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German Pages 69 Year 1998
Hasso Hofmann
Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 24
Das Recht des Rechts das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung
Von
Prof. Dr. Hasso Hofmann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Hofmann, Hasso: Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung I von Hasso Hofmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte ; Bd. 24) ISBN 3-428-09351-8
Alle Rechte vorbehalten
© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-09351-8
Vorwort Der nachfolgende Text ist aus einem Vortrag entstanden, den der Verfasser unter dem Titel "Das Recht des Rechts und das Recht der Herrschaft" am 10. April 1997 im Historischen Kolleg München gehalten hat. Anlaß und Rahmen war ein von Dietmar Willoweit veranstaltetes Kolloquium zum Thema "Die Begründung des Rechts als historisches Problem". Das Fellowship 1996/97 der Carl Friedrich von Siemens Stiftung München bot die außerordentliche Gelegenheit, diesen und einigen anderen grundsätzlichen Überlegungen'f in Ruhe nachzugehen. Das sei hier dankbar vermerkt. Berlin, im Herbst 1997
H.H.
,,. Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit - Drei anschauliche Kapitel der Staatsphilosophie, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1997 (Reihe "Themen", Bd. 64); La dottrina classica del Contratto sociale ed il Neocontrattualismo, in: Filosofia Politica XI (Bologna 1997), Heft 3; Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, in: FS f. G. Roellekke, 1997; Vielfalt, Sicherheit und Solidarität statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit?, in: FS f. E. Denninger, 1998; Gerechtigkeitsphilosophie aus Unrechtserfahrung - Zum Gerechtigkeitssinn der Arbeiter im Weinberg, demnächst in: FS f. M. Hecke!.
Inhalt I. Die absolutistische Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Aufhebