleranz aufzeigt und durch seine kulturkritische Komponente Grundlage für gesellschaftlichen und kulturellen Wandel bilden kann.58 Dieser kulturkritische Anspruch ist nach Rawls wie bei vielen gemäßigten Universalisten allerdings begrenzt, da Menschenrechte lediglich die grundlegende Struktur einer Gesellschaft und die wechselseitige Anerkennung von Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensweisen auf der Grundlage gleicher Freiheit und gleichberechtigter Partizipation beinhalten.59 Sowohl die interkulturelle Philosophie als auch die normative Auseinandersetzung mit dem Geltungsanspruch der Menschenrechte führen so schließlich zur Feststellung, „dass der Streit um Menschenrechte […] kein Kampf geschlossener Kulturen oder Zivilisationen ist. […] Vielmehr war und bleibt der Kampf um Menschenrechte eine politische Auseinandersetzung, in der die religiöse, weltanschauliche bzw. kulturelle Herkunft der Menschen zwar eine gewisse Rolle spielt, aber weder die politischen Zielvorstellungen noch die Überzeugungskraft normativer Argumente vorab determiniert.“60
Anschrift der Autorin lic. iur. Daniela Kühne Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Helen Keller für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht, Universität Zürich Rämistrasse 74/13 CH-8001 Zürich
58 Bielefeldt (Fn. 9), S. 146. 59 John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 58 ff. 60 Bielefeldt (Fn. 9), S. 205.
ANJA TITZE* KONFLIKT UND KONFLIKTLÖSUNG DIE RECHTE INDIGENER FRAUEN IN GUATEMALA I. EINLEITUNG Guatemala war über drei Jahrzehnte Schauplatz eines grauenvollen Bürgerkrieges, der 1996 ein Ende gefunden hat. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen waren der Höhepunkt einer ohnehin sehr konfliktvollen Geschichte. Nach dem Friedensschluss waren die Regierungen bemüht, die Strukturen, die Konflikte generieren, zu überwinden und die Menschenrechte durchzusetzen. In meinem Beitrag werde ich die Konfliktlösung im Hinblick auf die Rechte indigener Frauen betrachten. Dabei wird Datenmaterial eingearbeitet, das ich im Rahmen einer Feldforschung von Februar bis Juli 2005 in Guatemala, in der Provinz Huehuetenango erhoben habe. Der Beitrag untergliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil wird der Untersuchungsort – die Gemeinde Santa Bárbara – vorgestellt. Im zweiten Teil wird aufgezeigt, dass Konflikte bzw. Gewaltkonflikte ein wesentliches Kontinuum der guatemaltekischen Geschichte darstellen und daher die Konfliktivität der Gegenwart auf diesem Hintergrund zu sehen ist. Der dritte Teil ist der Justizreform gewidmet, die Mitte der 1990er Jahre einsetzte und zu erheblichen Veränderungen in der Justizlandschaft führte. Es gilt hierbei, das Gefüge von Institutionen und Verfahren näher zu beleuchten. Im vierten Teil wird schließlich die Konfliktbehandlung im Friedensgericht der Gemeinde Santa Bárbara erörtert. Dort habe ich eine fast dreimonatige teilnehmende Beobachtung durchgeführt und konnte Verhandlungen mitverfolgen. Außerdem habe ich indigene Frauen und Männer, die sich an das Gericht gewandt hatten, sowie die Gerichtsmitarbeiter befragt. II. DIE GEMEINDE SANTA BÁRBARA Der Ort der Untersuchung – die Gemeinde Santa Bárbara – befindet sich im Süden der Provinz Huehuetenango, im westlichen Hochland. Sie wird von etwa 28.000 Indigenen bewohnt, die zu etwa 98 Prozent der Maya-Gruppe „Mam“ angehören und eine eigene Maya-Sprache sprechen.1 Guatemala ist ein Land, das sich durch eine große ethnolinguistische Vielfalt auszeichnet: Insgesamt gibt es 23 Maya-Gruppen.
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Promotion an der Erasmus Universität Rotterdam im Oktober 2008 im Fach Rechtswissenschaften (Rechtsanthropologie); z.Z. DAAD-Lektorin an der Universität Reims (Frankreich). Vgl. Fundamam (Fundación Intercultural para el Desarrollo Humano y Social de la Región Mam), Diagnóstico de la región mam, ohne Ortsangabe 2003, S. 54.
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Die Frauen der Gemeinde Santa Bárbara unterscheiden sich durch eine typische Tracht von Frauen anderer Maya-Gemeinden.2 Die sozioökonomischen Gegebenheiten von Santa Bárbara sind ausgesprochen prekär. Die Gemeinde gehört zu den ärmsten dieser Provinz und des Landes überhaupt. Ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung stehen pro Tag lediglich sieben Quetzales (~ 0,70 Euro) zu Verfügung.3 Die Einwohner können sich nur in Erntezeiten ein bescheidenes Einkommen erwirtschaften. Die ganze Familie begibt sich dann für mehrere Monate auf eine der riesigen (Kaffee)-Plantagen an der Südküste des Landes, um sich etwas Geld zu verdienen. Ein Tagesverdienst für eine Familie auf einer solchen Plantage beträgt etwa 50 Quetzales (~ 5 Euro). Die Defizite in Santa Bárbara betreffen vor allem die Gesundheitsversorgung und Bildung. Im Gemeindezentrum besteht zwar ein sog. Gesundheitsposten. Jedoch ist dort nur ein Krankenpfleger tätig, der lediglich bei weniger komplizierten Fällen helfen kann. Für eine ärztliche Behandlung müssen die barbareños (so die spanische Bezeichnung für die Einwohner) erst die Provinzhauptstadt Huehuetenango-Stadt aufsuchen. Für die Bewohner sehr abgelegener Dörfer bzw. Weiler ist dies gerade in akuten Fällen kaum zu schaffen. Besondere Nachteile, d. h. Gefahren für Leib und Leben, impliziert dieser Umstand im Hinblick auf Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung. Zwar sorgen sich etwa 60 Hebammen um das Wohl von Frauen und deren Nachwuchs, doch kommt es wiederholt vor, dass Frauen aufgrund fehlender Nothilfe sterben, wenn ein ärztlicher Eingriff erfolgen müsste und ausbleibt. III. GEWALTKULTUR – KONFLIKTE UND KONFLIKTLÖSUNG Gewalt ist ein Grundproblem, das tief in der Geschichte des Landes wurzelt. Im Rahmen der Eroberung wurde Gewalt als probates Mittel eingesetzt, um ein System der Unterdrückung und Ausbeutung zu schaffen und zu erhalten, das vor allem die indigene Bevölkerung diskriminierte und auch dezimierte. 1. KONFLIKTLÖSUNG VOR UND IM BÜRGERKRIEG Gewalt diente zur Kontrolle der indigenen Bevölkerungsgruppe und war gleichsam zentrales Element der Konfliktlösung. Wesentliche Erscheinungsformen der Unterdrückung waren Vertreibung, Zwangsarbeit und Zwangsbekehrung. Die staatliche Unabhängigkeit brachte hierbei keine wirkliche Verbesserung für die Indigenen. In jener sog. liberalen Periode hat sich die Ausbeutung indigener Arbeitskraft sogar noch verschärft. Denn die Regierungen waren darum bemüht, das sog. Kaffee-Exportmodell zu fördern. Und um den Großgrundbesitzern ausreichend
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Vgl. Greg Grandin, To End with All These Evils: Ethnic Transformation and Community Mobilization in Guatemala´s Western Highlands, 1954–1980, Latin American Perspectives 1997 (Vol. 24, No. 2), S. 7–34, S. 8. Siehe auch: Diane M. Nelson, Gendering the Ethnic-National Question: Rigoberta Menchu Jokes and the Out-Skirts of Fashioning Identity, Anthropology Today 1994 (Vol. 10, No. 6), S. 3–7, S. 5. Prensa Libre, 16.10.2006.
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billige Arbeitskraft bereitzustellen, wurden Gesetze zur Zwangsarbeit erlassen. Auch in justizieller Hinsicht wurde den Agraroligarchen die nötige ‚freie Hand‘ gelassen. Per Dekret waren sie beispielsweise ermächtigt, über ihre Arbeiter Recht zu sprechen. So konnten sie bestimmte Fehlhandlungen nach eigenem Dafürhalten ahnden, z. B. durch Körperstrafen (wie Hals- und Fußblöcke) oder Gefängnisstrafen.4 Mithin oblag die Konfliktlösung dem Staat bzw. staatlich unterstützten Akteuren. Die Justiz war ausgesprochen interessenorientiert, wobei die drei Grundpfeiler der guatemaltekischen Gesellschaft – Militär, Kirche und Großgrundbesitzer – entscheidenden Einfluss geltend machen konnten. Ungeachtet dieser Ausrichtung der Justiz hatten auch bestimmte lokale Autoritäten justizielle Funktionen und Handlungsräume. Aufgrund der Zweiteilung der staatlichen Organisation – es gab zwei ‚Republiken‘: die der Nicht-Indigenen und die der Indigenen – konnten sich indigene Gemeinden eine gewisse Autonomie erhalten, zumal die staatlichen Justizeinrichtungen ohnehin nur spärlich vorhanden und weite Teile des Landes quasi gar nicht abgedeckt waren. Gerichte existierten zumeist nur in den größeren Provinzhauptstädten. In den Gemeinden sprachen Bürgermeister Recht.5 Ihnen kam eine Doppelfunktion zu: Sie waren einerseits für die Verwaltung ihrer Gemeinde zuständig, andererseits fungierten sie als sog. Minderrichter (juez menor).6 Konflikte wurden meist gewohnheitsrechtlich gelöst.7 Dieser Dualismus barg auch Interessenkonflikte, so dass die richterliche Unabhängigkeit nicht immer garantiert war. Erst mit der neuen Verfassung von 1985 wurde den Gemeindebürgermeistern die richterliche Funktion entzogen und eine klare Gewaltenteilung auch auf lokaler Ebene erreicht. Im Bürgerkrieg erreichte der Einsatz von Gewalt ein ungekanntes Ausmaß. Willkür und Terror haben insbesondere die Bewohner ländlicher Gebiete erfahren müssen. Unter Diktator Ríos Montt kam es zu einer umfänglichen Militarisierung der Zivilbevölkerung, mittels derer der ‚innere Feind‘ effizient bekämpft werden sollte. Als Kampfverbände fungierten hier die sog. zivilen Selbstverteidigungspatrouillen (Patrullas de Autodefensa Civil, PAC),8 die sich aus Dorfbewohnern zusammensetzten. Männer im Alter von 18 bis 55 Jahren mussten Patrouillendienst leisten; sie waren bewaffnet. Wer sich diesem Wachdienst verweigerte, wurde oft zum Guerrillero oder Guerrilla-Sympathisanten erklärt und als solcher bestraft. Schließlich wurden die PAC in den Gemeinden zum beherrschenden Ordnungselement. Sie kontrollierten bzw. entschieden dar-
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Auf vielen Plantagen befanden sich kleine private Gefängnisse. Vgl. Marta Estela Gutiérrez/Paul Hans Kobrak, Los linchamientos pos conflicto y violencia en Huehuetenango, ohne Ortsangabe, 2001, S. 45. Auch Älteste oder religiöse Führer traten als Entscheidungsträger in Erscheinung. Vgl. Claudia Paz y Paz Bailey/Silvina Ramírez, Gestión de la Conflictividad local en Guatemala en la post-guerra, Guatemala 2003, S. 7 ff. Viele Bürgermeister waren nicht sehr gut gebildet; einige konnten kaum lesen und schreiben. Anfang der 1980er Jahre hatten sich Bewohner vieler Gemeinden selbst bewaffnet, um sich vor militärischen Übergriffen zu schützen. Diese Selbstbewaffnung wurde von Ríos Montt rechtlich anerkannt und zum Zwecke der Guerrillabekämpfung unterstützt. Siehe dazu: Comisión para el Esclarecimiento Histórico (CEH), Guatemala: Memoria del Silencio, Guatemala 1999, Capitulo II, Vol. 1, Las Patrullas de Autodefensa Civil, Rn. 496 ff. (Online-Version unter: http://shr.aaas. org/guatemala/ceh/mds/spanish/cap3/cmay.html).
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über, wer in das Dorf kommen oder es verlassen durfte. Das Vorgehen der PAC-Mitglieder war dabei häufig sehr willkürlich und missbräuchlich. Vorwürfe wurden nicht untersucht, sondern es wurde – meist gewaltsam – gehandelt. Gewalt wurde zum fast ausschließlichen Mittel der Konfliktlösung; sie war Ziel und Methode. Durch die lokale Militarisierung verloren überlieferte Konfliktlösungsmodi (Dialog, Vergleich), die von lokalen Autoritäten (s. o. und Fn. 5) praktiziert wurden, an Bedeutung. Den Bewohnern wurden vielmehr gewaltsame Konfliktlösungsmuster aufgezwungen.9 Dadurch wurde das Zusammenleben auf lokaler Ebene nachhaltig gestört. Die Wahrheitskommission CEH spricht von der „Zerstörung der sozialen Gewebes“.10 Diese Kommission hat den Bürgerkrieg sehr detailliert untersucht und in ihrem Bericht eine Bilanz gezogen. Die Hauptakteure der Gewalttaten im Krieg waren die o.g. paramilitärischen Verbände PAC sowie die Armee. Folter, Tod, Vertreibung, Verschwindenlassen und (massive) Vergewaltigungen waren typische Handlungsformen. Aufgrund hunderter Massaker kam die Kommission ferner zu dem Schluss, dass die Auslöschung der indigenen Bevölkerungsteile im Sinne eines Völkermordes erfolgen sollte. Lediglich drei Prozent der Verbrechen wurden der Guerrilla zugeschrieben.11 2. SITUATION NACH DEM BÜRGERKRIEG Da die lokalen Konfliktlösungsmechanismen (Instanzen und Verfahren) im Laufe des Bürgerkrieges erheblich ge- bzw. zerstört worden sind, gab es nach Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen in vielen ländlichen Gemeinden keine Autoritätspersonen mehr, die als Anlaufstelle für Konflikte zwischen Personen hätten fungieren können. Zu beobachten war vielmehr ein ‚Justizvakuum‘, denn auch der Staat, respektive Gerichte und Polizei, war(en) vielerorts noch nicht präsent. Die reformerischen Maßnahmen hinsichtlich des Justizsektors setzten gerade erst ein. Viele befragte Personen erklärten, dass die lokale Konfliktlösung vor dem Bürgerkrieg immer funktioniert habe. Mit Bestimmtheit kann dies nicht gesagt werden. Die Quellenlage hierzu ist ausgesprochen dürftig, so dass auch eine Tendenz zur Idealisierung der Vergangenheit im Sinne von ‚vorher war alles besser…‘ kaum von der Hand zu weisen ist. Nach dem Bürgerkrieg hat sich die Gewaltsituation verändert. Bewaffnete, vom Staat gesteuerte und unterstützte Auseinandersetzungen wurden mit Abschluss der Friedensabkommen beendet. Die Gewalt als solche ist aber damit nicht eingedämmt worden, sondern hat sich vielmehr bis in die Gegenwart als Strukturproblem erhalten.12 Die gewaltsamen Auseinandersetzungen vollziehen sich nun nicht mehr zwischen Staat und Bürger, sondern zwischen Bürgern. Typische Formen von Gewalt
9 Vgl. Gutiérrez/Kobrak (Fn. 4), S. 36. 10 Vgl. CEH (Fn. 8), Capitulo III, La Ruptura del Tejido Social, Rn. 429 ff. 11 Vgl. CEH (Fn. 8), Capitulo II, Vol. 3, Genocidio, Rn. 1233 ff. und Capitulo III, El Terror y Sus Secuelas, Rn. 1 ff., im Hinblick auf sexuelle Gewalt: 65 ff. 12 „The direct violence has not stopped with the end of the war but has assumed new form […]“ in: Alessandro Preti, Guatemala: Violence in Peacetime – A Critical Analysis of the Armed Conflict and the Peace Process, Disasters 2002 (Vol. 26, No. 2), S. 99–119, S. 109.
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sind Jugendkriminalität,13 Lynchmorde, Frauenmorde (sog. femicidios), häusliche Gewalt und organisierte Kriminalität (Menschenschmuggel, Drogenhandel). In der Literatur wird diese hohe Konfliktivität unter anderem damit erklärt, dass die Bewohner die gewaltsamen Konfliktlösungsmodi (während) des Bürgerkrieges sehr stark verinnerlicht haben und Gewalt auch nach Ende des Krieges weiterhin dazu dient, bestimmte soziale Konflikte ‚beizulegen‘. IV. JUSTIZREFORM Mitte der 1990er Jahre wurden Anstrengungen unternommen, das Justizwesen grundlegend zu reformieren. Damit sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, um Konflikte verlässlich zu lösen und das Kontinuum der Gewalt zu durchbrechen. Die Justizreform wurde bereits im Rahmen der Friedensverhandlungen thematisiert und sodann in ihren Grundzügen in die Friedensabkommen integriert. Letztere bilden die Basis für eine Neugestaltung des guatemaltekischen Staates, die bis heute andauert.14 Wichtigstes Ziel der Reform war es, die Defizite der Justiz zu überwinden, und zwar: Nichtpräsenz, Korruption, schlechte Ausstattung, mangelnde Professionalität und der unzureichende Zugang für sozial Schwache und Indigene. Entsprechend waren die Maßnahmen darauf ausgerichtet, ein Institutionengefüge zu schaffen und Verfahrensmodelle einzuführen, die eine wirkliche Rechtsdurchsetzung ermöglichen.15 Die reformerischen Bemühungen haben sich an einigen Kernthemen entzündet, die mittels verschiedener Projekte und Programme umgesetzt werden sollten. So wurden zum Zwecke der Professionalisierung Gesetze erlassen, die die Einstellung von fachlich und persönlich geeigneten Mitarbeitern sicherstellen sollte.16 Das 1999 verabschiedete Gesetz über die Richterlaufbahn17 enthält beispielsweise konkret Rechte und Pflichten der Richter und macht Vorgaben zum Auswahlverfahren. Nun sollen nicht mehr – wie einstmals üblich – gute Beziehungen darüber entscheiden, wer in Amt und Würden kommt, sondern deren Eignung. Ein weiteres Kernthema war (und ist) die Modernisierung. Insoweit wurden beispielsweise Gerichte mit modernen Geräten der Datenverarbeitung (z. B. Computern, Druckern) ausgestattet. Zur Analyse und Dokumentation wurde außerdem ein nationales Zentrum18 geschaffen, dass die Rechtsprechung erfassen und deren systematische Auswertung erlauben soll. Die Anerkennung des Gewohnheitsrechts ist ein weiteres Reformanliegen, das bereits in einem der Friedensabkommen, und zwar im Abkommen über die Identität
13 Äußerst gewaltbereite Jugendbanden, sog. maras, sind ein ernstes Problem in Zentralamerika überhaupt. 14 Die Reform wurde auch von verschiedenen ausländischen/internationalen Akteuren sehr großzügig unterstützt, z. B. Weltbank, UNDP, US-Aid. 15 So war die Rechtspflege vor der Reform fast ausschließlich auf die Gerichte konzentriert. Im Bereich der Strafjustiz haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung ein Schattendasein ‚gefristet‘. 16 Siehe dazu auch: Kurt Madlener, Zum Problem der Justizreformen in Lateinamerika, Mitteilungen der Deutsch-Brasilianischen Juristenvereinigung 1998 (Nr. 1–2), S. 8–10, S. 8 ff. 17 Ley de la Carrera Judicial. 18 Centro Nacional de Análisis y Documentación Judicial, Abk.: CENADOJ.
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und die Rechte der indigenen Völker,19 angelegt ist. In diesem Abkommen hatte sich der Staat zur Ratifikation der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation verpflichtet. Es handelt sich hierbei um das Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern (fortan: ILO-169). Die ILO-169 ist das wichtigste rechtsverbindliche Vertragswerk zum Schutz indigener Völker und damit für die in Guatemala lebende indigene Bevölkerung, die immerhin etwa 60 Prozent der Gesamtbevölkerung stellt, von großer Bedeutung. 20 Mit der Ratifikation, die 1996 erfolgte, hat sich der guatemaltekische Staat zum Rechtspluralismus bekannt und nicht-offizielle, indigene Rechts- und Justizsysteme anerkannt. Durch Anerkennung lokaler Normen soll der Zugang der Indigenen zu Recht und Gerechtigkeit verbessert werden. Demgemäß sollen die indigenen Gemeinschaften ihre Streitigkeiten nach eigenen Regeln bewältigen.21 Immerhin waren indigene Rechtspraktiken lange Zeit von der staatlichen Justiz ausgeblendet worden, was einen Ausschluss der indigenen Bevölkerungsmehrheit von der Justiz bedeutete.22 Jedoch sind nicht alle lokale Normen anerkannt. Abschnitt E, 3 des o.g. Friedensabkommens stellt auch klar, dass die Menschenrechte als Schranke fungieren, d. h. menschenrechtsverletzende Rechtspraktiken finden keine Anerkennung. Das Kernthema der Förderung alternativer Konfliktlösung betrifft solche Maßnahmen, mittels derer Rahmenbedingungen geschaffen werden sollen, die auch informelle Konfliktlösung erlauben. Zu erkennen ist, dass hier ein innerer Zusammenhang mit der Anerkennung indigenen Gewohnheitsrechts besteht, sollen doch indigene Gemeinschaften Streitigkeiten entsprechend ihrer Normen und Verfahren beilegen können. Allerdings war dieses Reformanliegen von Beginn an nicht nur auf indigene Streitschlichtungsmodi ausgerichtet. Die informelle Konfliktbewältigung war vielmehr als allgemeines Ziel anvisiert, um z. B. auch eine Entlastung der Gerichte, rasche Streitbeilegung und die Förderung friedlicher Konfliktlösung zu bewirken.23 Im guatemaltekischen Reformkontext haben dabei Versöhnung und Mediation besondere Aufmerksamkeit erlangt und wurden in das Rechtssystem integriert. So sind mittlerweile zahlreiche Institutionen staatlicher und nicht-staatlicher Art entstanden, die alternative Konfliktlösung anbieten. Dazu gehören die staatlichen Mediationszentren und Ombudsstellen24 sowie kommunale, nichtstaatliche Konfliktlösungszentren. Im Strafverfahrensrecht haben die Informalisierungsbemühungen
19 Acuerdo sobre identidad y derechos de los pueblos indígenas. 20 Neben der ILO-169 ist die im September 2007 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Erklärung über die Rechte der indigenen Völker ein wichtiges Schutzinstrument. Jedoch ist diese Erklärung nicht rechtsverbindlich. Siehe dazu: Anja Titze, Die Vereinten Nationen und indigene Völker, Vereinte Nationen 2007 (Nr. 5), S. 190–197. 21 Aufgrund der bereits erwähnten gestörten Konfliktlösungsmodi auf lokaler Ebene ist auch hier eine große Herausforderung zu erblicken. Die versöhnliche Konfliktbeilegung wird in gewissem Maße auch (wieder)erlernt werden müssen. 22 So waren nicht nur normative Unterschiede zwischen Indigenen und Nicht-Indigenen, sondern auch erhebliche sprachliche Barrieren gegeben. Viele Indigene sprachen gar kein Spanisch und konnten die Verfahren weder im Mündlichen noch im Schriftlichen verfolgen. 23 Comisión de Fortalecimiento de la Justicia, Una Nueva Justicia para la Paz, Guatemala 1998, S. 226. 24 Zu unterscheiden sind die staatlichen Ombudsstellen für die Menschenrechte bzw. für die indigene Frau sowie die nicht-staatliche Ombudsstelle für die Maya.
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ebenfalls ihren Niederschlag hinterlassen. So sind in gewissem Maße auch Mediationen in Strafsachen innerhalb eines Gerichts möglich.25 Die Reform der Institutionen betrifft jene Maßnahmen, die darauf abzielen, die Effizienz zu erhöhen und das Kompetenzgefüge innerhalb des Justizsektors zu verbessern. So wurde die gerichtliche Präsenz im Lande deutlich erhöht. Zudem wurden neue Gerichtstypen ins Leben gerufen, z. B. mobile Friedensgerichte, die in einem Bus untergebracht sind und weit entfernt liegende Ortschaften ansteuern. Sog. kommunale Friedensgerichte setzen sich aus Richtern zusammen, die keine Juristen sondern anerkannte lokale Autoritäten sind und vom Justizapparat in dieses Amt berufen werden. Neu entstanden ist auch eine Behörde zur öffentlichen Verteidigung, die mittellose Personen adäquat verteidigen soll. Das institutionelle Gesamtgefüge ist durch das Hinzutreten von verschiedenen anderen Institutionen, die Konflikte lösen bzw. kanalisieren, erheblich verändert worden. Dazu gehört z. B. die Ombudsstelle für die indigene Frau (Siehe Fn. 24). Diese Institutionen sollen bestimmte Bevölkerungsteile bei deren Rechtsbegehren unterstützen. Der Zugang zur Justiz ist ein weiteres Kernthema. Insoweit soll jeder Mensch ein Gericht anrufen und richterliches Gehör finden können. Zwar existieren in Guatemala neben der spanischen Sprache noch etwa 23 Maya-Idiome, doch offizielle Sprache ist weiterhin nur Spanisch. Problematisch ist dies insoweit, als dass viele Indigene (und hierbei vor allem indigene Frauen) nur ihre Maya-Muttersprache beherrschen und damit ein Sprachhindernis auch zur staatlichen Justiz gegeben ist. Dem Reformziel entsprechend sollen nun in jenen Gerichten, die insbesondere von Indigenen aufgesucht werden, Übersetzer zum Einsatz kommen. Der Zugang zur Justiz ist mit den bereits erwähnten Reformzielen verbunden, in concreto der Förderung alternativer Konfliktlösung und der Anerkennung des Gewohnheitsrechts. Durch Anerkennung lokaler Normen und Verfahren soll der Zugang zur Justiz letztlich auch verbessert werden. Insgesamt haben die Reformmaßnahmen den guatemaltekischen Justizsektor erheblich verändert und haben die Grundlage dafür geschaffen, dass die Rechtsdurchsetzung – zumindest theoretisch – besser gelingen kann und gerade auch indigene Bevölkerungsteile zu ihrem Recht kommen können. V. KONFLIKTBEHANDLUNG IM FRIEDENSGERICHT VON SANTA BÁRBARA Das Friedensgericht26 der Gemeinde Santa Bárbara wurde im Rahmen der Justizreform geschaffen und nahm seine Arbeit im August 1998 im Gemeindezentrum auf. Bereits im Oktober 2002 musste das Gericht jedoch seine Tätigkeit einstellen; die Gerichtsmitarbeiter – wie auch die der Polizeistation – mussten den Ort verlassen. Dieser Rückzug der staatlichen Institutionen war einem sog. Lynchmord geschuldet, der sich im Gemeindezentrum ereignet und den Tod eines Polizisten gefordert hatte. An jenem Tag hatten zwei Viehdiebe zwei gestohlene Kühe auf dem Markt angeboten und wurden von den Dorfbewohnern als Diebe identifiziert. Die Polizisten, 25 Ausführlicher: Anja Titze, Konflikt und Konfliktlösung in Guatemala, Hamburg 2008, S. 195 ff. 26 Friedensgerichte sind die Gerichte auf unterster Ebene und in etwa einem dt. Amtsgericht vergleichbar.
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die zu Hilfe gerufen wurden, wollten die Diebe in die Provinzhauptstadt bringen, weil ein dortiges Gericht für diese Straftat zuständig ist. Einige einflussreiche Dorfbewohner forderten aber, dass die Diebe vor Ort abgeurteilt würden. Die Situation wurde immer brenzliger, was auch daran lag, dass viele Dorfbewohner – wie an Markttagen üblich – stark alkoholisiert und nicht mehr zur sachlichen Unterredung imstande waren. Ungefähr 300 bis 400 Personen belagerten das Gebäude, in dem sich Gericht und Polizeistation befanden und wo die beiden Diebe auf ihren Abtransport warteten. Die Dorfbewohner forderten entschlossen deren Herausgabe. Nach dem Eintreffen einer Spezialeinheit der Polizei eskalierte die Situation. Die Gerichtsmitarbeiter und Polizisten wurden mit Steinen und Stöcken attackiert und mit Macheten bedroht. Ihnen gelang es, den Ort zu verlassen – bis auf jenen Polizisten, der mittels Axt von Dorfbewohnern getötet wurde. In der Gemeinde existiert seither keine Polizeistation mehr. Das Friedensgericht wurde in die etwa 20 km entfernte Provinzhauptstadt Huehuetenango-Stadt verlagert, wo es noch immer operiert. Das Gericht ist wie folgt strukturiert: eine Richterin,27 ein Gerichtssekretär und drei Justizangestellte, die dt. Rechtspflegern vergleichbar sind. Die Räumlichkeiten lassen erkennen, dass das Gericht nicht dauerhaft außerhalb der Gemeinde Santa Bárbara arbeiten soll und erscheinen daher sehr provisorisch. Es gibt einen Hauptraum, in dem der Sekretär und die Gerichtsmitarbeiter arbeiten. Dort werden die Formalitäten erledigt, z. B. Anzeigen erstattet, Vorladungsschreiben ausgestellt und auch Versöhnungsverhandlungen abgehalten. Der Richterin steht ein kleines Büro zur Verfügung, in dem ein Schreibtisch, ein Schrank und ein paar Stühle Platz haben. Verhandlungen zu Problemen, die kompliziert sind und der Intervention der Richterin bedürfen, finden in diesem Büro statt. So ist es oft vorgekommen, dass mehrere Personen um den Schreibtisch ‚herumsaßen‘ und ‚ihr‘ Problem diskutierten. Außerdem gibt es einen mit einfachen Stuhlbänken ausgestatteten Wartebereich, der zuweilen auch noch als Garage für das Auto der Richterin genutzt wird. In einem kleinen Raum können sich die Gerichtsmitarbeiter in der Mittagspause aufhalten. 1. VORGEBRACHTE PROBLEME Das Gericht, obgleich außerhalb seiner eigentlichen Jurisdiktion gelegen, wird regelmäßig von Bewohnern der Gemeinde Santa Bárbara aufgesucht. Meist sind es Frauen, die für ihre Probleme eine Lösung suchen. Dazu gehören insbesondere häusliche Gewalt, Beleidigungen, Drohungen und Sachbeschädigungen. Häusliche Gewalt betrifft dabei etwa ein Fünftel der vorgebrachten Probleme. Die Fälle hierzu steigen seit einigen Jahren kontinuierlich an. Als das Gericht seine Arbeit aufgenommen hat, wurden etwa 30 bis 40 Verfahren bearbeitet; im Jahr 2004 hatte sich das Fallpensum bereits auf 70 erhöht. Und im Jahr 2005 waren bereits bis Mitte des Jahres 50 Verfahren eingeleitet worden. Die Problemlage dieses Friedensgerichts entspricht der ande27
Zum Zeitpunkt der Feldforschung war im Gericht eine Richterin tätig. Da sich die Ausführungen auf die hierbei erlangten Erkenntnisse beziehen, wird im Beitrag von der Richterin gesprochen. Seit 2006 wurde die Richterin von einem männlichen Kollegen ersetzt, da sie sich selbst anwaltlich niederlassen wollte.
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rer Gerichte, die gleichfalls vorrangig und immer mehr mit Fällen häuslicher Gewalt befasst sind. Die Fälle häuslicher Gewalt werden im Friedensgericht von Santa Bárbara sehr sorgfältig behandelt. Grundlage hierfür bildet das 1996 erlassene Gesetz, mit dem häusliche Gewalt verhindert, verfolgt und ausgelöscht werden soll (Ley para Prevenir, Sancionary Erradicar la Violencia Intrafamiliar, fortan: Gesetz gegen häusliche Gewalt). So werden, entsprechend dem Gesetz, sog. Schutzmaßnahmen angeordnet, um Frauen und Kinder vor weiteren gewaltsamen Übergriffen zu schützen (die Täter sind überwiegend männlichen Geschlechts). Diese Rechtsanwendungspraxis ist jedoch nicht in allen Friedensgerichten üblich. Im Gegenteil: Häufig werden solche Fälle nicht statistisch erfasst, obgleich das o.g. Gesetz dies verlangt. Auch bleiben viele männliche Richter untätig, weil diese Gewaltform sozusagen von den Frauen gebilligt werden müsse. Sie sind noch Denkweisen des Machismo verhaftet und handeln demgemäß. Wieder andere Richterinnen und Richter wissen (noch) nicht, dass auch sog. ‚wirtschaftliche‘ Gewalt den Tatbestand der häuslichen Gewalt erfüllen und Schutzmaßnahmen auslösen kann. So gesehen wird der Rechtsschutz zugunsten von (indigenen) Frauen auf verschiedenste Weise vereitelt. Ein Hoffnungsschimmer sei, so die Richterin, dass das Gesetz zumindest schon häufiger zur Anwendung käme.28 Der Anstieg an Verfahren darf allerdings nicht voreilig als Zuwachs an Gewalt verstanden werden. Dass häusliche Gewalt verstärkt angezeigt wird, erklären Gerichtsmitarbeiter und Mitarbeiter von NGOs vielmehr damit, dass Frauen mehr Informationen über ihre Rechte haben. Immerhin gibt es auch in der Provinz Huehuetenango viele NGOs, die zu Frauenrechten arbeiten und regelmäßig Frauen zu Informationsveranstaltungen und Workshops einladen. Trotzdem gibt es viele Frauen, die das Gericht aufsuchen wollen, aber hierzu nicht imstande sind. Sie haben nicht das Geld, um die Transportkosten begleichen zu können. Für sie ist das Gericht gewissermaßen unerreichbar weit entfernt. Sie müssen vor Ort nach einer Lösung für ihr Problem suchen oder die Gewalt weiter ertragen. Es lässt sich nicht genau bestimmen, wie viele Frauen dieses Schicksal teilen. Einige im Gericht befragte Frauen versicherten mir jedoch, dass es „viele Frauen“ seien. Erschwerend kommt hinzu, dass Frauen, die in weit abgelegenen Dörfern und Weilern wohnen, besonders benachteiligt sind. Ihnen ist momentan kein Zugang zur staatlichen Justiz möglich. Festzuhalten ist, dass das Gericht zurzeit nahezu ausschließlich zur Bewältigung der Probleme jener Personen beitragen kann, die in relativer Nähe zur Stadt Huehuetenango leben bzw. das Geld für den Transport aufbringen können. 2. KONFLIKTBEHANDLUNG IM FRIEDENSGERICHT Grundsätzlich ist im Friedensgericht sowohl die formelle als auch informelle Konfliktbehandlung möglich, wobei es zu einem Zusammenspiel beider Verfahrensweisen kommen kann. Zunächst werden Probleme entweder auf einen formellen oder informellen Verfahrensweg gebracht. Im Laufe des Verfahrens kann es dann zu einem Wechsel kommen, d. h. das Problem kann z. B. vom informellen auf den formellen 28 Rosa Gaitán, 1.6.2005. Ähnlich äußerte sich Romeo Cárdenas, 6.7.2005.
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Verfahrensweg gelangen, dort bleiben und gelöst werden. Möglich ist aber auch, dass das Problem im Laufe des Verfahrens auf den informellen Verfahrensweg rücküberführt wird, weil die Streitparteien erkannt haben, dass sich eine Versöhnungsverhandlung besser zur Problembewältigung eignet. Alternative Streitbeilegung wird mittlerweile sehr intensiv praktiziert. Tatsächlich ergehen im Friedensgericht von Santa Bárbara nur noch selten Verurteilungen bzw. Freisprüche. Im Zeitraum der teilnehmenden Beobachtung wurde keine derartige richterliche Entscheidung getroffen. Dies ist kein Zufall, sondern entspricht einem wichtigen Ziel der Gerichtsmitarbeiter. Probleme sollen möglichst informell gelöst werden. Man ist der Überzeugung, dass die Streitparteien selbst maßgeblich an einer Problemlösung teilhaben sollten und dass es zwischen ihnen zu einer Kommunikation über das Problem kommt. Nicht der neutrale Dritte soll eine Entscheidung vorgeben bzw. aufoktroyieren, sondern Vorschläge sollen von den Beteiligten selbst unterbreitet und ausdiskutiert werden. Diese Ausrichtung auf alternative Konfliktlösung ist jedoch nicht nur für dieses Friedensgericht typisch. Es handelt sich vielmehr um ein wichtiges Ziel der bereits erwähnten Justizreform. Nach Jahrzehnten von Willkür und Terror sollen die Bürger darin unterstützt werden, Streitigkeiten friedlich beizulegen. Damit soll auch eine Friedenskultur in diesem vom Krieg gebeutelten Land gefördert werden. Angesichts der verhängnisvollen Militarisierung der Zivilbevölkerung während des Bürgerkrieges und den dabei aufgezwungenen gewaltsamen Konfliktlösungsformen wird dies auf absehbare Zeit eine große Herausforderung bleiben. Der Wechsel zwischen den Verfahrensmodi eröffnet sich allerdings nicht bei jedwedem Streitgegenstand. Bestimmte Probleme verbleiben auf dem formellen Verfahrensweg, d. h. eine informelle Lösung kann hierbei nicht angestrebt werden. Diese Beschränkung auf den formellen Verfahrensweg ist beispielsweise typisch für Fälle häuslicher Gewalt. Hier kommt es zur Anwendung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt und zur Anordnung von Schutzmaßnahmen zugunsten der betroffenen Personen. Der Gewalttäter wird lediglich über diese gerichtliche Anordnung informiert; eine Versöhnungsverhandlung zwischen ihm und dem/n Opfer/n ist nicht angedacht. Dieses Vorgehen scheint angemessen, denn die Gewaltopfer sind meist unmittelbar auf Schutz angewiesen. Nichtsdestotrotz sind die Gerichtsmitarbeiter auch bemüht, den Gewalttätern – meist sind es Männer – die gerichtliche Entscheidung zu erklären, d. h. nicht nur den Inhalt derselben zu vermitteln, sondern auch die Gründe hierfür zu geben, z. B. dass Frauen (und Kinder) auch Rechte haben und ihnen – wie auch sonst keinem Menschen – Gewalt angetan werden darf. Diese Art der Sensibilisierung ist ein wichtiger Teil der Arbeit der Gerichtsmitarbeiter und dient vor allem dazu, die Bekanntmachung und Durchsetzung von staatlichen Normen zum Schutz von Frauen und Kindern zu fördern. 3. ABLAUF DER INFORMELLEN KONFLIKTLÖSUNG Die informelle Konfliktlösung lässt sich in vier Phasen unterteilen: eine Einleitungsphase, eine Problematisierungsphase, eine Verhandlungsphase und eine Abschlussphase. Im Folgenden sollen die wichtigsten Elemente einer jeden Phase aufgezeigt werden.
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In der Einleitungsphase werden die Konfliktparteien begrüßt. Zunächst wird ihnen der Zweck der Zusammenkunft erklärt, der darin besteht, den Frieden zwischen den Streitparteien wieder herzustellen. Außerdem werden ihnen die Grundregeln erklärt, z. B. dass nicht alle gleichzeitig reden dürften und überdies keine unsittlichen ‚Kraftausdrücke‘ erlaubt seien. Schließlich werden sie auf die Versöhnungsverhandlung ‚eingestimmt‘, wobei an ihre zumeist sehr religiöse bzw. spirituelle Lebenshaltung angeknüpft wird. Das macht folgende Aussage des Gerichtssekretärs deutlich: „[…] Man muss auch Gott bitten, dass er euren Geist und euer Herz öffnen möge, damit man die Angelegenheit klären kann.“ In der Problematisierungsphase wird den Beteiligten das Problem erklärt. Beispielsweise liest der Gerichtsmitarbeiter die Strafanzeige vor, die das Opfer im Gericht erstattet hat. Sodann wird die Forderung des Opfers verdeutlicht, z. B. 400 Quetzales für eine beschädigte Tür. Im Anschluss daran wird der Gegenseite Gelegenheit gegeben, sich zum Vorwurf und zur erhobenen Forderung zu äußern. Am Ende dieser Phase ist klar, mit welchen Erwartungen bzw. Forderungen die Streitparteien einander gegenüberstehen bzw. -sitzen. Es schließt sich die Verhandlungsphase an. Hier erhalten die Konfliktparteien die Möglichkeit, sich in ihrer (Mam-)Sprache für etwa 10 bis 15 Minuten über das Problem und die Forderungen auszutauschen. Ist diese Zeit vorüber, erkundigt sich der Gerichtsmitarbeiter, ob die Beteiligten bereits eine Lösung erlangen konnten bzw. wie der ‚Stand der Dinge‘ ist. Ist eine Einigung noch nicht erreicht, wird der Mitarbeiter ggf. versuchen, die Kommunikation zwischen den Streitparteien anzuregen. Dann haben die Konfliktparteien nochmals einige Minuten Zeit, um miteinander zu sprechen. Sollte es dann immer noch zu keiner Annäherung gekommen sein, wird der Gerichtsmitarbeiter verstärkt vermitteln und versuchen, die Streitparteien aus ihrer Position herauszulocken bzw. für eine Lösung zu öffnen. Im Falle einer beschädigten Tür kann er z. B. die Frage an den Täter stellen, ob er mit einer solchen Geldsumme, die er bereit ist zu zahlen, einverstanden wäre, wenn er sich in der Situation des Opfers befände. Die Augen des einen für die Situation des anderen zu öffnen, ist eine wesentliche Voraussetzung, um eine versöhnliche Einigung zu erreichen. Es muss so etwas wie eine Einsicht geben. Auf der anderen Seite müssen aber manche Opfer auch gemäßigt werden, weil sie versuchen, durch überhöhte Forderungen einen Gewinn ‚rauszuschlagen‘. Um den Verhandlungsprozess zu fördern, erinnert der Mediator in dieser Phase auch häufig nochmals an das wichtigste Ziel der Zusammenkunft: die friedliche Einigung. Im Friedensgericht von Santa Bárbara war die Vermittlung durch einen Gerichtsmitarbeiter fast immer nötig, um den Konflikt beizulegen. Dabei wurde jedoch nie eine Lösung aufoktroyiert, sondern allenfalls wurden Vorschläge unterbreitet. Denn Ziel ist es ja, dass die Streitparteien selbst eine Lösung finden. In der Abschlussphase wird das Ergebnis der Versöhnungsverhandlung schriftlich fixiert; das Dokument wird als ‚freiwillige Übereinkunft‘ bzw. ‚Versöhnungsakte‘ bezeichnet. Zum Beispiel kann es in diesem Vertrag lauten: „Wir […] haben unser Problem gelöst und wollen uns von nun an gegenseitig respektieren.“ Aufgrund der gerichtlichen Ausfertigung erhält diese Übereinkunft den Wert eines vollstreckbaren Titels, was die Durchsetzbarkeit der darin verankerten Ansprüche erheblich verbessert. Die beteiligten Personen werden noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich um eine rechtsverbindliche Vereinbarung handelt, die einzuhalten ist.
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4. EINFLUSS LOKALER NORMEN In den vorherigen Ausführungen wurde die Rechtsanwendung bzw. -durchsetzung in Bezug auf staatliche Normen erörtert. Allerdings wirken in Guatemala, respektive der Gemeinde Santa Bárbara, neben diesen offiziellen Normen auch nicht-staatliche Normen. Auf lokaler Ebene kann man dabei ein Normengemisch feststellen, das z. B. Normen des indigenen Rechts bzw. des Maya-Rechts oder auch des indigenen Gewohnheitsrechts umfasst. Dieses verschiedentlich bezeichnete Recht findet seit der jüngsten Vergangenheit verstärkt Anerkennung. Bereits in den Friedensabkommen, mit denen die kriegerischen Auseinandersetzungen beendet wurden, hat sich der Staat dazu verpflichtet, dieses Recht der indigenen Bevölkerungsteile anzuerkennen. Eine besondere Aufwertung als Rechtsmaterie sollte es durch eine Verfassungsänderung erfahren. Das Referendum, das hierzu im Mai 1999 abgehalten wurde, ist jedoch gescheitert. Mithin ist der Rechtspluralismus noch nicht verfassungsmäßig anerkannt. Gleichwohl ist relativ unstrittig, dass das indigene Recht insoweit Geltung hat, als dass es keine Menschenrechte oder grundlegenden Verfassungsrechte verletzt. Allerdings gibt es neben jenen o.g. Normen, die ihren Geltungsgrund in der Maya-Religion bzw. Maya-Spiritualität finden, auch solche Normen, die mit der christlichen Religion begründet werden. Die katholische Kirche sowie zahlreiche evangelische bzw. evangelikale Kirchen treten hierbei als einflussreiche Akteure auf, die bestimmte Normen einerseits ‚produzieren‘ und andererseits durchsetzen (wollen). Die Gemeinde Santa Bárbara ist hierfür durchaus typisch, weil auch dort viele verschiedene christliche Kirchen um Mitglieder werben und zuweilen sehr heftig gegen die anderen Kirchen und deren Mitglieder wettern. Es herrscht ein regelrechter Wettbewerb um die Seelen. Außerdem gibt es noch Normen des Gewohnheitsrechts, die keiner Religion zugeordnet sind, sondern sich über längere Zeit herausgebildet haben und immer weitergegeben wurden. Auch diese Normen gehören zum lokalen Recht. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass das lokale Recht sehr verschiedentlich konstituiert sein kann – je nachdem welche Akteure vor Ort bestimmten, normativen Einfluss geltend machen können. Dieses Normengemisch, das auf lokaler Ebene existiert, muss staatlichen Vorgaben nicht unbedingt entgegenstehen. Die staatlichen und nicht-staatlichen Normen können sehr wohl nebeneinander gelten. Es gibt jedoch einzelne Bestimmungen, die staatlichen, respektive menschenrechtlichen Vorgaben, zuwiderlaufen können. Ein Beispiel hierfür ist das sog. Züchtigungsrecht, das – meiner Untersuchung zufolge – Männern der Gemeinde Santa Bárbara zusteht. Es erlaubt ihnen, ihre Frau mit Worten oder gewaltsam zu bestrafen, wenn sie ihrem Mann nicht gehorsam sind. Zweifelsohne ist ein solches Recht nicht mit dem Recht auf Schutz vor Gewalt vereinbar. Im Übrigen wird hierdurch der Gleichheitsgrundsatz verletzt. Zum Konflikt kommt es jedenfalls dann, wenn sich Frauen dieser Rang- bzw. Machtordnung widersetzen (z. B. ihrem Mann widersprechen und eigene Entscheidungen treffen) und sie hierfür gezüchtigt werden. Diese Gewalthandlung erweist sich letztlich als Normkonflikt, d. h. die lokale Norm kann Gewalt auslösen bzw. bedingen. Es ist aber auch möglich, dass die lokale Norm die Konfliktbehandlung erschwert, wie der Fall „Unterlassene Hilfeleistung“ zeigen wird. In diesem Fall stehen zwei junge Menschen im Mittelpunkt – Manuela und José. José ‚raubt‘ Manuela, wobei die
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Zustimmung des Mädchens sehr wahrscheinlich vorgelegen hat.29 Diese räuberische Handlung wird jedoch nicht ‚geheilt‘. Dies wäre möglich, wenn José sich zu den Eltern des Mädchens begibt und sie um Verzeihung sowie die Hand des Mädchens bittet.30 In diesem Fall ist dies nicht geschehen. Er hat das Mädchen kurz darauf mit auf eine weit entfernte Plantage genommen, wo sie – zusammen mit Josés Mutter und Schwester – leben und arbeiten musste. Als die Erntezeit vorüber ist, kehrt Manuela mit José und dessen Familie in die Gemeinde Santa Bárbara zurück. Sie wohnt bei José, darf allerdings zu ihrer Familie keinen Kontakt aufnehmen. Manuela ist schwanger. Eines Tages setzen die Wehen ein. Manuela bittet ihren Freund José, bei ihr zu bleiben und sie zu unterstützen. Er aber verlässt Haus und Hof, so dass sie wenig später ganz allein ein Kind zur Welt bringen und mit einer Machete abnabeln muss. Nachbarn, die durch Schreie auf das Mädchen und ihre Schmerzen aufmerksam wurden, eilen herbei, versorgen Mutter und Kind und rufen eine Hebamme für die Betreuung sowie Nachsorge. Dieser Fall ist gewiss sehr ungewöhnlich. Er wurde im Zeitraum meiner teilnehmenden Beobachtung vor Gericht verhandelt und stellt tatsächlich einen Ausnahmefall dar. Denn normalerweise konnte ein Problem an einem Tag mittels Versöhnung gelöst werden. Der vorliegende Fall wurde jedoch an mehreren Tagen vor Gericht verhandelt. Ungewöhnlich war der Fall auch insoweit, als dass letztlich keine Konfliktlösung gelang – weder formell, noch informell. Meist aber gelang im Gericht eine informelle Lösung durch Vergleich. Ein Unterschied zum Normalfall bestand auch deshalb, weil eine lokale Norm im Rahmen der Verhandlungen thematisiert wurde und dieselben beeinflusst hat. Interessant ist auch, wie dieser Fall überhaupt vor das Friedensgericht von Santa Bárbara gelangt ist. Über jene hilfsbereiten Nachbarn konnte Manuela ihren Vater (Don Ricardo) telefonisch kontaktieren und über ihren Aufenthaltsort und die Geburt des Kindes in Kenntnis setzen. Der Vater hat Tochter und Enkeltochter aufgesucht und stellte fest, dass sie noch gesundheitliche Beschwerden hatten und vom Kindesvater noch keine Vorbereitungen getroffen worden waren. Das Kind war beispielsweise in einen Scheuerlappen gewickelt. Don Ricardo ging daraufhin zur Gemeindeverwaltung und hat dort um ein Gespräch mit Josés Mutter gebeten.31 Diese erschien auch, doch gelang es Don Ricardo nicht, die Zustimmung von Josés Mutter zu erwirken, um Tochter und Enkeltochter abholen zu dürfen. Einer lokalen Norm zufolge ist dies nur mit Zustimmung der Schwiegereltern möglich. Sodann suchte Don Ricardo das Friedensgericht von Santa Bárbara auf, um dort Hilfe für sein Begehren zu erlangen. Die Richterin war höchst überrascht, dass die Zustimmung von Josés Mutter nötig sei, damit Don Ricardo seine Tochter und Enkeltochter abholen kann. Die Richterin ordnete sofort eine Schutzmaßnahme im Rahmen eines Verfahrens wegen häuslicher Gewalt an. Daraufhin wurden Manuela und deren Kind von einem Feuerwehrauto in ein Krankenhaus von Huehuetenango-
29 Ein Brautraub geschieht häufig mit Einwilligung des jeweiligen Mädchens. 30 Meist bringen die ‚Räuber‘ eine Kiste Limonade und ein großes Stück Rohrzucker mit zu den Eltern, um diese gütig zu stimmen. 31 In der Gemeindeverwaltung finden heutzutage sehr viele Versöhnungsgespräche statt, um Probleme vor Ort beizulegen und nicht erst das Gericht in Huehuetenango-Stadt aufsuchen zu müssen.
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Stadt gebracht. Die lokale Norm blieb bei dieser richterlichen Entscheidung unberücksichtigt. Im Übrigen wurde ein Verfahren wegen Unterlassener Hilfeleistung gegen José und dessen Mutter eingeleitet. Wenig später begann die Verhandlung des Falles vor Gericht. Zeugen haben ihre Aussage gemacht, Gutachten wurden vorgetragen, und die Beschuldigten haben sich ebenfalls geäußert. Überdies hat die Richterin das Opfer sowie Zeugen zu den lokalen Geburtsgewohnheiten befragt. Ziel war es, herauszufinden, ob sich die Beschuldigten nach lokalem Recht überhaupt strafbar gemacht oder ob sie ggf. völlig richtig gehandelt hatten. Es wurde allerdings festgestellt, dass auch in Santa Bárbara die Geburt begleitet bzw. von Mutter und/oder Hebamme unterstützt wird. Indem das formelle (Straf-)Verfahren mehrmals unterbrochen wurde, war es den Beteiligten möglich, eine versöhnliche Lösung für dieses Problem zu suchen. Der Vater von Don Ricardo forderte 1000 Quetzales (etwa 100 Euro) Ersatz für die ihm entstandenen Kosten (für Medikamente, Krankenhausaufenthalt, Kindersachen). Diese informellen Verhandlungsversuche scheiterten jedoch. Ein Grund, der vermutlich sogar sehr entscheidend für den (informellen) Verhandlungsmisserfolg sein dürfte, betrifft die o.g. lokale Norm. Die Beschuldigten haben sich vor Gericht selbst als Opfer dargestellt. Sie warfen Don Ricardo vor, dass er ein ‚schweres Delikt‘ begangen habe, indem er Tochter und Enkeltochter ohne Zustimmung von Josés Mutter abgeholt hatte. Zwar intervenierte hier sogleich die Richterin und erklärte, dass sie die Abholung angeordnet hatte – für die Beschuldigten war der Schuldige aber Don Ricardo. Schließlich wurde das Verfahren ganz eingestellt. Das formelle (Straf-)Verfahren konnte nicht zu einer Verurteilung geführt werden, weil keine ausreichenden Beweise vorlagen; die Beschuldigten hatten den Tatvorwurf auch wiederholt abgestritten. Eine informelle Konfliktlösung im Rahmen eines Vergleichs gelang ebenso wenig, weil sich Opfer und Beschuldigte nicht auf einen Geldbetrag einigen konnten. Möglicherweise war der von Don Ricardo geforderte Geldbetrag zu hoch. Hinzukommt, dass er seine Forderung sogar noch verdoppelt hatte, so dass für eine Einigung offenbar sehr wenig Spielraum bestand. Im Endergebnis ist dieses Verfahren sehr unbefriedigend für die Opferseite zu Ende gegangen. Es hatte sich gezeigt, dass eine lokale Norm sehr entscheidend in eine formelle bzw. informelle Konfliktbehandlung hineinwirken kann. VI. ZUSAMMENFASSUNG Gewalt und Konfliktlösung sind in der Geschichte Guatemalas sehr eng miteinander verbunden. Im Zuge der Eroberung wurden die indigenen Bevölkerungsteile stark diskriminiert. Und eine staatliche, unabhängige Justiz gab es nicht. Im weiteren Verlauf der Geschichte hatte sich die Rechtslage vieler Indigener nur wenig verändert. Einen traurigen Höhepunkt erreichte die gewaltsame Konfliktlösung schließlich im Bürgerkrieg, dem vor allem Mayas zum Opfer fielen und in dem grausamste Verbrechen an indigenen Frauen begangen wurden. Folgenschwer war auch, dass auf lokaler Ebene Konfliktlösungsmodi aufgezwungen wurden, bei denen Gewalt wiederum eine zentrale Rolle spielte. Die heutigen Gewaltformen (z. B. Lynchmorde) sind auch auf diesem Hintergrund zu sehen.
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Der Staat hat gleichwohl Anstrengungen unternommen, das Kontinuum der Gewalt zu durchbrechen und den Justizsektor umzugestalten. Die Reformmaßnahmen, die in den Friedensabkommen angelegt waren, haben nun dazu geführt, dass eine Vielzahl von Institutionen existiert, die Konfliktlösung anbieten. Auch im Hinblick auf Verfahren sind neue Wege beschritten worden. So wurde alternative Konfliktlösung zu einem allgemeinen Ziel erhoben und ist inzwischen in Gerichten, sogar bei Strafsachen, eine vielfach praktizierte Streitbeilegungsform. Im Übrigen ist nicht nur das staatliche, offizielle Recht, sondern auch lokales indigenes Recht als Rechtsgrundlage anerkannt. Im Friedensgericht der Gemeinde Santa Bárbara werden Konflikte mittlerweile vorwiegend informell behandelt. Der Ablauf der Versöhnungsverhandlungen folgt einem klaren, geregelten Ablauf. Die Rolle des Gerichtsmitarbeiters ist hierbei darauf beschränkt, die Streitparteien bei ihrer Lösungsfindung zu unterstützen. Jedoch sind nicht alle Streitgegenstände dieser Art der Konfliktlösung zugänglich. Bei häuslicher Gewalt werden formelle Verfahren durchgeführt und entsprechende Schutzmaßnahmen gerichtlich angeordnet. Neben staatlichen Normen wirken lokale Normen, die – im Hinblick auf indigene Frauen – abträgliche Wirkungen entfalten können. Sie können Konflikte auslösen oder die Konfliktbehandlung (im Friedensgericht) be- oder verhindern. Anschrift der Autorin Dr. Anja Titze Alte Kasernenstr. 18 97082 Würzburg
C.
INTERNATIONALE KONFLIKTE
MICHAEL REDER* GLOBALE KONFLIKTE UND DIE HETEROGENITÄT DES RECHTS RECHTSPHILOSOPHISCHE ANMERKUNGEN ZUR KANTISCHEN UND HEGELSCHEN TRADITION I. EINLEITUNG Globalisierung ist im öffentlichen Diskurs ein höchst umstrittenes Phänomen, gerade angesichts der vielfältigen globalen Konflikte und Krisen der vergangenen Jahre. Die Beurteilungen gehen dementsprechend auch weit auseinander. Für die einen ist Globalisierung ein äußerst positives Phänomen, denn die wachsende Weltwirtschaft werde zum Wohlstand aller Menschen beitragen und damit das Armutsproblem lösen helfen. Zudem ermögliche die Globalisierung einen wichtigen Schritt hin zu einer globalen Friedensordnung, weil neue Institutionen geschaffen werden, durch die weltweiter Frieden möglich werde. Nichtregierungsorganisationen, wie Amnesty International oder Greenpeace, sind symbolhafter Ausdruck der Vitalität von Weltpolitik auf dem Weg dorthin. Für die Gegenseite zeigt sich das Phänomen genau in umgekehrter Perspektive: Globalisierung ist für ihre Kritiker eine politische Entwicklung, die Machtgefälle zwischen Reichen und Armen, Industrie- und Entwicklungsländern nicht schmälert, sondern vergrößert. Krisen wie die aktuelle Finanzkrise werden die Situation der armen Menschen deutlich verschlechtern. Außerdem werde in Zeiten der Globalisierung die Gefahr von Kriegen nicht geringer, sondern vielmehr größer, was sich an der Vielzahl ‚neuer Kriege‘ ablesen lasse. Unabhängig davon, welcher Position man in Bezug auf die langfristigen Wirkungen der Globalisierung zuneigt, sind sich beide Seiten einig – auch die Befürworter der Globalisierung –, dass momentan die Weltgesellschaft durch unterschiedliche Konflikte geprägt ist. Diese werden als ein Aufeinandertreffen grundlegender und kaum vereinbarer Interessen globaler Akteure charakterisiert. Im Extremfall führt diese Auseinandersetzung zur Anwendung militärischer Gewalt – nicht nur zwischen Nationalstaaten. Recht wird auf unterschiedlichsten Ebenen und in verschiedenen Formen zur Bearbeitung solcher Konflikte eingesetzt. Das Recht soll helfen, Interessendifferenzen zwischen Menschen, Gruppen und Institutionen abzufedern oder sogar zu lösen. Der vorliegende Beitrag möchte zur Klärung der Frage beitragen, in welchem Verhältnis das Recht auf globaler Ebene zu diesen Konflikten steht. Dabei soll analysiert werden, welches Rechtsverständnis für einen Umgang mit globalen Konflikten überzeugend ist. Insbesondere soll diskutiert werden, wie homogen oder heterogen Recht sein sollte, wenn es eine effektive und überzeugende Antwort auf gegenwärtige weltgesellschaftliche Konflikte geben will. Ausgehend von einer Bestimmung globaler Konflikte werden im Folgenden zwei Argumentationsfiguren vorgestellt, die als paradigmatische Antworten auf diese Fra*
Dr. phil., Dozent für Sozial- und Rechtsphilosophie an der Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, München
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Michael Reder
gen interpretiert werden können. Beide Traditionslinien haben die politische Philosophie wie Rechtsphilosophie in den vergangenen 200 Jahren nachhaltig geprägt. Dies ist zum einen ein rationalistisches Verständnis von Recht, das bei Immanuel Kant seinen Ausgang genommen hat. Als eine zeitgenössische Interpretation dieses rechtsphilosophischen Verständnisses soll Ottfrieds Höffes Konzeption einer rationalen Einheit des Rechts in Form einer föderalen Weltrepublik vorgestellt werden. Die zweite paradigmatische Konzeption gegenüber der kantischen Traditionslinie ist die Interpretation des Rechts bei Hegel, welche dieser im Rahmen seiner Überlegungen zur Rechtsphilosophie anstellt.1 Als zeitgenössische Relecture dieses Ansatzes wird Axel Honneths Plädoyer für eine Erneuerung der hegelschen Rechtsphilosophie als Basis für eine politische Philosophie herangezogen, welche seiner Ansicht nach die gesellschaftlichen Entwicklungen des beginnenden 21. Jahrhunderts angemessen erklären und bewerten kann. Ausgehend von der Rekonstruktion dieser beiden Argumentationsfiguren wird mit vier Überlegungen für die hegelsche Tradition als eine überzeugende Antwort auf globale Konflikte plädiert. II. TYPOLOGIE UND MERKMALE GLOBALER KONFLIKTE Eine Untersuchung globaler Problemfelder und der dort auftretenden Konflikte zeigt deren zentrale Strukturmerkmale. Eine solche Analytik ist wichtig, um danach fragen zu können, welches rechtsphilosophische Verständnis zur Bearbeitung oder gar Lösung dieser Konflikte angemessen ist. Um eine solche Analytik globaler Konflikte entwickeln zu können, ist ein Blick auf die facettenreiche politologische Forschung zur Globalisierung hilfreich, die sich seit vielen Jahren intensiv mit weltweiten Konflikten beschäftigt. Dirk Messner und Franz Nuscheler beginnen ihre Überlegungen beispielsweise dezidiert mit einer Analytik globaler Problemfelder und daraus erwachsender Konflikte. Weltprobleme werden dabei von ihnen in sechs Typen eingeteilt, wobei die Grenzen und Übergänge zwischen den Typen oftmals fließend sind.2 Ein erster Typ von Problemen steht in Zusammenhang mit den globalen öffentlichen Gütern, wie beispielsweise der Umwelt. Weil Menschen diese Güter in den vergangenen Jahrzehnten unverantwortlich verschwendet haben und dies bis heute tun, entstehen für die Weltgemeinschaft daraus schwerwiegende Probleme. Tschernobyl ist ein Kristallisationspunkt dieses Problemtyps. Ein zweiter Typ kann als globale Interdependenzproblematik bezeichnet werden. Unterschiedliche ökonomische, gesellschaftliche und politische Probleme hängen auf globaler Ebene miteinander zusammen, können aber aufgrund fehlender Institutionen, deren Aufgabe es wäre, Lösungsstrategien zu koordinieren, nicht effektiv gelöst werden.3 Die Finanzkrisen der letzten zehn Jahre (Asienkrise 1997, Finanzkrise 2008/09) können als typische Interdependenzprobleme interpretiert werden. Der dritte Typ von Problemen 1
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Für die Aktualität der hegelschen Rechtsphilosophie vgl. den Themenschwerpunkt der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 2008 (56). Exemplarisch werden dort systematische Aspekte erörtert und Konkretionen der Hegelschen Rechtsphilosophie anhand einzelner politischer Konfliktfelder diskutiert. Vgl. Messner, Globalisierung, Global Governance und Perspektiven der Entwicklungszusammenarbeit, in: Nuscheler, Entwicklung und Frieden im 21. Jahrhundert, Bonn 2000, S. 267–294. Messner (Fn. 2), S. 272
Globale Konflikte und die Heterogenität des Rechts
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sind so genannte ‚globale Phänomene‘. Darunter subsumieren sie Probleme wie Armut, Hunger oder Urbanisierung. Das wachsende globale Armutsgefälle ist für sie dabei eines der gravierendsten Probleme, denn auch wenn die relative Zahl der Armen abgenommen hat, stellt die Gruppe der Armen noch immer einen sehr großen Teil der Weltbevölkerung.4 Aus dem „Systemwettbewerb der Nationalstaaten in der Weltwirtschaft“5 resultiert ein vierter Problemtyp. Um dem eigenen Land in der Weltwirtschaft eine aussichtsreiche Ausgangsposition zu verschaffen, werden oftmals massive Einschnitte in den jeweiligen Gesellschaften vorgenommen, wie beispielsweise die Exklusion „von Arbeitskräften aus nicht wettbewerbsfähigen Unternehmen“6. Dies führt zu nicht unerheblichen Spannungen und Problemen in den jeweiligen Gesellschaften, beispielsweise bedingt durch eine hohe Arbeitslosigkeit in vielen Ländern. Fünftens gibt es viele grenzüberschreitende Probleme, wie Migration, die zwar ihren Ausgang in einzelnen Ländern haben, aber nur durch eine gemeinsame Politik der betroffenen Länder gelöst werden können. Schlussendlich gibt es sechstens einen Typ von strukturellen Problemen, die aus der Komplexität globaler Dynamik resultieren, wie beispielsweise das Problem der Integration der steigenden Zahl globaler Akteure in die Weltpolitik oder die demokratische Legitimierung komplexer Formen globaler Entscheidungsfindung. Damit sind sechs zentrale globale Problemfelder benannt. Konflikte treten in diesen Problemfeldern immer dann auf, wenn die Interessen der Beteiligten nicht vereinbar und keine kooperativen Verhandlungen möglich sind. Dabei drehen sich die auftretenden Konflikte in allen sechs Problemfeldern immer um sehr ähnliche Fragen, die sich wiederum in einer sechsteiligen Matrix abbilden lassen. Die Koordinaten dieser Matrix sind wirtschaftliche Konflikte (Finanzströme), politische Konflikte (Reform der UN), ökologische Verteilungskonflikte (öffentliches Gut ‚Klima’), Sicherheitskonflikte (internationaler Terrorismus), kulturell-religiöse Konflikte (Karikaturen) und schlussendlich moralisch-ethische Konflikte (Gentechnologie). Damit ist eine Typologie skizziert, mit Hilfe derer globale Konflikte beschrieben und erklärt werden können. Für die weitere Fragestellung sind darüber hinaus zwei weitere Aspekte noch wichtig: Erstens sind in die meisten globalen Konflikte viele unterschiedliche Akteure involviert. Es geht äußerst selten um einen herkömmlichen ‚Zwei-Parteien-Konflikt‘, sondern meist sind Interessen einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Akteure Auslöser für globale Konflikte. Zweitens können die einzelnen Konflikttypen meist nicht eindeutig voneinander geschieden werden, sondern die Konflikte sind oft gekennzeichnet durch ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Aspekte, die sich wechselseitig überlagern oder bedingen. Eine umfassende Analyse globaler Konflikte wird deshalb auf die Bedingungsverhältnisse und dynamischen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Problemfelder und Konflikttypen achten müssen.
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Hauchler/Messner/Nuscheler, Global Governance. Notwendigkeiten – Bedingungen – Barrieren, in: dies., Globale Trends 2002, Frankfurt a. M. 2001, S. 11–37, 13 ff. Messner (Fn. 2), S. 273. Messner, Globalisierung und Global Governance. Entwicklungstrends am Ende des 20. Jahrhundert, in: Siegelberg/Schlichte, Strukturwandel internationaler Beziehungen, Wiesbaden 2000, S. 350–377, 352.
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III. ZWEI TRADITIONEN ZUR DEUTUNG DES RECHTS: KANT VS. HEGEL 1. RATIONALISTISCHES RECHTSVERSTÄNDNIS: DIE KANTISCHE TRADITION a) Kantische Grundlage Kant gilt als ein Vertreter rationalistischen Rechtsdenkens. Sein philosophisches Verständnis von Recht basiert auf seinen Überlegungen zur praktischen Vernunft und dem großen Stellenwert, den er diesen im Rahmen seiner Philosophie insgesamt einräumt. Zwei Implikationen des Kategorischen Imperativs als Kernelement der kantischen Philosophie sind für das Rechtsverständnis besonders wichtig. Zum einen die starke Betonung der Vernunft als Richterin auf die Frage: „was soll ich tun?“ Die philosophische Pointe des kategorischen Imperativs liegt darin, dass jeder Mensch auf der Basis des allgemeinen Vernunftgebrauches die Gültigkeit des normativen Gebotes einsehen kann und damit anerkennen muss. Die zweite zentrale Implikation ist die grundlegende Trennung von Sein und Sollen in der praktischen Philosophie Kants. Der kategorische Imperativ will nicht der faktischen Realität eine normative Gültigkeit beimessen, sondern begründet den Sollensanspruch einzig aus der Vernunft. Sein und Sollen stehen sich deshalb als zwei Pole der praktischen Philosophie notwendig gegenüber. Kant misst nun dem Recht eine zentrale Funktion bei der Ausbuchstabierung der moralischen Forderungen der praktischen Vernunft im Allgemeinen und des kategorischen Imperatives im Besonderen bei. Auch das Recht ist dabei aus der praktischen Vernunft erkennbar. Die Gesetzmäßigkeit erweist sich für das Recht als das Vernunftprinzip. Daraus ergibt sich für Kant das allgemeine Rechtgebot, das als eine rechtsphilosophische Deutung des kategorischen Imperativs verstanden werden kann. Handele so, dass „der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“7. Recht ist dabei der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetzte der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“8. Zentrales Merkmal des Rechts ist aber nicht nur seine Vernünftigkeit, sondern auch und ganz besonders seine Erzwingbarkeit. „In der Konsequenz heißt das nichts anderes, als dass der Begriff des Rechts in einem System wechselseitiger Zwangsbefugnisse seine Erfüllung findet.“9 Deshalb weist Kant dem republikanisch verfassten Staat bei der rechtlichen Lösung von Konflikten eine so zentrale Stellung zu. Denn nur er verfügt über die legitimierte Zwangsbefugnis, Recht verbindlich zu setzen.
b) Höffes Umsetzung von Kant in der Theorie der föderalen Weltrepublik Die philosophischen Überlegungen von Höffe zu einer föderalen Weltrepublik als Antwort auf die vielfältigen globalen Problemfelder und Konflikte verstehen sich selbst als eine vertragstheoretisch begründete Gerechtigkeitstheorie. Ziel ist eine kul7 8 9
Kant, Die Metaphysik der Sitten (Kants Werke, Bd. VI), Berlin 1968, S. 203. Kant (Fn. 7), S. 230. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts, Tübingen 2006, S. 231.
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tur- und epochenunabhängige Beschäftigung mit Gerechtigkeit und Recht und die Entwicklung von politisch-rechtlichen Vorschlägen zu einer Bearbeitung globaler Konflikte. Höffes Konzeption steht in der Tradition der praktischen Philosophie und Rechtsphilosophie von Kant und Rawls. Er ist damit einer universalen Ethik liberaler Prägung zuzuordnen. Mit Kant geht er dabei vom einzelnen Menschen aus. Grundidee ist, dass Menschen im Sinne eines Urvertrags wechselseitig ihre Interessen tauschen. Durch diesen Tausch erkennen sie sich als Menschen an, tauschen wechselseitig Rechte und Pflichten und ermöglichen somit ein Gemeinwesen. Dieser Tausch ist nicht im Sinn einzelner Verträge zu verstehen, sondern grundsätzlich als ein Tausch allgemeiner Interessen. Die Wechselseitigkeit ist dabei von zentraler Bedeutung, weil ohne dieses Moment kein wirklicher Tausch stattfinden würde. Die weitere Begründung für die Gestaltung des Gemeinwesens, die auf dieser Argumentationsfigur des transzendentalen Tausches aufbaut, verläuft bei Höffe vertragstheoretisch. „Das Muster einer freiwilligen Selbstverpflichtung liegt im Vertrag. Die politische Legitimation läuft daher auf einen speziellen Vertrag hinaus, auf einen ursprünglichen, Recht und Staat begründenden Vertrag, auf einen politischen Urvertrag.“10 Aus dem transzendentalen Tausch und auf diesem Prinzip der Proto-Gerechtigkeit aufbauend folgert Höffe insgesamt neun Prinzipien der Gerechtigkeit, die in einer hierarchischen Abfolge zueinander stehen. Allen Prinzipien ist wiederum ein grundlegendes Prinzip vorgeordnet, das sich direkt aus dem Urvertrag heraus ergibt, und zwar das Prinzip der Proto-Gerechtigkeit, das auf eine wechselseitige Anerkennung der Menschen als Rechtssubjekte abzielt. „Durch eine originäre Selbst- und eine originäre Fremdanerkennung sollen alle Mitglieder der Gattung zurechnungsfähiger Wesen sich selbst und ihresgleichen als Rechtsgenossen anerkennen.“11 Das Recht übernimmt also bezüglich der Gerechtigkeit sowohl eine konstituierende als auch eine normierende Funktion und ist die vernünftige Form, innerhalb derer Menschen ihre Interessen in Form des transzendentalen Tausches wechselseitig anerkennen. Recht ist dabei in der Vernunft des Menschen verankert. Die verschiedenen Merkmale des Rechts, wie beispielsweise sein Regelcharakter oder die Sanktionsmöglichkeit, sind Ausdruck der sozialen Vernunft des Menschen. Die Vernünftigkeit einer Gesellschaftsform zeigt sich deshalb für Höffe auch und vor allem in ihrer Rechtsform. „Wo das Recht herrscht, herrscht auch Vernunft; durch ihre rechtsförmige Selbstorganisation unterwirft sich eine Gesellschaft gewissen Ansprüchen der Vernunft; umgekehrt gehört zur Vernunft der Gesellschaft das Recht unaufgebbar hinzu. Insofern ist es dem Menschen von der Vernunft geboten, in einen Rechtszustand mit seinesgleichen einzutreten.“12
Das erste Gerechtigkeitsprinzip ist für Höffe dann folgerichtig das Rechtsprinzip. „Als Inbegriff von streng allseits gültigen Regeln tritt das Recht der persönlichen Willkür und persönlicher Gewalt entgegen und soll genau deshalb überall unter den Menschen herrschen.“13 Damit betont Höffe, dass das universale Rechtsgebot konstitutiv für 10 Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2002, S. 48. 11 Höffe (Fn. 10), S. 88. 12 Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a. M. 1996, S. 41. 13 Höffe (Fn. 10), S. 61.
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Gerechtigkeit ist. Es soll garantieren, dass alle Mitglieder der Gesellschaft den größtmöglichen, distributiv-kollektiven Vorteil haben. Die zwei dem Rechtsprinzip folgenden Prinzipien sind an Kants Überlegungen zur Freiheit und an die rawlssche Theorie der Gerechtigkeit angelehnt und verstehen sich als rechtsnormierende Gerechtigkeitsprinzipien. Dies sind das Prinzip der größten negativen Freiheit und dazu komplementär das Prinzip der komparativen positiven Freiheit. Deutlich wird auch hier die Orientierung der Gerechtigkeitsprinzipien am Recht, denn Freiheit wird Höffes Meinung nach immer durch Recht realisiert. Die beiden auf Freiheit abzielenden Gerechtigkeitsprinzipien sind deshalb auch als zwei grundlegende Normen für die Gestaltung des Rechts zu verstehen. Aus diesen grundlegenden Prinzipien folgert Höffe in einem zweiten Schritt vier Gerechtigkeit realisierende Prinzipien, die auf der konkreten politischen Ebene Orientierung für die Gestaltung des Gemeinwesens geben. Dies sind die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie, Föderalität und Differenz. Im Blick über alle Prinzipien kann man Höffes Position dann wie folgt zusammenfassen: Nur wo das Recht herrscht, die Freiheit der Menschen anerkannt wird, eine Demokratie aufgebaut und das Recht auf Differenz beachtet bzw. institutionalisiert wird, kann letztlich Gerechtigkeit politisch umgesetzt werden. In ethischer Perspektive steht also die Gerechtigkeit im Zentrum der Argumentation von Höffe, vor allem die Verfahrensgerechtigkeit. Deren Reichweite dehnt er gegenüber Kant allerdings über den Staat auf die globale Ebene aus. Sein Modell von Weltpolitik, das sich aus diesem Verständnis von Verfahrensgerechtigkeit ergibt, entwickelt er an der Diskussion um Kants Friedensschrift.14 Höffe votiert gegen Kant nicht für einen Föderalismus freier Staaten, sondern für eine sozialstaatliche Demokratie auf globaler Ebene, weil seiner Meinung nach nur so Gerechtigkeit und Frieden umfassend realisiert werden können. Diese Position begründet er mit dem Argument, dass Kants Votum gegen die Weltrepublik und für den Staatenbund letztlich nicht konsistent ist. Einerseits betone Kant auf der Ebene der Staaten das republikanische Element zur Herstellung von Frieden, auf der anderen Seite weise er eben genau dieses auf der globalen Ebene zurück. Wieso geht Kant hier nicht den konsequenten Schritt und fordert auch eine globale Gewaltenteilung? Diesen Widerspruch will Höffe durch die Konzeption der föderalen Weltrepublik auflösen. Im Zug der wachsenden Komplexität globaler Dynamik und der Zunahme globaler Konflikte erscheint die Einrichtung einer Weltdemokratie als die einzig sinnvolle und moralisch gebotene Antwort. Wenn die These zutrifft, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Frieden und Gerechtigkeit fördern, dann sind diese beiden Prinzipien auch auf globaler Ebene politisch umzusetzen.15 14 Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (Kants Werke Band VIII), Berlin 1923, S. 341–386. 15 Vgl. dazu besonders Höffe (Fn. 10), S. 225 f. Höffe fordert damit allerdings keinen einheitlichen Weltstaat, denn den Staaten wird nach wie vor eine wichtige Rolle zugestanden. Weil die Weltrepublik kein Zweck an sich selbst sein darf, müssen politische Entscheidungen auch in Zeiten der Globalisierung immer zum Wohl der Menschen getroffen werden müssen. Deshalb betont er das Recht auf Differenz und das Prinzip der Subsidiarität im Modell der Weltrepublik. Politisch könnte eine solche föderale Weltrepublik analog zu der Bundesrepublik Deutschland strukturiert sein, die mit der Ebene der Länder den Prinzipien der Föderalität und Differenz eine besondere Bedeutung beimisst. Sie ist bereits in der jetzigen politischen Form der Vereinten Nationen angelehnt, bedarf allerdings noch einer Weiterentwicklung (vgl. Höffe [Fn. 10], S. 352–421).
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Höffes Umsetzung von Kants praktischer Philosophie in die Zeiten der Globalisierung nimmt also dessen starke Orientierung an der Vernunft auf und stellt sich in die Tradition rationalistischen Rechtsdenkens. Die Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit werden entsprechend dem kantischen bzw. rawlsschen Argumentationsduktus aus einer vertragstheoretischen Idee – in diesem Fall des Tausches transzendentaler Interessen – und damit losgelöst von der Ebene der faktischen Realität gewonnen. Dabei zeigt sich in den Überlegungen von Höffe eine Tendenz zur Betonung der Einheit des Rechts auf globaler Ebene, was sich in dem Modell der föderalen Weltrepublik widerspiegelt. Obwohl Höffe die Bedeutung der Prinzipien der Föderalität und der Differenz hervorhebt, so sind diese doch oftmals der Einheit des Rechts nachgeordnet. Dabei kommt ähnlich wie bei Kant dem Staat und den zwangsbefugte Gewalten zur Sicherung von Gerechtigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Höffe geht gleichzeitig deutlich über Kant hinaus, wenn er die Reichweite der Zwangsbefugnis auf die globale Ebene ausweiten und damit globale Konflikte durch eine föderale Weltrepublik lösen will. Andere gesellschaftliche Steuerungsformen, wie beispielsweise zivilgesellschaftliche Formen, spielen dabei eher eine untergeordnete Rolle.16 2. RECHT ALS SITTLICHKEIT: DIE HEGELSCHE TRADITION a) Hegelsche Grundlage Hegels Verständnis des Rechts steht in einem engen Verhältnis zu dem von Kant und setzt sich doch in entscheidender Weise von diesem ab.17 Zuerst zeigt sich in der Betonung der Vernunft, die sich bei Hegel in der dialektischen Bewegung des Geistes manifestiert, eine große Nähe zwischen den beiden Philosophen. Wie Kant betont Hegel die Vernunft, wenn er argumentiert: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“18 Eine zweite Nähe findet sich in der Verhältnisbestimmung von Recht und Freiheit, denn auch Hegel nimmt ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen beiden an. Das Recht ist in seiner Semantik das Dasein des freien Willens und damit ein unabdingbarer Ausdruck der Freiheit des Menschen. Trotz dieser skizzierten Ähnlichkeiten zwischen Kant und Hegel, gibt es gravierende Differenzen in deren Verständnis von Rechts- und politischer Philosophie. Erstens betont Hegel, dass das Verhältnis von Freiheit und Recht nicht ein kausales ist, sondern sich vielmehr als ein dialektischer Stufenprozess zeigt. Recht kann also Freiheit nicht in einem kausalen Sinne herstellen oder Freiheit in eine rechtliche Semantik übersetzen, sondern beide vollziehen im Laufe der Geschichte einen dialektischen Prozess. Hegel fokussiert deshalb weniger auf die Vernünftigkeit des Rechts
16 Wetzel, Globalisierung eines bewährten politikphilosophischen Ansatzes. Zu: Ottfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2001 (26), S. 245–249, 248. 17 Hinsichtlich möglicher Überschneidungen zwischen Kant und Hegel vgl. Prauss, Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg i. Br. 2008. 18 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1986, Vorrede (S. 24).
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an und für sich, als auf den konkreten Gebrauch der Rechte. „Seine Absicht ist überhaupt nicht so sehr, das Vernunftrecht als ein System normativer Sätze zu deduzieren und zu empfehlen, als vielmehr aufzuzeigen, wie der Gebrauch der Rechte der Verwirklichung menschlicher Freiheit dient.“19 Dabei kann zweitens das einzelne Individuum nicht von der jeweiligen Gemeinschaft losgelöst gedacht werden. Beide stehen sich nicht als Pole gegenüber (wie dies bei Kant zu sein scheint), sondern sie stehen in einem unauflösbaren Wechselverhältnis zueinander. Hegel spricht in diesem Zusammenhang auch von einer unaufhebbaren wechselseitigen Durchdringung von Besonderem und Allgemeinem. Dieses Verhältnis ergibt sich vor allem daraus, dass die Bedürfnisse der einzelnen Menschen mit dem Wohl der Gemeinschaft insgesamt in einem unauflösbaren Verhältnis stehen. „This condition of mutual dependence, which Hegel calls the system of needs, means that each individual’s well-being becomes bound up with the well-being of others.“20 Darin zeigt sich ein überaus gewichtiger Unterschied zwischen der kantischen und der hegelschen Konzeption der Rechtsphilosophie. Hegel betont gegenüber Kant nämlich deutlich stärker die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen untereinander. „Hegel claims that individuals, and more specifically families, are incapable of selfsufficiency. To satisfy their needs they require access to and the usage of things that are external to them and consequently beyond their control.“21 Ein Kernelement der Rechtsphilosophie Hegels, das für die Frage dieses Beitrages besonders wichtig ist, ist das Verständnis der Sittlichkeit als Sphäre der Gesellschaft. Hegels Theorie der Sittlichkeit fungiert dabei auf der Basis seines Vernunftmonismus als eine theoretische Integration unterschiedlicher Formen des Sozialen in die Gesellschaft.22 In den entsprechenden Überlegungen der Rechtsphilosophie betont Hegel, dass das Sittliche je eigens verfasst ist und deshalb aus rechtsphilosophischer Perspektive eine Berücksichtigung der gewachsenen Verhältnisse des Sittlichen unumgänglich ist. Diese je eigene Verfasstheit des Sittlichen kann in heutiger Semantik auch als Eigenheit der sozialen, moralischen oder rechtlichen Praktiken gefasst werden.23 Mit diesem gesellschaftstheoretischen Modell betont Hegel die Sphäre der Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat) und vermeidet eine Engführung bei der philosophischen Reflexion des Rechts auf den Staat. Gleichwohl der Staat nach wie vor einen zentralen Stellenwert einnimmt, wird mit der Sphäre des Sittlichen ein Gegengewicht in die Rechtsphilosophie eingezogen, worin sich noch einmal die dialektische Verschränkung von Besonderem und Allgemeinem widerspiegelt. „Diese Doppeltheit der Beziehung des Besonderen und Allgemeinen ist konstitutiv für das, was Sittlichkeit als Bestimmung politischer und sozialer Institutionen meint.“24
19 Ilting, Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Riedel, Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Band 2, Frankfurt a. M. 1975, S. 52–80, 55. 20 David, Hegel’s Philosophy of Right. Subjectivity and ethical life, London 2007, S. 66. 21 Thompson, Institutional normativity: the possibility of right, in: Williams, Beyond liberalism and communitarianism studies in Hegel’s ‘Philosophy of right’, Albany 2001, S. 41–65, 53. 22 Vgl. Mertens, Die juridische Vermittlung des Sozialen, Würzburg 2008. 23 Vgl. Tunick, Hegel on political identity and the ties that bind, in: Williams (Fn. 21), S. 67–89. 24 Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, in: Riedel (Fn. 19), S. 217–244, 232.
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An Kants praktischer Philosophie kritisiert Hegel dessen zu starken Individualismus, der sich auch in seinem Staatsverständnis widerspiegele. Der Staat darf nicht als eine Summe von Einzelinteressen gedeutet werden, sondern ist ein dialektischer Prozess der Bürgerinnen und Bürger wie der verschiedenen Sphären des Sittlichen, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft.25 Systematisch betrachtet nimmt Hegel damit die klare Trennung Kants von Moralität und Legalität zurück bzw. transformiert sie zu der These, dass die wichtigste Voraussetzung des Rechts die Vielfalt sozialer, moralischer und rechtlicher Praktiken einer Gemeinschaft ist.26
b) Honneth als Relecture der hegelschen Rechtsphilosophie Hegels Theorie der Gesellschaft ist für Honneth schon seit Beginn seines Schaffens ein wichtiger Referenzpunkt. Seine Anerkennungstheorie, die in einer intensiven Auseinandersetzung mit der Diskurstheorie von Habermas entstanden ist, fokussiert dabei vor allem auf die vielfältigen Anerkennungsverhältnisse, auf die jede Gesellschaft aufbaut und die damit auch jeder ethischen Reflexion vorausgehen.27 In den vergangenen Jahren nun konzeptualisiert er seine Theorie der Anerkennung sehr dezidiert innerhalb der rechtsphilosophischen Überlegungen von Hegel, weshalb sein Ansatz als eine Relecture derselben gedeutet werden kann. Diese Interpretation baut auf der Theorie der Anerkennung auf und integriert damit sowohl Elemente der kritischen Theorie Adornos wie der Diskurstheorie von Habermas in die Deutung der Rechtsphilosophie Hegels.28 In Honneths Lesart ist der Kern der hegelschen Rechtsphilosophie der Bereich des Sittlichen, den er als Erfahrung kommunikativer Freiheit deutet. In der Sphäre der Sittlichkeit verwirklicht sich die von Hegel betonte Dialektik von Allgemeinem und Besonderem als ein Wechselspiel von Selbstverwirklichung des Einzelnen und der Ordnung der Gesellschaft als Ganzer.29 Gegenüber den Kommunitaristen erkennt Hegel – so das Argument von Honneth – den notwendigen Zusammenhang von Recht und individueller Freiheit sehr wohl an. Allerdings verfällt er nicht (wie Kant) in eine Reduktion auf das vereinzelte Individuum, sondern betont, dass individuelle 25 Zusätzlich findet sich bei Hegel eine grundlegende Kritik einer vertragstheoretischen Begründung von Staat und Recht, weil damit eine Argumentationsfigur aus der Ökonomie (beispielsweise des Tauschvertrages) in die politische Philosophie übertragen wird, was Hegel scharf kritisiert, vgl. Hegel (Fn. 18), § 75. 26 Im Letzten ist Hegel allerdings dann doch skeptisch gegenüber dieser Vielfalt und bindet diese wieder zurück an den monarchisch geformten Staat, vgl. Hegel (Fn. 18), §§ 275 ff. 27 Vgl. zur Grundlegung Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 2003. 28 Ob das Element der Intersubjektivität, das Honneth mit Habermas stark betont, bereits in der Hegelschen Rechtsphilosophie angelegt ist, war lange Zeit umstritten. Kaltenbacher zeigt allerdings auf, inwiefern die skeptischen Interpretationen zumindest teilweise einer verkürzenden Interpretation der Hegelschen Rechtsphilosophie folgen, vgl. Kaltenbacher, Freiheitsdialektik und Intersubjektivität in Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1994. 29 Diesen Gedanken entwickelt Honneth in neuster Zeit z. B. in: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001. Eine praktische Anwendung dieser Überlegungen auf den Bereich der Arbeitswelt findet sich in ders., Arbeit und Anerkennung Versuch einer Neubestimmung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2008 (56), S. 327–341.
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Freiheiten nur möglich sind, weil Menschen aufeinander verwiesen sind und sich wechselseitig anerkennen. „Die Ausstattung der Individuen mit ‚subjektiven Rechten‘ ist nicht das Ergebnis einer fairen Distribution, sondern ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Gesellschaftsmitglieder gegenseitig als freie und gleiche anerkennen. Mit diesem Einwand verknüpft Hegel freilich mehr als bloß die Absicht einer Korrektur des zeitgenössischen Rechtsverständnisses; der Hinweis auf den relationalen, intersubjektiven Charakter von Rechten soll vielmehr ausschnitthaft deutlich machen, dass individuelle Freiheiten überhaupt nur das Produkt einer Form von zwischenmenschlicher Kommunikation sein können, die den Charakter der wechselseitigen Anerkennung besitzt.“30
Die hegelsche Stufung des Rechts wird von Honneth in einem anerkennungstheoretischen Sinne ausgedeutet. In dem Bereich des abstrakten Rechts werden vertraglich individuelle Freiräume gesichert. Hier herrscht im Grunde noch eine atomistische Vereinzelung des Menschen vor. Diese wird im Bereich der Moralität zumindest teilweise überwunden, denn hier wird eine Prüfung von Geltungsansprüchen in Anerkennungsprozessen vorgenommen. Letztlich befreit sich der Mensch aber erst im Bereich der Sittlichkeit von den ‚Leiden an Unbestimmtheit‘31, weil erst hier eine vollständige Verwirklichung der Freiheit in der Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft vollzogen werden kann. In der Sphäre der Sittlichkeit (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) realisiert sich nach Honneth also kommunikative Freiheit. In der Lebenspraxis erfahren Menschen auf allen drei Ebenen eine reziproke Anerkennung. Der normative Anspruch, der sich in diesen Anerkennungsverhältnissen zeigt, wird zur Grundlage gesellschaftlichen Handelns. Menschen beachten Normen, nicht weil sie eine rational erwiesene Pflicht sind, sondern weil insbesondere in der Sphäre der Sittlichkeit „bereits ein ganzes Spektrum an freiheitsverbürgenden Interaktionsmustern“32 vorliegt. Auch die gegenwärtige Alltagswelt ist gekennzeichnet von einer Vielzahl solcher Praktiken wechselseitiger Anerkennung, die Ausdruck eines gerechten Zusammenlebens sind. Eine praktische Philosophie und Rechtsphilosophie hat diese Praktiken ernst und gesellschaftstheoretisch in den Blick zu nehmen, wenn sie überzeugen will.33 Honneth argumentiert damit also gegen eine Abkoppelung des Nachdenkens über gerechte Konfliktslösungen von einer gründlichen Gesellschaftsanalyse der bereits verwirklichten sozialen, normativen und rechtlichen Praktiken. Die Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie im Anschluss an die hegelsche Rechtsphilosophie ist es daher, „die gegebene Institutionen und Praktiken […] auf ihre normativen Leistungen“ hin zu analysieren und dazustellen, inwiefern „sie für die soziale Verkörperung und Verwirklichung der gesellschaftlich legitimierten Werte von Bedeutung
30 Honneth, Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel, in: Merker/Mohr/Quante, Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 213–227, 218. 31 Vgl. Honneth (Fn. 29). 32 Vgl. Honneth, Sphären reziproker Anerkennung Größe und Grenzen der Hegelschen Sittlichkeitslehre, Sats – Nordic Journal of Philosophy 2001 (2/1), S. 6–36, 6. 33 Honneth betont, dass Hegel vor der Konsequenz dieses Ansatzes zurück geschreckt ist und deshalb die Vielzahl der Praktiken doch wieder dem Staat unterwerfen wollte, obwohl dieser Schritt nicht notwendig gewesen wäre. An dieser Stelle setzt sich Honneth deshalb – berechtigter Weise – deutlich von Hegel ab.
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sind.“34 Er wendet sich damit gegen eine scharfe Trennung von Sein und Sollen und auch gegen eine theoretische Fixierung auf abstrakte Prinzipien als Grundlage des Rechts wie dies Kant oder auch Höffe zumindest teilweise tun. Stattdessen betont er die Fähigkeit wechselseitiger Anerkennung als Realität des Sittlichen, die für ihn der Kern der Rechtsphilosophie ist. Dies bedeutet allerdings nicht eine uneingeschränkte Anerkennung des Faktischen. Vielmehr kann mit einer kritischen Rekonstruktion der uneingeholten Potenziale der Praktiken darauf aufmerksam gemacht werden, in welche Richtung diese weiter entwickelt werden sollten. Honneth selbst hat bislang seine Überlegungen zu kommunikativer Freiheit und der Rekonstruktion der sozialen, normativen und rechtlichen Praktiken auf den nationalstaatlichen Kontext beschränkt. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass solche Rekonstruktionen der Praktiken und ihrer unausgeschöpften Potenziale auch auf globaler Ebene ein sinnvoller Ausgangspunkt sind. In diesem Prozess der normativen Rekonstruktion wäre dann danach zu fragen, wie gängige soziale, normative und rechtliche Praktiken auf weltgesellschaftlicher Ebene bezüglich neuer globaler Herausforderungen transformiert und welche Potenziale dabei weiter entwickelt werden sollten. Erst auf diesem Hintergrund können globale Konflikte auch konstruktiv gelöst werden. IV. VIER PLÄDOYERS FÜR DIE HEGELSCHE LESART WELTGESELLSCHAFTLICHER FRAGEN Mit Höffe und Honneth stehen für die Frage nach dem Verhältnis von Recht und globalen Konflikten zwei unterschiedliche Argumentationsfiguren zur Verfügung, die auch das Verständnis politischer Philosophie insgesamt betreffen. Im Folgenden wird mit vier Überlegungen aufgezeigt, wieso gerade angesichts globaler Konflikte ein an Hegel bzw. Honneth orientierter Zugang mehr überzeugen kann, und was dies für das Rechtsverständnis auf globaler Ebene bedeutet. 1. GLOBALISIERUNG UND RELATIONALES PARADIGMA Ein Blick auf die eingangs entworfene Analytik globaler Problemfelder und Konflikte zeigt deutlich, dass eindimensionale Analyseraster sich schwer tun, globale Wirklichkeit zu beschreiben. Erklärungen werden vielmehr dort überzeugend, wo sie die Vielfalt und Mehrdimensionalität globaler Prozesse beachten – dies gilt auch und gerade für globale Konflikte. Dabei sind es weniger einzelne Akteure oder Institutionen, die globale Wirklichkeit prägen, sondern vielmehr die Interaktionen zwischen diesen. Globalisierung, so lässt sich daher schlussfolgern, ist primär gekennzeichnet durch die vielfältigen und komplexen Beziehungen, Interaktionen und Vernetzungen zwischen unterschiedlichsten Akteuren und weniger durch einzelne Akteure oder Institutionen als solche.35
34 Honneth, Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse. Überlegungen im Anschluss an Hegel, in: ders., Gerechtigkeit und Gesellschaft, Berlin 2008, S. 11–24, 21. 35 Vgl. dazu Reder, Ethik des Kosmopolitismus, ZEE 2009 (1), S. 59–68.
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Philosophisch bedeutet dies, dass nicht substanzielle Wesensbeschreibungen von Akteuren oder Systemen bei der Beschreibung von Globalisierung wichtig sind, sondern die Vernetzung zwischen diesen. Das, was Globalisierung ausmacht, ist ihre Relationalität. Die Relation wird damit philosophisch zur Grundkategorie einer überzeugenden Globalisierungstheorie, was wiederum Auswirkungen auf Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Wissenschaftsverständnis hat. „Alle in unserer Welt unterscheidbaren Systeme – alles was für uns erfahrbar ist, alles worüber wir sprechen können – stehen in einem Wirkzusammenhang, in dem sich alle Relationen in Abhängigkeit voneinander verändern. Gerade dieser prozessurale Charakter ist es, der die Einheit stiftet: Jede Relation des Relationengefüges, das die Welt zu einem Zeitpunkt verkörpert […], hängt vom gesamten Relationengefüge der Welt ab.“36
Mit einem solchen Ansatz kann globale Dynamik als mehrdimensionales relationales Geflecht gedacht werden. Diesem relationalen Denken entsprechend werden auch substanzielle Festschreibungen einzelner Aspekte globaler Problem- oder Konfliktfelder vermieden. Neben der Beschreibung und Interpretation des zwischenstaatlichen Systems wird beispielsweise besonders der polyzentrische und dynamische Charakter globaler Strukturen und Konflikte herausgearbeitet. Dieser relationale Ansatz steht deshalb in einer hegelschen Tradition, insofern Globalisierung nicht auf einzelne Akteure bzw. Institutionen reduziert, sondern die Vielfalt der sozialen, moralischen und rechtlichen Praktiken als Ausdrucksformen weltweiter Vernetzungen in den Blick genommen wird. Auch globale Konflikte sind heterogen und dynamisch, so die Grundthese eines relationalen Paradigmas. Sogar gegensätzliche Entwicklungen laufen gleichzeitig ab, gerade dies ist ein zentrales Kennzeichen der Weltgesellschaft (beispielsweise die Gleichzeitigkeit von Polyzentrik und Vereinheitlichung). Außerdem lösen sich dabei traditionelle Grenzen zwischen den Nationalstaaten als auch zwischen allen anderen globalen Akteuren immer weiter auf, sie werden durchlässig und lassen viele neue Vernetzungen entstehen. Deshalb kann heute beispielsweise nicht mehr eindeutig zwischen innen- und außenpolitischen Konflikten unterschieden werden. „Given this diversity, it is not so much a single frontier as a host of diverse frontiers […] in which background often becomes foreground, time becomes disjointed, nonlinear patterns predominate, organizations bifurcate, societies implode, regions unify, markets overlap, and politics swirl about issues of identity, territoriality, and the interface between long-established patterns and emergent orientations. […] At the center of an emergent worldview lies an understanding that the order which sustains families, communities, countries, and the world through time rests on contradictions, ambiguities, and uncertainties.“37
Grenzen markieren nur noch einen Raum, in dem die verschiedenen Akteure eine komplexe Interaktionsbewegung beginnen. Indem der traditionelle Grenzbegriff aufgehoben wird, entsteht ein neuer öffentlicher Raum, in dem Gemeinsamkeiten von Mehrdeutigkeiten überlagert werden und scheinbare Gegensätze zu neuen Einheiten verschmelzen. Dies ist der Horizont vor dem globale Konflikte erklärt werden müssen. 36 Schlossler, Einheit der Welt und Einheitswissenschaft. Grundlegung einer allgemeinen Systemtheorie, Braunschweig/Wiesbaden 1993, S. 80. 37 Rosenau, Along the domestic-foreign frontier. Exploring governance in a turbulent world, Cambridge 1997, S. 6 f.
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Zur Beschreibung gegenläufiger Tendenzen der Weltgesellschaft (Polyzentrik auf der einen, Vereinheitlichung auf der anderen Seite) sind dialektische Formulierungen besonders geeignet. Diese bringen zum Ausdruck, dass Globalisierung – und dies gilt besonders für jeden globalen Konflikt – kein linearer Prozess ist, sondern oftmals aus widersprüchlichen Tendenzen besteht. In der Semantik Hegels übersetzt bedeutet dies, dass auch weltgesellschaftliche Prozesse nicht als ein linearer Prozess verstanden werden können, sondern als eine Dialektik zwischen Allgemeinem und Besonderem, woraus sich widersprüchliche Entwicklungen ergeben können.38 2. RELATIONALES PARADIGMA UND DIE HETEROGENITÄT DES RECHTS Mit dem relationalen Paradigma wird betont, dass die Welt keine klar gefasste Einheit, sondern ein im Sinne Hegels dialektischer Prozess zwischen Allgemeinem und Besonderem ist. Soll das Recht dieser Dynamik globaler Prozess entsprechen, so kann es nicht als eine substanzielle Einheit konzeptualisiert werden. Die Relationalität des Rechtes, die gegen eine solche Einheit spricht, zeigt sich auch mit einem Blick auf den Charakter des Rechtes selbst: Rechte sind nämlich nicht nur Rechte des Individuums, sondern intersubjektive Relationen. Gerade angesichts der Relationalität und Dynamik globaler Prozesse erscheint es überaus wichtig, mit Hegel die Vielfalt des Sittlichen zu achten. Dies gilt auch für die Vielfalt rechtlicher Praxis selbst, die ein zentrales Merkmal globaler Dynamik ist. Diese Heterogenität rechtlicher Praxis ist aus unterschiedlichen Gründen zu achten, vor allem weil sie Vorteile im Umgang mit globalen Konflikten mit sich bringt. Erstens spricht das relationale Paradigma selbst dafür. Wenn Relationalität die Grundkategorie globaler Dynamik ist und damit Einheit und Differenz auf einer grundlegenden Ebene immer miteinander verschränkt zu denken sind, so ist es konsequent, auf der Ebene des Rechts nicht das Moment der Einheit dem der Differenz vorzuordnen. Das heißt, dass aus dem relationalen Paradigma eine Betonung der Heterogenität des Rechts zur Lösung globaler Konflikte sinnvoller Weise folgt. Hierfür spricht auch ein funktionales Argument, denn wenn das Recht auf globaler Ebene Vielfalt stärker in den Blick nimmt, kann es strukturell Dynamik besser verarbeiten. Gerade die Vielfalt rechtlicher Steuerung auf globaler Ebene ist ein funktionaler Vorteil im Umgang mit globaler Heterogenität. „Das globale Recht ist […] stärker episodisch, weniger stabil und normativ vereinheitlicht als das klassische innerstaatliche Recht, dafür aber hat es die Vorteile größerer Geschmeidigkeit, Reaktionsschnelligkeit und hinsichtlich der Kosten größere Effizienz, und empfiehlt sich daher der rationalen Interessenverfolgung der Akteure.“39
Eine starke Vereinheitlichung des Rechts auf globaler Ebene analog dem Nationalstaatsmodell ist schon alleine aus pragmatischen Gründen zu langwierig und wenig 38 Mit dialektischen Erklärungsmustern wird außerdem zum Ausdruck gebracht, dass das Wissen über globale Konflikte immer unauflösbar mit dem Nichtwissen darüber verbunden ist. Es ist daher grundlegende Skepsis gegenüber den Erklärungen globaler Konflikte geboten, welche diese als eindeutig erfassbare Phänomene beschreiben. 39 Lohmann, Menschenrechte und globales Recht, in: Gosepath/Merle, Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, München 2002, S. 52–62, 57.
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geeignet, mit globaler Heterogenität umzugehen. Außerdem bleibt fraglich, ob unterschiedliche Rechtssysteme überhaupt vereinheitlicht werden können, wie das Vertreter eines Weltstaates vor Augen haben. Ein Blick auf die Europäische Union lässt hier Bedenken aufkommen. Die Diskussion zwischen Common Law und Civil Law ist ebenfalls ein Indiz hierfür. Eine globale Verschmelzung des in vielen englischsprachigen Ländern geltenden Common Law mit der kontinentaleuropäischen Tradition des kodifizierten Rechtes stellt für Juristen wie Politiker eine große Herausforderung dar. All dies deutet auf grundlegende Spannungen zwischen den Rechtssystemen hin, die einer globalen Vereinheitlichung eher hinderlich als dienlich sind. Im Sinne der Wahrung des Partikularen sind diese Unterschiede rechtlicher Praxis im globalen Kontext deshalb sinnvoller Weise zu achten. Dies bestätigt noch einmal die Plausibilität der Honnethschen Überlegung, der ja mit Hegel die Pluralität der rechtlichen Praktiken als Ausgangspunkt wählte. Diese Hinweise bedeuten allerdings nicht, dass rechtliche Bemühungen, die auf einheitliche Lösungen globaler Konflikte abzielen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind und deshalb erst gar nicht unterstützt werden sollten. Rechtlich verbindliche Institutionalisierungen sind wichtige und notwendige Formen, auf globaler Ebene universale Normen umzusetzen und abzusichern. Hier sind die Forderungen liberaler Ethikansätze nach formal-einheitlichen Rahmenbedingungen durchaus sinnvoll. Allerdings müssen solche rechtlichen Systeme auch in ihrer Form der Heterogenität globaler Dynamik entsprechen, wenn sie effektiv und nachhaltig wirken sollen. Eine solche Betonung der Heterogenität des Rechts auf globaler Ebene findet sich beispielsweise in den von Hegel inspirierten systemtheoretischen Deutungen der Weltgesellschaft, etwa in der Theorie der lateralen Weltsysteme von Helmut Willke. Auf der Basis der Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung der Weltgesellschaft in laterale Weltsysteme argumentiert Willke für ein Modell der Kontext- und Selbststeuerung zur Lösung globaler Konflikte zwischen den Weltsystemen. Der Staat kann gerade die Erfahrung des Scheiterns eines zu starken Steuerungsoptimismus angesichts der selbstreferenziellen Eigendynamik der Systeme in diesen Prozess einbringen. Der Staat hat sich in den vergangenen Jahren dabei viele Kompetenzen erworben, Politik als Moderation bzw. Supervision zu konzeptualisieren, und hat damit Abschied genommen von Allmachtsphantasien politischer Steuerung. Diese Erfahrungen können wichtige Impulse für die Diskussion über Weltpolitik sein. Weniger Staatsfixierung und eine Absage an staatsanaloge Steuerungsmodelle von Politik rationalistischer Prägung sind deshalb die Kernelemente der systemtheoretischen Interpretation von Weltpolitik. Ausführlich diskutiert Willke dabei die Möglichkeiten globalen Rechts als Steuerungselement.40 „Aus dem flächendeckenden Scheitern rechtlicher Steuerung“41 zieht er die Schlussfolgerung, dass globales Recht seine Steuerungsleistung nur erbringen kann, wenn es „die heterogenen Eigenlogiken und operativen Autonomien
40 Vgl. Willke, Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 76–142. 41 Willke, Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 198.
Globale Konflikte und die Heterogenität des Rechts
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der zu koordinierenden Systeme und Akteure erhält.“42 Wenn das Recht diesem Anspruch gerecht werden will, muss es sich ausdifferenzieren und wird damit notwendigerweise selbst heterogen. „Ich nehme an, dass diese Ausweitung und Differenzierung des Rechts […] es unumgänglich machen, die Einheit des Rechtssystems von Einheit auf die Differenz von Einheit und Vielfalt umzustellen, also die Leitidee des Rechts nicht mehr in der Herstellung von Ordnung zu suchen, sondern in der Kompetenz, mit Unordnungen in einer geordneten Weise umzugehen.“43
Das globale Recht, beispielsweise in Form des heutigen ausdifferenzierten Völkerrechts, erweist sich schon zumindest teilweise auf dem Weg dorthin, denn es gibt bereits mehr und mehr seine Einheit auf und versucht, unterschiedliche Rechtsformen miteinander zu verbinden, beispielsweise „nicht-staatliches, informelles, reflexives, weiches, post-regulatorisches, hybrides, merkatorisches, mediatorisches, prozedurales, relationales“44 Recht. Dabei ist es für das Recht von großer Wichtigkeit, „vom Festen auf das Fließende, von der Struktur fester Anhaltspunkte auf Prozesse rekursiver Selbstreferenz, von der Hypostasierung von Ortsverhältnissen zu Hypostasierungen von Zeitverhältnissen“ umzustellen, um „die beengende Territorialität distinkter Orte aufzugeben und sich dem Fluss der Kontingenz zu überlassen, um andere Ziele zu erreichen.“45 So allein kann Willkes Ansicht nach der Einäugigkeit der zyklopenhaften Weltsysteme politisch entgegengewirkt und eine Ordnung globaler Heterogenität hergestellt werden. Eine solche von Hegel inspirierte Ordnung globaler Unordnung, eine ‚Heterotopia‘46, sollte Willkes Argumentation folgend das Ziel von Weltpolitik sein. „Heterotopia meint die idealtypische Ordnung einer Gesellschaft, die auf Globalität zielt und in einer partiell globalisierten Welt Gouvernanz auf der Basis von Föderalität und Subsidiarität zu verwirklichen sucht, sich dabei aber der erschreckenden Heterogenität globaler Kontexte stellt.“47 3. HETEROGENITÄT DES RECHTS UND DIE INTEGRATION UNTERSCHIEDLICHER FORMEN GESELLSCHAFTLICHER STEUERUNG IN DIE LÖSUNG GLOBALER KONFLIKTE Kantisch inspirierte Ansätze, wie der von Höffe, setzen stark auf die Einheit des Rechts und deshalb auf den Staat als politische Steuerungsgröße. Dies gilt auch für die Bearbeitung globaler Konflikte, wenn auf globaler Ebene staatsanaloge Institutionen wie eine Weltrepublik installiert werden sollen. Folgt man demgegenüber dem berechtigten Plädoyer Honneths, die normative Reflexion mit einer fundierten Analyse weltgesellschaftlicher Dynamiken zu verbinden, so lässt sich diese kantisch orientierte Schlussfolgerung grundlegend kritisieren. Denn eine solche Einheit des Rechts und Betonung staatsanaloger Steuerung entspricht nicht der faktischen Heterogenität globaler Akteure und Beziehungen.
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Willke (Fn. 40), S. 94. Willke (Fn. 40), S. 112. Willke (Fn. 40), S. 139. Willke, Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2001, S. 237. Vgl. Willke (Fn. 40). Willke (Fn. 40), S. 11.
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Dagegen achten von Hegel inspirierte Modelle von Weltpolitik auf die faktische Heterogenität und Dynamik globaler Prozesse inklusive der verschiedenen normativen, sozialen und rechtlichen Praktiken. Diese stehen beispielsweise im Zentrum des Global Governance-Paradigmas, in dem die Bedeutung der Vielzahl und Unterschiedlichkeit globaler Akteure und deren Steuerungspotenzial zur Bearbeitung globaler Konflikte betont wird. Global Governance-Ansätze argumentieren, dass mit rechtlichen Mitteln keine eindeutige Kontrolle gesellschaftlicher Prozesse erreicht werden kann. Die Ersetzung von ‚Government‘ durch ‚Governance‘ und die Umstellung von Macht auf Einfluss kann als eine grundlegende Kritik rationalistisch ausgerichteter Weltstaatkonzeptionen interpretiert werden.48 Stattdessen argumentiert Global Governance für den Aufbau eines lebensweltlich verankerten komplexen Regelsystems, das auf dem pluralen Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure und deren Praktiken aufbaut und sich vom traditionellen Regierungskonzept absetzt. Für eine erfolgversprechende Bearbeitung globaler Konflikte ist daher eine Einbindung der facettenreichen Traditionen des Sittlichen und deren Konfliktlösungsmechanismen unumgänglich. Dazu sind vielfältige deliberative Verfahren und Netzwerke hilfreich, die in unterschiedlichen Global Governance-Regime und Steuerungsformen ihren Ausdruck finden. „Governance ist die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse oder unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden kann […] Eine wirksame globale Entscheidungsfindung muss daher auf lokal, national und regional getroffenen Entscheidungen aufbauen und diese ihrerseits beeinflussen und muss auf die Fähigkeiten und Ressourcen unterschiedlichster Menschen und Institutionen auf vielen Ebenen zurückgreifen.“49
Auch ein heterogen gefasstes Recht langt als Steuerungsform für eine konstruktive Bearbeitung globaler Konflikte also nicht aus. In der Perspektive Hegels und Honneths sind vielmehr die vielfältigen Formen des Sittlichen anzuerkennen und in unterschiedlichen Verfahren umzusetzen. Es gilt beispielsweise die facettenreichen Formen von Sozialkapital auf globaler Ebene genauso in den Blick zu nehmen, wie die sehr aktiven und weltpolitisch immer wichtiger werdenden Akteure der globalen Zivilgesellschaft.50 Damit wird auch Interkulturalität auf einer grundlegenden Ebene innerhalb der praktischen Philosophie konzeptualisierbar, weil mit der Anerkennung der Vielfalt normativer und sozialer Praktiken auch die verschiedenen kulturellen Kontexte besser beachtet werden können als mit einer auf Einheit abzielenden Konzeption von Weltpolitik.51
48 Reder, Global Governance. Philosophische Modelle von Weltpolitik, Darmstadt 2006, S. 222– 229. 49 Vgl. Commission on Global Governance/Stiftung Entwicklung und Frieden, Nachbarn in Einer Welt, Bonn 1995, S. 4. 50 Inthorn u. a., Zivilgesellschaft auf dem Prüfstand. Argumente, Modelle. Anwendungen, Stuttgart 2005. 51 Vgl. Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, Darmstadt 2009, S. 40 ff.
Globale Konflikte und die Heterogenität des Rechts
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4. GRENZEN EINES HETEROGENEN RECHTS Zum Schluss soll noch einmal die Perspektive verändert werden, und zwar mit dem französischen Philosophen und Dekonstruktivisten Jacques Derrida. Dieser hat angesichts der politischen Veränderungen der Globalisierung ebenfalls die hegelsche Argumentationslogik aufgegriffen und sich – allerdings in einer anderen Akzentuierung – von rationalistischen Traditionen des Nachdenkens über (globale) Konfliktlösung abgesetzt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Wechselverhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird in Demokratien mittels des Rechtes realisiert.52 Das Problem dabei ist allerdings, dass die allgemeine rechtliche Regel nur bedingt den Besonderheiten des Einzelfalles gerecht werden kann. Denn jeder Fall ist anders und bedarf deshalb auch einer eigenen Deutung. Eine allgemeine Regel kann dem nur bedingt entsprechen. Deshalb ist die Herstellung von Gerechtigkeit ebenfalls begrenzt und bleibt doch gleichzeitig auf das Recht angewiesen. Ein gerechter Richter ist deshalb weder eine Auslegungsmaschine des Rechts noch kann er unentschieden bleiben. Er erweist sich als gerecht, wenn er in seinem Handeln genau diese paradoxe Spannung umzusetzen vermag. Gerechtigkeit ist also das anvisierte Ziel des Rechts, aber letztlich eine Erfahrung des Unmöglichen. In genau dieser aporetischen Erfahrung zeigt sich indirekt der positive Gehalt von Gerechtigkeit. „Aus diesem Paradoxon folgt, dass man niemals in der Gegenwart sagen kann: eine Entscheidung oder irgend jemand sind gerecht (das heißt frei und verantwortlich); und noch weniger: ‚ich bin gerecht‘.“53 Gerechtigkeit ist nicht vollkommen ‚herstellbar‘ und doch gleichzeitig wichtiger Orientierungsmaßstab für politisches Handeln. Derrida betont deshalb, dass wenn man über Gerechtigkeit spricht, immer das Wort ‚vielleicht‘ hinzufügen sollte. Gerechtigkeit kann sich nur (vielleicht) ereignen, sie kann nicht technisch geplant oder gemacht werden. Entsprechend seiner Überlegungen zur Gerechtigkeit sollte auch auf globaler Ebene dem Recht eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Gerechtigkeit zugestanden werden – allerdings immer in dem Wissen um die Begrenzungen des Rechts. Denn eine vollständig ‚gerechte Welt‘ ist auch auf globaler Ebene letztlich eine Erfahrung der Unmöglichkeit. So ist auch eine gerechte Lösung globaler Konflikte zwar das anvisiertes Ziel, aber letztlich eine ‚Erfahrung des Unmöglichen‘. Dennoch bleibt eine gerechte Konfliktlösung immer auch auf das Recht verwiesen. Dieser aporetische Charakter hinsichtlich globaler Konfliktlösung ist innerhalb der Rechtsphilosophie immer mit zu bedenken. In der Semantik der politischen Philosophie konzeptualisiert Derrida diese Einsicht mit dem Begriff der ‚kommenden Demokratie‘. „Mit kommender Demokratie ist ein Bild, eine Vision gemeint, die vom Volk jeden Tag verändert bzw. erneuert wird. Sie ist nicht existent, gleichzeitig aber etwas auf das hingearbeitet werden soll und muss. Es besteht eine gewisse Dringlichkeit, denn die Arbeit an der kommenden Demokratie kann nicht aufgeschoben oder verschoben werden. Weil sie nicht wartet und gleichwohl auf sich warten lässt. Sie erwartet nichts, verliert aber alles, wenn sie wartet.“54
52 Vgl. Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt a. M., 1991. 53 AaO,S. 48. 54 Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a. M. 2005, S. 150 f.
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Eine kosmopolitische Demokratie als Kommende sucht jenseits nationalstaatlicher Strukturen nach neuen Wegen von Toleranz und unbedingter Gastfreundschaft.55 Kosmopolitische Demokratie wird dabei immer kontingent, im Kommen und in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben – genau darin liegt ihre Stärke. Das Kommen nennt Derrida deshalb auch ein Versprechen, weil Demokratie nie vollständig existieren wird und sich doch täglich neu verspricht. Sie ist kommend, nicht ankommend im Sinn, dass sie morgen da wäre. Gleichzeitig wehrt sich Derrida dagegen, sie als eine regulative Idee im kantischen Sinne zu deuten, denn sie ist auch nicht ins Unendliche oder Unmögliche aufgeschoben. Sie ist vielmehr die stets schon stattfindende kämpferische und schrankenlose politische Kritik bestehender Verhältnisse. Das Denken unbedingter Gastfreundschaft, die Ausweitung des Demokratischen über den Staat hinaus und die Suche nach globaler Gerechtigkeit im Sinne einer unendlichen Gerechtigkeit – all das sind konkrete Formen der kommenden Demokratie. Die kommende kosmopolitische Demokratie ist damit auch schon im Hier und Jetzt, aber nur als geduldiges ‚vielleicht‘. Auch das Recht zur Bearbeitung globaler Konflikte ist also mit Derrida gesprochen stets ‚im Kommen‘. Diese Begrenzung des Rechts ist immer mit zu bedenken. Auch mit dem Mittel des Rechts kann keine ideal gerechte Welt hergestellt werden, weil Recht auf globaler Ebene immer kontingent ist. Deshalb ist eine Prozeduralisierung und ständige (Selbst-)Kritik der Möglichkeiten und Grenzen des Rechts notwendig. Dabei ist es wichtig, die Sphäre der Sittlichkeit mit ihren vielfältigen kulturellen Traditionen bzw. sozialen, normativen und rechtlichen Praktiken zu beachten. Diese gehen (verstanden als lebensweltlich verankerte Anerkennungshandlungen) dem Recht als Lösungsmöglichkeit von globalen Konflikten voraus. Rationalistische Theorien des Rechts missachten die Bedeutung, welche diesen grundlegenden und facettenreichen Formen wechselseitiger Anerkennungspraxis bei der Bearbeitung globaler Konflikte zukommen. Deshalb würde dem Nachdenken über globale Konflikte, ein bisschen mehr Hegel und ein bisschen weniger Kant sicherlich gut tun. Anschrift des Autors Dr. Michael Reder Institut für Gesellschaftspolitik an der Hochschule für Philosophie SJ Kaulbachstraße 31a 80539 München Tel.: 089/2386-2357 Email: [email protected] http://www.lrz-muenchen.de/~reder/michael/
55 Vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000.
CHRISTOPH BURCHARD* INTERRECHTSKULTURELLE KONFLIKTE IM VÖLKERSTRAFRECHT RECHTSSOZIOLOGISCHE UND RECHTSPRINZIPIELLE ERKENNTNISQUELLEN FÜR DIE INTERNATIONALISIERUNG DES (STRAF-)RECHTS Im Bewusstsein, dass alle Völker ... und ihre Kulturen ein gemeinsames Erbe bilden. Präambel des Rom-Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs
I. EINFÜHRUNG Die völkerstrafrechtliche Verfolgung von Genozid sowie von Kriegs- und Humanitätsverbrechen ist heute längst kein Glasperlenspiel mehr; davon zeugt schon das 1998 in Rom nach langen Verhandlungen beschlossene Statut des dann 2002 errichteten Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH). Und dennoch: Schon aufgrund seines auf die Ausnahmefälle politischer Makrokriminalität beschränkten Wirkungshorizontes1 handelt es sich beim Völkerstrafrecht rein auf seine Auswirkung bezogen um ein Orchideenfach bzw. Mikrophänomen. Dieses scheint daher auf den ersten Blick hinter auswirkungsintensiveren Makrophänomenen zurückzutreten, etwa hinter die Europäisierung und Internationalisierung des Rechts und auch des Strafrechts.2 Dass dieser Schein trügt, und dass und wie die Analyse des Völkerstrafrechts im Besonderen gleichsam rechtssoziologische und rechtsprinzipielle Erkenntnisse für die Internationalisierung des (Straf-)Rechts im Allgemeinen liefern kann, möchte ich mit diesem Beitrag zeigen. Dabei konzentriere ich mich auf die Analyse von interrechtskulturellen Konflikten: Bekanntlich berufen sich Kritiker der Internationalisierung des (Straf-)Rechts nicht selten auf die Kulturgebundenheit nationalen (Straf-)Rechts, auf die Erhaltungswürdigkeit nationaler (Straf-)Rechtskulturen und – auf die Spitze getrieben – auf deren inter- oder transnationale Inkommensurabilität:3 * 1
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Dr. iur.; Ass. iur.; LL.M. (NYU). Akad. Rat a.Z. und Habilitand am Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Joachim Vogel, Universität Tübingen. Dieser wird dazu noch weiter eingeschränkt, zunächst durch die enge, in der Regel erst durch ein nationales Strafverfolgungsdefizit begründete Jurisdiktion internationaler Straftribunale (vgl. hierzu Burchard, Völkerstrafrecht als global governance, Die Friedens-Warte/Journal of International Peace and Organization 2008 [83], S. 73–113) sowie überdies durch die faktisch (monetär und personell) beschränkten Strafverfolgungsmöglichkeiten dieser Tribunale. Facetten dieses Makrophänomens sind u. a. Hybridisierungsprozesse sowie so genannte „legal transplants“; zu letzteren sei begriffskritisch – insofern danke ich Jürgen Wertheimer, Professor für Komparatistik & Neuere Deutsche Literaturwissenschaft – angemerkt, dass trotz der augenscheinlichen medizinischen Anleihen das Empfängerrechtssystem nicht notwendig „krank“ sein muss, um das Transplantat zu empfangen. Rüter, Harmonie trotz Dissonanz, ZStW 105 (1993), S. 30–47, S. 39 ff. Zur Kulturgebundenheit des Strafrechts vgl. auch Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen – Verlust an nationaler Strafrechtskultur?, ZStW 105 (1993), S. 774–802, S. 786 (Strafrechtskultur als „Erhaltung der Verbindung des Strafrechts zur jeweiligen nationalen Kultur“) und bereits Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 218 Anm. („Ein Strafkodex gehört darum vornehmlich seiner Zeit
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Dieser Kritik unterliegt die rechtssoziologische These, dass die nationale Rechtsakkulturation einer Person, d. h. deren Hineinwachsen in ihre nationale rechtskulturelle Umwelt, auch deren konkrete rechtliche Entscheidungen beeinflusst;4 um das zu verifizieren, gilt es den rechtlichen Entscheidungsprozess besser und unter Berücksichtigung rechtskultureller Variablen kausal zu erklären und deutend zu verstehen. Dieser Kritik unterliegt zudem die rechtsprinzipielle These, dass ein Einklang von Recht und Rechtskultur normative5 Legitimität verbürgt; insofern gilt es den Geltungs- und Strukturbedingungen dieser These nachzuspüren, um sie zu bewerten.
Für eine Operationalisierung und Verifizierung bzw. Falsifizierung dieser Thesen drängt sich nun das Völkerstrafrecht wie kaum eine andere Rechtsmaterie auf, und zwar, weil in ihr – die Richtigkeit der o.g. Thesen vorausgesetzt – latente interrechtskulturelle Konflikte manifest werden und sich normative Legitimitätsprobleme einstellen müssten.6
4
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und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft in ihr an“). – Die nach Erstellung dieses Manuskriptes ergangene Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08) schreibt sich die Bewahrung der nationalen Strafrechtskultur auf die Fahnen (Rdnr. 253: „Die Strafrechtspflege ist, sowohl was die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch was die Vorstellungen von einem fairen, angemessenen Strafverfahren anlangt, von kulturellen, historisch gewachsenen, auch sprachlich geprägten Vorverständnissen und von den im deliberativen Prozess sich bildenden Alternativen abhängig, die die jeweilige öffentliche Meinung bewegen.“) (Rdnr. 355: „Eine Rechtsgemeinschaft gibt sich durch das Strafrecht einen in ihren Werten verankerten Verhaltenskodex, dessen Verletzung nach der geteilten Rechtsüberzeugung als so schwerwiegend und unerträglich für das Zusammenleben in der Gemeinschaft gewertet wird, dass sie Strafe erforderlich macht.“). Daraus spricht letztlich – rechtssoziologisch formuliert – ein handlungstheoretischer Zugang zu interrechtskulturellen Konflikten. Freilich verstehe ich die Handlungen eines bestimmten Stabes von Personen vorrangig als Beobachtungsgegenstand, in dem sich die verschiedensten individuellen, interpersonalen, institutionellen oder systemischen Einflüsse niederschlagen können. Dieser handlungstheoretische Zugang schottet sich folglich nicht von meso-, oder makro-, z. B. systemtheoretischen Erkenntnissen etc. ab. In diesem Sinne kann Rechtskultur ebenso auf die Motivationen und Vorverständnisse handelnder Individuen verweisen wie auch auf die strukturellen „Anschlussbedingungen“ einer mit einem „Konsistenzanspruch“ auftretenden Rechtsordnung; zu letzterem vgl. ausführlich Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, München 2008, S. 2 ff. Zur sozialen Legitimität und damit zur sozialen Rechtsakzeptanz siehe noch in Fn. 8. Im law in books, weil die Diskussion zu völkerstrafrechtlichen Grundsatz- wie auch Spezialfragen weltweit in tausenden von Beiträgen durch Personen aus allen Rechtskulturkreisen betrieben wurde, so dass eine interrechtskulturelle Konfliktentstehung zu erwarten wäre. Und im law in action, weil der rechtskulturell äußerst diverse Rechtsstab internationaler bzw. internationalisierter Straftribunale (von der Anklagebehörde über die Verteidigung und zur Richterschaft) in den letzten gut 15 Jahren hunderte von Entscheidungen gefällt hat, sich also zu interrechtskultureller Konfliktbewältigung (z. B. in der „unausweichlich“ eindeutigen Urteilsfindung und -begründung) gezwungen hätte sehen müssen. Ein einziger eindrucksvoller Nachweis für die Unterschiede des internationalen Rechtsstabs soll hier genügen. Die 19 Richter des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) stammen aus folgenden Ländern: Südkorea, Mali, Deutschland, Costa Rica, Ghana, Finnland, Lettland, Vereinigtes Königreich, Brasilien, Bulgarien, Uganda, Frankreich, Kenia, Botswana, Belgien, Italien, Argentinien, Japan, Bolivien (Stand 2.3.2010).
Interrechtskulturelle Konflikte im Völkerstrafrecht
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Bei alledem kann und will dieser Beitrag keine endgültigen, insbesondere keine empirischen Aussagen über die Signifikanz interrechtskultureller Konflikte im Völkerstrafrecht tätigen. Vielmehr soll – nachdem zunächst der Analysegegenstand (sub II.) nochmals genauer umrissen wurde – eine eigene Theorie und Terminologie der interrechtskulturellen Konfliktentstehung und -bewältigung vorsichtig angedeutet (sub III.) und sodann anhand einiger weniger völkerstrafrechtlicher Fallbeispiele in der Art eines Überblicks, der immer mit Tiefenunschärfe einhergeht, exemplifiziert werden (sub IV.). Damit soll weiteren rechtssoziologischen und rechtsprinzipiellen Untersuchungen des Völkerstrafrechts der Boden bereitet und es als echte Erkenntnisquelle für die Internationalisierung des (Straf-)Rechts hoffähig gemacht werden. II. ANALYSEGEGENSTAND: VÖLKERSTRAFRECHTLICHE KRISTALLISATIONSPUNKTE INTERRECHTSKULTURELLER KONFLIKTE UND DEREN KONFLIKTPARTEIEN Das in diesem Beitrag als Analysegegenstand vorgeschlagene Völkerstrafrecht umfasst im weitesten Sinne alle Normen des Völkerrechts, die unmittelbar individuelle strafrechtliche Verantwortung regeln, die Jurisdiktion internationaler Gerichte begründen und deren Prozessstruktur festlegen. Analytisch relativ leicht einsehbare völkerstrafrechtliche Kristallisationspunkte interrechtskultureller Konflikte betreffen den Allgemeinen Teil (AT) des IStGH-Statuts und das Völkerstrafprozessrecht: So sind die AT-Regelungen im IStGH-Statut häufig – auch aufgrund ihres politischen Kompromisscharakters – generalklauselhaft gehalten und damit höchst ausfüllungsbedürftig. Deshalb müssten sich hier weite Einfallstore für konfligierende rechtskulturelle Wertungen bzw. Idiosynkrasien auftun. Zudem gilt es auch das Völkerstrafprozessrecht in den Blick zu nehmen. Denn das Strafprozessrecht (samt seines Aufbaus, seiner Rollen und Prinzipien) ist im Allgemeinen prima facie in besonders hohem Maße kultur- und damit auch rechtskulturabhängig,7 so dass bei der Schaffung eines eigenen Völkerstrafprozessrechts akute interrechtskulturelle Konflikte zu erwarten waren und sind. Dieser weite völkerstrafrechtliche Analyserahmen wird durch eine doppelte Binnenperspektive beschränkt. So thematisiere ich lediglich – mögliche – interrechtskulturelle Binnen-Konflikte im Völkerstrafrecht bzw. in internationalen Straftribunalen. Damit sind bereits begrifflich interrechtskulturelle Außen-Konflikte mit dem Völker-
7
Vgl. Hörnle, Unterschiede zwischen Strafverfahrensordnungen und ihre kulturellen Hintergründe, ZStW 117 (2005), S. 801–838; Vogel, Transkulturelles Strafrecht, GA 2010, S. 1–14, S. 7; Damaška, The Faces of Justice and State Authority, New Haven 1986.
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strafrecht8 bzw. mit internationalen Straftribunalen9 ausgeschieden. Die interrechtskulturellen Konfliktparteien rekrutieren sich demnach aus Völkerstrafrechtswissenschaftlern einerseits und dem Rechtsstab internationaler Straftribunale andererseits. In diesem Sinne beschäftige ich mich nur mit den so genannten „internen Rechtskulturen“ (internal legal culture) der Juristengemeinde(n), während die „externen Rechtskulturen“ (external legal culture) juristischer Laien unberücksichtigt bleiben sollen.10 III. ANALYSESCHEMA: ANDEUTUNGEN EINER THEORIE UND TERMINOLOGIE DER INTERRECHTSKULTURELLEN KONFLIKTENTSTEHUNG UND -BEWÄLTIGUNG Um den jeweiligen oder wechselseitigen Einfluss der nationalen internen Rechtskulturen der beteiligten Völkerstrafrechtswissenschaftler und -praktiker im Rahmen der Ausfüllung des Allgemeinen Teils des IStGH-Statuts oder der Entwicklung des Völkerstrafprozessrechts kausal erklären und deutend verstehen zu können, bedürfte es eigentlich einer (soweit mir bekannt noch nicht abschließend postulierten) Theorie der interrechtskulturellen Konfliktentstehung und -bewältigung. Eine solche Theorie samt notwendiger terminologischer Differenzierungen sei im Folgenden zumindest vorsichtig angedeutet. Dabei gehe ich zuerst auf die einzelnen Elemente des interrechtskulturellen Konfliktbegriffs (Konflikt; Rechtskultur; Präfix Inter) (sub 1.) und sodann auf die Fallgruppe der interrechtskulturellen Kommunikationskonflikte ein (sub 2.), bevor ich zu den Modi, den Folgen und zum Zeitpunkt der interrechtskulturellen Konfliktbewältigung komme (sub 3.). 8 Diese können entstehen, weil und wenn die Epistemologie und Pönologie des vornehmlich an westlichen Vorbildern orientierten Völkerstrafrechts sozial nicht vermittelbar sind (etwa in nichtwestliche Bürgerkriegsgesellschaften, mit der Folge, dass Akzeptanzprobleme drohen). So waren beispielsweise Ermittler, die die während der indonesischen Herrschaft in Timor Leste begangenen Verbrechen untersuchten, mit einer lokalen Gerechtigkeitsvorstellung konfrontiert, die der westlichen diametral entgegenstand; so wurde dort individuelle „Schuld“ durch ein gemeinschaftliches Gefühl des Wissens (Harper, Delivering Justice in the Wake of Mass Violence, Journal of Conflict & Security Law 2005 [10], S. 149–185, S. 165: „shared sense of knowing“) determiniert und nicht in einem objektivierten Prozess der Wahrheitsfindung aufwendig ermittelt und nachgewiesen. Entsprechend schwierig war es, die überhaupt bestehende Notwendigkeit einer Beweisund Sachverhaltsermittlung zu kommunizieren. – Ferner kommen Konflikte mit dem Strafrecht in Betracht, wenn zu entscheiden ist, ob und in welchem Maße „fremdkulturelle Vorstellungen“ durch das Strafrecht aufgenommen werden können; vgl. hierzu Hilgendorf, Strafrecht und Interkulturalität, JZ 2009, S. 139–144. 9 Diese berühren etwa die Frage, ob und inwieweit ein nationaler ordre public – als Ausdruck inländischer Wertvorstellungen und fundamentaler Rechtsprinzipien – der vertikalen (bottom-up) Zusammenarbeit in Völkerstrafsachen entgegenstehen kann. Ein theoretisch plakativer Beispielsfall wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe an internationalen Straftribunalen: Dürfte die Bundesrepublik Deutschland dann Rechtshilfe leisten oder einen mit der Todesstrafe bedrohten Beschuldigten ausliefern? Vgl. hierzu allgemein Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 6 IRG, insbes. Rdnr. 11. – Zur umgekehrten Konstellation vgl. Burchard (Fn. 1), S. 103 m.w.N.: Verweigerung der Überstellung von Straftätern nach Ruanda durch das Internationale Straftribunal für Ruanda (RStGH) aufgrund von menschenrechtswidrigen lokalen Strafandrohungen, namentlich lebenslanger Isolationshaft. 10 Grundlegend Friedman, The Legal System: A Social Science Perspective, New York: 1975, S. 223. Vgl. auch Münch, Rechtskultur, NJW 1993, S. 1673–1678, S. 1674.
Interrechtskulturelle Konflikte im Völkerstrafrecht
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1. DER INTERRECHTSKULTURELLE KONFLIKT: BEGRIFFLICHE UND KONZEPTIONELLE VORÜBERLEGUNGEN Obwohl ein Grundbegriff der Sozialwissenschaft,11 hat die jüngere Rechtstheorie dem Konfliktbegriff wenig(er) Beachtung geschenkt. Das ermöglicht es, ohne allzu viel rechtstheoretischen Ballast an die ursprüngliche lateinische Wortbedeutung anzuknüpfen und Konflikt synonym mit Zusammenstoß oder Widerstreit zu verwenden (lat. con-fligere: zusammenstoßen, zusammenprallen).12 Insofern ist der Konfliktbegriff dreierlei: ^ ^ ^
Er ist rein deskriptiv zu verstehen. Er ist unabhängig von der im Vorfeld liegenden Konfliktursache, weshalb Konflikte immer zu qualifizieren sind, als militärische oder politische, als interessen-, wert- oder eben kulturbezogene Konflikte. Er ist schließlich ebenso unabhängig von der sich anschließenden Konfliktlösung, die etwa kämpferisch oder friedlich verlaufen kann.
Wesentlich schwieriger fällt es, des Begriffs der (internen) Rechtskultur habhaft zu werden. Insofern regieren – wie schon Mankowski13 darlegt – „Vorverständnisse“, die noch dazu „quer zu den klassischen juristischen Disziplinen“ liegen; interne Rechtskultur ist eine „Chiffre“ für stilistische oder astethische Eigenheiten einer Rechtsordnung, für Rollenzuweisungen und Handlungsmodalitäten sowie für auf das Recht bezogene Ideen, Haltungen, Wertschätzungen und Meinungen einer bestimmten Juristengemeinde.14 Das ist zumindest insofern schon bedeutsam, als Rechtskultur eben nicht Rechtsnatur ist, also auf etwas sozial Konstruiertes verweist und nichts wesenhaft Ontologisches ist. Dennoch, oder gerade deswegen, kann – wie Hörnle15 referiert – diese beliebig anmutende Bündelung von Einzelfaktoren den sozialwissenschaftlichen Vorwurf „schlampiger“ Theoriebildung einbringen; für den hier verfolgten Ansatz, weiteren rechtssoziologischen Studien des Völkerstrafrechts den Boden zu bereiten, soll dies freilich nur als Aufruf verstanden werden, in Zukunft tiefer zu schürfen, die einzelnen Faktoren auszudifferenzieren und ihre jeweilige Entscheidungsbedeutsamkeit zu präzisieren. Zu weit geht es hingegen, rechtsphilosophisch – wie dies Maier16 im ARSP Beiheft Nr. 35 getan hat – dem Kulturbegriff im Allgemeinen (und damit implizit auch dem der Rechtskultur im Besonderen) jedwede praktische Relevanz
11 Vgl. nur Bonacker, Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – Einleitung und Überblick, in: Bonacker, Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien: Eine Einleitung, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 9–29, S. 9. 12 Duden: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 4. Aufl., Mannheim 2006, Stichwort: Konflikt. 13 Mankowski, Rechtskultur, JZ 2009, S. 321–330, S. 321. Vgl. auch Salter, A Dialectical Despite Itself? Overcoming the Phenomenology of Legal Culture, Social & Legal Studies 1995, S. 453– 476. 14 Vogel (Fn. 7), S. 2 f.; Münch (Fn. 10), S. 1674. 15 Hörnle (Fn. 7), S. 802 m.w.N. Vgl. auch Nelken, Disclosing/Invoking Legal Culture, Social & Legal Studies 1995, S. 435–453, S. 437. 16 Maier, Naturrecht und Kulturwissenschaft, ARSP Beiheft Nr. 35: Rechtskultur – Denkkultur, S. 48–63, S. 53.
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abzusprechen, da er weder menschliches Handeln bestimmen könne noch juristische Legitimationsansprüche zur Verfügung stelle; denn damit wird rechtsphilosophisch a priori gesetzt, was rechtssoziologisch und rechtsprinzipiell erst und gerade noch zu beweisen wäre. Qualifiziert man in diesem – sicherlich kruden – Sinne Konflikte als rechtkulturelle Konflikte, so ist auch eine negative Abgrenzung hin zu anderen Konfliktursachen geleistet, insbesondere zu den im Völkerstrafrecht häufigen (rechts-)politischen und persönlichen Konflikten: ^
^
(Rechts-)politische Konflikte finden ihre unmittelbaren Ursachen in spezifischen Macht-, Ressourcen- und Interessenansprüchen der beteiligten Konfliktparteien. Dass diese Ansprüche ihrerseits wiederum mittelbar und zirkulär in die jeweilige nationale (Rechts-)Kultur zurückgekoppelt sein mögen, kann deshalb analytisch hintan stehen.17 Nur anekdotisch darf zudem von den mitunter absurden persönlichen Konflikten zwischen den Richtern internationaler Straftribunale (informierte Kreise berichten von „Kindergartenspielen“) berichtet werden, die gerade nicht entlang rechtskultureller Grenzen verlaufen.
Dass hier schließlich nicht allein die Untersuchung der rechtskulturellen, sondern die der mit dem Präfix Inter versehenen interrechtskulturellen Konflikte vorgeschlagen wird, ist eine analytisch-pragmatische Setzung, die überdies die Hypothese der Differenz der Rechtskulturen kenntlich machen und, was mir wichtig ist, zur kritischen Diskussion stellen soll: Das „Inter“ setzt die beteiligten Konfliktrechtskulturen unter das Vorzeichen der Trennung und der gegenseitigen Abgrenzung; erst das ermöglicht eine Operationalisierung rechtskultureller Konflikte, weil die jeweiligen Konfliktrechtskulturen als voneinander unabhängige Variablen fungieren. Diese Unabhängigkeit ist dabei lediglich eine – noch dazu deskriptive – Momentaufnahme im Zeitpunkt des Konflikts: ^
Das – analytisch und nicht normativ verstandene – „Inter“ trifft mit anderen Worten keine Aussage über das gute oder schlechte Verhältnis der beteiligten Konfliktrechtskulturen zueinander.18
17 Der beispielhaft in den römischen Verhandlungen von U.S.-Seite geführte Widerstand gegen eine starke Anklagebehörde des IStGH, die „propio mutu“ Ermittlungen und Verfahren einleitet, war zu einem Großteil dem realpolitischen Kalkül geschuldet, als letzte verbliebene Weltmacht niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen; das darin zum Ausdruck kommende Überlegenheits- und Unabhängigkeitsgefühl mag auch Bestandteil der U.S.-Rechtskultur sein, die dann jedoch analytisch hintan stehen darf. Vgl. zu diesem Unabhängigkeitsgefühl etwa die harsch geführte Diskussion um die Bedeutung internationaler sowie rechtsvergleichender Entwicklungen im U.S.-Verfassungsrecht: Atkins v. Virginia, 536 U.S. (2002), S. 304 ff. (insbes. Fn. 21 sowie die abweichende Meinung von Richter Scalia); Roper v. Simmons, 543 U.S. (2005), S. 551 ff. (insbes. unter V. der Mehrheitsmeinung sowie die abweichenden Voten der Richter O’Connor und Scalia). Dass der Widerstand der USA gebrochen und mit Art. 15 IStGH-Statut eine starke Anklagebehörde geschaffen wurde, kann durchaus als Ausdruck des Bemühens von politischen Klein- und Mittelmächten gedeutet werden, einer Großmacht ihre völkerrechtlichen Grenzen aufzuzeigen. 18 Aus normativer Perspektive anders Vogel (Fn. 7), S. 1 f.: Ein „Inter“ bringe zum Ausdruck, dass die Konfliktrechtskulturen sich ignorieren, verkennen, diffamieren oder sich sogar bekämpfen.
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Das „Inter“ besagt überdies auch nichts über die historische bzw. evolutionäre Trenn- und Abgrenzbarkeit der beteiligten Konfliktrechtskulturen. Soweit sich diese in ihren jeweiligen historischen Entwicklungen gegenseitig befruchtet und sich somit erst im wechselseitigen Austausch miteinander entfaltet haben, enthält das von Vogel19 vorgeschlagene Konzept der „Trans[rechts]kulturaliät“ das bessere Präfix, um die jeweilige Konfliktrechtskultur (dann freilich als abhängige Variable) historisch zu rekonstruieren. Das „Inter“ gibt schließlich dazu Anlass, die nachgerade post-modern anmutende Suche nach Differenz, insbesondere nach jener zwischen der eigenen und der fremden Rechtskultur, post-kolonial zu hinterfragen: Ob nämlich die Differenz nicht sozial konstruiert ist und nicht das konstruiert (und zumeist abgewertet) Fremde das Eigene (samt seiner Überlegenheit) konstituiert?20
Über die präskriptive Konnotation des damit umrissenen interrechtskulturellen Konfliktbegriffs ist damit noch nichts gesagt, nämlich ob die Chancen oder die Risiken interrechtskultureller Konflikte überwiegen. Insofern ist es durchaus erhellend, dass in den Sozialwissenschaften der Konfliktbegriff häufig positiv bzw. progressiv besetzt ist: Er steht für Dynamik und auch Demokratie21 und wirkt folglich den Verharrungsmomenten eines von Eliten kontrollierten Konsensstrebens entgegen. In der Rechtstheorie findet dies ein Korrelat in den Diskussionen über Rechts(kultur)pluralismus und den Wettbewerb der Rechtskulturen. Da diese Diskussionen jedoch häufig ideologisch durchformt sind, sind sie rechtsprinzipiell nur insoweit relevant, als sie ein Schlaglicht auf anzugebende Bewertungs- bzw. Optimierungsfaktoren setzen: Für Wen oder Was bestehen Chancen oder Risiken durch einen interrechtskulturellen Konflikt? Und sind sie – und ggf. unter welchen Voraussetzungen – legitim und zumutbar? Das sind die konkreten Fragen, die rechtsprinzipiell an das Völkerstrafrecht zu richten sind, und die dort konkret beantwortet werden müssen, um Rückschlüsse auf die Internationalisierung des (Straf-)Rechts zu ziehen. 2. OFFENHEIT INTERRECHTSKULTURELLER KONFLIKTENTSTEHUNG UND INTERRECHTSKULTURELLE KOMMUNIKATIONSKONFLIKTE Das Konzept des interrechtskulturellen Konflikts nimmt sprachlich vorweg, was nicht notwendig so erlebt werden muss: dass sich nämlich die Konfliktparteien ihrer widerstreitenden rechtskulturellen Dispositionen bewusst sind. Denn das setzt die Kommunikation des Widerstreits und eine Metaebene des wechselseitigen Verstehens der konfligierenden rechtskulturellen Positionen voraus. Das soll im völkerrechtlichen Kontext durch die Schaffung eines gemeinsamen Kommunikations- und Argumentationsrahmens gewährleistet werden, indem rechtsdogmatisch der Diskurs auf eine 19 Vogel (Fn. 7), S. 1 f. 20 Selbst wenn demnach im ersten und rechtssoziologisch einfacher zu vollziehenden Schritt der Einfluss interrechtskultureller Konflikte im Völkerstrafrecht verifiziert wäre, harrte – um zum Kern der rechtskulturellen Kritik an der Internationalisierung des Rechts vorzudringen – die mit dem Präfix Inter zum Ausdruck gebrachte Hypothese der Differenz der Rechtskulturen noch der Überprüfung. 21 Vgl. Bonacker (Fn. 11), a.a.O.
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einheitliche Methoden- und Rechtsquellenlehre zurück gebunden (vgl. Art. 38 IGHStatut), der faktische Zugang zum Diskurs vom Beherrschen bestimmter Sprachen (Französisch und mehr noch Englisch) abhängig gemacht und, wie teilweise im IStGHStatut, ein eigenes „Rechts-Esperanto“22 verwendet wird. Das allein kann jedoch interrechtskulturelle Miss- und Teil(miss)verständnisse nicht vollständig verhindern:23 ^
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Interrechtskulturelle Missverständnisse drohen, weil und wenn ein jeder Akteur einen jeden (zwar konzeptionell originär völkerstrafrechtlichen, aber linguistisch französischen bzw. englischen) Rechtsbegriff hermeneutisch unter dem Eindruck je eigener und divergenter rechtskultureller Vorverständnisse ausspricht und auslegt. Der U.S.-Amerikaner, der mit einem Deutschen über den vökerstrafrechtlichen „dol éventuel“ spricht, kann etwas anderes im Sinne haben (z. B. „recklessness“ samt der entsprechenden rechtskulturellen Wertungen) als ankommt (z. B. „Eventualvorsatz“ oder latinisiert „dolus eventualis“). Zu interrechtskulturellen Teil(miss)verständnissen kommt es, wenn nur ein Ausschnitt an rechtskulturellen Faktoren kommuniziert bzw. empfangen wird, etwa nur die dogmatischen Wertungen nicht aber deren rechtspraktische Handhabungen.
Das sei noch sogleich anhand der völkerstrafrechtlichen Diskussion über die subjektive Tatseite exemplifiziert (sub IV.2.). Analytisch ist demnach entlang der Offenheit der interrechtskulturellen Konfliktentstehung zu differenzieren. Insofern sind interrechtskulturelle Kommunikationskonflikte24, d. h. wechselseitiges Miss-, und Halbverstehen als Fallgruppen verdeckter interrechtskultureller Konflikte anzuerkennen und davon sachliche interrechtskulturelle Konflikte abzugrenzen. 3. INTERRECHTSKULTURELLE KONFLIKTBEWÄLTIGUNG Die Modi der interrechtskulturellen Konfliktbewältigung25 lassen sich entlang der folgenden drei – jeweils ein partizipatives Prozess- und ein konsequentialistisches Ergebnis22 So spricht etwa Art. 31 von „grounds for excluding criminal responsibility“ (was u. a., nach deutscher Doktrin, die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen, die Notwehr und den Notstand umgreift). Das wird in Satzgers Studienlehrbuch (Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl., Baden-Baden 2009, § 14 Rdnr. 29 ff.) ganz zu Recht mit „Straffreistellungsgründe“ übersetzt, also mit einer Kategorie, die der deutschen Straftatlehre als solche nicht bekannt ist. Dass demgegenüber Zahar/Sluiter (International Criminal Law, Oxford 2008, S. 60 ff.) in ihrem kritisch angelegten Lehrbuch am tradierten angloamerikanischen Begriff der „defences“ festhalten, spricht Bände, und führt plakativ die Schwierigkeiten vor Augen, die eine rechtssoziologische und rechtsprinzipielle Analyse einer multilingualen Rechtsentwicklung und -diskussion zu bewältigen hat. 23 Um nicht noch mehr Unsicherheiten zu stiften, werden englische Textpassagen im Folgenden nicht übersetzt. 24 Vgl. Gessner/Schade, Conflicts of Culture in Cross-border Legal Relations: The Conception of a Research Topic in the Sociology of Law, Theory, Culture & Society 1990 (7), S. 253–277, S. 258. 25 Ein weitergehendes Forschungsprojekt könnte dabei die Wahl des entsprechenden Modus der interrechtskulturellen Konfliktbewältigung rechtssoziologisch und rechtsprinzipiell begutachten, wobei insofern abermals kulturelle sowie rechtskulturelle Faktoren von entscheidendem Einfluss sein mögen.
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element enthaltenden – Idealtypen entwickeln, die sogleich noch anhand je eines Fallbeispiels aus der Völkerstrafrechtspraxis entfaltet werden (sub IV.1. und 3.-4.): ^
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Der Clash bzw. Kampf der Rechtskulturen führt zu Sieg und Niederlage einer Rechtskultur, wenn und weil die rechtskulturellen Positionen des Schwächeren – z. B. der Minderheit – verdrängt werden und der Stärkere – z. B. die Mehrheit – reüssieren. Der Dialog der Rechtskulturen führt zum Konsens der Rechtskulturen, wenn und weil alle rechtskulturellen Dispositionen der beteiligten Akteure gehört und ohne verdeckten oder offenen Widerspruch zur Übereinstimmung gebracht werden. Verhandlungen zwischen Rechtskulturen führen zu einem Deal oder Kompromiss der Rechtskulturen, wenn und weil Positionen durch bestimmte Akteure zunächst dargelegt und sodann entweder durch Einsicht oder durch freiwilliges gegenseitiges Nachgeben aller beteiligten Konfliktrechtskulturen ein gemeinsames Ergebnis erzielt wird.26
Gerade wenn – wie es für die Theorie und Praxis des Völkerstrafrechts charakteristisch ist – eine Vielzahl von interrechtskulturellen Konflikten über einen längeren Zeitraum ausgetragen und nach den o.g. Modi bewältigt (nämlich ausgefochten, ausdiskutiert oder ausgedealt) werden, kann in der Folge eine neue und eigenständige, nämlich eine Dritt-Rechtskultur entstehen, d. h. ein grundlegender Satz an gemeinsamen auf das Recht bezogenen Handlungsmustern, Handlungserwartungen, Einstellungen und Überzeugungen etc. der beteiligten Akteure.27 Diese Dritt-Rechtskultur kann analytisch als von ihren Mutter-Rechtskulturen emanzipiert gehandhabt werden, um sie so als unabhängige Variable eines interrechtskulturellen Konflikts zu führen.28 Sachlich wie terminologisch ist schließlich auch nach dem Zeitpunkt und insofern nach der Endgültigkeit bzw. Verzögertheit der interrechtskulturellen Konfliktbewäl26 Die Begriffstrias Clash/Dialog/Deal geht auf einen noch unveröffentlichten und im Rahmen des „Forum Junge Rechtswissenschaft an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen“ am 6.5.2009 gehaltenen Vortrag von Jürgen Wertheimer, Professor für Komparatistik & Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, zurück. – Vogel (Fn. 7), S. 12, spricht von Konflikt, Konsens und Kompromiss der Rechtskulturen. 27 Grundlegend Useem/Useem/Donoghue, Men in the Middle of the Third Culture: The Roles of American and Non-Western People in Cross-Cultural Administration, Human Organization 1962 (22), S. 169–179. Vgl. auch Gessner/Schade (Fn. 24), S. 259. – Nicht einmal im Ansatz ge- und erklärt ist, ob und wie eine solche Dritt-Rechtskultur in die ursprünglichen Konfliktrechtskulturen zurückgekoppelt ist und diese verändert. 28 Z.B. zwischen der internationalen Rechtskultur des Völkerkriminaljustizsystems auf der einen Seite und der nationalen Rechtskultur von nur „ad litem“ aufgenommen und noch nicht völkerstrafrechtlich akkulturierten Richtern auf der anderen Seite; oder zwischen der internationalen Rechtskultur der völkerstrafrechtlichen Tribunale auf der einen Seite und jener des International Gerichtshofs (IGH) auf der anderen Seite (vgl. zu letzterem etwa Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil des IGH v. 26.2.2007, Rdnr. 398 ff.). – Dass die Dritt-Rechtskultur des Völkerkriminaljustizsystems eine transkulturelle Entwicklung hatte, tut einer interkulturellen Konfliktanalyse keinen Abbruch (siehe oben III.1.) – Zur „Autopoiesis“ des einzelne völkerstrafrechtliche Tribunale überformenden Völkerkriminaljustizsystems vgl. Burchard, The International Criminal Legal Process: Towards a Realistic Model of International Criminal Law in Action, in: van den Herik/Stahn, Future Perspectives on International Criminal Justice, zur Veröffentlichung vorgesehen 2009, unter 5.
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tigung zu differenzieren. Zu einer Verzögerung der endgültigen Konfliktbewältigung kann und wird es insbesondere kommen, wenn der interrechtskulturelle Konflikt zunächst gar nicht wahrgenommen oder eben (teil-)missverstanden wird sowie wenn die unterlegene oder nachgebende Rechtskultur ihren Richtigkeitsanspruch nicht vollständig aufgegeben hat. In diesen Fällen schwelt der interrechtskulturelle Konflikt weiter, bleibt also latent vorhanden, nur um unter bestimmten und jeweils näher zu bestimmenden Umständen wieder auszubrechen und manifest zu werden.29 IV. EXEMPLIFIZIERUNG ANHAND AUSGEWÄHLTER FALLBEISPIELE Der analytische Nutzwert der im Vorstehenden vorsichtig angedeuteten theoretischen und terminologischen Differenzierungen der interrechtskulturellen Konfliktentstehung und -bewältigung soll nun schließlich in gebotener Kürze anhand ausgewählter und besonders eindrücklicher völkerstrafrechtlicher Fallbeispiele vorgeführt werden. Dabei beginne ich mit der weitgehend konsentierten Grundlage des Völkerstrafrechts, nämlich dem Prinzip individueller strafrechtlicher Verantwortung für Völkerrechtsverbrechen (sub 1.). Ich gehe dann auf die Miss- und Teilverständnisse im Rahmen der völkerstrafrechtlichen Dogmatik der subjektiven Tatseite (sub 2.) und auf den Clash der Rechtskulturen beim völkerstrafrechtlichen Nötigungsnotstand ein (sub 3.), bevor ich zu den Kompromissen des Völkerstrafprozessrechts komme (sub 4.). 1. DER KONSENS DER RECHTSKULTUREN: INDIVIDUELLE STRAFRECHTLICHE VERANTWORTLICHKEIT Ein (weitgehender) Konsens der Rechtskulturen ist, wenn überhaupt, nur für die grundlegendsten Prinzipien des Völkerstrafrechts realistisch denkbar. Ausdruck (oder „proxy“) eines entsprechenden Konsenses wäre das Fehlen grundsätzlicher Kritik. Ein Beispiel, das diese Voraussetzungen erfüllt, und damit als interrechtskulturell konsentiert gelten darf, ist das Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortung für Völkerrechts- bzw. Kernverbrechen.30 Dieses jetzt auch durch Art. 25 Abs. 1 29 Die unterschwellige interrechtskulturelle Konfliktbeladenheit kann damit sogar zum Charakteristikum einer entstehenden Drittrechtskultur aufsteigen; und wird diese drittrechtskulturelle Besonderheit von einem rechtskulturellen Außenseiter – etwa ad litem-Richtern an Internationalen Straftribunalen – nicht hinreichend verstanden, können sich interrechtskulturelle Missverständnisse einstellen und potenzieren. 30 Ob gleiches auch für andere Fundamentalprinzipien der Völkerstrafrechtsordnung gilt, darf bezweifelt werden. Die völker(straf)rechtliche Anerkennung des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ in Art. 22 IStGH-Statut (hierzu insbesondere Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., München 2008, § 7 Rdnr. 8) ist hierfür illustrativ. Zwar mag dieser Grundsatz ein völkergewohnheitsrechtliches anerkanntes „Fundamentalprinzip eines jeden nach Rechtsstaatlichkeit strebenden Kriminaljustizsystems“ (Broomhall, in: Triffterer, Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court. Observers’ Notes, Article by Article, 2. Aufl., München 2008, Art. 22 Rdnr. 1) sein. Die genaue inhaltliche Ausgestaltung dieses Grundsatzes birgt trotzdem beträchtliches interrechtskulturelles Konfliktpotential; der Konflikt ist freilich nur latent angelegt, so dass sich die Konfliktbewältigung verzögert, weil mit dem IStGH-Statut die klassischen Kernverbrechen positiviert wurden und für andere internationale Verbrechen zur Zeit kein originär völkerstraf-
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IStGH-Statut bestätigte Prinzip wird in der Literatur (häufig) nicht mehr weiter hinterfragt, da es „völkergewohnheitsrechtlich anerkannt“31 sei, ja, sich „universaler Anerkennung“32 erfreue. Die historischen Wurzeln dieser völkerstrafrechtlichen Wesensbedingung liegen freilich nur wenige Jahrzehnte und gehen auf die Errichtung des Internationalen Militärtribunals (I.M.T.) in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Der berühmteste Satz des gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher ergangenen Urteils, „[c]rimes against international law are committed by men, not by abstract entities, and only by punishing individuals who commit such crimes can the provisions of international law be enforces“33, war damals eine bewusste Abwendung vom klassischwestfälischen Völkerrecht, das die Agenten staatlicher Macht vormals noch von individueller strafrechtlicher Verfolgung freigestellt hatte.34 Die realpolitisch motivierte oder von absolutem Souveränitätspathos getragene Verteidigung der Straflosigkeit von politischen Makro- oder Systemverbrechen ist heute kaum noch in dieser Pointiertheit denkbar und zumindest nicht politisch opportun. Die Nürnberger völkerrechtskulturelle „Revolution“, der ein interrechtskultureller Clash vorausging,35 hat also die rechtskulturellen Dispositionen der beteiligten Akteure grundlegend verändert, sie homogenisiert und so den heutigen Konsens der (Völker-)Rechtskulturen determiniert; so gesehen war bei den Verhandlungen des IStGH-Statuts keine konsensuale interrechtskulturelle Konfliktbewältigung mehr vonnöten, da bereits kein (ernstzunehmender) Widerstreit verschiedener völkerrechtskultureller Positionen vorlag. Trotzdem zeichnen sich interrechtskulturelle Konflikte im Rahmen und in der Grundlegung des Prinzips individueller strafrechtlicher Verantwortung ab: Ist ein Individual-Völkerstrafrecht aufgrund seiner notwendigen Selektivität (hinsichtlich der zu untersuchenden Fälle, der zu verfolgenden Personen etc.) nur symbolisches Strafrecht? Wie verhält sich individuelle strafrechtliche Verantwortung zur kollektiven
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rechtliches Verfolgungsbedürfnis begründbar erscheint. Doch was, wenn sich letzteres änderte? Der sich insofern vage abzeichnende interrechtskulturelle Konflikt betrifft die Frage, ob das im „nullum crimen-“Grundsatz enthaltene Rückwirkungsverbot nur eine relative und abwägungsoffene Ausprägung materieller Gerechtigkeit ist (so das I.M.T.-Urteil [Fn. 33], S. 462 sowie die so genannten Nürnberg-Klauseln der Art. 15 Abs. 2 IPpbR und Art. 7 Abs. 2 EMRK) oder aber ob das Rückwirkungsverbot absolut, d. h. unter Inkaufnahme materieller Ungerechtigkeiten gelten soll (so Art. 103 Abs. 2 GG; vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 103 Rdnr. 72) (vgl. dazu auch Burchard, The Nuremberg Trial and its Impact on Germany, Journal of International Criminal Justice 2006 [4], S. 800–829, S. 806 ff., 827 ff. jeweils m.w.N.). Wie dieser Konflikt bewältigt werden könnte, und ob die deutsche Rechtskultur konsensual von ihrem internationalen „Sonderweg zum Rückwirkungsverbot“ (Kenntner, Der deutsche Sonderweg zum Rückwirkungsverbot, NJW 1997, S. 2298–2300) abzuweichen in der Lage wäre, ist hier nicht zu prophezeien. Vgl. nur Satzger (Fn. 22), § 14 Rdnr. 15. Ambos, in: Triffterer (Fn. 30), Art. 25 Rdnr. 1 („universal acceptance“). Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal (The Blue Set), Judgment, Band 22, 1948, S. 466. Vgl. Bianchi, State Responsibility and Criminal Liability of Individuals, in: Cassese, The Oxford Companion to International Criminal Justice, Oxford 2009, S. 16–26, S. 17 m.w.N. Den das I.M.T.-Urteil (Fn. 33), S. 465 selbst ausweist: „It was submitted that international law is concerned with the action of sovereign States, and provides no punishment for individuals; and further, that where the act in question is an act of state, ,those who carry it out are not personally responsible, but are protected by the doctrine of the sovereignty of the State.“
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Eingebundenheit von Makroverbrechen? Und was sind überhaupt die völkerstrafrechtlichen Strafzwecke? All diese Fragen harren einer auch nur ansatzweisen Beantwortung; individuelle völkerstrafrechtliche Verantwortung ist damit nur als Funktionsprinzip, nicht aber in seiner überaus rechtskulturell verankerten Sachlogik konsentiert. 2. INTERRECHTSKULTURELLE KOMMUNIKATIONSKONFLIKTE: DIE VÖLKERSTRAFRECHTLICHE DOGMATIK DER SUBJEKTIVEN TATSEITE36 Verlässt man die Ebene des Grundsätzlichen, so wird ein universaler Konsens der Rechtskulturen über Lösungen von Einzel- oder Spezialfragen immer unwahrscheinlicher. Eine zur Zeit vielfach diskutierte Spezialfrage betrifft die „richtige“ Auslegung des in Art. 30 Abs.1 IStGH-Statut geregelten „mental element“. Während diese „typische Kompromisslösung zwischen den Anforderungen an die innere Tatseite nach Common Law und nach den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen“37 Absicht und sicheres Wissen als subjektive Zurechnungsformen sicherlich erfasst, bereitet die Grenzziehung nach unten erhebliche Schwierigkeiten: Soll eine dem „deutschen Eventualvorsatz“ oder der „U.S. recklessness“ vergleichbare subjektive Tatseite für Völkerrechtsverbrechen ausreichen? Betrachtet man die hierzu entbrannte völkerstrafrechtliche Diskussion, so tun sich etliche interrechtskulturelle Miss- oder Teilverständnisse auf, die die notwendige rechtsprinzipielle Debatte erschweren: Eine wichtige Facette der problembewussten38 dogmatischen Diskussion bilden dabei die Versuche, den Fallstricken einer national verwurzelten Hermeneutik internationaler Konzepte zu entgehen und eine eigene bzw. originär völkerstrafrechtliche Begriffswelt zu schaffen: ^
Als Beispiel aus dem Schrifttum versinnbildlichen Werles39 Ausführungen die Zerrissenheit, zwar nationale Vorverständnisse vermeiden zu wollen, dies aber mit den beschränkten Mitteln der Sprache nicht leisten zu können: Denn Werle stellt zunächst – das rechtsdogmatische Kernproblem freilegend – „[a]us der Perspektive nationaler Strafrechtsordnungen [...] die Frage, ob dolus eventualis und recklessness als Formen subjektiver Zurechnung“ genügen können, nur um dann – das sprachliche Kernproblem offen legend – nachzuschieben, es „empfiehlt [...] sich nicht, in der völkerstrafrechtlichen Diskussion mit den Kategorien dolus eventualis und recklessness zu operieren.“
36 Mein Dank gilt Boris Burghardt, der mich auf dieses Beispiel hingewiesen hat. 37 Satzger (Fn. 22), § 14 Rdnr. 22. 38 Von keinem Problembewusstsein zeugt die aus dem anglo-amerikanischen Schrifttum sprechende (Un-)Sitte, die Diskussion des völkerstrafrechtlichen „mental element“ mit der der angloamerikanischen „mens rea“ wie selbstverständlich in eins zu setzen. Vgl. etwa Badar, The Mental Element in the Rome Statute of the International Criminal Court, Criminal Law Forum 2008 (19), S. 473–518. Dies mag Ausdruck dessen sein, dass sich im Völkerstrafrecht das Englische als „Leit(rechtskultur)sprache“ durchgesetzt hat. Umgekehrt mag die von mir geübte Kritik als „Nachkarten“ eines sprachrechtskulturell Unterlegenen gedeutet werden. 39 Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl., Tübingen 2007, Rdnr. 394 mit Fn. 159.
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Auch die Auslegung von Art. 30 IStGH durch die IStGH-Vorverfahrenskammer I im Lubanga-Verfahren40 – eine „berichtigende Auslegung“41, die bei aller begrifflichen Vorsicht auch den Eventualvorsatz völkerstrafrechtlich genügen lässt – liest sich wie der Versuch, hermeneutische Zirkel zu durchbrechen: So werden völkerstrafrechtlich irrelevante Kathederfälle gebildet, die wohl nicht nur Ausschmückungen sein, sondern Inhalte klar(er) machen sollen.42 Zumindest die englische Übersetzung des französischen Originals operiert außerdem in extenso mit dem lateinischen „concept of dolus“43, was sicherlich nicht (nur) Belesenheit zeigen, sondern ein tertium erreichen soll.
Die Lubanga-Entscheidung wird trotzdem weniger Klarheit stiften als sie interrechtskulturelle Konflikte und Missverständnisse schüren wird: So sind bereits die gebildeten Kathederfälle weder glücklich gewählt noch erhellend. Sie verlagern nur die interrechtskulturellen Konfliktherde weg vom statuarischen und hin zum „case law“: Wenn etwa für jene dogmatische Fallgruppe, in der das Erfolgsherbeiführungsrisiko gering sein soll und der Beschuldigte deshalb die Erfolgsherbeiführung eindeutig und ausdrücklich akzeptiert haben müsse, der praktische Fall angegeben wird, dass „the killing is committed with ‚manifest indifference to the value of human life‘“44, so wird ein psychologisches (Billigungs-)Moment mit einem moralischen (Gleichgültigkeits-)Moment durchsetzt.45 Das ist rechtskulturell kaum universal vermittelbar. Auch die in Lubanga angetretene Flucht in das latinisierte tertium des dolus schafft mehr interrechtskulturelle Kommunikationsprobleme als sie löst. So hat schon Weigend46 ganz zu Recht kritisiert, dass lateinischen Begriffen wie „dolus eventualis“ in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Rechtssystemen je verschiedene Bedeutungen zugewiesen wurden, so dass ein jeder ein eigenes Verständnis des vermeintlich gleichen Begriffs hat. Dazu drei Beispiele: ^ ^
So setzt – als Beispiel aus dem völkerstrafrechtlichen Schrifttum – Cassese in der ersten Auflage seines Völkerstrafrechtslehrbuchs „dolus eventualis“ und „recklessness“ gleich.47 In Stakitþ liest man – als Beispiel aus der Tribunalpraxis – eine Gleichsetzung von „dolus eventualis“ und „advertent recklessness“, wobei sich das letztgenannte und anglo-amerikanisch klingende Konzept in keinem (!) Urteil eines U.S.Bundes- oder Staatengerichts findet.48
40 The Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, ICC-01/04-01/06, Pre-Trial Chamber I, Decision on the confirmation of charges, 29.1.2007, Ziff. 349 ff. 41 So Werle (Fn. 39), Rdnr. 401. 42 Vgl. Lubanga (Fn. 40), Ziff. 352 in Fn. 437. 43 Lubanga (Fn. 40), Ziff. 352. 44 Lubanga (Fn. 40), Rdnr. 354 mit Fn. 436 unter Verweis auf die vom deutschen Richter Schomburg präsidierte Entscheidung des International Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien The Prosecutor v. Milomir Stakiþ, IT-97–24-T, Trial Chamber II, Urteil, 31.7.2003, Ziff. 587. 45 So schon Weigend, Intent, Mistake of Law, and Co-perpetration in the Lubanga Decision on Confirmation of Charges, Journal of International Criminal Justice 2008 (6), S. 483. 46 Weigend (Fn. 45), S. 471–487. 47 Cassese, International Criminal Law, 1. Aufl. Oxford 2003, S. 168. 48 Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (JStGH): The Prosecutor v. Milomir Stakiþ, IT-97-24-A, Appeals Chamber, Urteil, 22.3.2006, Ziff. 99 ff. –
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Die deutsche Dogmatik und Rechtsvergleichung ordnet hingegen den „deutschen dolus eventualis“ in ein zweistufiges Vorsatz-Fahrlässigkeits-Modell ein und insofern dem Vorsatzteil zu. Davon grenzt sie ein anglo-amerikanisch-vierstufiges „purpose-knowledge-recklessness-negligence-“ Modell ab:49 „Recklessness“ ist eigenständig, weil ein Risikobewusstsein für die subjektive Zurechung ausreicht; einer voluntativen Billigung oder In-Kauf-Nahme des Erfolges, wie sie die herrschende Lehre für den Eventualvorsatz fordert, erfordert „recklessness“ nicht.
Schließlich finden sich in der Lubanga Entscheidung an zentraler Stelle rechtskulturelle Teilverständnisse, die sowohl an der rechtsprinzipiellen Aufgeklärtheit wie auch am transrechtskulturellen Kommunikationspotential der Entscheidung zweifeln lassen. So wird es das deutsche dogmatische Sendungsbewusstsein zwar sicherlich befriedigen, dass in Lubanga auf der Grundlage von deutscher Dogmatik inspirierter Völkerstrafrechtsliteratur der (völkerstrafrechtliche) „dolus eventualis“ von der (völkerstrafrechtlichen) „recklessness“ abgegrenzt wurde; 50 nur ersterer soll für die subjektive Zurechnung genügen, weil nur der dolus eventualis eine voluntative Komponente habe. Damit wird aber nur die halbe deutsche rechtskulturelle Wahrheit erzählt. Denn was Lubanga (sei es bewusst oder unbewusst) nicht darstellt, ist, dass die voluntative Billigungsformel in der Rechtsprechungspraxis die deutschen Tatgerichte „nur“ dazu verpflichtet, sich argumentativ mit der Persönlichkeit des Täters, seiner Beziehung zum Opfer, den Umständen im Vorfeld der Tat und mit der Tatausführung auseinanderzusetzen;51 gerade bei hochriskantem Verhalten genügt de facto ein objektives Risikobewusstsein. Das Voluntative des „dolus eventualis“ ist dann – um Weigend als Kronzeugen zu benennen – „annähernd Null.“52 Das rechtskulturelle Teilverständnis – oder skeptischer: die rechtskulturelle Teildarstellung – der deutschen Strafrechtsordnung in Lubanga wird die Lösung des damit aufgeworfenen eigentlichen rechtsprinzipiellen Kernproblems erschweren. Denn diese Lösung kann nicht, wie Lubanga insinuiert, dogmatisch erfolgen, sondern erfordert Antworten auf eine interrechtskulturelle „policy question“53: Wie reagieren Kriminaljustizsysteme darauf, dass ihre Untertanen/Bürger/Gefährder etc. (bewusst oder unbewusst) (hohe oder geringe, unkontrollierbare und noch überblickbare) Risiken eingehen? Mit Nachsicht, indem sie hierfür, wenn überhaupt, rechtlich geringwertigere Schuldformen vorhalten und rechtstatsächlich nur milde Strafen verhängen? Oder mit Strenge, indem sie es mit der höchsten Schuldform – etwa der absichtlichen Begehung – gleichsetzen? Oder differenzierend, indem sie bestimmte Zwischenschuldformen vorsehen? Oder aber in sich widersprüchlich, indem sie es entweder der höchsten Schuldform rechtlich gleichsetzen aber rechtstatsächlich milder bestrafen (dies mag man für Deutschland behaupten) oder aber umgekehrt nur
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Suche nach „advertent recklessness“ mit LexisNexis unter „Combined Federal & State Cases“; keine Treffer; Stichtag 13.6.2009. Vgl. etwa Vogel, LK-StGB, 12. Aufl., Berlin, Vor § 15 Rdnr. 92. Lubanga (Fn. 40), Ziff. 355 Fn. 438 unter Verweis insbesondere auf Fletcher und Eser. Vgl. Vogel (Fn. 49), § 15 Rdnr. 102 ff., insbes. 109. Weigend (Fn. 45), S. 481 („approximating zero“); der allfällige dogmatische Einwand, dass wer sich bewusst hochriskant verhalte den Erfolgseintritt eo ipso auch billige, führt die darin enthaltene Fiktion vor Augen. Weigend (Fn. 45), S. 484. Dort auch zum Folgenden.
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tatbestandlich, nicht aber in der Strafzumessung differenzieren (dies mag man mit Blick auf die U.S.-Rechtslage behaupten)? So gesehen vermitteln die Form und Formeln der völkerstrafrechtlichen Diskussion über die völkerstrafrechtliche Dogmatik der subjektiven Tatseite nicht nur ein Gefühl eines „Lost in Translation“; sie müssen überdies auch vor dem Hintergrund interrechtskultureller Kommunikationskonflikte über grundsätzliche und auf das Recht bezogene Wertungen und Haltungen gedeutet werden. Selbst wenn man sprachliche und rechtskulturell bedingte konzeptionelle Miss- oder Halbverständnisse vollständig ausräumen könnte, müsste im Anschluss ausgefochten, ausdiskutiert oder ausgedealt werden, wie und warum (etwa aus moralischen oder beweisrechtlichpragmatischen Gründen) die Völkerstrafrechtsordnung auf riskantes Verhalten für Kernrechtsgüter reagieren soll. Dazu muss hier jedoch nicht Stellung bezogen und es darf zum Clash der Rechtskulturen übergeleitet werden. 3. DER CLASH DER RECHTSKULTUREN: DIE SONDERVOTEN IM FALL ERDEMOVIý Die Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale (JStGH und RStGH) birgt einen bis dato ungehobenen Schatz an quantitativ-empirischen Forschungsmöglichkeiten: Sondervoten54 und deren Rückführbarkeit auf rechtskulturell (vermeintlich einfach) einordbare Richter.55 So gesehen ist sogar eine Vollerhebung aller Urteile realistisch, um statistisch die These nach sich in Sondervoten abbildenden rechtskulturellen Differenzen zu ermitteln; Differenzen, die nicht mit einem Konsens oder einem internen Kompromiss lösbar waren, sondern im Ergebnis zu einem nach Außen getragenen Clash der Rechtskulturen führten. Dass es sich hierbei um ein lohnendes Unterfangen handelt, soll anhand der kontroversen Entscheidung der JStGH-Berufungskammer im Fall Erdemoviþ56 illustriert werden; ob es sich freilich bei diesem qualitativen Beispiels- um den quantitativen Normalfall oder um einen Ausreißer handelt, harrt der weiteren Untersuchung: 54 Die Offenheit für Sondervoten charakterisiert die eigene (Dritt-)Rechtskultur der ad hoc Tribunale. Vgl. hierzu auch Burchard (Fn. 28), unter 4.2.: Positivrechtlich mag diese Tribunal-Rechtskultur auf Art. 23 Abs. 2 JStGH-Statut zurückgeführt werden, der die Absetzung von Sondervoten nicht einschränkt; historische Determinante war überdies der große anglo-amerikanische Einfluss in den Anfangs- und Aufbaujahren der Tribunale. Art. 74 Abs. 3, 5, Art. 83 Abs. 4 IStGHStatut will nun, auch unter dem Eindruck des wachsenden Einflusses kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens, eine ausgeprägte Sondervoten-Kultur am IStGH verhindern. 55 Damit folge ich hier, pragmatisch, einem methodischen Individualismus. Eine der vielen Schwierigkeiten der damit implizierten These – dass nämlich Herkunft ein Schlüssel für die rechtskulturelle Einordnung einer Person ist – liegt beispielsweise darin, dass die Gemeinsamkeiten der internationalen Richterschaft (internationale Ausbildung und internationaler beruflicher Werdegang etc.) deren rechtskulturelle Differenzen überspielen mögen. Vgl. etwa Terris/Romano/Swigart, The International Judge, Oxford 2007, S. 15 ff., 223 ff. („invisible college of international jurists“). Dazu auch Burchard (Fn. 28), unter 3.2. sowie 4.2. zu weiteren (ggf. auch statistisch) zu berücksichtigenden Gesichtspunkten (Wichtigkeit der Entscheidung etc.). 56 The Prosecutor v. Drazen Erdemoviþ, IT-96-22-A, Berufungskammer, Urteil v. 7.10.1997. Vgl. hierzu etwa Kreß, Zur Methode der Rechtsfindung im Allgemeinen Teil des Völkerstrafrechts, ZStW 111 (1999), S. 597–623. – Ein anderer interessanter Fall wäre etwa Sylvestre Gacumbitsi v. The Prosecutor, ICTR-2001-64-A, Berufungskammer, Urteil, 7.7.2006.
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Der Angeklagte Drazen Erdemoviþ hatte gestanden, bei einer Massenerschießung von ca. 1.200 unbewaffneten Muslimen in Srebrenica im Juli 1995 mitgewirkt und dabei ca. 70 Männer eigenhändig getötet zu haben; freilich nur, weil ihm unmissverständlich gesagt worden war, dass er anderenfalls selbst exekutiert würde. Der Fall rief die Kontroverse hervor, ob der damit anzunehmende Nötigungsstand nach damals geltendem Völker(straf)recht strafausschließende Wirkung für Tötungen entfaltete. Drei der fünf Richter verneinten dies; zwei bejahten es. Die Mehrheit formierte sich aus Richterin McDonald (USA/Common-Law-Rechtskreis) und Richter Vohrah (Malaysia/Common-Law-Rechtskreis)57, die ein gemeinsames Sondervotum verfassten, sowie aus Richter Li (China)58, der eine eigene Begründung gab. Dagegen stellten sich die Richter Cassese (Italien/Kontinentaleuropäischer Rechtskreis) und Stephen (Australien/Common-Law-Rechtskreis) mit jeweils eigenen abweichenden Voten. Erdemovic´ steht insofern zum ersten – wie Kreß59 betont – für eine ernsthafte völker(straf)rechtliche Methodendiskussion: So galt es mangels einer positiven Regelung im JStGH-Statut das anwendbare Nötigungsnotstandsrecht mit Hilfe des völkerrechtlichen Methoden- und Rechtfindungskanons zu ermitteln (vgl. Art. 38 IGH-Statut), zuerst aus geltendem Völkergewohnheitsrecht oder subsidiär aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Erdemoviþ zeigt jedoch meines Erachtens zum zweiten auch die Grenzen dieses Methodenkanons auf, bestimmtes oder bestimmbares Recht aufzufinden; Erdemoviþ steht mit anderen Worten für den subjektiven richterlichen Einschlag bei der Rechts(er)findung: Obwohl nämlich alle Richter Art. 38 IGH-Statut als gemeinsamen Argumentationsrahmen akzeptierten, zogen sie gänzlich verschiedene Schlüsse hinsichtlich des konkret anwendbaren Rechts. Die Voten von McDonald/Vohrah und von Cassese weisen nun sowohl hinsichtlich des jeweils in der Methodensdiskussion zum Ausdruck gebrachten richterlichen Rollenverständnisses als auch hinsichtlich der im Ergebnis zum Ausdruck gebrachten Wertentscheidung gegen und für einen Strafausschluss frappante Korrelationen (nicht mehr und nicht weniger) mit den Heimatrechtskulturen der Richter auf; die jeweils konträren Positionen illustrieren damit einen Clash der Rechtskulturen. ^
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So zeugt das gemeinsame Sondervotum von McDonald/Vohrah von angloamerikanischer (Straf-Richter-)Rechtskultur, weil es zum einen die Richter zu aktiven Rechtsgestaltern beruft, und weil sich zum anderen in der konkreten Rechtsgestaltung die nationale rechtskulturelle Haltung und Herkunft der Richter McDonald und Vohrah widerspiegelt: Nachdem sie zunächst das Vorliegen von Völkergewohnheitsrecht vertretbar verneint hatten, verglichen sie führende Rechtsordnungen weltweit, nur um dann festzuhalten, dass „there is no consistent concrete rule which answers the question whether or not duress is a defence to the killing of innocent persons. It is not possible to reconcile the opposing positions.“60 Das gab ihnen eine eigene, nicht durch die Völkerrechtsfindungs- und -erkenntnisquellen limitierte Rechts(fest)
Dazu Erdemoviþ (Fn. 56), Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, Ziff. 60. 58 Aufgrund meiner mangelnden Kenntnis des chinesischen Rechts und der chinesischen Rechtskultur muss ich von einer rechtskulturellen Rückführung des Votums von Richter Li absehen. 59 Kreß, Part C: Erdemoviþ, in: Cassese (Fn. 34), S. 660–663. 60 Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah (Fn. 57), Ziff. 72.
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setzungsgewalt,61 was das Selbstverständnis eines common law-Richters durchaus auf den Punkt bringt. Die damit aufgetane Möglichkeit, eigene Wert- bzw. „policy“-Entscheidungen zu treffen, nutzten McDonald/Vohrah, um dem Nötigungsnotstand bei Tötungen eine strafausschließende Wirkung abzusprechen. Auch dies ist augenfällig mit dem nationalen rechtskulturellen Hintergrund von McDonald und Vohrah korreliert: Denn im Rechtskreis des common law, und hier insbesondere in den USA und Malaysia, wird – wenn auch nicht in allen Jurisdiktionen – der Nötigungsnotstand („duress“) zwar bei sonstiger, nicht aber bei Tötungskriminalität als „defense“ zugelassen;62 das Tötungsverbot soll absolut gelten. Auch das Gegenvotum von Cassese, der für einen Strafausschluss plädierte, ist methodisch wie inhaltlich eng mit kontinentaleuropäischem Rechtsdenken korreliert: ^
Methodisch attackierte Cassese zunächst den „policy“-Ansatz seiner Kollegen McDonald und Vohrah fundamental; Cassese wies dem Richter und sich damit selbst, zumindest dem geschriebenen Worte nach, nur eine – das traditionelle kontinentaleuropäische Richterverständnis eher auf den Punkt bringende – rechtserkennende Rolle zu.63 Es darf dann nicht weiter überraschen, dass Cassese in der Folge sein Ergebnis als völkergewohnheitsrechtlich vorgegeben darstellte, methodisch also „sein“ Ergebnis als Völkergewohnheitsrecht ausgab.64
61 Zu deren Verteidigung referierten sie – in dankenswerter, man möchte sagen: anglo-amerikanisch rechtskultureller Offenheit – die IGH-Richterin Higgins: „Reference to the correct legal view or rules can never avoid the element of choice (though it can seek to disguise it), nor can it provide guidance to the preferable decision. In making this choice one must inevitably have consideration for the humanitarian, moral, and social purposes of the law [...]. Where there is ambiguity or uncertainty, the policy-directed choice can properly be made.“ Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah (Fn. 57), Ziff. 78 m.w.N. 62 Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah (Fn. 57), Ziff. 60, 77 m.w.N. Die Wertentscheidung von McDonald/Vohrah mag man – um kulturelle Stereotypen zu bemühen – auf englisch-aristokratische Härte gegen sich selbst oder auf puritanische Strenge zurückführen, die vermittels ins common law proliferierter englischer Leitenscheidungen zunächst die Strafrechtskulturen der USA und Malaysia und sodann die Richter McDonald und Vohrah (mit-) geprägt haben mögen. Man mag es auch auf das – aus kontinentaler Perspektive – strafrechtskulturelle „Manko“ des common law zurückführen, nicht zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen zu unterscheiden, so dass McDonald und Vohrah die feinsinnige sozialethische Missbilligung eines rechtswidrigen aber nichtsdestoweniger entschuldigten, da unzumutbaren Verhaltens (so die herrschende dogmatische Einordnung des Nötigungsnotstands in Deutschland) nicht nachvollziehen konnten oder wollten. 63 Erdemoviþ (Fn. 56), Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, Ziff. 11: „I submit that this examination is extraneous to the task of our Tribunal . This International Tribunal is called upon to apply international law, in particular our Statute and principles and rules of international humanitarian law and international criminal law. Our International Tribunal is a court of law; it is bound only by international law. It should therefore refrain from engaging in meta-legal analyses.“ 64 Erdemoviþ (Fn. 56), Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, Ziff. 44. Dem allfälligen Einwand, dass Cassese – als ausgebildeter Völkerrechtler – damit nur der völkerrechtlichen Bindung an den Staatenwillen Vorschub leisten wollte, also „methodisch ehrlich“ argumentierte, kann nicht abschließend begegnet werden. Ein Blick auf „seine“ Tadiþ-Entscheidung mag daran jedoch Zweifel wecken und eine gewisse rote Linie aufzeigen: Die in Tadiþ vollzogene „Revolu-
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Dass dieses Ergebnis die kontinentaleuropäisch vorherrschende und auch das italienische Recht prägende Einstellung reproduziert – dass nämlich der Nötigungsnotstand auch bei der Tötung von Mitmenschen anwendbar sein soll, da dem einzelnen kein zur Selbstaufopferung zwingender Heldenmut abverlangt werden könne –, gibt zur Vermutung Anlass, dass Casseses inhaltliches Ergebnis rechtskulturell geprägt war.
Dass demgegenüber der australische Richter Stephen gegen seine „common law“Kollegen stimmte, muss nachdenklich stimmen; Stephens Votum weckt insbesondere berechtigte Zweifel an der Uniformität nationaler Rechtskulturen, die vielmehr auch und gerade nach innen vielstimmig und mehrschichtig sind. So erinnert Stephen nicht nur an die Vielzahl an abweichenden Voten in jenen englischen Leitentscheidungen,65 die „duress“ bei Tötungsdelikten als „defense“ ausgeschlossen und auf die sich McDonald und Vohrah teilweise berufen hatten. Stephen kritisiert überdies diese Entscheidungen auch rechtsprinzipiell; dabei konfrontiert er das „common law“ keineswegs mit fremden Rechtsprinzipien, beschwört also keineswegs einen interrechtsprinzipiellen Konflikt herauf, sondern beruft sich auf die Eigenirrationalität des „common law“, „duress“ zwar bei sonstiger, nicht aber bei Tötungskriminalität als „defense“ zuzulassen.66 Ob diese Kritik nun durchgreift oder nicht: Sie fördert die Schwierigkeiten einer rechtskulturellen Kodierung in aller Deutlichkeit zu Tage und ist eine Warnung vor einem allzu voreiligen und allzu simplistischen (sei es methodischen oder ideologischen) Rechtskulturalimus. 4. „VERHANDLUNGEN ZWISCHEN“ UND „DEAL DER RECHTSKULTUREN“: DAS VÖLKERSTRAFPROZESSRECHT Nachdem bereits der Konsens und der Clash der Rechtskulturen im Vorstehenden exemplifiziert wurden, soll abschließend noch der im Völkerstrafprozessrecht zum Ausdruck kommende Deal der Rechtskulturen angesprochen werden. Das Völkerstrafprozessrecht steht dabei auch für die rechtsprinzipiellen Schwierigkeiten und tion“, die Unterscheidung zwischen internationalen und nationalen Konflikten einzuebnen, ist bezeichnend für Casseses meisterhaftes Spiel der völkerrechtlichen Methodik, insbesondere für das für alle Akteure überraschende „Auffinden“ von „revolutionärem“ Völkergewohnheitsrecht. Cassese selbst fasste die internen Tadiþ-Beratungen später auf einer Veranstaltung wie folgt zusammen: „So I said ‚why don’t we jettison this stupid distinction.‘ My colleagues said ‚yes we agree with what you are saying, it’s very nice, but how can you create this criminal offense? Nino if you can show that there is some custom in international law supporting your views, we will go along with it. But try to find some sort of evidence.‘ So I took six months, and set up a team. One of the best members of our team was an American girl, Betsy Anderson, who is now working somewhere in New York. And she helped me going through state practice and we came up with a lot of evidence, well some evidence. [laughter] I was delighted when I discovered cases where the Americans had complained because of what Saddam Hussein did against the Kurds in Northern Iraq and the use of chemical weapons.“; nachzulesen bei Wessel, Judicial Policy-Making at the International Criminal Court, Columbia Journal of Transnational Law 2006 (44), S. 377–452, S. 393 f. 65 Erdemoviþ (Fn. 56), Separate and Dissenting Opinion of Judge Stephen (Fn. 57), Ziff. 40–47. 66 Erdemoviþ (Fn. 56), Separate and Dissenting Opinion of Judge Stephen (Fn. 57), Ziff. 64. Vgl. zur Rechtssystemimmanenz der Kritik Stephens bereits Kreß (Fn. 56), S. 611 f.
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Gefahren eines solchen interrechtskulturellen Deals; deren Untersuchung erlaubt es deshalb, allgemeine Lehren für die Optimierung von interrechtskulturellen Hybridisierungsprozessen zu ziehen. Das Völkerstrafprozessrecht bzw. genauer: das Recht der Hauptverhandlung wird herkömmlich als Hybridrecht bezeichnet; dieses wird heute durch ein Spannungsverhältnis zwischen dem adversarialen Strafverfahrensverständnis des „common law“ und dem (reformiert-)inquisitorischen67 Strafverfahrensmodell Kontinentaleuropas geprägt.68 Vollzieht man die Entstehung des jetzigen Völkerstrafprozessrechts rudimentär chronologisch nach, so wurde zu Beginn – bei der Schaffung der ad hoc Tribunale Anfang der 1990er – eine bis heute in wesentlichen Punkten beibehaltene adversariale und parteigetriebene Leitstruktur und auch Leitrechtskultur geschaffen:69 Nach
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Gerade von Verteidigern wird überdies in persönlichen Gesprächen nicht selten auch der Vorwurf einer durch die Hybridisierung bedingten Erosion von Verteidigungsrechten erhoben (vgl. allgemein Fairlie, The Marriage of Common and Continental Law at the ICTY and its Progeny, Due Process Deficit, International Criminal Law Review 2004 (4), S. 243–319). Dieses Verteidigervorbringen erfährt, auf die Vergangenheit bezogen, durch die zwischenzeitliche Suspendierung des Lubanga-Verfahrens wegen mangelnder Offenlegung potentiell exkulpierenden aber gesperrten Beweismaterials durch die Anklagebehörde eine substantielle Stütze; The Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, ICC-01704-01/06, Trial Chamber I, Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials […], 13.06.2008. Das adversariale Gebaren der Anklage im Fall Lubanga ist deshalb verstörend, weil eigentlich die adversariale (Dritt-)Rechtskultur der ad hoc Tribunale am IStGH nicht übernommen werden sollte, in der Tat Art. 54 Abs. 1 lit. a IStGH-Statut dem Ankläger aufgibt, nach kontinentaleuropäischem Vorbild sowohl be- als auch entlastende Beweise zu ermitteln. Dass dieser normativ angeordnete Mentalitätswechsel scheinbar nicht für das Rollenverständnis der IStGH-Anklagebehörde wirksam wurde, möchte ich – zumindest im Ansatz – mit dem Konzept der systemischen Pfadabhängigkeit begründen: die an den ad hoc Tribunalen binnen-institutionell ausgeprägte adversariale Mentalität griff inter-institutionell auf den IStGH über. Die Suspendierung von Lubanga versinnbildlicht somit die hohen „Kosten“, die ein aktives Gegensteuern gegen ein tradiertes, durch das Phänomen der Pfadabhängigkeit verfestigtes und sich systemweit ausdehnendes Rollenverständnis auslöst. Auch macht Lubanga deutlich, dass die (Dritt-)Rechtskultur des IStGH nicht allein dem Normprogramm – d. h. der Verfahrensrechtsordnung – entnommen werden kann. Sie findet sich erst im intrikaten Zusammenspiel dieser Normen mit den Rollenverständnissen aller Prozessparteien, die wiederum häufig erst durch institutionelle Übungen entwickelt wurden, sowie mit den programmatischen Wertvorstellungen, hier namentlich der „institutionellen Mission“ bzw. der „mission civilatrice“, wie sie sich an internationalen Straftribunalen herausgebildet hat. Ob die zwischenzeitliche Suspendierung von Lubanga für die Zukunft das Signal für eine stärkere Berücksichtung von Verteidigungsinteressen ist, lässt sich noch nicht abschätzen. 68 Vgl. nur Eser, Wo die Welt zu ihrem Recht kommt, MaxPlanckForschung 3/2008, S. 15–18; Kirsch, Die Tätigkeit der beiden ad hoc-Tribunale, Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 2008, S. 66–72, S. 67 f.; Sluiter, Part B: Adersarial v. Inquisitorial Model, in: Cassese (Fn. 34), S. 230–234. Vgl. ferner Safferling, Towards an international criminal procedure, Oxford 2001, S. 2. 69 Zwar konnte auf Nürnberg und Tokio als Präzedenzfälle für eine in seiner Grundstruktur adversariale und parteigetriebene Verfahrensgestaltung verwiesen werden; diese Präzedenzfälle waren aber nicht entscheidend dafür, dass sich dieses adversariale Modell im modernen Völkerstrafrecht durchsetzte. Entscheidend scheinen mir vielmehr – erstens – die ersten Personalentscheidungen – vordringlich die Besetzung des ersten JStGH Chef-Anklägers mit dem Südafrikaner Richard Goldstone (1994) – sowie die früh- bzw. rechtzeitigen Einflüsse aus den USA, wo – zweitens und auf der Regierungsebene – ein einflussreiches Memorandum über die „Rules of Procedure and
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deren Verständnis tritt der Richter als Schiedsrichter70 auf und überwacht, dass die adversarial, d. h. gegeneinander antretenden Parteien (Anklage und Verteidigung) „fair spielen“. Freilich soll nicht eine „Jury“ über den Sachverhalt befinden, sondern der Richter selbst. Das am Anfang begründete Leitmodell sah hierzu vor, dass der Richter im Vorfeld des Hauptverfahrens nicht mit den Fakten des Falls vertraut ist und erst durch die im Prozess dargebotenen Beweise der Parteien den Fall kennen lernt. In dieser adversarialen und parteigetriebenen Leitrechtskultur finden sich freilich heute diverse „Einsprengsel“ kontinentaleuropäischer Provenienz, die teilweise Sachzwängen und teilweise den Forderungen des kontinentaleuropäischen Rechtsstabs Rechnung tragen:71 Einen echten interrechtskulturellen Kompromiss stellt es insofern dar, dass die Richter heute im Vorfeld des Verfahrens Einsicht in die staatsanwaltlich präparierte Akte nehmen und sich damit mit dem Fall vertraut machen. Hierbei handelt es sich um ein kontinentaleuropäisches Rechtstransplantat, das jedoch rechtsprinzipiell äußerst heikel ist. Denn ein zentrales Gebot an ein in sich stimmiges, auf die Wahrung von Verteidigungsrechten abzielendes und die Unschuldsvermutung erstnehmendes Strafprozessrechtsregime ist es, den unvermeidlichen kognitiven Verzerrungen bei der (materiellen oder prozessualen) Wahrheitssuche – insbesondere auch rechtskulturell – entgegenzuwirken.72 Aufgrund seines Kompromisscharakters
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Evidence“ im Justizministerium erarbeitet und dann zirkuliert wurde und wo – drittens und auf der Nichtregierungsebene – auch die „American Bar Association“ für ein im Grunde adversariales Verfahrensmodell warb. Vgl. den Diskussionsbeitrag von Van Den Wyngaert, The Influence of International Law and International Tribunals on harmonized or hybrid Systems of Criminal Procedure, Washington University Global Studies Law Review 2005 (4), S. 669–673. – Die U.S.amerikanischen Interventionen dürfen nicht vorschnell und nicht schlicht als Beleg für rechtsimperialistische Ambitionen verdammt werden; ohne die Anstrengungen der und die finanzielle Unterstützung durch die USA, wäre das Projekt einer internationalen Strafjustiz beendet gewesen, bevor es überhaupt begonnen hätte. Ob sich freilich internationale Richter wirklich emotional unbeteiligt und von der umfassenden „institutionellen Mission“ an internationalen Tribunalen unbeeindruckt zeigen können, ist fraglich. Es scheint mir vielmehr so zu sein, dass auch Richter ein Interesse und eine Sorge darum entwickeln, Verfahren gut zu Ende zu führen. Das mag den richterlichen „Großmut“ erklären, staatsanwaltliches „trial by ambush“ zuzulassen: Die Rede ist damit vom geringen Informationsgehalt der Anklageschriften, die eine umfassende Vorbereitung der Verteidigung schon deshalb nicht zulassen, weil Beweismittel nicht angegeben werden. Zweifelhaft erscheint auch die Praxis der Anklagebehörde, eben diese Anklageschrift samt des Anklagesachverhalts und dessen rechtlicher Bewertung kurz vor der und in der Hauptverhandlung abzuändern. Ob freilich das heute vorherrschende Rollenverständnis des internationalen Richters, der das Verfahren aktiv mitgestaltet, vermittelt sowie Zeugen befragen und laden darf, aus einem wirklichen interrechtskulturellen Kompromiss hervorgeht, ist nicht unzweifelhaft. Immerhin gibt es auch in den U.S.A. „bench trials“ und „managerial judging“ (vgl. Langer, The Rise of Managerial Judging in International Criminal Law, American Journal of Comparative Law 2005 [55], S. 835–909, S. 836 m.w.N.). Wesentlich ist insofern, dass der Hebel eben noch nicht vom adversarialen partei- zum inquisitorischen gerichtsgetriebenen Verfahren umgelegt wurde. Das zeigt sich schon daran, dass eine Verletzung des richterlichen Sachverhaltsaufklärungsrechts keine Verletzung einer gerichtlichen Sachverhaltsaufklärungspflicht ist und daher auch nicht mit der Aufklärungsrüge im Rechtsmittelverfahren angegriffen werden kann. Vgl. Damaška, Epistemology and legal regulation of proof, Law Probability and Risk 2003 (2), S. 117–130.
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wird das Völkerstrafprozessrechtsregime diesem Gebot jedoch nicht umfassend gerecht: Die Richter bilden sich immerhin im Vorfeld aus der Akte eine Meinung, die sie – psychologisch – rezeptiver für Informationen macht, die ihre tentativen Ausgangshypothesen bestätigen. Diese epistemologischen Verzerrungen sind dem inquisitorischen System immanent, sollen jedoch – so zumindest die Theorie – durch die Ausgewogenheit der staatsanwaltlichen Ermittlungen korrigiert und abgeschwächt werden; die Akte oder das Dossier muss eben nicht nur be-, sondern auch entlastendes Material enthalten, die Staatsanwaltschaft muss auch die Verteidigungsperspektive einnehmen. Ob diese Theorie in der Praxis von inquisitorischen Staatsanwaltschaften gelebt wird, stelle ich gar nicht zur Debatte; sie ist aber allemal keine Realität an internationalen Straftribunalen, wo die Anklage mit adversarial-parteiischem Eifer zu Werke geht. Dabei will ich gar nicht bestreiten, dass dies nicht der Überzeugung von der Schuld des Angeklagten geschuldet ist; allein, die „mission civilatrice“ manifestiert sich in einer einseitigen Akte, führt also zu einer einseitigen Beeinflussung des Richters. Um das zu verhindern, soll der „trier of facts“ im adversarialen Modell, z. B. die „Jury“, im Vorfeld gerade nicht über den Fall informiert sein, um sich erst in der Auseinandersetzung zwischen jeweils parteiischer Anklage und Verteidigung ein frisches, kognitiv unverzerrtes Bild vom Fall machen zu können. Deswegen darf zumindest theoretisch postuliert werden, dass die – vor dem Hintergrund der Verfahrensökonomie: verständliche – nachträgliche Einführung der Vorabinformation der Richterschaft unter Berücksichtigung des – nachträglich unveränderten – adversarialen Rollenverständnis der Anklagebehörde zu einer Schutzreduzierung des Beschuldigten führte. Aus all dem lässt sich folgende allgemeine Lehre ableiten: Soweit Fremdrechtselemente in eine divergente Leitrechtskultur verpflanzt werden, muss die Gesamtstruktur sowohl der Spender- wie auch der Empfängerrechtsordnung im Auge behalten werden; diese Struktur ergibt sich erst im Zusammenspiel aus Rollen, Institutionen, Normprogrammen und Wertvorstellungen etc. Eine isolierte Verpflanzung einzelner Elemente kann zu weitreichenden Verwerfungen führen, wenn nicht z. B. auch die im Spenderrecht enthaltenen rechtskulturellen „checks and balances“, die auch und gerade Rollenbilder bestimmter Akteure mit umfassen, mit überführt werden. Doch warum wurde diesem Gemeinplatz über die Gefahren eines Deals der Rechtskulturen bei der Entwicklung des Völkerstrafprozessrechts an den ad hoc Tribunalen nicht hinreichend Rechnung getragen? Eine Antwort muss lauten, und damit will ich schließen, dass bei den zu den Deals führenden Verhandlungen den Vertretern von Verteidigungsinteressen kein ausreichendes Gehör geschenkt wurde und wird. Denn gem. Art. 6 JStGH- bzw. RStGH-Verfahrens- und Beweisregeln gaben und geben sich die Richter der ad hoc Tribunale ihr eigenes Prozessrecht, und zwar auf so genannten Plenarsitzungen, an den denen nur die Richter sowie Vertreter der Anklagebehörde und der Kanzlei ein formales Mitwirkungsrecht genießen; für Verteidiger traf und trifft dies nicht zu. Deshalb ist stärker über das partizipative Verhandlungsmoment bei anstehenden Deals der Rechtskulturen nachzudenken. Denn nur wenn verschiedenste Interessenvertreter zu Worte kommen, ist gewährleistet, dass das Zusammenspiel der etlichen sich im Begriff der Rechtskultur findenden Faktoren sichtbar wird; Faktoren, deren jeweiliger Einfluss rechtssoziologisch erklärt und verstanden sowie rechtsprinzipiell bewertet werden muss.
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V. AUSBLICK Der par force-Ritt durch einige ausgewählte Fälle und akute Rechtsfragen des Völkerstrafrechts hat gezeigt, dass ein Einfluss interrechtskultureller Konflikte für die Entwicklung des Völkerstrafrechts „in books“ wie auch „in action“ häufig mehr als plausibel ist, aber ebenso häufig mehr Fragen als Antworten aufwirft. Das Völkerstrafrecht ist so gesehen ein lohnender Untersuchungsgegenstand und taugt als rechtssoziologische und rechtsprinzipielle Erkenntnisquelle für die Internationalisierung des (Straf-)Rechts. Insofern bedarf es in Zukunft jedoch einer profunden, in diesem Beitrag nur andeutbaren Theorie und Terminologie der interrechtskulturellen Konfliktentstehung und -bewältigung. Dazu gilt es die plakative, aber tiefen- wie randunscharfe Gegenüberstellung von „common“ und „civil law“ – der ich mich in diesem Beitrag natürlich auch häufig „schuldig“ gemacht habe – zugunsten einer genaueren Untersuchung des Zusammenspiels intra-, trans- und inter-rechtskultureller Einzelfaktoren aufzugeben. Dadurch werden zwar alle Versuche, Internationalisierungsprozesse rechtskulturell zu erklären, zu verstehen und zu bewerten, deutlich komplexer. Nur dadurch kann jedoch simplistischem und häufig ideologisch durchformtem Rechtskulturpathos begegnet werden, das entweder Internationalisierungsprozesse unkritisch als Chance für eine globale Rechtskultur feiert oder überkritisch als Risiko für nationales Rechtskulturgut verdammt. Anschrift des Autors Dr. Christoph Burchard, LL.M. (NYU), Akademischer Rat a.Z. Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht (Prof. Dr. Joachim Vogel) Geschwister-Scholl-Platz D-72074 Tübingen Tel: ++49 – (0)7071 – 2972693 Fax: ++49 – (0)7071 – 295067 Email: [email protected] http://www.jura.uni-tuebingen.de/burchard
II. DER UMGANG MIT KONFLIKTEN IM RECHT UND SEINER THEORIE KONFLIKTE INNERHALB DES RECHTS UND SEINER THEORIE
JULIA HÄNNI* RECHTSKONFLIKTE, WERTEFOLGEN UND INKOMMENSURABILITÄT I. EINLEITUNG 1. WERTKONFLIKTE IM RECHT Es gehört zu den Kernaufgaben des Rechts, Wertkonflikte zu lösen. Wertkonflikte ergeben sich insbesondere, wenn Entscheidungen zu treffen sind; Entscheidungen setzen regelmässig eine wertende Stellungnahme voraus. Auch Rechtskonflikte ergeben sich so immer wieder aus juristischen Problemstellungen, die Wertungsfragen betreffen. Sehr häufig liegen Konflikten im Recht Wertungskonflikte zugrunde. In juristischen Erwägungen ist z. B. zu entscheiden, wem der Vortritt gegeben werden soll, wenn sich das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit mit den Interessen anderer oder mit den Interessen der Allgemeinheit nicht verträgt, oder wenn die freie Meinungsäußerung des einen die Privatsphäre des Anderen beeinträchtigt.1 Die erforderliche Wertung im juristischen Kontext kann sowohl Ausgangspunkt als auch Hintergrund von Konflikten und gleichermaßen Orientierung zur Lösung derselben sein. So ist sie für das Recht von zentraler Bedeutung. Um die hier vorzunehmende Analyse der Wertkonflikte im Recht anzugehen, werde ich mich an der Wertethik von Max Scheler2 und Nicolai Hartmann3 orientieren. Zwei Kernaussagen ihrer materialen Wertethik sollen auf Rechtskonflikte angewendet werden. Die heranzuziehenden Kernaussagen betreffen einerseits die Fähigkeit der Menschen, Werte in einer Bezüglichkeit untereinander, in einer Rangordnung, wahrzunehmen. Wie zu zeigen sein wird, ist dieses Ordnungsprinzip auch ein Prinzip des Rechts, das allerdings in sehr vielen Fällen nicht einfach aus der Wertigkeit von Rechtsnormen abgeleitet werden kann, sondern gefunden werden muss in der Einzelfallentscheidung. In einem ersten Schritt sind daher Anhaltspunkte für Werterangfolgen herauszuarbeiten, welche das Recht selbst offenbart. Diese Rangordnungen sind Ausdruck eines Konsenses einer Wertigkeit im Recht. Eine Rechtsordnung umfasst jedoch immer auch verschiedene Bereiche, in welchen die gesetzlichen Bestimmungen für Wertungskonflikte keine abschliessenden Lösungen anbieten. In diesen Bereichen werden für die juristische Konfliktlösung
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Dr. des. iur. HSG, Oberassistentin am Europainstitut der Universitäten Bern, Neuenburg und Freiburg. Vgl. die Beispiele bei Reinhold Zippelius, Wertungskonflikte im System der Grundrechte, München/ Berlin 1962, S. 5 ff. Max Scheler (1874–1928); ich beziehe mich insbesondere auf sein Hauptwerk: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 7. Aufl. Bonn 2000. Nicolai Hartmann (1882–1950); ich beziehe mich insbesondere auf Hartmanns Hauptwerk: Ethik, 4. Aufl. Berlin 1962.
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spezifische Wertungskompetenzen des Rechtsanwenders vorausgesetzt. In einem zweiten Schritt soll daher untersucht werden, in welcher Weise sich diese Wertungen darstellen lassen und inwiefern sie Bestandteil der juristischen Konfliktlösung sein können. 2. ZUM WERTBEGRIFF a. Wert und Wertgehalt als zwei unterschiedliche Phänomene der Wahrnehmung Um sich adäquat auf die materiale Wertethik stützen zu können, sind zunächst einige zentrale Elemente des Wertbegriffs festzuhalten.4 Zur Bestimmung des Wertbegriffs werden bei Scheler axiologische Hilfsbegriffe herangezogen, insbesondere die Unterscheidung zwischen „Wert“, „Gut“ und „Ding“. Das „Ding“ wird beschrieben als natürlicher (empirischer) Gegenstand der Wahrnehmung.5 Dieser Gegenstand kann Wertqualitäten enthalten; Scheler bezeichnet den empirischen Gegenstand daher auch als Wertträger (Träger von Werten). Die Einheit des Wertträgers mit einer qualitativen Wertigkeit wird als „Gut“ bezeichnet.6 Scheler verbindet die Begriffe „Gut“ und „Wert“, um die für ihn charakteristische Erscheinungsweise von Werten darzustellen: „in den Gütern werden Werte „wirklich“. Im Gute […] ist […] der Wert objektiv […] und wirklich zugleich.“7 Zunächst ist zu dieser Begriffsbestimmung zu sagen, dass ein „Gut“ in diesem Sinne auch ein Rechtsgut ist. Es setzt sich zusammen aus einem Gegenstand der Erfahrung, der mit einer Wertqualität behaftete ist, für die wir eine Affinität besitzen. Die entsprechenden Güter sind mit rechtlichen Interessen behaftet, welche von der Rechtsordnung geschützt werden. Zu klären sein wird aber noch die Frage, inwiefern diese Wertqualitäten „objektiv“ sein können. Hierfür ist zuerst auf das Verhältnis zwischen Wertqualität und Wertträger einzugehen. Schelers Unterscheidung zwischen Wertqualität und Wertträger ist für die Darstellung des Wertbegriffs angemessen, weil sich Wahrnehmungsphänomene – dies wird in der Bewussteinsphänomenologie des von Scheler oft zitierten Franz Brentano eindrücklich dargestellt8 – nach den Erkenntnisgegenständen richten: Sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften des Trägers werden auf eine andere Art erfahren als der Wertgehalt; die Eigenschaften des Trägers können sich ändern, ohne dass sich not4
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Es ist anzumerken, dass Werte von der materialen Wertethik nicht primär durch Begriffsbestimmung, sondern phänomenologisch (als Phänomene der Wahrnehmung) untersucht werden. Näheres zum Wertbegriff und zur ideengeschichtlichen Einbettung der materialen Wertethik bei Julia Hänni, Wertobjektivismus. Die materiale Wertethik Schelers und Hartmanns in ihrer besonderen Beziehung zu Platon, Kant und Husserl, in: Sandra Hotz/Klaus Mathis (Hrsg.), Recht, Moral und Faktizität. Festschrift für Walter Ott, Zürich/St. Gallen 2008, S. 237–270. Scheler (Fn. 2), S. 42 f. Scheler beschreibt den Wert als am Träger „haftend“; gemeint ist ein Durchdrungensein des Trägers von einer bestimmten qualitativen Wertigkeit, Scheler (Fn. 2), S. 35 ff., 104; Wolfhart Henckmann, Max Scheler, in: Otfried Höffe, Becksche Reihe „Denker“, München 1998, S. 104. Scheler (Fn. 2), S. 43 f. Diese Erkenntnis geht auf die Bewusstseinsphänomenologie Brentanos und indirekt auf die Kantische Erkenntnistheorie zurück, vgl. Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 2. Aufl. Leipzig 1921.
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wendigerweise die Wertqualität ebenfalls verändern müsste.9 Dies bedeutet, dass auch bei sehr unterschiedlicher Eigenschaften des Trägers Wertqualitäten durch verschiedene Personen in einheitlicher Weise wahrgenommen werden können; die Wertqualität des Schönen findet die eine Person in einem Kunstwerk, eine andere in einer Landschaft.
b. Zweifacher Ansatzpunkt der axiologischen Begriffsbildung Das oben dargestellte Einheitsphänomen der Wahrnehmung impliziert denn auch den zweifachen Ansatzpunkt einer begrifflichen Annäherung an das Phänomen des Wertes: „Wert“ im Sinne der materialen Wertethiker ist grundsätzlich ein Gehalt, eine Eigenschaft am „Ding“, die zunächst erkenntnistheoretisch definiert wird: Als eine Qualität, durch welche „der Gegenstand unser Wertgefühl anspricht“10. Werte sind daher für Scheler „unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung“.11 Diese fühlende Anschauung, das ursprüngliche Wertgefühl, ist ein Bewusstsein, das Werte als materiale Qualitäten intendiert; es ist ein Billigen, Bejahen, Vorziehen oder Ablehnen, das sich auf Wertqualitäten als intentionale (zu intendierende) Gegenstände bezieht.12 Insofern impliziert ein subjektives Element der Wahrnehmung – die fühlende Anschauung – einen intendierten Gegenstand als etwas Objektives, als eine allgemeine (Wert-)Qualität.13 Aus der Sicht der materialen Wertethiker werden Wertqualitäten in diesem Sinne gegenständlich – „objektiv“– wahrgenommen. Insofern vereint der Wertbegriff auf sich im oben dargelegten Sinne objektive und subjektive Elemente.14 In dieser Struktur sind Konflikte angelegt, zwischen Qualität und Intention oder auch zwischen Qualität und Verwirklichung. Die materiale Wertethik versucht, diese Konflikte darzustellen.15 Die Konfliktsituation zwischen Wertintention und Werteverwirklichung entspricht einem Wahrnehmungsphänomen, das seinerseits Differenzierung ist und zur juristischen Einzelfallentscheidung – wie darzustellen sein wird – regelmäßig (mit) herangezogen wird.
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Henckmann (Fn. 6), S. 104. Johannes Hessen, Lehrbuch der Philosophie, II. Bd., Wertlehre, München 1948, S. 25. Scheler (Fn. 2), S. 278. Eine solche Definition des Wertbegriffs findet sich auch in den gegenwärtigen Werttheorien bzw. in den gegenwärtigen Diskussion um die Emotionalität; vgl. etwa Kevin Mulligan, From Appropriate Emotions to Values, in: The Monist 81 (1998) I, S. 161–188; Martha C. Nussbaum, The Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2005. 13 Daraus ergibt sich die Implikation einer materialen Wertbetrachtung: Erst wenn Werte Gegebenheiten sind, sind sie aus Sicht der materialen Wertethik etwas prinzipiell Realisierbares; Hartmann (Fn. 3), S. 118 f. 14 Für die Begriffsdefinition des Wertes in der materialen Wertethik ist erstaunlicherweise gerade von einem subjektiven Begriff auszugehen, und zwar von der fühlenden Anschauung, die den gegenständlichen, „objektiven“ Wertgehalt indiziert. 15 Folke Werner, Vom Wert der Werte, Münster 2002, S. 131.
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II. RANGORDNUNG DER WERTE 1. VERSUCH DES AUFZEIGENS VON PRÄFERENZKRITERIEN Scheler und Hartmann skizzieren Rangordnungen von Werten. Diese sollen ein Versuch sein, unsere Präferenz für gewisse Werte nachzuvollziehen und sie darzustellen. Sie sind daher – dies ist zentral – nicht als eine normative Forderung zu z. B. an eine Rechtsordnung zu verstehen; vielmehr sollen Regelmäßigkeiten unseres Wertverhaltens nachvollzogen werden.16 In einer ersten Anmerkung führt Hartmann aus, dass eine Rangordnung der Werte auf elementaren Werten des personalen Lebens und den Güterwerten basiert, also auf Werten wie Nahrung und Kleidung. Erst auf der Grundlage dieser „fundierenden“ Werte können höhere geistige Werte und ästhetische Werte verwirklicht werden.17 Als Unterscheidungskriterien der Werterangfolge nennt Hartmann zwei Faktoren: Dies sind Werthöhe und Wertstärke. Das Kriterium der Werthöhe bezieht sich auf die ethische Bedeutung des Wertes. Demgegenüber zeigt die Wertstärke, wie stark die Verwirklichungstendenz eines Wertes ist. Werthöhe und Wertstärke stehen sich im umgekehrten Verhältnis gegenüber, sodass der höhere Wert der schwächere, der niedrigere Wert aber der stärkere ist und im Konfliktfalle dem höheren Wert vorgeht. Hartmann veranschaulicht das umgekehrte Verhältnis von Werthöhe und Wertstärke an einem Beispiel: Es wiegt leichter, jemanden nicht zu lieben als jemanden zu bestehlen, doch ist es moralisch wertvoller, jemanden zu lieben als jemanden nicht zu bestehlen.18 2. WERTKONFLIKTLÖSUNG AM BEISPIEL DER VERFASSUNG Es stellt sich die Frage, ob diese Unterscheidungskriterien und Konfliktregeln von Werten auch für die Rechtsordnung charakteristisch sind und wie sich eine Rangordnung der Werte und damit auch der Konfliktlösung im Recht zeigen kann. Eine gewisse Orientierung über ihre Grundwerte wird die Rechtsordnung selbst vermitteln. Eine Rechtsordnung wird zeigen, in welche Rangfolgen sie berücksichtigte Werte setzt und damit zumindest eine elementare Rangordnung ihrer Grundwerte offenbaren.19
16 Für Hartmann tragen seine in der Folge darzustellenden Präferenzkriterien den Charakter von Bruchstücken der von ihm jenseits der Erkennbarkeit vorgeschlagenen objektiven Rangordnung der Werte. Hartmann will sich „bei dem allgemeinen Dunkel, das den Systemcharakter der Werttafel verhüllt“ nur an das halten, was die erkennbaren Typen von Gesetzlichkeit zeigen, Hartmann (Fn. 3), S. 548. 17 Als hohe Werte bezeichnet Hartmann Werte wie das Gute, das Wahre und das Schöne. Niedere Werte dagegen sind elementare Bedürfnisse des Menschen wie Kleidung, Obdach oder Nahrung, Hartmann (Fn. 3), S. 287. 18 Vgl. Hartmann (Fn. 3), S. 276 ff. 19 Vgl. Hans Nef, Die Werteordnung der Schweizerischen Bundesverfassung. Eine Skizze, in: Herausgeber Festschrift für Hans Huber, Bern 1961, S. 190–205, S. 192.
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Gewisse Werterangfolgen, an die wir uns im geltenden Recht halten, können z. B. anhand der Verfassung veranschaulicht werden. Die Ordnung der Rechtswerte, wie sie der Verfassung zugrunde liegt, ergibt sich aus dem Verhältnis, in welchem sich die einzelnen Normen gegenüber stehen. Besonders aufschlussreich für eine Werterangfolge in der Verfassung ist das Verhältnis zwischen Grundsatz und Vorbehalt, z. B. in Bereich der persönlichen Freiheit und den entsprechenden Ausnahmebestimmungen.20 Der Grundsatz, also die persönliche Freiheit, kann nur gewährleistet werden, bis es zur Wertekollision mit der Ausnahmebestimmung kommt, d. h. wenn sie in Konflikt mit den von der Ausnahme geschützten Rechtswerten kommt. Sind die Voraussetzungen für die Vorbehalte gegeben, so gehen die Ausnahmewerte als übergeordnete Norm der persönlichen Freiheit vor. Die Werte der Ausnahmebestimmung erscheinen so in der konkreten Situation wichtiger als jene Werte, die von der Verfassung durch den Grundsatz geschützt werden.21 Einschränkungen der Freiheitsrechte sind namentlich durch überwiegende öffentliche Interessen möglich.22 Die öffentlichen Interessen schützen Rechtsgüter wie Leib und Leben, Gesundheit, Sicherheit und Vermögen, Ruhe vor Störung und Belästigung. Diese Güter sind auch dann zu respektieren, wenn man sich für seine Handlungen auf ein Freiheitsrecht beruft. Am Schutz dieser Güter finden die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte ihre Grenzen.23 Indem die Verfassung die Beschränkung der Freiheitsrechte anhand von polizeilichen Rechtsgütern vorsieht, räumt sie im Konfliktfall bestimmten Werten den Vorrang ein, die man als weniger hoch taxieren wird, als z. B. die persönliche Freiheit oder die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Denn im Allgemeinen werden ein bloßes Lebensrecht, die körperliche Integrität, die Gesundheit oder die Sicherung des Vermögens als elementarere Werte bezeichnen, die Würde und freie Entwicklung des Menschen, ethische und geistigen Werte jedoch als höhere. Die von Hartmann aufgezeigten Kollisionsregeln der Werthöhe und Wertstärke, die sich in einem umgekehrten Verhältnis gegenüber stehen, lassen sich also anhand von diesem Beispiel in der Rechtsordnung aufzeigen. Die Güter des öffentlichen Interesses sind fundierende Werte und insofern Grundwerte der Verfassung. Die Wirkung dieser fundierenden Rechtswerte beschränkt sich nicht auf den Bereich der Freiheitsrechte, da Rechtsgütern wie dem öffentlichen Interesse gleichermaßen der Status eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zukommt. Bei sämtlichen Handlungen haben Behörden und Verwaltung den Rechtsgrundsatz zu beachten. Dessen Wertigkeit fließt in sämtliches Handeln der Behörden ein.
20 Art. 10 Abs. 2 und Art. 36 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV). 21 Nef (Fn. 19), S. 193. 22 Erforderlich sind auch eine gesetzliche Grundlage, die Verhältnismässigkeit und die Wahrung des Kerngehaltes; Art. 36 BV. 23 Nef (Fn. 19), S. 196 f.
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3. ANTINOMIEN Allerdings können zwischen Werten, die durch Rechtsordnungen geschützt oder gefördert werden, Antinomien bestehen; die konkrete Situation kann bewirken, dass Rechtswerte in Konflikt geraten. Als Beispiel hierfür kann das Verhältnis zwischen dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Legalitätsprinzip angeführt werden. Die beiden Grundsätze werden in vielen Fällen nebeneinander bestehen, doch ist ein Konfliktfall möglich, wenn das Prinzip des Vertrauensschutzes gebietet, ein Gesetz nicht anzuwenden, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen dafür erfüllt wären.24 Werthäufungen erschweren die Entscheidung in der Rechtsfindung. Wenn die Meinungsfreiheit nur aufgrund von überwiegenden privaten oder öffentlichen Interessen eingeschränkt werden darf, so sind diese öffentlichen Interessen kein einfacher Grundwert, sondern ein Rechtsgefäß, das seinerseits schon das Ergebnis von Wertentscheidungen ist. Das öffentliche Interesse ist der gemeinsame Nenner, auf den von Fall zu Fall unterschiedliche Werte gebracht werden.25 Erst anhand der Frage, welche Interessen zu berücksichtigen sind, entsteht der reale Wertkonflikt. In der Rechtsanwendung ergibt sich regelmäßig auch die Kollision der Rechtswerte mit sich selbst; beispielsweise kollidiert der Wert der Freiheit mit sich selbst in der Kartellfrage oder die Religionsfreiheit kollidiert mit sich selbst im Kopftuchstreit. Wenn ein Wert mit sich selbst kollidiert, scheint es unmöglich, aufgrund einer formalen Anwendung der Kriterien der Wertstärke oder der Werthöhe eine Entscheidung zu treffen.26 Es können also einer oder mehrere Werte von den Rechtsanwendern gleichzeitig Verschiedenes verlangen. Werterangfolgen, zu denen sich die Verfassung bekennt, sind zwar verbindlich; mit der Beschreibung von Wertungskriterien anhand der Bundesverfassung ist jedoch noch nicht gesagt, wie sich die Juristin oder der Jurist dort orientieren soll, wo Werte kollidieren und das positive Recht selbst keine klare Rangordnung und damit keine Konfliktlösung vorsieht.27 Dieser innere Konflikt ist Bestandteil des Rechtssystems und birgt den Nachteil der Unbestimmtheit: Die Wertordnung eines Rechtssystems erlaubt zwar eine Grundorientierung und damit einige Konfliktlösungen; diese Wertigkeit ist aber niemals so ausdifferenziert, dass die erforderlichen Abwägungen und Entscheidungen aus ihr nur noch abgeleitet werden könnten. Diese Unbestimmtheit bringt aber gleichzeitig einen wichtigen Vorteil: Nämlich eine große Anpassungsfähigkeit an die konkrete Situation. 24 Vgl. Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. Zürich 2006, Rz. 629. 25 Die Werteentscheidung kompliziert sich weiter dadurch, dass auch die Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden muss, mit der die Werte voraussichtlich betroffen sein werden, z. B. bei der Interessenabwägung. Auch die Intensität, mit der Werte gefordert oder beeinträchtigt werden, spielt mit hinein; vgl. Zippelius (Fn. 1), S. 126. 26 Walter Ott, Wertgefühl und Wertobjektivismus, in: Raimund Jakob/Martin Usteri/Robert Weimar, Psyche Recht Gesellschaft, Widmungsschrift für Manfred Rehbinder, Bern/München 1995, S. 107–117; S. 113. 27 Hartmann (Fn. 3), S. 297. Wenn Werte kollidieren und das Rechtssystem keine Lösung hierfür anbietet, kann der Rechtsanwender nicht anders als von Fall zu Fall entscheiden, aaO., S. 552, 576; vgl. auch S. 295.
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Wo wir demnach eine differenziertere Rangordnung der Werte nicht erfahren können, haben wir keine andere Wahl, als eine Entscheidung zu treffen.28 Es zeigt sich ein Paradoxon: Denn was die Unfähigkeit bedeutet, das Reale direkt zu determinieren, ist selbst unendlich wertvoll: Es ist als elementarer Grundwert die Freiheit.29 Dieses Paradoxon ist typisch für juristische Wertentscheidungen und soll im Folgenden kurz analysiert werden. III. WERTEVERGLEICH UND INKOMMENSURABILITÄT 1. KONKURRIERENDE ORIENTIERUNGSSYSTEME Zu untersuchen ist somit das antinomische Verhältnis der Rechtswerte. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Antinomie selbst Orientierungsfunktionen beinhaltet. Wenn die Freiheit selbst ein Wert ist, obwohl sie die Verwirklichung anderer Rechtswerte begrenzt; erscheint auch das antinomische Verhältnis der Rechtswerte selbst als wertvoll.30 Denn das antinomische Verhältnis zwischen zwei Werten besagt nicht nur, dass diese sich für die Verwirklichung grundsätzlich ausschließen, sondern auch, dass sie im positiven Sinne aufeinander bezogen sind. Gerade durch die Antinomie verschiedener Wertkomponenten können Werte ihren Sinn für die konkreten Entscheidsituationen erlangen.31 Die für die Rechtsordnung bedeutenden Werte der Freiheit und der Sicherheit beispielsweise stehen antinomisch zueinander; ihre Bedeutung erlangen sie durch das Verhältnis ihrer Gewichtung im Einzelfall. Diese Gewichtung zu bestimmen, bedeutet aber die für die Entscheidung maßgebliche Wertung.32 In der Gesetzlichkeit der Ranghöhe und Wertstärke soll die Antinomie der Werte somit nicht aufgehoben werden.33 Der durch Hartmann dargelegte Konfliktfall antinomischer Werte weist als Merkmal eine „radikale Verschiedenheit konkurrierender Orientierungssysteme“ auf; ein Phänomen, das von der modernen Wissenschaftstheorie aufgegriffen und analysiert wird unter dem Begriff der Inkommensurabilität.34 28 29 30 31
Zippelius (Fn. 1), S. 124. Hartmann (Fn. 3), S. 300. Hartmann spricht von einem „Verhältnis der Schwebe“, aaO., S. 300. Nach Hartmann erlangt jeder einzelne Wert seinen eigenen Wertcharakter so erst durch sein axiologisches Gegengewicht in seinem Gegenwert, Hartmann (Fn. 3), S. 578. 32 Vgl. dazu Katharina Sameli, Freiheit und Sicherheit im Recht. Zum Problem der Wertantinomie im Recht auf der Grundlage der Wertlehre Nicolai Hartmanns, Zürich, 1969, S. 135 ff. Uneingeschränkte Verwirklichung einer absolut verstandenen Freiheit hat zur Folge, dass der Wert der Freiheit in einen Unwert umschlägt. Auch Sicherheit ist wertvoll, solange sie sich auf fundamentale Existenzwerte bezieht. Wie beim Freiheitswert ist ein allgemeines Kriterium von objektiver Richtigkeit, wonach für alle Fälle der Punkt des Umschlagens des Sicherheitswertes in einen Unwert festgelegt werden könnte, nicht gegeben, Sameli, S. 142 ff., S. 156. 33 Sameli (Fn. 32), S. 138. 34 Geert-Lueke Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, Stuttgart/Bad Cannstatt 1992, S. 29. Das Problem der Inkommensurabilität kann vor dem Hintergrund relativistischer (z. B. Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1990) oder objektivistischer Theo-
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2. INKOMMENSURABLE FORMEN DES VERGLEICHS Inkommensurabilität bezeichnet ein Faktum von Unvergleichbarkeit in dem Sinne, als konkret immer wieder Entscheidungssituation auftreten, bei welchen die zugrunde liegenden Wertkomponenten nicht wie Zahlen oder Vektoren addierbar, d. h. nicht mit einem Maßstab zu messen sind.35 Wenn antinomische Rechtswerte für eine juristische Entscheidung bedeutsam sind, lässt sich so die erforderliche Wertung, beispielsweise die Interessenabwägung, nur zum Teil anhand von additiven Präferenzkriterien erklären; in sehr vielen Fällen treten zusätzliche Wertabwägungserfordernisse und das Erfordernis der entsprechenden Kompetenzen hinzu: Erforderlich wird die Einbeziehung einer nicht-additiven Form des Vergleichs. Die juristische Entscheidungskompetenz erfordert tatsächlich häufig mehr als den Vergleich aller Güterwerte auf einer einheitlichen Skala. Beispielsweise besteht oftmals keine Möglichkeit, eine besonders aufwändige Hilfeleistung im Sinne eines allgemeinen Anspruches rechtlich vorzusehen, doch kann es sich im Einzelfall als unumgänglich erweisen, eine weit über der Norm liegende Unterstützung zu gewähren.36 Es ist in einer Vielzahl von Fällen angemessen, oder gerade vernünftig, nichtrationale Motivationen bei Entscheidungen miteinzubeziehen.37 Das Versagen der Kommensurabilität verschiedener Werte und Güter ist so stetig präsent und die Konfliktsituation untereinander inkommensurabler Werte ist für uns nichts Außergewöhnliches.38 Das Phänomen der Inkommensurabilität ergibt sich nicht nur bei der Kollision der angeführten antinomischen Werte im Konfliktfall, sondern auch hinsichtlich der Werthöhe: Es gibt beispielsweise für Gesellschaften zentrale Werte, die nicht durch eine Reihe weniger zentraler Werte kompensiert werden können. Jene zentralen Werte werden im Vergleich zu den zweit genannten Werten als um inkommensurabel höher empfunden.39 Eine inkommensurable Form des Vergleichs kann sich so auch in negativer Weise ergeben: Tatsächlich lehnen wir in verschiedenen Fällen den Vergleich zweier Werte ab, und gerade diese Ablehnung kann ein Verständnis der einbezogenen Werte zeigen.40 Wir denken, dass Freundschaft, Liebe, die Erhaltung der Sicherheit und der Schutz von Verwundbarem wie auch die Gleichbehandlung von Menschen in einem speziellen Sinn wertvoll sind, und dass diesen Werten ein spezieller Status
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rien (z. B. Johannes Hirschberger, Das Prinzip der Inkommensurabilität bei Nikolaus von Kues, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 11, Mainz 1975, S. 39–54) oder als Phänomen auch unabhängig der zugrunde liegenden Theorie analysiert werden. Die eine dem Wertkonflikt zugrunde liegende Wertkomponente kann nicht als Vielfaches einer anderen zugrunde liegenden Wertkomponente ausgedrückt werden, James Griffin, Incommensurability: What’s the Problem?, in: Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason, Cambridge/Massachusetts, 1997, S. 35–51; S. 35. Vgl. die Beispiele bei Steven Lukes, Comparing the Incomparable, in: Chang (Fn. 35), S. 184–195; S. 185 f. Elisabeth Anderson, Practical Reason and Incommensurable Goods, in: Chang (Fn. 35), S. 90–109; S. 107. Vgl. hierzu die Beispiele bei Griffin (Fn. 35), S. 37. Griffin (Fn. 35), S. 37. Vgl. Raz (Fn. 34), S. 345 ff.
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zukommt und nicht nur ein stärkeres Gewicht.41 Das Phänomen der Inkommensurabilität weist so darauf hin, dass es gewisse Werte gibt, die wir regelmäßig aus einer vergleichenden Bewertung ausschliessen.42 Dieses Handeln ist Ausdruck des Respekts vor einer Wertigkeit; es kann nicht als willkürlich erachtet werden.43 Insofern zeigt auch die Rechtswirklichkeit ein Phänomen der Respektierung inkommensurabler oder „objektiv“ höherer Werte im Sinne einer Differenzierungsleistung, z. B. in der vergleichenden Abwägung. Diese Werte werden als „absolute“ Werte besonders respektiert.44 Der Gehalt der dargelegten Differenzierung ist dabei nochmals besonders hervorzuheben: Die Kriterien der Rangfolge der materialen Wertethik verlangen ausdrücklich nicht die Maximierung eines Wertes; die Annahme „absoluter“ Werte ist gerade nicht gleichzusetzen mit der Verabsolutierung eines (Rechts-)Wertes.45 Das Phänomen der Antinomie der Werte und auch die Inkommensurabilität intendieren also keineswegs eine Überhöhung von Werten; die Relativität zu anderen Werten in ihrer konkreten Anwendung ist stets mitzubedenken, die von Hartmann vorgeschlagenen Rangfolgen sind stets mit der Wirkung ihrer Antinomik zu würdigen. Werden Werte in rigider Weise ins Extreme gezogen, so führte dies in eine starre Überhöhung von Werten einer Gesellschaft. Gleichermaßen werden aber Personen, die absolut keine Affinität zu solchen Werten haben, nicht als gesellschaftskonform empfunden.46 Die Darstellung der Antinomik soll so aufzeigen, dass inhärente Werte direkt Verpflichtungen und Verhaltensnormen hervorbringen können, ohne einen in der Rechtswirklichkeit verabsolutierenden Charakter zu haben. Es bleibt anzumerken, dass die Phänomene der Antinomik innerhalb einer Rangordnung von Werten beschrieben werden, d. h. nicht grundsätzlich gegen eine Rangordnung von Werten sprechen. Denn Werte als unterschiedlich wichtig einzustufen, ist uns möglich, auch wenn sie untereinander nicht additiv kompensiert werden können.47 Dargestellt werden soll nicht die Unmöglichkeit einer Bezüglichkeit von Werten untereinander, sondern vielmehr, dass kausale Rangfolgekriterien die Wertigkeit einer Rechtsordnung nicht allein erklären können. Wenn kausale Rangfolgekriterien die Wertigkeit einer Rechtsordnung nicht allein erklären können, rückt die Entscheidungs- bzw. die Wertungskompetenz des Rechtsanwenders ins Zentrum. Diese Wertungskompetenz ist nach der Darstellung der materialen Wertethik maßgeblich durch ein emotionales Wertungsvermögen mitbestimmt wird, das nun noch kurz zu thematisieren ist.
41 Lukes (Fn. 36), S. 186; Anderson (Fn. 37), S. 108. 42 Griffin (Fn. 35), S. 35. 43 Lukes (Fn. 36), S. 185. In all den Fällen etwa, bei denen für eine Person oder für einen hohen Wert eine Ersatzhandlung mit Geld angeboten wird, sind wir ablehnend berührt; Lukes (Fn. 36), S. 186. 44 Als Beispiel kann der Wert der Menschenwürde herangezogen werden. Die Aussage ist allerdings nicht zu verwechseln mit einer starren inhaltlichen Fixierung dieses Rechtsgutes; vgl. dazu sogleich unten. 45 Hartmann (Fn. 3), S. 578 f. 46 Lukes (Fn. 36), S. 190. 47 Griffin (Fn. 35), S. 37.
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IV. KOMPETENZ DES RECHTSANWENDERS 1. GEFÜHLSGELEITETES UNTERSCHEIDUNGSVERMÖGEN Um das Wertverhalten juristischer Konfliktlösungen im Sinne der materialen Wertethik nachzuvollziehen, ist kurz zurückzugreifen auf einige grundlegende Aspekte der emotionalen Wahrnehmung, auf welche die Vertreter der materialen Wertethik hinweisen. Hinsichtlich der Wertungskompetenz nimmt insbesondere Schelers Analyse der Werterfahrung in einer vertieften Auseinandersetzung Bezug auf ein zunächst überraschendes Element der kognitiven Wahrnehmung, nämlich das Gefühl. Ausgangspunkt der Untersuchung Schelers ist die Kritik an der strikten Trennung von Vernunft und Gefühl in der Geschichte der Philosophie. Alles, was nicht der Vernunft angerechnet werden kann, einer affekthaften Sinnlichkeit zuzuschreiben, ist für den menschlichen Geist nach Scheler unangemessen. Scheler verweist auf die Leitfunktion der Gefühle im täglichen Handeln. In der Wahrnehmung der Gefühle zeigt sich dem Menschen eine ursprüngliche Art von Gewissheit, ein unmittelbares Verstehen von zu Unterscheidendem.48 Denn niemand wird Liebe mit Hass, Sympathie mit Ressentiment, Ehrfurcht mit Zorn verwechseln.49 Scheler hält denn auch fest, dass dieses gefühlsgeleitete Unterscheidungsvermögen, das wir besitzen, auf Werte gerichtet ist („Intentionalität“) und attestiert ihm eine gewisse Apriorität.50 Ein Beispiel vermag zu verdeutlichen, dass die Wahrnehmung von Werten nicht nur eine empirische, sondern auch eine apriorische Seite hat: Damit man beispielsweise eine Handlung als ungerecht beurteilen kann, ist ein Vorwissen vorausgesetzt, was Ungerechtigkeit bedeutet. Dieses Vorwissen dient dann als Bezugspunkt zur Bewertung der konkreten Erfahrung.51 Gerade in jenen Fällen, da ein Rechtswert als sehr viel höher eingestuft wird als ein anderer, wirkt die emotionale Wertungskompetenz des Rechtsanwenders als eröffnendes Wertungskriterium nach der Darstellung der materialen Wertethik mit bestimmend.52 Die These der Priorität der emotionalen Erkenntnis besagt jedoch in keiner Weise, dass durch diese Erlebnis-Basis alles Erkennen subjektiver Willkür ausgesetzt wird.53 Vielmehr ist eine gewisse wertende Stellungnahme im Erfassen einer gegebenen Sachlage bereits enthalten; die Auffassung der Wirklichkeit ist immer schon durchsetzt mit eigener Wertung.54 Die Fähigkeit eines emotionalen Unterscheidungsvermögens gehört nach Scheler so bereits zum geistigen Programm des Menschen. Der ursprüngliche Zusammenhang von Wertverhalten und emotionaler Antwortreaktion ist für Scheler Grundvoraus48 Heinrich Hubmann, Naturrecht und Rechtsgefühl, AcP 153 (1954), S. 297–331; S. 320. 49 Paul Good, Max Scheler. Eine Einführung, Düsseldorf 1998, S. 21. Vgl. dazu und im Folgenden Julia Hänni, Rechtsgefühl als intuitive Kompetenz, in: Josef Esermann (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung. Beiträge zum Kongress „Wie wirkt Recht?“, Luzern 2008, Beckenried/Bern 2009, S. 160–170. 50 Scheler (Fn. 2), S. 67 ff. 51 Good (Fn. 49), S. 28. 52 Vgl. Hartmann (Fn. 3), S. 130 f. 53 Good (Fn. 49), S. 27 f. 54 Vgl. Hartmann (Fn. 3), S. 116.
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setzung sowohl für das Verstehen anderer Menschen als auch für die Verständlichkeit des eigenen Handelns bei Konfliktsituationen, und insofern Teil einer Universalgrammatik.55 2. EMOTIONALE KOMPETENZ BEI RECHTSKONFLIKTEN Auf ein gewisses emotionales Vorwissen zur Lösung von Wertungskonflikten stützt sich denn auch die Rechtsprechung ab. Hierzu ein Beispiel: Handelt eine Behörde so, dass ihre Akte außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses stehen und in krasser Weise gegen das Gerechtigkeitsgefühl verstoßen, so können die Akte nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Schweiz wegen Verletzung des Willkürverbots aufgehoben werden, dies gestützt auf Art. 9 BV.56 Die bundesgerichtliche Rechtsprechung setzt somit voraus, dass bekannt ist, was eine klare Verletzung des Gerechtigkeitsgedankens bedeutet. Um die staatliche Legitimität zu gewährleisten, muss der Rechtsanwender auf eine emotionale Vorbekanntheit zurückgreifen, damit der konkrete Rechtskonflikt gelöst werden kann. Diese Vorwertung beschränkt sich nicht auf die Subsumtion eines einzelnen Begriffes, sondern ergibt sich auch hinsichtlich des Erfassens komplexer Sachverhalte: Bei der Rechtsanwendung erfolgt oftmals ein spontanes gefühlsmäßiges Erfassen der juristisch abzuwägenden Elemente des Falles nach wertbezogenen Gesichtspunkten, es zeigt sich das in der Literatur umschriebene Phänomen des prärationalen Verständnisses für eine Entscheidlage.57 Analysiert also eine Richterin oder ein Richter einen Sachverhalt, so ist damit eine Orientierung durch die eigene Wertung, eine persönliche Stellungnahme zum Konflikt, bereits mit enthalten. Ansatzpunkte, bei denen die Wertungskompetenz des Rechtsanwenders zum Tragen kommt, ergeben sich z. B. bei der Interessenabwägung, über unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln und die Rechts- und Verfassungsgrundsätze.58 Nur schon das Konkretisieren der Rechtssätze auf einen Streitfall beinhaltet oftmals eine Wertung.59 In diesem Sinne tritt somit vor das rationale Element der argumentativen Begründung eines Entscheides eine primäre intuitivwertende Stellungnahme als oftmals mitbestimmendes Wertungskriterium bei der Konfliktlösung.60
55 Max Scheler, Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß, Halle a. S. 1913, S. 7. 56 BGr. 1P.624/2003; Urteil vom 1.4.2004. 57 Vgl. Christoph Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl. Themenvielfalt – Ergebnistrends – neue Forschungsperspektiven, Berlin 1986, S. 28. 58 Thomas Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht. Ein Beitrag zu Treu und Glauben, Methodik und Gesetzeskorrektur im öffentlichen Recht, Zürich 2005, S. 400. 59 Friedrich Venzlaff, Über die Schlüsselstellung des Rechtsgefühls bei der Gesetzesanwendung, Frankfurt a.M. 1973, S. 32, S. 62. 60 Selbstverständlich darf die Erkenntnis, dass eine Beurteilung eines Falles oftmals durch eine primäre wertende Stellungnahme mitbestimmt wird, die rational-argumentative Zugänglichmachung und die Anforderungen an die Begründung eines Urteils in keiner Weise einschränken, vgl. Venzlaff (Fn. 59), S. 59.
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Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Ansatzpunkte für eine intuitiv-wertende Stellungnahme für den Rechtsanwender immer auch eingeschränkt sind. Im geltenden Recht findet sich eine große Anzahl Bestimmungen, die Sachverhalte abschließend regeln, wie etwa technisch-konkretisierende Verordnungen, um ein klares Beispiel zu nennen. Ebenfalls darf die wertende intuitive Stellungnahme nicht missbraucht werden, um einen Freiraum für Gesetzesumdeutungen zu bieten61. Der Rechtsanwender hat sich ebenso an den kulturellen Anschauungen einer Rechtsgemeinschaft, an bewährter Lehre und Rechtsprechung zu orientierten, um daran das Ergebnis der intuitiv-wertenden Stellungnahme immer wieder zu überprüfen.62 Mit dem emotionalen Wertungsvermögen im Sinne Schelers soll eine gewisse ethische Kompetenz aufgezeigt werden, die in Konfliktlösungen und Urteile einzufließen vermag. Gerade diese Kompetenz im Sinne einer wertenden Stellungnahme wird bei verschiedenen Rechtssätzen bewusst verlangt. Auf die Fähigkeit des Rechtsanwenders nach Gesichtspunkten der eigenen Wertung Rechtskonflikte zu lösen, stützt sich die Rechtsordnung maßgeblich ab.63 Dem emotionalen Erkenntnisvermögen kommt dabei im Sinne eines eröffnenden Kriteriums eine zentrale Funktion zu. V. KONKLUSION Definiert man Werte im umfassenden Sinne der materialen Wertethik, so zeigt sich, dass eine Rechtsordnung von Werten geprägt ist. Rechtsgüter sind in diesem Sinne auch Werte; eine Rechtsordnung ist auch eine Wertordnung. Durch die Analyse spezifischer Bereiche der Rechtsordnung zeigt sich das Verhältnis der Normen untereinander als eine abgestufte Wertigkeit, die einer Rechtsordnung zugrunde liegt. In erster Linie und mit Präferenz werden vom Recht Werte geschützt, die für das Zusammenleben als fundamental erscheinen; d. h. Werte, welche die öffentlichen Interessen des geordneten Zusammenlebens in einem weitesten Sinne garantieren sollen. Höhere Werte hingegen, wie z. B. die Glaubens- und Gewissensfreiheit, werden von der Rechtsordnung zwar geschützt, sie müssen im Konfliktfall jedoch elementareren Gemeinschaftswerten weichen. Dieses Grundverhältnis von Werthöhen und Wertstärken liefert so Kriterien, anhand derer es möglich wird, gewisse fundamentale Rechtskonflikte zu lösen. In der Rechtswirklichkeit treten Werte aber immer wieder auch antinomisch auf, d. h. als grundlegend verschiedene und konkurrierende Orientierungssysteme. Werte, die an sich nicht gegensätzlich sind, können einander entgegen stehen, wenn es um ihre Verwirklichung geht. Insofern wird in neuerer Zeit verschiedentlich festgehalten, dass die Wertedebatte lange Zeit eingeschränkt wurde durch die Annahme, dass Wertungswidersprüche nur scheinbar existieren, doch scheinen sie eine elementare Eigenheit von Wertentscheidungen zu sein.64 Der Rechtsanwender hat sich mit einer Doppelstruktur von 61 62 63 64
Gächter (Fn. 58), S. 398 f. Dazu Venzlaff (Fn. 59), S. 59. Vgl. Gächter (Fn. 58), S. 397. Vgl. auch Griffin (Fn. 35), S. 38.
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Werten auseinander zu setzen, bei denen sich einzelne Rechtswerte, aber auch Intention und Verwirklichung gegenüberstehen stehen. Das in der modernen Wissenschaftstheorie unter dem Begriff der Inkommensurabilität umschriebene Phänomen verlangt so auch eine eigene Art des differenzierenden Denkens.65 Damit wird auch ersichtlich, dass dem Rechtsanwender eine maßgebliche Kompetenz zukommt, in konkreten Konfliktsituationen eine sachgerechte Abwägung der Werte zu finden. Wo der Rechtsanwender werten muss, ist immer auch ein persönliches Moment der Wertung im Entscheid mit enthalten. Dieses persönliche Element äußert sich oftmals in einer spontanen Wertung mit Blick auf die sich stellenden Rechtskonflikte; es stellt eine spezifische emotionale Wertungskompetenz dar zur Konfliktlösung im Recht. Dies stimmt in gewisser Weise überein mit dem postmodernen philosophischen Verständnis einer unabdingbaren Gefühlskomponente der Vernunft.66 Anschrift der Autorin Julia Hänni Zollerstrasse 55 8703 Erlenbach Schweiz
65 Lueken (Fn. 34), S. 24 66 Vgl. dazu: Brigitte Scheer, Gefühl, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt, Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart: 2000–2005, S. 629–660, S. 630.
RALF SEINECKE* RECHTSPRINZIPIEN: KONSENS ODER KONFLIKT? Prinzipien haben eine lange Geschichte. Nicht erst seit der Antike sehnt sich der Mensch nach ‚prinzipiellem‘, philosophischem und systematischem Weltwissen, nach letzten Gründen und letztem Sinn.1 Auch die Juristen suchen nicht erst seit Robert Alexy (1979) nach dem Prinzip oder den Prinzipien des Rechts.2 Vor diesem machten besonders Josef Esser (1956)3 und Karl Larenz (1960)4 das Prinzip zu Thema und Topos von Rechtsfindung und Rechtswissenschaft. Nicht zuletzt war ‚Prinzipielles‘ auch im 19. Jahrhundert Problem und Thema des Rechts.5 Juristen ohne Prinzipien scheinen nur schwer vorstellbar – leichter werden solche mit den falschen beklagt. Bevor ich diesen ‚alten Hut‘ ‚Prinzip‘ und vor allem seine jüngeren Moden etwas näher betrachte, um zu schauen, was in ihm steckt und was sich aus ihm herauszaubern lässt, möchte ich den ‚Hut‘ aufgreifen, den Rudolf von Jhering ergriff, um ihn einigen seiner Lehrer, Kollegen und Freunde, die berühmtesten unter ihnen waren Georg Friedrich Puchta und Bernhard Windscheid, aufzusetzen. Es handelt sich hierbei um *
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Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte und im Exzellenzcluster 243 „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Vgl. den umfassenden Überblick im Artikel „Prinzip“ von Aubenque/G. Wieland/Holzhey/Schaber, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, P-Q, Basel 1989, Sp. 1336– 1373. Vgl. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips (1979), in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1995, S. 177–212; ders., Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1994, zuvor Baden-Baden 1985. Im Folgenden wird nur die Ausgabe Frankfurt am Main 1994 zitiert. Vgl. weiter ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in: MacCormick et al., Geltungs- und Erkenntnisbedingungen im modernen Rechtsdenken, zugleich ARSP Beiheft 25, Stuttgart 1985, S. 13–29; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in: ders./Koch et al., Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003, S. 217–233. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. Tübingen 1956. Zuvor hatte Esser schon 1953 auf der Zivilrechtslehrertagung über „Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsbildung aus Prinzipien im deutschen Zivilrecht“ referiert, vgl. den Bericht von Paulick, Bericht über die Tagung deutscher Zivilrechtslehrer in Bad Schlangenbad am 16. und 17. Oktober 1953, AcP 153 (1954), S. 167–191, S. 176–180. Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. Berlin u. a. 1960, 6. Aufl. 1991. Sofern nicht anders vermerkt, wird im Folgenden die 6. Auflage zitiert. Prinzipiendiskussionen finden sich bei Larenz aber auch schon früher. Vgl. ders., Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung, in: Bötticher, Festschrift für Arthur Nikisch, Tübingen 1958, S. 275–305, S. 299–303; vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Larenz, in: Paulick (Fn. 3), S. 180 f. Wichtiges Spätwerk zum Thema Rechtsprinzipien ist Larenz, Richtiges Recht, Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979. Vgl. Rückert, Das BGB und seine Prinzipien: Aufgabe, Lösung, Erfolg, in: Schmoeckel/Rückert/ Zimmermann, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, Tübingen 2003, Vor § 1; ders., Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?, JZ 2003, S. 749–760; ders., „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006; vgl. weiter Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, Tübingen 2001. Zu Prinzipiendiskussionen im Privatrecht nach 1945 grundlegend Kauhausen, Nach der Stunde ‚Null‘, Tübingen 2007.
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den ‚Begriffshut‘. Jhering und mit ihm ganze Juristengenerationen nannten und nennen das bis heute „‚Begriffsjurisprudenz‘, d. i. die Scholastik in der heutigen romanistischen Wissenschaft“;6 gemeint ist häufig nur eine seltsame Form der Begriffs- und Worthörigkeit. Kaum 30 Jahre zuvor, 1857, hatte Jhering dieser ‚Juristenschule‘ noch hoffnungsvoll ein Programm entworfen: „Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt (…); eine solche Jurisprudenz, läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen.“7 Es ging Jhering um eine Art ‚analytische‘ oder konstruktive Rechtswissenschaft, die die grundsätzlichsten und grundlegendsten Rechtsformen und -begriffe entdecken sollte, um dann aus ihnen ein ganzes Recht zu entfalten. Es waren Buchstaben des Rechts, dem Alphabet verwandt, aus denen sich alle Rechtsverhältnisse, gleich den Wörtern und Sätzen der Sprache, bilden lassen sollten.8 Mit den bloßen Buchstaben eines Gesetzes hatte diese alphabetische Arbeit nichts zu tun. Diese ‚Begriffsjurisprudenz‘ wurde gemeinsam mit dem ‚juristischen Positivismus‘ zum „Prügelknaben“ des 20. Jahrhunderts.9 Man warf ihr lebensferne Abstraktionen, formalistisch-deduktive Logik, ‚blutleere‘ Begriffsgläubigkeit, oberflächliche Substanzlosigkeit und Scheinbegründungen vor.10 Der Jurist sei zum „Juristen als solchen“ degeneriert, also nicht mehr ethisch, politisch oder volkswirtschaftlich informiert.11 Vor allem die ‚Rechnereien‘ der ‚Begriffsjuristen‘ – also die Metapher vom berechenbaren Wort: „die Endentscheidung ist das Resultat einer Rechnung, bei welcher die Rechtsbegriffe die Faktoren sind“12 – ließen sich leicht denunzieren.13 Dass dieses Mathematik- oder Rechenbild auch bei Friedrich Carl von Savigny und Immanuel
6 Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Leipzig 1884, S. 337. 7 Jhering, Unsere Aufgabe, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 1 (1857), S. 1–52, S. 16. 8 Vgl. zu der Alphabetsmethaper, Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, zweiter Theil, zweite Abtheilung, 5. Aufl. Leipzig 1898, § 39, S. 334. 9 Das Bild vom „Prügelknaben“ findet sich bei Bydlinski, Juristische Methode und Rechtsbegriff, 2. Aufl. Wien 1991, S. 109; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. Köln 2008, S. 62. Haferkamp schreibt es Heinrich Lange zu, vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die ‚Begriffsjurisprudenz‘, Frankfurt am Main 2004, S. 5; vgl. auch Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, Tübingen 2004, S. 102. 10 Vgl. etwa die Kritiken bei Larenz (Fn. 4), ML, S. 19–35 und Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 433–458. 11 Das Wort vom „Juristen als solchen“ findet sich bei Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, Leipzig 1884, S. 15. Es wird ihm allerdings in der Regel polemisch, die eben genannte Textpassage verkürzend, entgegengehalten. Zu dieser Legende um den „Juristen als solchen“ bei Windscheid sehr aufschlussreich Rückert, Bernhard Windscheid und seine Jurisprudenz ‚als solche‘ im liberalen Rechtsstaat (1817–1892), JuS 1992, S. 903–908, S. 906 und auch Falk, Der wahre Jurist und der Jurist als solcher, Zum Gedenken an Bernhard Windscheid, RJ 12 (1993), S. 598– 633, S. 623–625. 12 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, bearb. v. Kipp, 9. Aufl. Frankfurt am Main 1906, S. 111. 13 Neuere Studien zu ‚Begriffsjurisprudenz‘, ihren Protagonisten und ihrer Zeit zeigen jedoch, dass das gängige historische Bild durchaus schief gezeichnet ist. Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1986, 2. Aufl. 2008; Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt am Main 1989; Haferkamp (Fn. 9).
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Kant zu finden ist,14 störte dabei genauso wenig wie, dass auch der späte Wittgenstein, also der Wittgenstein der Sprachspiele und nicht der einer Idealsprache, 1945 schreibt: „Man bedenkt nicht, daß man mit den Worten rechnet, operiert, sie mit der Zeit in dies oder jenes Bild überführt.“15 Aber warum diese knappe Erzählung vom aus der Mode gekommenen ‚Begriffshut‘? Die so genannte und genauso gescholtene ‚Begriffsjurisprudenz‘ dient – genauso wie der juristische Positivismus – den jüngeren Prinzipientheoretikern als Widerpart auf der Suche nach dem richtigeren Rechtsverständnis.16 Deutlich gibt Esser diesen Antipoden mit dem Wort „Begriffspositivismus“ einen Namen.17 Es ist dieser historische Kontext, der beim Topos Prinzip in Vergessenheit zu geraten droht, der ein Verständnis der aktuellen Prinzipiendiskussion aber erleichtern könnte. Gerade vor diesem Hintergrund verwundert es, dass das Rechenbild der ach so lebensfremden ‚Begriffsjuristen‘ bei Alexy als dem prominentesten deutschen Prinzipientheoretiker in einer Formel zur Rationalisierung der Abwägung wieder auftaucht. Aus dem ‚Abl ×G wägungshut‘ wird auf einmal die „Gewichtsformel“ Gi,j = lij × Gji gezaubert.18 Vor diesem Hintergrund will ich nun versuchen, den Topos Rechtsprinzip auf seinen Konsens und seinen Konflikt hin zu befragen. In einem ersten Teil (I.) sollen die Regeln, denen Prinzipien bei Larenz, Dworkin und Alexy folgen, freigelegt werden. Es wird sich zeigen, dass Prinzipien primär durch eine abgrenzend-distanzierende Geste begriffen werden. Zugleich sind sie stets moralisch oder ethisch aufgeladen. Ein zweiter Teil (II.) handelt vom Prinzip der Prinzipien: ihrem Konsens. Auf ein Resümee (III.) folgt dann (IV.) der Ausblick auf eine konflikttheoretische Alternative zum Prinzip. Ich nenne sie – verlegen um einen treffenderen Begriff – ‚Normenpluralismus‘.
14 Vgl. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Aufl. Heidelberg 1840, S. 29: „Darum eben hat ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit, wie sie sich sonst außer der Mathematik nicht findet, und man kann ohne Übertreibung sagen, daß sie mit ihren Begriffen rechnen.“ Wichtig zu diesem Zitat die Deutung Rückerts, vgl. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 374 f. Vgl. weiter Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe Band VIII, Frankfurt am Main 1977, S. 340, AB 37. 15 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main 1984, S. 227–580, § 449, die Hervorhebung findet sich im Original. Weiter heißt es an dieser Stelle: „Es ist, als glaubte man, daß etwa die schriftliche Anweisung auf eine Kuh, die mir Einer ausfolgen soll, immer von einer Vorstellung einer Kuh begleitet sein müsse, damit diese Anweisung nicht ihren Sinn verliere.“ 16 Das Gegenbild des Kelsenschen Positivismus und das dazugehörige ‚Ermessensmodell‘ skizziert kurz und bündig C. Bäcker, Begründen und Entscheiden, Kritik und Rekonstruktion der Alexyschen Diskurstheorie des Rechts, Baden-Baden 2008, S. 25–30. 17 Esser (Fn. 3), Grundsatz, S. 29. 18 Alexy, Die Gewichtsformel, in: Jickeli/Kreutz/Reuter, Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, S. 783–792, insb. S. 788. Dabei gibt sich auch Alexy skeptisch gegenüber den Rechnereien der ‚Begriffsjuristen‘, selbst wenn er sich von den Polemiken gegen diese zu distanzieren scheint: „Ob es [sc. das Deduktionsmodell der Begriffsjurisprudenz] jemals mehr war als ein Programm oder ein Ideal, muß jedoch bezweifelt werden. Es ist zu leicht zu widerlegen.“ Vgl. Alexy, Die juristische Argumentation als rationaler Diskurs, in: Alexy/Koch et al., (Fn. 2), S. 113–122, S. 113, insb. Fn. 2.
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I. PRINZIPIENREGELN 1. KARL LARENZ: GEGENBEGRIFF PRINZIP Karl Larenz arbeitet im Rahmen seiner Methodenlehre von 1960 eine Theorie des Prinzips aus.19 Seine Prinzipientheorie ist Teil einer methodischen, wohl auch politischen Kritik an abstrakt-formalen Begriffen und dem juristischen Positivismus des frühen 20. und späten 19. Jahrhunderts. Die Last dieser Methodenkritik tragen seine Prinzipien nicht allein. Neben ihnen entwickelt Larenz eine Lehre vom Typus und sogenannte funktionale Begriffe, genauso wie er Hegel dessen Denkform des „konkretallgemeinen Begriffs“ entlehnt.20 Der Begriff Prinzip ist bei Larenz zunächst nicht eindeutig bestimmt. Er unterscheidet zwischen richtigen Prinzipien, einem „GrundPrinzip allen Rechts“ – d. i. die Rechtsidee –, zwischen technischen, offenen und rechtssatzförmigen Prinzipien.21 Zentral aber sind für Larenz’ Prinzipienkonzeption die Prinzipien richtigen Rechts, die er auch rechtsethische Prinzipien nennt: „Die ‚rechtsethischen Prinzipien‘ sind uns begegnet als objektiv-teleologische Auslegungskriterien und im Zusammenhang mit der Rechtsfortbildung im Hinblick auf ein derartiges Prinzip. Wir bezeichnen sie als ‚richtungsgebende Maßstäbe rechtlicher Normierung, die vermöge ihrer eigenen Überzeugungskraft rechtliche Entscheidungen zu rechtfertigen vermögen‘. Als ‚materiale Rechtsgedanken‘ sind sie besondere Ausprägungen der Rechtsidee, so wie diese sich auf dieser historischen Entwicklungsstufe darstellt und in Gesetzgebung und Rechtsprechung, vor allem in dieser, fortdauernd konkretisiert. […] Rechtsprinzipien haben nicht den Charakter von sehr allgemein gefaßten Regeln, unter die Sachverhalte ebenfalls sehr allgemeiner Art subsumiert werden könnten. Sie bedürfen vielmehr ausnahmslos der Konkretisierung.“22
In diesem ersten Zugriff auf Larenz’ Prinzip zeigen sich vor allem zwei Elemente: Prinzipien zeichneten sich einerseits als „Ausprägungen der Rechtsidee“ durch ihren „materialen Gerechtigkeitsgehalt“23 aus, andererseits seien sie nicht subsumtionsfähige Regeln, sie bedürften „ausnahmslos der Konkretisierung“. Positiv kennzeichnet Larenz sie weiter als „Leitgedanken“, „Wegweiser“ oder „rationes legis“; sie böten „Rechtfertigungs-“ und „sinngebende Gründe“, zeigten „Wertungsmaßstäbe oder Wertvorzüge“ auf.24 Deutlicher sind Larenz’ negative Merkmale des Prinzips: Es sei frei von Tatbestand und Rechtsfolge, nicht subsumtionsfähig, nicht „Rechtssatz“, nicht „Regel“, eben nicht ‚definierbar‘.25 Larenz bedient sich dieser Prinzipien neben den Typen, funktionalen und konkretallgemeinen Begriffen um ein Gegenmodell des Rechts zu entwickeln, das auf abs19 Vgl. Larenz (Fn. 4), ML. 20 Vgl. Larenz (Fn. 4), ML, S. 457–490. 21 Zu Larenz‘ Prinzipien vgl. grundlegend Larenz, Richtiges Recht, München 1979, insb. S. 23–32 u. 174–185; ders. (Fn. 4), ML, insb. S. 474–482. 22 Larenz (Fn. 4), ML, S. 474, vgl. auch S. 421 und ders. (Fn. 4), RR, S. 23. 23 Larenz (Fn. 4), ML, S. 421. 24 Larenz (Fn. 4), RR, S. 23, 25, 27; ders. (Fn. 4), ML, S. 227, 474, 479; ders., Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in: Walter Wilburg zum 70. Geburtstag, Festschrift, Graz 1975, S. 216–229, S. 223; ders., Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 1. Aufl. München 1967, S. 54. 25 Vgl. Larenz (Fn. 4), RR, S. 23, 27, 44, 182; ders. (Fn. 4), ML, S. 227, 474, 486; ders. (Fn. 24), Wertorientiertes Denken, S. 222.
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trakte Begriffe als „Bausteine des äußeren Systems“26 weitestgehend verzichten kann. Diesem abstrakt-äußeren System setzt Larenz die Polemiken gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘ entgegen. Es vernachlässige und verschleiere die wichtigen Wertungen des Rechts.27 Der ‚abstrakte Begriff ‘ ‚isoliere‘ und ‚vereinzele‘ die Merkmale mittels derer er die logischen Abstraktionen vollbringt, während er notwendigerweise die ‚konkrete Fülle‘ von Leben und Welt aus den Augen verlieren müsse.28 Er diene einem der Jurisprudenz nicht angemessenen szientistischen Wissenschaftsbegriff.29 Zwar begreift auch Larenz das „äußere System“ als „weiterhin unentbehrlich“ „für die Erfassung des gesamten Rechtsstoffs“,30 doch er ordnet dieses dem „inneren System“ hierarchisch unter. Nur im ‚Innern des Rechts‘ fänden sich die zentralen Wertungen, die für Rechtsprechung und Rechtsdogmatik maßstabsbildend seien.31 Methodologisch nennt sich dies gemeinhin Wertungsjurisprudenz: Nicht abstrakte Begriffe und Topoi, sondern Wertungszusammenhänge mit Gerechtigkeitsgehalt und notwendigem Bezug zur Rechtsidee prägen Larenz’ Prinzip.32 2. RONALD DWORKIN: GEGENREGEL PRINZIP Philosophischer Vater der jüngeren, vornehmlich öffentlich-rechtlichen Prinzipiendiskussionen ist Ronald Dworkin.33 Genauso wie Larenz das Prinzip als ‚Gegenbegriff‘ entwickelt, formuliert auch Dworkin sein Prinzip in erster Linie distanzierend. Seinen rechtstheoretischen Kontrahenten erblickt Dworkin aber nicht in der ‚Begriffsjurisprudenz‘ des 19. Jahrhunderts. Er wendet sich gegen den ‚Rechtspositivismus‘ in der Variante H.L.A. Harts.34 In seinem „general attack on positivism“35 versucht er zu zeigen, dass positivierte Regelmodelle, die Recht ohne Prinzipien rekonstruierten, ein wesentliches Moment des Rechts und auch der Rechtspraxis verfehlten. Gegen die Hart zugeschriebene These, dass neben einem bestimmbaren Regelraum nur das 26 27 28 29 30 31 32
Larenz (Fn. 4), ML, S. 439. Vgl. Larenz (Fn. 4), ML, S. 438. Vgl. Larenz (Fn. 4), ML, S. 439 f. Vgl. Larenz (Fn. 4), ML, S. 438, 439, 225, 239. Larenz (Fn. 4), ML, S. 482. Vgl. Larenz (Fn. 4), ML, S. 214–234; vgl. weiter ders. (Fn. 24), Wertorientiertes Denken. Sehr deutlich findet sich dies, vermutlich auf und gegen Esser gemünzt, im letzten Absatz von Larenz’ Methodenlehre, vgl. Larenz (Fn. 4), ML, S. 489 f. Zu dieser Debatte vgl. insb. S. 224–229 und ders. (Fn. 24), Wertorientiertes Denken. Zu wesentlichen Differenzierungen innerhalb der Wertungsjurisprudenz nach 1945 vgl. jetzt Kauhausen (Fn. 5) und Rückert, Vom „Freirecht“ zur freien „Wertungsjurisprudenz“ – eine Geschichte voller Legenden, ZSGerm 125 (2008), S. 199– 255. 33 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 5. Aufl. London 1987, 1. Aufl. 1977, 1. deutsche Auflage unter dem Titel „Bürgerrechte ernstgenommen“, Frankfurt am Main 1984. Wenn nicht anders vermerkt, werden im Folgenden die 5. englische Auflage und die erste deutsche Auflage zitiert werden. 34 Dworkin (Fn. 33), engl. S. 22, dt. S. 54. Vgl. zur Gegenposition Hart, The Concept of Law, 1. Aufl. Oxford 1961, 2. Aufl. 1994, hier insb. das Postskript, 1. deutsche Aufl. unter dem Titel „Der Begriff des Rechts“, Frankfurt am Main 1973. Einen guten Überblick zu der im Anschluss an Dworkin und Hart geführten Debatte gibt Shapiro, The „Hart-Dworkin“ Debate: A Short Guide for the Perplexed, in: Ripstein, Ronald Dworkin, Cambridge 2007, S. 22–55. 35 Dworkin (Fn. 33), engl. S. 22, dt. S. 54.
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freie Ermessen des Richters herrsche, bringt er das Prinzip ins Spiel. Dieses umschreibt er, noch bevor er es irgendwie positiv kennzeichnet, negativ: „Most often I shall use the term ‚principle‘ generically, to refer to the whole set of these standards other than rules.“36 Diese negative Begriffsbestimmung ergänzt Dworkin dann um eine positive, in der sein primäres Argument gegen den Rechtspositivismus wurzelt: „I call a ‚principle‘ a standard that is to be observed, not because it will advance or secure an economic, political, or social situation deemed desirable, but because it is a requirement of justice or fairness or some other dimension of morality.“37
Dworkin will mittels seines moralisch aufgeladenen Rechtsprinzips zeigen, dass rechtliche Entscheidungen, sogar wenn klare Regeln vorliegen, letztlich immer an moralische Erwägungen rückgebunden werden und rückzubinden sind. Der Richter solle nicht einem vollständig kontingenten Regelsystem verpflichtet sein; und auch im Falle fehlender Entscheidungsdirektiven – das meint im anglo-amerikanischen Rechtssystem insbesondere das Fehlen anwendbarer Präzedenzfälle – dürfe er nicht aus einem vollkommen freien Ermessen heraus entscheiden. Er müsse auch hier, wenn klare Direktiven fehlen, im Recht und seiner ‚Entscheidungsgeschichte‘ nach Prinzipien suchen, die sein zu fällendes Urteil legitimieren könnten. Freilich hat Dworkins Prinzip im anglo-amerikanischen Raum, wo principles ohnehin viel geläufiger sind als im deutsch-dogmatischen Juristenfeld, eine gänzlich andere Funktion. Stärkt Larenz’ Prinzip noch die Richtermacht, indem sie dem Richter eine von der lex unabhängige normative Grundlage gibt, die in der Lage ist, das Gesetz auszustechen, geben Dworkins principles dem Richter einen dem Corpus des Rechts entnommenen Maßstab, der einen angeblich willkürfreien Raum einhegt. Zwar können auch hier „rights as trumps“ politische und juridische Erwägungen ausstechen, dennoch macht Dworkins Prinzipienmodell – gerade in der Differenz zu Larenz – deutlich, wie unterschiedlich die Funktion von Prinzipien im Rahmen der Rechtsfindung ausgestaltet werden kann.38 Der rechtskulturelle Kontext von Dworkins Arbeiten muss hier aber vernachlässigt werden. Das Dworkinsche Prinzipienbild sollen andere – mehr oder weniger prominente – Prinzipiencharakteristika noch etwas schärfen: Das Prinzip sei „Grund“ oder „Argument“, es habe „Gewicht“ und „Bedeutung“, sei abzuwägen und könne „eine Entscheidung auf eine Seite neigen“.39 Keinesfalls aber sei es ‚zwingend‘. Ihm fehle der „Alles-oder-Nichts“ Charakter der eben den ‚nichtprinzipiellen‘ Regeln vorbehalten sei.40 Auch diese weiteren Merkmale von Dworkins „Prinzip“ verdeutlichen nur seine antiregelhafte Signatur. Die „Mehr-oder-Weniger“-Qualität des Prinzips ist Antithese 36 Dworkin (Fn. 33), engl. S. 22, dt. S. 55. Auch Esser beginnt seine Prinzipienuntersuchung mit einer zunächst nur negativen Prinzipiendefinition, nämlich dass „ein Rechtsprinzip kein Rechtssatz, keine Rechtsnorm im technischen Sinne ist“, vgl. Esser (Fn. 3), Grundsatz, S. 50. Essers abgrenzender Definition scheint allerdings nur ein tentativ-heuristischer Charakter zuzukommen, insbesondere da Esser schon zuvor drei verschiedene Prinzipientypen identifiziert hat, vgl. aaO., S. 47 f. 37 Dworkin (Fn. 33), engl. S. 22, dt. S. 55. 38 Vgl. hierzu auch die etwas weitere rechtsvergleichende Perspektive bei Esser (Fn. 3), Grundsatz, S. 26. 39 Dworkin (Fn. 33), dt. S. 60, 62, 75, engl. S. 26, 26 f., 35. 40 Vgl. Dworkin (Fn. 33), dt. S. 61, 58, engl. S. 26, 24, 24 f.
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zur „Alles-oder-Nichts“-Qualität der Regel, sein argumentativer, gründender oder gewichtender Status steht der starren, konditionalen Verknüpfung von deutlich konturiertem Tatbestand und zwingender Rechtsfolge gegenüber. Der explizit moralische Gehalt des Prinzips versteht sich als Gegenprogramm zur moralisch indifferenten Regel. Dworkins Prinzipien lassen sich so auf zwei zentrale Momente reduzieren: Prinzipien sind zum einen immer auch gerecht oder moralisch gefordert, zum anderen sind sie technisch keiner Regel vergleichbar. 3. ROBERT ALEXY: PRINZIPIENOPTIMUM Dworkins Prinzipienbegriff dient nun Robert Alexy als Fundament seiner prinzipiellen Grundrechtstheorie. Auch Alexy gebraucht Prinzipien – wie schon Larenz und Dworkin – in kritischer Absicht. Sein „Prinzipienargument“41 wird zur scharfen Waffe gegen den Positivismus Kelsens und Harts. Daneben gewinnt Alexys Prinzipienbegriff aber in seiner prinzipiellen Rekonstruktion der Grundrechte des Grundgesetzes eine neue Dimension.42 Prinzipien sind hier positiv erfahrbar. Sie sind im Grundrechtskatalog gesetzt und bilden nicht mehr nur eine Tiefendimension des Rechts, die, ob nun induktiv oder deduktiv, in jedem Falle aber spekulativ eingesehen wird. Diese Positivität des Prinzips schlägt sich auch in einer positiven Definition des Prinzips nieder: „Prinzipien sind Normen, die gebieten, daß etwas relativ auf die faktischen und die rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße realisiert wird. Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, daß das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird wesentlich durch gegenläufige Prinzipien bestimmt.“43
Daneben kennt, benennt und kritisiert Alexy selbstverständlich auch Dworkins wesentliche Charakteristika des Prinzips – ihren „Mehr-oder-weniger-Charakter“, ihre „Dimension des Gewichts“, den logisch-qualitativen Unterschied zur Regel oder ihr schwaches prima facie Gewicht.44 Genauso schlägt er im Prinzip die Brücke des positiven Rechts zu nichtpositiven Werten und Normen.45 Auch Alexys „normativmateriale Theorie der Grundrechte“46 ist über eine gewisse ‚Wertaffinität‘47 und 41 Vgl. besonders Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl. Freiburg 2005, 1. Aufl. 1992, S. 117–136. 42 Vgl. Alexy (Fn. 2), Grundrechte, S. 91–157. 43 Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, Symposion zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, Göttingen 1990, S. 101; vgl. auch ders. (Fn. 2), Grundrechte, S. 75 f; ders. (Fn. 2), Rechtsregeln 2003, S. 224; ders. (Fn. 41), S. 120. 44 Vgl. Alexy (Fn. 2), Rechtsprinzip 1979, S. 182–205; Alexy (Fn. 2), Grundrechte, S. 71–104. 45 Zu Alexys Kritik des Positivismus und seinem Bekenntnis zum Nichtpositivismus vgl. jüngst Alexy, On the Concept and the Nature of Law, Ratio Juris 21 (2008), S. 281–299; grundlegend auch ders. (Fn. 41). Hierzu sehr kritisch Raz, The Argument from Justice, or How Not to Reply to Legal Positivism, in: Pavlakos, Law, Rights and Discourse, The Legal Philosophy of Robert Alexy, Oxford 2007, S. 17–35. Vgl. schließlich Alexy, An Answer to Joseph Raz, in: Pavlakos, Law, Rights and Discourse, The Legal Philosophy of Robert Alexy, Oxford 2007, S. 37–55. 46 Alexy (Fn. 2), Grundrechte, S. 71. 47 Vgl. Alexy, Jürgen Habermas’ Theorie des juristischen Diskurses, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt am Main 1995, S. 165–174, hier S. 167–170; wesentlich schwächer in ders. (Fn. 2), Grundrechte, S. 125–143; vgl. weiter Alexy (Fn. 2), Rechtsregeln 2003, S. 228 f.
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seinen expliziten Verweis auf praktisch-vernünftige Argumentation im Rahmen juristischer Diskurse48 auf eine zweite höhere normative Ebene angewiesen. Diese Doppelung des Rechts verändert aber durch die Positivität der Grundrechte ihren Charakter. Der positive Bezug seiner Grundrechtsprinzipien im Grundgesetz gewährt ihnen eine wesentlich rechtlichere und damit weniger moralische Form, selbst wenn diese am Garn eines positivierten Gerechtigkeitskatalogs hängen. Damit verliert Alexys Prinzipienverfassung ihre problematische spekulative Geste, selbst wenn der doppelte Boden eines Rechts der Prinzipien unter dem Recht der Regeln grundsätzlich nicht eingerissen wird. Ihr überpositiver Gehalt ist wesentlich schlanker als bei Dworkin und Larenz und dabei zugleich demokratisch legitim verfasst. Festzuhalten bleibt: Auch Alexys Prinzipien sind grundsätzlich moralaffin wie regelavers. Wichtig ist hier aber ein anderes Attribut des Prinzips, das bereits Alexys Begriff des Prinzips prägt: seine Gegenläufigkeit. Anders als Larenz’ oder Dworkins Prinzipien ist Alexys Prinzip schon begrifflich auf andere Prinzipien angewiesen. Sein Gehalt wird „wesentlich durch gegenläufige Prinzipien bestimmt“, das heißt nur in der Zusammenschau mit anderen Prinzipien ist das einzelne Prinzip verstehbar. Als Optimierungsgebot ist es überhaupt nur im ‚prinzipiellen‘ Zusammenspiel denkmöglich, so dass ihm bereits ex definitione eine konsensuale Signatur eingeschrieben ist. II. KONSENSFORMELN Nicht nur bei Alexy findet sich Konsens neben und im Prinzip. (1.) Auch bei Larenz und Canaris (2.) genauso wie bei Dworkin wird Konsens zum Prinzip des Prinzips erhoben. Prinzipien bedürfen, sobald sie nicht allein auftreten, immer eines harmonischen Ausgleichs. Das gilt aber nicht nur für die Prinzipien der genuinen Prinzipientheoretiker. (3.) Auch die Diskurstheorie des Rechts fordert Konsens, selbst wenn sie eine grundsätzliche Prinzipienskepsis hegt.49 (4.) Doch im harmonisierenden Konsens muss nicht das letzte Wort liegen. Gerade Alexys konsensuales Prinzipienoptimum lässt Raum für alternative Normen und Konfliktprogramme. 1. CLAUS-WILHLM CANARIS: DAS „BEWEGLICHE SYSTEM“ 1969 entwickelt Claus-Wilhelm Canaris im Anschluss an Arbeiten von Walter Wilburg ein offenes und zugleich bewegliches System des Rechts, in dessen Rahmen auch Karl Larenz sein „inneres System“ der Prinzipien fasst.50 Als Antwort auf die topische und 48 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt am Main 1983, zuvor Baden-Baden 1978, insb. S. 346–348, 354 f. u. ö., S. 348: „Damit bildet die allgemeine praktische Argumentation die Grundlage der juristischen Argumentation.“ 49 Zur Prinzipienkritik der Diskurstheorie vgl. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt am Main 1988, S. 268–276, insb. S. 272, 270 f. und 274 f. 50 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1. Aufl. Berlin 1969, 2. Aufl. 1983. Zu Canaris’ Prinzipien vgl. ders., a.a.O., S. 46–60 und ders., Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Berlin 1964, S. 93–127. Vgl. weiter Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Graz 1950; ders., Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163 (1964), S. 346–379; ders., Die Elemente des Schadensrechts, Marburg a. d. Lahn 1941.
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soziologische Kritik der 60er Jahre versucht Canaris das Systemdenken der Rechtswissenschaft neu zu rationalisieren und es so in einem neuen Rechtsrahmen zu fassen. Die Anforderungen sind dementsprechend hoch. Das „Bewegliche System“ muss die verschiedensten rechtsinhärenten Spannungen, die sich gerade aus dem Hiatus von Fall und System, von Besonderem und Allgemeinem ergeben, aushalten können. Es muss Vielheit in Ordnung bringen, ohne sie tatbestandlich zu überformen und zugleich rechtstechnisch zu unterfordern. Es muss auf die Dynamiken von Gesellschaft und Recht reagieren können, ohne dabei seine eigene Stabilität und seine stabilisierende Funktion zu gefährden. Es muss allgemeiner, wie besonderer rechtlicher Gerechtigkeit gleichermaßen Rechnung tragen, also Rechtssicherheit und Falladäquanz gleichzeitig gewährleisten. Das gesuchte Wunderwerk findet Canaris in einem offenen wie beweglichen Prinzipiensystem: „Dieses System ist nicht geschlossen, sondern offen. Das gilt sowohl für das System der juristischen Lehrsätze, das ‚wissenschaftliche System‘, als auch für das System der Rechtsordnung selbst, das ‚objektive System‘. Hinsichtlich des ersteren bedeutet Offenheit die Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis, hinsichtlich des letzteren die Wandelbarkeit der rechtlichen Grundwertungen. […] Von der Problematik der ‚Offenheit‘ des Systems ist die seiner ‚Beweglichkeit‘ zu unterscheiden. Beweglichkeit in dem Sinne, den dieser Terminus durch Wilburg erhalten hat, bedeutet die grundsätzliche Ranggleichheit und wechselseitige Austauschbarkeit der maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien bei gleichzeitigem Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung.“51
Das „Bewegliche System“ zeichnet sich durch das symmetrische Verhältnis seiner „Gerechtigkeitskriterien“, das heißt Prinzipien, zueinander aus. Sie begegnen einander gleichrangig, ohne dass Ergebnisse durch konditionale Anwendungsschemata vorbestimmt wären. Tatbestände sind hier nicht notwendig. Die Prinzipien lassen sich dynamisch am und im Fall messen, während die Anzahl der Prinzipien grundsätzlich stabil bleibt. Es soll diese Stabilität sein, die das „Bewegliche System“ von der Topik unterscheide.52 Das System als offenes gewinnt seine zeitliche Dynamik und Veränderbarkeit einerseits aus der Fallibilität der wissenschaftlichen Erkenntnis vom Recht und der Veränderung des Rechts selbst durch gesellschaftliche Änderungen seiner Grundwertungen. Durch den beweglich-systematischen Zugriff auf eine Vielfalt von Prinzipien verlieren diese aber ihren Eigenwert: „Die Prinzipien erhalten ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung“.53 Sie entfalten ihren Sinn erst durch und mit den anderen anwendbaren Prinzipien. Das bewegliche Prinzipienspiel verliert seine allgemeine Bestimmtheit, weil es sich erst im fallnahen Zusammenspiel bestimmen lässt. Zusätzlich steigern sich die Unbestimmtheiten des prinzipiellen Konsens in den ‚hermeneutisch-hegeli-
Vgl. schließlich Larenz (Fn. 4), ML, S. 474–490, der sich jedoch gegenüber einzelnen Momenten des Beweglichen Systems skeptisch zeigt, vgl. insb. S. 479. 51 Canaris (Fn. 50), Systemdenken, S. 156, vgl. weiter zur „Beweglichkeit“ S. 74–76 und zur „Offenheit“ S. 62–64. 52 Vgl. Canaris (Fn. 50), Systemdenken, S. 76–78, S. 135–154. Zur Topik grundlegend Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1. Aufl. München 1953, 5. Aufl. 1974. 53 Canaris (Fn. 50), Systemdenken, S. 55; zustimmend Larenz (Fn. 4), ML, S. 476.
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anischen‘ Auslegungszirkeln von Larenz ‚holistischem‘54 Rechtsmodell. Canaris selbst bewertet dieses konsensuale Prinzipienmodell sehr positiv, vielleicht etwas zu freudig: „In Wahrheit kann man das bewegliche System daher keiner der beiden Tendenzen der Gerechtigkeit gänzlich zuordnen: es berücksichtigt die generalisierende Tendenz, indem es die maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien allgemein festlegt, und es trägt der individualisierenden Tendenz Rechnung, indem es die konkrete Rechtsfolge vom Zusammenwirken dieser Gesichtspunkte im Einzelfall abhängig macht […]: das bewegliche System stellt einen besonders glücklichen Kompromiß zwischen den verschiedenen Postulaten der Rechtsidee dar.“55
Canaris präsentiert seine Konsenslösung auch als Variante der aristotelischen mesotesLehre von der richtigen Mitte. In der Mitte zwischen begriffshöriger Systemgläubigkeit und topisch-unverbindlicher Billigkeit findet er den rechten Ton des neuen Systems. Die Disharmonie von Dynamik und Statik, Konsistenz und Gerechtigkeit harmonisiert Canaris in der beweglichen Unbestimmtheit seines epistemisch wie normativ offenen Systems. 2. RONALD DWORKIN: INTEGRITY AND COHERENCE Eine zweite Konsensformel findet sich in Dworkins Law’s Empire.56 Auch hier streitet er wieder gegen rechtspositivistische Perspektiven. Sein erklärter Gegner ist diesmal nicht mehr H.L.A. Hart und sein Concept of Law. Stattdessen schreibt er gegen zwei juristische Interpretationskonzepte an, von denen eines als Nachfahre oder Verwandter des juristischen Positivismus gelten kann. Gegen den von ihm sogenannten conventionalism, in dem juristische Interpretation sich nur an vorangegangenen Entscheidungen oder anderen gegebenen Entscheidungsdirektiven orientiert, und den sogenannten pragmatism, der letztlich einer utilitaristischen Interpretationsmaxime gleicht, die – anders als der conventionalism – nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert richten lässt,57 führt er den Begriff des law as integrity ein: „Law as integrity asks judges to assume, so far as this is possible, that the law is structured by a coherent set of principles about justice and fairness and procedural due process, and it asks them to enforce these in the fresh cases that come before them, so that each person’s situation is fair and just according to the same standards. That style of adjudication respects the ambition integrity assumes, the ambition to be a community of principle.“58
Diese Konsensformel bietet zwei Maßstäbe zur Konsensherstellung. Einerseits müsse die zu treffende Entscheidung sich bestmöglich in eine konstruktiv interpretierte Entscheidungsgeschichte ‚einpassen‘ („dimension of fit“)59 lassen und andererseits – im Falle von Interpretationsspielräumen – die beste Rechtfertigung dieser Entscheidung 54 Dieser Einwand, den Alexy gegen Dworkin erhebt, muss auch gegen Larenz’ hermeneutisches Modell vorgebracht werden, vgl. Alexy (Fn. 48), S. 116; ders. (Fn. 2), Rechtsprinzip 1979, S. 210. 55 Canaris (Fn. 50), Systemdenken, 83 f. (die Hervorhebungen finden sich im Original). 56 Dworkin, Law’s Empire, Cambridge/Massachusetts 1986. 57 Vgl. Dworkin (Fn. 56), S. 225. 58 Dworkin (Fn. 56), S. 243. 59 Dworkin (Fn. 56), S. 230.
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liefern („justification“ oder „substance“)60. Der herkulische Richter rekonstruiert die Vergangenheit des Rechts dabei bereits prinzipiell anhand substanziell gerechter und prozedural fairer Prinzipien,61 die dann in ein kohärentes („coherent“) Verhältnis zueinander gesetzt werden. Dieses kohärente Set bereits moralisch gedeuteter Prinzipien müsse dann unter dem Ideal der einzig richtigen Entscheidung die Falllösung leiten. Damit zeigt sich die normative Kraft der kohärenten Prinzipienmenge. Aus dem kohärenten Prinzipienkonsens folgt die juristische Entscheidung. Moralische Rechtfertigungen finden sich auf allen analytisch trennbaren Ebenen der Interpretation. Die ‚gegebenen‘ normativen Maßstäbe werden prinzipiell moralisch gedeutet, sie werden prinzipiell moralisch ausgeglichen und bei Entscheidungsspielräumen werden die Entscheidungsalternativen schließlich wieder prinzipiell moralisch gegeneinander ausgespielt. Wer wollte eine solch prinzipiell-kohärente Normenmenge in Zweifel ziehen? Wer könnte dem moralisch rekonstruierten Prinzipiengeflecht als ‚integrem‘ wie beweglichen Normenkörper seine „Legitimitätsprämie“62 absprechen? 3. JÜRGEN HABERMAS UND KLAUS GÜNTHER: DISKURS UND ANGEMESSENHEIT Dworkins Konsenskonzept der Kohärenz nehmen Jürgen Habermas und Klaus Günther in einer diskurstheoretischen Variante auf.63 Ihre Kritik an dem übermächtigen und übermenschlichen Herkules drängt sich unter kommunikationstheoretischen Prämissen geradezu auf:64 „What is lacking is dialogue. Herkules […] is much too heroic […]. He meets no otherness […]. He is not the whole community.“65 Neben den bloß normativ-strukturellen Konsens als Kohärenz tritt nun das Ideal einer konsentiert erzeugten Rechtsentscheidung, die dem diskursiven Argumentationsideal entstammt: „Folgen und Nebenwirkungen“ der „allgemeinen“ Normbefolgung für die „Interessen eines jeden Einzelnen“ müssen von „allen Betroffenen akzeptiert“ werden können.66 Dieser Schritt darf nicht unterschätzt werden. Denn durch die diskurstheoretische Rückkoppelung der Rechtsrekonstruktion und -entscheidung wird sowohl die normative Konsensgrundlage expliziert als auch das normative Verfahren umrissen, mittels dessen Konsens erzeugt werden soll. Michelmans kritischer Frage: „Who-
60 Vgl. Dworkin (Fn. 56), S. 228 und 257, vgl. auch S. 231. 61 Dworkin begreift justice als „matter of outcomes“, demgegenüber fairness als „fair distribution of political power“, vgl. Dworkin (Fn. 56), S. 179 f. 62 Vgl. Habermas, Ronald Dworkin – Ein Solitär im Kreise der Rechtsgelehrten, in: ders., Ach, Europa, Kleine Politische Schriften XI, Frankfurt am Main 2008, S. 65–74, S. 69. 63 Vgl. hierzu vor allem Günther (Fn. 49), insb. S. 299–307 und S. 345–353 und Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1994, insb. Kap. V, S. 258–291. 64 Vgl. zu den Prämissen der Diskurstheorie grundlegend Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt am Main 1981; ders., Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, S. 53–125 und ders., Erläuterungen zur Diskursethik, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, S. 119–226. 65 Michelman, The Supreme Court 1985 Term, Foreword, Harvard Law Review 100 (1986), S. 4–77, S. 76; zustimmend Habermas (Fn. 63), S. 274. 66 Verkürzt nach Habermas (Fn. 64), Notizen, S. 75 f.
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se integrity?“67 tritt die Diskurstheorie mit der Antwort entgegen: „Unser aller Integrität!“ Diskursive Kohärenz meint so einen Normenzusammenhang, der über Widerspruchsfreiheit hinausgeht und „durch substantielle Argumente“ hergestellt wird: „also durch Gründe, die die pragmatische Eigenschaft aufweisen, unter Argumentationsteilnehmern ein rational motiviertes Einverständnis herbeizuführen“.68 Anders formuliert: „Eine Norm (N) kann einen singulären Imperativ nur dann rechtfertigen, wenn die Norminterpretation durch eine kohärente Interpretation aller prima facie anwendbaren Normen gerechtfertigt werden kann.“69 Alle Normen und Gründe, die in einer konkreten Situation potentiell anwendbar sind, müssen in ein Gleichgewicht überführt werden, das vermittelt durch Gründe seinerseits diskursiv abgesichert ist. Hier aber beginnen die Schwierigkeiten der diskursiven Kohärenz. Der situative Fokus wird zur kaum überwindbaren Herausforderung für die Stabilität des Rechts: „Wenn jede gültige Norm auf eine kohärente Ergänzung durch alle anderen in einer Situation anwendbaren Normen angewiesen ist, ändert sich ihre Bedeutung in jeder Situation.“70 Und das heißt: „Offenbar kann die Kohärenztheorie des Rechts die Unbestimmtheit, die angeblich aus der widersprüchlichen Struktur des geltenden Rechts folgen solle, nur um den Preis des Unbestimmtwerdens der Theorie selber vermeiden.“71 Diese situative Fallabhängigkeit der Konsenstheorien lässt sich kaum deutlicher benennen als Habermas selbst das tut. Die diskurstheoretische Lösung des Problems kann an dieser Stelle aber nur holzschnittartig wiedergegeben werden. Günther und Habermas müssen auf Rechtsparadigmen verweisen, um das aus den Fugen geratene Recht zu restabilisieren.72 Diese Rechtsparadigmen aber drohen das diskursive Recht ideologisch zu überformen.73 Stabilität nämlich muss mit systematisch stillgestellten Diskursen erkauft werden. Diese Gefahr versuchen Habermas und Günther schließlich in einem prozedural, das heißt diskursiv rückversicherten Rechtsparadigma aufzufangen74 – also durch wieder neue Idealisierungen. Die diskursethische Formel einer dialogischen Kohärenz zeigt deutlich Hoffnungen und Gefahren des Konsensprojektes auf. Der kontrafaktisch unterstellte Anspruch auf Konsens und Richtigkeit, der faktisch in verständigungsorientierten, damit auch rechtlichen Kommunikationen getroffen wird und getroffen werden muss, droht permanent an Dissensen zu scheitern. Darüber hinaus offenbart der situative Fokus der Kohärenzperspektive die Fragilität eines zur Stabilität verurteilten Rechts, das im Konsensmodell von Fall zu Fall neu bedacht und erdacht werden muss, während es zugleich das kritische Potential des Rechts von Fall zu Fall weiter trägt.
67 Michelman (Fn. 65), S. 66–73. 68 Habermas (Fn. 63), S. 258 mit Verweis auf Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, Kronberg 1975, insb. S. 111–114. 69 Günther, Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral, in: Herberger/Neumann/Rüßmann, Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP Beiheft 45, Stuttgart 1992, S. 36–76, S. 56. 70 Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz für eine Theorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 20 (1989), S. 163–190, S. 182; Habermas (Fn. 63), S. 269. 71 Habermas (Fn. 63), S. 269. 72 Günther (Fn. 70), S. 181–183; ders. (Fn. 69), S. 63–68; Habermas (Fn. 63), S. 270 f. 73 Habermas (Fn. 63), S. 271. 74 Habermas (Fn. 63), Kap. IX, S. 468–537, insb. S. 516–537, S. 532.
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d. Robert Alexy: optimale Abwägung Die dogmatisch prominenteste Konsensformel liegt in der Forderung nach optimaler oder optimierter Abwägung. Sie ist bereits in Alexys Begriff des Rechtsprinzips mitgedacht, wenn er definiert, dass Prinzipien geböten, etwas relativ auf die rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße zu realisieren, während die rechtlichen Möglichkeiten immer auch durch andere Prinzipien mitbestimmt werden. Prinzipien begrenzen und bestimmen so den Raum, den jedes andere Prinzip beanspruchen darf. Sie sind nur in einem Prinzipienverbund sinnvoll denkmöglich. Die „logische“, gar „deduktive“ Konsequenz steht damit fest: „Der Prinzipiencharakter impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und dieser impliziert jenen.“75 Prinzipien weisen in hermeneutischen Zirkeln immer auf gegenläufige Prinzipien, ja auf ein ganzes Prinzipiengeflecht, in dem ihr eigener konkreter Gehalt erst bestimmbar wird. Im flüchtigen Moment der Entscheidung spiegelt sich in einem Prinzip die ganze normative Prinzipienwelt. Alexy aber belässt es nicht bei einer Optimierungstheorie. Seine Theorie der Prinzipien ist nur ein – wenn auch zentraler – Baustein in seinem „Modell des Rechtssystems“.76 Neben die Prinzipienebene tritt die geläufige Regelebene des Rechts77 und beide werden schließlich in einer Theorie der juristischen Argumentation aufgehoben.78 Aber auch die Konsensregel „Optimierung“, die letztlich in einer Abwägung des Einzelfalls mündet, ist ihrerseits komplexer strukturiert. Als „weiche Ordnung“ sei das Prinzipiensystem in verschiedenen Stufen zu konkretisieren und konsentieren:79 Auf die Feststellung einer ‚Spannungslage‘ zwischen zwei Prinzipien folge zunächst die Festlegung eines allgemeinen prima facie Vorrangs von einem Prinzip gegenüber dem nächsten. Diese so genannten „bedingten Vorrangrelationen“ nehmen ihrerseits wieder die Form einer Regel an. Erst nach dieser abstrakten Gewichtung der Prinzipien würden diese nach dem sogenannten „Abwägungsgesetz“, das heißt einer an der Eingriffsintensität orientierten Abwägung im Einzelfall,80 konkret und angemessen gewichtet werden. Hier zeigt sich die prinzipielle Einheit in einer normativen Vielfalt, mit deren Hilfe Alexy ein „Modell des Rechtssystems“ zwischen Prinzipien, Regeln, verschiedenen Argumentformen (etwa canones und Dogmatik)81, Argumentationslasten und diskursiven Idealen zu rekonstruieren versucht. Dennoch: Prinzipien dominieren letztlich auch in einem dualen Modell ihre Regeln und bestimmen als systematische Argumente zugleich den Argumentationsprozess.82 Prinzipienkonsens bleibt auch bei Alexy das Prinzip des Prinzips.
75 76 77 78 79 80 81 82
Alexy (Fn. 2), Grundrechte, S. 100; Alexy (Fn. 18), Gewichtsformel, S. 772. Alexy (Fn. 2), Rechtsregeln 2003, S. 233. Alexy (Fn. 2), Grundrechte, S. 117–125, insb. S. 122–125. Alexy (Fn. 2), Rechtsregeln 2003, S. 233. Vgl. Alexy (Fn. 2), Rechtsregeln 2003, S. 230–233. Vgl. die Definition bei Alexy (Fn. 18), Gewichtsformel, S. 772. Vgl. hierzu Alexy (Fn. 48), S. 288–332. Alexy (Fn. 18), Argumentation 2003, S. 120.
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III. PRINZIPIEN UND KONSENS: WAS BLEIBT? Die juristisch-interdisziplinäre Prinzipienumschau deutet Gemeinsamkeiten wie Verschiedenheiten der unterschiedlichen Prinzipienmodelle bereits an. Ihr Vergleich ist freilich nicht ungefährlich. Zu divergent sind Forschungskontexte und politische Hintergründe der jeweiligen Autoren: Dogmatisch-kontinentale Perspektiven – ob nun privat- oder verfassungsrechtlicher Herkunft – treffen auf common law-Traditionen, genauso wie sie mit philosophischen oder gesellschaftstheoretischen Rechtsmodellen konfrontiert werden. Man sollte Vorsicht walten lassen, wenn man der Versuchung unterliegt, Juristen und Philosophen von Larenz bis Habermas über ein Prinzip zu scheren. Dennoch wird der Versuch eines Resümees in vier Punkten gewagt. Erstens: Prinzipien dienen als begriffliche Position gegen einen „Begriffspositivismus“. Larenz’ nutzt sie im Rahmen seiner ‚Begriffspolemik‘, Dworkin gebraucht sie für seinen „general attack on positivism“. Dieser negativ-distanzierende Charakter des Prinzips verliert in den nachfolgenden Prinzipiengenerationen seine abgrenzende Schärfe und gewinnt bei Canaris und Alexy deutlich positivere, das heißt bestimmtere Konturen. Das Prinzip ist nicht mehr primär Nichtbegriff und Nichtregel, sondern als Argument, Grund und Gewicht ex definitione in das Prinzipiengeflecht eines beweglichen Systems oder eines Prinzipienoptimums eingebettet. Die dem Prinzip ursprünglich eingeschriebene Distanz zu Begriff und Regel weicht seiner harmonischkonsensuellen Signatur. Zweitens: Prinzipien hängen am Garn verschiedenster Gerechtigkeiten. In ihrem jeweiligen Gerechtigkeitsverständnis unterscheiden sich die Prinzipien aber stark. So ächzt die gerechte Rechtsidee bei Larenz und Canaris unter schwerem spekulativen Ballast, ohne dass die metaphysischen Implikationen ihrer ‚hermeneutisch-hegelianischen Dialektik‘83 deutlich ausgewiesen werden. Auch wenn beide versuchen, diese Rechtsidee im positiven Recht zu fundieren, leidet sie dialektisch an kaum zu bändigender Unbestimmtheit. Nur schwerlich reflektierbare Evidenzen drohen immer aufs Neue die vorgefundene positive Rationalität zu überformen. Auf der anderen Seite des divergenten Gerechtigkeitsspektrums findet sich der diskurstheoretische Anspruch auf „rationale Akzeptabilität“ oder „Richtigkeit“.84 Dieser (Geltungs-)Anspruch, der bei Habermas immer in der Spannung von Faktizi83 Larenz fundiert als Schüler Julius Binders seine Rechtsphilosophie und Methodenlehre zunächst hegelianisch, vgl. hierzu seine Dissertation: Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung, Leipzig 1927, seine Habilitationsschrift: ders., Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, Leipzig 1930, vgl. weiter ders., Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 1. Aufl. Berlin 1931, 2. Aufl. 1935, schließlich auch die ersten beiden Auflagen der Methodenlehre (Fn. 4), 2. Aufl. 1969. Zur dritten Auflage 1975 wendet Larenz sich aber von dem hegelianischen Modell ab und gibt seiner Methodenlehre mit Gadamers Hermeneutik einen neuen philosophischen Grund. Hegels Lehre vom konkret-allgemeinen Begriff wird nur noch in einem Exkurs behandelt. Vgl. hierzu Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, Ebelsbach 1981. Die nicht ausgewiesenen, spekulativen Unbestimmtheiten dieses Modells zeigen sich vor allem in dem sehr suggestiven, letztlich aber doch unklaren Verhältnis der Prinzipien zwischen Positivitiät und ‚Richtigkeit‘ und der Idee des Rechts, vgl. hierzu insb. Larenz, RR (Fn. 4). 84 Vgl. Habermas (Fn. 63), S. 243 f. oder auch Alexy (Fn. 41), S. 64–70 u. ö. Auf eine Darstellung der verschiedenen Varianten des diskursiv-gerechten Spektrums muss an dieser Stelle verzichtet werden.
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tät und Geltung konzeptionalisiert wird, ist deutlich ‚dünner‘ als die dialektische Gerechtigkeit von Larenz. In Habermas’ kommunikativer Theorie des Rechts stehen Moral- und Rechtsnormen immer nur in einem funktionalen Ergänzungsverhältnis zueinander und lassen eine hierarchische Doppelung des Rechts (richtigeres Recht/ bloß positives Recht) hinter sich.85 Zugleich oszilliert die diskursiv-richtigkeitsorientierte Normativität zwischen ideologieträchtiger Stabilisierung von positivem Recht in Rechtsparadigmen und ideologiekritischer Rekonstruktion des Rechts in immer neuen Idealisierungsschleifen. ‚Gerechtigkeit‘ oder Richtigkeit dient hier vornehmlich der Mobilisierung von Kritik gegenüber dem Bestehenden und nicht der Rechtfertigung einer vorgegebenen oder vorgeordneten normativen Welt. Die Gefahren einer ‚prinzipiellen‘ Gerechtigkeit bezeugt vor allem die theoretische Selbstgefälligkeit idealistisch-spekulativer Gerechtigkeitskonzeptionen, die immer drohen, in „wahre Jurisprudenz“ umzuschlagen: „Als Studenten hat Larenz mich [sc. Claus-Wilhelm Canaris] zum erstenmal tief beeindruckt, als ihm in der Vorgerückten-Übung ein Fehler unterlaufen war. Von einem Kommilitonen darauf hingewiesen, daß doch das Gegenteil dessen, was er soeben gesagt habe, in dem und dem Paragraphen stehe, ging er zum Katheder, warf einen Blick ins Gesetz, räumte seinen Irrtum ein und legte sodann, gewissermaßen ohne auch nur Luft zu holen, völlig überzeugend dar, daß und warum die gesetzliche Regelung sowohl inkonsequent als auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten unbefriedigend und die von ihm vorgetragene Lösung in jeder Hinsicht überlegen sei. Da erlebte man, daß wahre Jurisprudenz um Lichtjahre von bloßer Gesetzeskunde entfernt ist […].“86
Diese Gerechtigkeitsdrohung manifestiert sich insbesondere in der strukturellen Doppelung eines Rechts im Recht oder eines „Law behind Law“.87 Die dichotomischen Gegenüberstellungen von Prinzip und Begriff, Verfassung und einfachem Recht, von Nichtpositivität und Positivität oder Kohärenz und Konsistenz bleiben beständig verführerisch und verheißen stets ein besseres, höheres und gerechteres Recht. Die Technik ist alt-idealistisch.88 Drittens: Prinzipien sind fallbedingt, sie sind abhängig von den Umständen ihres Falls. Erst im Angesicht von Situation und Einzelfall lässt sich der konkrete Gehalt eines Prinzips, vor allem der Inhalt der kollidierenden Prinzipien bestimmen. Für sich und ohne andere Prinzipien lassen sich dem Prinzip keine normativen Direktiven abringen. ‚Es kommt immer darauf an‘, nämlich auf Fall und Konkurrenzprinzip. So bleibt ein ‚prinzipielles‘ Recht nur okkasionell, nur in Momentaufnahmen bestimmbar. Damit entsteht ein ‚prinzipielles Paradox‘: Je prinzipieller Recht rekonstruiert wird, das heißt, je mehr Prinzipien ihm untergeschoben werden, desto prinzipienloser wird es, weil Recht ‚prinzipiell‘ kaum noch vorhersehbar ist. Zugleich potenziert sich die Gerechtigkeitsdrohung. Die altbekannten Dikta vom „Jurisdiktionsstaat“ oder 85 Habermas (Fn. 63), S. 135–151. 86 Canaris, Nachruf Karl Larenz, JZ 1993, S. 404–406, S. 405. 87 Dickinson, „The Law behind Law“, Columbia Law Review 29 (1929), S. 113–146 und S. 285–319; vgl. auch Esser (Fn. 3), Grundsatz, S. 22 und 29. Auch Habermas weist auf diese „unplausible“ und „mißliche“ Doppelung hin, vgl. Habermas (Fn. 63), S. 135. 88 Siehe zu Savigny Rückert (Fn. 14), S. 241 ff. u. ö.; ders., Savignys Konzeption von Jurisprudenz und Recht, ihre Folgen und ihre Bedeutung bis heute, TGR 61 (1993), S. 65–95; vgl. auch W. Wilhelm, Das Recht im römischen Recht, in: Wieacker/Wollschläger, Jherings-Erbe, Göttingen 1970, S. 228–239.
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der „Richtermacht“ können hier verkürzt für eine ganze Kritiktradition stehen.89 Wenn erst ein Fall Gehalte und Inhalte eines Prinzips konstituiert, wird die ohnehin stark belastete legitimatorische Grundlage von Prinzipien noch poröser. Die demokratischen Bedingungen unserer Zeit und die Hoffnung auf legislativ legitimierte Steuerung von Recht und Gesellschaft erschweren die Frage zusätzlich: Wie ließe sich eine prinzipielle Entscheidung rechtfertigen? Auch hier erfüllen Prinzipien in ihren jeweiligen Theorien und Philosophien unterschiedliche Funktionen. Dworkins principles eines case law hegen die richterliche Entscheidungsgewalt grundsätzlich ein, da sie die vermeintlich ‚positivistische‘ Ermessensalternative eingrenzen und damit verrechtlichen. Larenz‘ Prinzipien richtigen Rechts erweitern als besseres Recht hingegen Macht und Entscheidungsgewalt von Richtern und wissenschaftlicher Dogmatik. Auch der privatrechtliche Kontext, der keinen expliziten und so legitimierten Prinzipienkatalog kennt, erhöht die regellose Rechtsgewalt. Demgegenüber ruht Alexys Prinzipientheorie der Grundrechte auf einem gänzlich anderen, nämlich positiven Fundament und erscheint – ob als Abwägung oder Optimierung – zur Anwendung und Konkretisierung des verfassten Grundrechtskatalogs keinesfalls unplausibel. Auch Alexys Versuch mit Hilfe von Vorrangregeln, abstrakten Gewichtungen oder einem kombinierten Prinzipien-/Regelmodell der Grundrechte diesen Fallfokus zumindest teilweise zu entschärfen, bezeugt einen gänzlich anderen funktionalen Kontext. Auf die Gefahren ‚prinzipieller‘ Fallabhängigkeit braucht hier aber nicht weiter hingewiesen werden: Law’s Empire droht stets in Lawyer’s Empire umzuschlagen. Viertens: Das Prinzip des Prinzips liegt im Konsens. Prinzipienkonzeptionen sind immer auf einen harmonischen Ausgleich der wider- und auseinanderstrebenden Prinzipien angewiesen. Ob der Konsens in einem beweglichen System, in der Kohärenz der Erwägungen, einem diskursiven Austausch oder einer optimalen Abwägung hergestellt wird, es herrscht Einheit, wo zuvor Vielfalt lebte. Die konsensuale Gerechtigkeit suggeriert dort einen vernünftigen Ausgleich, wo zuvor Konflikte, Politiken, Logiken, Interessen oder Werte unversöhnlich auf einander prallten. Dieses Problem einer Inkommensurabilität der Konflikte lässt sich sicherlich durch den Verweis auf „die Vergleichbarkeit ihrer [sc. der Prinzipien] Bedeutung für die Verfassung“ aufschieben oder aufheben.90 Vielleicht lassen die Konfliktpotentiale von Fall, Politik, Logik und Recht sich rechtlich gar nur so lösen. Ob der prinzipielle Konsens aber diesen ursprünglichen Konflikten angemessen ist, muss stark bezweifelt werden. Es scheint vielmehr, als ob unter dem Namen von Prinzip und Konsens gänzlich andere Konflikte unter falscher Flagge geführt würden. Die Tiefendimensionen dieser theoretischen wie praktischen Schwierigkeiten drohen nämlich, mit dem Verweis auf Optimierung und Konsens aus dem Blickfeld zu geraten. Die Prinzipieneinheit folgt
89 Vgl. etwa Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt am Main 1991, S. 159–199, S. 191–199 und die zahlreichen Arbeiten von Rüthers: Rüthers, Geleugneter Richterstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 2005, S. 2759–2761; ders., Wer schafft Recht? – Methodenfragen als Macht- und Verfassungsfragen, JZ 2003, S. 995–997; ders., Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, S. 365–371. 90 So Alexy (Fn. 18), Gewichtsformel, S. 781. Sehr kritisch Fischer-Lescano, Kritik der praktischen Konkordanz, KJ 2008, S. 166–177, S. 173: „Diese technizistische Prinzipiensprache des Rechtssystems […] bleibt, anders gesagt, blind für den gesellschaftlichen Konflikt.“
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letztlich einer anderen ‚Angemessenheit‘ und Logik als der ihres ursprünglichen Konflikts. Nüchtern und skeptisch beobachtet dies auch Niklas Luhmann: „Schließlich verdeckt das Prinzip in der Statik seiner Formulierung die Zeitlichkeit der Operationen des Systems, das laufende Wiederholen und Abändern, Kondensieren und Konfirmieren, distinguishing und overruling in der täglichen Praxis des Systems. Das mag dann dazu dienen, Einheit vorzutäuschen, wo im Zeitlauf Regeln gewechselt werden, also Inkonsistenz für Konsistenz auszugeben.“91
Zugleich weist Luhmann damit auf eine wichtige Hoffnung, der ein Prinzipienkonsens Ausdruck verleiht: die Einheit des Rechts. Einheit schafft dieser Konsens freilich nur noch unter okkasionellen Bedingungen, also von Entscheidung zu Entscheidung, von Operation zu Operation, von Abwägung zu Abwägung. Hier trifft H.L.A. Harts in anderem Kontext geäußerter Vorwurf des „romantischen Optimismus“, dass eben „alle unsere Werte […] sich letzten Endes in einem einzigen System“ unterbringen ließen, ins Mark.92 Seinen Gegenvorschlag formuliert er mit dem englischen Dichter John Milton: „All Discord Harmony not understood All Partial Evil Universal Good“93
IV. NORMENPLURALISMUS Mit Harts Einheitskritik ist die Alternative zum Prinzipienkonsens bereits angedacht. Sie ist keinesfalls ausgereift und formuliert lediglich ein noch auszuarbeitendes Programm einer pluralen Konzeption juristischer Dogmatik. Die vielleicht etwas modischen Mottos müssten lauten: Vielheit statt Einheit, Pluralität statt Homogenität, Heterarchie statt Hierarchie.94 Das bedeutet freilich keinen „Abschied vom Prinzipiellen“, sondern – im Sinne Odo Marquards – nur eine skeptische Mahnung. 95 Recht auch ‚prinzipiell‘ zu denken und zu richten ist zweifelsohne wichtig und richtig, gar unvermeidlich und notwendig. Dabei darf aber das Andere des Prinzips nicht aus den Augen verloren gehen. Dies zeigt sich etwa auch in den Analysen Alexys, der auf Regeln, Vorrangregeln, Dogmatiken etc. nicht verzichtet, sondern diese gerade zueinander ins Verhältnis zu setzen versucht.96 Genauso setzt Larenz nicht nur auf Prinzipien, sondern weist mit Typenlehre und funktionalen Begriffen oder auch in seiner Rechtsidee über diese hinaus.97 Auch die von Günther entworfene und von Habermas rezipierte Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
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Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 347 f. Hart, Recht und Moral, Drei Aufsätze, Göttingen 1971, S. 44 f. Zitiert nach Hart (Fn. 92), S. 45. Vgl. etwa bei Vesting, Rechtstheorie, München 2007, Rn. 129–132 u. ö.; hierzu auch Seinecke, Buchbesprechung zu Vesting, Rechtstheorie, KJ 2008, S. 467–470. 95 Vgl. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 4–22, insb. S. 17: „Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen.“ 96 Vgl. nur Alexy (Fn. 48), S. 288–348; ders., Rechtsregeln 2003, S. 233. 97 Vgl. Larenz (Fn. 4), ML, Kap. 6, S. 437–490.
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deutet auf die verschiedenen Logiken, die sich in normativen Räumen und Ordnungen einnisten, hin. Neben diesem allgemeinen Normenpluralismus lässt sich auch eine Vielheit von Prinzipienarten im prinzipiellen Raum selbst betonen. Josef Esser macht auf sie schon 1956 in seinem Prinzipienwerk Grundsatz und Norm aufmerksam: „Es ist vielerlei, was wir unter den ‚rechtsgrundsätzlichen‘ Erwägungen der Praxis und den Rechtsprinzipien, Maximen und Axiomen der Doktrin vor uns haben, das bemerkt schon der flüchtige Betrachter: Er findet Lehrprinzipien und Aufbauprinzipien, Grundgedanken des nationalen Rechtssystems und solche einer allgemein bekannten (‚universalen‘) Institution; Prinzipien, die sich aus geltenden Rechtsgrundsätzen als ratio ergeben, und solche, die von der Tradition hineingetragen worden sind; solche, die eine politische Verfassung als bindend proklamiert hat und andere, die von der Judikatur aufgestellt worden sind; materielle Rechtsprinzipien und heuristische oder Kunstprinzipien der Rechtsanwendung und endlich allgemeine oder oberste Prinzipien ‚jedes Rechts‘ überhaupt. Daher ist von vornherein klar, daß es keine Einheitsantwort auf die Frage nach der Rechtsnatur dieser Prinzipien insgesamt geben kann.“98
Eine Prinzipientheorie muss sich aber nicht zwingend in Pluralität verlieren. Den hier vorgestellten Prinzipiensystemen à la Larenz, Canaris, Dworkin oder Alexy lässt sich auch ein Ein-Prinzip-Modell – etwa mit dem Prinzip Freiheit – entgegenstellen.99 Wichtig scheint mir zunächst nur, die Vielfalt des Prinzipiellen im Prinzipiellen selbst als ersten Schritt auf dem Weg in eine normative Vielfalt zurück zu gewinnen. Auch diesen Schritt deutet Esser an, wenn er vom „pluralistischen Charakter (nicht dem bloßen ‚Stufenbau‘) unserer Rechtsquellen“ spricht.100 Dieser Normenpluralismus, der sich auch als ‚Polynormativität‘ begreifen ließe, leuchtet dunkel im „Arkanum des Rechts“101, das Esser in seinen späten Arbeiten immer wieder neu und vielschichtig, zwischen Grundsatz und Norm, zwischen Vorverständnis und Methodenwahl oder zwischen Topik und Dogmatik umkreist.102 Eine solche normplurale oder polynormative Theorie müsste sich dann den Eigenrationalitäten der verschiedenen Normenarten zuwenden, also nicht nur nach verschiedenen Prinzipien fragen, sondern den theoretischen Status und die praktischen Implikationen von Gesetzen, dogmatischen Regeln und rules, Präjudizien und precedents, Gewohnheitsrechten, Leitlinien und -fäden, Richtlinien, Rechtsparadigmen, Kollisionsnormen oder Be-
98 Esser (Fn. 3), Grundsatz, S. 2. 99 Vgl. hierzu Rückert (Fn. 5), BGB und seine Prinzipien, Rn. 47 f.; ders. (Fn. 5), Gesetzbuch ohne Chance?; ders., (Fn. 5) „Frei und sozial“, S. 56. 100 Esser (Fn. 3), Grundsatz, S. 14. 101 Der Begriff findet sich bei Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, in: Teubner, Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-) Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit, Stuttgart 2008, S. 9–36, S. 21. Teubner selbst schreibt ihn im mündlichen Vortrag Esser zu. 102 Esser (Fn. 3), Grundsatz; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, Frankfurt am Main 1970; ders., Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), S. 97–120; ders., Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, in: Baur/Esser/Kübler/Steindorff, Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Ludwig Raiser zum 70. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 517–539; ders., Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, Heidelberg 1979.
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reichslogiken103 und sonstigen juristischen Normformen, aber auch methodischen Regeln – den canones oder auch common-law Techniken (etwa dem distinguishing und dem overruling) – ausleuchten. Eine solche ernstgenommene Normenpluralität weist aber nicht schlicht auf alternative Normformen hin, sondern nimmt diese und ihren jeweiligen Rationalitätsanspruch ernst. Der entscheidende Punkt, den ein Normenpluralismus setzt, besteht in der Anerkennung anderer gleichberechtigter Normstrukturen, ohne gerechtigkeitssuggestive Hierarchie, einer Anerkennung einer antinomischen Struktur des Rechts,104 die sich nicht einfach entspannen lässt, sondern vor Probleme stellt, die – wie ein unvermittelter Blick in ein beißendes Paradox105 – kaum aushaltbar sind, aber manchmal eben notwendig, um sich von schlechten Sehgewohnheiten zu befreien. Prinzipien, Ordnung und Einheit können sein; sie müssen aber nicht. Adresse des Autors Ralf Seinecke Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Rechtsgeschichte Lehrstuhl Professor Dr. Joachim Rückert Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main.
103 Vgl. hierzu am Beispiel von Familienbürgschaften Teubner, Ein Fall von struktureller Korruption? Die Familienbürgschaft in der Kollision unverträglicher Handlungslogiken (BVerfGE 89, 214 ff.), KritV 2000, S. 388–404 und am Beispiel von Menschenrechten ders., Die Anonyme Matrix: zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure, Der Staat 45 (2006), S. 161– 187. 104 Vgl. etwa die klassischen Antinomien der Rechtsidee bei Radbruch mit dem vorstehenden Ibsen Zitat: „Haben Sie schon je einen Gedanken zu Ende gebracht, ohne auf einen Widerspruch zu stoßen?“, vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. Leipzig 1932, § 9, S. 70–75. 105 Vgl. hierzu die Arbeiten von Teubner (Fn. 101), S. 22, 24, 25–29; ders., Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit: Gegenseitige Heimsuchungen von System und différance, in: Koschorke/Vismann, Widerstände der Systemtheorie, Berlin 1999, S. 199–212, insb. S. 209–212 und ders., Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Joerges/Teubner, Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, S. 25–45.
ANDREAS MAURER/MORITZ RENNER* KOLLISIONSRECHTLICHES DENKEN IN DER RECHTSTHEORIE EINE SKIZZE I. GESELLSCHAFTLICHE FRAGMENTIERUNG Die Büchse der Pandora postmoderner Rechtstheorie heißt gesellschaftliche Fragmentierung. Ist sie einmal geöffnet, verliert das Recht die unschuldige Hoffnung auf seine Einheit unwiederbringlich. Dass die Büchse der Pandora dennoch geöffnet wurde, ist aber kein Zufall. Der schon von Max Weber konstatierte „Polytheismus der Moderne“ gewinnt nämlich gerade unter Bedingungen der Globalisierung eine neue Qualität. Die funktionale Ausdifferenzierung sozialer Systeme (Politik, Sport, Wirtschaft, Wissenschaft etc.), wie sie Niklas Luhmann beschreibt,1 hat die einheitsstiftende Semantik des Nationalstaats heute in weiten Teilen überlagert. Rechtsdogmatik wie Rechtstheorie können sich dieser Entwicklungsdynamik kaum entziehen. Wohl am sichtbarsten bildet die global agierende Wirtschaft Strukturen aus, welche die Funktionen des Rechts systemintern nachzeichnen, ohne aber selbst auf das (staatliche) Recht als Konfliktlösungsmechanismus angewiesen zu sein.2 Vor allem im internationalen Handel entwickeln sich so institutionelle Arrangements, die nicht nur in der Lage sind, verbindliche Normen zu kreieren, sondern diese auch im Rahmen von privaten Streitschlichtungsorganisationen anzuwenden und durchzusetzen. In anderen gesellschaftlichen Teilbereichen sind ähnliche Ausdifferenzierungstendenzen auf globaler Ebene erkennbar. Der internationale Sport etwa folgt Regeln, die weitgehend von Sportverbänden aufgestellt und durch den Verweis an private Schiedsgerichte staatlicher Kontrolle entzogen werden.3 Internationale Normierungen sowohl technischer Standards als auch von Qualitäts- und Qualitätsmanagementstandards (z. B. ISO 9001), aber auch Standardisierungen im Finanzbereich wirken faktisch wie Recht,4 ebenso Unternehmensstandards im Bereich der „Corporate Social Responsibility“.5 Die Vergabe von Internetadressen erfolgt durch die ICANN, ein privates Unternehmen, das Streitschlichtungsleistungen für Konfliktfälle gleich
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Andreas Maurer, LL.M. (Osgoode Hall, Toronto) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. Moritz Renner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin. Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987. Grundlegend hierfür ist die von der Institutionenökonomik aufgezeigte funktionale Äquivalenz rechtlicher und nichtrechtlicher „Governance-Mechanismen“, vgl. bes. Williamson, The Economics of Governance, American Economic Review 2005 (95), S. 1–18. Foster, Is There A Global Sports Law?, Entertainment Law 2003 (2), S. 1–18. Zur Aufarbeitung aus Sicht des Öffentlichen Rechts insbesondere von Standardsetzungen im Finanzbereich vgl. Möllers, Transnationale Behördenkooperation. Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme transnationaler administrativer Standardsetzung, ZaöRV 2005 (65), S. 351–389. S. etwa jüngst Herberg, Global Legal Pluralism and Interlegality: Environmental Self-Regulation in Multinational Enterprises as Global Law-Making, in: Dilling et. al., Responsible Business: SelfGovernance and Law in Transnational Economic Transactions, Oxford 2008, S. 17–40.
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selbst mit vermittelt.6 Die Verhaltenskodizes der Wissenschaft orientieren sich ohnehin an den Standards einer globalen „scientific community“.7 Schon innerhalb des Nationalstaats wird die Rechtsdogmatik den Konfliktlagen, die sich aus dieser postmodernen Unübersichtlichkeit ergeben, kaum gerecht. Wenn es darum geht, die konfligierenden (und inkommensurablen) Eigenlogiken unterschiedlicher gesellschaftlicher Diskurse miteinander in Ausgleich zu bringen, halten die Abwägung von Interessen und die Herstellung so genannter praktischer Konkordanz für die wirklichen hard cases schon lange keine überzeugenden Lösungsansätze mehr bereit. Gerade in der Zivilrechtsprechung erfolgt eine juristische Rekonstruktion dieser Rationalitätenkollisionen über die Theorie der Drittwirkung von Grundrechten im Privatrecht – wenn überhaupt – nur sehr unzureichend.8 Die Bearbeitung von Kollisionslagen, die aus der Autonomisierung (und Internationalisierung) sozialer Teilbereiche und deren Emanzipation vom (staatlichen) Recht erwachsen, ist daher Gegenstand wie Prüfstein neuerer rechtstheoretischer Entwicklungen. Vielversprechende Ansatzpunkte für eine rechtstheoretische Konzeption gesellschaftlicher Konfliktbewältigung, die einer zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung Rechnung trägt, finden sich aber bereits bei Rudolf Wiethölter, der 19779 das Kollisionsrechtsdenken des Internationalen Privatrechts nicht nur generalisiert und für die allgemeine Rechtstheorie fruchtbar gemacht hat, sondern weitergehend noch die Idee der ‚Rechtskollisionen‘ „als die zentrale Kategorie der juridischen Rekonstruktion gesellschaftlicher Widersprüche“ etabliert hat.10 Zentrale Aufgabe einer solchen kollisionsorientierten Rechtstheorie ist danach die Suche nach „MetaNormen“, einem „selbstgerechten Kollisionsrecht“, einem „Rechts-Verfassungsrecht“, das in der Lage ist, soziale Kollisionslagen im Rahmen einer „Rechtstheorie als Gesellschaftstheorie“ durch Transzendierung des begrenzten rechtlichen Horizonts aufzulösen und dabei dennoch das Medium Recht nicht zu verlassen, d. h. immer rechtsimmanent zu argumentieren.11 Das Internationale Privatrecht soll dabei als „Orientierungsverwandte“ dienen, dies aber „nur im Gemüt, nicht im Geblüt“.12 Von ihm soll die Rechtstheorie Denkund Argumentationsstrukturen übernehmen, diese aber nutzbar machen für ein weitergehendes „Kollisionsrecht als Herausforderungs- und Verbesserungsrecht in den
6 Siehe hierzu im Einzelnen Calliess, Online Dispute Resolution: Consumer Redress in a Global Market Place, German Law Journal 2006 (7), S. 647–660, S. 651. 7 Konfliktlinien zeichnen sich dabei insbesondere zum Recht des geistigen Eigentums ab, vgl. Long, The Dissonance of Scientific and Legal Norms, Social Epistemology 1999 (13), S. 165–181. 8 Teubner, Ein Fall struktureller Korruption? Die Familienbürgschaft in der Kollision unverträglicher Handlungslogiken, KritV 2000 S. 388–404 ff.; siehe auch jüngst Fischer-Lescano/Maurer, Grundrechtsbindung von Betreibern öffentlicher Räume, NJW 2006 S. 1393–1396. 9 Wiethölter, Begriffs- oder Interessenjurisprudenz – falsche Fronten im IPR und Wirtschaftsverfassungsrecht. Bemerkungen zur selbstgerechten Kollisionsnorm, in: Lüderitz/Schröder, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung im Ausgang des 20. Jahrhunderts. Bewahrung oder Wende? Festschrift für Gerhard Kegel, Frankfurt am Main 1977, S. 213–263. 10 Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Joerges/Teubner, Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, S. 25–45, S. 26. 11 Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, in: Joerges/Teubner (Fn. 10), S. 13–21, S. 18 f.; Teubner (Fn. 10), S. 25–45, S. 26. 12 Wiethölter (Fn. 11), S. 13–21, S. 18.
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praktischen Anwendungsangemessenheitskämpfen (also in der Regel: kontrafaktisch!)“13. Kollisionsrechtliches Denken in der Rechtstheorie heißt damit bei Rudolf Wiethölter, der durchaus die intellektuelle Nähe zur Frankfurter Schule sucht, immer auch Rechtskritik. Sein Rechtsverfassungsrecht fordert als „poietisches Unsystem“ Einheit und System des Rechts zur Selbstrechtfertigung heraus: „,Poietisches Unsystem‘ – das ist ‚Rechts-Pflege‘ als Pflege der Rechtsparadoxie selbst, ihrer Erhaltung und Behandlung zugleich“.14 Wiethölters kollisionsrechtlichem Denken ist ein emanzipatorischer wie dialektischer Impetus eigen; es zielt auf die Offenlegung der gesellschaftlichen Widersprüche, welche durch die Beschwörung der Einheit des Rechts nur unzureichend verdeckt werden, zugleich aber auch auf deren Transformation in und Bewältigung als rechtliche Kollisionslagen. Allgemeingültige Kollisionsregeln zu dieser Bewältigung sozialer Konfliktlagen anzugeben, könne sich die Theorie aber angesichts der Komplexität spätmoderner Gesellschaften nicht anmaßen. Allenfalls könnten im Rahmen einer kommunikativ gewendeten Vernunftmoral noch die Bedingungen angegeben werden, unter denen eine Verständigung über die Bildung von Regeln möglich sei, dass sich nämlich – und hier zeigt sich wieder die deutliche Nähe zur Kritischen Theorie – „jeder in jeden anderen versetzen können muß (…), um in der reflexiv ‚aufgehobenen‘ Parteilichkeit (…) Unparteilichkeitspositionen zu bestimmen.“15 Notwendig sei daher ein Paradigmenwechsel hin zu einem „prozeduralen“ Rechtsverständnis: „Als Prozeduralisierung des Rechts lässt sich die Transformation eines gesellschaftlichen Zusammenhangs von Rechts-Freiheiten (verbunden mit Regel-Ausnahme- oder Interessen-AbwägungsEntscheidungsmustern) in ein System von Rechtfertigungen eines jeweiligen neuen Zusammenhanges von ‚Ideen‘ und ‚Interessen‘ begreifen. (…) Wegen der inhaltlichen Nichtentscheidbarkeit historisch-sozialer Entwicklungen werden Kompetenzen zugewiesen für Prognosen und Verantwortlichkeiten.“16
Wiethölters Anstöße und – im besten Sinne – Provokationen sind in der Privatrechtstheorie verschiedentlich aufgenommen und in unterschiedliche Richtungen fortentwickelt worden, im rechtspraktischen Diskurs aber über lange Zeit marginal geblieben. Erst in jüngster Zeit scheint es zu einer Wiederbelebung kollisionsrechtlichen Denkens auch in der Rechtsdogmatik zu kommen, wobei diese insbesondere vom öffentlichen Recht ausgeht, welches auf der einen Seite die „Fragmentierung des Völkerrechts“ zu entdecken beginnt,17 andererseits mangels eines spezifischen öffentlichen Kollisionsrechts schon auf die aus der Internationalisierung des Rechts erwachsenden Herausforderungen kaum vorbereitet scheint.18 Wenn nun allerorten eine neue „Meta-
13 Wiethölter (Fn. 11), S. 19. 14 Wiethölter (Fn. 11), S. 19. 15 Wiethölter, Materialisierungen und Prozeduralisierungen von Recht, in: Brüggmeier/Joerges, Workshop zu Konzepten des postinterventionistischen Rechts am 30. und 31. März 1984 in Bremen. Materialien des Zentrums für Europäische Rechtspolitik 4, Bremen 1984, S. 25–64, S. 59. 16 Wiethölter (Fn. 15), S. 57. 17 Siehe besonders International Law Commission, Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, verfügbar unter: http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/ english/draft%20articles/1_9_2006.pdf (zuletzt abgerufen: 28.06.2010). 18 Vgl. etwa Ruffert, Der transnationale Verwaltungsakt, Die Verwaltung 2001, S. 453–485.
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Dogmatik des Kollisionsrechts“19 gefordert wird, bleibt allerdings häufig unklar, ob es sich bei dieser Berufung auf kollisionsrechtliche Topoi nur um eine modische Sprechweise handelt oder ob damit auch konkretere rechtstheoretische wie rechtsdogmatische Postulate verbunden sind. Wir möchten daher im Folgenden zunächst der Frage nachgehen, ob – und wenn ja: was – die Rechtstheorie tatsächlich vom Kollisionsrecht, und das heißt zunächst: vom Internationalen Privatrecht, lernen kann. Dazu skizzieren wir drei unterschiedliche Konzeptionen einer kollisionsrechtlich inspirierten Privatrechtstheorie, welche allesamt von Wiethölters Übertragung internationalprivatrechtlicher Denkfiguren in die Rechtstheorie ausgehen, diese aber mit je unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Denkmodellen verknüpfen (dazu unten II.). Im Anschluss hieran möchten wir aufzeigen, wie und mit welchen Folgen diese theoretischen Ansätze jeweils in den Bereich der Rechtsdogmatik zurückprojiziert werden (dazu unten III.). Anschließend versuchen wir eine Synthese der dargestellten Modelle und zeigen mögliche Perspektiven für die Fortentwicklung kollisionsrechtlicher Ansätze in der Rechtstheorie auf (dazu unten IV.). Nachdem wir einige damit verbundene Probleme skizziert haben, die besonders im Verhältnis von staatlichem Recht und nichtstaatlichen Normordnungen auftreten (dazu unten V.), schließen wir mit einem kurzen Fazit (dazu unten VI.). II. KOLLISIONSRECHTLICH INSPIRIERTE RECHTSTHEORIE Die Rezeption und Fortentwicklung des Wiethölterschen Gedankenguts verbindet sich in der deutschen Rechtstheorie im Wesentlichen mit drei Namen: Gunther Teubner, Karl-Heinz Ladeur und Christian Joerges. Sie alle verfolgen das Projekt einer kollisionsrechtlich ausgerichteten Rechtstheorie und tun dies in je unterschiedlicher Weise. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Problemstellung: Ausgangspunkt ist das Prekärwerden der Aufhebung von Gesellschaft und Recht in der Form des Nationalstaats. Auf dieser Grundlage werden drei Konfliktlinien ausgemacht, die Gunther Teubner folgendermaßen identifiziert: 1.) Konflikte zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen, 2.) Konflikte zwischen staatlichem Recht und pluralen gesellschaftlichen Quasi-Rechtsordnungen sowie 3.) Konflikte zwischen Teilrechtsordnungen und innerhalb des staatlichen Rechts.20 „Staatliches Recht“ muss dabei sinnvollerweise als Inbegriff allen Rechts verstanden werden, das zumindest mittelbar auf souveräne Setzung durch Nationalstaaten rückführbar ist, d. h. unter Einschluss des klassischen Völkerrechts als zwischenstaatlichen Rechts. Wir werden die drei genannten Konfliktlinien im Folgenden anhand von Beispielen illustrieren, zunächst gilt es jedoch, die unterschiedlichen theoretischen Ansätze, welche sich unter dem Banner des kollisionsrechtlichen Denkens versammeln, in aller Kürze zu skizzieren.
19 Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der ökonomischen Analyse des Rechts, RabelsZ 2000 (64), S. 60–103 ff.; hieran anschließend Kokott/Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVdStRL 2004 (63), S. 7–100, S. 66. 20 Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt 1996, S. 133.
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1. TEUBNER Gunther Teubner steht Wiethölters Grundlegung des kollisionsrechtlichen Denkens in der Rechtstheorie in vielerlei Hinsicht am Nächsten, verbindet damit aber einen dezidiert systemtheoretischen Ansatz, welcher unmittelbar an das Autopoiesiskonzept des späten Niklas Luhmann anknüpft.21 Entgegen dem verbreiteten Vorurteil von der konservativ-apologetischen Stoßrichtung systemtheoretischer Positionen wendet Teubner das Luhmannsche Gedankengut allerdings in einer dekonstruktiven Lektüre zum kritischen Instrument.22 Die Pluralität gesellschaftlicher Diskurse in einer funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft ist ihm nicht nur Ausgangspunkt aller Überlegungen sondern durchaus auch normatives Leitbild eines „interdiskursiven“ Projekts, das auf die Herstellung öffentlicher Güter außerhalb des engen Rahmens institutionalisierter nationalstaatlicher Politik abzielt.23 Zumindest rhetorischer Bezugspunkt ist dabei der „societal constitutionalism“ Sciullis: Das Abdanken des staatlichen Rechts eröffne neue Möglichkeiten gesellschaftlicher Normbildung, die sich eng an den Bedürfnissen der jeweils betroffenen Sozialbereiche orientierten.24 Aus dieser gesellschaftstheoretischen Grundlegung erwachsen bei Teubner vor allem zwei rechtstheoretische Konsequenzen. Deren erste betrifft den Begriff des Rechts selbst: Recht kann für ihn nicht mehr nur staatlich gesetztes Recht sein, sondern entsteht auch in sozialen Zusammenhängen, welche die Grenzen des Nationalstaats übersteigen. Mit dieser These positioniert sich Teubner im jahrzehntealten Streit um die „neue lex mercatoria“, die selbstgeschaffenen Normen der internationalen Kaufmannschaft, welchen er im Unterschied zur nach wie vor herrschenden Meinung in der deutschen Rechtslehre Rechtsnormqualität zumisst.25 Derartige Rechtsbildungsprozesse sollen allerdings nicht auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt sein, auch von der lex sportiva, der lex informatica und gar der lex constructionis ist bald die Rede.26 Zweite Konsequenz aus Teubners gesellschaftstheoretischen Prämissen ist ein gewandeltes Verständnis der Funktion des Rechts. Dieses könne die gesellschaftliche Fragmentierung ohnehin nicht mehr einholen, habe seine Programme mithin zu beschränken auf die „Kompatibilisierung“ gesellschaftlicher Teilrationalitäten und die Verhinderung struktureller Dominanz bestimmter partikularer Handlungslogiken – in der Sprache der Systemtheorie etwa die Verhinderung einer „strukturellen Korruption“
21 Trotz gewisser gegenseitiger Irritationen, vgl. Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, ARSP 1982 (68), S. 13–59 ff. einerseits und Luhmann, Einige Probleme mit ,reflexivem Recht‘, ZfRSoz 1985 (6), S. 1–18 ff. andererseits. 22 Vgl. etwa Teubner, Des Königs viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts, Soziale Systeme 1996 (2), S. 229–255. 23 In diese Richtung besonders Teubner, Vertragswelten: Das Recht in der Fragmentierung von Private Governance Regimes, RJ 1998 (17), S. 234–265. 24 Teubner, Privatregimes: Neo-spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft, in: Simon/Weiss, Zur Autonomie des Individuums: Liber Amicorum Spiros Simitis, Baden-Baden 2000, S. 437–453. 25 Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, RJ 1996 (15), S. 255–290. 26 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt am Main 2006.
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des Kunstsystems durch das Wirtschaftssystem.27 Der Übergang zu einem kollisionsrechtlichen Paradigma bedeutet bei Teubner: Das Recht muss zu einem Recht der Diskurskollisionen werden, diese abbilden und den „clash of rationalities“28, ohne ihn allerdings auflösen zu können, in die Bahnen rechtsförmiger Konfliktbewältigung lenken. Deutlich wird hier auch der Anschluss an die Prozeduralisierungsthese Wiethölters, welcher Teubner in seinem „reflexiven Recht“ eine eigene Form gibt.29 2. LADEUR Obgleich im Öffentlichen Recht zu Hause, schließt auch Karl-Heinz Ladeur schon früh an den kollisionsrechtlichen Ansatz Wiethölters an. In seiner grundlegenden Monographie zur Methode der Abwägung im Verwaltungsrecht von 1984 orientiert er sich dabei ebenso wie Teubner an systemtheoretischen Annahmen über die Fragmentierung gesellschaftlicher Subjektivität. „,Unordnung‘“, so formuliert er, „scheint sich immer mehr als das höhere Organisationsprinzip der Natur zu erweisen“.30 Nach der theoretischen Destitution des Subjekts31 könne es „keine Alternative zum strategischen pluralen Recht geben. Diese ist insbesondere nicht in einem reduktiven Rechtskonzept zu finden, das Recht (wieder) auf die Steuerung relativ ‚gesicherter‘ Kausalzusammenhänge umstellen will. Im Gegenteil: der strategische Charakter des Rechts, das nicht mehr in eine bestimmte Hierarchie von Formen oder Prinzipien eingebaut ist, sondern differentiell, ‚prinzipien‘- und ‚standpunktlos‘ horizontale Kompatibilisierung von organisationalen multiplen Handlungsrationalitäten gewährleisten und die Mechanismen der Konstitution/ Destitution von Subjektivität als relationale Konstellation von Kräfteverhältnissen abbilden muss, ist (…) noch zu forcieren.“32
Zugleich kritisiert er aber auf eben dieser Grundlage Luhmanns Konzeption des Rechtssystems als zu vereinfachend. Rechtsnormen seien nämlich – wie es gerade die Methode der Abwägung zeige – nicht nur konditional konstruiert, sondern es entwickelten sich unterschiedliche „Rechtsarenen“ als Spiegelung der gesellschaftlichen Fragmentierung, die untereinander durch „funktionales Kollisionsrecht“ kompatibel gehalten werden müssten: „Die Beobachtung der Gesellschaft als im Staat zusammenzufassende Einheit stößt mehr und mehr an ihre Grenzen, da der Staat sich pluralisiert und die Heterarchie der Gesellschaft an sich selbst abbildet“33
Daraus leitet Ladeur die normative Folgerung ab, Staat und Recht müssten sich auf die „Selbstorganisationsprozesse der Gesellschaft“ einlassen, letztere müssen „aufei27 28 29 30 31 32 33
Teubner, Vertragswelten: Das Recht in der Fragmentierung von Private Governance Regimes, RJ 1998 (17), S. 234–265. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Collisions: The Vain Search for Legal Unity in the Fragmentation of Global Law, Michigan journal of international law 2004 (25), S. 999–1046, 1007. Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, ARSP 1982 (68), S. 13–59. Ladeur, „Abwägung“ – ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts. Von der Einheit der Rechtsordnung zum Rechtspluralismus, Frankfurt am Main 1984, S. 226. Ladeur (Fn. 30), S. 121 ff. Ladeur (Fn. 30), S. 229 f. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, Berlin 1995, S. 160 f.
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nander bezogen und so füreinander durchlässig gehalten werden“.34 In der Wissensund Informationsgesellschaft solle das Recht „der organisierten, prozeduralen und pluralen Wissenserzeugung“ einer in selbstorganisierte epistemische Netzwerke fragmentierten Gesellschaft dienen.35 Das kollisionsrechtliche Denken wird damit kognitiv gewendet, die gesuchten Meta-Normen im Sinne Wiethölters könnten nur „kognitive Meta-Normen“ sein, die etwa im Bereich des Verwaltungsrechts als „prozedurale Meta-Regeln“ Selbstregulierungsmechanismen durch vertragliche oder informale Kooperation von staatlichen Behörden und privaten Unternehmen ermöglichen.36 Damit verbinden sich bei Ladeur dezidiert normative Aussagen über die Rolle eines Staates, der sich – ganz im Sinne F.A. Hayeks – das zur Steuerung der Gesellschaft notwendige Wissen von vornherein nicht anmaßen könne: „Der liberale Verfassungsstaat ist auf die Abstimmung und auf die Selbstordnungsfähigkeit der Gesellschaft angewiesen, die sich in dem Bestand an Wissen, Konventionen, Relationierungsmustern, Organisationsbildungen ausdrückt“.37 3. JOERGES Christian Joerges ist unter den Begründern des kollisionsrechtlichen Denkens in der Rechtstheorie derjenige, der auch in dogmatischer Hinsicht am stärksten kollisionsrechtlich gearbeitet hat. 1970 wird er in Frankfurt bei Wiethölter mit einer Arbeit zum „Funktionswandel des Kollisionsrechts“38 promoviert. Er gilt als einer der Hauptvertreter der in den 1970er Jahren vielfach geforderten „Politisierung“ des Internationalen Privatrechts39 und versucht so zunächst, das Kollisionsrecht mit gesellschaftstheoretischen Erwägungen anzureichern, bevor er dann beginnt, kollisionsrechtliche Denkfiguren nicht nur für eine Theorie des internationalen Wirtschaftsrechts40, sondern insbesondere auch für eine theoretische Analyse der europäischen Rechtsintegration fruchtbar zu machen. Die Entscheidung des EuGH im Fall Cassis de Dijon dient ihm dabei als Ausgangspunkt einer Theorie der „Konstitutionalisierung durch Kollisionsrecht“, die in der Folge auch auf völkerrechtliche Rechtsregimes übertragen wird. Auch hier steht am Anfang der Befund eines Politik- und Rechtsversagens, konkret des Versagens nationalstaatlicher Regulierung, die Betroffenen dieser Regulierung auch jenseits staatlicher Grenzen in die entsprechenden Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Es geht mithin um ein strukturelles „Demokratiedefizit des Nationalstaats“41.
34 Ladeur (Fn. 33), S. 171. 35 Ladeur (Fn. 33), S. 185. 36 Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft. Zur Verteidigung der Rationalität der „Privatrechtsgesellschaft“, Tübingen 2006, S. 325 ff. 37 Ladeur (Fn. 36), S. 391. 38 Joerges, Zum Funktionswandel des Kollisionsrechts, Tübingen 1971. 39 Vgl. Rehbinder, Zur Politisierung des Internationalen Privatrechts, JZ 1973 S. 151–158. 40 S. bes. Joerges, Vorüberlegungen zu einer Theorie des internationalen Wirtschaftsrechts, RabelsZ 1979 (43), S. 6–72. 41 Joerges, Kollisionsrecht als verfassungsrechtliche Form: Das Beispiel der Verrechtlichung des internationalen Handels durch die WTO, in: Deitelhoff/Steffek, Was bleibt vom Staat? Demokratie, Recht und Verfassung im lobalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009.
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Dieses, so Joerges, lasse sich aber mit den Mitteln des Kollisionsrechts beheben, wobei er zwischen zwei Ebenen des Kollisionsrechts unterscheidet. Was Joerges als „Kollisionsrecht erster Ordnung“ bezeichnet, bewegt sich noch nahe am Paradigma des klassischen IPR. Wie Joerges an der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten exemplifiziert, geht es hier – ganz im Wiethölterschen Sinne – um die Entwicklung von (prozeduralen) Meta-Normen, die für die Konfliktparteien zustimmungsfähig sind, auch wenn eine bestimmte (materiale) Entscheidungsregel dies möglicherweise nicht wäre. So sei etwa unter den Mitgliedstaaten der EU konsentiert, dass die Ermöglichung des Freihandels ein Ziel der Union ist, das marktbeschränkende nationale Regelungen zumindest rechtfertigungsbedürftig macht. Cassis de Dijon etabliere damit letztlich eine Kollisions- als Rechtfertigungs- und Beweislastregel. Ergänzt werde diese gleichsam negative Kollisionsregel aber um ein „Kollisionsrecht zweiter Ordnung“. Hiermit werden, vor allem am Beispiel europäischer und internationaler Regelungszusammenhänge („Governance“), die Entstehungsbedingungen für das kollisionsrechtliche Meta-Recht in den Blick genommen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Joerges seinen kollisionsrechtlichen Ansatz ganz entschieden in den Zusammenhang eines legitimatorischen Projekts stellt. Er fragt damit explizit nach dem demokratischen Fundament der Kollisionsregeln, wobei er Ansätze hierfür etwa im „deliberativen Supranationalismus“ des europäischen Ausschusswesens erblickt. Er schließt damit – in offensichtlichem Gegensatz zu Ladeur – vor allem an die Kritische Theorie Habermasianischer Observanz an, obwohl er von Habermas selbst für sein Projekt keine Zustimmung erwartet.42 Bei alledem bleibt Joerges allerdings, auch wenn er deren Defizite kritisiert, weitgehend einer nationalstaatlichen Perspektive verhaftet; die „Anerkennungsfähigkeit“ gerade privater/gesellschaftlicher Normgebungsstrukturen scheint bei ihm nach wie vor auf eine Anerkennung durch die im Nationalstaat verfasste politische Gemeinschaft zu verweisen. III. BEDEUTUNG FÜR DIE RECHTSDOGMATIK Ausgehend von derart unterschiedlichen theoretischen Prämissen versuchen alle der vorgestellten Autoren, ihre theoretischen Konzeptionen des Kollisionsrechts auch für die Rechtsdogmatik fruchtbar zu machen. Dabei werden je unterschiedliche Rechtsbereiche in den Blick genommen, welche zugleich zum Nachweis der gesellschaftspolitischen Relevanz der jeweiligen Theorie dienen sollen. Die jeweiligen Schwerpunktsetzungen der Autoren entsprechen in hohem Maße den von Teubner identifizierten drei Hauptkonfliktlinien, auf die das kollisionsrechtliche Denken abzielt. 1. KONFLIKTE ZWISCHEN GESELLSCHAFTLICHEN TEILBEREICHEN (TEUBNER) Gunther Teubner selbst nimmt vor allem Konflikte zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen in den Blick. Er sieht den dogmatischen Anwendungsbereich seiner The42 Vgl. C. Joerges, The Idea of a Three-Dimensional Conflicts Law as Constitutional Form, RECON Online Working Paper 2010/05, verfügbar unter: http://www.reconproject.eu/main.php/RECON_wp_1005.pdf?fileitem=5456402 (zuletzt abgerufen: 29.06.2010),
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orie in erster Linie im transnationalen Raum. Im Vordergrund steht für ihn – systemtheoretisch gesprochen – die Ablösung der territorialen Segmentierung der Weltgesellschaft durch ihre funktionale Ausdifferenzierung. Kollisionsrechtliches Denken soll eine Antwort auf die Frage ermöglichen, wie das Recht seine internen Strukturen diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, die allgemein unter dem Schlagwort der Globalisierung diskutiert werden, anpassen kann. So rekonstruiert er etwa den in der globalen Öffentlichkeit breit diskutierten Streit um geistige Eigentumsrechte an HIV/Aids-Medikamenten als „Kollision unverträglicher Handlungslogiken“, die sich im „Widerspruch von Normen wirtschaftlicher Rationalität zu im Gesundheitskontext gebildeten Normen“ äußere.43 In dem Medikamentenkonflikt, der vor südafrikanischen Gerichten und der südafrikanischen Wettbewerbsbehörde ausgetragen wurde, hatten sich die HIV-infizierten Beschwerdeführer gegenüber den beklagten internationalen Pharmaunternehmen darauf berufen, dass deren Preispolitik gegen südafrikanisches Wettbewerbsrecht wie auch gegen die Menschenrechte verstoße.44 Die Wettbewerbskommission gab den Beschwerdeführern im Grundsatz Recht. Die Streitigkeit wurde letztendlich durch einen Vergleich beigelegt, in dem sich die Pharmaunternehmen zu einer günstigen Lizensierung ihrer Medikamente an afrikanische Generikahersteller verpflichteten.45 Ein Konfliktfall wie dieser zeige exemplarisch, so Teubner, dass die im staatlichen Recht tradierten Bewältigungsstrategien für soziale Konflikte, etwa die Theorie der horizontalen Grundrechtswirkung, im transnationalen Raum versagen. Wenn nämlich mit dem nationalstaatlichen politischen System der Adressat für jede Forderung nach der – klassischerweise durch Abwägung zu erreichenden – gerechten Zuteilung von Rechtspositionen („suum cuique“) entfalle, dann entfalle damit auch die Hoffnung auf eine dauerhafte Aussöhnung der konfligierenden Wertmaßstäbe überhaupt (hier: wirtschaftliche Effizienz vs. Gesundheit).46 Rechtlich behandelbar werde der Konflikt nur dann, wenn es gelinge, adäquate Kollisionsnormen, genauer: „abstrakt-generelle Inkompatibilitätsnormen“47 für das Verhältnis der konfligierenden Handlungslogiken der betroffenen Sozialbereiche aufzustellen. All dies bleibt zunächst tatsächlich weitgehend abstrakt, lässt sich doch das grundlegende Dilemma der Inkommensurabilität und fehlenden wechselseitigen Anschlussfähigkeit selbstreferentieller Teildiskurse in der postmodernen Gesellschaft gerade nicht auflösen. Folgerichtigerweise meint Teubner, dass überhaupt nur ein Teil der von ihm konstatierten Diskurskollisionen rechtlich rekonstruierbar sei, und „wiederum nur ein Bruchteil solcher juridifizierter Kollisionen lässt sich mit Hilfe von In-
43 Teubner, Die anonyme Matrix: Menschenrechtsverletzungen durch „private“ transnationale Akteure, Der Staat 2006 (45), S. 161–187, S. 184. 44 Teubner (Fn. 43), S. 184. 45 Vgl. http://www.tdc.org.2a/Dokuments/DrugCompanics/TAU-GSK-Settlement-20031209.doc. 46 Man wird an dieser Stelle allerdings anfügen müssen, dass wohl auch im nationalstaatlichen Rahmen letztlich nichts anderes galt, vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 97: „Die Bezugnahme auf Werte eröffnet die Möglichkeit, sich Legitimität zu beschaffen und sich zugleich die Entscheidung von Wertkonflikten – also aller Entscheidungen – offen zu halten.“; zum nationalen Verfassungsrecht auch schon Teubner (Fn. 8), S. 388–404. 47 Teubner, Die anonyme Matrix: Menschenrechtsverletzungen durch „private“ transnationale Akteure, Der Staat 2006 (45), S. 161–187, S. 184.
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kompatibilitätsnormen lösen“48. Angedeutet werden konkretere Kollisionsregeln für die Auflösung von Konflikten zwischen inter- und transnationalen Rechtsregimes in den gemeinsam mit Andreas Fischer-Lescano verfassten „Regime-Kollisionen“ (2006). Als rechtliche Strategien erörtert werden dort etwa die Formulierung rechtsregimespezifischer Gemeinwohlbegriffe an Stelle eines universellen ius cogens49, die Etablierung gerichtlicher Beobachtungsbeziehungen innerhalb des „polyzentrischen“ Weltrechtssystems50 und nicht zuletzt eine rechtliche/gerichtliche Selbstlimitierung als „rechtliche Rückgabe von Entscheidungen an andere [Sozial]Systeme“51 2. GESELLSCHAFTLICHE SELBSTORGANISATION UND –REGULIERUNG (LADEUR) Im Sinne einer liberalen Gesellschaftstheorie gewendet wird ein solches transnationales Kollisionsrecht bei Ladeur, der schon im innerstaatlichen Bereich für gesellschaftliche Selbstorganisation und –regulierung und damit zugleich gegen eine einseitige Dominanz des staatlich-politischen Diskurses Stellung bezieht. Er arbeitet sich damit an der Konfliktlinie zwischen staatlichem Recht und nichtrechtlichen gesellschaftlichen Normenordnungen ab. Als Beispiele dienen ihm Sachverhalte aus dem Medien- und Telekommunikationsrecht wie die Konflikte, die im Zusammenhang mit dem Bewertungsforum des Internethandelshauses Ebay stehen und nun schon seit einiger Zeit auch die deutschen Gerichte beschäftigen.52 Das Internethandelshaus Ebay verfügt über ein System, das es Käufern ermöglicht, den Verkäufer und dessen Verhalten sowie die Qualität des erworbenen Produktes nach Abschluss der Transaktion zu bewerten. Das erfolgt in Form von positiven, neutralen und negativen Bewertungen, je nach Grad der Zufriedenheit des Kunden. Zum Streit kommt es insbesondere, wenn ein Vertragspartner über den anderen eine negative Bewertung abgegeben hat, die der Bewertete als ungerechtfertigt empfindet. Die Gerichte haben in solchen Fällen regelmäßig entschieden, dass ungerechtfertigte negative Bewertungen zurückgenommen werden müssten und die Beklagten jeweils zur Zustimmung zur Rücknahme der Bewertung verurteilt. Rechtsgrundlage für die Verurteilung war §§ 823 Abs. 1 i.V.m. § 1004 analog BGB. Ungerechtfertigt abgegebene negative Bewertungskommentare verletzten die Kläger in ihren Persönlichkeitsrechten. Hinter den Forderungen nach Löschung solcher als ungerechtfertigt empfundener Bewertungen stehen allerdings regelmäßig nicht nur persönliche Interessen, sondern auch wirtschaftliche. Die Bewertungen bei Ebay, das haben statistische Untersuchungen gezeigt, haben einen signifikanten Einfluss auf das Käuferverhalten, wobei das Fehlen „neutraler“ oder negativer Bewertungen die Kaufwahrscheinlichkeit deutlich positiv beeinflusst.53 Verkäufer sind also grundsätzlich daran interessiert, gute Bewertungen zu erhalten, weil hierdurch auch Kaufanreize für potenzielle Kunden gesetzt 48 49 50 51 52
Teubner (Fn. 8), S. 388–404, S. 399. Fischer-Lescano/Teubner (Fn. 26), S. 99 ff. Fischer-Lesano/Teubner (Fn. 26), S. 111. Fischer-Lesano/Teubner (Fn. 26), S. 130. Z. B. OLG Oldenburg, NJW-RR 2006, 1204; AG Danneberg vom 13.12.2005, 31 C 452/05; AG Koblenz, NJW-RR 2006, 1643–1645; LG Arnsberg vom 18.05.2005; 3 S 22/05. 53 Resnick/Zeckhauser, Trust Among Strangers in Internet Transactions: Empirical Analysis of eBay’s Reputation System, 2002.
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werden.54 Und auch wenn die Entscheidungen der Gerichte dogmatisch nicht zu beanstanden sein mögen, ergibt sich für Ladeur bereits aus dieser Überlegung, dass eine Beurteilung der Fälle, in denen es um die Rücknahme negativer Bewertungen bei Ebay geht, am Maßstab der Persönlichkeitsrechtsverletzung, zu kurz greift. Ladeur erkennt im Bewertungssystem von Ebay hybride Ordnungsstrukturen, die zwischen den so genannten relationalen Verträgen und bloßen sozialen Netzwerken stehen.55 Wie der relationale Vertrag56 einen Mittelweg zwischen Unternehmensintegration und Austauschvertrages eröffne57, könne das Bewertungssystem bei Ebay seinerseits das auf eine Vielzahl von Transaktionen gleichbleibender Partner (repeat playing) ausgerichtete relationale Vertragsgebilde ersetzen durch die Sammlung von Erfahrungen aus Einzeltransaktionen unterschiedlicher Marktteilnehmer.58 Derartige Netzwerkeffekte bildeten den Kern einer kooperativen Normbildungsstruktur jenseits der Reichweite staatlichen Rechts. Deren Gegenstand seien auch und gerade solche normativen Erwartungen, die einer rechtlichen Kontrolle nicht oder nur sehr schwer zugänglich sind. Hieraus folgt für Ladeur die Forderung, das Recht müsse, um die kollektiven Effekte dieser Erwartungsordnung nicht zu unterlaufen, seine Bewertungsmaßstäbe mit den normativen Strukturen gesellschaftlicher Selbstorganisation innerhalb des Ebay-Systems kompatibilisieren.59 Letztere müssten „doch eher einer Kontrolle am Maßstab einer ,Kollisionsregel‘ unterworfen werden, die nach Fairness, Konsistenz und Angemessenheit von Praxisregeln fragt, aber nicht das jeweilige Verhalten des Einzelnen unmittelbar und ohne Rücksicht auf Verkehrsanschauungen rechtlich einordnet.“60 Stärker noch als bei Teubner wird so bei Ladeur die „Kollisionsregel“ zum Synonym für die Forderung nach einer Selbstbeschränkung des Rechts durch Selbstreflexion, für eine Umstellung rechtlicher Regelungsstrukturen vom Steuerungsparadigma auf ein prozedurales Rechtsparadigma, welches unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung ermöglicht und diese miteinander zu kompatibilisieren sucht.
54 In diese Richtung geht auch das Urteil des AG Koblenz, NJW-RR 2006, 1643–1645, in dem das AG bei der Streitwertfestsetzung ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass der Wert des Streitgegenstandes trotz eines Kaufpreises von lediglich ½ 1,- auf ½ 3.000,- festzusetzen sei, weil „… negative Bewertungen auch bei einem privaten Ebay – Nutzer weitere Geschäftsabschlüsse beeinträchtigen können…“ 55 Ladeur, eBay-Bewertungssystem und staatlicher Rechtsschutz von Persönlichkeitsrechten, Kommunikation und Recht 2007 S. 85–91. 56 Siehe zur Theorie relationaler Verträge insbesondere Macaulay, Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study, American Sociological Review 1963 (55), S. 86–104 ff. und MacNeil, The New Social Contract: An Inquiry Into Modern Contractual Relations, New Haven 1980. 57 Ladeur (Fn. 55), S. 85–91, 87; siehe hierzu auch Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just in Time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, BadenBaden 2004, S. 35 ff. 58 Ladeur (Fn. 55), S. 85–91, S. 87. 59 Ladeur (Fn. 55), S. 88. 60 Ladeur (Fn. 55), S. 88.
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3. KONFLIKTE VON TEILRECHTSORDNUNGEN (JOERGES) Christian Joerges schließlich entwickelt seinen am Leitbild der kommunikativen Rationalität orientierten kollisionsrechtlichen Ansatz in erster Linie anhand der Konflikte zwischen unterschiedlichen supra- und internationalen Normstrukturen, also im Konflikt von Teilrechtsordnungen. Einen zeitgemäßen Anwendungsfall findet er dabei neben dem europäischen Gemeinschaftsrecht im Welthandelsrecht und dessen „Konstitutionalisierung“. Beispielhaft sind für ihn hierbei etwa die WTO-internen Streitigkeiten zwischen der EU und den USA über Einfuhrverbote für hormonbelastetes Rindfleisch und für genetisch manipulierte Organismen (GMOs).61 In beiden Streitfällen, die letztendlich vom Appellate Body der WTO verbindlich entschieden wurden, standen sich zwei unterschiedliche regulatorische Ansätze gegenüber. Auf der einen Seite stand die EU, deren restriktive Gesetzgebung die Verabreichung von Wachstumshormonen an Zuchtrinder untersagt und unter dem Gesichtspunkt des so genannten Vorsorgeprinzips auch der Zusetzung von GMOs zu Lebensmitteln zurückhaltend gegenübersteht, auf der anderen Seite die USA, die von einer grundsätzlichen Zulässigkeit beider Praktiken ausgeht, sofern daraus resultierende Risiken nicht eindeutig nachgewiesen sind. In beiden Fällen klagten die USA gegen die einschlägigen Maßnahmen der EU, die sich unter dem WTO-Freihandelsabkommen als – grundsätzlich unzulässige – Handelsbeschränkungen darstellen. Joerges erblickt nun in dem Konflikt der beiden unterschiedlichen regulatorischen Ansätze im US-Recht einerseits und im europäischen Recht andererseits im Kern ein kollisionsrechtliches Problem.62 Ebenso wie im EU-Kontext gehe es hier darum, eine Form der gegenseitigen Anerkennung unterschiedlicher Normenordnungen zu finden. Eine materielle Rechtsregel, welche die divergierenden rechtspolitischen Zielsetzungen der Konfliktparteien miteinander in Einklang bringen könne, gebe es nämlich nicht. Es müsse daher, so der kollisionsrechtliche Ansatz, darum gehen, eine (prozedurale) Meta-Norm zu finden, welche ein konsensfähiges Verfahren zur Konfliktbewältigung etabliere, ohne diese aber schon inhaltlich zu determinieren.63 Tatsächlich habe der WTO Appellate Body in den erwähnten Verfahren eine solche Meta-Norm auch etabliert. In beiden Fällen geschah dies, indem auf Grundlage des so genannten SPS-Abkommens, nach welchem handelsbeschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die dem Gesundheitsschutz dienen sollen, nur bei ausreichendem wissenschaftlichen Nachweis einer Gefährdung zulässig sind (vgl. Art. 2 Abs. 2 und Art. 5 SPS-Abkommen). Diese Vorschriften erlaubten dem Appellate Body, so Joerges, mit einer „meta-norm, referring to scientific knowledge as peacemaker“ zu argumentieren.64 Während Joerges diesen kollisionsrechtlichen Ansatz im Grundsatz gutheißt, kritisiert er doch die Lösung des Appellate Body im konkreten Fall: Eine Externalisierung normativer Konflikte auf die vermeintlich wertfreien Naturwissenschaften stelle letztlich keine angemessene Kollisionsregel dar. Vielmehr 61 S. bes. Joerges, Kollisionsrecht als verfassungsrechtliche Form: Das Beispiel der Verrechtlichung des internationalen Handels durch die WTO, in: Deitelhoff/Steffek (Fn. 41). 62 Joerges (Fn. 42), S. 19 63 Joerges (Fn. 42), S. 20. 64 Joerges (Fn. 62), S. 19.
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wäre, so wird zumindest insinuiert, eine Zurückverweisung des Konflikts in die Sphäre der Politik unter dem Gesichtspunkt des „judicial self-restraint“ die richtige Lösung gewesen.65 Deutlich wird hier, dass Joerges zwar ebenso wie Teubner und stärker noch Ladeur von der notwendigen Beschränktheit rechtlicher Konfliktlösung in einer fragmentierten Weltgesellschaft ausgeht, den kollisionsrechtlichen Ansatz aber anders als die beiden anderen zu einer normativen Kritik dieses Zustands wendet. Während Teubner und Ladeur die Leitfunktion von Politik- und Rechtssystem zusammen mit dem Nationalstaat verabschieden, sucht Joerges nach Wegen, die integrierende Funktion gerade der Politik auch in der postnationalen Konstellation zu bewahren. IV. ÜBEREINSTIMMUNGEN Unsere Tour de force durch das kollisionsrechtliche Denken in der deutschen Rechtstheorie sollte Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der einzelnen Ansätze deutlich gemacht haben. Fruchtbar scheint uns dabei insbesondere, die – auch impliziten – Konvergenzen und Überlappungen der Theoriestränge als Ausgangspunkt für weiteres Nachdenken über das kollisionsrechtliche Paradigma zu nehmen. Bei aller Divergenz der Theoriehintergründe zwischen Systemtheorie, Dekonstruktion und Kritischer Theorie und trotz der teils unvereinbar scheinenden politischen Positionierungen zwischen Privatrechtsgesellschaft und Sozialstaat, halten wir die Übereinstimmungen nämlich für bei Weitem überwiegend. Dies beginnt bei der Problembeschreibung. Übereinstimmend gehen die vorgestellten Autoren davon aus, dass der durch Internationalisierung und gesellschaftliche Fragmentierung herausgeforderte Nationalstaat die Einheit des Rechts nicht mehr zu garantieren vermag. Die Kollision gesellschaftlicher Rationalitäten und ihre rechtliche Rekonstruktion machen damit den Wechsel zum kollisionsrechtlichen Paradigma unausweichlich. Die entscheidende Frage lautet dementsprechend: Was folgt aus diesem Paradigmenwechsel? Zumindest beanspruchen die vorgestellten Ansätze allesamt für sich, nicht nur auf analytischer Ebene, sondern auch für die Rechtsdogmatik wirksam zu werden. Die von uns vorgestellten Beispiele aus der Rechtsdogmatik zeigen allerdings, dass der kollisionsrechtliche Ansatz diesen Anspruch noch nicht erfüllt hat. Meist bleibt es hier bei der bloßen Forderung nach der Generierung von Meta-Normen, der Prozeduralisierung der Rechtskategorie, und nur vereinzelt wird angedeutet, wie diese Entwicklungen im Einzelnen aussehen könnten. Dies ist unserer Ansicht nach der Punkt, an dem zeitgemäße Rechtstheorie wie –dogmatik ansetzen sollten. Hinter die Problemstellung, auf die das kollisionsrechtliche Paradigma antwortet, gibt es kein Zurück: „Nie kann der Sündenfall der funktionalen Ausdifferenzierung selbst zurückgenommen werden. Man kehrt nicht ins Paradies zurück“66. Die Strategien zur rechtlichen Bewältigung dieser Situation müssen aber noch gefunden werden. Freilich widerspräche es wohl gerade dem kollisionsrechtlichen Ansatz, wollte man hier in abstrakt-genereller Weise übergreifende Kollisionsregeln zur Auflösung von Rationalitätskonflikten und den daraus resultierenden Rechtskonflikten postu65 Joerges (Fn. 62), S. 23. 66 Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 344.
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lieren. Dennoch lassen sich einige Grundstrukturen für ein solches Recht der Diskurskollisionen angeben. Hilfreich ist dabei insbesondere die Rückbesinnung auf die Prinzipien des Internationalen Privatrechts, in dem das kollisionsrechtliche Denken seine geistige Wahlverwandtschaft sucht. Ausgangspunkt des IPR Savignyscher Prägung ist zunächst die Gleichwertigkeit der (Privat)Rechtsordnungen.67 Dementsprechend soll sich im IPR das anwendbare Recht nicht etwa nach dem Gerichtsstand sondern vielmehr nach dem „Sitz des Rechtsverhältnisses“ bestimmen.68 Lediglich unter dem Vorbehalt des ordre public des Forumstaates kann einem ausländischen Recht dann noch die Geltung verwehrt werden.69 Versucht man nun, diese Gedanken zu verallgemeinern, so lassen sich für die vielfach geforderte „kollisionsrechtliche Meta-Dogmatik“ (s. o.) zumindest die folgenden – tentativen – Vorgaben ableiten. 1. Kollisionsrecht beruht auf dem Grundsatz der Anerkennung „fremder“ Rechtsordnungen. Für die Rechtstheorie folgt aus der Generalisierung dieses Anerkennungsgedankens, dass Normordnungen außerhalb des staatlichen Rechts grundsätzlich der Anerkennung durch das Recht und der Anerkennung als Recht zugänglich sind. Dies gilt für zivilgesellschaftliche Regelsetzung ebenso wir für gegenstandsspezifische internationale Rechtsregimes. 2. Wenn das Kollisionsrecht auf den Sitz von „Rechtsverhältnissen“ abstellt, geht damit eine Perspektivenverschiebung weg von der Orientierung an Rechtsquellen und hin zu einer Orientierung an Normbereichen70 einher. Die Bildung von Kollisionsnormen, heißt das, hat sich an konkreten Konfliktlinien kollidierender Rationalitäten zu orientieren. In methodischer Hinsicht liegt an dieser Stelle ein Ansatzpunkt für die Rezeption sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. 3. Die Anerkennung „fremder“ Normen steht unter dem Vorbehalt des ordre public. Dieser verweist einerseits auf den unabdingbaren Kern einer Normordnung selbst, andererseits aber auf universelle Prinzipien, die allen Normordnungen gemeinsam sind. In der Figur des ordre public kommt damit die notwendige (strukturelle) Kopplung des Rechts an den politischen Diskurs zum Ausdruck. Aus diesen Vorgaben erst entsteht der argumentative Rechtfertigungszusammenhang, der unter dem Begriff der Prozeduralisierung diskutiert wird. Als Rahmen hierfür gesetzt sind damit eine klare Verteilung der argumentativen Beweislast (in dubio pro recognitione); der Argumentationszusammenhang (Sozialbereichsspezifität) und eine Rückkopplung des rechtlichen an den politischen Diskurs (ordre public). V. „LEGAL PLURALISM“ Mit dem kollisionsrechtlichen Paradigma verbindet sich die Anerkennung eines Phänomens, das nicht erst bekannt ist, seit gesellschaftliche Fragmentierung zum Schlagwort postmoderner Rechtstheorie geworden ist. Der Umstand, dass neben 67 Vgl. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Berlin 1849, Bd. VIII, S. 29. 68 Vgl. Savigny (Fn. 67), Bd. VIII, S. 24–28, S. 108. 69 Vgl. etwa den rechtsvergleichenden Überblick bei Staudinger/Blumenwitz, Art. 6 EGBGB, Rn. 177 ff. 70 Zum Begriff: Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Berlin 2002, Rn. 230 ff.
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staatlichem Recht auch andere normative Ordnungen eine Rolle für gesellschaftliche Organisation spielen können, ist vor allem in den USA seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert unter dem Stichwort ‚Legal Pluralism‘ auf die Forschungsagenda genommen worden. Der Hintergrund dieser Forschungsrichtung sind die Erkenntnisse von Anthropologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in den vormodernen Gesellschaftsformationen in den Kolonialgebieten des Commonwealth Regeln und Sanktionsmechanismen ausmachten, die dort mindestens ebenso wirksam waren wie das Englische Recht der Kolinisatoren. Das damit entstehende Nebeneinander und Miteinander von Common Law und Eingeborenenrecht wurde als ‚Legal Pluralism‘ charakterisiert.71 Der Begriff und die Forschungsrichtung erweiterten sich jedoch seit den 1970er Jahren insbesondere in den USA, in Großbritannien und in Frankreich, wo sozialwissenschaftlich ausgerichtete Rechtwissenschaftler begannen, das Paradigma des Legal Pluralism auch auf nicht-kolonisierte Industrienationen auszudehnen.72 In diesem Sinne beschreibt Legal Pluralism das Verhältnis zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Normenordnungen einerseits und dem staatlichen Rechtssystem andererseits.73 Zentrales Postulat eines normativ gewendeten Legal Pluralism ist die Verabschiedung einer staatszentrierten Rechtstheorie. Solange der Staat im Zentrum der Gesellschaft steht und ihre Geschicke gleichsam ohne deren Zutun regelt, ist für Rechtspluralismus kein Raum.74 Sobald aber der Blick erweitert wird auf gesellschaftliche Zusammenhänge, auf Netzwerke und soziale Kooperationen, die ihrerseits Normen schaffen, eröffnet sich eine umfassende neue Perspektive auf das Recht selbst. Das Recht erscheint dann nicht mehr als Monopolist sozialer Regulierung, sondern als primus inter pares gesellschaftlicher Ordnungsgaranten. Die Gesellschaft selbst erscheint dann nicht mehr wohlgeordnet, sondern als loser Verbund teilweise überlappender und fragmentierter Gruppen und Gemeinschaften.75 Deutliche Parallelen zeigen sich dabei zum Forschungsprogramm der Systemtheorie, für die das Kommunikationssystem Recht lediglich ein gesellschaftliches Teilsystem neben anderen darstellt. Gesellschaftliche Fragmentierung ist Folge sozialer Ausdifferenzierung, die auch vor nationalstaatlichen Grenzen nicht halt macht. Gerade die Verbindung von Rechtspluralismus und Systemtheorie ist es, mit der etwa Gunther Teubner die Entwicklung von Gesellschaft und Recht unter den Bedingungen von Globalisierung zu erklären und zu verstehen sucht76 und seinen Blick auf ein ‚global law without the state‘ richtet.77
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Für eine solche Fallstudie siehe z. B. Malinowski, Crime and Custom in a Savage Society, New York 1926. Engle Merry, Legal Pluralism, Law and Society Review 1988 (22), S. 869–896, S. 872. In diesem Sinne Macaulay, Private Government, in: Lipson/Wheeler, Law and the Social Sciences, New York 1986, S. 445–518. Griffiths, What is Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law 1986 (24), S. 1–55, S. 3. Galanter, Justice in many Rooms: Courts, Private Ordering, and Indigenous Law, Ibid.1981 (19), S. 1–47, S. 22. Teubner, Globale Bukowina, Rechtshistorisches Journal 1996 (15), S. 255–290. Teubner, Global Law without the State, Dartmouth 1996.
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Das Unternehmen jedoch, nichtstaatliche normative Ordnungen anzuerkennen, fällt in westlicher Tradition sozialisierten Juristen nicht leicht.78 Allzu sehr erwarten und suchen wir nach Systemen79, nach geschlossenen hierarchischen Ordnungen80, nach secondary rules81, nach dem Leviathan, der für die Einheit von Recht und Staat Sorge tragen möge. Bereits Eugen Ehrlich lehrte aber, dass das lebende Recht nicht im Abstrakten, sondern im Konkreten zu suchen sei.82 Es sind die Einzelfälle, die Neuerungen, die individuellen Verträge, die zur Emergenz ebenso wie zur Stabilisierung von normativen Erwartungen führen.83 Handelsbräuche, Gewohnheitsrecht oder Standardverträge sind ebenso geeignet, Verhalten zu steuern wie eine Verwaltungsverordnung oder eine Allgemeinverfügung und verdienen daher die gleiche Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft. Die Perspektive dieses rechtstheoretischen Ansatzes löst sich damit vom Leitbild der Einheit des Rechts und nimmt stattdessen die Vielheit gesellschaftlicher Normordnungen in den Blick. Das Recht erscheint so als mal friedlich, mal unfriedlich koexistierend mit nicht-staatlichen und außer-rechtlichen sozialen Ordnungsleistungen. Wenn etwa die Musikindustrie nicht auf den Schutz geistigen Eigentums durch den Staat vertraut, schafft sie sich Kopierschutzvorrichtungen, die in ihrer Wirkung funktional äquivalent zu Recht sind.84 Der internationale Seehandel schafft sich in Ermangelung verbindlicher staatlicher Regelungen selbst Verträge, die von allen am Seehandel beteiligten Interessenvertretern ausgehandelt und universell verwendet
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Insbesondere das Unbehagen, Verträge als Rechtsquellen anzusehen geht wohl zurück auf Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Berlin 1849, Band I, S. 12 („Will man z. B. die Bedingungen irgend eines Rechtsverhältnisses vollständig aufzählen, so gehört dazu unzweifelhaft sowohl das Daseyn einer Rechtsregel, als eine dieser Regel entsprechende Thatsache, also z. B. ein Gesetz, welches die Verträge anerkennt, und ein geschlossener Vertrag selbst. Dennoch sind diese beiden Bedingungen specifisch verschieden, und es führt auf Verwirrung der Begriffe, wenn man Verträge und Gesetze auf eine Linie als Rechtsquellen stellt“). Zur Geschichte der Bestrebungen, insbesondere im Privatrecht eine Systembildung zu betreiben siehe Coing, Die Geschichte des Privatrechtssystems, Frankfurt 1962, der zwar meint, es könne nicht darauf verzichtet werden, das Privatrecht zum System zu entwickeln, andererseits aber könne man das historisch überlieferte Systemdenken nicht ohne weiteres weiterführen (S. 27). Instruktiv außerdem Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, Frankfurt 2003 [1. Aufl. 1954], der angefangen von Savignys Versuchen einer Systembildung den Übergang der historischen Schule zur Begriffsjurisprudenz beschreibt. Zu einem umfassenden jüngeren Versuch der Systembildung im Privatrecht siehe Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, Wien 1996. Kelsen, Reine Rechtslehre, Aalen 1934, 62 ff. („Das Recht als Ordnung oder die Rechtsordnung ist ein System von Rechtsnormen“), aaO., S. 62. Hart, The Concept of Law, Oxford 1994 (1st ed. 1961), S. 100 ff. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München 1913, S. 405 („Die Erforschung des lebenden Rechts ist es also, womit die Soziologie des Rechts beginnen muss. Sie wird zunächst nur auf das Konkrete, nicht auf das Allgemeine gerichtet sein.“). Siehe hierzu am Beispiel des Seehandelsrechts Maurer/Beckers, Lex Maritima, in: Calliess et. al., Soziologische Jurisprudenz – Festschrift für Gunther Teubner, Berlin 2009, S. 811–825. Lessig, Code and other Laws of Cyberspace, New York 2000; Lessig, Free Culture, New York 2004, 116 ff.
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werden.85 Lex mercatoria86, lex electronica87, lex contructionis88 oder lex financiaria89 sind lediglich Synonyme für die damit einhergehende Entstaatlichung und Vergesellschaftung des Rechts. Dabei verschwimmen die Unterschiede zwischen staatlichem Recht und privat erzeugten Normen zusehends. Konflikte dieser Normordnungen kann das Recht nicht mehr letztverbindlich auflösen, denn es ist selbst Teil des Konflikts. Dem Recht bleibt vielmehr nur, Prozesse der Kompatibilisierung unterschiedlicher konfligierender normativer Ordnungen zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen.90 Methoden zu entwickeln, die das Recht hierzu in die Lage versetzen, ist Aufgabe heutiger Rechtstheorie. VI. UNEINGELÖSTE VERSPRECHEN Vor diesem Hintergrund verspricht das kollisionsrechtliche Rechtsparadigma eine Antwort auf die Fragen, die sich heute als Folge gesellschaftlicher Fragmentierungsprozesse an Rechtsdogmatik wie Rechtstheorie stellen. Es ist dies aber ein Versprechen, das seiner Einlösung noch harrt. Erst langsam werden die Konturen einer juristischen Methode erkennbar, die einerseits in der Lage ist, sich der notwendigen gesellschaftstheoretischen Reflexion zu öffnen, andererseits aber auch Anschluss an die tradierten Formen der Dogmatik finden kann. Angesichts der Divergenzen und Konvergenzen der von uns vorgestellten Annäherungen an das Problem können wir nicht anders als mit Wiethölter und einer aphoristischen Aufforderung an die Jurisprudenz zu schließen: „soviel Anfang für ‚Aufhebungen‘ war (zwar schon immer, aber so wohl noch) nie“91. Anschriften der Autoren Andreas Maurer Fachbereich Rechtswissenschaft Universitätsallee, GW 1 28359 Bremen. Moritz Renner Humboldt-Universität zu Berlin Juristische Fakultät Unter den Linden 6 1009 Berlin
85 Maurer/Beckers (Fn. 83), S. 817. 86 Siehe hierzu insbesondere und statt vieler anderer Stein, Lex Mercatoria, Frankfurt 1995. 87 Karavas, Digitale Grundrechte: Elemente einer Verfassung des Informationsflusses im Internet, Baden-Baden 2007. 88 Vec, Das selbstgeschaffene Recht der Ingenieure. Internationalisierung und Dezentralisierung am Beginn der Industriegesellschaft, in: Héritier et. al., European and International Regulation after the Nation State, Baden-Baden 2004, S. 93–112. 89 Teubner/Fischer-Lescano (Fn. 26), S. 133 ff. 90 So bereits Wiethölter, Materialisierungen und Prozeduralisierungen von Recht, in: Brüggmeier/ Joerges (Fn. 15), S. 25–64. 91 Wiethölter (Fn. 11), S. 13–21, S. 16.
BENNO ZABEL KONFLIKT UND PRÄVENTION PARADOXIEN DER MODERNE UND IHRE WIRKUNGEN IM RECHT I. KONSTELLATIONEN Die Einschätzungen darüber, wie moderne Gesellschaften funktionieren und welche normativen oder auch systemischen Implikationen damit verbunden sind, gehen weit auseinander.1 Eine Ausnahme bildet der Vorbeuge- und Präventionsgedanke.2 Er findet sich in Konzepten mit unterschiedlichster rechtlicher, politischer oder sozialer Ausrichtung und genießt dabei ein kaum zu übertreffendes Maß an Attraktivität, vor allem aber an fragloser Plausibilität. „Dass es sinnvoller ist, künftige Übel durch geeignete Interventionen zu vermeiden, als sie erst dann zu bekämpfen, wenn sie manifest geworden sind, das erscheint uns so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Begründung bedarf.“3 Dieser jüngst von Ulrich Bröckling konstatierten Überzeugung soll im Folgenden auf den Grund gegangen werden. Anliegen der Erörterungen ist es, nach Sinn und Tragweite des präventionsbasierten Risiko- und Konfliktmanagements zu fragen, dessen Bedeutung für die moderne (Straf-)Rechtspraxis zu analysieren und so die Tiefenstrukturen der entsprechenden Argumente zu beleuchten. In einem ersten Schritt sollen deshalb die Genealogie und die Bedeutung des Rechtsgewährleistungsparadigmas näher in den Blick genommen werden (II.). Ein zweiter wird sich der politischen Grammatik gegenwärtiger Risiko- und Konfliktanalyse widmen (III.). Der dritte Abschnitt will wiederum zeigen, welche Logik den modernen Sicherheitsdispositiven zugrunde liegt und welche Probleme damit einhergehen (IV.). Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Einsichten (V.). II. GENEALOGIE UND BEDEUTUNG DES RECHTSGEWÄHRLEISTUNGSPARADIGMAS 1. VORBEMERKUNGEN Die Rede von Risiken und Konflikten, von deren Bekämpfung und Einhegung, verweist zunächst auf das dem Recht zugrunde liegende Leistungs-Legitmations-Paradigma.4 Danach verpflichten sich Staat und Gesellschaft, die elementaren Rechte, mithin die 1
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Vgl. hier nur die Analysen bei Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1999; Möllers, Staat als Argument, München 2000, S. 9 ff. und bei Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 10. Aufl. München 2003 [1971]. Dazu Hafen, Systemische Prävention, Heidelberg 2005; darüber hinaus Ewald, Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der Vorbeugung, Soziale Welt 1998 (49) S. 4–24, 5 ff. und Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Wiesbaden 2006, S. 129 ff. So Bröckling, Ist Vorbeugen besser? Zur Soziologie der Prävention (Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Strategien der Sicherheit – Kulturen des Risikos“ an der Humboldt Universität Berlin am 24. November 2008, S. 1); jetzt veröffentlicht in Behemoth 2008 (1), S. 38–48, 38 ff. Zur Klärung der begrifflichen Grundlagen vgl. die Überlegungen des Verf., Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts, ZStW 2008 (120), S. 68–106.
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Subsistenzbedingungen des Einzelnen, so effektiv wie möglich zu schützen. Im Gegenzug erkennen letztere das Gewalt- und Justizmonopol hoheitlicher Institutionen an.5 Betont ist damit ein Bezugsnetz aus freiheitsgenormten Anerkennungsstrategien und darauf beruhenden Funktionseinheiten, deren vorrangige Aufgabe es ist, die exzentrische Position des Einzelnen mit derjenigen der Allgemeinheit im Gleichgewicht zu halten. Konflikte oder das, was wir als Konfliktformen definieren, machen allerdings deutlich, dass dieses Gleichgewicht zugunsten partikularer Geltungsbehauptungen durchbrochen, jedenfalls aber marginalisiert werden kann. Zur Disposition gestellt wird so nicht nur das Bezugsnetz als solches, sondern auch das damit verbundene Sinn- und Normstabilisierungspotential. Wie eine Gesellschaft, und d. h. eine autorisierte Ordnungsmacht, darauf reagiert, hängt wesentlich davon ab, welche normativen Deutungs- und strukturellen Verarbeitungsmuster ihr im Einzelnen zur Verfügung stehen. Augenscheinlich wird dann aber auch, dass das Recht als originäres Konfliktlösungsverfahren zugleich den Charakter einer umfassenden Disziplinierungsund nicht weniger rationalen Befriedungspraxis erhält.6 2. ENTWICKLUNGSLINIEN Die begriffsgeschichtliche Referenz dieser so verstandenen Gewährleistungsmatrix bildet das staats- und souveränitätstheoretische Modell von Thomas Hobbes. Im Anschluss an Newton, Descartes und Galilei – um hier nur einige zu nennen – hat er gerade durch die Radikalisierung der philosophischen und epistemologischen Methode Wegweisendes geleistet.7 Diese „staatstheoretische Neujustierung“ oder Radikalisierung geht mit einem gewandelten Wissens- und Wissenschaftsverständnis einher.8 War die Wissensana5
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Zur aktuellen Diskussion des Gewalt- und Justizmonopols vgl. nur Di Fabio, Das Recht offener Staaten, Tübingen 1998; Faller, Gewaltmonopol des Staates und Selbstschutzrecht des Bürgers, in: Faller/Kirchhof/Träger, Verantwortlichkeit und Freiheit. Die Verfassung als wertbestimmte Ordnung, Festschrift für Geiger, Tübingen 1989, S. 3–18; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975, S. 29 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1 Grundlagen, Frankfurt a. M. 1970 und bereits Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928; zur Genese des damit verbundenen Selbstverständnisses Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a. M. 1973, S. 11 ff. und Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 29 f.; aus kulturgeschichtlicher Perspektive Elias, Studien über die Deutschen, Frankfurt am Main 1994, S. 282 ff. Hier ist gegenwärtig eine Vielzahl von (Konfliktlösungs-)Praxen denkbar, neben der Mediation als spezifische Rechtsgestaltungsform auch zivilrechtliche oder eben verwaltungs- und strafrechtliche Verfahren; auf letztere wird sich der Fokus weitestgehend beschränken. Die Literatur zu Hobbes’ staats- und souveränitätstheoretischer Konzeption ist inzwischen Legion; verwiesen sei an dieser Stelle nur auf Böckenförde, Sicherheit und Selbsterhaltung vor Gerechtigkeit, Basel 2004; Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 2. Aufl. Hamburg 2002 [1992]; Kodalle, Wahrheit und System, München 1972; Schmitt, Der Leviathan in der Staatlehre des Thomas Hobbes – Sinn und Fehlschlag eines Symbols, Hamburg 1938; Skinner, Freiheit und Pflicht: Thomas Hobbes’ politische Theorie, Frankfurt a. M. 2008 sowie Willms, Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan, München 1987; zum Urbild des modernen Staates und seinen Gegenbildern aus der Perspektive einer politischen Ikonographie Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan, 3. Aufl. Berlin 2006. Grundlegend dazu immer noch Foucault, Die Ordnung der Dinge, 13. Aufl. Frankfurt a. M. 1995 [1971], S. 46 ff. und öfter.
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lyse bzw. -vermittlung in der Scholastik und im ausgehenden Mittelalter noch Teil einer als kohärent behaupteten Heilsordnung, Glaube (Confessio/Religio) und Welterkenntnis (mundus sensibilis atque intelligibilis), also unmittelbar aufeinander bezogen, so wurde dieser Funktionszusammenhang zunehmend in Frage gestellt.9 Ähnlich wie Bacon und Kepler vertrat Hobbes die Überzeugung, dass sich Wissensressourcen – stricto sensu – nur im Kontext einer systematischen Wirklichkeitswissenschaft (i.S. einer Scientia propter potentiam) verhandeln ließen, man denke nur an das Novum Organum oder die Astronomia nova, Aussagen über die Religion, Gott oder entsprechende Heilserwartungen dagegen Fragen des Glaubens waren.10 Damit sollten weder Theologie noch Religion im Orcus von Geschichte und Tradition verschwinden, ganz im Gegenteil, entscheidend war vielmehr die Entgegensetzung von (fortschrittlichem) Wissen und (konservativem) Glauben. Nur dann, so die Argumentationslogik der „nomenclatura accurata“, war der instrumentellen Vernunft der Platz zu sichern, der ihr gebührte, und der Mensch als das zu begreifen, was er war: nämlich als homo rationalis sensibilis.11 Wegweisend oder neuartig ist vor allem sein Versuch, die rechtlichen, ökonomischen und politischen Strukturen der Moderne und deren legitimationstheoretische Implikationen systematisch, und d. h. für Hobbes, strategisch zu begründen. Fragen der individuellen Sinnorientierung, aber auch der gesellschaftlichen Sozialkontrolle sind für ihn nicht länger auf ein metaphysisches Ideal der menschlichen Natur zu beziehen, sondern an den rationalisierten Bedürfnissen der einzelnen Akteure auszurichten. Demgemäß ist für Hobbes praktische Philosophie – im Sinne einer Theorie des Politischen – immer auch analytische Friedenswissenschaft; zugleich bildet die Methode des mos geometricus die heuristische Grundlage, mittels derer die normativen Ansprüche einer monopolisierten Gewalt und folglich allgemein anerkannte Rechte und Pflichten begründet werden können.12 In den Worten von Hobbes: „Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen. […] Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinigte Menge Staat […] Dies ist 9 Zu Genese, Struktur und Auflösung dieses Funktionszusammenhanges vgl. etwa Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 7. Aufl., 1994 [1927], S. 7 ff. und öfter sowie Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2007 [1931], S. 173 ff. 10 Zu den Standards und Methoden der damaligen Wissenschaftskonzepte und -transfers siehe Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1988 (1966), S. 20 ff. und öfter sowie ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, S. 147 ff. und öfter; zu Hobbes’ Systems- und Prinzipienideal Willms (Fn. 7), S. 61 ff. 11 Zu der damit einhergehenden Problematik eines selbst unreflektierten Wissenschafts- und Fortschritts-Glaubens vgl. Stekeler-Weithofer, Philosophie des Selbstbewusstseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt a. M. 2005, S. 270 ff. und öfter; zum Verhältnis von Empirismus und Rationalismus aus philosophiegeschichtlicher Perspektive Engfer, Empirismus vs. Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, Paderborn 1996, S. 11 ff. 12 Zur hobbesschen Methode einer generativen Erkenntnis- und Begriffsanalyse vgl. Kersting (Fn. 7), S. 38 ff.
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die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter den unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken.“13 Die Zielrichtung der Argumentation ist klar: Ordnungspolitik ist notwendig Sicherheitspolitik, eine Alternative dafür gibt es nicht. Der Einzelne – als atomisierter Akteur eines auf sich selbst verwiesenen Gemeinwesens – begibt sich jeglicher Möglichkeiten der Risiko- und Konfliktregulierung, der Staat mit seinem Gewaltmonopol bietet umfassenden Schutz. Zur Geltung gebracht ist mit dieser Verknüpfung von Leistung und Legitimation ein staatstheoretisches Paradigma, das in seiner Grundstruktur – und gerade darin besteht die Bedeutung dieser kritischen Macht- und Vernunftkonzeption – auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann. Mit der kompositorischen Methode des mos geometricus verlässt Hobbes, ebenso wie Machiavelli, das zoon politikon-Theorem aristotelischer Provenienz.14 Ausschlaggebend ist nun ein am Nutzenkalkül ausgerichteter Individualismus, der in der liberalistischen Tradition eines Locke, Hume oder Mill seine Fortsetzung finden wird. Der Mensch zerfällt gewissermaßen in zwei Teile: Der erste kennzeichnet ihn als Sinnenwesen mit empfindsamer Sentimentalität und formuliert damit das Bild eines auf Ausgleich bedachten Gutmenschen. Der zweite Teil fokussiert auf ein Wesen, das auf berechnende Weise seine Vorteile maximiert. Hier wird er zum homo oeconomicus, vor dem man sich durchaus in Acht zu nehmen hat. Dennoch unterscheidet sich Hobbes’ Modell deutlich von dem Machiavellis. Steht bei Hobbes die Balance von Vernunft, Macht (Autorität) und Unterordnung im Vordergrund, so geht es Machiavelli ganz offenkundig um eine funktionale und nicht weniger aggressive „Klugheitspragmatik“, d. h. um Leitlinien einer politischen Selbstbehauptungs- und Machtsteigerungslehre.15 Gerade dieser völligen Entgrenzung jeglicher Vernunft- und Autoritätsdiskurse zugunsten frei flottierender Ideologeme will das hobbessche Leistungs-Legitimations-Paradigma entgegentreten und so zugleich der immanenten Logik von Konflikt und Prävention, von Gewalt und Vorbeugung einen transparenten Normkontext zur Seite stellen. Die staatstheoretischen Debatten der Folgezeit, vor allem im Übergang von einer (rein) szientistischen zu einer personalen Wissensorganisation, können als unmittelbare Reaktion auf jene innovative Verknüpfung von Sicherheitsleistung und Machtresp. Herrschaftslegitimation und damit ebenso als eine Strukturgeschichte der
13 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Berlin 1996 [1651], S. 134. 14 Zum zoon politikon-Theorem in seiner aristotelischen Ausformung und mittelalterlich-christlichen Rezeption vgl. Grawe/Hügli, Artikel: Mensch, in: Ritter et al,. Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, Basel 1980, Sp. 1061 ff.; Gebauer, Die Aufnahme der Politik des Aristoteles und die naturrechtliche Begründung des Staates durch Thomas von Aquino, VSWG 1936 (29), S. 137–60; Höffe, Praktische Philosophie – Das Modell des Aristoteles, Frankfurt a. M. u. a. 2008; Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998 sowie Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 106 ff. 15 Zu Machiavellis Konzept einer funktionalen Macht- und Wertebegründung siehe Berlin, Das krumme Holz der Humanität, Berlin 1992, S. 21 ff.; Münkler, Machiavelli, Frankfurt a. M. 2004; Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt a. M. 1987 sowie Taubes, Religionstheorie und politische Theologie, München 1983 ff.
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(politischen) Vernunft gelesen werden.16 In der Konsequenz wird das Rechtsgewährleistungsparadigma immer wieder modifiziert und so den Sinnpotentialen moderner Gesellschaften angepasst, man denke hier nur an die Legitimationserwägungen bei Locke, Pufendorf, Montesquieu oder Rousseau.17 An zentrale Stelle rückt nun ein am Immanenz- und Säkularisierungsgedanken orientierter Interessenausgleich zwischen dem Herrschafts- und Disziplinierungsanspruch des Staates und dem Autonomie- und Emanzipationsbegehren des Einzelnen. Waren die „großen Erzählungen“ (Lyotard) mit ihren naturrechtlich orientierten Sinnstiftungsfunktionen schon bei Hobbes weitgehend marginalisiert, so treten sie jetzt noch stärker in den Hintergrund.18 Im Gegenzug kristallisiert sich ein vernunftkritisches Verständnis von Moral und Recht heraus. Letzteres führt zu einer Personalisierung und auf diesem Wege zu einer kategorialen Neubestimmung des Leistungs-Legitimations-Paradigmas, ein Verständnis, das sich auch in einer entsprechenden Daseins- und Konfliktanalyse niederschlagen muss. Gesucht wird nunmehr eine Form des Zusammenschlusses, „die“, so Rousseau, „mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Einzelnen verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“19 Rousseau findet diese Form im Gesellschaftsvertrag und dem damit verbundenen Gemeinwillen. Denn damit der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel bleibt, „schließt er stillschweigend eine Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, dass, wer sich weigert dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird“.20 Die kategoriale Neubestimmung der Gewährleistungsstrategien ist als Paradigmenwechsel innerhalb des Paradigmas zu verstehen. Die Matrix von Leistung und Legitimation wird hier unmittelbar an die je individuellen Selbstbestimmungspraxen des Menschen geknüpft. Verabschiedet wird damit nicht nur die Bürgerkriegsmetaphorik hobbesianischer Provenienz, sondern auch die zugrunde gelegte Anthropologie des
16 Als eine solche Konzeption des Übergangs muss die ‚Szienza nova‘ Giambattista Vicos von 1725 angesehen werden. Sichtbar wird in der ‚Szienza nova‘ bereits die Lösung von einer allzu szientistisch-formalen und die Hinwendung zu einer auch kulturgeschichtlichen Begründung menschlicher Wissens- und Lebensformen. Gleichzeitig bleibt eine Vielzahl metaphysischer Grundannahmen erhalten, die vor allem den personal-freiheitlichen Aspekt moderner Praxis- und nicht zuletzt Rechts(verfahrens)organisation verdunkeln. Zu den hier durchaus interessanten Transformationslinien siehe Gans, Das Subjekt der Geschichte, Hildesheim u. a. 1993, S. 19 ff. und öfter. 17 Die Entwicklung dieser staats- und legitimationstheoretischen Konzepte zeichnet Zippelius in seiner Darstellung der Geschichte der Staatsideen (Fn. 1), dort insbes. S. 97 ff., anschaulich nach. 18 Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986, S. 14. Lyotards Analyse widmet sich zwar vornehmlich der Wissensorganisation spät- bzw. postmoderner Lebensformen, die aufgezeigten Entwicklungslinien markieren aber die auch für den vorliegenden Zusammenhang wichtigen Legitimationsdiskurse und die damit verbundenen Transformationsstrategien. Zum kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 12. Aufl. Stuttgart 2006 [1924]; die aktuelle Debatte beleuchtet Pippin, Die Verwirklichung der Freiheit – Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 191 ff. 19 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (Contrat social), Stuttgart 1994 [1762], S. 17. 20 Rousseau (Fn. 19), S. 21.
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homo homini lupus.21 Das Freiheitsargument tritt so aus dem Schatten paternalistisch, vor allem aber autoritär organisierter Verhaltenskontexte und -codices und schafft insoweit die Basis für ein neues Selbst-Bild des Akteurs als handelndes Subjekt und Teilnehmer an einer gemeinschaftlichen Kultur des Redens und Urteilens.22 Personale Autonomisierungsstrukturen werden dadurch zum Ausgangs- resp. Fluchtpunkt einer Identitäts- und Statusbegründung und formulieren gerade damit ein neues Staats- und Gesellschaftsverständnis.23 Denn, so die Formulierung Kants „Freiheit ist […] sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“24 Wechselseitige und institutionalisierte Rechte und Pflichten fungieren deshalb – entgegen Hobbes – nicht allein als Oktroi und d. h. als subjektgelöste Normbefehle, sondern vor allem als frei gewählte Orientierungen verobjektivierter Anerkennungsspielräume.25 Angesprochen ist dabei ein (transzendentales) Modell des Rechts, das, trotz seiner notwendig formalen und verfahrensgeleiteten Struktur, immer 21 Speziell zur Anthropologie von Thomas Hobbes Bartuschat, Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes, in: Höffe, Thomas Hobbes, Anthropologie und Staatsphilosophie, Freiburg/Schweiz 1981, S. 19–38. Das Verhältnis staats- und politiktheoretischer Begründungsformen zu ihren anthropologischen Implikationen analysieren Berlin (Fn. 15), S. 37 ff. und öfter; Jörke/Ladwig, Politische Anthropologie, Baden-Baden 2009 und Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied/Berlin 1969, S. 101 ff. 22 Zur Genese des Autonomie- und Freiheitsarguments als fundamentale Kategorie moderner Subjekt- und Praxisphilosophie Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München 2001; Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999; Henrich, Konstellationen, Stuttgart 1991; ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 2001; McDowell, Geist und Welt, Paderborn 1998; Pippin (Fn. 18), S. 71 ff.; Seel, Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 279 ff.; Stekeler-Weithofer (Fn. 11), S. 337 ff. und öfter sowie Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt a. M. 1994; aus sprachanalytischer Perspektive argumentieren vor allem Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. Main 1979 und Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984. 23 Die Entwicklung und Bedeutung freiheitsphilosophischer Rechtskonzepte untersucht Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, Baden-Baden 2008; insbesondere zu Kant siehe Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl. Paderborn 2007 [1984]. 24 Kant, Metaphysik der Sitten, GS 1902 ff., ND 1977 (1797), AA VI, 237. – Kurz zuvor hatte Kant die analytische Verknüpfung von Rechtsgesetzen der Freiheit und ihrem Zwangsmoment hervorgehoben: „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Der Widerstand“, so Kant, „der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit dieser zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen. Der Zwang aber ist ein Hindernis, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht […].“ AA VI, 231. 25 Zum Begriff der Orientierung als philosophische und rechtliche Kategorie der Interessens-, Wissens- und Handlungskoordination Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008, dort insbesondere S. 460 ff.; zum philosophischen Modell der Anerkennung Merker et al., Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004; Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1992 sowie Ricoer, Wege der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2006; zur Bedeutung resp. Verarbeitung dieses Konzepts im Recht und angrenzenden Wissenschaften Schild, Anerkennung – Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, Würzburg 2000.
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auch an die performativ geäußerte, in der Regel gelebte Akzeptanz der Menschen gebunden und in diesem Sinne praktisch gewordene Vernunft ist – oder jedenfalls sein soll. Zugleich, und darin liegt die Kernaussage dieses Konzepts, können die Akteure als rechtlich identifizierbare Urheber ihres Handelns und Unterlassens, ihres Wissens oder Unwissens bestimmt werden.26 So gelingt es auch, Konflikte oder Verletzungshandlungen auf praxis- und wertbezogene Gründe zurückzuführen, Gründe, die es – je nach Ausgestaltung des positiven (Straf-)Rechts – ermöglichen, Qualität und Maß des Schadens resp. des Unrechts zu ermitteln. Konflikte beruhen also auf Freiheitsanmaßungen, die in der Regel mit Anerkennungsmissachtungen einhergehen. Deshalb verläuft auch die Risiko- und Konfliktanalyse „zweistufig“. Zum einen geht es um die (formalisierte) Offenlegung und entsprechende Restitution der Freiheitsverletzung, zum anderen um Fragen der Erwartungssicherung und Normstabilisierung. Letzteres macht vor allem deutlich, dass damit die Relation von Konflikt und Prävention, von Gewalt und Vorbeugung, durch das Kriterium der personalen Urheberschaft konkretisiert und schließlich auf das normative Potential der jeweils gelebten oder als gelebt unterstellten Ordnung bezogen wird.27 Aus der Sicht des 20. und 21. Jahrhunderts, oder anders gesagt, aus Sicht einer sich selbst problematisch gewordenen Vernunft- und Fortschrittsgeschichte, kann dieses Modell auch als klassisch aufgeklärter Idealtypus moderner Rechtsgewährleistung und damit zugleich als Bezugs- oder – je nach Perspektive – als Fluchtpunkt aller weiteren Argumentationsmuster verstanden werden. Insofern ist, jedenfalls ideengeschichtlich und staatstheoretisch, keineswegs entscheidend, ob das Modell in den Gesellschaften, die häufig mit der Epoche der europäischen Aufklärung oder des Deutschen Idealismus identifiziert werden, annähernd oder gar vollständig realisiert war. Ausschlaggebend ist vielmehr, inwieweit damit Prinzipien des Redens und Urteilens, des Verstehens und Handelns formuliert wurden, die, trotz des zugestandenen Anspruchs der vorgetragenen Wissensanalyse, immer auch als wissenschaftlich kontrovers oder als realpolitisch uneinlösbar begriffen wurden.28 In welcher Form solche Gegenläufigkeiten auf das Selbstverständnis von Recht und Staat durchschlagen können, zeigt sich nicht zuletzt an einer Neujustierung, die das freiheitsphilosophische Design des Leistungs-Legitimations-Paradigmas und die entsprechende Konfliktverarbeitung im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erfuhr; eine Entwicklung, die in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann.29
26 Eine Rekonstruktion des Urheberbegriffs in freiheitsphilosophischer Lesart unternimmt Gerhardt (Fn. 22), S. 187 ff. und öfter. 27 Zu den Zurechnungs- und Verantwortungs(zuweisungs)strategien freiheitsphilosophischer Schuld-, Straf- bzw. Sanktionsmodelle Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, Frankfurt a. M. 2005; Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, Frankfurt a. M. 2001, S. 181 ff.; Köhler, Der Begriff der Strafe, Heidelberg 1986; Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, Berlin 2004; Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, Heidelberg 1983, S. 7 ff.; Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, Freiburg i. Br. 1995, S. 11 ff. und öfter sowie Verf., Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, Berlin 2007, S. 32 ff. 28 Vor allem gegenüber den Modellen von Kant, Fichte und Hegel wurde dieser Einwand immer wieder geführt. Zu dieser Debatte und ihren Konsequenzen Klein, Systeme im Denken der Gegenwart, Bonn 1993 und Stekeler-Weithofer (Fn. 11), S. 15 ff. 29 Zur Entwicklung der (Straf-)Rechtswissenschaften und dem damit einhergehenden Selbstverständnis als „Anwendungswissenschaft“ siehe Verf. (Fn. 4), S. 68, 98 ff.
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Galt nämlich der Rechtsstaat – gerade in der Semantik der Aufklärung – als Repräsentation des Allgemeinwillens,30 als, um mit den Worten Hegels zu sprechen, „Dasein der Freiheit“,31 so wird er, nicht nur in den Augen professioneller Juristen oder diverser politischer Eliten, zunehmend als Organisations- und Verwaltungsstaat wahrgenommen. Wie bei vielen Entwicklungen im öffentlichen Raum des Rechts, so beginnen aber auch hier die Weichenstellungen weit vor ihrer gesellschaftlichen Verortung und politischen Institutionalisierung. Entsprechende Ansätze werden, soweit man sich genauer umschaut, bereits bei Beccaria, Grolman oder Feuerbach für das Strafrecht32 oder bei Sonnenfels, Justi und Hufeland für die Staatswissenschaften diskutiert.33 – Besonders deutlich wird der Strukturwandel schließlich bei v. Mohls Polizey-Wissenschaft und Jellineks Staatslehre.34 Juristische Argumentations- und ordnungspolitische Erklärungsmuster lösen sich nunmehr von ihren philosophischen Begründungskontexten.35 Die moderne Jurisprudenz entwickelt sich zur praktischen Orientierungs- und instrumentellen Anwendungswissenschaft. Sie vertraut dem esprit positif (Comte), den Möglichkeiten einzelwissenschaftlicher Welterkenntnis und wird in diesem Sinne funktional.36 Im Mittelpunkt steht nicht mehr die vernunftgenormte Erfassung sinnorientierter Rechts- und Lebensformen, sondern die Ausweitung gesellschaftsstabilisierender Interventions- und Steuerungspraktiken. Im Stile einer Funktionseinheit firmiert der Staat – oder das, was man nun als Staat definiert – selbst als handelnder Akteur und wird so als Agent eigens formulierter Interessen behauptet. „Aus dem Rechtsstaat, dem Nicht-als-Rechtsstaat“, so v. Liszt, „der sich damit begnügt hat oder wenigstens damit begnügen wollte, dem freien Spiel der Kräfte seinen ruhigen Lauf zu sichern […], hat sich im Laufe der Jahrzehnte der moderne Verwaltungsstaat entwickelt, der durch bewusste Zwecksetzung in das freie Spiel der Kräfte eingreift, um auf der anderen Seite die Interessen der Gesamtheit gegenüber dem Übermut des Einzelnen wahrzunehmen.“37 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Stabilisierung von Normen und die Selbst-Versicherung von Gesellschaften allein auf 30 Vgl. dazu die Darstellung der rousseauschen Position im Text. 31 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1970 [1821], § 29. 32 Vgl. Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen, Berlin 2005 [1764]; v. Grolman, Grundsätze der Criminalwissenschaft, Stockstadt am Main 1996 [Gießen 1798] und Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Aalen 1966 [Erfurt/Chemnitz 1799/1800]. 33 Siehe v. Sonnenfels, Grundsätze der Polizei, Bd. 1, 2003 [1787]; v. Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Aalen 1965 [1760] und Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Glashütten 1973 [1790]. 34 Die Titel lauten vollständig: v. Mohl, Die Polizey-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Tübingen 1832/33 und Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900 (ND 1959). 35 Freilich gibt es Ausnahmen: Zu ihnen zählen Freiherr v. Stein und v. Humboldt, mit Einschränkungen wohl auch Feuerbach. Vor allem bei Humboldt und seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792 (Werke Bd. 1, 2002, S. 56 ff.) kann man erkennen, wie politischer Pragmatismus und freiheitliche Selbstorganisation des Menschen miteinander vermittelt und so zugleich gegen einen alles regulierenden (Obrigkeits-)Staat gewendet werden können. 36 „Voir pour savoir, savoir pour prevoir, prevoir pour prevenir“, heißt es dann in der „Soziologie“ Comtes, 2. Aufl., Stuttgart 1974 [1842], S. 470. Die Entwicklung von philosophischem Positivismus und moderner Einzelwissenschaft untersuchen Plé, Die „Welt“ aus den Wissenschaften, Stuttgart 1996 und Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre, Wien/New York 1990. 37 V. Liszt, mitgeteilt durch die IKV, Bd. 19, 1912, S. 377.
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horizontale Interventions- und Herrschaftsstrategien beschränkt wäre, im Gegenteil, ergänzt werden diese Strategien durch ein neues Subjekt- und Personenverständnis. Letzteres konstruiert den Akteur gerade auch als atomisiertes Selbst-Organisations- und Kontrollsystem, das in den (ökonomisierten) Kontexten des je eigenen Lebens spezifische Kompetenzen und wissens- oder autoritätsbasierte Positionen einsetzt – und konsolidiert so das komplexe Ordnungsgefüge auf vertikaler Ebene.38 Zur Geltung gebracht ist damit eine Norm-, Person- und Gesellschaftslegitimation, die, wie man mit Foucault sagen kann, als Wechselwirkung zwischen zwei Orientierungsmustern, zwischen Macht- oder Herrschaftstechniken einerseits und Selbsttechniken andererseits, beschrieben werden muss.39 „Der Kontrapunkt“, so Foucault, „an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise der Selbstführung verknüpft ist, kann […] Regierung genannt werden. In der weiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Ergänzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen und Prozessen, durch die das Selbst durch sie selbst konstruiert oder modifiziert wird.“40 Genau besehen handelt es sich hier um eine Logik der Macht- und Normlegitimation, die sich, wenngleich in veränderter Gestalt, auch in den (ökonomischen) Strukturen des Rechts-, Sozial- und Versicherungsstaates des 20. bzw. 21. Jahrhunderts fortgeschrieben hat. Denn auch dieses Ordnungskonzept agiert weitgehend funktional, nicht zuletzt um die permanent anfallenden „Produktionskosten“ individueller wie kollektiver Freiheitsspielräume bestimmen und realisieren zu können.41 – Diese (Re-)Strukturierung des ordnungspolitischen Terrains ist auch staatstheoretisch nicht uninteressant: Denn an der Oberfläche, oder, wenn man will, idealtypisch, orientiert sich der moderne Rechts- und Sozialstaat nach wie vor an der „klassisch aufgeklärten“ Staats(zweck)theorie.42 Besonders deutlich wird das an der Formulierung des Grundrechtskatalogs der Art. 1 ff. GG etc. Die Tiefenstrukturen, d. h. die Pragmatik gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge, verweisen allerdings auf eine andere Semantik und insofern auf die heute üblichen Interventions- und Steuerungspraktiken; man erinnere sich nur an die Rede von der so genannten „Ich-AG“, von notwendigen „Überwachungs- und Visualisierungstechniken“ oder „biopolitischen Strategien“. 38 Analysiert wird diese Entwicklung von Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft, Hamburg/ Berlin 1997, S. 126 ff. und öfter. 39 Vgl. nur Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1977, S. 121 ff.; ders., Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a. M. 1986, S. 315 und ders., Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt a. M. 1993, S. 32 ff. 40 Foucault, About the Beginning of the Hermeneutics of the Self, Political Theory 1993 (21), S. 198–227, 203. 41 Dezidiert schon die Analyse bei Weber: „Es kommt also zunächst wieder darauf an: die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklären. Jeder solche Erklärungsanspruch muss, der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, vor allem die ökonomischen Bedingungen berücksichtigen. Aber es darf auch der umgekehrte Kausalzusammenhang darüber nicht unbeachtet bleiben. Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig.“ Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 12. 42 Siehe hierzu die Ausführungen im Text.
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Welche Probleme das erzeugen kann oder welche Spannungen das impliziert, zeigt – jedenfalls verfassungsdogmatisch – der aktuelle Streit um eine zeitgemäße und interessensangemessene Interpretation von Art 1 Abs. 1 GG.43 Nicht weniger brisant sind die immer wieder auftretenden Friktionen und Gegenläufigkeiten in der gegenwärtigen Gesundheits-, Kriminal- oder Sozial(fürsorge)politik.44 Offenkundig wird so der Wandel des Leistungs-Legitimations-Paradigmas: von der ordnungspolitischen Neuvermessung bei Hobbes, der freiheitstheoretischen Reformulierung bei Rousseau, Kant und Hegel, bis hin zur Ausgestaltung im (neo-) liberalen Staat des 19., vor allem aber des 20. und 21. Jahrhunderts. Hintergrund dieser Transformationen ist ein verändertes Konflikt- und Risikoverständnis. III. ZUR RECHTS-POLITISCHEN GRAMMATIK DER KONFLIKT- UND RISIKOANALYSE 1. DIE UMCODIERUNG DES TRADITIONELLEN SICHERHEITSDISPOSITIVS Das moderne Konflikt- bzw. Risikoverständnis beruht auf der Umcodierung des traditionellen Sicherheitsdispositivs.45 Während die „klassisch aufgeklärte“ Staatstheorie und das damit einhergehende Sanktionenrecht die Verarbeitung von Risiken und Konflikten an einen starken Personen-, Freiheits- und Vernunftbegriff knüpften und auf diese Weise die Areale von Innen und Außen, von Moral und Recht und schließlich von Repression und Prävention (Polizei- und Strafrecht) unterschieden, glaubt der moderne Sozial- und Verwaltungsstaat, Sicherheit und gesellschaftliche Sinnproduktion nur gewährleisten zu können, indem er den Präventions- und Vorbeugegedanken als zentrale und universell einsetzbare Normstabilisierungsmatrix zur Geltung bringt.46 Dementsprechend findet sich der Präventions- und Vorbeugegedanke in den unterschiedlichsten Ressorts modern organisierter Gesellschaften.47 So wird er in der 43 Vgl. dazu die Analyse von Herdegen, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 44. Lfg. München 2005 und die Reaktion von Böckenförde in der FAZ vom 3. September 2003, ausgearbeitet nunmehr in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2004, S. 1216 ff.; abrufbar unter: www.wissensgesellschaft.org/themen/biopolitik/menschenwuerde.pdf. 44 Vgl. Beck/Bonß, Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001; Bourdieu, Gegenfeuer, Konstanz 2004; Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000; Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a. M. 1993, S. 65 ff. und öfter; Krasmann/Volkmer, Michael Foucaults ‚Geschichte der Gouvernementalität‘ in den Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007; Krasmann, Die Kriminalität der Gesellschaft, Konstanz 2003 und Lemke, Gouvernementalität und Biopolitik, 2. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 89 ff und öfter. 45 Zum Begriff des Dispositivs im Allgemeinen Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Zürich 2008, S. 7 ff.; zur Verwendung bei Foucault ders., Dits et Ecrits. Schriften in 4 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, S. 392 ff.; konkret zum Titel des Sicherheitsdispositivs Lemke (Fn. 38), S. 183 ff. 46 Dazu Hafen (Fn. 2), S. 228 ff. und öfter. 47 Vgl. hierzu Hafen, Grundlagen der systemischen Prävention, Heidelberg 2007; Jakobs, Schuld und Prävention, Tübingen 1976; Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1991, S. 9 ff.; Stark, Prävention als Gestaltung von Lebensräumen, in: ders., Lebensweltbezogene Prävention und Gesundheitsförderung, Freiburg 1989, S. 11–37; Wahl, Prävention und Vorsorge, Berlin 1995; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, Berlin 2000 und Wolf/Mona/Hürzeler, Prävention im Recht, Basel 2008.
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Gesundheitsförderung eng an das Modell der Früherkennung gekoppelt. Angestrebt wird mit dieser Strategie beispielsweise, „die Rate von psychischen Störungen in einem Bevölkerungssegment über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu reduzieren, indem sie schädlichen Umständen entgegenwirkt, bevor diese eine Chance haben, Krankheiten zu produzieren. Primärprävention strebt nicht an, eine spezifische Person vor dem Krankwerden zu beschützen. Stattdessen will sie das Krankheitsrisiko für eine ganze Bevölkerungsgruppe reduzieren, so dass, obwohl einige trotzdem krank werden mögen, die Zahl der Krankheitsfälle reduziert wird.“48 Hassemer beschreibt dieses Programm für die Verbrechensprävention. Unter dem prononcierten Titel: „Sicherheit durch Strafrecht“ will er darauf hinweisen, dass das Präventionsmodell in unserem Strafrecht nicht nur faktisch mächtig, sondern, bei allen hiermit verbundenen Problemen, auch normativ begründet sei. „Es ordnet das Strafrecht einem System der Herstellung und Bewahrung von Sicherheit ein und macht es damit zu einem Instrument der Bekämpfung von Problemen und der Beherrschung von Risiken.“49 Insoweit, so Hassemer weiter, stellt es „einen Stützpfeiler dar, den wir nicht nur einbauen müssen in jegliche Überlegung zur Zukunft des Strafrechts, sondern den wir auch begrüßen dürfen als Ausdruck einer zeitgerechten wie auch verfassungsgemäßen Strafrechtsordnung. Zu diesem Strafrecht können jedenfalls meine Augen eine Alternative nicht absehen.“50 Der Präventions- oder Vorbeugegedanke wird so zu einem „Vollstrecker“ des umfassenden Interventions- und Steuerungsanspruchs des modernen Verwaltungsstaates; auch deshalb ist die allseits attestierte Anschlussfähigkeit dieses Paradigmas nicht besonders verwunderlich, sondern geradezu folgerichtig.51 Stark gemacht wird nun das säkularisierte oder, wenn man so will, das „entzauberte“ Sicherheitsargument. Es wird hypostasiert und damit zu einem verhandelbaren Wert „an sich“.52 Grund dafür ist die „positivistische Wende“ der Rechts- und Staatswissenschaften im 19. Jahrhundert.53 Mit der Verabschiedung metaphysischer Begründungsformen nimmt der Wert den Platz ein, den zuvor Titel wie Natur, Würde oder Geist innehatten. Die Ökonomie wird zur „universellen Leitwährung“ und dehnt sich auf alle Bereiche menschlichen Handelns und Urteilens aus. Weil aber, so Carl Schmitt, eine „kausalgesetzliche und deshalb wertfreie Wissenschaft […] die Freiheit des Menschen und seine religiös-ethisch-juristische Verantwortlichkeit“ bedrohe, versucht man mit Wertsetzungen den Sinn menschlicher Existenz zu rechtfertigen.54 48 49 50 51
Caplan, Principles of preventive psychiatry, New York 1964, S. 26 (übersetzt v. M. Hafen). Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, HRRS 2006, S. 130–143. Hassemer (Fn. 49), S. 139. Zum Verhältnis von Anschlussfähigkeit (des Präventions- und Vorbeugekonzepts) und entsprechender Interventionsstruktur Hafen (Fn. 2), S. 233 ff. und öfter. 52 Zur Hypostasierung von Werten und deren Funktionalisierung im Rahmen moderner Rechts- und Staatskonzepte vgl. Schmitt, Tyrannei der Werte, in: Schnur, Säkularisation und Utopie, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 9 ff., der sich hier auf eine These Hartmanns in dessen Ethik bezog (vgl. hier die 4. Aufl. von 1962, dort insbesondere S. 576); zur Genealogie des Sicherheitsbegriffs und seines Gebrauchs Makropoulos, Artikel: Sicherheit, in: Ritter et al. Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9, Basel 1995, Sp. 745 ff. 53 Vgl. dazu bereits die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt. 54 Schmitt (Fn. 52), 9, 31; ähnlich Heidegger, Holzwege, 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1994 (1950), 193, 230. Simmel wiederum analysiert diese Entwicklung aus kultursoziologischer Perspektive, ders., Philosophie des Geldes, Marburg 2000 (1900), S. 23 ff., 357 ff. und 591 ff.; zum Ganzen Jüngel, Wertlose Wahrheit, Tübingen 2003, S. 90 ff.
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Wie alle Werte, so wird auch die Sicherheit zur jederzeit einsetzbaren Münze; mit ihr lassen sich nicht nur die unterschiedlichsten Formen der Intervention rechtfertigen, sondern auch die Strategien der Prävention bestimmen. 2. VOM VERTRAUEN IM RECHT ZUR NORMATIVEN UNGEWISSHEIT IM STAAT Nachvollziehbar ist diese Entwicklung dann, wenn man sich zugleich den Wandel in der politischen wie auch rechtlichen Grammatik der Sozialkontrolle vergegenwärtigt. Das „klassisch aufgeklärte“ Staats- und Rechtsverständnis ging in der Regel davon aus, dass Konflikte und Verletzungen nicht nur normativ identifizierbar, also zurechenbar, sondern auch in ihren Folgen grundsätzlich beherrschbar sind. Erwartete oder auch eingetretene Konflikte wurden so zwar als störende, aber grundsätzlich hinnehmbare Ereignisse einer – kontrafaktisch – auf ihre Stabilität vertrauenden Gesellschaft verstanden.55 Dieses Norm- bzw. Sinnstabilisierungsmuster galt – was prima facie zu irritieren scheint – auch für mittelalterlich-christliche und neuzeitliche Rationalisierungs- und Rechtsgewährleistungskonzepte. In der Regel handelte es sich hierbei um Ordnungsmodelle, die auf zum Teil hoch komplexen Naturrechtsbegründungen beruhten, man denke hier nur an Augustinus oder Thomas auf der einen sowie Grotius oder Bodin auf der anderen Seite. Der entscheidende Unterschied zu den Konzepten der europäischen Aufklärung, des Deutschen Idealismus oder auch des (Früh-)Liberalismus lag darin, dass die basalen Strukturen der implizierten Daseins- und Vertrauensformen durch die bereits erwähnten „Metaerzählungen“ (Lyotard), also der Rede von Gott, entsprechenden Heils- oder Jenseitserwartungen usw., normativ und insoweit letztbegründend abgesichert waren oder wurden.56 Ausschlaggebend für dieses Verständnis war ein im weitesten Sinne liberales Gesellschaftsmodell. Letzteres bestimmte die Bedingungen, unter denen Individuen ihre Freiheitsspielräume entwickeln und erhalten konnten.57 Freilich, und das wird nicht immer offen gelegt, barg bereits dieses Konzept Probleme. Denn eingesetzt wurde eine Freiheit – als „positive“ oder „negative“ sei hier dahingestellt –, die immer schon fragil und bedroht war oder jedenfalls als solche behauptet wurde und damit zum prominenten Gegenstand unterschiedlichster Interventionsstrategien werden konnte.58 Inwiefern diese Interventionen sinnvoll und angemessen waren, musste dann durch Reflexion auf die je verfügbaren Wissens- und Praxisformen bestimmt werden. 55 Zu aktuellen Debatte Endress, Vertrauen, Bielefeld 2002, S. 10 ff. und öfter. 56 Bei Augustinus gilt das insbesondere für ‚De civitate dei‘ von 426; für Thomas v. Aquin sei auf dessen ‚summa theologica‘ von 1265 verwiesen. Hugo Grotius und Jean Bodin sind beide als brillante neuzeitliche Naturrechtstheoretiker in die Geschichte eingegangen, der erste durch seine ‚Les six livres de la République‘ von 1576, der zweite durch die völkerrechtliche Schrift ‚De jure belli ac pacis‘ von 1625. 57 Zu den insoweit vorausgesetzten Autonomisierungsstrukturen gemeinschaftlichen Handelns und Urteilens siehe die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt. 58 Zu den unterschiedlichen Freiheitsformen Berlin, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a. M. 1995; zu den entsprechenden Interventionsstrategien Foucault, Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 180 ff.
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Das moderne (Straf-)Rechts- und Staatsverständnis begreift die Kontexte des Sozialen grundsätzlich als Konstellationen normativer Ungewissheit. Letztere werden als bedrohungsrelevante Risiken oder Gefahren reformuliert, deren Verletzungs- und Schadenspotential, so jedenfalls die Behauptung, nur durch einschneidende, insoweit aber immer auch schwer zu lancierende Präventions- und Vorbeugemaßnahmen begegnet werden kann. Das Paradigma der Vorbeugung, so betont Ewald, „ruft eine neue Ökonomie der Rechte und Pflichten auf den Plan“, zugleich tritt mit ihm der wieder entdeckte Begriff der Ungewissheit in den Vordergrund. Letzterer, so Ewald weiter, verweise gleichsam darauf, dass eine Kontrolle des Machbaren allein durch das Wissen eine Utopie sei, also immer öfter nur vermutet oder befürchtet werden könne, vor allem aber, dass sich ein modernes Sicherheitsdenken diesen Strategien anpassen müsse.59 Gerade dieser Skeptizismus verändert auch den Geltungsbereich der Wissensproduktion, die Genese von Wissen und den Status der Wissenschaft innerhalb der gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge. Nun ist unbestritten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse relativ zu einem bestimmten Wissensstand sind. In ihrem Ressort bringt Wissenschaft, welcher Provenienz auch immer, zwar keine letzten Gewissheiten, aber doch ein von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkanntes Referenzwissen hervor. Der Präventions- und Vorbeugegedanke jedoch provoziert immer wieder zum Vorgriff auf das, was man noch nicht weiß, ermuntert zur Berücksichtigung zweifelhafter Hypothesen und bloßer Vermutungen. Ihm wird „Wissenschaft zum Prinzip des Misstrauens. Eines doppelten Misstrauens: gegenüber der Wissenschaft selbst, und gegenüber den zahlreichen Evidenzen, die dafür sorgen, dass die Gesten des Alltags nicht Anlass permanenter Verwunderung sind“.60 Die Normressourcen und entsprechende Kommunikationsformen moderner Gesellschaften werden so unmittelbar an ein permanentes Verdachtsmanagement und Beeinträchtigungsrisiko geknüpft, dessen etwaige Realisierung dann als Folge individuellen oder kollektiven Handelns resp. Unterlassens gedeutet wird.61 Im Zentrum stehen dabei zwei verschiedene Konfliktverarbeitungsstrategien: So kann man bereits im Vorfeld das Eintreten unerwünschter Ereignisse zu verhindern suchen, oder man kann Vorsorge treffen, dass im Falle ihres Eintretens der Schaden oder das Unrecht restituiert werden kann, wobei in der Regel darauf geachtet wird, dass auch in diesen Konstellationen das Verfahren nachhaltige Wirkungen für die Zukunft verspricht.62 Unter der Hand werden damit aber auch die Grenzen zwischen den verschiedenen Normstabilisierungs- und Konfliktverarbeitungsstrategien verschliffen. Ob politische, zivil-, verwaltungs- oder strafrechtliche Konfliktlagen, entscheidend sind nicht mehr der Grad oder die Struktur der Freiheitsverletzung und die damit einhergehenden Abschichtungen der Eingriffsintensitäten (Sanktionen), sondern das symbolische Potential, was die jeweilige Reaktion verspricht und das notwendig scheint, um in der (medialen) Öffentlichkeit die erwünschte Wirkung zu erzielen. In diesem Sinne, so Hasse-
59 Ewald (Fn. 2), S. 5, 11 f.; allgemein hierzu Wittgenstein, Über Gewissheit, in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1989. 60 Ewald (Fn. 2), S. 16, 17. 61 Dazu im folgenden Abschnitt noch genauer. 62 Zu den unterschiedlichen Präventionsmodellen siehe nochmals Hafen (Fn. 47), S. 132 ff., dort auch m.w.N.
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mer, ist auch „das präventive sicherheitsorientierte Strafrecht nichts weiter als das zeitgerechte Strafrecht, und die Herstellung von Sicherheit durch Strafrecht ist nichts weiter als eine vernünftige Aufgabe in Zeiten, die durch Großrisiken, Zukunftsangst, Verbrechensfurcht und Kontrollbedürfnisse gekennzeichnet sind. In dieser bedrohlichen Lage darf, so gesehen, die Strafjustiz nicht zurück stehen; sie muss sich vielmehr mit ihren Mitteln an der Sicherheitspolitik beteiligen, will sie nicht ins innenpolitische Hintertreffen geraten oder gar ihre zeitgemäßen Aufgaben verfehlen. So dürften das auch die allermeisten Strafrechtler sehen und die Innenpolitiker sowieso“.63 Diese Entwicklung offenbart jedoch ein weiteres Problem moderner Sozialkontrolle. Jenseits transzendenter Legitimationsmuster, jenseits von Religionen und sonstigen Heilserwartungen, aber auch jenseits starker Vernunftkonzepte kann sich staatliche Macht nur noch durch einen umfassend-funktionalen Schutz individueller oder kollektiver Rechte behaupten: d. h. durch Fürsorge, Versicherung und Gefahrenoder Risikominimierung. Nichts darf außer Kontrolle geraten. Entscheidend ist dann aber immer schon die Effektivität und Durchschlagskraft des gewählten Sicherheitskalküls; eine Logik, die sich in den unterschiedlichsten Bereichen gesellschaftlicher Konfliktanalyse Bahn bricht, wie gerade die aktuellen Debatten zu politischen Ausnahmezuständen (Agamben) oder Feindkonstruktionen im Recht (Jakobs) in markanter Weise zeigen.64 Unter dem Motto: „Der Feind ist die eigene Frage als Gestalt“ wird die Unabweisbarkeit des Extremen zur Methode erhoben und so – schon aus Sicherheitsgründen – jede nur erreichbare (Denk-)Möglichkeit zum Prädikat der (Rechts-)Wirklichkeit umgemünzt.65 Präventions- und Vorbeugemaßnahmen entwickeln sich damit – das hat die bisherige Analyse zeigen können – nicht nur zum „Garant“ frühzeitiger Konflikt-, Schadens- und Unrechtsminimierung, sondern auch zum omnipräsenten Code, in dem komplex organisierte Gesellschaften ihre Zukunft und das heißt vor allem: ihre Sicherheitsstandards verhandeln. IV. DIE PARADOXE LOGIK DER PRÄVENTION 1. PRÄVENTIONSSTRATEGIEN ZWISCHEN GEGENWART UND ZUKUNFT Dieses Konzept der Konfliktverarbeitung ist alles andere als unproblematisch. Wenngleich nicht übersehen werden darf, dass komplex organisierte Gesellschaften auf diverse Steuerungs- und Interventionstechniken, also auf differenzierte Risiko- und Gefahrenabwehrmechanismen angewiesen sind.66 63 Hassemer (Fn. 49), S. 134. 64 Siehe Agamben, Homo sacer, Frankfurt a. M. 2002, S. 25 ff. und öfter; ders., Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004, S. 7 ff. und öfter und Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. Berlin 2008. 65 Das Zitat stammt ursprünglich von Theodor Däubler, wurde aber später durch Carl Schmitt in den rechtswissenschaftlichen Kontext überführt; dazu unter anderem Richter, Grenzen der Ordnung, Frankfurt a. M. 2005, S. 21. 66 Siehe hierzu etwa den von Bröckling et al. herausgegebenen Sammelband, Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2000 sowie Link, Versuch über den Normalismus, 3. Aufl. Göttingen 2006, S. 127 ff. und öfter.
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Ihrer Struktur nach sind Präventions- und Vorbeugestrategien vor allem eines: paradoxe Unternehmungen. Denn ihre Funktion besteht gerade darin, noch nicht vorhandene, erahnte oder nur potentielle Konflikte zu verhindern: praevenire heißt ja bekanntlich: zuvorkommen. Das zugrunde liegende Prinzip ist nichts anderes als eine „self-destroying prophecy“ (Bröckling). Konstruiert wird eine Zukunft und mit ihr ein Konflikt- oder Bedrohungspotential, die resp. das man um jeden Preis verhindern will. Prävention versucht im Grunde, „unerwünschte Zukünfte“ unwahrscheinlicher zu machen.67 Genau diese Struktur forciert aber auch die enormen Schwierigkeiten. So speisen sich die Sicherheitsstrategien oder -dispositive aus mehr oder weniger gut kalkulierbaren Prognosen, nämlich aus Zukunftsannahmen, die die unüberbrückbare Differenz zwischen der gegenwärtigen Zukunft, also dem was wir heute als erwünschte oder unerwünschte Zukunft unterstellen, und der zukünftigen Gegenwart, also dem, worüber wir im Grunde nichts sagen können, immer einrechnen müssen, allerdings nur selten können. Denn welche Zukunft sich als Gegenwart realisieren wird, wird man erst wissen, wenn sie nicht mehr in der Zukunft liegt und insoweit Gegenwart, gegenwärtige Gegenwart, geworden ist.68 Freilich, so Luhmann, schließt „dieser Bruch zwischen der gegenwärtigen Zukunft und den zukünftigen Gegenwarten […] Prognosen nicht unbedingt aus. Aber deren Wert liegt dann nur noch in der Schnelligkeit, mit der sie korrigiert werden können, und darin, dass man weiß, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt. Es gibt also nur eine ‚provisorische‘ Voraussicht, und ihr Wert liegt nicht in der Sicherheit, die sie gewährt, sondern in der raschen und spezifischen Anpassung an eine Realität, die anders ausfällt, als man das erwartet hätte“.69 Zukunft ist kontingent. Dabei ist die Stoßrichtung der Prävention grundsätzlich negativ, denn sie will immer verhindern und gerade nicht schaffen. Die Zukunft, die sie antizipiert, erscheint stets finsterer als die Gegenwart, der Verzicht auf Prävention furcht- und angsterregender als deren mögliche Effekte. Auch deshalb stellt die so apostrophierte Sicherheit keinen Zustand, sondern eine nur post hoc verifizierbare Konflikt- und Risikoprognose dar. Gleichwohl ist Prävention konservativ, selbst wenn sie das Leben von einzelnen Personen oder sogar Gruppen radikal verändert. Indem ihren Interventionen notwendig das prognostizierte Wissen, die Werturteile und die Machtkonstellationen der Gegenwart zugrunde liegen, projiziert sie die Gegenwart normativ auf die Zukunft. Beschrieben wird insofern nicht die (erlebte oder erlebbare) Wirklichkeit, als vielmehr eine eigens strukturierte Bedrohungswahrnehmung, die selbst erst eine „prognosekompatible Wirklichkeit“ und damit die notwendige Legitimationsbasis erzeugt. Gerade aber das kann oder muss sogar, entgegen aller „Rationalisierungs- und Entzauberungsstrategien“ (M. Weber), zur Mystifizierung von tatsächlichen Bedrohungslagen und den entsprechenden Akteuren führen, wie sich vor allem an der bereits erwähnten „Ausnahmezustands- und Feindrechtsdebatte“ zeigen lässt.70
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Hafen (Fn. 2), S. 250 ff. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 2006, S. 129 ff. AaO, S. 140. Von der Diskussion um so genannte „Schläfer“ ganz zu schweigen.
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2. DAS ANTHROPOLOGISCHE FUNDAMENT DER PRÄVENTION UND DIE ENTGRENZUNG DES RECHTS Verstärkt wird die Präventionsmatrix durch das Modell einer negativen Anthropologie: In diesem Sinne liegt den Vorbeugepraktiken sowohl das Bild eines gefährdeten als auch das eines potentiell selbst gefährlichen Akteurs zugrunde. Dagegen mutet die kantische Konzeption schon fast romantisch an. Denn ihrem Fazit: „Aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ – korrespondierte immerhin das Vertrauen, dass der Mensch sich als dieses krumme Holz begreifen und seine Stellung in der Welt reflektieren kann.71 Sie unterscheidet sich aber auch von anderen, modernen Anthropologien. Hatte Gehlen den Mangel in der „morphologischen Unspezialisiertheit“ gesehen und deren Kompensation durch eine rationale und kulturimprägnierte Weltorganisation des Einzelnen behauptet,72 Plessner wiederum auf die „exzentrische Positionalität“ als Konstante menschlichen Daseins insistiert,73 so werden nun auch diese Sinnpotentiale zum Problem und schließlich gegen den Akteur selbst gewendet. Aber auch das ist alles andere als verwunderlich: Denn eine solche negative Anthropologie sucht weder nach Universalien der menschlichen Existenz, noch verwirft sie deren Möglichkeit, sondern übersetzt die Frage nach der Natur des Menschen in die praktisch-funktionale Aufgabe, menschliche Defizite durch rechtliche, sozialpolitische oder polizeiliche Maßahmen oder durch Strategien der Selbstführung und -disziplinierung zu verhindern, jedenfalls aber zu minimieren.74 Weil Risiken aber – anders als entstandene Schäden oder erlittenes Unrecht – nur probabilistisch, also in einem Wahrscheinlichkeitskalkül, erfassbar sind, generalisiert der präventive Blick den Verdacht und sucht Indizien aufzuspüren, die auf künftige Übel, also Konflikte hindeuten und an denen die vorbeugenden Maßnahmen ansetzen können.75 Fluchtpunkt dieser Strategie ist das Ideal der totalen Transparenz. Daraus folgt eine Praxis fortwährender Visualisierung, die wiederum kontinuierliche Kommunikation und Vernetzung erfordert. Ihr hat sich jegliche Form der Risiko- und Konfliktbekämpfung unterzuordnen. Vor allem für das Recht und insbesondere für das Strafrecht bedeutet das eine völlige Entgrenzung des Verantwortungszuweisungsprogramms. Entsprechende Unschärfen bei der Bestimmung personaler Freiheitsspielräume und 71 72 73 74 75
Vgl. hier die Schrift: Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, GS 1902 ff., ND 1977 [1784], AA VIII, S. 23. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 14. Aufl. Wiebelsheim 2004 [1940], S. 86 ff. und öfter. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 3. Aufl., Berlin/New York 1975 [1928], S. 292 ff. Bröckling (Fn. 3), S. 43 f. Das Modell einer negativen Anthropologie ist freilich nicht neu (es wirft vor allem die Frage auf, inwieweit moderne Präventionsargumente wieder mittel- oder unmittelbar an hobbesschen oder ähnlichen Konzepten anknüpfen – und was das im Einzelnen bedeutet oder bedeuten kann). Bereits das 17. Jahrhundert kennt die „Logik des Extrems“ und damit den Versuch, umfassende (Selbst-)Disziplinierungsstrategien zu installieren: exponiert vorgetragen wird das schon von dem Jesuiten Gracian. Letzterer hatte in seinem Handorakel von 1647 nicht nur eine konzise ausgearbeitete Klugheitskonzeption, sondern auch eine entsprechende Verhaltenslehre entwickelt; vgl. dazu etwa Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, Frankfurt a. M. 1994, S. 53 ff.
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tatbestandlicher Verletzungsformen werden als Beurteilungsspielräume des Gesetzgebers oder zeitangemessener Kriminalpolitik ausgegeben und so die Differenz zwischen Schuldzurechnung, Strafzumessung und Gefahrenabwehr überspielt.76 Welche Schwierigkeiten diese Form der Funktionalisierung mit sich bringen kann, zeigen die Entwicklungen der Vorfeldkriminalisierung im Allgemeinen und der Maßregeln oder Gefährdungsdelikte im Besonderen. Nicht weniger deutlich wird es im Strafprozessrecht, und dort vor allem bei der Implementierung polizeilicher Verdachtsargumentationen; man denke nur an die Haftgründe, insbesondere an § 112 III StPO, die Telekommunikationsüberwachung (§ 100a ff. StPO) oder aktuell an die Novellierung des BKA-Gesetzes.77 Wenn sich aber die Verbrechensprävention nicht allein darauf beschränkt, Täter zu bestrafen, um diese – nach heute überwiegender Überzeugung auch andere Gesellschaftsmitglieder – von zukünftigen Straftaten abzuhalten, sondern zugleich Kriminalitätsraten (oder Dunkelziffern) berechnet und kriminogene Faktoren, wie z. B. Habitualisierungsstrukturen, herauspräpariert, um dann auf diese einzuwirken, so überlagern normalistische Steuerungsmechanismen die normativen Regelungen.78 Umgekehrt wird die Normalität selbst normativ aufgeladen. Das Mittel- wird zum Mindestmass, während Abweichungen vom Durchschnitt Risiko- bzw. Tätergruppen definieren und so neuen Präventionsbedarf signalisieren. Die Anziehungskraft (kriminal-)präventiven Handelns beruht insofern vor allem darauf, dass sie die Denormalisierungsangst, möglicherweise die Grundangst der Moderne, mobilisiert, aber eben auch zu bewältigen verspricht.79 V. POSITIONEN UND PERSPEKTIVEN Die Vorbeuge- und Präventionslogik moderner Gesellschaften ist Ausdruck eines gewandelten Legitimationsverständnisses. Risiken und insoweit verbundene Konflikte werden im Kontext systembedingter Kontingenzerwartungen verhandelt und so eine – mehr oder weniger – permanent bestehende Bedrohungsmatrix behauptet. In Kauf genommen wird damit ein enormer Aktivismus, der selbst keine Wirklichkeit beschreibt, sondern nur Wahrnehmungen zu eigenen „Wirklichkeiten“ konstruiert: Je mehr von Sicherheit die Rede ist, desto größer ist die reale oder eben imaginierte Unsicherheit, desto dringlicher der Impuls, etwas dagegen tun zu müssen, und desto gravierender die Maßnahmen, die zu diesem Zweck erforderlich und gerechtfertigt erscheinen (Bröckling). Das aber bedeutet – wie bereits betont – die völlige Entgrenzung staatlicher Disziplinierungs- und Fürsorgepraktiken, des (Straf-)Rechts und nicht zuletzt der Kriminalpolitik. – Will man eine solche Entgrenzung sozialer 76 77
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Siehe dazu bereits die Ausführungen im Abschnitt III.2. Zur Ausweitung präventions- und gefahrentheoretischer Argumentationen im Straf(verfahrens) recht Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzungin, ZStW 97 (1985), S. 751– 785; Weßlau, Vorfeldermittlungen – Probleme der Legalisierung „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ aus strafprozessrechtlicher Sicht, Berlin 1989; Wohlers (Fn. 47) sowie Verf. (Fn. 27), S. 194 ff. und öfter; insbesondere zum BKA-Gesetz BGBl I v. 25.12. 2008, S. 3083 ff. Dazu Link (Fn. 66), S. 127 ff., 424 ff.; in diese Richtung auch Bröckling (Fn. 3), S. 44. Link (Fn. 66), S. 139 ff.; vgl. zu diesem Kontext auch Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968.
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Praktiken, vor allem des Rechts, wirksam verhindern oder zumindest normativ einhegen, zugleich aber auf den Konfliktpräventionsgedanken nicht verzichten, so muss das Sicherheitsdispositiv des modernen Staates auf ein Konzept jenseits der hobbesschen Perspektive zurückgeführt werden; auf ein Konzept, dessen politische und rechtliche Grammatik, bei aller Katastrophen- und Denormalisierungsangst, das Autonomisierungspotential einer Gesellschaft und die Rationalitätsstandards individueller Entscheidungen tatsächlich ernst nimmt. Das Aufklärungs- und Rationalisierungskonzept des modernen Gewährleistungsmodells muss also selbst wieder reflektiert und insofern rationalisiert werden. Damit wird nicht der Weg in eine staatstheoretische Utopie angetreten oder einer neuen „Metaphysik des Rechts“ das Wort geredet, sondern darauf insistiert, dass auch gegenwärtige, komplex organisierte Gesellschaften auf ein personal vermitteltes – und deshalb immer auch problematisches – Vernunftfundament nicht verzichten können;80 jedenfalls dann nicht, wenn mit dem allfälligen Sicherheitsargument mehr gemeint sein soll als eine krude Rechtfertigung macht- und herrschaftsorientierter Normerhaltung. Nur unter dieser Voraussetzung, so scheint es, kann auch das eingangs erwähnte Leistungs-Legitimations-Paradigma noch seine rechts- und sozialstaatliche Funktion erfüllen und schließlich zu dem beitragen, was wir in der Praxis eines funktionierenden Gemeinwesens mit dem Begriff der condition humaine identifizieren. Akademischer Rat Dr. Benno Zabel B.A. Universität Leipzig Juristenfakultät Burgstraße 27 04109 Leipzig
80 In diesem Sinne bereits Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 60. Dort heißt es: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese Regulierungskräfte nicht von sich aus, d. h. mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ Einen Vorläufer findet dieses Diktum bereits bei Joseph v. Eichendorff; letzterem wird die Formulierung zugeschrieben: „Keine Verfassung [...] garantiert sich selbst.“ Dazu wiederum Kirchhoff, Die postsäkulare Gesellschaft, in: FAZ Nr. 127 v. 3. Juni 2004; zum ganzen jetzt Goerlich/Huber/Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug?, Forum. Theologische Literaturzeitung 2004 (14), 9 ff.
MÔNICA WEITZEL* EINSCHÄTZUNGSSPIELRAUM DES STAATES ODER DER GESELLSCHAFT? ZU LADEURS ABWÄGUNGSKRITIK† I. PROBLEMSTELLUNG Die Staatsentwicklung in der westlichen Welt führt zum Autonomieverlust der Nationalstaaten und bringt eine neue Form der Relationierung zwischen Staat und Gesellschaft mit sich. In der Gesellschaft werden sich neue Formen der Konfliktlösung und neue Arten von Konflikten entwickeln, zu deren Bewältigung sich die traditionellen Konfliktregeln des Staates als unzureichend erweisen. Aufgrund der Steigerung von Komplexität in einer selbstmodifizierenden Gesellschaft plädieren einige Autoren dafür, dass das Subjekt nicht mehr als zeitloses Zentrum des Denkens konzipiert werden kann. Die komplexeren und pluralen Relationen zwischen Organisationen, Individuen und Staaten bauen an dessen Stelle ein Netzwerk anonymer Relationen, das man sich nur noch als transversal vorstellen kann1. Im Rahmen des Zivilrechts beispielsweise, das grundlegend durch Kooperation und Privatautonomie geprägt ist, illustrieren die langfristigen Beziehungsverträge2 (etwa Franchising, Leasing und Joint-Venture) den heterarchischen Charakter der Relationen. Aufgrund der Mehrzahl der Parteien, der Dauer und der ständigen Veränderungen in den Rahmenbedingungen verlieren diese vertraglichen Beziehungen ihre traditionelle Linearität und Diskontinuität, um komplexer zu werden: die Parteien bauen Netzwerke zueinander auf und müssen die Klauseln des Vertrages kontinuierlich vereinbaren und planen. Diese Verträge sind ein Reflex der Generierung von Regeln und Regelmäßigkeit innerhalb einer selbstorganisierten Gesellschaft, zu deren Konfliktlösung der Staat nur über begrenzte oder ungeeignete Regeln verfügt. Nicht nur im Bereich des Zivilrechts werden dennoch heterarchische Vernetzungen gebildet. Gerade auch in den traditionellen Bereichen des öffentlichen Rechts, die lange Zeit durch eine hierarchische Machtbeziehung zwischen Staat und Individuen gekennzeichnet waren, sieht man die Entwicklung neuer Formen von Konflikten, die vom Rechtssystem, insbesondere von der traditionellen Grundrechtstheorie, nur in sehr begrenzter Weise berücksichtigt werden. Innerhalb einer selbstorganisierten Gesellschaft werden die sozialen Teilsysteme (etwa Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, etc.) neue Regeln, Konventionen und Muster für die Lösung grundrechtlicher Konflikte erzeugen, die noch nicht als Kriterium für die Rechtsentscheidungen in Betracht gezogen werden. Diese neuen Formen der Konfliktlösung ergeben sich als * †
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Mônica Danielle de Castro Weitzel, LL.M. (Universität Passau). Studium der Rechtswissenschaften an der Universität von Juiz de Fora/Brasilien. Mein herzlicher Dank gilt Philipp Ehrl, Andreas Popp und Elisabeth Ehrl für die Lektüre und Diskussion dieses Beitrags. Vgl. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung, Berlin 1992, S. 85 ff. Vgl. Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schulverträge: Rechtsfindung und Inhaltskontrolle, Tübingen 2001, S. 10 ff.
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Folge der Globalisierung, die die Dynamisierung der Beziehungen zwischen diversen Akteuren in der Welt ermöglicht. Die Steigerung der Komplexität der Relationen schafft Ungewissheitsbedingungen im Entscheidungsprozess, die nicht mehr vom Rechtssystem ignoriert werden können. Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob das Abwägungsmodell in der Lage ist, sich selbst zu beschreiben und weiter zu operieren, ohne die neuen Regeln und Muster der selbstorganisierten Gesellschaft zu berücksichtigen. Anders formuliert: Sollte der Staat weiterhin überwiegend für die Lösung grundrechtlicher Konflikte zuständig sein? Oder sollte die Lösung solcher Konflikte der Gesellschaft selbst überlassen werden? Ladeur schlägt zur Beantwortung dieser Fragen ein postmodernes Rechtsmodell vor, das die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft als heterarchisch betrachtet. In diesem Beitrag wird zuerst ein kurzer Überblick über die Grundlagen einer postmodernen Grundrechtstheorie gegeben. Zweitens wird ausgehend von dieser Theorie eine Kritik am Abwägungsmodell vorgestellt. Abschließend möchte ich die Idee des Einschätzungsspielraums der Gesellschaft – von Karl-Heinz Ladeur – der Idee des Rechtsstaatsprinzips als Re-entry – von Udo Di Fabio – gegenüberstellen. II. DIE GRUNDLAGEN LADEURS POSTMODERNER RECHTSTHEORIE Ladeur strebt die Rekonstruktion des Paradigmas des klassischen liberalen Rechts und die Konstruktion einer neo-liberalen Rechtstheorie an, die an die Möglichkeit der Entstehung einer kollektiven transsubjektiven Rechtsordnung glaubt. Für ihn haben die Fragmentierung und Pluralisierung der Weltordnung die Auflösung der Einheit des Subjekts und der Universalität der Vernunft zur Folge. Das Subjekt kann nicht mehr als Inhaber des archimedischen Punkts gedacht werden, das durch sein Bewusstsein und sein Denken die Realität der Welt aus sich heraus produziert. Außerdem wird durch diese Prozesse die Eigenwertigkeit der Sprache und des Kollektiven akzentuiert. In Anknüpfung an Welschs Begriff der transversalen Vernunft glaubt Ladeur, dass die Rationalität in der Postmodernen Gesellschaft unter Ungewissheitsbedingungen operieren muss. Um den Begriff der transversalen Vernunft von anderen Vernunftbegriffen abzugrenzen, geht Welsch vom Unterschied zwischen praktischer und theoretischer Vernunft aus: „nur eine Vernunft, die sich auf ewigkeitliche Bestimmungen zu richten und immergültige Aussagen zu treffen vermag, kann die Aufgaben theoretischer Vernunft erfüllen. Nur eine Vernunft die sich auf Veränderliches einzulassen und inmitten von Stabilität und Instabilität das Richtige zu treffen vermag, kann die Aufgaben praktischer Vernunft erfüllen.“3 Für Welsch haben die Begriffe transversale Vernunft und praktische Vernunft viele Affinitäten: beide werden durch Differenz und Grenze, Unüberschaubarkeit und Veränderlichkeit, Polyperspektivität und Verknüpfung gekennzeichnet. Sie unterscheiden sich dadurch, dass die transversale Vernunft nicht auf Transzendenz zielt, sondern „sie operiert strikt unter Bedingungen der Endlichkeit, ist Vernunft für diese Welt.“4 3 4
Welsch, Vernunft: die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 791. Welsch (Fn. 3), S. 789.
Einschätzungsspielraum des Staates oder der Gesellschaft?
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Ausgehend von Lyotard spricht sich Ladeur für die Eigenwertigkeit der Sprache aus, die innerhalb der fragmentierten Welt zeit- und kontextabhängig bleibt. Lyotard vertritt die These vom „Ende der großen Erzählungen“ der Moderne, die die Welt durch Gott, Nation oder Vernunft zu erklären beanspruchten.5 Für diesen Autor gibt es in der postmodernen Gesellschaft keine Spracheinheit: der Sinn aller SatzSpiele ist von den gesellschaftlichen Teilsystemen abhängig, zu denen sie gehören. Dementsprechend werden Individuen nicht mehr imstande sein Sinnfragmente der Sprache als Einheit zu verstehen. Sie werden nun als Teilnehmer an unterschiedlichen und nicht füreinander durchlässigen Sprach-Welten betrachtet.6 Die verschiedenen Diskurswelten werden nach Ladeur aufgrund ihrer Anschlusszwänge und Anschlussmöglichkeiten den Charakter einer transsubjektiven selbstgenerierten Ordnung annehmen.7 Diese Ordnung wird zwischen den Individuen entstehen und dann als emergenter Effekt eine kollektive Ebene generieren. In dieser Ordnung der multiplen Sprachspiele und der anonymen Relationen kann das empirische Subjekt „nur eine selbstmultiple provisorische Einheit von Differenzen sein“.8 Im Gegensatz zu Niklas Luhmann spricht sich Ladeur für den Begriff des autonomen Systems aus und glaubt, dass der Begriff der Autopoiesis nur für biologische Systeme verwendet werden sollte.9 Nach Vesting führt dies bei Ladeur „zu einer weniger starken Temporalisierung des Systemsbegriffs“ und ermöglicht es andererseits „der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung von Systemen eine kreativere Funktion einzuräumen“.10 Ladeurs Theorie unterscheidet sich zudem von Luhmanns Theorie, indem Ladeur die Rolle des Individuums neu spezifiziert. Individuen sind nach Luhmann an sozialen Systemen beteiligt, die ihre Handlungen über die Logik der Systeme definieren. Ladeur versteht Individuen als ein Unruhepotential, „das ständig neue Möglichkeiten generiert und dadurch die Binnenrationalität einzelner Sprachspiele der Subsysteme füreinander durchlässig machen kann“.11 Ladeurs Theorie stellt einen Wechsel von einer subjektzentrierten zu einer systemisch kollektiven Perspektive dar. Subjekte werden in dieser Welt innerhalb eines Netzwerks von Beziehungen experimentieren. Da es keine Möglichkeit für die Beobachtung einer Objekteinheit mehr gibt, wird Beobachtung eine plurale Funktion erfüllen müssen, die die Erzeugung von Ordnung aus Unordnung fördert. Die Gesellschaft ist nun a-zentrisch und durch unterschiedliche Rationalitäten gekennzeichnet. Grund dafür ist nach Ladeur, neben der Globalisierung und anderen Faktoren, wie etwa Umweltprobleme und neue Technologien, die zunehmende Bedeutung von gesellschaftlichen Organisationen und ihre besondere Form der Relationierung. Der Autor beschreibt Organisation als „ein spezifisches, mit eigenem „Selbst“ ausgestattetes Produkt der Transformation punktueller kooperativer Verhältnisse in einem dauerhaften Kooperationsprozess, sie ist weder eine bloße Erweiterung individueller 5 Vgl. Kronenberger, Theorien der radikalen Fragmentierung: Ladeur/Lyotard/Weber, in: Bunckel/ Christensen/Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S. 215–237, S. 225 ff. 6 Vgl. Vesting, Die Sprengkraft des Heterogenen. Über Karl-Heinz Ladeurs Entwurf einer postmodernen Rechtstheorie, ARSP (81) 1995, S. 92–101, S. 94. 7 Vgl. Ladeur (Fn. 1), S. 81 ff. 8 Ladeur (Fn. 1), S. 82. 9 Vgl. Vesting (Fn. 6), S. 93. 10 Vesting (Fn. 6), S. 95. 11 Ladeur (Fn. 1), S. 107.
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Selbstbestimmung noch eine Gemeinschaft mit einem von den Individuen getrennten Ziel“.12 Durch den Aufbau von Netzwerken werden Organisationen zueinander ein Aggregat kollektiver Wissensbestände erzeugen. Dies eröffnet insbesondere für das Rechtsystem eine neue Form der Rationalität, die die „Generierung und Selbstmodifikation von Wissen unter Ungewissheitsbedingungen zum Kriterium erhebt“.13 Ladeur spricht hierbei von einer prozeduralen Rationalität zweiter Ordnung. Prozedural bedeutet nicht die Suche nach einem Konsens unter den universellen gültigen Regeln eines moralischen Diskurses. „Prozedural – im Sinne der hier vertretenen kognitivistischen Position – ist viel mehr eine Rationalität, die selbstreflexiv (und damit den Staat als Regulierungsinstanz einbeziehend) soziale Institutionen primär unter dem Aspekt der paradoxen Konstruktion von Wissen unter Ungewissheitsbedingungen betrachtet.“14 Zweiter Ordnung bezeichnet die Möglichkeit der Selbsttranszendierung der Systeme, die durch Kreativität und Evolution neuen Wissens generieren und dadurch die Fähigkeit der Selbstreferentialität und der Selbstreflexivität entwickeln. Vom Prozess der Fragmentierung von Interessen bleibt die traditionelle Grundrechtstheorie nicht unberührt. Die Organisationsgesellschaft generiert ständig neues Wissen, das auch für die Lösung grundrechtlicher Konflikte verwendbar sein muss. Aufgrund der Heterarchisierung der Relationen zwischen Staat und Gesellschaft wird von den Grundrechten eine neue Funktion verlangt, nämlich, die „Gewährleistung von Flexibilität und [die] Selbstmodifikationsfähigkeit des gesellschaftlichen Wissens“.15 III. KRITIK DES ABWÄGUNGSMODELLS 1. EINFÜHRUNG Die Fragmentierung der Weltordnung gibt Anlass, die Funktion der traditionellen Grundrechtsdogmatik zu überdenken. Inwieweit sollten ihre Grundgedanken rekonstruiert werden, damit sie es ermöglichen, dass die Bedeutung der individuellen Freiheit nicht verloren geht? Und inwieweit ist eine universalistische Grundrechtstheorie mit den unterschiedlichen Rationalitäten autonomer Systeme vereinbar? Bezüglich juristischer Rationalität lassen sich zwei Strömungen in der Grundrechtsdogmatik unterscheiden: die Universalisten und die Pluralisten.16 Universalisten glauben an die alte Idee einer universalen oder einheitlichen Vernunft. Sie gehen davon aus, dass die juristische Argumentation nur ein Unter- und Spezialfall moralischer oder politischer Diskurse sei. Die Pluralisten glauben an die Auflösung der universalen Vernunft zugunsten einer transversalen Vernunft, die durch Teilrationalitäten autonomer Systeme geprägt ist. Universalisten bevorzugen ein normatives Bild der Gesellschaft, während Pluralisten beobachten, wie die Funktionssysteme der
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Ladeur (Fn. 1), S. 200. Ladeur (Fn. 1), S. 205. Ladeur (Fn. 1), S. 202. Ladeur (Fn. 1), S. 205. Vgl. Di Fabio, Das Recht offener Staaten: Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen 1998, S. 67.
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Gesellschaft reflexiv operieren.17 Das Beispiel par excellence einer universalistischen Rechtskonzeption ist die Theorie juristischer Argumentation von Robert Alexy. Im Anschluss an Habermas entwirft Alexy die These, dass die juristische Argumentation ein Sonderfall der praktischen Argumentation sei. Für einen Pluralisten wie Ladeur ist die Abwägung ein undifferenziertes Modell des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen. Seine Kritik geht davon aus, dass die überwiegende Verwendung dieses Modell im Rahmen der Grundrechtsdogmatik zu der Einebnung aller Differenzen zwischen Abwehrrechten und Schutzrechten geführt hat, mit denen das Rechtssystem reflexiv operieren kann.18 2. DIE OBJEKTIV-RECHTLICHE DIMENSION DER GRUNDRECHTE Das Konzept einer objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte wurde vom Bundesverfassungsgericht im Jahre 1958 in der Lüth-Entscheidung19 beleuchtet. Durch die Entwicklung dieser Idee wurden neuen subjektive Rechte – Schutzrechte – für die Bürger erzeugt, die den Grundrechten eine neue Funktion zuweisen: die Erfüllung staatlicher Zwecke und die Schaffung von Gerechtigkeit zwischen Individuen. Die Konzeption einer objektiv-rechtlichen Dimension geht von der Prämisse aus, dass die Grundrechte Wertpositionen seien und dass aus diesen Werten die Staatszwecke deduzierbar wären.20 Diese neue Dimension neigt dazu, „die Konturen der Grundrechte als Freiheitsrechte abzuschleifen und ihnen einen egalitären Gehalt zuzuschreiben“.21 Die Wertedimension der Grundrechte ermöglicht damit, dass der Staat den Schutz der einen gegen die Ausübung eines individuellen Rechtes durch andere garantiert. Dies führt allerdings zu den Fragen, ob Grundrechte im Verhältnis zwischen Bürgern geltend gemacht werden können und ob diese Konzeption mit der ursprünglichen Idee der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft vereinbar ist. Ladeur glaubt, dass durch diesen Wandel in der Grundrechtsfunktion nur wenig von ihrer ursprünglichen Eigenrationalität, nämlich die Selbstbeschränkung des Staates zugunsten der Garantie einer Privatsphäre für die Individuen, übrig bleibt.22 Bezüglich ihrer Entstehung meint Di Fabio, dass die Idee der Grundrechte sich aus dem Grundgedanken der Menschenrechte entwickelt hat, die „im einzelnen Staat weder ihre Quelle noch ihren einzigen Adressaten“ finden. „Ihr Geltungsgrund ist kein staatsgesetzlicher.“23 Erst durch die Bändigung des absolutistischen Staats gewinnen die Menschenrechte eine Zweitformulierung als staatliche Grundrechte, bzw. als Freiheits- Gleichheits-, Eigentums- und Staatsbürgerrechte.24 17 18 19 20 21
Vgl. Di Fabio (Fn. 16), S. 67 ff. Vgl. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, Tübingen 2004, S. 12. BVerfGE 7, 198. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1986, S. 404. Ladeur, Die objektiv-rechtliche Dimension der wirtschaftlichen Grundrechte. Relativierung oder Abstützung der subjektiven Freiheitsrechte?, Zeitschrift für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft, 2007, S. 1–10, S. 1. 22 Vgl. Ladeur (Fn. 18), S. 44. 23 Vgl. Di Fabio (Fn. 16), S. 61. 24 Vgl. Di Fabio (Fn. 16), S. 62 ff.
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Abwehrrechte bedeuten für Ladeur nicht nur die Eingriffsabwehr des Individuums gegen den Staat. Es geht ihm dabei mehr um die Gewährleistung einer kollektiven, nicht staatlichen Ordnung, die durch Selbstorganisation zwischen Individuen und Organisationen aufgebaut wird.25 Allerdings werden Abwehrrechte für die traditionelle Grundrechtstheorie anscheinend nur als Ausübung eines egoistischen Rechts betrachtet, die vom Staat zum Schutz der „Benachteiligten“ eingeschränkt werden müssen. Dies hat nach Ladeur aber zur Folge, dass die Verantwortung für das Scheitern einer Abwägungsoperation nicht dem Staat, sondern den Trägern von Abwehrpositionen zugerechnet wird.26 Negative Konsequenzen dieser Vorstellung für das Rechtssystem sieht Ladeur in der Individualisierung von gesellschaftlichen Risiken („z. B. Arbeitslosigkeit durch Kündigung, gesundheitliche Belastung unterhalb der Schwelle des Eingriffs in Rechte etc.“). Das Abwägungsmodell wird dementsprechend mit einem liberalen Modell kollektiver Risiken inkompatibel. Der Schutz vor Risiken darf nach Auffassung der postmodernen Rechtstheorie „nicht die experimentelle Ordnung gefährden, die in einer auf Rechten basierenden Ordnung institutionalisiert wird; er darf insbesondere nicht in einen destruktiven Zirkel der Selbstentlastung der Individuen führen und dadurch immer neue Risiken schaffen, statt mehr Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.“27 Die Bildung neuer Institutionen für die Absorption kollektiver Risiken innerhalb einer selbstorganisierten Gesellschaft soll durch die Entstehung neuer Rechtsschichten zur Rekonstruktion der klassischen liberalen Begriffe beitragen. Hierfür wird individuelle Freiheit mit Gruppenautonomien ergänzt und individuelle formale Gleichheit mit Gruppenparität und Chancengleichheit supplementiert.28 Diese neuen Institutionen müssen sowohl den Such- und Experimentierprozess der Organisationsgesellschaft gewährleisten, als auch die Ausübung von Abwehrrechten (z. B. Berufsfreiheit) durch die Möglichkeit längerfristiger Handlungs- und Wertorientierung. 3. DIE KRITIK DER HABERMASCHEN DISKURSTHEORIE Die Idee der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte wurde mit der Annahme verbunden, dass der Staat dazu imstande wäre, die Ungewissheit und Unbestimmtheit der grundrechtlichen Konflikte mittels Diskurs und Konsensfindung vollständig zu überwinden. Alexys Theorie der juristischen Argumentation knüpft beispielweise die Idee der Abwägung an die Habermasche Konzeption des intersubjektiven Diskurses. Nach Ansicht der liberalen Grundrechtstheorie wird die Plausibilität des Abwägungsmodells durch diese Verknüpfung vielmehr geschwächt als gestärkt.29 Ladeur strebt in Gegensatz zu Habermas an, die Verbindung von privaten Beziehungsnetzwerken und Öffentlichkeit anders zu formulieren: das Konzept der Öffentlichkeit bei Ladeur ist mit der Idee der Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft 25 Vgl. Ladeur (Fn. 18), S. 43. 26 Vgl. Ladeur (Fn. 18), S. 47. 27 Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft: zur Verteidigung der Rationalität der Privatrechtsgesellschaft, Tübingen 2006, S. 346. 28 Vgl. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation: die Erzeugung von Sozialkapital durch Institutionen, Tübingen 2000, S. 265. 29 Vgl. Ladeur (Fn. 27), S. 356.
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verbunden. Bei Habermas wird das wiederum eher als Überlegenheit des Öffentlichen über das Private gekennzeichnet. So schreibt Ladeur über die Habermasche Konzeption des Öffentlichen: „Die Möglichkeiten der Diskurstheorie sind – wenn man sie von einer Position aus bewertet, die den Vorrang der differentiellen Selbstorganisation der Gesellschaft betont – weniger in der Selbstaufklärung der Zivilgesellschaft zu suchen, vielmehr sind sie der Ausbreitung des Staates geschuldet, der sich immer mehr über die tradierten Unterscheidungen zwischen Öffentlichem und Privatem hinwegsetzt und die Zivilgesellschaft zu einem öffentlichen Raum macht, in dem immer neue Ansprüche an den Staat generiert werden.“30
Die Konzeption der deliberativen Demokratie ignoriert die Vorentscheidungen und die Strukturbildung des politischen Systems und des Rechtssystems sowie deren Umwelt und basiert stattdessen auf einer zeitlosen Wertordnung von Gerechtigkeitsprinzipien.31 Für die Entscheidungsprozesse werden beispielweise kognitive Ansprüche erhoben, die Ladeur unplausibel erscheinen: nach Habermas Anforderungen muss „jede gültige Norm … der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen (!), die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können“.32 Dort, wo sich die Gesellschaft durch den Aufbau von komplexeren Netzwerken zwischen Organisationen, Individuen und Staaten selbst organisiert und wo die Systeme mittels Selektion eine zeitabhängige Beziehung zu ihrer Umwelt definieren, wären diese Bedingungen der Habermaschen Diskursethik unerfüllbar. Nach Auffassung der liberalen Rechtstheorie wird „die Bewältigung der wichtigen politischen Probleme auf „stochastische Prozesse“ verwiesen, d. h. sie ist abhängig von einer Vielzahl von strategischen Interaktionen und mehr oder weniger unerwarteten Netzeffekten, die die Entscheidung nach vorfindlichen materiellen Prinzipien ausschließen“.33 Die Habermasche Diskursethik stützt sich auf das Demokratieprinzip und vernachlässigt die Tatsache, dass „die Grundrechte mindestens partiell ein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip zur Geltung bringen“.34 Aufgrund dieser Annahme vertritt Ladeur die These, dass der Schutz von Grundrechten, soweit er auf der Basis eines „ausdifferenzierten experimentellen Versuch-Irrtums-Muster“ angelegt ist, Vorrang vor dem Demokratieprinzip haben muss.35 Meiner Ansicht nach führt diese Annahme zu dem Ergebnis, dass ein Defizit an effektiven demokratischen Institutionen – etwa Partizipationsrechte – durch die Gewährleistung von Entscheidungsrechten für die Bürger (wie etwa Berufsfreiheit, Meinungsfreiheit, etc.) ausgeglichen werden könnte, soweit die Regeln und Konventionen, die in der Peripherie des Rechtssystems erzeugt werden, im Zentrum der Rechtsordnung – in der Entscheidungspraxis von Gerichten und Parlament – verwendet werden könnten. Das wäre 30 Ladeur (Fn. 28), S. 152 f. 31 Vgl. Ladeur, Der Staat der Systemtheorie und die postmoderne Herausforderung – die Krise des „Universalismus des Politischen“, in: Neves/Voigt, Die Staaten der Weltgesellschaft. Niklas Luhmanns Staatsverständnis, Baden-Baden 2007, S. 147–178, S. 149. 32 Ladeur (Fn. 31), S. 149. 33 Ladeur (Fn. 31), S. 150. 34 Ladeur (Fn. 31), S. 173. 35 Vgl. Ladeur (Fn. 27), S. 380.
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eine Alternative, die eine neue Form des Verhältnisses zwischen Grundrechten und Demokratie ermöglichen könnte. 4. ZUR NOTWENDIGKEIT DER KOORDINATION PRIVATEN UND ÖFFENTLICHEN WISSENS Infolge der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte und durch die Entdeckung immer neuer Schutzrechte für die Bürger wird der Einschätzungsspielraum des Staates zu Abwägungsoperationen ohne tiefgehende Begründungen erweitert. Dadurch wurde der Staat selbst „zum Grundrechtsakteur und seine Ziele zu objektiven Verfassungswerten“.36 Dabei wurde aber nicht in Frage gestellt, ob der Staat das Wissen für die grundrechtliche Konfliktlösung unter den Bedingungen der Ungewissheit akkumulieren kann.37 Bei dieser Fragestellung, geht die postmoderne Grundrechtstheorie im Anschluss an F. A. von Hayek davon aus, dass die selbstorganisierte Gesellschaft durch die Ausübung von Freiheitsrechten spontan Wissen erzeugt. Deshalb „sollten wir auch die Gebräuche, Einrichtungen und Werthaltungen, die unsere Zivilisation entwickelt hat, respektieren, weil sie die unbewusste Weisheit vieler Einzelner ausdrücken, die als freie Individuen zur Weiterentwicklung dieser Zivilisation beigetragen haben“.38 Ladeur unterscheidet unter anderem zwischen zwei Wissenstypen: Expertenwissen und Erfahrungswissen.39 Das Expertenwissen bezieht sich im Bereich der Rechtswissenschaft auf das professionelle Wissen, das von Richter und Gesetzgeber bei der Erfüllung ihrer Aufgaben erzeugt wird (zum Beispiel durch Abwägungsoperationen). Das Erfahrungswissen oder das kollektive Wissen bezeichnet einen Wissenstypus, der in der Gesellschaft über eine Vielzahl von Handelnden verteilt ist. Beispiele dafür sind ältere Technologien, Maschinenbau, Dampfkessel etc. Eine nächste Stufe von Wissen wird spontan in Netzwerken von gesellschaftlichen Akteuren generiert, was eher auf Hightech Industrien, Biotechnologie etc. zutrifft. Ladeur meint zu Recht, dass das normative Wissen sehr stark von diesen Wissenstypen beeinflusst ist. Dies war aber in der liberalen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhundert deutlicher erkennbar, weil damals der liberale Gesetzgeber die praktische Erfahrung in die Rechtsordnung einbeziehen konnte.40 Ein Beispiel hierfür kann im Gefahrbegriff des Polizeirechts gesehen werden: nach Trute nutzte das klassische Polizeirecht Alltagswissen und fachwissenschaftliche Erkenntnis, um die Gefahrenlage zu prognostisieren.41 Die gemeinsame Verwendung beider Wissensbasen ermöglichte die Abgrenzung unterschiedlicher Begriffe (etwa Gefahrenbegriff vs. Gefahrenverdacht), die nur unter bestimmten Kriterien (etwa Gefährlichkeit vs. Verdacht) eine gewisse polizeiliche Aufgabe erlauben (etwa Gefahrenabwehr vs. Gefahrenvorsorge). Die genaue Unterscheidung dieser Definitionen könn36 Ladeur (Fn. 18), S. 10. 37 Vgl. Ladeur (Fn. 18), S. 16. 38 Schwödiauer, Die kreativen Kräfte der Freiheit, in: Hüther, Klassiker der Ökonomie, Bonn 2006, S. 231. 39 Vgl. Ladeur, The Postmodern Condition of Law and Societal ,Management of Rules‘, Zeitschrift für Rechtssoziologie (27) 2006, S. 87–108, S. 104 ff. 40 Vgl. Ladeur (Fn. 18), S. 16. 41 Trute, Gefahr und Prävention in der Rechtsprechung zum Polizei- und Ordnungsrecht, DV (36) 2003, S. 501–522, S. 502.
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te dazu beitragen, rechtsstaatliche Bestimmtheit und Begrenzung der polizeilichen Befugnisse festzusetzen. Aufgrund eines so genannten Wandels der Sicherheitsaufgaben muss der Gesetzgeber heute diese Definitionen rekonstruieren, um sie auf neue Gefahrenlagen anwenden zu können (wie etwa bei der Terrorismusbekämpfung). Allerdings müssen diese neuen erforderlichen Maßnahmen auf der Basis dieser beiden Wissenstypen und ihrer Differenzierungen verankert werden, um eine ungewollte Debalancierung des Verhältnisses von Freiheit zu Sicherheit zu vermeiden. Heutzutage stellt dieses Thema die schwierigste Herausforderung bei der Erweiterung von Kompetenzen im deutschen BKA-Gesetz dar. Jedoch versucht der Gesetzgeber eine Lösung für dieses Problem durch Abwägungsoperationen zu finden.42 5. DIE BEDEUTUNG DER SUBJEKTIVEN RECHTE FÜR DIE POSTMODERNE GRUNDRECHTSTHEORIE In seiner Auseinandersetzung zu Luhmann glaubt Ladeur, dass die subjektiven Rechte eine unterschätzte Rolle in der Systemtheorie spielen. Sie werden in der Peripherie des Rechtssystems abgelegt, während die Entscheidungspraxis von Gerichten und Parlament ins Zentrum der Rechtserzeugung gestellt wird.43 Für Luhmann finden subjektive Rechte beim Freiheitsparadox ihre Bedeutung: bei der „Notwendigkeit von Freiheitsbeschränkungen als Bedingung von Freiheit“.44 Luhmann geht also davon aus, dass zuerst unbegrenzte Freiheit als Voraussetzung für die staatliche Schrankensetzung vorhanden sein muss. Für Ladeur sind Schranken den Freiheitsrechten inhärent und werden ihnen nicht nur von außen gesetzt. Der Begriff der Schadensgrenze gewinnt hierbei in seiner Theorie an Bedeutung: „Der liberale Schrankenbegriff war aber [trotz der falschen Annahme, dass es für den Liberalismus „Freiheit ohne Grenze“ geben könne] eng mit der Vorstellung einer Schadensgrenze des individuellen Handels verbunden. Im Begriff des Schadens (als Abweichung von einem normalen Bestand) war zugleich die Selbstorganisation der Gesellschaft vorausgesetzt. Dieses Schrankenmodell war unausgesprochene Voraussetzung des formalen Denkens des Positivismus, der keineswegs rechtsblind war. (…) Der aufklärerische Impetus der Schadensgrenze für staatliche Schrankensetzung kommt noch in Art. 5 S.1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.1789 zum Ausdruck: Danach hat das Gesetz nur solche Handlungen zu verbieten, die „der Gesellschaft schädlich sind“.45
Die Ausübung von subjektiven Rechten wird nun die Erzeugung von Wissen und Regeln für das Auftreten einer Schadensgrenze zulassen, innerhalb der eine kollektive transsubjektive Ordnung in der Gesellschaft entsteht, deren Schrankensetzung die Bildung von Netzwerken zwischen Individuen, Staaten und Organisationen ermöglicht. Dieser Prozess wird allerdings vom Abwägungsmodell gehemmt, weil es den Individuen erlaubt, ihre Erwartungen unmittelbar an den Staat zu adressieren und sich die Anpassungszwänge an diese Ordnung zu ersparen.46 42 Mehr dazu in Fischer-Lescano, Kritik der praktischen Konkordanz, Kritische Justiz 2008, S. 166–178, S. 168 ff. 43 Vgl. Ladeur, Das Subjektive Recht und der Wunsch nach Gerechtigkeit als sein Parasit, Zeitschrift für Rechtssoziologie (29) 2008, S. 109–124, S. 109. 44 Ladeur (Fn. 43), S. 109. 45 Ladeur (Fn. 18), S. 49. 46 Vgl. Ladeur (Fn. 43), S. 116.
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Wie oben erwähnt, unterscheidet sich Ladeurs postmoderne Rechtstheorie von Luhmanns Systemtheorie dadurch, dass bei Ladeur dem Rechtssystem eine kreativere Funktion eingeräumt wird: Subjektive Rechte erbringen nun primär eine generative Leistung durch Erzeugung neuer Möglichkeiten. Infolgedessen sollten diese neuen generierten Handlungsmöglichkeiten in der Entscheidungspraxis berücksichtigt werden.47 Im Gegensatz dazu wird bei Luhmann dieses „privat erzeugte Recht“ allerdings nur als Irritation in Rechtsform angesehen und erst zu der eigentlichen Autopoiesis des Rechtssystems gehören, wenn es zur Rechtsfrage wird. Die Unterschätzung der Funktion der subjektiven Rechte in dieser Weise hält Ladeur für sehr konservativ. Für ihn ist die Ausübung subjektiver Rechte bei der Reproduktion des Rechtssystems und bei der Entstehung von dessen Infrastruktur wichtiger einzuschätzen, als die explizite Entscheidungspraxis der Gerichte.48 6. DER EINSCHÄTZUNGSSPIELRAUM DER GESELLSCHAFT Die Idee vom Einschätzungsspielraum der Gesellschaft geht davon aus, dass die „Gemeinschaftsinteressen“ nicht ohne Berücksichtung des kollektiven Wissens erreicht werden können. Die Konzeption einer objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte sollte nicht dafür verwendet werden, das Sozialstaatsprinzip zu ersetzen. Wer hierfür plädiert, der verwischt nach Ladeur den Unterschied zwischen diesen beiden Instituten: „Das Sozialstaatsprinzip hat seinen Kern in der Absicherung gegen kollektive Risiken durch den Staat in eigenständigen Sicherungssysteme sowie in den Bildungssystemen, die die Öffentlichkeit des „Kollektiven Gedächtnis“ einer Gesellschaft ihre Reproduktion erhalten. Unmittelbar auf die Rechtsverhältnisse einzelner Privater kann das Sozialstaatsprinzip wegen der starken Abhängigkeit von staatlichen Organisationsleistungen nicht durchgreifen, es kann eher sekundär, etwa durch Wiedereinführung von Pflichten zur Rücksichtnahme und zur Erbringung von Beiträgen zu den kollektiven Sicherungssystemen herangezogen werden“.49
Auf der Basis einer objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte kann man also nicht die Erweiterung des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers für die Lösung grundrechtlicher Konflikte rechtfertigen. Ladeur wendet sich hierbei gegen die „soziale Epistemologie“ des Abwägungsmodells, die das Expertenwissen ohne Berücksichtigung des an die Gesellschaft gebundenen Erfahrungswissens überschätzt. Das Erfahrungswissen ist seinerseits an die Praxis gebunden und läuft implizit als Hintergrundwissen mit. Von daher ist es dem Staat sehr schwer zugänglich und auch dem „Experten“ nur schwer erkennbar. Aus diesen Grund beansprucht Ladeur die These vertretbar zu machen, dass der Einschätzungsspielraum des Staates (insbesondere des Gesetzgebers) sehr weit konzipiert ist und dass er zugunsten eines Einschätzungsspielraums der Gesellschaft zurückgedrängt werden muss: „in einer liberalen Ordnung ist der „Einschätzungsspielraum“ unter Ungewissheitsbedingungen primär bei der Gesellschaft und den Grundrechtsträgern selbst zu situieren“.50 Am 47 48 49 50
Vgl. Ladeur (Fn. 43), S. 114. Vgl. Ladeur (Fn. 43), S. 114. Ladeur (Fn. 21), S. 9. Ladeur (Fn. 18), S. 42.
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Beispiel der Ausgestaltung des Rechts auf Eigentum bedeutet das z. B., dass die Regeln und Muster, die mittels Vertragsschlüssen generiert werden und dadurch Eigentumstransfers ermöglichen, sehr viel stärker zu berücksichtigen sind, als die Ausgestaltungsformen des Staates, die das Eigentum nur als „Ergebnis eines Interessenausgleichs“51 begreifen. Dies gilt nach Ladeur als ein „notwendiges Komplement der Annahme, dass in einer liberalen Gesellschaft die Intelligenz der selbstorganisierten Handlungsnetze und der darin gespeicherten Erfahrung den Vorrang vor der staatlich gesetzten Zielen der „Gesellschaftssteuerung“ haben müssen“.52 Der Staat bleibt trotzdem in Ladeurs postmoderner Grundrechtstheorie nicht ohne Bedeutung. Innerhalb seines Einschätzungsspielraums muss er die Gesellschaft aus einer heterarchischen Position betrachten und durch seine Handlungen dazu beitragen, neue Möglichkeiten für den Experimentierprozess zu generieren und ihn offen zu halten.53 Von den Richtern wird verlangt, Erfahrungspraxis als Kriterium für das Urteil zu akzeptieren und dadurch über den Einzelfall hinaus zu denken. Dort wo die Gesellschaft über eigene Streitschlichtungsmechanismen für die grundrechtliche Konfliktlösung verfügt (etwa bei eBay54, Wikipedia55, ICANN56), können die Richter, ohne dies zu berücksichtigen, keine Entscheidung im Einklang mit der Gesellschaft und deren selbsterzeugten Konventionen treffen. 7. DIE ROLLE DES STAATES: GEWÄHRLEISTUNG DES SUCH- UND EXPERIMENTIERPROZESSES In der postmodernen Gesellschaft wird der Staat zwei wichtige Aufgaben erfüllen müssen: Auf der einen Seite muss er den Such- und Experimentierprozess garantieren und fortsetzen. Auf der anderen Seite, muss er die negativen Effekte einer Monopolbildung verhindern. Um Grundrechte für alle Individuen zu gewährleisten, muss er zudem eine längerfristige Ordnung erzeugen, die die Stabilisierung von Erwartungen durch Institutionalisierung ermöglicht. Diese Institutionen müssen aber mit einer liberalen Rechtsordnung kompatibel sein. Sie müssen es schaffen, eine neue MetaEbene der Abstimmung zwischen unterschiedlichen individualistischen und sozialstaatlichen Institutionen zu erzeugen: „neue Institutionalisierungen für die Nutzung neuer Wissenstypen (neue Technologien jenseits der Erfahrung), neue Organisationsformen (Großunternehmen), Bindung kollektiver Risiken (Versicherungen) müssen als eine „sekundäre Modellierung“ der älteren liberalen Institutionen konstruiert und auf diese erste Ebene der liberalen Rechtsordnung einschließlich der Grundrechte abgestimmt werden“.57 51 52 53 54
Ladeur (Fn. 18), S. 20 ff. Ladeur (Fn. 18), S. 42. Vgl. Ladeur (Fn. 18), S. 42. Siehe Ladeur, eBay-Bewertungssystem und staatlicher Rechtsschutz von Persönlichkeitsrechten, Kommunikation und Recht, 2007, S. 85 ff. 55 Siehe Ziewitz, Viel Ordnung, wenig Recht: Kollaborative Selbstkontrolle als Vertrauensfaktor am Beispiel Wikipedias, in: Klumpp/Kubicek/Roßnagel/Schulz, Informationelles Vertrauen für die Informationsgesellschaft, Berlin 2008, S. 173–188. 56 Siehe Viellechner, Können Netzwerke die Demokratie ersetzen?, in: Boysen u. a., Netzwerke, Ort 2007, S. 36–57, S. 39 ff. 57 Ladeur (Fn. 31), S. 169.
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Auf der Basis einer liberalen Grundrechtstheorie kann man die Annahme beleuchten, dass perverse Effekte, die eine Selbstblockierung des Such- und Experimentierprozesses verursachen können, insbesondere dort wahrnehmbar werden, wo der Staat unmittelbar zum Ausgleich kurzfristiger Interessen eingreift. Dies zeigt sich beispielsweise in den Ursachen der Finanzmarktkrise: Die Krise wurde nicht durch Laisser-faire verursacht, sondern aufgrund von interventionspolitischem, marktwidrigem Aktionismus. Wohlgemuth nennt konkret ihre Motive: „geldpolitischer Expansionismus, sozialpolitischer Dirigismus, und rechtspolitische Einladung zu betriebswirtschaftlicher Verantwortungslosigkeit“.58 Im Vordergrund der Interventionen stand das Ziel, Wohneigentum für die ärmeren Bürger zu ermöglichen. Durch lukrative staatliche Aufträge und Steuerprivilegien hat der US-amerikanische Staat die Hypothekarinstitute, Fannie Mae und Freddie Mac, dafür gefördert, Anforderungen an Kreditsicherheiten zu reduzieren. Der Analyse von Wohlgemuth zufolge wurden „steigende Immobilienpreise bei geld- und sozialpolitisch verbilligten Refinanzierungskosten und gleichzeitig politisch gedecktem Risiko der Kreditgeber vom Markt als Ersatz für übliche Kreditsicherheiten natürlich mit überbordender Begeisterung aufgenommen.“ Der Staat hat – sozusagen – durch diese Intervention die Schadensgrenze der Marktwirtschaft überschritten, die ohne weiteres den Begriff von Haftung als Bestandteil einer kapitalistischen Ordnung betrachtet: „wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen […] Investitionen werden umso sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für diese Investitionen haftet“.59 Die Gewährleistung der Freiheitsrechte aller Individuen bei der Lösung grundrechtlicher Konflikte ist nach Ladeur nicht allein vom Staat durch Abwägungsoperationen möglich. Sie wird vielmehr langfristig von der Gesellschaft selbst erreicht. Durch mittelbare Maßnahmen muss der Staat es ermöglichen, dass seine Intervention denjenigen zugute kommt, „die das Grundrecht (noch) nicht selbst ausüben“.60 Ein Beispiel hierfür ist im Bereich der Berufsfreiheit zu finden: „die intensive und extensive Nutzung des Grundrechtes aus Art. 12 GG in der Vergangenheit wird auch z. B. in der Zukunft für Jugendliche nach dem Ende ihrer Ausbildung neue Möglichkeiten der beruflichen Betätigung schaffen. (Umgekehrt wird der Kündigungsschutz wenig Positives bewirken, wenn die Arbeitsplätze auf dem Markt nicht zu halten sind)“.61 IV. GEGENÜBERSTELLUNG ZWEIER RECHTSTHEORIEN Bei Ladeur ist es m. E. nachvollziehbar, dass aus der Vernetzung von Individuen, Staat und Organisationen eine transsubjektive kollektive Ordnung auftaucht, die sowohl Kriterien dafür generiert, grundrechtliche Konflikte zu lösen, als auch Konventionen und Muster zur Ermöglichung der Freiheitsausübung (Schadensgrenze) erzeugt. Ladeur konstatiert ebenso, dass die staatliche Schrankensetzung gegen diese 58 Wohlgemuth, Asche auf ihrem Haupt. Die Staatsmänner rücken als Feuerwehr aus. Doch sie sind auch die Brandstifter, Internationale Politik (63) 2008, S. 48–53, S. 49. 59 Wohlgemuth (Fn. 58), S. 51. 60 Ladeur (Fn. 21), S. 9. 61 Ladeur (Fn. 21), S. 9.
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gesellschaftliche Entwicklung mittels Abwägungsoperationen zu der Abwertung einiger Grundrechte und ihrer Dimensionen führen kann. Fraglich ist jedoch, inwieweit dieses Problem durch die Idee eines Einschätzungsspielraums der Gesellschaft zu überwinden ist. Wie oben erwähnt wurde, setzt diese Konzeption eine Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft voraus, in der ersterer die selbstorganisierte Gesellschaft aus einer heterarchischen Position betrachten muss. Weil die „praktische Intelligenz“ dem Staat schwer zugänglich ist, muss er zurückdrängt werden und die Lösung für einen Konflikt nach den von der Gesellschaft entwickelnden Kriterien finden. Wenn also der Staat das benötige Wissen zu Konfliktlösung nicht akkumulieren kann, soll er diese Aufgabe der Gesellschaft selbst überlassen. Ausgehend von Udo di Fabio, der die Idee des Rechtsstaatsprinzips als Re-entry wiederbeleben möchte, könnte man die Hypothese vertreten, dass die Konzeption eines Einschätzungsspielraums der Gesellschaft die Leistung des Rechtsstaatsprinzips unterschätzt und infolgedessen die Erreichung von Gerechtigkeit als innere Konsistenz des Rechtssystems erschwert. Während Ladeur eine neue prozedurale Dimension neben der demokratischen Legitimation (kollektiv) und der rechtstaatlichen Bestimmtheit (individuell) dem Rechtsinstitut des Gesetzesvorbehaltes einräumen möchte, strebt di Fabio danach den inneren Zusammenhang zwischen Rechtsstaatsprinzip und rechtlicher Kohärenz zu demonstrieren.62 Beide Theorien haben die Kritik der traditionellen Grundrechtsdogmatik als Ausgangspunkt. Sie bieten allerdings unterschiedliche Antworten für die Lösung der Problematik der grundrechtlichen Schutzpflichten an. Meines Erachtens scheint die postmoderne Rechtstheorie, die in die Idee eines Einschätzungsspielraums der Gesellschaft mündet, im Widerspruch zur Idee des Rechtsstaats zu stehen, auch wenn sie nicht a priori ausschließt, dass der Staat per Gesetz die Regeln und Muster der selbstorganisierten Gesellschaft variieren oder standardisieren kann. Di Fabio weist dem Rechtsstaatsprinzip eine neue Funktion zu, die in Ladeurs Rechtstheorie unterschätzt bleibt. Ähnlich wie es Ladeur beurteilt, enthält nach di Fabio die Entwicklung des Grundrechtsschutzes unter dem Grundgesetz zwei Aspekte: Auf der einen Seite führt die Erweiterung von Rechtsschutzmechanismen (etwa Schutzpflichten) zu einer Aufwertung des Rechtsschutzes. Um dies zu gewährleisten, wird auf der anderen Seite auch die Staatsgewalt auf Dauer qualitativ und quantitativ überfordert.63 Aufgrund dieser defizitären Entwicklung verliert das Rechtsstaatsprinzip – nach di Fabios Auffassung – seinen eigenen Charakter „als sekundäres eigenständiges System der Staatsidee“.64 Die Mängel in der Rechtsentwicklung sowohl in Nationalstaaten als auch in der Europäischen Union möchte er nun durch die Wiederbelebung des Rechtsstaatsprinzips beseitigen. Für ihn besteht die Aufgabe eines solchen Instituts darin, die Voraussetzungen des rechtlichen Operierens zu bewahren: „die eigentliche Leistung des Rechtsstaatsprinzips […] wird aber durch das Recht und für das Recht
62 Siehe Ladeur, Was kann das Konzept der Prozeduralisierung zum Verständnis des Vorbehalts des Gesetzes und der Rechtsfortbildung beitragen?, in: Joerges/Teubner, Rechtsverfassungsrecht: RechtFertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2003, S. 85–97, S. 88; Di Fabio (Fn. 16), S. 55 ff. 63 Di Fabio (Fn. 16), S. 52. 64 Di Fabio (Fn. 16), S. 54.
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selbst erbracht, weil es innere Konsistenzanforderungen rechtsverbindlich macht.“65 Di Fabio sieht im Rechtsstaatsprinzip die Möglichkeit eines Re-entry: „… das grundlegend formgebundene Recht bildet in seinem Versuche, sich über Formanforderungen von der gesellschaftlichen Umwelt zu unterscheiden, rechtsverbindliche Entscheidungsregeln, mit deren Hilfe rechtliches Entscheiden dauerhaft möglich bleibt, indem sich das Rechtssystem bei Einzeloperationen selbst durch Formanforderungen auf Konsistenz hin beobachtet“.66
Im Anschluss an Luhmanns Begriff der Konsistenz der Entscheidungen als innere Gerechtigkeit des Rechtssystems67, glaubt di Fabio – erneut in Übereinstimmung mit Ladeur –, dass die Krise in der Grundrechtsdogmatikentwicklung weder mit Rückzug auf Ethik noch mit Werteabwägung überwunden werden kann.68 Wenn man allerdings nach internen Rechtskriterien fragt, ist es möglich – trotz zunehmender Komplexität im Recht – noch konsistent zu entscheiden.69 Aufgrund desselben Arguments – der Komplexitätssteigerung – vertritt Ladeur die These, dass die Gesellschaft selbst viel besser in der Lage wäre, grundrechtliche Konflikte zu lösen. Um den Staat in diese Konzeption mit einzubeziehen, verlangt er beispielsweise vom Richter, er dürfe „nicht einfach seine eigenen Rechtsvorstellungen zugrunde legen“, sondern müsse vielmehr „versuchen, bei der Abstimmung zwischen Gesetz und praktischen Handlungsmuster zu suchen, die dem Gesetz seinen „effet utile“ geben.“70 Wenn man davon ausgeht, dass die rechtliche Kohärenz als Hauptkriterium sowohl für die Rechtsverbindlichkeit als auch für die Gerechtigkeit gelten soll, dann könnte man zwei Vorstellungen in Frage stellen: auf der einen Seite dient es der Konsistenz der rechtlichen Entscheidungen nicht, dass der Richter – wie es Ladeur selbst zurückweist – seine eigenen Rechtsvorstellungen als Basis einer rechtlichen Entscheidung nimmt. Auf der anderen Seite fällt es schwer daran zu glauben, dass die Richter kohärenter urteilen können, wenn sie nach den gesellschaftlichen Kriterien suchen müssen. Für Fälle, deren Lösung von der subjektiven Wahrnehmung des Betroffenen abhängig sind (etwa Gentechnik, Sexualkunde, etc.), kann man wie Ladeur davon ausgehen, dass es dem Staat schwer fällt, klare und praktikablere Formulierungen für die Konfliktlösung anzubieten. Wenn man allerdings an die Verwirklichung anderer Grundrechte denkt (etwa Medienfreiheit oder Eigentumsfreiheit), ist nicht so eindeutig, dass man allgemein auf innere Konsistenz im Rechtssystem verzichten muss. Dass Ladeur diese Seite der Rechtsentwicklung und der gesellschaftlichen Entwicklung unterschätzt, beurteilt Vesting auf ähnliche Weise: „Bei allen Tendenzen der Pluralisierung und Fragmentierung, die nicht zu bestreiten sind – die moderne Gesellschaft hat doch noch eine andere Seite, und diese wird von Ladeur viel zu wenig belichtet: nämlich die der Standardisierung und Vereinheitlichung, der Entfaltung einer einzigen Weltgesellschaft, die nicht zuletzt auch einen Typus von Individualität erzeugt, dessen Träger auf der ganzen Welt nur noch sich selbst begegnen“.71 65 66 67 68 69 70 71
Di Fabio (Fn. 16), S. 55. Di Fabio (Fn. 16), S. 56. Vgl. Luhmann, Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts, Rechtstheorie (19) 1988, S. 26 f. Vgl. Di Fabio (Fn. 16), S. 56. Vgl. Di Fabio (Fn. 16), S. 57; Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M., 1993, S. 232. Ladeur (Fn. 62), S. 96. Vesting (Fn. 6), S. 100.
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Von Vesting und Teubner wird auch betont, dass die Gefahr besteht, dass die wirtschaftlichen und technischen Diskurse die Übersetzung des Diskurses anderer individueller Sphären (etwa Forschung, Kunst, Erziehung) monopolisieren.72 Dazu findet sich bei Vesting: „die treibenden Kräfte unserer Epoche heißen noch heute: Wissenschaft und Technik. Wie und in welchen Feldern diese immer wieder so mit den Kräften des Marktes vernetzt und verknotet werden, dass dem Recht nur die Anpassung an neue Gegebenheiten bleibt, wird durch Ladeurs Denken in Sprachcodes und Systemen eher vernebelt als erhellt“.73 Alexys Aussagelogiken für die Konstruktion von Schutzpflichten können auch durch das Kriterium des rechtlichen Operierens zurückgewiesen werden. So schreibt di Fabio zum Beispiel, dass es bei der traditionellen Grundrechtstheorie fragwürdig ist, aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einen Rechtsanspruch der Bürger gegenüber dem Staat auf Schutz ihres Leben vor Angriffen Dritter abzuleiten.74 Sowohl in Hinsicht auf die Konsistenz als auch auf die Unabhängigkeit rechtlichen Operierens ist dies nach di Fabio ungerechtfertigt. Die Idee eines Einschätzungsspielraums der Gesellschaft wäre deshalb nicht die einzige und vielleicht auch nicht die erste Lösung, die man gegen das Paradigma der Abwägung berücksichtigen müsste. Die Suche nach Kriterien innerhalb des Rechtssystems selbst wäre vielleicht zur Erreichung der Konsistenz von Rechtsentscheidungen vorrangiger und bestimmt auch dazu imstande, die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft zu bewahren. Anschrift der Autorin Mônica Danielle de Castro Weitzel, LL.M. Luisenthal 29 B Zi. 5–004 28359 Bremen E-Mail: [email protected]
72 73 74
Vgl. Teubner, Vertragswelten: Das Recht in der Fragmentierung von Private Governance Regimes, Rechtstheoretisches Journal (17) 1998, S. 234–265, S. 260 ff. Vesting (Fn. 6), S. 101. Vgl. Di Fabio (Fn. 16), S. 70.
III. KONFLIKTLÖSUNG AN DEN GRENZEN DES RECHTS MIT DEM RECHT KONKURRIERENDE KONFLIKTLÖSUNGSMETHODEN
CHRISTIAN NIERHAUVE* JURISTISCHE MEDIATION ODER MEDIATIVE JURISPRUDENZ? I. EINLEITUNG Die Mediation ist in der deutschen Rechtswirklichkeit angelangt. Am 21.05.2008 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Richtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen erlassen. Seitdem prüft das Bundesministerium der Justiz, ob und inwieweit es gesetzgeberischer Unterstützung bedarf, um die Mediation auch national auf ein festes Fundament zu stellen.1 Doch nicht erst durch den europarechtlichen Impuls ist die deutsche Justiz auf die Mediation aufmerksam geworden. Bereits einige Jahre vor dem Erlass der Richtlinie wurden in mehreren Bundesländern unterschiedliche Modelle gerichtsnaher, gerichtsinterner und außergerichtlicher Mediation erprobt.2 Ob man vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen bereits von einem Wandel der deutschen Streitkultur sprechen kann, erscheint zweifelhaft.3 Empirisch signifikante Veränderungen einer zunehmenden Streitbeilegung durch Mediation sind nicht bekannt, so dass die Vorstellung einer bürgerlich selbstverantworteten und konsensorientierten Konfliktbeilegung in der Gesellschaft weiterhin visionären Charakter behält. Ungeachtet der Frage, ob hier zu Lande die Mediation als Symbol für einen echten Bewusstseinswandel im Umgang mit Konflikten interpretiert werden kann, lässt sich zumindest konstatieren, dass sie Eingang in den rechtswissenschaftlichen Disziplinenkanon gefunden hat.4 Eine Vielzahl von Veröffentlichungen ist darum bemüht, das Konzept und die Methode der Mediation zu erklären, ihre Vor- und Nachteile gegenüber dem formalen kontradiktorischen Verfahren herauszustellen sowie ihre rechtlich zulässigen Anwendungsbereiche auszuleuchten. Sie zielen darauf ab, die Mediation dem praktisch tätigen Juristen als Alternative zum Rechtsstreit näher zu bringen.5 Obgleich die symbiotische Beziehung von Mediation und Recht *
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Der Verfasser des Beitrages ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, juristische Rhetorik und Rechtsphilosophie der FernUniversität in Hagen bei Prof. Dr. Katharina Gräfin von Schlieffen. ZKM 2008, S. 132 f.; Zypries, Geleitwort der Bundesministerin der Justiz, in: Hopt/Steffek, Mediation, Tübingen 2008, S. V u. VI. Anstatt vieler siehe Hopt/Steffek, Mediation – Rechtsvergleich, Regelungsmodelle, Grundsatzprobleme –, in: Hopt/Steffek (Fn. 1), S. 3–102, S. 8, Fn. 21; von Schlieffen, Der Mediationsstaat, in: Gosewinkel/Schuppert, Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, Berlin 2008, S. 181–203, S. 187. Ortloff, Europäische Streitkultur und Mediation im deutschen Verwaltungsrecht, NVwZ 2007, S. 33–36, S. 33; etwas zurückhaltender Strempel, Rechtspolitische Aspekte der Mediation, in: Haft/ von Schlieffen, Handbuch Mediation, München 2002, S. 104–136, S. 127; kritisch siehe Spellbrink, Mediation im sozialgerichtlichen Verfahren – Baustein für ein irrationales Rechtssystem, DRiZ 2006, S. 88–92, S. 88. Gem. § 5 a III DRiG zählt Mediation zu einer der Schlüsselqualifikationen der Rechtsberufe. Siehe anstatt vieler Breidenbach/Henssler, Mediation für Juristen, Köln 1997; Haft/von Schlieffen, Handbuch Mediation, München 2008.
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auf der rechtspolitischen Bühne Trendstatus genießt6, begegnen Mediatoren und Juristen hinter den Kulissen der Denkart des anderen mit Misstrauen.7 Beide Seiten sind von der Sorge umtrieben, dass das Reinheitsgebot ihrer Methode zur Konfliktbehandlung von der anderen Seite verwässert werden könnte, dass die Mediation zu juristisch und die Jurisprudenz zu mediativ wird.8 Diese Verunsicherung kulminiert in den Debatten um die Vereinbarkeit des Richteramtes und der Mediatorentätigkeit9 sowie um die Frage nach mediationsgeeigneten Quellberufen.10 Ich möchte diese Bedenken im folgenden Beitrag zum Anlass nehmen, das Verhältnis von Mediation und Jurisprudenz ein wenig näher zu betrachten. Dazu werde ich zunächst einen kurzen Überblick über die Debatte um Alternativen zum Recht in Deutschland geben (II.) und in diesem Kontext auf die Herleitung und Bedeutung des Kriteriums der Konfliktnähe näher eingehen (III.). Dem schließt sich eine Untersuchung des Verfahrenszieles der Mediation an (IV.). Zuletzt werde ich kurz die jurisprudentielle Konfliktbehandlung skizzieren (V.), um schließlich die Grenzen und Eigenständigkeit von Mediation und Jurisprudenz zu verdeutlichen (VI.). II. DIE DEBATTE UM ALTERNATIVEN ZUM RECHT IN DEUTSCHLAND Seit Beginn der 90er11 Jahre findet die Frage nach Alternativen zur rechtsförmigen justiziellen Streitaustragung ihre Antwort in der Vermittlung, die vor dem Hintergrund ihres Erfolges in den USA bereits in den 80er Jahren unter der englischsprachigen Bezeichnung Mediation in Deutschland auf sich aufmerksam machte.12 Das Nachdenken über und die Suche nach Alternativen zum Recht als Mittel der Konfliktentscheidung gibt es jedoch in der Bundesrepublik nicht erst seit dem Aufkommen der Mediationsbewegung. Mit ihr hat vielmehr eine Diskussion ihre Neuauflage erfahren, die bereits ein zentrales Thema der Rechtssoziologie seit den 1960er Jahre bildete.13 Ihr Wiedererstarken nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass Recht zunehmend aus dem Blickwinkel sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze betrachtet
6 Ziekow, Mediation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit – Möglichkeiten der Implementation und rechtliche Folgerungen, NVwZ 2004, S. 390–396, S. 391. 7 Von Schlieffen, Perspektiven der Mediation, in: Haft/von Schlieffen (Fn. 5), S. 197–216, S. 214. 8 Wolf/Weber/Knauer, Gefährdung der Privatautonomie durch therapeutische Mediation?, NJW 2003, S. 1488–1491, S. 1488 ff. 9 Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, München 2008, § 278 Anm. 2; Sarhan, Der Stellenwert der Mediation im Recht und in der Justiz, JZ 2008, S. 280–287, S. 285; Wimmer/Wimmer, Verfassungsrechtliche Aspekte richterlicher Mediation, NJW 2007, S. 3243–3247, 3245 f.; Spellbrink (Fn. 3), S. 88 ff. 10 Nierhauve, Standards der Mediation – Best Practice, in: Haft/von Schlieffen, (Fn. 5), S. 1173–1186, S. 1174 ff. 11 Von Schlieffen (Fn. 2), S. 184. 12 Strempel (Fn. 3), S. 127; Hynes/Bastine/Link/Mecke, Scheidung ohne Verlierer, München 2002, S. 16; Horn, Einführung in die Mediation, in: Hengstl/Sick, Recht gestern und heute: Festschrift zum 85. Geburtstag von Richard Haase, Wiesbaden 2006, S. 267–280, S. 269. 13 Siehe etwa: Krysmanski, Soziologie des Konflikts, Hamburg 1972; Coser, Theorie sozialer Konflikte, Berlin 1972; Bühl, Konflikt und Konfliktstategie, München 1973.
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wurde. Insbesondere die Beziehung zwischen Recht und Konflikt sollte in den folgenden Jahren einen Schwerpunkt rechtssoziologischer Forschung bilden.14 Die Untersuchung der wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Phänomene war zunächst keineswegs etwas Neues. Bildet der Konflikt doch bereits in der großen Erzählung von der Entstehung des Staates bei Thomas Hobbes den Ausgangspunkt für die Herleitung und Legitimation des staatlichen Rechts.15 Das Recht ist für ihn das Mittel, um die rationalen Selbsterhaltungswesen aus dem dauerkonfliktären und gemeinschaftsfeindlichen Naturzustand zu befreien: Der Leviathan als Sinnbild der Konfliktvermeidung durch rechtsgesicherten Furchtfrieden.16 Diese narrative Rekonstruktion prägte lange Zeit unser Bild vom Recht: das Recht als Nukleus einer jeden Friedensordnung. „Der Friede und das Recht kommen gemeinsam; das Recht bringt Frieden, und Herstellung des Friedens ist Voraussetzung für eine Entfaltung des Rechts. Überall, wo Recht sich entwickelt, löst es den gewaltsamen Kampf ab und setzt eine friedliche Lösung an seine Stelle. Rechtsverfahren tritt an Stelle von Selbsthilfe“, liest man in der Rechtsphilosophie von Coing17 – das Recht also ein Mittel, um einen spannungsfreien Zustand, Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit herzustellen und aufrechtzuerhalten.18 Im Angesicht eines solchen Rechtsverständnisses muten Konflikte als unerwünschte oder gar pathologische Erscheinungen in einer Gesellschaft an, die durch das Recht verbannt werden sollen.19 Mit Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts erscheint dieses Bild allmählich in einem anderen Licht. An die Stelle der philosophischen Erzählung schöpferischer Urbilder von einer geordneten, harmonischen und stabilen Gesellschaft – gesichert durch eine rechtsgarantierte Friedensordnung – tritt die sozialwissenschaftliche Empirie und Theorienarbeit und damit auch eine andere Konfliktdeutung. Der Konflikt wird als Wesen einer jeden menschlichen Gesellschaft akzeptiert und als Erscheinungsform der Interaktion zwischen Individuen und sozialen Gruppen untersucht und ausgedeutet. Er wird als ein wichtiges Element sozialer Interaktion begriffen, das Norm- und Regelbewusstsein schafft, jedoch gleichzeitig auch Motor für Veränderungsprozesse ist. Das neue wissenschaftliche Interesse für Recht und Konflikt bringt eine Vielzahl von Untersuchungen hervor, die sich mit verschiedenen Arten von sozialen Konflikten, ihren Entstehungsursachen, ihrem Verlauf und ihrer Bewältigung auseinandersetzen.20 Neben den rechtssoziologischen Bemühungen um eine theoretische Erfassung des Konfliktes bringen zudem die Rechtsethnologie, die Sozialpsychologie und die Ökonomie Einsichten und Modelle zur Funktion des Rechtes hervor, die eine differenzierte Wahrnehmung der Friedensfunktion des Rechts ermöglichen und ihm andere Entscheidungs- und Befriedungskonzepte gegenüberstellen.21 Damit war das Thema „Alternativen zum Recht“ geboren und mit ihm die 14 Zusammenfassend Röhl, Der konflikttheoretische Ansatz in der Rechtssoziologie, Rechtstheorie 1977, S. 93 ff.; ders., Rechtssoziologie, Köln 1980, S. 443 ff. 15 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a. Main 1987, S. 131 ff. 16 AaO. 17 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1969, S. 138. 18 Von Schlieffen (Fn. 2), S. 181. 19 Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, Tübingen 2007, S. 273. 20 Röhl ( Fn. 14), Rechtstheorie 1977, S. 93 ff. 21 Strempel (Fn. 3), S. 117.
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Frage nach einer optimalen und adäquaten Streitbehandlung interpersonaler Konflikte zur Sicherung des gesellschaftlichen Friedens.22 Unter dem thematischen Sammelbegriff der Alternativen zum Recht als Konfliktentscheidungsprogramm erschienen ganz unterschiedliche Anregungen und Modelle, die an dieser Stelle nicht zusammengefasst werden sollen, zumal sich der kreative Ideenreichtum zu diesem Thema kaum systematisiert darstellen lässt.23 Aus der Vielzahl der Arbeiten möchte ich hier nur jene herausgreifen, die die Frage nach alternativen Regelungsformen unter dem Aspekt der Konfliktnähe als Kriterium für eine qualitativ bessere Streitbehandlung versteht und maßgeblich zu einem Umdenken in der justiziellen Streitbehandlung beigetragen hat.24 III. DAS KRITERIUM DER KONFLIKTNÄHE 1976 veröffentlicht Gessner unter dem Titel Recht und Konflikt eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko, in der er eine empirische Überprüfung der Verläufe all jener Konflikte vornimmt, für die das Recht eine Regelungsmöglichkeit anbietet.25 Die Studie beschränkt sich auf sog. Konflikte des täglichen Lebens, für die das Zivilrecht adäquate Lösungen zur Verfügung stellt. Unter Konflikten des täglichen Lebens versteht Gessner Streitigkeiten zwischen Einzelnen und Organisationen wie Behörden oder Wirtschaftsunternehmen, zwischen Organisationen untereinander sowie Streitigkeiten, an denen nur Individuen beteiligt sind. Um die empirischen Befunde seiner Untersuchung analysieren zu können, entwickelt er innerhalb der Studie einen Ansatz, der das Streitverhalten aus den Eigenheiten der Konfliktsituation heraus erklären soll. Den theoretischen Bezugsrahmen bilden dabei systemtheoretische Annahmen Luhmanns.26 Ausgangspunkt ist die Interpretation der Gesellschaft als Gefüge regelhafter Beziehungen, ein Gefüge, das als solches bereits vor jeder Interaktion bestehe. Der Einzelne erfahre die soziale Welt als eine typisierte und strukturierte. Das menschliche Sozialverhalten sei durch die Erfahrung bestimmt, dass man das Verhalten des anderen als ein Typisches in typischen Situationen wahrnehme. Ego und Alter konstituierten sich gegenseitig. Daraus erwüchsen wechselseitige Verhaltenserwartungen – die Menschen begegneten sich mit Erwartungen und richteten ihr Verhalten nach den Erwartungen der anderen aus. Damit strukturierten Erwartungen fremdes und eigenes Verhalten. Diese Erwartungen wiesen selbst eine bestimmte Struktur auf, nämlich die Form sinnhafter Identifikationen von Erwartungszusammenhängen.27 22 Siehe insbesondere Blankenburg/Klausa/Rottleuthner, Vorwort der Herausgeber, in: dies., Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Opladen 1980, S. 9. 23 Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen, Zugang zum Recht, Bielefeld 1978; Blankenburg/Klausa/ Rottleuthner, aaO., S. 9; Blankenburg/Gottwald/Strempel, Alternativen in der Ziviljustiz, Köln 1982. 24 Gessner, Recht und Konflikt, Tübingen 1976; Falke/Gessner, Konfliktnähe als Maßstab für gerichtliche und außergerichtliche Streitbehandlung, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel, aaO., S. 289 f; Strempel (Fn. 3), S. 119 f. 25 Gessner, Recht und Konflikt, Tübingen 1976. 26 Gessner, aaO., S. 170 f. 27 Luhmann, Rechtssoziologie, Opladen 1987, S. 31 ff.; Gessner, aaO., S. 175 f.
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Verhaltenserwartungen könne man danach unterscheiden, ob sie auf eine konkrete Person, auf eine bestimmte Rolle oder auf bestimmte Programme wie etwa Normen und Gesetze bezogen seien. Je nach Interaktionspartner variierten die Komplexität und Dichte der kommunikativen Verknüpfung und somit auch die Verhaltenserwartungen. Daraus ergäben sich unterschiedliche Interaktionsformen, die sich je nach ihrer Komplexität voneinander abgrenzten und durch den Interaktionspartner regelmäßig determiniert würden. So weise etwa die Kommunikation mit einem Ehepartner aufgrund der sozialen und zeitlichen Dimension eine deutlich höhere Komplexität auf als die zweier Verkehrsteilnehmer, die sich gemäß den Verkehrszeichen an einer großen Kreuzung zueinander verhielten.28 Geht man nun mit Gessner davon aus, dass Konflikte nur eine besondere Austragungsform von Interaktionen seien, und führt dieses Konfliktverständnis mit den oben gemachten Grundannahmen über verschiedene Interaktionsformen zusammen, ergibt sich daraus, dass Konflikte von hoher Komplexität im personenbezogenen über mittlere Komplexität im rollenbezogenen zu niedriger Komplexität im programmbezogenen Erwartungszusammenhang variieren. Der jeweiligen Komplexität der Verhaltenserwartung, so Gessner, komme im Enttäuschungsfall entscheidende Bedeutung für die Konfliktabwicklung zu. Unter Rückgriff auf die sozialpsychologische Erkenntnis, dass bei Erwartungsenttäuschung in komplexen Interaktionen die Tendenz besteht, die Enttäuschung auf alle anderen Erwartungen dieser sozialen Beziehung auszudehnen und damit den Konflikt zu generalisieren, schließt Gessner, dass der Grad der Konfliktkomplexität jeweils eine eigentümliche Austragungsform bewirkt.29 Nachdem er die Entstehung und Bedeutung der Konfliktkomplexität für die Konfliktaustragung verdeutlicht hat, wendet er sein Interesse der Frage zu, in welchem Verhältnis der Aspekt der Konfliktbeziehung zur Einschaltung von Dritten in den Streit steht. Dabei unterscheidet er grob drei Typen von Dritten, den Ratgeber, den Schlichter und den Richter. Unterscheidungsmerkmale sollen der Grad der Programmierung ihres Verhaltens im Streit oder der Grad ihrer Institutionalisierung sein. Diesen beiden Merkmalen ist gemeinsam, dass ihre Art der Konflikteinwirkung durch bestimmte Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt gesteuert wird. Während der Ratgeber nur an geringe Programmierungen gebunden sei, sehe sich der Schlichter bereits gewissen Erwartungen wie etwa der Neutralität gegenüber. Der Richter weise durch seine Entscheidungsbindung an das Gesetz den höchsten Grad an Programmierung auf.30 Der Grad der Programmierung verdiene deshalb besondere Beachtung, da durch die programmatischen Verhaltensvorgaben Komplexität reduziert werde. Programme koordinierten bestimmte Handlungsergebnisse und könnten deshalb nur so viel Variabilität zulassen, wie es mit der Herstellung des gewünschten Ergebnisses verträglich sei. Je stärker ein Verhalten programmiert sei, desto weniger Faktoren könnten die Entscheidung, wie gehandelt werden soll, beeinflussen. Ebenso gelte im umgekehrten Verhältnis, dass durch eine geringe Programmierung mittels Entscheidungs-
28 Luhmann, aaO., S. 84 ff. 29 Gessner, aaO., S. 176 f. 30 Gessner, aaO., S. 177 f.
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regeln ein breiterer Ausschnitt aus der Wirklichkeit in die Entscheidungsfindung eingebracht werden könne.31 Hieraus ergebe sich eine zwischen Ratgeber und Richter abnehmende Aufnahmefähigkeit für die Komplexität von zu behandelnden Konfliktfällen, so dass deutlich werde, dass zur Behandlung eines Konfliktes stets derjenige Dritte eingeschaltet werden solle, dessen Entscheidungsprogramm die Komplexität des Konflikttypus adäquat verarbeiten könne. Der abstrakte Maßstab der Konfliktnähe, den Gessner hier entwickelt, sagt zwar nichts über die konkrete Einsetzbarkeit und Präferenz bestimmter Konfliktregelungsmodelle aus; allerdings schafft er ein rechts- und konfliktsoziologisches Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen dem Konfliktverlauf und seiner phasenadäquaten Behandlung durch Dritte. Dieser Forschungsansatz wandelte die Betrachtungsweise der Konfliktregelung durch das justizielle rechtsförmige Verfahren und formte,32 unterstützt durch das rechtspolitische Klagelied der Justizüberlastung,33 einen Geist, der für die Mediationsbewegung empfänglich wurde. IV. MEDIATION Die Mediation fand Anfang der 80er Jahre ihren Weg aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland. Ihre Popularität erlangte sie nicht aufgrund bahnbrechender Studien oder Abhandlungen über die Theorie und Leistungsfähigkeit der Vermittlung als Methode der Konfliktbeilegung, sondern entwickelte sich vielmehr aus der Praxis als regelrechte Tagungsbewegung. Eine reine Lehre oder originäre Theorie der Mediation gab und gibt es nicht. Zwar wird als einheitlicher praktischer Leitfaden immer wieder auf das sog. Harvard-Konzept34 rekurriert, doch stellt der Inhalt dieser Schrift nicht mehr als taugliche Hinweise für sachgerechtes Verhandeln im Stile einer Benimmfibel für Streitende zur Verfügung. Als theoretisch unbesetztes Neuland bietet die Mediation Raum für die interdisziplinäre Ansiedlung verschiedenster Ansätze aus der Konfliktforschung, der Verhandlungsforschung, Kommunikationsforschung sowie der Friedensforschung.35 Angesichts dieser theoretischen Gemengelage herrscht unter den Vermittlern keine Einigkeit darüber, was Vermittlung bzw. Mediation genau bedeutet. Mediatoren stammen zumeist aus einem bestimmten Hauptberuf und füllen die Tätigkeit des Mediators im Sinne einer Zusatzqualifikation aus.36 Häufig fließen der Habitus aus dem Haupttätigkeitsfeld sowie Gepflogenheiten des Konfliktumgangs aus ihrer angestammten Profession in den Mediationsstil ein.
31 AaO. 32 Strempel (Fn. 3), S. 120 f. 33 Benda, Richter im Rechtsstaat, DRiZ 1979, S. 357–363; Pfeiffer, Knappe Ressource Recht, ZRP 1981, S. 121–125. 34 Fisher/Ury/Patton, Das Harvard-Konzept, Frankfurt 2004. 35 Duss-von Werdt, Einführung in Mediation, Heidelberg 2008, S. 16 f.; Montada/Kals, Mediation. Ein Lehrbuch auf psychologischer Grundlage, Weinheim 2007, S. 4 f. 36 Hornung, Rechtliche Rahmenbedingungen für die Tätigkeit freier Mediatoren, Köln 2006, S. 42 ff.
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Innerhalb der Mediatorenschaft sowie in der Literatur herrscht insoweit Eintracht über die Ausformung des Mediationsverfahrens, als es sich um ein Verfahren handelt, das aus mehreren Phasen besteht und unter Wahrung bestimmter Prinzipien den Parteien zu einer selbstbestimmten Konfliktlösung verhelfen soll.37 Die geringe formale Komplexität dieses Modells erlaubt eine breite und flexible Anwendung auf interpersonelle Konflikte in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Unschärfer wird das Bild, wenn man nach der originären Ratio des mediativen Streitbehandlungsmodells fragt. Soll es der Herbeiführung einer schnellen Einigung dienen, soll es eine Verbesserung der Beziehung zwischen den in Streit geratenen Beteiligten bewirken oder soll es sein Frieden stiftendes Potenzial zur Förderung von Gemeinwohlzwecken einsetzen?38 Unisono werben die Fachvertreter der Mediation damit, dass das Verfahren im Besonderen dazu geeignet sei, einen Konsens zu erarbeiten.39 Doch inwieweit sind die Prinzipien und Strukturen des Verfahrens diesem pragmatischen Ziel unterzuordnen? Bis zu welchem Grad muss das Verfahren der Mediation selbst in der Einigung Verwirklichung finden? Das Verhältnis von Ziel und Mittel, von Einigung und Mediation scheint nicht hinreichend bestimmt. Geht man von einem ökonomischen Ansatz aus, dann dient die Mediation als strukturiertes informelles Verfahren dazu, vor allem zeiteffizient dem rationalen Egoisten, dem homo oeconomicus, durch Vermittlung zu seiner individuellen Nutzenmaximierung zu verhelfen.40 Ein solcher Ansatz impliziert stets die Abgrenzung gegenüber der nicht rein utilitaristisch, sondern behäbiger deontologisch entscheidenden Jurisprudenz. Dieser insbesondere für die Wirtschaftsmediation typische Ansatz würde den Erfolg der Mediation vornehmlich nach den Parametern Zeit und Gewinnnutzen bemessen. Ein anderes Antlitz erfährt die Mediation, wenn man sie als alternatives Verfahren im Trennungs- und Scheidungsbereich begreift. Hier erlangt sie ihre Prägung vor allem durch Erkenntnisse und Techniken aus der systemischen Familientherapie41 und zielt mehr auf eine Wiederherstellung einer störungsfreien Kommunikation zwischen den Ehepartnern zum Zweck einer zukunftsorientierten Trennungsabwicklung. Zwar geht es am Ende auch um eine Nutzenmaximierung der Ehepartner nach der Trennung. Auf der Suche nach einer solchen Lösung begegnen den Beteiligten jedoch oftmals Befindlichkeiten, die auf dem Weg zur Einigung dazu zwingen etwas innezuhalten, um sich von gemeinsamen Geschichten, Bildern und Hoffnungen zu emanzipieren. Derartige Rastpausen sind mit einer zeiteffizienten Lösung nicht immer
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Siehe etwa Mähler/Mähler, Mediation – eine interessengerechte Konfliktregelung, in: Breidenbach/ Henssler, (Fn. 35), S. 13 ff.; Montada/Kals (Fn. 35), S. 220 ff.; Duss-von Werdt (Fn. 35), S. 54 f. Ähnlich Breidenbach, Mediation: Struktur, Chancen und Risiken von Vermittlung im Konflikt, Köln 1995, S. 203 f. u. 212 f.; Morsch, Mediation statt Strafe, Köln 2003, S. 11 ff. Mähler/Mähler, Außergerichtliche Streitbeilegung – Mediation, in Beck’sches RechtsanwaltsHandbuch, München 2007, S. 257–297, S. 266; Mähler, Streitschlichtung, Anwaltsache, NJW 1997, S. 1262–1266, S. 1265; Trenczek, ADR – Mediation: Faire Konfliktlösung ohne Gericht, S. 66–72, S. 69 f. Vgl. Montada/Kals (Fn. 5), S. 61; Eidenmüller, Ökonomische und spieltheoretische Grundlagen von Verhandlung/Mediation, in: Breidenbach/Henssler (Fn. 5), S. 31 ff. Von Schlieffen (Fn. 2), S. 193; Diez/Krabbe/Thomsen, Familien-Mediation und Kinder, Köln 2002, S. 50 ff.
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vereinbar. Ziel ist es, zwischen den Partnern ein neues Verhältnis zu etablieren, das eine Basis für die spätere Trennung bilden soll. Im Kontext der Umweltmediation42 treten noch weitere Aspekte hinzu, die für eine gelungene Mediation in diesem Bereich Berücksichtigung finden sollten. In der staatstheoretischen und steuerungspolitischen Debatte über eine Ausweitung der staatlich imperativen Steuerungsinstrumente um informelle konsens- und kooperationsorientierte Steuerungsmittel43 stellt die Mediation ein Konzept dar, um Vollzugsdefizite und Dysfunktionalität von Entscheidungen vorzubeugen. In diesem Diskurs steht die Idee der Mediation dem Gedanken der partizipatorischen Demokratie nahe.44 Ein solches Mediationsverfahren bewegt sich in einem komplexen Umfeld, in dem unterschiedlichste Interessen der Verwaltung, der Politik und verschiedener Bürgergruppierungen betroffen sind. Das Ziel einer Mediation im öffentlichen Bereich ist eine gemeinverträgliche Vereinbarung, ein Verhandlungsergebnis, das dem Wohle der Gemeinschaft dient und damit weit über die Ratio einer Familien- oder Wirtschaftsmediation hinaus reicht. Bereits dieser nur kurze Rundgang durch einige Anwendungsbereiche45 der Mediation macht deutlich, dass das Verfahren im jeweils konkreten Anwendungsfeld immer vor anderen Hintergrundannahmen angerufen wird, die ihm unterschiedliche idealtypische Ausrichtungen verleihen. Dementsprechend erfährt auch das ZielMittel Verhältnis – also jenes zwischen Einigung und Mediation – stets variierende Interpretationen. Diese vage Relation könnte dazu verleiten, die Mediation als bloße Chimäre46 zu entlarven, es sei denn, aus der Vagheit würde sich ein nachvollziehbares Konzept herauslesen lassen. Ein solches Konzept könnte sich aus der näheren Betrachtung der Mediation als prinzipienbasiertes Phasenmodell zur Förderung selbstbestimmter Einigung ergeben. Im Wesentlichen lassen sich die folgenden Prinzipien der Mediation angeben: Die Neutralität/Allparteilichkeit, die Freiwilligkeit, die Selbstverantwortlichkeit, die Informiertheit und die Vertraulichkeit.47 Sie bilden die Prozessmaximen und müssen in jeder Phase des Verfahrens Berücksichtigung finden. Der Phasenmodelle selbst gibt es viele. Sie schwanken in der Anzahl der Phaseneinteilung des gesamten Verfahrens. Das Verfahren sei hier nur mit Blick auf die Frage der konzeptuellen Ausrichtung der Mediation skizziert. Um das geschlossene Willenssystem48 Mediation aufspannen zu können, muss zunächst eine Vereinbarung zwischen den Medianden erfolgen. Sie ist Ausdruck des freiwilligen Konstituierungsaktes, in dem sich die Medianden eine eigene Konflikt-
42 Pitschas, Mediation als Methode und Instrument der Konfliktvermittlung im öffentlichen Sektor, NVwZ 2004, S. 396–403, S. 403 ff. 43 Hoffmann-Riem, Konfliktmittler in Verwaltungsverhandlungen, Heidelberg 1989. 44 Zillessen, Was leistet Mediation für ein demokratisches Gemeinwesen? Vom liberalen Rechtsstaat zur Zivilgesellschaft, SchlHA 2007, S. 119 ff.; Bamberger, Verfassungsrechtliche und politische Aspekte der Richtermediation, in: Haft/von Schlieffen (Fn. 5), S. 1035–1049, S. 1037. 45 Einen umfassenden Überblick zu den Anwendungsbereichen siehe etwa Haft/von Schlieffen, aaO., S. 457 ff. 46 Pitschas (Fn. 42), S. 397. 47 Kracht, Rolle und Aufgabe des Mediators – Prinzipien der Mediation, in: Haft/von Schlieffen, aaO., S. 267 ff. 48 Duss-von Werdt (Fn. 35), S. 56.
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ordnung geben und den Mediator als neutralen Wächter und Verwalter dieser Ordnung anerkennen. Es folgt die Zusammenstellung der konfliktträchtigen Themenkreise, die jeder Beteiligte für sich als klärungsbedürftig einschätzt. Das Verfahren soll einen Ort bieten, an dem sich die Beteiligten der Komplexität und kommunikativen Mehrschichtigkeit ihrer Anliegen bewusst werden und sie als relative Bedürfnisse in einer sozial-dynamischen Ordnung von Bedürfnisträgern begreifen. Die Erkenntnis der amorphen Wirklichkeitskonstruktion lässt ihre Subjektivität und Relativität sichtbar werden und fördert gleichzeitig die Einsicht, dass eine Lösung im Intersubjektiven liegt.49 Diese Perspektive soll den Konflikt in eine Entscheidungssituation wandeln, in der die Beteiligten gemeinsam versuchen, eine selbstbestimmte Einigung zu erzielen. Der Mediator fungiert während des Verfahrens als Beobachter des kommunikativen Verhältnisses zwischen den Medianden und ist damit der Analyst des Intersubjektiven. Neutralität und Allparteilichkeit sollen ihm die Betrachterrolle in der Metaposition eröffnen und damit die Möglichkeit verleihen, die Sinndimensionen der sich vor ihm abspielenden Kommunikation zu begreifen. Zu einem inhaltlichen Vorschlag ist der Mediator nicht befugt. Er greift nicht linear durch eigene Lösungsvorschläge in den zyklischen Interaktionsprozess zwischen den Parteien ein, sondern instigiert und evoziert Bewegung innerhalb des Kommunikationsprozesses. Er spiegelt die Kommunikation der Medianden und versucht so, einen Prozess der Metakommunikation herzustellen. Die inhaltlichen Aspekte und Strukturen des autonomen Interaktionsprozesses der Medianden sind somit der Kosmos der Mediation. Damit ist jede Mediation unverwechselbar anders. Die Prinzipien sowie das Verfahren sollen nur den Prozess der Kommunikation herstellen. Was die Mediation hervorbringt, bestimmen jene, die sie anrufen. Dass die Mediation mal mehr im zeiteffizienten und ökonomischen Geist eine Vereinbarung anstrebt, mal der emotionalen Verarbeitung von tiefgreifenden Veränderungen dient und mal im Dienst eines basisdemokratischen Ethos steht, haftet nicht ihr selbst an, sondern ist ein Ziel, dass die Medianden verwirklicht sehen wollen. Anders ausgedrückt: Die Mediation nimmt die selbstbestimmte Eigenkonstruktion der menschlichen Wirklichkeit ernst. Das Verfahren findet sich selbst in der Abschlussvereinbarung verwirklicht, wenn die Beteiligten ein selbstbestimmtes Ergebnis erzielt haben. Damit ist die Anforderung an die Einigung nicht mehr als die Selbstbestimmtheit. In der Umsetzung der Autonomie liegt ihr methodischer Auftrag. Sie ermöglicht, mit Gessner gesprochen, eine optimale Konfliktnähe bei personenbezogenen Konflikten, da durch die geringe Programmierung der Mediation nur eine geringe Reduktion der lebensweltlichen Komplexität erfolgt. Die sparsamen Vorgaben über die Qualität der Einigung und ihr Verhältnis zur Mediation sind somit konzeptionell in der Selbstbestimmtheit der Individuen begründet. Verfahren und Prinzipien stellen sich um die Autonomie herum auf. Die Mediation überlässt dem autonomen Subjekt die Selbstregulierung und damit die Deutungs- und Steuerungshoheit des Konfliktes. Die Grenze der selbstverantworteten Konfliktlösung ist kongruent mit der Leistungsgrenze der Mediation als Konfliktlösung generierendes Verfahren. Diese Grenze wird durch die Nichtlösung des Konfliktes sichtbar. Und genau diese Grenze ist es, die das Verhältnis von Mediation und Jurisprudenz bestimmt.
49 Siehe ähnlich Trenczek, Streitbeilegung in der Zivilgesellschaft, ZfR 2005, S. 227–247, S. 239.
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V. KURZE SKIZZE DER JURISPRUDENTIELLEN KONFLIKTBEHANDLUNG Erst wenn den Streitenden selbst eine Regelung ihrer Probleme und Konflikte misslingt, gelangt der Probleminhalt in die Rechtswirklichkeit und wird zum Rechtskonflikt umgedeutet.50 Das Rechtssystem soll das leisten, was der Interaktionsprozess der Streitenden nicht zu leisten vermochte, nämlich ihren Konflikt einem Ende zuzuführen. So sind es nicht inhaltliche Gründe, deretwegen der Konflikt in das rechtliche Verfahren gelangt, sondern die verfahrensgarantierte Entscheidungsproduktion verleiht ihm seine Anziehungskraft. Eine wesentliche Funktion der Jurisprudenz liegt damit in der Konfliktneutralisierung. Der Konflikt soll nicht durch Lösung beendet, sondern durch Beendung gelöst werden.51 Diese Funktion des Rechts verpflichtet zur Entscheidung eines jeden Streites. Der Entscheidungszwang prädestiniert und determiniert die Ratio der Jurisprudenz und macht sie zum Antipode der Mediation. Jedes Problem der sozialen Wirklichkeit kann potenziell in die Rechtswirklichkeit gelangen und damit zu einer rechtlichen Entscheidungsfrage werden, die nach ihrer Beantwortung wieder in die soziale Wirklichkeit entlassen wird. Um diese Wechselbeziehung nicht dem Willkürmoment anheimfallen zu lassen, bedarf es einer kontrollierbaren Entscheidungsbegründung.52 Diesem Begründungszwang ist die Rechtsdogmatik verpflichtet. Sie ist das Gedächtnis der juristischen Entscheidungslehre, in dem die Argumentationsmuster für die Entscheidungsbegründung gespeichert sind. „Systemimmanent determiniert ist die Rigidität der Dogmatik und ihre Dogmatizität, das heißt ihr Charakter als außer Frage gestelltes Meinungsgefüge.“53 Damit dieses Meinungsgefüge für alle anfallenden Rechtsprobleme fruchtbar gemacht werden kann, müssen die Topoi in einer hoch interpretierbaren Sprache verarbeitet werden. Die hohe Interpretierbarkeit bringt die Anpassungsfähigkeit mit sich, derer es bedarf, um die unbedingte Entscheidungsfunktion der Jurisprudenz zu gewährleisten. Die Reduktion sozialer Komplexität im juristischen Denken erfolgt also weniger durch Selektion unter den entscheidungsrelevanten Wirklichkeitselementen als vielmehr im Sprachbereich. „Die Wirklichkeit soll gerade nicht in ihrer Vielfältigkeit gespiegelt“54, sondern Dogmen verträglich aufbereitet werden, um so in einer entscheidbaren Sachverhaltsgestalt zu erscheinen. VI. DIE EIGENSTÄNDIGKEIT VON MEDIATION UND JURISPRUDENZ Von all diesen Zwängen ist die Mediation befreit. Mit der gleichen Strenge, mit der die Jurisprudenz dem Rechtsspruch verpflichtet ist, ist der Mediation das Urteil versagt. Mediation und Jurisprudenz trennt die Eigengesetzlichkeit von Steuerung und Regelung. Die Dichte und funktionale Ausgestaltung ihrer Dogmen lässt sie berührungslos koexistieren. So fern die abstrakte Sprache der Jurisprudenz den Empfind50 Die folgende Interpretation der Jurisprudenz orientierte sich an den Arbeiten aus Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970, S. 84 ff.; Sarhan (Fn. 9), S. 281. 51 Ballweg, aaO., S. 105. 52 Ballweg, aaO., S. 108 f. 53 Ballweg, aaO., S. 118. 54 Lerche, Stil, Methode, Ansicht. Polemische Bemerkungen zum Methodenproblem, DVBl. 1961, S. 690–701, S. 697.
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samkeiten und Lebenswelten der Streitenden ist, so nah ist ihnen die Sprache der Mediation. Sie lebt von den alltäglichen Sinnwelten und bewegt sich in ihnen. Dieser hier freilich nur überschlägige Vergleich der Mediation und Jurisprudenz als Methoden der Konfliktbehandlung verdeutlicht bereits ihre verfahrensmäßigen Eigenarten und deren Folgen für die Konfliktinterpretation und -transformation. Lebensweltliche Komplexität wird auf unterschiedliche Weise gemäß dem Verfahrensauftrag verarbeitet. Vermittelte selbstbestimmte Konfliktlösung und fremdbestimmte normbasierte Konfliktentscheidung haben beide ihren eigenen Platz in der gesellschaftlichen Konfliktordnung. Weder vermag die eine Methode die andere zu ersetzen, noch steht zu befürchten, dass sie als juristische Mediation oder mediative Jurisprudenz miteinander verschmelzen. Ihr Verhältnis zueinander ist unter dem Aspekt der Konfliktnähe zu deuten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit ihrer Eigenständigkeiten. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Konflikttypen verlangen nach verschieden ausgestalteten Konfliktbehandlungsmethoden. Beide Verfahren haben ihre eigene methodische Leistungsfähigkeit. Weder sollte die Mediation in Versuchung geraten, Entscheidungslehre zu werden, noch sollte die Jurisprudenz sich unnötig mit der konsensorientierten Konfliktbeilegung messen. Eine effektive Konfliktordnung ist auf die Eigenständigkeit von Mediation und Jurisprudenz angewiesen. Anschrift des Autors Christian Nierhauve FernUniversität Hagen Rechtswissenschaftliche Fakultät LS Gräfin von Schlieffen Universitätsstr. 21 58084 Hagen E-Mail: [email protected]
TANJA HITZEL-CASSAGNES UND FRANZISKA MARTINSEN* ZUM VERHÄLTNIS VON SOZIALER ANERKENNUNG UND RECHTSPRINZIP IM RAHMEN DER BEWÄLTIGUNG HISTORISCHEN UNRECHTS: KONKURRENZ ODER KOMPLEMENTARITÄT?† I. EINLEITUNG Die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten adäquater Formen der Bewältigung historischen Unrechts ebenso wie die normative Bewertung der verschiedenen Formen gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Bewältigung vergangenen Unrechts führt in den sozial- und rechtsphilosophischen Diskussionen zu ganz unterschiedlichen und zum Teil konträren Einschätzungen. Im Rahmen sowohl demokratischer Transitionsprozesse von Gesellschaften (z. B. Südafrika) als auch im Rahmen der Auseinandersetzungen gesellschaftlicher Gruppen mit kolonialen und imperialen Vergangenheitsstrukturen (beispielsweise auf dem afrikanischen, dem amerikanischen oder dem australischen Kontinent) haben sich häufig (und zuweilen nur zeitweise) institutionelle Verfahren und Praktiken ausgebildet, mit denen Prozesse der Wiedergutmachung für historisches Unrecht nicht (nur) auf juridischem/rechtlichem Wege initiiert und durchgeführt werden, sondern in erster Linie auch auf Formen sozialer Anerkennung bezogen sind. Diese Varianten der Wiedergutmachungspolitik, die auf gesellschaftliche Integration, Versöhnung und Anerkennung bezogen sind, können jedoch weder ihrem Status noch ihrem Zweck nach isoliert betrachtet werden, da sie durchaus – komplementär oder konkurrierend – durch rechtliche Bewältigungsformen von Unrechtspraktiken und -erfahrungen umrandet werden, die konkrete (zivil- und straf-)rechtliche Folgen, Entschädigungen, restitutive Konsequenzen sowie Prinzipien und Formen von justitia correctiva in den Blick nehmen. Der Rückgriff auf rechtliche Formen der Konfliktbewältigung erfolgt dabei erstaunlicherweise gerade nicht nur innerhalb der jeweiligen nationalen Rechts- und Gerichtssysteme sondern auch über andere nationale Rechtssysteme, trans- und internationale Gerichtsbarkeiten. In systematischer und normativer Hinsicht stellt sich nun die Herausforderung einer Verhältnisbestimmung der – wie es scheint – konkurrierenden rechtlichen vs. auf soziale Anerkennung bezogenen Bewältigung vergangenen Unrechts einerseits und der Gewährleistung von Wiedergutmachung andererseits, in deren Zusammenhang sich folgende Fragen anschließen: Inwieweit können Praktiken sozialer Anerkennung überhaupt gerechtigkeitsrelevante Wirkung zeitigen? Sind sie notwendigerweise auf juridische Mechanismen angewiesen? Kann andererseits das Recht die Dimension der gesellschaftlichen Integration tatsächlich in normativer Hinsicht gewährleisten? Stehen Recht und Anerkennung in gerechtigkeitstheoretischer Perspektive in einem konkurrierenden oder komplementären Verhältnis zueinander?
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Dr. Tanja Hitzel-Cassagnes und Dr. des Franziska Martinse˷ sind an der Leibniz Universität Hannover tätig. Wir danken insbesondere Edward Schramm für seine wohlwollende Kritik und hilfreichen Anregungen.
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In einem ersten, vorbereitenden Schritt werden wir die Wirkungsweise von Institutionen und Praktiken sozialer Anerkennung wie dem „National Sorry Day“ in Australien oder der „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ („Truth-and-Reconciliation-Commissions“, im Folgenden TRCs) in Südafrika skizzieren (II.) und juridischen Formen der Vergangenheitsbewältigung und Mechanismen rechtlicher Kompensation gegenüberstellen (III.). In einem zweiten Schritt werden wir die normative Reichweite und Leistungsfähigkeit von Strategien sozialer Anerkennung mit dem Ziel der gesellschaftlichen Versöhnung im Vergleich zu rechtlichen Verfahren kritisch beleuchten. Dabei wird es weniger um die Frage nach der Genese historischen Unrechts und Unterdrückung gehen, sondern um eine systematische gerechtigkeitstheoretische Betrachtung des institutionellen Umgangs mit den Betroffenen. Zu diesem Zweck werden wir insbesondere zwei u.E. zentrale begriffliche Weichenstellungen, die sich auf die Frage individueller Rechtssubjektivität und auf Fragen von Rechtsfolgen beziehen, eruieren – zum einen in Betrachtung des Verhältnisses von kollektiver und individueller Betroffenheit (IV.1.), und zum anderen in Betrachtung des Verhältnisses von Versöhnung und Wiedergutmachung (IV.2.). II. KONFLIKTVERMITTLUNG DURCH SOZIALE ANERKENNUNG? Es sind vor allem zwei Formen institutionalisierter sozialer Anerkennung im außerjuridischen Bereich, die in exemplarischer Hinsicht für unsere Überlegungen relevant sind. Zum einen lassen sich die sogenannten „Entschuldigungsreden“ politischer Funktionsträger (z. B. in Kanada gegenüber der indigenen Bevölkerung)1 oder etwa die Institutionalisierung des „National Sorry Day“ in Australien, durch den die Schuld der Weißen gegenüber den Opfern der Stolen Generation öffentlich eingestanden wird,2 als auf symbolischer sozialer Anerkennung basierende Versöhnungs- und Integrationspraktiken verstehen. Diese Aussöhnungsmaßnahmen beinhalten zum einen das offizielle Eingeständnis von (historischen) Unrechtshandlungen von Seiten des Staates gegenüber bestimmten Individuen und Gruppen von Individuen. Die eingestandenen Unrechtshandlungen können hierbei unterschiedlichste Formen der Diskriminierung, Unterdrückung und Exklusion umfassen, angefangen von geduldeten soziokulturellen und ethischen Gepflogenheiten, die eine missachtende oder abwertende Haltung einer dominanten kulturellen, ethnischen oder rassischen Mehrheit gegenüber einer entsprechenden Minderheit zulassen oder gar unterstützen,3 1 2 3
Vgl. Murdocca, From Incarceration to Restoration: National Responsibility, Gender and the Production of Cultural Difference, Social & Legal Studies 2009 (18:1), S. 23–45. Vgl. etwa die Rede des australischen Ministerpräsidenten Kevin Rudd am 13.2.2008. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere die phänomenologisch sehr differenzierte, in normativer Hinsicht stufengeordnete Unterscheidung zwischen einer „gezügelten“, „anständigen“ und „gerechten“ Gesellschaft bei Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt a. M. 1999: Die Differenz zwischen einer anständigen und einer gerechten Gesellschaft bestehe vor allem darin, dass Mitgliedern einer anständigen Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben möglich sei, das impliziert, nicht gedemütigt, sondern als vollgültiger, partizipierender Angehöriger der Gesellschaft angesehen zu werden. Die gerechte Gesellschaft hingegen kränke nicht. Die Vorstufe zur anständigen Gesellschaft bilde die „gezügelte Gesellschaft“, in welcher bestimmte Formen physischer Grausamkeit, z. B. Folter, vermieden würden. Eine in normativer
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über gesetzliche Diskriminierungen wie Ungleichheiten begünstigende Steuersysteme bis hin zu Sklaverei, Tötungen oder Massenmord.4 Zum anderen bewirken Versöhnungsgesten die Generierung einer (medialen) Öffentlichkeit durch die institutionalisierte Benennung dieser Schuld coram publico. Der Öffentlichkeit wird dabei die Rolle zugewiesen, die Ernsthaftigkeit der staatlichen Anerkennung von Unrechtserfahrungen seitens der Opfer zu markieren und im Idealfall einen wechselseitigen Austausch zwischen Opfern und TäterInnen (bzw. RepräsentantInnen oder FunktionsträgerInnen) zu ermöglichen. Als ein weiteres, u.E. repräsentatives Beispiel für die Institutionalisierung von „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ kann die TRC von Südafrika fungieren, anhand derer wir einige normative Merkmale sozialer Anerkennungsmechanismen in Transitionsgesellschaften skizzieren möchten. Das Spezifikum von Transitionsgesellschaften besteht darin, dass die Vergangenheit von Unrechtshandlungen näher an die gesellschaftliche Gegenwart heranreicht als in den meisten Fällen derjenigen Gesellschaften, die sich mit imperialen oder kolonialen Unrechtsgeschehnissen auseinandersetzen, deren Anfänge und hauptsächlichen Wirkungszeiträume u. U. mehrere Generationen zurückliegen. Hier trifft die Gruppe der TäterInnen, insbesondere in Form von vormaligen Funktionsträgern staatlicher Unrechtspraktiken, zumeist direkt auf viktimisierte Bevölkerungsgruppierungen. Daher müssen die Konflikte zwischen den Ansprüchen der Opfer und denen der TäterInnen als emotionalisiert und unter Umständen als umso kontroverser aufgefasst werden. Die Einrichtung von Kommunikationsforen, insbesondere investigativ ausgerichteter Kommissionen, dient entsprechend in erheblicherem Maße der Aufklärung und Identifizierung von Unrechtshandlungen unter vormaligen politischen Regimen. Darüber hinaus besteht ein zentrales sozialpolitisches Ziel in der Versöhnung zwischen TäterInnen und Opfern in Form gesellschaftlicher Integration, bei der jedoch nicht zuletzt pragmatische Gründe der allgemeinen Funktionstüchtigkeit einer Gesellschaft eine Rolle spielen. Kernbestandteil der Arbeit von TRCs ist in diesem Zusammenhang üblicherweise die Gewährung von Amnestien für diejenigen TäterInnen, die Aussagen über eigene Unrechtshandlungen leisten, d. h. Schuldeingeständnisse ablegen. Das Ziel solcher außerjuridischen Anerkennungspraktiken besteht im Falle der „governmental apologies“ in der Integration von unterdrückten, exkludierten oder diskriminierten Bevölkerungsgruppen und ihren spezifischen Lebensweisen und -ordnungen5 in bestehende rechtliche, politische und gesellschaftliche Ordnungen.
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Hinsicht relevante Stufenordnung ergibt sich wie folgt: die anständige Gesellschaft müsse auch gezügelt, die gerechte auch anständig sein (S. 179–181). Die gezügelte Gesellschaft verzichte dabei auf institutionelle Grausamkeit, z. B. auf körperliche Gewaltanwendungen, während sie nicht verhindere, dass Mitglieder gedemütigt werden. Die anständige Gesellschaft hingegen demütige ihre Mitglieder nicht, wobei Margalit nochmals zwischen einer zivilisierten Gesellschaft, in der sich die Menschen untereinander nicht demütigen, und der anständigen, in der es die Institutionen sind, die die Bürger nicht demütigen, unterscheidet. Vgl. Blatz/Schumann/Ross, Government Apologies for Historical Injustices, Political Psychology 2009 (30:2), S. 219–241, S. 219. Die traditionalistisch-holistische Lebensordnung der Aborigines in Australien etwa geht von der Vorstellung eines „Gesetzes“ im Sinne eines auch kosmologische Dimensionen einbeziehenden „Weges“ oder einer „Linie“ aus. Diese ganzheitliche Konzeption von Existenz unterscheidet sich somit stark von der liberal-demokratischen Auffassung von Recht und Gesetz mit ihrer Trennung zwischen Individualität und Gemeinschaft, zwischen Subjektivität und Intersubjektivität, zwischen
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Im Falle von Transitionsgesellschaften erweisen sich die Zielvorgaben der Versöhnung vielfach als komplexer, da es weniger um die Integration in eine bereits bestehende, sondern vielmehr um die Etablierung einer in normativer Hinsicht politisch, moralisch-ethisch und rechtlich auszugestaltenden Ordnung geht, in der erst die Ansprüche der Betroffenen historischen Unrechts adäquat vermittelt und gegebenenfalls erfüllt werden können. Hierbei sind die normativen Orientierungen jedoch nicht immer eindeutig. Während der politische Fahrplan klare normative Vorgaben enthält, indem er die politisch-rechtliche Transformation hin zu einem demokratisch verfassten Staat vorsieht, bleibt offen, inwieweit das originäre Ziel einer sozialintegrativen Versöhnung vormals separierter Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf die Erfüllung von Gerechtigkeitsstandards erreicht werden kann. Das Problem besteht u. a. darin, dass die normativen Ansprüche auf den unterschiedlichen Ebenen einer politischen, rechtlichen und sozialen Transformation nicht nur bewältigt, sondern auch miteinander vermittelt werden müssen, um Synergieeffekte und damit gesellschaftliche Integration zu gewährleisten. Am Beispiel der „governmental apologies“ kann aufgezeigt werden, welche normativen Merkmale die öffentliche Entschuldigung im Sinne einer auf Versöhnung zielenden Integrationsmaßnahme aufweist. Das Setting eines Anerkennungsverhältnisses, das in der viktimisierten Gruppe der Bevölkerung und einer nicht betroffenen Bevölkerungsgruppe besteht, ist hierbei von besonderer Relevanz: Zur nicht-viktimisierten Bevölkerungsgruppe sind in der Regel die politischen Funktionsträger zu zählen, die im Sinne einer ursächlich-kausalen Verantwortung für Situationen und Strukturen des Unrechts nicht unbedingt identisch mit den tatsächlichen TäterInnen sein müssen. Als offizielle Vertreter eines Staates, der in der Vergangenheit Unrecht verübt hat, gelten sie jedoch als Verantwortliche. Durch das Eingestehen von Schuld auf Seiten der Funktionsträger, stellvertretend sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft, wird (zumindest rhetorisch) die Unrechtserfahrung auf Seiten der Opfer öffentlich wahrgenommen und offiziell anerkannt, nachdem diese oft über Generationen hinweg verleugnet oder heruntergespielt wurden.6 In sozialphilosophischen Termini gesprochen, wird die Identität als Opfer hiermit durch die Bestätigung ihrer kulturellen Partikularität anerkannt. Allerdings impliziert die Anerkennung der spezifischen Erfahrungen und Identitätsbildungsprozesse die gleichzeitige Konstitution einer Gruppe als das Andere. Anerkennung gestaltet sich identitätspolitisch auf der einen Seite als Differenz betonende, auf der anderen als diese Differenz normativ aufladende Form des sozialen Miteinanders. Sie zielt auf die Affirmation des Partikularen und die Legitimation der Stellung des Besonderen gegenüber der vorherrschenden sozialen, kulturellen und rechtlichen Praxis einer Gesellschaft. Aus sozialphilosophischer Perspektive7 kann unter normativen Gesichtspunkten als positiv
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Privatsphäre und Öffentlichkeit, zwischen Mensch und Natur. Traditionelle und liberale Vorstellungen von Gesetzesordnungen lassen sich daher nicht unbedingt umstandslos in Einklang miteinander bringen. Vgl. Kment, Die Entschuldigung Australiens bei seinen Ureinwohnern und ihre Bedeutung für den Regimediskurs zwischen der Lebensordnung der Aborigines und dem staatlichen Recht, Kritische Justiz 2008 (41:4), S. 458–464, S. 459 f. Vgl. Blatz et al. (Fn. 4), S. 220, 222. Vgl. Kymlicka, Liberalism, Community and Culture, Oxford 1989; Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995; Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992; Fraser/Honneth, Umvertei-
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gewertet werden, dass die Anerkennung einer Identität, die in Abweichung von einer kulturellen Mehrheit wahrgenommen wird, überhaupt erst die erforderliche Wertschätzung, den Respekt und die Achtung für Personen und Gruppen von Personen auszudrücken vermag. Diese Sichtweise würde sich an Axel Honneths Auffassung orientieren, nach der ein konstitutives Wechselverhältnis zwischen der Selbst-Achtung von Personen und der sozialen Anerkennung durch andere besteht. Zumindest aus soziologischer und psychologischer Perspektive kann somit den Institutionen öffentlicher Entschuldigungen eine eminente Bedeutung im Hinblick auf die Möglichkeit der Integration bzw. Versöhnung durch Anerkennung zugemessen werden.8 Es ist hier vor allem ein Aspekt, der eine zentrale Rolle spielt: Das öffentliche Eingeständnis von Schuld und damit einhergehend die offizielle Anerkennung von kultureller Identität einer in der Vergangenheit marginalisierten Bevölkerungsgruppe stellt nach Ansicht von Blatz et al. eine gezielte Gegenmaßnahme zur Praxis der Verleugnung9 dar. Die Entschuldigung wird somit als eine legitime Maßnahme der Vergangenheitsbewältigung angesehen, da insbesondere das erklärte NichtVerschweigen bzw. Nicht-Verharmlosen der historischen Taten die Möglichkeit zur kollektiven Auseinandersetzung bietet, in der TäterInnen (bzw. ihre RepräsentantInnen) und Opfer in einen direkten, nicht durch Unterdrückung oder Marginalisierung verzerrten Dialog treten können.10 Sozialpsychologische Forschungsarbeiten differenzieren dabei in erster Linie vier normative Erfordernisse,11 die sowohl für die Praxis staatlicher Entschuldigung als auch für die Anerkennung innerhalb sozialer Interaktionsforen (TRCs) relevant sind: 1) 2) 3) 4)
Adressierung von Identitätsbelangen betroffener Minderheit(en) Minimierung des Widerstands der nicht-betroffenen Bevölkerung(smehrheit) Affirmation der gegenwärtigen, als „gerecht“ erachteten Rechtsordnung Differenzierung zwischen dem vergangenen und dem gegenwärtigen rechtlichen und politischen System
Ad 1) Als unbedingt erforderlich wird zunächst die Adressierung der Identitätsbelange der betroffenen Minderheit seitens der Regierung erachtet.12 Hier stimmen sozialpsychologische und philosophische Auffassungen sowohl über die identitätskonstituierenden als auch über die moralisch-ethisch relevanten Aspekte der Anerkennung überein: Die Wahrnehmung des (kollektiven) Anderen und die Bestätigung dessen (kollektiver)
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lung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. 2003; Taylor, Die Politik der Anerkennung in: A. Gutmann, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 1993, S. 13–78; zu den Differenzen zwischen verschiedenen anerkennungstheoretischen Ansätzen s. u. a. McBride, Demanding Recognition: Equality, Respect, and Esteem, European Journal of Political Theory 2009 (8:1), S. 96–108. Vgl. Kment (Fn. 5), S. 463 und Blatz et al. (Fn. 4). Als Beispiel mag hier die Praxis der türkischen Regierung, den Genozid an der armenischen Bevölkerung im Jahre 1915 zu verleugnen, dienen; vgl. Wohl/Branscombe/Klar, Collective Guilt: Emotional Reactions when One’s Group Has Done Wrong or Been Wronged, European Review of Social Psychology 2006 (17:1), S. 1–37. Blatz et al. (Fn. 4), S. 222; Lazare, On Apology, New York 2004. Vgl. Blatz et al. (Fn. 4), S. 222 f. Vgl. Blatz et al. (Fn. 4), S. 222.
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Erfahrung führt idealerweise zu einer respektvollen Anerkennung des Anderen als spezifisch Anderen, dem Achtung und Wertschätzung entgegen gebracht wird. Im Falle sozialer Anerkennung im Rahmen von TRCs geht es ebenfalls in erster Linie darum, die spezifischen Erfahrungen der Opfer wahrzunehmen und ihnen insofern besonderen Respekt zu erweisen, als das Bewusstsein von Unrechtserfahrungen der vormals herrschenden rechtlichen und politischen Ordnung mit konfligiert. Komplementär dazu wird die Selbstwahrnehmung der TäterInnen, deren Handlungen formal mit der ehemaligen Ordnung übereinstimmten, durch die normativen Orientierungen infrage gestellt und anhand von moralisch-ethischen Maßstäben beurteilt. Die TäterInnen- und Opferidentitäten werden durch die Kommissionsarbeit überhaupt erst konstituiert. Ad 2) Eine Minimierung des Widerstands der nicht-betroffenen Teile der Bevölkerung in vormals stark hierarchischen bzw. von scharfen Diskriminierungen geprägten Gesellschaften ist sicherlich ein Aspekt, dessen Bedeutung im Rahmen unseres Texts jedoch nicht näher beleuchtet werden kann. Hier spielen also nicht nur die sozialpsychologischen Absichten und Effekte des Eingeständnisses staatlichen Unrechts gegenüber den Opfern selbst, sondern vor allem die Vermittlung der Ansprüche der Opfer mit den Haltungen derjenigen Bevölkerungsgruppierungen, die mit den staatlichen Praktiken der Diskriminierung und Marginalisierung konform gingen/gehen, eine Rolle. Die Bedeutung einer Beeinflussung der innergesellschaftlichen Kommunikation über die konfligierenden Interessen und Ansprüche ist insbesondere im Zusammenhang der Diskussion über Funktionalität und Leistung der TRCs relevant. Ad 3) und 4) Ein wichtiger Gesichtspunkt ist, dass die Affirmation eines gegenwärtigen gerechten Rechtssystems im Grunde genommen schon über die Dimension der eigentlichen Anerkennungsprozesse hinausweist, da sie auf Kriterien und Institutionen deutet, die jenseits der sozial vermittelten Sphäre zwischenmenschlicher Interaktion angesiedelt sind: Sowohl die Affirmation der gegenwärtigen gerechten Rechtsordnung als auch eine dezidierte Unterscheidung zwischen dem vergangenen System, das für die Unrechtshandlungen im eigentlichen Sinne verantwortlich war, und dem gegenwärtigen System setzt allerdings voraus, dass die bestehende politische und rechtliche Grundordnung die entsprechenden institutionellen Strukturen für einen adäquaten Umgang mit historischem Unrecht aufweist. Blatz et al. heben hervor, dass im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Verweis auf Verjährung oder auf zu hohe Komplexität13 das Eingeständnis auf Seiten der Regierung als wichtiger Schritt der Anerkennung anzusehen ist. Doch bleibt sowohl im Lichte der psychologischen als auch der sozialphilosophischen Diskussion offen, ob die zunächst einmal faktisch rein rhetorische und damit lediglich symbolische Anerkennung überhaupt gerechtigkeitsgenerierende Konsequenzen zu zeitigen vermag. Auch die Governmental-Apology-BefürworterInnen betonen, dass die wenngleich wichtige Entschuldigungs-Praxis dennoch eine weitaus stärkere rechtliche und politische Ausrichtung als die rein moralisch-ethische einer sozialen Anerkennung aufweisen müsse,14 um
13 Viele Staaten der USA weisen eine öffentliche Entschuldigung für das historische Unrecht in Form von Sklaverei gegenüber der schwarzen Bevölkerung mit der Begründung zurück, dass dieses bereits zu weit in der Vergangenheit zurückliege; vgl. Brooks, When Sorry Isn’t Enough: The Controversy over Apologies and Reparations for Human Injustice, New York 1999. 14 Vgl. Blatz et al. (Fn. 4), S. 223.
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den Ansprüchen der Opfer gerecht zu werden.15 U.E. besteht ein zentrales Problem darin, dass bei einem bloß rhetorischen Eingeständnis in den meisten Fällen (die von Blatz et al. übrigens im Hinblick auf ihre identitätspolitische und moralisch-ethischen Auswirkungen innerhalb einer Gesellschaft positiv bewertet werden)16 nicht auszumachen ist, welche konkreten Folgen aus dieser Einbekennung resultieren. Die rhetorische Übernahme einer moralischen Verantwortung korrespondiert selten mit einer tatsächlichen politischen Verantwortung, die sich in politisch-juridischen Maßnahmen, z. B. monetärer Entschädigung oder Kompensation, ausdrücken könnte bzw. aus Sicht vieler Betroffener ausdrücken müsste.17 Hier stoßen Konzeptionen der sozialen Anerkennung an systematische und auch normative Grenzen, da sie moralische und rechtlich-politische Verantwortlichkeiten begründungstheoretisch nicht adäquat ausweisen, geschweige denn ersetzen können. In ähnlicher Weise erweist sich die Unklarheit bezüglich möglicher Folgerungen aus Ansprüchen von Opfern als problematisch. Dies veranschaulicht Kment am Beispiel der Frage nach Schadensersatzansprüchen bzw. Kompensationsforderungen aboriginaler Ureinwohner gegenüber der australischen Regierung.18 Mit dem offiziellen und öffentlichen Schuldeingeständnis der australischen Regierung „kann der Lebensordnung der Aborigines wohl kaum mehr ihre Existenzberechtigung abgesprochen werden“,19 doch hier schließt sich die Frage an, auf welche Weise sich die Zuerkennung einer Existenzberechtigung in rein sozialen Termini begründen lassen sollte. Ohne Rekurs auf juridische Parameter kann beispielsweise die Frage der Legitimität von Landbesitz offensichtlich nicht geklärt werden. Genau hier stellt sich die (zugegebenermaßen nicht einfache) Problematik des sog. Ursprungsrechts, die sich aber, und dies ist eindeutig, allein rechtlich lösen können lassen sollte. Im Hinblick auf die Amnestierungsakte der TRCs zeigt sich noch in verschärfter Weise, inwiefern die Begrenztheit der normativen Reichweite von sozialer Anerkennung als problematisch anzusehen ist. Anhand der Frage, ob die in TRCs generierten Normen tatsächlich geeignete Instrumentarien („effective remedies“) zur Bewältigung historischen Unrechts bieten können, argumentiert Sherrie Russel-Brown, dass sie im Vergleich mit universellen Maßstäben, wie sie etwa transnationale Menschenrechtskonzeptionen und -verträge enthalten20, negativ zu beurteilen seien. Das Ergebnis ihrer vergleichenden Analyse besteht in der Schlussfolgerung, dass „based upon international human rights norms and ‚jurisprudence‘, South Africa’s establishment of the truth and reconciliation commission might not have constituted an ‚effective remedy‘, and might have been in conflict with international human rights
15 Vgl. Kment (Fn. 5), S. 463. 16 Vgl. Blatz et al. (Fn. 4), S. 223 ff., 236 f. 17 Vgl. Teitel, Transitional Justice: Postwar Legacy, Cardozo Law Review 2006 (27:4), S. 1615– 1631. 18 Vgl. Kment (Fn. 5), S. 458. 19 Kment (Fn. 5), S. 463. 20 Russell-Brown führt hier u. a. den „International Covenant on Civil and Political Rights“ („ICCPR“), die „American Convention on Human Rights“ („American Convention“) sowie die „Europäische Menschenrechtskommission“ („EMRK“) an; s. Russel-Brown, Out of the Crooked Timber of Humanity: The Conflict Between South Africa’s Truth and Reconciliation Commission and International Human Rights Norms Regarding ,Effective Remedies‘, Hastings International and Comparative Law Review 2003 (26), S. 228–263.
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‚effectiv remedy‘ norms for the gross human rights violations that were committed during apartheid“.21 Russell-Brown moniert hier vor allem, dass es im Rahmen verschiedener TRC-Arbeitsprozesse vielerorts22 nicht gelang, Einschränkungen der Klagebefugnisse von Betroffenen zu verhindern bzw. zu umgehen. Darüber hinaus kritisiert sie, dass durch die auf allgemeine Normsetzung abzielenden Amnestiegesetze bei gleichzeitig fehlender justizieller Ausrichtung der TRC („the TRC is not a judicial body“23) der individuelle Schutzanspruch von Betroffenen massiv missachtet werde. Das für Russell-Brown entscheidende Argument, dem wir uns anschließen (s. u.), rekurriert hierbei auf die Orientierung an universalen Menschenrechtsnormen, die nicht nur in begründungstheoretischer, sondern vor allem auch in praktischer Hinsicht dem Individuum einen zentralen Stellenwert einräumen. Der Schutzanspruch des Individuums stellt hier das unabdingbare Fundament für die Formulierung von normativen Maßstäben zur Bewältigung historischen Unrechts dar. III. RECHTSPRINZIP UND JUSTIZIALITÄT Im Bereich der Bewältigung historischen Unrechts spielt das Recht sicherlich eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur auf den jeweiligen nationalen Ebenen sondern auch in der Perspektive inter- und transnationalen Rechts. Das zeigt sich auch an dem Umstand, dass die oben erwähnten Beispiele staatlicher Entschuldigungspraxis und nationaler Versöhnungskomitees selten isoliert und eigenständig eine wiedergutmachende und gerechte gesellschaftliche Integration gewährleisten konnten, und dass vielfach sowohl flankierend als auch nachfolgend rechtliche Verfahren angestrengt wurden.24 Dabei spielten erstaunlicherweise nicht nur trans- und internationales Recht als Rechtsquelle eine große Rolle, sondern auch eine sich internationalisierende Rechtsprechungspraxis nationaler Gerichte. Wir möchten zur Bebilderung dessen auf einige Entwicklungslinien – die für den phänomenologischen Bereich, den wir betrachten, besonders interessant sind – hinweisen. In einer allgemeinen Beobachtung können wir davon ausgehen, dass globale Rechtsentwicklungen territorial-nationalstaatliche Souveränitätsprämissen und damit 21 Russel-Brown (Fn. 20), S. 231. 22 Russel-Brown bezieht sich hierbei nicht allein auf Südafrika, sondern auch auf Fälle im Bereich südamerikanischer Transitionsgesellschaften, etwa El Salvador, Uruguay und Argentinien; vgl. Russell-Brown (Fn. 20), S. 243 ff. 23 Russel-Brown (Fn. 20), S. 261. 24 Vgl. Coliver, Bringing Human Rights Abusers to Justice in U.S. Courts: Carrying Forward the Legacy of the Nuremberg Trials, Cardozo Law Review 2006 (27:4), S. 1689–1701; Danieli, Reappraising the Nuremberg Trials and Their Legacy: The Role of Victims in International Law, Cardozo Law Review 2006 (27:4), S. 1633–1649; Davis, Justice Without Borders: Human Rights Cases in U.S. Courts, Law and Policy 2006 (28:1), S. 60–82; Donovan/Roberts, The Emerging Recognition of Universal Civil Jurisdiction, The American Journal of International Law 2006 (100), S. 142–163; Gradoni, You Will Receive a Fair Trial Elsewhere. The Ad Hoc International Criminal Tribunals Acting as Human Rights Jurisdictions, Netherlands International Law Review 2007 (LIV), S. 1–49; Nagy, Postapartheid Justice: Can Cosmopolitanism and Nation-building Be Reconciled?, Law and Society Review 2006 (40:3), S. 623–652 und Nash, The Pinochet Case: Cosmopolitanism and Intermestic Human Rights, The British Journal of Sociology 2007 (58:3:1), S. 417–435.
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einhergehend die je partikularistische Erläuterung von Rechten, die notwendigerweise an nationale Zugehörigkeit gebunden und über nationale Staatsangehörigkeit gestiftet sind, aufgebrochen haben. Dies hat auch dazu geführt, dass die normative Plausibilität der Annahme, der zufolge Nationalstaaten als exklusive Bürgen für die Verwirklichung individueller Rechte gelten, gesunken ist. Entscheidend für diese Entwicklung ist die insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende Emergenz kosmopolitischer Prinzipien und internationalen Menschenrechts, die die Würde des Einzelnen auch gegen staatlich sanktioniertes Unrecht zur Geltung zu bringen sucht.25 sowie die über schmerzliche Kolonialisierungs- und Entkolonialisierungserfahrungen verursachte Perspektivenverschiebung auf die Rechte benachteiligter, diskriminierter und exkludierter Minderheiten und Gruppen, die quer zu nationalen Zugehörigkeiten stehen..26 Die auf die Zäsur des zweiten Weltkriegs folgende Phase internationaler Verrechtlichung stand ganz im Bann der Erfahrung des genozidalen Ausmaßes des Holocaust und deren rechtlicher und moralischer Bewältigung, was eine institutionelle Umsetzung der Idee universalen Rechts in zweierlei Hinsicht zur Folge hatte: Zum einen in Form der Positivierung universalen Rechts in einen verbindlichen rechtlichen Code (eine Zielvorstellung, die schließlich zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im folgenden „Deklaration“ führte), und zum zweiten in Form der Sicherung allgemeiner Rechtsanwendung und Rechtsprechung (ein Prozess, der mit den frühen Kriegsverbrechertribunalen eingeleitet wurde und vorerst in der Gründung des Internationalen Strafgerichthofs endete). Die Ausarbeitung des Entwurfs der „Deklaration“ war von der Einsicht in die Notwendigkeit getragen, barbarisches staatliches Unrecht wie unter der nationalsozialistischen Diktatur, wo BürgerInnen grundlegende Rechte und Rechtsschutz entzogen und Menschenrechte systematisch negiert wurden, zu bewältigen und zukünftig zu verhindern (ähnlich auch die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“). Die Antwort auf diese Herausforderung bestand darin, den rechtlichen Schutz individueller Integrität – und nicht, wie es die Zwischenkriegskonventionen zum Menschenrechtsschutz vorsahen, den Schutz und die Nichtdiskriminierung religiöser, ethnischer und kultureller Minderheiten – in den Vordergrund zu stellen. Diese Verschiebung erfolgte in erster Linie in den Debatten des Dritten Komitees der Vereinten Nationen zum Entwurf der Deklaration, wo sich die Überzeugung durchsetzte, dass eine Fokussierung auf Minderheiten und Differenzen zwischen Gruppen nicht nur gesellschaftliche Segmentierungen, sondern auch zivile und politische Konflikte verschärfen können:
25 Vgl. Koh, Complementarity between International Organisations and human rights. The rise of transnational networks and the third globalization, Human Rights Law Journal 2000 (21), S. 307– 111. 26 Vgl. Soysal, Limits of Citizenship: Migrants and Postnational Membership in Europe, Chicago 1994; Delanty, Citizenship in a Glogal Age, Buckingham 2000. Vgl. auch neuere Debatten, die sich auf die Entkoppelung von Rechten und nationaler Zugehörigkeit im Sinne von Staatsbürgerrecht beziehen, u. a. Ong, Flexible Citizenship. The Cultural Logic of Transnationality“, Durham/London 1999; Benhabib, The Rights of Others. Aliens, Citizens and Residents, Cambridge 2004 und Sassen, Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton/Oxford 2006. Zur Transformation von Flüchtlings-, Einwanderungs- und Asylrecht s. Benhabib, Twilight of Sovereignty or the Emergence of Cosmopolitan Norms? Rethinking Citizenship in Volatile Times, Citizenship Studies 2007 (11: 1), S. 19–36.
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Tanja Hitzel-Cassagnes und Franziska Martinsen „The very identification of groups as bearers of rights encourages oppositional conflict among them. So the framers of the Universal Declaration of Human Rights followed another course, emphasising the rights of individuals to essential civil, political, social, and economic conditions as well as their equality in such protections, with express avoidance of contributing to the power of groups“.27
Wenn man die Debatten zur Entstehung der Deklaration in der Hinsicht betrachtet, dass hier Delegierte aus fünfundfünfzig Staaten, die ganz unterschiedliche kulturelle, politische, moralische, philosophische und religiöse Traditionen repräsentierten, beteiligt waren, ist erstaunlich, dass sich die Beteiligten auf einen Standpunkt „weltanschaulicher Neutralität“ verpflichteten und damit begründungstheoretische Konflikte, d. h. Fragen nach Legitimationsquellen und Rechtfertigungsstrategien erfolgreich ausklammern konnten. So kam das „Dritte Komitee“ zu dem Schluss, sich in metaphysisch neutraler Einstellung auf einen Konsens über allgemein verbindliche, durchsetzbare praktische Normen, die den Schutz menschlicher Würde und menschlichen Wohlergehens verbürgen, zu einigen. Es stand also letztlich die Vorstellung eines allgemeinen, geteilten, und „überlappenden“ Einverständnisses, d. h. eines praktisch wirksamen und normativen Konsenses über universal gültige Menschenrechte, der international und kultur- bzw. traditionenübergreifend trägt, im Vordergrund. Über diesen Bezug auf ein „shared practical wisdom“ bzw. auf ein implizit schon bestehendes übergreifendes Einverständnis in die Schutzwürdigkeit menschlicher Integrität – konnte erstaunlicherweise eine Appellationsressource bereitgestellt werden – eine Ressource, die als Ausdruck moralischen „Wissens“ gilt und daher keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, und die entsprechend Rechtsbindungswirkung beanspruchen kann. 28 Parallel zu den Vorbereitungen der Deklaration nahmen die Tribunale zur rechtlichen Verhandlung von Kriegsverbrechen ihre Arbeit auf. Die rechtliche Grundlage für die Prozesse von Nürnberg und Tokio wurde mit dem Londoner Abkommen (1945), in dessen Rahmen das Statut des ersten Internationalen Militärtribunals verabschiedet wurde, gelegt. Darin wurden eine Reihe von Straftatbeständen aufgenommen, die bis dato keine Rolle im internationalen Recht spielten. Grundlegend – und strukturbildend auch für neuere Entwicklungen internationaler Kriegsverbrechenstribunale29 ebenso wie für die Etablierung des Internationalen Strafgerichthofs – waren insbesondere drei Neuerungen: zum ersten die explizite Anerkennung individueller Rechtssubjektivität mit entsprechenden Rechten und Pflichten, inklusive der Anerkennung individueller Verantwortlichkeit; zum zweiten die Umsetzung des Prinzips individueller Verantwortlichkeit in internationale Jurisdiktionsbefugnisse (Strafverfolgung, gerichtliche Verfahren, Sanktionierung); und zum dritten die Aufnahme von Verbrechen gegen den Frieden sowie – und das war die wirkmächtigste Neuerung –
27
Twiss, History, Human Rights, und Globalization, Journal of Religious Ethics 2004 (32: 1), S. 39–70. 28 Twiss (Fn. 27), S. 65, vgl. auch Lauren, The Evolution of International Human Rights: Visions Seen, Philadelphia 1998. 29 Vgl. exemplarisch das Statut und die Rechtsprechung des „Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung der Verantwortlichen für die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen schweren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht“ 1993, http://un.org/icty/; s. auch Mégret, A Special Tribunal for Lebanon: The UN Security Council and the Emancipation of International Criminal Justice, Leiden Journal of International Law 2008 (21), S. 485–512.
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von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.30 Die eigentliche Errungenschaft dieser Entwicklung liegt darin, dass der Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ über den Holocaust hinaus in der globalen Rechtskultur verankert wurde und – an jedem Ort der Welt – für Praxen systematisch organisierter, obrigkeitsstaatlich gesteuerter Menschenrechtsverletzungen und genozidaler Verfolgung und Unterdrückung sensibilisiert hat. Bezeichnend in diesem Kontext ist etwa die extensive Enumeration und Erläuterung jener Menschenrechte, die nach Art. 5–7 des Rom Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs als „genozidale Verbrechen“ und als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“31 gefasst werden und die damit einhergehende Schwerpunktverschiebung von nationaler zu internationaler Jurisdiktion. Aber auch in praktischer Hinsicht spielt die Kosmopolitisierung von Unrechtserfahrungen eine zentrale Rolle in der Universalisierung individueller Rechtsansprüche und in der Transformation der Legitimationsressourcen staatssouveränen Handelns. So zeigen nicht wenige Studien auf,32 dass partikular-nationale und ethnisch-kulturelle Unrechtserfahrungen und Vergangenheitsbewältigungen den Filtermechanismus einer „kosmopolitischen Erinnerungsgemeinschaft“33 durchlaufen, was nach Daniel Levy und Natan Sznaider34 zwei parallel verlaufende Prozesse befördert:
30 Art. 6c lautet: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung oder Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven; unabhängig davon, ob einzelstaatliches Recht verletzt wurde“. 31 Artikel 7, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, beinhaltet „1. Im Sinne dieses Statuts bedeutet‚ Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ jede der folgenden Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird: a) vorsätzliche Tötung; b) Ausrottung; c) Versklavung; d) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung; e) Freiheitsentzug oder sonstige schwer wiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts; f) Folter; g) Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere; h) Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, Gründen des Geschlechts im Sinne des Absatzes 3 oder aus anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen im Zusammenhang mit einer in diesem Absatz genannten Handlung oder einem der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen; i) zwangsweises Verschwindenlassen von Personen; j) das Verbrechen der Apartheid; k) andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.“ Zur Erläuterung der einzelnen Tatbestände vgl. Artikel 7 Abs. II. 32 Vgl. etwa Danieli (Fn. 24), Coliver (Fn. 24), Teitel (Fn. 17), Gardbaum, Human Rights and International Constitutionalism, UCLA School of Law Research Papers 2008 (01), Davis (Fn. 24) sowie Waters, Creeping Monism: The Judicial Trend Toward Interpretive Incorporation of Human Rights Treaties, Columbia Law Review 2007 (107), S. 628–705. 33 Vgl. etwa die Dokumentation des „War Crimes Research Office“, http://www.wcl.american.edu/ warcrimes/ zu folgenden Institutionen: „Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda“, „Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“, „Sondergerichtshof für Sierra Leone“, „Sondergericht für Timor Leste Osttimor“, „Sondertribunal für Libanon“, „Internationales Militärtribunal für den Fernen Osten“, „Außerordentliche Kammern an den kambodschanischen Gerichten“. 34 Levy/Sznaider, Sovereignty Transformed: A Sociology of Human Rights, The British Journal of Sociology 2006 (57:4), S. 657–676.
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Tanja Hitzel-Cassagnes und Franziska Martinsen „One, the political will of states to engage with rights abuses is becoming a prerequisite for their legitimate standing in the international community and increasingly also a domestic source of legitimacy; two, and related, legal inscriptions of memories of human rights abuses do recast the constitution of International Law itself and also constitute significant precedents for the cosmopolitanisation of national jurisdictions.“35
Die Rede von einer „Kosmopolitisierung richterlicher Rechtsprechung“ („cosmopolitanisation of jurisdiction“) oder von einer „justiziellen Globalisierung“ („judicial globalisation“) steht für ein breites Variationsspektrum juridischer Praxen und institutioneller Strukturen, die sich zum einen auf die Verbreitung von transnationalen, insbesondere regional ausdifferenzierten Menschenrechtsgerichtshöfen und internationalen Menschenrechtsorganisationen und -organen36 und zum anderen auf die Ausweitung und Verdichtung der gerichtlichen Anwendung von „universaler Zuständigkeit“ beziehen. Dabei erschöpfen sich die Phänomene justizieller Globalisierung nicht in der Ausbreitung trans- und internationaler rechtsprechender Organe unterschiedlicher Art, Funktion und Reichweite, sondern beziehen sich auch auf Prozesse der Vereinheitlichung und Universalisierung interpretativer bzw. dogmatischer Konzepte, die nicht nur oder nicht einmal primär nationalen verfassungsrechtlichen Rahmen entlehnt werden.37 Nationale Gerichte nehmen verstärkt – insbesondere im Rahmen grund- und verfassungsrechtlicher Verfahren – auf Entscheidungen, Präzedenzfälle, Begründungsfiguren und Prinzipienerwägungen ausländischer Verfassungsgerichte und transnationaler Gerichte Bezug, was durch Prozesse transnationaler Vernetzung juristischer Eliten und die Koordinierung ihrer Tätigkeit gestärkt wird. Diese Bezugnahmen auf rechtliche Quellen und Präjudizien jenseits des je eigenen verfassungsrechtlich gehegten nationalen Rahmens sind jedoch nicht nur Resultat positivrechtlicher Verpflichtungen, funktionaler Imperative oder struktureller Interdependenzen, sondern (auch) Ausdruck eines wachsenden globalisierten Rechtsempfindens, das internationalem Recht eine Prärogative und rechtfertigende Kraft einräumt, die auf verfassungsrechtliche Interpretationsrahmen rückwirkt. Wenn schon in den Federalist Papers zum Ausdruck gebracht worden ist, dass „the law of nations in sufficient regard [...] create[s] a presumption that the Constitution should be interpreted consistent with interna35 Levy/Sznaider (Fn. 34), S. 661; vgl. auch Hirsch, Law against Genocide: Cosmopolitan Trials, London 2003. Die Studien von Nagy (Fn. 24) (auf Südafrika bezogen) und von Golob, The Pinochet Case: Forced to be free abroad and at home, Democratisation 2002 (9), S. 25–57 (auf Chile bezogen), bebildern diese Entwicklung einer verstärkt auf Gerichte anderer Staaten sowie auf trans- und internationale gerichtliche Instanzen bezogene Unrechtserfahrungsbewältigung in Form von gerichtlichen Menschenrechtsverfahren. Nagy (Fn. 24), S. 626, spricht in diesem Zusammenhang zum einen von einem „cosmopolitan re-membering of the nation“ und zum anderen von einem „cosmopolitan quest by the victim“. 36 Vgl. den Überblick über menschenrechtliche Organe der UN: http://www.ohchr.org/english/ bodies. Zentrale Rolle spielen auch das „Komitee für Menschenrechte von Parlamentariern“, der „Rat der Interparlamentarischen Union“, die „Internationalen Vereinigung der Richter/innen des Flüchtlingsrechts“ und insbesondere nationale Menschenrechtskommissionen. 37 Vgl. Slaughter, A New World Order, Princeton 2004; Flaherty, Judical Globalization in the Service of Self-governance, Ethics and International Affaires 2006 (20:4), S. 447–503; Berman, From International Law to Law and Globalization, University of Connecticut School of Law Articles and Working Papers 2005 (23) und Jackson, Constitutional Comparisons: Convergence, Resistence, Engagement, Harvard Law Review 2005 (119), S. 109–128.
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tional law where possible“, so spielt hier sicherlich die Idee eine Rolle, dass globale Konsense in Form von internationalem Gewohnheitsrecht und jus cogens eine Verpflichtung zum Ausdruck bringen, die sowohl international als auch national geteilt wird, was mit dem vergleichenden Rückgriff auf internationale und transnationale Rechtsquellen und auf die Menschenrechtsjudikatur anderer nationaler Rechtsordnungen reflektiert wird.38 Andererseits gibt es seitens nationaler Rechtsprechungsinstanzen einen deutlichen Trend, das Prinzip universaler Zuständigkeit für die rechtliche Ahndung von Menschenrechtsverletzungen anzuwenden – insbesondere im Rahmen der Tatbestände des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Rahmen von Praxen politischer Verfolgung, Unterdrückung und des „Verschwindenlassens“ politischer Dissidenten sowie im Rahmen von Praxen der Arbeitsversklavung und sexuellen Versklavung bei kriegerischen Konflikten –, individuelle Klagebefugnisse für Nichtstaatsangehörige einzurichten und hierzu eigenständige Verfahren in die jeweiligen Strafprozessordnungen zu integrieren.39 Melissa Waters,40 die in einer vergleichenden Studie die Rechtsprechungspraxis von Gerichten in Nordamerika und aus ehemaligen Commonwealth-Staaten, d. h. aus Rechtssystemen, die in einer „Common-law-Tradition“ stehen, analysiert hat, spricht der richterlichen Praxis eines systematischen Rückgriffs auf foreign authority in Form von Urteilen anders- oder nichtstaatlicher Gerichte sowie trans- und internationaler Rechtsquellen sogar der Konsequenz nach einen inkrementellen Monismus („creeping monism“) zu. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Umstand, dass z. B. US-Gerichte, die tendenziell eher zögerlich mit der Verpflichtung „universaler Zuständigkeit“ umgingen, dennoch über zwei nationale Bestimmungen, den Alien Tort Claims Act von 1789 und den Torture Victim Protection Act von 1991, die gerichtliche Verfolgung von nach internationalem Recht geahndeten Menschenrechtsverletzungen von Drittstaatsangehörigen ermöglichten. De jure werden damit internationale Menschenrechtsverletzungen „national“ justiziabel, was de facto seit den 1980ern auf eine
38 Vgl. Flaherty (Fn. 37), S. 480, der aufzeigt, dass die höchstinstanzlichen und Verfassungsgerichte in solch unterschiedlichen Systemen wie Indien, Kanada, Zimbabwe, Hongkong, Südkorea, Botswana, Südafrika, Israel, Deutschland und USA nicht nur über die eigenen Grenzen hinaus vergleichend nationale Rechtsquellen rezipieren – die südafrikanische Verfassung beinhaltet in dieser Hinsicht sogar ein „kosmopolitisches“ Interpretationsgebot –, sondern auch verstärkt auf die Judikatur transnationaler Menschengerichtshöfe zurückgreifen, was seiner Ansicht nach im Gegenzug zu einer Stärkung internationaler Rechtsprinzipien bzw. einer internationalen „rule of law“ führt; vgl. auch Flaherty, Judicial Globalization in the Service of self-governance, Princeton Law and Public Affairs Working Paper 2004 (017); Waters (Fn. 31), Donovan/Roberts (Fn. 24); Cleveland, Our International Constitution, Yale Journal of International Law 2005 (31:1), S. 1–125 und Posner/Sunstein, The Law of Other States, Chicago Public Law und Legal Theory Working Papers 2006 (119). 39 Für einen guten Überblick, auch mit Blick auf die hohe zivilgesellschaftliche und öffentliche Resonanz, s. schon Kokott, Der Schutz der Menschenrechte im Völkerrecht, in: M. Lutz-Bachmann et. al., Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt a. M. 1999, S. 176–98. 40 Waters (Fn. 32).
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verstärkte Implementierung „universaler Zuständigkeit“ hinausläuft.41 Auch wenn der Erfolg der Prozesse, die unter der Ägide „universaler Zuständigkeit“ für Menschenrechtsverletzungen geführt werden, für die Betroffenen häufig nicht gewährleistet ist, kann in normativer Hinsicht anerkannt werden, dass diese Prozesse von einer breiten, transnational angelegten politischen Mobilisierung getragen werden und in engagierte öffentliche Debatten eingelassen sind, die die kosmopolitische Dimension von Unrechtsbewältigung und die universale Anlage von Gerechtigkeitsansprüchen zum Ausdruck bringen.42 Wir hoffen, mit dieser Gegenüberstellung ein Stück weit verdeutlicht zu haben, dass das Variationsspektrum einer normativ zielgerichteten Vermittlung historischen Unrechts primär in zwei Modi differenziert werden kann: Zum einen als Praktiken sozialer Anerkennung und Versöhnung, zum anderen als Verfahren rechtlicher Wiedergutmachung. In systematischer Hinsicht stellt sich nun die Frage nach den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Vermittlungsmodi und insbesondere nach ihren normativen und gerechtigkeitstheoretischen Implikationen. Wir möchten uns der Beantwortung dieser Frage in zwei Schritten nähern, zunächst durch die Betrachtung des Verhältnisses von kollektiver und individueller Betroffenheit und weiter durch die Betrachtung des Verhältnisses von Versöhnung und Wiedergutmachung.
41 Zu den prominentesten Verfahren gehören jene, die sich auf die Verbrechen sexueller Versklavung durch die japanische Militärdiktatur während des Zweiten Weltkriegs, auf Zwangsarbeit und Arbeitsversklavung unter dem Castro-Regime, auf politische Verfolgung, willkürliche Masseninhaftierung und das „Verschwindenlassen“ unter mittel- und südamerikanischer Diktaturen sowie auf die Massenvergewaltigungen (rape camps) unter der Karadžiþ-Führung bezogen. Des Weiteren fanden zum einen Gerichtsverfahren gegen konkrete politische und militärische Funktionsträger aus unterschiedlichen Regimen (Haiti, Guatemala, Indonesien, Chile, El-Savador, Südafrika) und gegen multinationale Konzerne, die sich auf die Kollaboration, Unterstützung und den Nutznieß von Unrechtsregimen und Menschenrechtsverletzungen beziehen, statt. Zur Frage nach der Verantwortlichkeit multinationaler Konzerne und transnationaler Korporationen s. McCorquodale/Simons, Responsibility Beyond Borders: State Responsibility for Extraterritorial Violations by Corporations of International Human Rights Law, The Modern Law Review 2007 (70:4), S. 598–625; vgl. auch die Artikel zur „Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts“ der „Völkerrechtskommission“ und „General Comment on the Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant“ der „Menschenrechtskommission“. 42 Gute Beispiele sind etwa die Apartheidsprozesse, die in unterschiedlichen Ländern geführt wurden. Vgl. insbesondere „Re South African Apartheid Litigation“; 346 F. Supp. 2d 538; U.S. Dist. LEXIS 23944 und die dazu gehörigen öffentlichen „amici curiae briefs“. Vgl. auch Nagy (Fn. 24); International Law Commission, Preliminary report on the obligation to extradite or prosecute (aut dedere aut judicare), Special Rapporteur Galicki, UN-Dokument 2006 (A/CN.4/571); International Law Commission, Second report on the obligation to extradite or prosecute (aut dedere aut judicare); Special Rapporteur Galicki, UN-Dokument 2007 (A/CN.4/585) und International Law Commission, Third report on the obligation to extradite or prosecute (aut dedere aut judicare); Special Rapporteur Galicki, UN-Dokument 2008 (A/CN.4/603) sowie Amnesty International, Universal jurisdiction: The duty of states to enact and implement universal jurisdiction, Amnesty International Documents 2001 (IOR 53/002 – 018/2001).
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VI. FUNKTIONALITÄT UND LEISTUNGSFÄHIGKEIT VON SOZIALER ANERKENNUNG EINERSEITS UND RECHTSPROZESSEN ANDERERSEITS – EINE GEGENÜBERSTELLUNG 1. BETROFFENHEIT – KOLLEKTIV VS. INDIVIDUELL Wie wir an den Beispielen von Entschuldigungsreden und Versöhnungskommissionen gesehen haben, weist die Praxis einer (symbolischen) sozialen Anerkennung einen stark identitätskonstituierenden und -affirmierenden Charakter auf. Diese anerkennungstheoretische Prämisse ist u.E. jedoch nicht nur als progressiv-emanzipatorisch anzusehen. Die vermeintliche Progressivität erweist sich zudem als relativ im Hinblick auf bzw. im Vergleich mit Praktiken der Verleugnung und Verharmlosung von Unrechtsgeschehnissen. Besinnen wir uns auf die eingangs formulierte Frage, welche Maßnahmen eine adäquate, d. h. gerechtigkeitsrelevante Bewältigung historischen Unrechts verbürgen könnte, so kann konstatiert werden, dass die identitätsbezogene Vermittlung normativer Konflikte auch Gefahren bzw. potentiell negative Auswirkungen birgt, und zwar insbesondere in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht. Nancy Fraser43 hat vielfach versucht aufzuzeigen, dass insbesondere gruppenbezogene Anerkennungsforderungen dysfunktionale und konfliktverschärfende Effekte zeitigen, und zwar aus unterschiedlichen Gründen: a) Identitätsrhetoriken können erstens einer Essentialisierung und Verdinglichung gruppenbezogener Merkmale Vorschub leisten, wodurch sie – zweitens – einen diskursiven und politischen Separatismus fördern. Frasers Skepsis44 rekurriert damit in erster Linie auf das Phänomen, dass Anerkennungsrhetoriken Gruppendifferenzierung und -segmentierung bewirken und damit Zugehörigkeitszuschreibungen festlegen, Gruppenkonflikte verfestigen, interne Differenzierungen vernachlässigen, d. h. strukturell einen internen Konservatismus und Konformismus verankern und entsprechend tendenziell eher separatistisch denn integrativ wirken. Ihr Hauptargument bezieht sich darauf, dass die Affirmation von Identitäten im Rahmen von Anerkennungsdiskursen (anders als etwa im Rahmen von Gerechtigkeits- und Redistributionsdiskursen) – wenn auch nicht intendiert – negative Effekte zeitigen wird, da sie strukturell auf das „policing“, d. h. auf ein politisches Management von Authentizität bezogen sind und damit Formen von „racial reasoning“ institutionalisieren und dazu neigen, identitätsbezogene Formen von Diskriminierung als freischwebend zu betrachten und nicht als Folge eines komplexen Arrangements sozialer, gesellschaftlicher und politischer Institutionen und Praktiken. Hier ist Frasers Idee zu sagen, dass es im Rahmen von Anerkennungsdiskursen all zu oft um eine Identifizierung der Identität eines Sprechers/ einer Sprecherin geht und weniger um eine Evaluation der normativen Ansprüche sowie der dazugehörigen Gründe, die ein Sprecher/eine Sprecherin reklamiert.45 Wendet man den Blick sowohl auf die Prozesse von Identitätsbildung, -aufrechterhaltung und -pflege als auch auf Prozesse von Identitätsdekonstruktion, werden die 43 Fraser, Justice Interruptus: Critical Reflections on the ,Postsocialist‘ Condition, New York 1997; dies., Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition, and Participation, Salt Lake City 1998; dies., Rethinking Recognition, New Left Review 2000 (3), S. 107–120; auch dies./Honneth (Fn. 7). 44 Ähnlich Swanson, Recognition and Redistribution. Rethinking Culture and the Economic, Theory, Culture & Society 2005 (22:4), S. 87–118 und Alcoff, Fraser on Redistribution, Recognition, and Identity, European Journal of Political Theory 2007 (6:3), S. 255–265. 45 S. Fraser (Fn. 43), Rethinking Recognition und Fraser/Honneth (Fn. 7).
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konzeptionellen und normativen Probleme noch gravierender und in gewisser Hinsicht paradoxer. Jacinda Swanson46 und Linda M. Alcoff47 haben etwa aufgezeigt, dass die vielfältigen Formen von Unterdrückung und Diskriminierung, die prima facie auf klar identifizierbare und eindeutig umgrenzte Gruppen(-identitäten) bezogen sind, sich bei näherer Betrachtung weit komplexer gestalten, und zwar sowohl im Hinblick auf die Arten der Diskriminierung, die institutionellen und praktischen Kontexte als auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Betroffenenlagen (Stichwort Intersektionalität, z. B. Rasse vs. Klasse vs. Geschlecht, z. B. auch indigene Gruppen, indigene Frauen, non-konforme Teilgruppen, Individuen etc.). So gibt es etwa eine breite Palette an Studien,48 die die negativen Auswirkungen von Identitätsdiskursen im Rahmen der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in sog. „white settler societies“ (insbes. Australien, Neuseeland, Kanada und britischen Commonwealthländern)49 ausweisen, und zwar zum einen mit Blick auf bestimmte Segmente indigener Bevölkerungsgruppen – exemplarisch kann hier darauf verwiesen werden, dass indigene Selbstbestimmungsbewegungen dazu tendieren, eine „politics of race“ in den Vordergrund zu rücken und damit spezifische Betroffenheiten und die vielfältigen Formen von Diskriminierung und Marginalisierung zu invisibilisieren, so wird etwa die geschlechtsspezifische Betroffenheit kolonialisierter indigener Frauen vielfach ausgeblendet, was faktisch auf eine Perpetuierung kolonialer Praxis hinausläuft. b) Identitätsdiskurse erweisen sich aber auch in einer zweiten Hinsicht anfällig für die Perpetuierung kolonialer Praktiken (Stichwort „deep colonizing methodologies“),50 weil Gruppenzugehörigkeit askriptiv zugeordnet und festgeschrieben wird, den Beteiligten damit aber – vor dem Hintergrund einer Geschichte von Unterwerfung und Diskriminierung – Inferiorität und Selbstverachtung in ihre Identität gleichsam eingeschrieben wird.51 Hier steht die Skepsis im Vordergrund, dass Anerkennungskämpfe nicht nur emanzipativ wirken, d. h. in anerkennender Reziprozität resultieren, sondern 46 Swanson (Fn. 44). 47 Alcoff (Fn. 44). 48 Marchetti, Intersectional Race and Gender Analyses: Why Legal Processes Just Don’t Get It, Social and Legal Studies 2008 (17:2), S. 155–174, Harris, Race and Essentialism in Feminist Legal Theory, Stanford Law Review 1990 (42), S. 581–616, Coker, Enhancing Autonomy for Battered Women: Lessons from Navajo Peacemaking, UCLA Law Review 1999 (47:1), S. 1–111, Cossins, Saints, Sluts and Sexual Assault: Rethinking the Relationship between Sex, Race and Gender, Social and Legal Studies 2003 (12:1), S. 77–103, Atkinson, Violence against Aboriginal Women: Reconstitution of Community Law – the Way Forward, Aboriginal Law Bulletin 1993 (2:46), S. 6–9, Paxman, Women and Children First, Alternative Law Journal 1993 (18:4), S. 153–170, Hamilton/Sinclair, Report of the Aboriginal Justice Inquiry of Manitoba, Winnipeg 1991, Cameron, Women Prisoners and Correctional Programs, Trends & Issues in Crime and Criminal Justice 2001 (194), S. 1–60, Payne, Aboriginal Women and the Law, Cunneen, Aboriginal Perspectives on Criminal Justice. Sydney 1992, S. 31–40, Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139–167 und Bell, Intraracial Rape Revisited: On Forging a Feminist Future Beyond Factions and Frightening Politics, Women’s Studies International Forum 1991 (14:5), S. 385–412. 49 Vgl. Murdocca (Fn. 1). 50 S. Marchetti (Fn. 48), Rose, Land Rights and Deep Colonising: The Erasure of Women, Aboriginal Law Bulletin 1996 (3:85), S. 6–13 und Rose, The Silence and Power of Women, in: P. Brock, Aboriginal Women, Politics and Land, Crows Nest 2001, S. 92–116. 51 S. Sayer, Class, Moral Worth and Recognition, Sociology 2005 (39:5), S. 947–963.
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einer „Logik der Gewalt“52 folgen können. Es gibt gleichsam keinen ontologischen Widerstand im Angesicht kolonialisierender Strukturen; die Ergebnisse von Anerkennungskämpfen können auch in Selbstverleugnung53, repressiver Authentizität,54 reziproker Exklusivität,55 kultureller Appropriation56 und dem Einfrieren sozialer Beziehungen57 münden. Wir möchten keinesfalls bestreiten, dass Identitätsdiskurse, die auf den Ausweis von Betroffenheit bezogen sind, und damit einhergehende Formen politischer Mobilisierung einen wichtigen emanzipatorischen Beitrag in der Bewältigung von Unrecht und im Abbau von Diskriminierung leisten können,58 sondern vielmehr darauf aufmerksam machen, dass die Organisation von Identitätsdiskursen auch repressive Strukturen ausbilden kann, die Unrecht generieren – gegenüber Gruppen und gegenüber Individuen,59 selbst wenn dies hinter dem Rücken der Betroffenen erfolgt. Wie Swanson zeigt: „[N]ot all victims of injustice may necessarily seek to end their oppression, and many non-victims may be eager to eliminate unjust practices.“60 Der entscheidende Punkt, auf den es uns ankommt, wäre, in normativer Hinsicht in Rechnung zu stellen, dass Anerkennungsdiskurse, die Betroffenheit über Gruppeni52 Foucault, Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings, 1972–1977, hg. von Gordon, New York 1980 und Foucault, Nietzsche, Genealogy, History, in: P. Rabinow, The Foucault Reader, New York 1984, S. 76–100; Fanon, Black Skin, White Masks, London 1952/1986; Yar, Recognition and the Politics of Human(e) Desire, Theory, Culture & Society 2001 (18:2/3), S. 57–76 und Schaap, Political Reconciliation Through a Struggle for Recognition?, Social Legal Studies 2004 (13:4), S. 523–540. 53 Memmi, The Coloniser and the Colonised, London 1965/1990; Kruks, Fanon, Sartre, and Identity Politics, in: L. Gordon/D. Sharpley-Whiting/R.T. White, Fanon: A Critical Reader, Oxford 1996, S. 122–133. 54 Wolfe, Nation and Miscegenation: Discursive Continuity in the Post-Mabo Era, Social Analysis 1994 (36), S. 93–152. 55 Schaap (Fn. 52). 56 Povinelli, The Cunning of Recognition: Real Being and Aboriginal Recognition in Settler Australia, Australian Feminist Law Journal 1998 (11), S. 3–27. 57 Young, Difference as a Resource for Democratic Deliberation, in: J. Bohman/W. Rehg, Deliberative Democracy: Essays on Reason and Politics, Cambridge 1997, S. 383–406. 58 Alcoffs Studie weist überzeugend aus, dass die Interessenorganisation und politische Mobilisierung einer der am stärksten von sozialer/ökonomischer Ausbeutung betroffener Gruppen in den USA, die sog. „sweatshop workers“, gerade dadurch ermöglicht wurde, dass auf der Ebene ethnisch-kulturell-linguistisch basierter Gemeinschaftlichkeit kommunikative und Vertrauensstrukturen etabliert und über Solidarleistungen der Gemeinschaft die Gefahr der Ausweisung bzw. „Deportation“ eingeschränkt werden konnten; vgl. Alcoff (Fn. 44). 59 Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: A. Gutmann (Fn. 7), S. 147–196 und Appiah, Identity, Authenticity, Survival: Multicultural Societies and Social Reproduction; Gutmann, Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition, Princeton 1994, S. 149–163. 60 Swanson (Fn. 44); auch Butler, Contingent Foundations: Feminism and the Question of ,Postmodernism‘ and ,For a Careful Reading‘, in: S. Benhabib et al., Feminist Contentions: A Philosophical Exchange, New York 1995, S. 35–57, S. 127–431; Butler, Restaging the Universal: Hegemony and the Limits of Formalism, ,Competing Universalities‘ and ,Dynamic Conclusions‘, in: J. Butler et al., Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left, New York 2000, S. 11–43, S. 136–81, S. 263–80; Smith, New Right Discourse on Race and Sexuality, Cambridge 1994; Fraser (Fn. 43), Justice Interruptus; dies., Rethinking Recognition und Young, Social Difference as a Political Resource, in: dies., Inclusion and Democracy, New York 2000, S. 81–120.
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dentitäten allozieren, auch repressiv auf Betroffene wirken und damit Rechte verletzen. Das hat entsprechend Auswirkungen auf die Art und die normative Qualität von Prozessen normativer Vermittlung, Verständigung und öffentlicher Rechtfertigung. Wenn bestimmte Aspekte von Gruppenzugehörigkeit als authentisch, indisponibel oder nicht fallibel aus dem Rahmen öffentlicher Deliberation ausgegrenzt werden, läuft das in systematischer Hinsicht auf eine – in den Worten Cillian McBrides – „Refeudalisierung“61 des öffentlichen Raumes hinaus.62 Das allerdings hintergeht u.E. die normativen Kriterien, die wir als Minimalstandards von Prozessen öffentlicher Rechtfertigung erachten, die zum einen über prinzipienorientierte Gütekriterien von Argumenten und Gründen und zum anderen über Gleichheit, Symmetrie und Reziprozität gewährleistet werden sollen (Alexy, Forst, Habermas). McBride fasst den Standpunkt einer egalitären, autonomietheoretischen Kritik an Anerkennungskonzeptionen, die die normative Dignität von „Identität“ betonen, anschaulich zusammen: „[F]irst, diverging views are a product of the free use of reason, and we must respect the right of others to form such views, regardless of their potential to expose us to recognition failure. Second, the criterion of equal respect ought to determine who, if anyone, is obliged to undertake any revision of social identities and practices when such failures occur, that is, the recognition seeker, or the respondent. Third, the pursuit of egalitarian recognition will, in some circumstances, require us to withhold recognition from certain social identities, or aspects of those identities, that is, not simply to hold them in low esteem, but sometimes to subject them to legal sanction. In encouraging deliberation about identity-based claims rather than demanding a presumption of deference, the politics of egalitarian recognition advances deliberative democratic objectives: the democratisation of political judgment and the pursuit of social justice through democratic politics.“63
2. VERSÖHNUNG ODER WIEDERGUTMACHUNG? Wenn wir einen universalen Egalitarismus als Heuristik für die normative Vermittlung der Rechte Einzelner und der Interessen von Gruppen und Betroffenen heranziehen, dann geht es in erster Linie darum, die Rechte und Pflichten von Personen als Mitglieder einer Gemeinschaft zurechenbarer, moralischer Personen und Rechtssubjekte wechselseitig zu vermitteln. Rechtliche (formalisierte) Verfahren, die an den Prinzipien gleichen Respekts, Symmetrie und Reziprozität orientiert sind, können damit in größerem Ausmaß Reflexivität und begründete Revisionsoffenheit verbürgen. Diese Perspektive ermöglicht aber einen anderen Blick auf das Verhältnis zwischen Opfern und TäterInnen, der deutlich macht, worin der kategoriale Unterschied zwischen der Identifizierung von Opfern und TäterInnen im Rahmen von sozialen Anerkennungsverhältnissen und der Konzeption von Rechtssubjekten innerhalb eines gerechtfertigten Verhältnisses wechselseitiger Rechte und Pflichten besteht. Anerken61 Ihre Formulierung lautet: „Ironically, while the politics of recognition proclaims the need to render the public sphere more pluralist, on closer inspection it is effectively seeking to ,refeudalise‘ the public sphere, by privatising questions of culture and identity and thereby insulating them from public scrutiny and challenge“, McBride, Deliberative Democracy and the Politics of Recognition, Political Studies 2005 (53:3), S. 497–515, S. 512. 62 Vgl. auch Jackson Preece, Democracy, Minority Rights and Plural Societies: Plus ça Change?, Sociology Compass 2008 (2:10), S. 1–16. 63 McBride (Fn. 61), S. 505.
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nungsverhältnisse mit identitätsaffirmativer Ausrichtung vermögen keine echte Symmetrie und Reziprozität zu garantieren, sondern allenfalls eine Scheinsolidarität mehr oder weniger wechselseitiger Achtung. Solange nicht eindeutig ausgewiesen wird, auf welche normativen Kriterien Anerkennung rekurriert, ist die Begründung der Zuschreibung der Anerkennungswürdigkeit von Personen notorisch problematisch.64 Insofern geht mit Anerkennung ein Gerechtigkeitsdefizit einher. Darüber hinaus gestalten sich vermeintliche Anerkennungsverhältnisse faktisch oftmals in einem asymmetrischen Setting: Die Perzeption von Personen als Opfer, so wertschätzend und respektvoll sie auch in je spezifischen Kontexten verstanden werden mag, birgt die Gefahr der (unfreiwilligen) Persistenz hierarchischer und hegemonialer Strukturen und damit einhergehenden unweigerlichen Stigmatisierungen, die für die Opfer im Hinblick auf ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht nur gegen-emanzipativ wirken, sondern insofern besonders problematisch sind, als Stigmatisierungen den gerechtigkeitsrelevanten Belangen viktimisierter Betroffener in egalitärer Hinsicht nicht gerecht werden können. Betroffene über die Idee allgemeiner menschlicher Verletzbarkeit als Rechtssubjekte zu respektieren, d. h. als Träger von (universellen) Rechten, vermag hingegen einer unreflektierten Perpetuierung von Identitätsfestschreibungen entgegen zu wirken. Anders als Opfer müssen Rechtssubjekte nicht auf Gerechtigkeit von Seiten derjenigen hoffen, die sich in wohlmeinender Herablassung ihrer annehmen. Sie haben begrifflich ein Recht darauf. Die bisher dargelegten normativen Defizite von sozialen Anerkennungspraktiken legen den Schluss nahe, dass die Bewältigung historischen Unrechts sowie die angemessene Berücksichtigung der Forderungen Betroffener letztlich auf juridische Strukturen und rechtliche Verfahren angewiesen sind. In gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht ist zudem die Frage relevant, welche konkreten Folgen für die Betroffenen aus den Vermittlungsversuchen resultieren. Wie erwähnt, spielt die Vorstellung einer sozialintegrativ wirkenden Versöhnung im Rahmen von Anerkennungspraktiken eine zentrale Rolle. Versöhnung bezieht sich dabei vornehmlich auf Formen der symbolischen und rhetorisch vermittelten Anerkennung, die auf die Etablierung bzw. Verbesserung der Kommunikation und wechselseitigen Verständigung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppierungen zielt. Konkrete Rechtsfolgen und deren Durchsetzung (d. h. die Implementierung von Wiedergutmachung) – etwa die für rechtliche Verfahren typischen sanktionierenden, strafrechtlichen und entschädigenden, zivilrechtlichen Maßnahmen – treten dabei in der Regel in den Hintergrund.65 64 Vgl. die Kontroverse zwischen Fraser und Honneth in Fraser/Honneth (Fn. 7). 65 Die Komplementarität von straf- und zivilrechtlichen Verfahren wird verstärkt in der Literatur zur allgemeinen Zuständigkeit für Menschenrechtsverletzungen („universal jurisdiction“) reflektiert. Exemplarisch Donovan/Roberts (Fn. 24), S. 154–5: „The goals of criminal and tort law overlap, punishment and compensation are complementary ways of condemning past wrongdoings ... The close relationship between criminal sanctions and civil remedies is confirmed by the action civile recognized in many civil law states, by which a civil claim for compensation is attached to a criminal prosecution ... The same relationship is reflected in international practice“. Vgl. auch Art. 75 Rom Statut des IstGH „Wiedergutmachung für die Opfer“ sowie die im Jahr 2005 von der UN-Menschenrechtskommission verabschiedeten „Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violation of International Humanitarian Law“ (U.N.Doc. E/ CN.4/2005/L.48) und „Principles for the Protection and Promotion of Human Rights Through Action to Combat Impunity“ (U.N.Doc. E/CN.4/2005/102/Add.1).
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BefürworterInnen von Entschuldigungs- und Versöhnungspraktiken halten die öffentliche Anerkennung historischen Unrechts, selbst wenn an diese keine konkreten kompensatorischen Konsequenzen geknüpft sind, in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht für adäquat.66 Was dieser Einschätzung zugrunde liegt, ist die Auffassung, dass schon symbolische und performative Gesten entscheidende (und das heißt für diese AutorInnen: empirisch messbare) integrative Auswirkungen für die Betroffenen bzw. für das Verhältnis zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen haben. Auch wenn sich die AutorInnen nicht explizit gegen eine rechtliche Bewältigung von Konflikten im Zusammenhang mit historischem Unrecht aussprechen, so führen sie vor allem ins Feld, dass rhetorische Praktiken bereits eine nachhaltige integrative Kraft zu entfalten vermögen. Demgegenüber betonen KritikerInnen,67 u.E. berechtigterweise, dass es unabhängig von faktischen Integrationseffekten (die immer auch funktionalen und nicht notwendigerweise normativen Imperativen folgen) und ihrem wie auch immer feststellbaren tatsächlichen Ausmaß fraglich ist, ob Anerkennungsbezeugungen über die Dimension einer symbolischen Versöhnung hinaus weisen können.68 In der Tat erscheint es zweifelhaft, dass Versöhnungspraktiken selbst Gerechtigkeit verbürgen bzw. als gerechte Maßnahmen aufgefasst werden können. Viel eher legen die oben genannten Argumente ein Verständnis nahe, nach der (juridische) Gerechtigkeit im Sinne einer Garantie formaler Gleichheit erst die Voraussetzung für eine Vermittlung von konfligierenden individuellen und kollektiven Interessen und Ansprüchen darstellt. Ähnliches gilt mit Blick auf die Folgen: In formalisierten rechtlichen Verfahren können die Betroffenen ihre Rechte über normative Prinzipien, gleichen Respekt, generalisierbare und reziproke Gründe in Wiedergutmachungsforderungen übertragen (sowohl strafrechtlich als auch vermehrt zivilrechtlich)69 – das verbürgt ihr Status als Rechtsubjekt, der nicht zuletzt ein Rechtsverweigerungsverbot impliziert (wohingegen ein Anerkennungsverweigerungsverbot eine begriffliche Unmöglichkeit darstellt). Ein letzter wichtiger Aspekt, den wir an dieser Stelle nur kurz andeuten können, ist auf den Umstand bezogen, dass die Genese der Anerkennungsforen (insbesondere im Fall von Versöhnungskommissionen) auf politischen Aushandlungsprozessen basiert und in der Regel ein politisch verhandeltes Mandat die zu bearbeitenden Rechtsverletzungen, die Reichweite und Bindungswirkung umreißt und damit begrenzt. Programmatisch im Vordergrund steht Anerkennung im Sinne von Versöhnung: Eine Zielvorgabe, die weit mehr durch gesellschaftliche Integrations- und Funktionsimperative denn durch ein „quest for justice“ determiniert ist.70 Diese eingeschränkte Präjudizierung von Betroffenenperspektiven ist u.E. ein zentraler Grund
66 Vgl. Blatz et al. (Fn. 4), S. 236 f.; dagegen etwa Minow, Breaking the Cycles of Hatred, Princeton 2002; vgl. auch Minow, Between Vengeance and Forgiveness: Facing History after Genocide and Mass Violence, Boston 2003. 67 Exemplarisch Russel-Brown (Fn. 20). 68 Zumal sich auch hier ein Problem stellt, das wir im Rahmen unserer Diskussion von Gruppenidentitäten angesprochen haben, dass Anerkennungspraktiken auch die Gefahr bergen, das ‚policing‘ von Authentizität (in diesem Fall der Anerkennung) in den Vordergrund zu rücken, es sich also in erster Linie auch um politische Kämpfe und nicht um über normative Prinzipien disziplinierte Vermittlungsverfahren handelt; vgl. Russel-Brown (Fn. 20); Kment (Fn. 5), S. 458 f.; Teitel (Fn. 17). 69 Vgl. International Law Commission (Fn. 42), Third Report. 70 Vgl. Russel-Brown (Fn. 20) und Teitel (Fn. 17).
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erstens dafür, dass die Betroffenen den Weg (zurück) zu Rechtstreitigkeiten suchen und zweitens dafür, dass die Bedeutung trans- und internationalen Rechts wächst. Litigation bietet hierbei die Möglichkeit einer Öffnung, Rechtsverletzungen geltend zu machen und Grund- und universale Menschenrechte einzufordern. V. FAZIT – KONKURRENZ ODER KOMPLEMENTARITÄT? Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Umgang mit historischem Unrecht und auf die Lösungsstrategien politischer Konfliktbewältigung stehen sich prima facie zwei konkurrierende Modi der Unrechtsbewältigung gegenüber: außerjuridische, primär auf soziale Anerkennung bezogene Versöhnungspraktiken einerseits und rechtliche, auf Sanktionierung und Restitution bezogene Verfahren andererseits. Auf der einen Seite steht die auf Vermittlung oder gar Versöhnung von divergierenden Parteien (d. h. von Betroffenen und Nicht-Betroffenen bzw. von TäterInnen und Opfern) abzielende Praxis sozial-kultureller Kommunikation, die die rechtlichen Dimensionen der zu verhandelnden Sachverhalte des historischen Unrechts (mehr oder weniger explizit) außen vor lässt, im Vordergrund. Auf der anderen Seite geht es um formalrechtliche Prozesse der Aufklärung, Verhandlung, Beurteilung und Ahndung von als Straftatbeständen aufgefassten Unrechtshandlungen und Rechtsverletzungen (insbesondere Grund- und Menschenrechtsverletzungen, die systematisch und strukturell auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe bezogen waren). Zu unterscheiden sind hier zunächst einmal die jeweiligen Ziele und Ansprüche der beiden Modi der Vergangenheitsbewältigung, zwischen denen erhebliche Differenzen auszumachen sind: Im Falle der auf Anerkennung und Versöhnung bezogenen Kommunikationspraxen wird sowohl die Integration einer konfliktreichen bis hin zu tief gespaltenen Gesellschaft als auch die Inklusion von vormals von Menschenrechtsverletzungen betroffenen und mithin diskriminierten, inkriminierten und marginalisierten Bevölkerungsschichten angestrebt. Diese Versöhnungspraktiken stehen nicht zuletzt auch im Schatten von Funktionsimperativen, d. h. von pragmatischen Erwägungen, die in erster Line auf die Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit von Staat und Gesellschaft bezogen sind und damit insbesondere individualrechtliche Ansprüche auf Wiedergutmachung in den Hintergrund drängen. Allerdings können im Lichte einer sozialpsychologischen Betrachtungsweise soziale Anerkennung und Rechtsprinzip durchaus als komplementär wirkende Modi der Konfliktbewältigung aufgefasst werden, wenn es darum geht, kommunikative und institutionelle Strukturen für die wechselseitige Verständigung zwischen konfligierenden Bevölkerungsgruppen überhaupt erst zu ermöglichen. In diesem Sinne können soziale Anerkennungsleistungen die justizielle Bearbeitung von vergangenem Unrecht flankieren oder ergänzen. Dabei ist das Potenzial der Anerkennungspraxis zur Problematisierung und zur Erweiterung von Thematisierungskontexten und vor allem zur Sensibilisierung für die Belange von viktimisierten Personen(gruppen) besonders hervorzuheben. Im Rahmen einer kritischen Würdigung der Leistungen und Vorzüge der betrachteten Vergangenheitsbewältigungsmodi sollte jedoch nicht vernachlässigt werden, dass es sich bei den Sachverhalten des historischen Unrechts in vielerlei Hinsicht nicht um harmlose Vergehen handelt, sondern mitunter um schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen – angefangen bei Missachtung, Diskriminierung, Marginalisierung,
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Exklusion über Benachteilung, Unterdrückung bis hin zu Freiheitsberaubung und Verschleppung, systematischer Misshandlung und Folter, Tötung, Mord und Massenvernichtung. Angesichts des normativen Gewichts der Rechtsverletzungen und der Schutzwürdigkeit der Interessen der Betroffenen kann u.E. nur im begrifflichen Rahmen juridischer Auseinandersetzung eine angemessene Konfliktbewältigung erfolgen – weil nur in formalrechtlich eingehegten Verfahren systematisch an normative Standards, insbesondere auch an den Korpus universaler Menschenrechte angeknüpft werden kann. Hier besteht die Ziellinie in der genauen Aufklärung, Beurteilung und Ahndung von Rechtsverletzungen in Form der Sanktionierung der TäterInnen und der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern. Wie wir dargelegt haben, sind die Meriten einer Kosmopolitisierung der rechtlichen Bewältigung von Unrechtserfahrungen insbesondere darin zu sehen, dass individueller Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit für besonders schwere Verletzungen universaler Menschenrechte Gewicht verliehen wird – womit auch einhergeht, dass die Schuldfähigkeit und Strafbarkeit von TäterInnen weder (in formaler Hinsicht) durch den Verweis auf das Rückwirkungsverbot noch (in materialer Hinsicht) durch den Verweis auf das Staatshandeln und den „staatlichen Hoheitsakt“ sowie auf individuelle Weisungsgebundenheit im Rahmen hierarchisch organisierter Befehlshierarchien, sprich Gehorsamspflichten, ermäßigt wird. In dieser Perspektive gestaltet sich das Verhältnis zwischen Anerkennung und Rechtsprinzip dann eher als Konkurrenzverhältnis. Die Betrachtung lässt uns insgesamt zu einem ambivalenten Schluss kommen, da sich schwerlich eine generelle und pauschale Lesart des Verhältnisses privilegieren lässt; es kann durchaus vom Einzelfall bzw. von den je spezifischen Umständen konkreter Unrechtstatbestände abhängig sein, ob sich Anerkennung und Rechtsprinzip komplementär oder konkurrierend zueinander verhalten. In normativer Hinsicht ist der Umstand entscheidend, dass sich auf beiden Seiten Gefahren verorten lassen, die das eigentliche Ziel, den Betroffenen und ihren Belangen, Interessen und Forderungen gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen, unter Umständen bedrohen. Bei sozialen Anerkennungspraxen besteht dabei vor allem die Gefahr eines wohlmeinenden Paternalismus, der einerseits durch essentialisierende Identitäts-Zuschreibungen eine faktizistische Schräglage zu Ungunsten der Betroffenen verursachen kann und der andererseits Betroffene auf ihren Status als Opfer, als viktimisierte Personen, hin festschreibt. Rechtliche Verfahren hingegen können mit dem Problem einer stark formalisierten, generalisierten und abstrakten Behandlung der Belange von Betroffenen einhergehen, die von den Betroffenen selbst als defizitär wahrgenommen werden kann. Ausschlaggebend ist u.E. allerdings, dass ‚Opfer‘ innerhalb eines juridischen Begriffsrahmens notwendig und konstitutiv als Rechtssubjekte aufgefasst werden, denen gleicher Respekt und die gleiche Behandlung ihrer Belange qua Recht zusteht – sie in diesem Rahmen nicht um eine Anerkennung kämpfen müssen, die ihnen ‚nur‘ freiwillig und aus beliebigen Gründen geleistet werden kann. Anschrift der Autorinnen Tanja Hitzel-Cassagnes und Franziska Martinsen Leibniz Universität Hannover Institut für Politische Wissenschaft Schneiderberg 50 30167 Hannover
JOHANNA BERGANN* MITTLER, VERMITTLER, FÜRSPRECHER. RECHTLICHE FIGUREN DER KONFLIKTLÖSUNG IN DER LITERATUR „Man übersieht heute so leicht, daß Menschen als primäre Medien fungieren – die Apparate kommen zunächst nur als Verstärker zu menschlichen Medieneigenschaften hinzu. Als Medien sind Menschen immer Boten – also Menschen zwischen Menschen, Mittelsmenschen. [...] In solchen Vermittlungen und Botengängen ist der ganze Menschheitsprozeß enthalten.“ Peter Sloterdijk 1
I. VERMITTLUNGEN Im Mittelpunkt steht die grundsätzliche Frage nach dem Erfolg von Vermittlung und Schlichtungstätigkeit in der Literatur. Exemplarisch sollen Mittler aus Die Wahlverwandtschaften, Richter Adam aus Der zerbrochne Krug und Advokat Huld aus Der Prozess sowie der Fürsprecher aus Es war sehr unsicher, ob ich Fürsprecher hatte als Repräsentanten des Rechts vorgestellt werden. In diesen Figuren des Rechts kulminieren die großen Fragen des Rechts nach Einigung und Ausgleich und dennoch bleibt ihnen der Erfolg verwehrt. Ihr Oszillieren um die Funktionen von Friedensstifter und Störenfried veranschaulicht mehrere Konfliktlösungsversuche und drückt ihre Doppelfunktion von Vermittler und Verhinderer aus. Die literarischen Figuren der Vermittlung wie Mittler, Richter Adam, Advokat Huld und der Fürsprecher drücken in ihrer Wortgeschichte entweder den Imperativ des rechtlichen Ausgleichs oder der Parteivertretung aus, sind in der Mitte zwischen streitenden Parteien angesiedelt oder stellen die Personifikation des Rechts dar. Jedoch stehen diese Figuren des Dritten für eine scheiternde Vermittlung des Rechts in vielfältigen Variationen und damit für die Verhinderung der Konfliktlösung: Die Schlichtungstätigkeit Mittlers führt nicht zu einer Einigung zwischen den Parteien, das Urteil von Richter Adam endet nicht in einer gerechten Entscheidung, die Vermittlung zwischen Gericht und Angeklagtem versagt durch die mangelhaften Vermittlungskünste des Advokaten Huld, die Suche nach Fürsprechern erweist sich als aussichtslos für den Ich-Erzähler. Zentral für die Beschäftigung mit den Figuren des Rechts ist die Annahme, dass die Erfolglosigkeit der Vermittlung in der beispielhaft ausgewählten Literatur kein individuelles Merkmal dieser Rechtsfiguren ist. Vielmehr kristallisiert sich durch das Versagen der Vermittler die generelle Schwierigkeit von Konfliktlösungen oder auch die Unmöglichkeit von Einigung und Ausgleich im Recht heraus.
* 1
Dipl.-Jur., Johanna Bergann, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar. Peter Sloterdijk, Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, München 1996, S. 32.
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II. DIE FIGUREN DER KONFLIKTLÖSUNG 1. MITTLER AUS „DIE WAHLVERWANDTSCHAFTEN“ Am Beginn der Figuren des Rechts steht Mittler aus Goethes Die Wahlverwandtschaften, denn er stellt den ersten Mediator und Vermittler in der Literatur dar.
a) Funktion und Name von Mittler Mittlers Figur ist dadurch gekennzeichnet, dass der Name Mittler sein Wesen beschreibt, da seine Tätigkeit die Vermittlung zwischen Konfliktparteien mit dem Ziel der Streitschlichtung beinhaltet: „Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen und hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen als die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer, zu stillen und zu schlichten wußte. So lange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die Landeskollegien wurden mit keinen Händeln und Prozessen von dorther behelligt. Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr. Er warf sein ganzes Studium darauf und fühlte sich bald den geschicktesten Advokaten gewachsen. Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus, und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz, oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen wäre. Diejenigen, die auf Namensbedeutungen abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen.“ (S. 23)2
Mittler wird charakterisiert als ein „seltsamer Mann“, der früher Geistlicher war und mit der Hilfe dieses symbolischen Amtes alle Streitigkeiten schlichtet, bevor er das Amt des rechtlichen Vermittlers wählt. Schon anhand der ersten Charakterisierung durch den Erzähler lässt sich ablesen, dass Mittler sprichwörtlich ein „Mittelding zwischen einem juristischen Laien und einem ausgebildeten Juristen“3 verkörpert. Trotz seiner beruflichen Wahl ist er kein ausgebildeter Jurist, sondern ein „juristischer Dilettant und Agent des Rechts, der von Konflikten angezogen wird“4. Der Name Mittler drückt nicht nur die Funktion einer Vermittlungsinstanz aus, sondern verkörpert buchstäblich das Ringen des Rechts um Ausgleich. Sprachlich ist die Wortgeschichte von Mittler signifikant, denn der Mittler oder Vermittler wird nach dem Deutschen Rechtswörterbuch „bei Streitigkeiten als Schiedsrichter, Schlichter, Unterhändler, wegen seiner Unparteilichkeit auch als freundlicher, guter Mittler“5 bezeichnet. Das lateinische Wort mediator und in der weiblichen Form mediatrix, oder 2 3 4 5
Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Frankfurt am Main 1972. Im Folgenden sind alle Zitate aus den Wahlverwandtschaften dieser Ausgabe entnommen. Uwe Diederichsen, Die „Wahlverwandtschaften“ als Werk des Juristen Goethe, NJW 2004, S. 537– 544, S. 539. Joseph Vogl, Mittler und Lenker: Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, in: ders., Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 145–161, S. 150. „[...] der rechtliche Terminus wird in den religiösen Sprachgebrauch übernommen: Christus ist der Vermittler zwischen Gott und den Menschen.“ Nach Deutsches Rechtswörterbuch: Wörterbuch
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mesos, medos, medium stehen weiterhin für die Mitte und die Vermittlung. Der Terminus mesotes der griechischen Philosophie des Aristoteles ist wichtig, weil dieser in der Ethik den Ausgleich der Affekte und der Tugenden als ein Maß-Halten im Sinne des Gleichgewichts zwischen einem „Zuviel“ und einem „Zuwenig“ bezeichnet.6 Auch unter der Voraussetzung, dass ausschließlich das richtige Maß eine gelingende Vermittlung verspricht, kann Mittler selbst keine Balance halten und nicht bei anderen herstellen. Sein Verhalten ist durch Hast bei temporeichen Auftritten mit Pferd und durch Zaudern und Zögern in Entscheidungssituationen geprägt,7 so dass daraus keine maßvolle Vermittlung resultieren kann. Der Erzähler beschreibt die Verbindung von Name und Funktion ironisch als Aberglaube, aber Walter Benjamin analysiert: „Nichts bindet den Menschen so sehr an die Sprache wie sein Name. [...] Alle Namen, bis auf den des Mittler, sind bloße Taufnamen. In diesem ist keine Spielerei, mithin keine Anspielung des Dichters zu sehen, sondern eine Wendung, die das Wesen des Trägers unvergleichlich sicher bezeichnet“8. Mittlers Name und Mittlers Sein sind eins, so dass seine Persönlichkeit mit der institutionellen Funktion verschmilzt und die Fusion von Person und Amt „zur Privatisierung des Amtes und zur Verbeamtung des Privaten“9 führt. Durch sein Amt wird die elementarste Form der Rechtsinstitution, der Imperativ der Vermittlung ausgedrückt. Gleichzeitig bleiben aber Recht und Gesetz im Dunkeln, so dass Mittler eine nicht greifbare Rechtsinstanz bezeichnet. Seine Person symbolisiert somit die Schwierigkeit, wenn nicht gar die Unmöglichkeit der arithmetischen Vermittlung zur Herstellung eines Gleichgewichts. Es ist paradox, dass Mittler als eine poetologische Reflexionsfigur der Vermittlung mit der Funktion des Zusammenhaltens angelegt ist, er aber das in seinem Namen enthaltene Versprechen der Vermittlung nicht einlöst.
b) Mittler als Vermittler Wenn Mittler, wie es bei seinem ersten Auftritt heißt, „alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen als auch die nachbarlichen, [...] zu stillen und zu schlichten wusste“ (S. 23),
6 7
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der älteren deutschen Rechtssprache, hg. v. d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Weimar 1996, Bd. 9, Mahlgericht bis Notrust, Bearb. v. H. Speer, S. 800–801. Aristoteles, Werke. Nikomachische Ethik, Band 6, 2. Aufl., Darmstadt 1960, II. Buch, 1104a, S. 37. Sein Verhältnis zu Raum und Zeit zeichnet sich durch die Extreme von Übermaß und Untermaß aus, denn schon sein erster, furioser Auftritt besticht durch Hast als einem Zuviel oder Zuwenig, je nach Perspektive durch das temporeiche Transportmittel „Pferd“ oder späteres Zaudern und Zögern in Entscheidungssituationen. Das Versäumen des rechten Augenblicks durch Übereilung oder Verschleppung führt dazu, dass er die erfolgreiche Vermittlungstätigkeit verfehlt und keinen Ausgleich herstellen kann, denn Mittlers Umgang mit der Zeit beweist seine direkte Konfliktvermeidung anstelle einer tatkräftigen Konfliktlösung. Vgl. die Untersuchung seiner Rastlosigkeit Elisabeth Petuchowski, Mittler as comment. An observation on Goethe´s „Die Wahlverwandtschaften“, Forum for Modern Language Studies 18 (1982), S. 1–22. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd I.1, Frankfurt am Main 1990 [1974], S. 123–201, S. 134 f. Clemens Pornschlegel, Das administrierte Verhängnis. Liebe und Verwaltung in Goethes Wahlverwandtschaften, in: G. Brandstetter, Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes Wahlverwandtschaften, Freiburg im Breisgau 2003, S. 223–240, S. 239.
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könnte er eine Figur der Streitschlichtung darstellen. Er könnte die Polaritäten und Dichotomien des Schlosses und seiner Bewohner in die Richtung einer Synthese verschieben und die Ehepartner zu Dialog und Verständigung führen. Eine Einordnung seiner Person als rechtlicher Mittler oder Mediator10 liegt nahe. Grundsätzlich ist nach der ersten Rede Mittlers zu fragen, welche Art der Schlichtungsfigur er darstellt. Christian Wolff, Universalgelehrter, Jurist und bedeutender Vertreter der Naturrechtslehre in der Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgte eine terminologische Unterscheidung der verschiedenen Mittlerfiguren: der Vermittler (mediator), der Schiedsrichter (arbiter) sowie der Schlichter (arbitrator).11 Der Vermittler berät die verschiedenen Parteien, ist bei den Verhandlungen anwesend, unterbreitet Vorschläge und geht mit größter Unparteilichkeit vor. Der Schiedsrichter hat wiederum eine Entscheidungsposition inne, da er auf der Grundlage von Gesetzen sowie Naturrecht entscheidet. Der Schlichter ist zwischen Vermittler und Schiedsrichter angesiedelt, der die Kontroverse beilegen soll, ohne zu beraten wie der Vermittler und ohne eine Entscheidung zu fällen wie der Schiedsrichter. Das Bild des Vermittlers als Berater, nicht Entscheider, sowie als mahnender, Vorschläge und Empfehlungen unterbreitender Helfer passt exakt auf die Anforderungen, die an eine Vermittlungstätigkeit auf dem sensiblen Gebiet des Eherechts zu stellen sind, und somit auf Mittler. Insbesondere die gelungene Vermittlung fördert die konstruktive Kommunikation zwischen den Streitenden, da sie davon ausgeht, dass viele der rechtlichen Streitigkeiten aus misslungener kommunikativer Interaktion resultieren. Problematisch an Mittlers Einordnung als Vermittler und als eine Figur des Rechts ist, dass er die Rechtsberatung grundlegend ablehnt, als Charlotte und Eduard ihn hinsichtlich einer Einladung des Hauptmanns und Ottilies um Rat bitten: „Entweder ihr kennt mich nicht, rief er aus, ihr versteht mich nicht, oder ihr seid sehr boshaft. Ist denn hier Streit? ist denn hier eine Hülfe nötig? Glaubt ihr, daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben? Das ist das dümmste Handwerk, das einer treiben kann. Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann. Gerät es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Glücks; läufts übel ab, dann bin ich bei der Hand. Wer ein Übel lossein will, der ist ganz starrblind –, ja ja! lacht nur – er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was? Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei! Nehmt die Freunde zu euch, laßt sie weg: alles einerlei! Das Vernünftigste habe ich mißlingen sehen, das Abgeschmackteste gelingen. Zerbrecht euch die Köpfe nicht, und wenn’s auf eine oder die andre Weise übel abläuft, zerbrecht sie euch nicht. Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen sein. Bis dahin euer Diener!“ (S. 23 f.)
Er betitelt das „Rat geben“ als das „dümmste Handwerk“, wodurch er eine wichtige Aufgabe des Vermittlers, die Beratung in wichtigen Entscheidungssituationen vor dem offenen Ausbruch von Streitigkeiten, ablehnt. Seine Verweigerung begründet er mit Unzuständigkeit, da nur ein unterschwelliger Konflikt bestehe, wodurch er sich eine 10 Zur Definition der Mediation in der heutigen Rechtswissenschaft: „Mediation ist die Einschaltung eines (meist) neutralen und unparteiischen Dritten im Konflikt, der die Parteien bei ihren Verhandlungs- und Lösungsversuchen unterstützt, jedoch über keine eigene (Konflikt-) Entscheidungskompetenz verfügt.“ Stephan Breidenbach, Mediation. Struktur, Chancen und Risiken von Vermittlung im Konflikt, Köln 1995, S. 4. 11 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts: worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Halle im Magdeburgischen 1754, § 768, S. 558 ff.; zitiert nach Joseph Duss-von Werdt, Homo Mediator. Geschichte und Menschenbild der Mediation, Stuttgart 2005, S. 60 f.
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künftige Zuständigkeit durch Abwarten verschafft12 und zur Eskalation von Beziehungskonflikten beiträgt. Dadurch, dass Mittler die Entscheidung über eine Einladung für „einerlei“ erklärt, verschafft er der Willkür eine Legitimationsgrundlage, ohne die Parteien bei einer Problemlösung zu unterstützen. Mittler verspricht keinen Rechtsfrieden, seine Rede ist vielmehr durch die Freude an Streit und Konfrontation gekennzeichnet. Dies festigt Mittlers eigene Position, anstelle den Ratsuchenden durch eine Rhetorik des Schweigens, Hörens und Fragens Gehör zu verschaffen. Er ist kein neutrales Vermittlungswerkzeug oder reiner Kommunikationskanal der Vermittlung. Die Vermittlung geht vielmehr schief, denn Mittler drängt sich mit seinen wortgewaltigen Reden in den Vordergrund, macht sich selbst zur entscheidungsberechtigten Partei und eignet sich auf diese Weise den Konflikt selbst an. Positiv gedeutet kündigt Mittler jedoch als eine personifizierte Vermittlungsinstanz eine kommunikative Mittelbarkeit an. Er durchbricht durch seinen Auftritt die Entscheidungsblockade der Eheleute, initiiert die Einladung der Gäste und wird zum „Katalysator der narrativen Dynamik“13. Mittler stiftet die Relation zwischen den Parteien und bringt die Handlung in Gang, wenn auch in Richtung Katastrophe. Seine Rolle ist widerspruchsvoll, da er durch seine Ankunft die Auseinandersetzung provoziert, indem er die Verständigung behindert und gleichzeitig die Kommunikation veranlasst. Jedoch spricht Mittler einen entscheidenden Punkt an, wenn er sagt, dass er das „Vernünftigste hat mißlingen sehen und das Abgeschmackteste gelingen“ (S. 24): die unmögliche Vorhersehbarkeit des Ausgangs von Konflikten. Mittler ist als eine Figur des Rechts zur Lösung tragischer Konflikte ungeeignet. Sein Oszillieren zwischen der Funktion des „Scheidekünstlers“ (S. 40) sowie des „Einigungskünstlers“ (S. 40) zeigt ein Wesen, das Inka Mülder-Bach in einer „Doppelfunktion als trennendes und verbindendes Moment“14 beschreibt. Diese antagonistischen Begriffe bestärken den Verdacht, dass das Recht entsprechend dem Paradox von Anziehung und Abstoßung operiert, das Mittler verkörpert. Diese Überlegung deutet an, dass Einigung und Ausgleich im (Ehe-)Recht eine Utopie bleibt, da es ausschließlich die Wahl zwischen Konsens oder Scheidung gibt.
c) Mittler als eine Figur des Dritten Mittlers Verortung als ein Dritter lässt sich anhand des Textes nachvollziehen, da er eine unberechenbare Größe repräsentiert, wie Charlotte schon bei der Entscheidung über die Einladung von Hauptmann und Ottilie als Gäste erahnt: „Nichts ist bedeutsamer in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten. Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren Verhältnis durch den zufälligen oder gewählten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar verändert, deren Lage völlig umgekehrt wurde.“ (S. 16)
12 Inka Mülder-Bach, Symbolon-Diabolon. Figuren des Dritten in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ und Musils Novelle „Die Vollendung der Liebe“, in: G. Boehm, Figur und Figuration: Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007, S. 121–138, S. 127. 13 AaO., S. 127. 14 AaO., S. 127.
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Durch die Vorahnung der „Dazwischenkunft eines Dritten“ wird Mittlers erster Auftritt zu einem Moment der Entscheidung, da er als außenstehende Person um Rat gebeten und gegenüber der Zweierkonstellation von Eduard und Charlotte selbst zum Dritten wird. Die Betonung der „Dazwischenkunft“ steht für einen intermediären Ort, welcher Mittlers Position in einem Unschärfebereich der Schwelle zwischen den verschiedenen Ordnungen (Recht und Religion) oder unterschiedlichen Personen (Eduard und Charlotte) situiert. Durch seine religiös und rechtlich geprägte Vermittlungstätigkeit symbolisiert Mittler eine mittlere Position. Sein Wechsel von der geistlich-sakralen zur rechtlich-profanen Mittlerschaft führte ihn vom symbolischen Amt zur beruflichen Funktion. Mittler wird zu einer Figur der Transgression, denn als Grenzgänger auf institutionellen Schwellen ist er geradezu prädestiniert, zwischen den Menschen in Grenzsituationen ihres Lebens zu vermitteln und Ausgleich herzustellen. Die Figur des Dritten beschreibt Mittlers Position treffend, da auf diese Weise seine außergewöhnliche Position personell am Rand und funktionell in der Mitte des Personengefüges als Vermittler betont wird. Diese Positionierung Mittlers lässt sich auch sowohl von Platons als auch von Aristoteles’ Begriff des Mediums nachzeichnen, denn beide stützten sich auf die Präpositionen metaxy = zwischen, verstärkt entweder noch mit en meso = inmitten oder durch Umwandlung in ein Substantiv, das Zwischen, das im Begriff des Mediums eine Lateinisierung erfuhr.15 Der Dritte wird dann zum Verbindungsträger, wenn man bedenkt, dass die Zahl Drei die „Grundzahl der Vermittlung“16 ist. Auch seine Doppelfunktion, einerseits als Friedensstifter und Vermittler sowie andererseits als Störenfried und Verhinderer, wird durch eine Einordnung als Dritter akzentuiert. Der Vermittler besitzt eine relationale sowie eine funktionale Bedeutung, die zwischen Funktionalität und Dysfunktionalität schwankt. Die Charakterisierung Mittlers als Störer kommt im folgenden Zitat Charlottes nach Mittlers Absage an eine Vermittlungstätigkeit vor dem offenen Ausbruch von Streit zum Vorschein: „Hier siehst du, sagte Charlotte, wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht. Gegenwärtig sind wir doch wohl noch verworrener und ungewisser, wenns möglich ist, als vorher.“ (S. 24)
Charlottes Urteil nach Mittlers Fortgang zeigt die negative Seite des ambivalenten Vermittlers und dient der Vorausschau kommenden Unglücks. Die Position einer grundsätzlich stabilisierenden Figur des Dritten zur Herstellung eines Gleichgewichts über eine Mittelachse, ist nach Mittlers erstem Auftritt zu bezweifeln. Mittler kehrt das Ideal des ausgleichenden Vermittlers ins Gegenteil um, da er „alle Elemente durcheinander wirbelt und alle Symmetrien zerstört“17, indem der die Liebenden nicht zusammenführt, sondern trennt und die Eheleute zum Zusammenbleiben verdammt. Der Vermittler als eine Figur des Dritten lässt sich demnach mit den Worten von Michel Serres als ein Produzent von Uneindeutigkeit charakterisieren, indem er sich dazwischen stellt, stört und Einspruch erhebt und gleichzeitig vereint oder trennt.18 Er stellt sowohl einen schädlichen Fremdkörper als auch einen integralen Teil des Systems dar, indem der Dritte der „Konsensbeschwörung die Möglich15 16 17 18
Walter Seitter, Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar 2002, S. 22 f. Duss-von Werdt (Fn. 11), S. 191. Mülder-Bach (Fn. 12), S. 128. Michel Serres, Der Parasit. Frankfurt am Main 1987, S. 384.
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keit der Infragestellung“19 entgegengesetzt und sich in seiner ambivalenten Figur Versöhnungsanspruch und Widerspruchspotential verbinden.20 Das Versprechen von Ausgleich, Balance und Gleichgewicht Mittlers mündet dementsprechend in Ungleichgewicht, Disbalance und Streit der Parteien. Mittler gehört zusammenfassend zum zweideutigen Personal innerhalb des Romangeschehens, da er trennt und verbindet, sowohl als Störer wie als Mittler fungiert und die konsensuale Technik des „sowohl-als-auch“ in sich vereinigt anstelle des kontradiktorischen „entweder-oder“.
d) Vermittlung und Übereinkunft Das Ideal der Vermittlung lässt sich auf Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ übertragen. Für Benjamin ist eine gewaltlose Einigung ausschließlich in Beziehungskonstellationen zwischen Privatpersonen möglich, „wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat“21, die durch „Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen“22 geprägt ist. Zur Überwindung von Auseinandersetzungen und um Einigung herzustellen, könnte der Vermittler „die Unterredung als eine Technik der zivilen Übereinkunft“23 einsetzen, denn sie besitzt das Potential einer gewaltlosen Einigung von Konflikten. Die Technik der Übereinkunft versteht die sprachliche Unterredung als eigentliche „Sphäre der ‚Verständigung‘, die Sprache“24, die zum Grundprinzip der Vermittlung wird und die fundamentale Struktur der mediatorischen Tätigkeit beinhaltet. Die Unterredung eröffnet dementsprechend „eine Sphäre jenseits der Gewalt von Rechtsetzung und Rechtserhaltung“25, die keine Beziehung zum Recht aufweisen darf, wie Bettine Menke analysiert: „Voraussetzung der Unterredung, die diese als ‚Sphäre‘ ‚ziviler Übereinkunft‘ ermögliche, ist, dass kein Rückhalt im Recht gesucht wird und sie nicht unter die ‚Drohung‘ des Rechts gestellt ist.“26 Übertragen auf Mittler könnte die durch ihn initiierte Unterredung zwischen den Ehepartnern eine gewaltlose Einigung einleiten. Problematisch ist, dass Mittlers eiliges und durch einen Wortschwall gekennzeichnetes Sprechen eine „Semantik des Bösen“27 heraufbeschwört, das nicht der „Kultur des Herzens“28 als reines Mittel der Einigung entspricht. Mittlers Sprache funktioniert nicht über einen kommunikativen Dialog der Konfliktlösung als gewalt19 Renate Bürner-Kotzam, Der Parasit als Gast in Erzählungen des bürgerlichen Realismus, in: C. Breger/T. Döring, Figuren der/des Dritten. Erkundigungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 131–155, S. 134. 20 AaO., S. 134. 21 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1989 [1977], S. 179–203, S. 191. 22 AaO., S. 191. 23 AaO., S. 192. 24 AaO., S. 192. 25 Hendrik Blumentrath/Katja Rothe/Sven Werkmeister/Michaela Wünsch/Barbara Wurm, Techniken der Übereinkunft. Einleitung, in: dies., Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen, Berlin 2009, S. 7–19, S. 9. 26 Bettine Menke, „Zur Kritik der Gewalt“: Techniken der Übereinkunft, Diplomatie, Lüge, in: Blumentrath/Rothe/Werkmeister/Wünsch/Wurm, aaO., S. 37–56, S. 49. 27 Mülder-Bach (Fn. 12), S. 126. 28 Benjamin (Fn. 21), S. 191.
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loser Einigung, sondern über den gewaltsamen Versuch der Manipulation. Außerdem ist Mittler ein, wenn auch nicht studierter, Repräsentant des Rechts und verkörpert die gewaltsame Drohung des Rechts. Eine der Technik der Übereinkunft ähnliche Verfahrensart zur Beilegung von Konflikten ist die des Kompromisses. Wäre Mittler ein erfolgreicher Vermittler, könnte er zwischen den Parteien einen Kompromiss erreichen, der im Sinne Derridas die rechtliche Mitte des Ausgleichs symbolisiert: „[...] ein ‚Kompromiß‘ erweist sich als notwendig und unumgehbar. Doch bleibt dieser Kompromiß einer, der zwischen zwei inkommensurablen und radikal heterogenen Dimensionen geschlossen wird. Vielleicht können wir daraus an dieser Stelle lernen, daß der Kompromiß zwischen zwei heterogenen Ordnungen nötig, daß er etwas Zwangsläufiges ist, geschlossen im Namen einer Gerechtigkeit, die uns befiehlt, dem Gesetz der Repräsentation [...] und zugleich jenem anderen Gesetz zu gehorchen, das die Repräsentation übersteigt und das Einzigartige, jede Einmaligkeit ihrer Einschreibung in die Ordnung des Allgemeinen oder des Vergleichs entzieht.“29
Der Kompromiss impliziert eine Position im Mittelpunkt zwischen Oppositionen und ist insoweit eine mittlere Figur, die bei Derrida nicht essentiell mit der Gerechtigkeit zusammenfällt, aber an ihr teilnimmt. Im Gegensatz zu Derrida verneint Benjamin insbesondere den politischen Kompromiss als einen friedlichen Versuch der Konfliktlösung, da er in ihm eine nur „vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise“30 sieht. Für ihn bleibt der Kompromiss aufgrund seines Zwangscharakters ein „in der Mentalität der Gewalt liegendes Produkt“31. Insoweit ist der Kompromiss als eine dritte Figur und vermittelnde Position eine nur vorgeblich vereinigende Möglichkeit zwischen zwei streitigen Positionen. Es stellt sich die Frage, ob aufgrund der von Benjamin festgestellten engen Verwandtschaft, wenn nicht gar Identität zwischen Recht und Gewalt, überhaupt eine von Zwang befreite Vermittlung durch Repräsentanten des Rechts möglich ist. Man könnte sagen, dass der Kompromiss immer eine durch Macht geprägte Anweisung zur Einigung impliziert, denn „‚Besser wäre es anders‘ ist das Grundempfinden jedes Kompromisses“32. 2. RICHTER ADAM AUS „DER ZERBROCHNE KRUG“ Auch in Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug wird ein negatives Bild der Rechtsrepräsentanten skizziert. Das Stück hat die Form einer Gerichtsverhandlung und besitzt die genial komische „Konstellation eines schuldigen Richters, der die Wahrheitsfindung mit immer neuen Finten behindert“33. Dorfrichter Adam stellt den bekanntesten „Prototypen des gewissenlosen, korrupten Richters dar, der jederzeit bereit ist, um eigener Interessen willen oder auf höhere Weisung ‚Recht so jetzt, jetzo so‘ (Vs. 635)
29 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main 1991, S. 123. 30 Benjamin (Fn. 21), S. 191. 31 AaO., S. 46; zitiert nach Erich Unger: Politik und Metaphysik, Berlin 1921, S. 8. 32 Benjamin (Fn. 21), S. 191; zitiert nach Unger (Fn. 31), S. 8. 33 Peter Michelsen, Die Lügen Adams und Evas Fall. Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“, in: H. Anton/B. Gajek/P. Pfaff, Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, S. 268–304, S. 270.
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zu sprechen.“34 Die rechtsstaatliche Justiz wird durch Adam „weniger durch das Bemühen um Recht und Gerechtigkeit als vielmehr durch Willkür und Beliebigkeit“35 verkörpert. „Auf Ehr!“ bekennt Richter Adam selbst gegenüber dem Gerichtsrat Walter: „Ich habe nicht studiert, Euer Gnaden.“ (Vs. 1122) Er versucht, Lücken im positiven Recht für sich auszunutzen, indem er Eve in der Rolle des Richters verführen will und dabei den wertvollen Krug ihrer Mutter, Marthe Rull, zerstört und im Gericht ihren Verlobten Ruprecht als Täter seiner Taten, namentlich des Hausfriedensbruchs und der Sachbeschädigung, verurteilt. Interessant in Bezug auf die Figur des Richters ist, dass der Prozess nicht zu einer gerechten Entscheidung darüber führt, wer den Krug zerbrochen hat, sondern Richter Adam verschleiert, dass er einen Prozess gegen sich selbst als Angeklagter und Täter leitet. Der Grund für die Schuld des Richters liegt in seiner fehlenden Neutralität. Der symbolische Körper von Dorfrichter Adam, der das Recht repräsentieren soll, wird durch seinen natürlichen Körper verdrängt, dem es anstelle Recht zu sprechen nach Eve, Wein und Würsten gelüstet. Das Bild des idealtypischen Richters wurde von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik beschrieben. Der Richter erscheint als Mittler, der das Recht verkörpert und auf diese Weise einen Ausgleich herstellt sowie Konflikte löst: „Wenn es daher Streitigkeiten gibt, so geht man zum Richter um Hilfe. Der Weg zum Richter aber ist der Weg zum Recht, denn das Wesen des Richters will gleichsam verkörpertes Recht sein. Und man sucht den Richter als den Mann, der in der Mitte steht und mancherorts nennt man ihn ,Mittler‘, um die Erwartung anzudeuten, daß man sein Recht bekommt, wenn man die Mitte bekommt. So ist das Recht ein Mittleres, da es auch der Richter ist. Der Richter stellt die Gleichheit wieder her und das ist so, wie wenn er bei einer in zwei ungleiche Teile geteilten Linie den Anschnitt, um den der größere Teil über die Mitte hinausreicht, wegnähme und dem kleineren Teil hinzufügte.“36
In der aristotelischen Lehre ist die Vorstellung enthalten, dass der Mensch vom Richter Recht bekommt. Der Richter spricht nicht nur Recht, er ist eins mit dem Recht und die Personifikation des Rechts. Durch den Richterspruch stellt er eine Gleichheit her, die sich als ein proportionaler Ausgleich zwischen den Parteien versteht und damit das Recht als Verhältnis der Proportionalität deutet. In der mittleren Position ist der Richter nach Aristoteles der „Zweiteiler“.37 Diesem Idealtypus des Richters entspricht Dorfrichter Adam nicht, denn dieser judiziert „ebenso unbekümmert wie sachlich falsch und methodisch angreifbar“38, wenn er in seiner Urteilsfindung Philosophie zu Hilfe nehmen will, da ihn die Gesetze im Stich lassen (Vs. 1081–1083). Die Prozessführung von Richter Adam ist ein „stets eigennütziger Wechsel zwischen reflexionsloser Exekution von Regeln und dem Ausschöpfen des richterlichen Ermessensspielraums bis zur Rechtsbeugung und zeigt den Urteilenden gleichermaßen als ‚Richterkönig‘ und als ‚Subsumtionsautomaten‘.“39 Deshalb vergleicht der Gerichts34 Hans-Peter Schneider, Justizkritik im „zerbrochnen Krug“, in: H. J. Kreutzer, Kleist-Jahrbuch 1988/89. Internationales Kleist-Kolloquium, Berlin 1988, S. 309–326, S. 313. 35 AaO., S. 313. 36 Aristoteles (Fn. 6), 1132a, S. 130. 37 AaO., 1132b, S. 130. 38 Schneider (Fn. 34), S. 314. 39 Thomas Weitin, Der Geschmack des Gerichts. Zur Urteilsproblematik in Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“, in: C. Vismann/T. Weitin, Urteilen/Entscheiden, München 2006, S. 217–235, S. 224.
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rat Walter Adams willkürliche Urteilspraxis mit dem Hineingreifen in einen Sack voller Erbsen, und den Kopf des Richters nennt er einen Teig, in dem „Wissenschaft und Irrtum“ (Vs. 380) verknetet seien.40 Richter Adam ist kein Schlichter oder Vermittler, sondern selbst ein Straftäter und schuldiger Richter, ein Antijurist eben, der die förmliche Verfahrenspraxis und die Lösung des Konflikts zugunsten der streitenden Parteien verneint. Das durch Richter Adam verkörperte Recht ist ein Machtmittel, das er sich zunutze macht, um die kriminellen Handlungen zu legitimieren. Ihm selbst geht es nicht um das Aufdecken, sondern um die Verhinderung von Wahrheit. Seine Vermittlungs- oder Verhinderungsbemühungen sind nicht darauf angelegt, durch ein Urteil zu dauerhaftem Rechtsfrieden zwischen den Parteien zu führen. Richter Adam ist selbst der Störfall im Prozess, der eine Vermittlung verhindern will, um den Verdacht von sich abzulenken. Das Lustspiel Kleists verweigert sich am Ende, so auch Richter Adam, um seine eigene Haut zu retten, indem er den letztendlichen Abschluss des Verfahrens und damit seine Rolle als Mittler zurückweist: Richter Adam kann weder den Bruch des Kruges heilen noch eine endgültige Entscheidung der Rechtslage herbeiführen:41 „Die Sache ist jetzt konstiert, und Ruprecht dort, der Racker, ist der Täter“ – „Geschlossen ist die Session. Und Ruprecht appelliert an die Instanz zu Utrecht.“ (Vs. 1873–1885) Ruprecht wird durch ein Fehlurteil verurteilt und Marthe Rull will vor die nächste Instanz treten, um ihrem Krug sowie dem Ruf ihrer Tochter Recht zu verschaffen und um das Urteil von Richter Adam aufzuheben. Das Ende des Stückes lässt Bemerkenswertes über das Recht erkennen: die Inkongruenz zwischen dem Urteil von Richter Adam und dem konkreten Ausgang, denn das Urteil „wird wider besseren Wissens gefällt, dann aber doch nicht konsequent vollstreckt, denn ganz offensichtlich muss Ruprecht nicht ins Gefängnis.“42 Die Autorität des Rechts und des Gerichts wird demzufolge durch Adams Urteil ausgehöhlt, indem die Urteilsproblematik vertagt wird43 und sein Amtsmissbrauch den „Namen des Staates als Garanten für die Legitimität der Rechtsordnung [...] ausgelöscht und damit jede Möglichkeit eines verbindlichen Sprechens verwirkt“44 hat. Die Lösung des Konflikts auf der rechtlichen Ebene scheitert an der Tatbeteiligung des Richters, das Gerichtsurteil verlangt nach einer Entscheidung der nächsten Instanz, denn das Recht wurde durch Richter Adam gebeugt und durch den Gerichtsrat Walter verwaltet. Auf der persönlichen Ebene wurde der Streit jedoch geschlichtet, Eve und Ruprecht haben zueinander gefunden, der Unschuldige musste nicht ins Gefängnis und Richter Adam wurde entlarvt. Der Weg zum Richter in Der zerbrochne Krug ist also nicht der Weg zum Recht, sondern zum Unrecht und deshalb scheitert die Vermittlung durch das Recht. 40 AaO, S. 231. 41 Roland Bogards, Literarische Forensik- oder: Schweigen ist unmöglich, Rezension über: Anke van Kempen: Die Rede vor Gericht. Prozess, Tribunal, Ermittlung: Forensische Rede und Sprachreflexion bei Heinrich von Kleist, Georg Büchner und Peter Weiss. Freiburg: Rombach 2005., IASLonline (25.07.2006), , Absatz 10, Datum des Zugriffs 08.08.2009. 42 Weitin (Fn. 39), S. 230. 43 AaO, S. 230. 44 Ethel Matala de Mazza, Recht für bare Münze. Institution und Gesetzeskraft in Kleists „Zerbrochenem Krug“, in: G. Blamberger/S. Doering/K. Müller-Saget, Kleist-Jahrbuch 2001, S. 160–177, S. 171.
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3. ADVOKAT HULD AUS „DER PROZESS“ UND DER FÜRSPRECHER AUS „ES WAR SEHR UNSICHER, OB ICH FÜRSPRECHER HATTE“ Die Figuren wie der Advokat Huld aus Franz Kafkas Roman Der Prozess und der Fürsprecher aus dem kurzen Prosatext von 1922 Es war unsicher, ob ich Fürsprecher hatte zeigen eine weitere wichtige Facette der Vermittlung aus der Perspektive des Angeklagten: die Suche nach Helfern. Der gesamte Roman ist geprägt durch das Sammeln des Angeklagten Josef K. von Fürsprechern und Vermittlern. Sie alle lassen sich nach einer bemerkenswerten Differenzierung nach Funktionsbereichen in Fürsprecherfiguren nach einer Interpretation von Rüdiger Campe strukturieren: die Fürsprecher im Sozialen wie Frau Grubach, Fräulein Bürstner sowie die Fürsprecher im Umkreis des Gerichts wie Leni, die Frau des Gerichtsdieners, Maler Titorelli und der Kaufmann Block als Fürsprecher.45 Die Fürsprecher im Gericht sind die „paradigmatischen Fürsprecher“46, darunter der Advokat Huld und der Gefängnisgeistliche als gleichzeitige Vermittler und Verhinderer eines Zugangs zum Gericht. Der Fürsprecher im Gericht repräsentiert demzufolge die Institution des Rechts par excellence. Die Gemeinsamkeit aller Helfergestalten liegt darin, dass sie eine Verbindung zum Gericht besitzen, ohne durch das Gericht zu ihrer Hilfeleistung legitimiert zu sein. Außerdem wird den verzweifelten Schreien nach stellvertretenden Mittlerinstanzen eine „rigorose Ablehnung jeder fremden Hilfe“47 gegenübergestellt, denn Josef K. bekommt zwar von jedermann wohlfeile Ratschläge, aber von niemandem echte Hilfe.48 Gleichzeitig wollen sich alle für Josef K. einsetzen und „alle ziehen ihn nur noch in mehr Schuld hinein. Wie ein Süchtiger klammert sich K. schließlich an jede noch so aussichtslose Hilfe.“49 Der Advokat Huld als Fürsprecher im Gericht soll zwischen Joseph K. und dem Gericht eine Verbindung herstellen. Als Vermittler verkörpert er jedoch die Unmöglichkeit der Hilfeleistung, die im Widerspruch zu seinem Selbstverständnis steht, das er so formuliert: „Der Advokat führt seinen Klienten an einem Zwirnsfaden bis zum Urteil, der andere aber hebt den Klienten gleich auf die Schultern und trägt ihn, ohne ihn abzusetzen, zum Urteil und noch darüber hinaus.“ (S. 199)50 Stellvertretend für den Angeklagten Josef K. trägt der Advokat die gesamte Last des Verfahrens und erscheint deshalb als kranker, überarbeiteter Mann im Bett. Seine Krankheit fungiert als Sinnbild des Leidens für andere und sein Name, Huld, bezeichnet die unaussprechliche Gnade, die durch seine Hilfeleistung als Unterwerfungsgeste der Angeklagten geschenkt wird. Die Fragwürdigkeit Hulds liegt darin, Josef K. Glauben zu machen, er könne die Verantwortung tragen und ihn vor einem allgegenwärtigen, aber unsichtbaren Gericht 45 Rüdiger Campe, Kafkas Fürsprache, in: A. Höcker/O. Simons, Kafkas Institutionen, Bielefeld 2007, S. 189–212, S. 200. 46 AaO., S. 200. 47 Wilhelm Emrich, Franz Kafka. Frankfurt am Main 1958, S. 281. 48 Ulf Abraham, Der verhörte Held. Verhöre, Urteile und die Rede von Recht und Schuld im Werk Franz Kafkas, München 1985, S. 190. 49 Helmuth Madeheim, Die Rolle des Fürsprechers bei Kafka, in: R. Ulshöfer, Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, Jg. 15, Heft 3, August 1963, Stuttgart 1963, S. 44–47, S. 47. 50 Franz Kafka, Der Prozess. In der Fassung der Handschrift, Frankfurt am Main 1996. Im Folgenden sind alle Zitate aus dem Roman dieser Ausgabe entnommen.
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vertreten. In Wahrheit glaubt K. nicht, dass der Advokat Huld „viel für ihn erreichen könne“ (S. 118), es kommt also zu keiner effektiven Hilfeleistung: „Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch soviel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte. Der Advokat dagegen statt zu fragen erzählte selbst oder saß ihm stumm gegenüber, [...].“ (S. 118 f.) Dabei ist die Stellung der Advokaten bei Gericht so unsicher, dass seine gesamte Hilfeleistung hinfällig ist, wie der Advokat Huld selbst beschreibt: „Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet und selbst darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten.“ (S. 120)
Auf der Schwelle zwischen Angeklagtem und Dachbodengericht, nicht zu verwechseln mit dem Justizpalast, spielt der Advokat mit der Hoffnung, Josef K. aus den Fängen des Gerichts befreien zu können. Sein Tun beschränkt sich jedoch darauf, den Prozess durch Eingaben bei Gericht zu verschleppen, was allenfalls zu einer „scheinbaren Freisprechung“ im Unterschied zu der nie durchzusetzenden „wirklichen Freisprechung“ führen kann. Für seine Vermittlungsbemühungen verlangt der Advokat die vollkommene Selbstaufgabe und ein Sklavendasein des Angeklagten. Der Advokat Huld als Vermittler und Helferfigur besitzt insoweit eine Macht in ungeheurem Ausmaß, denn „ohne Vermittlungen kann kein Mensch leben. Allein die totale Verantwortung für die Welt auf sich zu nehmen, den vollen ‚Überblick‘ zu gewinnen, ist unmöglich“51. Josef K. aber erteilt durch die Kündigung des Advokaten stellvertretend auch den anderen Vermittlern und Fürsprechern des Gesetzes eine Absage und greift in seinen Prozess durch einen ersten Schritt in die Selbstbefreiung ein. Er beginnt einen Lebensbericht als Verteidigungsschrift, welche die Verteidigung durch seinen Vertreter überbieten soll, allerdings ohne diesen Bericht zu beenden. Dadurch wäre er Vertreter seiner Vertreter geworden, Fürsprecher seiner selbst.52 Josef K. und der Ich-Erzähler aus Es war sehr unsicher, ob ich Fürsprecher hatte suchen nach Fürsprechern als Helfergestalten bei Gericht, die das Wort für sie ergreifen, da beide in ihrer Sache nicht für sich sprechen können. Dieses Für-jemanden-sprechenkönnen des Fürsprechers geht in der Wortgeschichte auf „Fürsprech“ oder „Vorsprech“ zurück und bedeutet 1.) Wortführer, Sachwalter, Parteienvertreter, 2.) Fürspruch als Schöffe, Urteilsfinder, 3.) Österreichischer Gemeindefürsprecher.53 Die Definition im Handbuch der deutschen Rechtsgeschichte lautet 1.) Wortführer einer Partei im Gerichtsverfahren,54 2.) Fürsprecher als Vorreder, kein Prozessvertreter, sondern er spricht anstelle der Partei, der Fürsprecher ist der Mund der Partei, aber kein spezifi51 Emrich (Fn. 47), S. 284 f. 52 Campe, Kafkas Institutionenroman. „Der Prozess“. „Das Schloss“, in: R. Campe/M. Niehaus, Gesetz. Ironie, Synchron 2004, S. 197–208, S. 198. 53 Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 3, H. 1, Weimar 1935, Sp. 1088–1090, s. v. Für’sprech, Vorsprech. 54 A. Cordes/H. Lück/D. Werkmüller/R. Schmidt-Wiegand, Handbuch der deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 1, Aachen – Geistliche Bank, 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1883–1887, s. v. Fürsprecher.
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scher Parteimann.55 Der Fürsprecher besitzt rechtshistorisch also die Aufgabe des gerichtlichen Helfers, denn „er spricht nicht ‚vor‘ seiner Partei, sondern an ihrer Stelle. [...] Vielmehr spricht er das Wort der Partei, er spricht also ‚für‘ sie.“56 Der Fürsprecher besitzt insoweit Ähnlichkeiten mit dem Vermittler, als dass er in den Prozessen für den Frieden zwischen den Parteien als eine Art Puffer sorgen solle.57 Der kurze Prosatext von 1922 beginnt mit den Worten „Es war sehr unsicher, ob ich Fürsprecher hatte [...]“ (S. 13)58 und macht dadurch die eklatante Unsicherheit des Ich-Erzählers erkennbar. Dieser sucht nach einem Fürsprecher und richtet seine Fragen an den Ort und die Person der Fürsprache: „Wenn es aber kein Gericht war, warum forschte ich dann hier nach einem Fürsprecher? Weil ich überall einen Fürsprecher suchte, überall ist er nötig, ja man braucht ihn weniger bei Gericht als anderswo, denn das Gericht spricht sein Urteil nach dem Gesetz, sollte man annehmen.“ (S. 14) Diesen Überlegungen zum Trotz sucht das Ich im Text beständig nach Fürsprechern als gerichtlichen Helfern, denn der Fürspruch oder die Fürsprache positioniert sich zwischen Anklage und Urteil: „[...] im Gesetz selbst aber ist alles Anklage, Fürspruch und Urteil, das selbständige Sicheinmischen eines Menschen hier wäre Frevel.“ (S. 14) Die Suche nach Fürsprechern ist nicht nur bei Gericht, sondern überall notwendig, in dem von der Institution des Gerichts grundsätzlich zu unterscheidenden Ort:59 „Hier ist es dringendst nötig Fürsprecher zu haben, Fürsprecher in Mengen, am besten Fürsprecher, einer eng neben dem andern, eine lebende Mauer, denn Fürsprecher sind ihrer Natur nach schwer beweglich, die Ankläger aber, diese schlauen Füchse, diese flinken Wiesel, die unsichtbaren Mäuschen schlüpfen durch die kleinsten Lücken, huschen zwischen den Beinen der Fürsprecher durch.“ (S. 14)
Der Ich-Erzähler betont die Dringlichkeit und Notwendigkeit der Fürsprache durch einen Fürsprecher. Hintergrund der Fürsprechersuche bei Gericht und anderswo ist die Suche nach einem institutionellen Raum und Instanzen der Entscheidung, die für das Ich sprechen und dem Ich Hilfe leisten können. Wer nach einem Mund für die eigene Partei, einem Sprecher für sich selbst und einem Vermittler sucht, beweist „die Unfähigkeit, sich selbst gegenüber einer rede- und richtgewaltigen Instanz zu behaupten“60 und sprichwörtlich für sich selbst zu sprechen. In der Figur des Fürsprechers verbindet sich die Erwartung einer Hilfeleistung mit der Vergeblichkeit und Enttäuschung der Suche danach.61 Dieses Paradox kommt explizit zum Ausdruck: „[...] ich sammle Fürsprecher. Aber ich habe noch keinen gefunden [...]“ (S. 14). Der einzige Weg, aus den äußeren Konflikten herauszukommen, wäre, die eigenen inne55 AaO., Sp. 255–263, s. v. Anwalt. 56 Albrecht Cordes, Die Helfer vor Gericht in der Deutschen Rechtsgeschichte, in: Recueils de la société Jean Bodin pour l´histoire comparative des institutions, L’assistance dans la résolution des conflits. Quatrième Partie. L’Europe médiévale et moderne, LXV, 4. Band, Brüssel 1998, S. 177–195, S. 180. 57 AaO., S. 183. 58 Franz Kafka, Es war sehr unsicher, ob ich Fürsprecher hatte, in: ders., Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt am Main 1994. Im Folgenden sind alle Zitate dieser Ausgabe entnommen. 59 Campe (Fn. 45), S. 193. 60 Abraham (Fn. 48), S. 190. 61 Campe (Fn. 45), S. 190.
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ren Kräfte anzuspannen und sich auf sich selbst zurückzubesinnen. Die Rolle des Fürsprechers bei Kafka ist demzufolge negativ: „Je mehr er sich auf andere verläßt, desto größer wird seine Schuld. Wenn er nicht selbst den Weg findet, von einem anderen wird er ihm nicht gezeigt werden.“62 Der Fürsprecher kann also in einer positiven Deutung zwischen Parteien oder zwischen der Partei und dem sprachlosen Angeklagten das Recht vermitteln, in der negativen Deutung Kafkas stört er den Protagonisten durch die nicht eingelöste Hilfeleistung in seiner Beziehung zu sich selbst, wo die wahre Hilfe zu finden wäre. III. VERMITTLUNG UND VERHINDERUNG Der Vermittler ist in der Gestalt eines Mittlers, eines Richters oder eines fürsprechenden Advokaten grundsätzlich in der Lage, Abstände zwischen Parteien oder zwischen dem Angeklagten und dem Recht durch Vermittlung zu überbrücken. In den untersuchten Beispielen stellen die Vermittler die Abstände erst selbst her, zwischen den Parteien oder dem Hilfesuchenden und sich selbst als Personifikation des Rechts. Die Doppelung zwischen Einigung und Trennung ist der Rolle des Vermittlers als „Einigungskünstler“ und „Scheidekünstler“ (S. 40) inhärent. Der Vermittler stellt aufgrund seiner grenzüberschreitenden Position eine Kippfigur dar, denn „als Figuration des Dritten ist das Medium immer auch Unterbrechung von etwas und somit eine Bruchstelle: es kann eben auch Zwist stiften, Streit aussäen, Intrigen einfädeln, gegeneinander ausspielen, verraten und aufhetzen. Vermittlung trägt also ein symbolisch-diabolisches Doppelgesicht: Sie kann als sym-bolischer Akt (zusammen-werfend), aber auch als dia-bolischer Eingriff (auseinander-dividierend) auftreten. Die diabolische Entgleisung ist der Dritten- und Botenfunktion als Option stets eingeschrieben.“63
Dem Wesen des Vermittlers ist demnach immer zugleich die Vermittlung und die Verhinderung immanent. Unter der Voraussetzung jedoch, dass der Erfolg des Vermittlers in seinem Verschwinden, das heißt in seinem Zurücktreten und Sich-Zurücknehmen als Person im richtigen Augenblick liegt, sind die rechtlichen Figuren wie Mittler, Richter Adam, Advokat Huld und der Fürsprecher erfolglos. Alle Vermittler schreiben sich in den Vermittlungsprozess selbst ein und stören auf diese Weise, indem sie zum Störfall der Kommunikation, zum Tatbeteiligten oder zum Souverän des Konflikts werden. Indem die verschiedenen Vermittler in ihren Schlichtungsversuchen scheitern, wird der Vermittlung im Recht anhand der hier untersuchten Beispiele eine Absage erteilt. Anschrift der Autorin Johanna Bergann Bauhausstr. 11 99421 Weimar [email protected]
62 Madeheim (Fn. 49), S. 47. 63 Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008, S. 115 f.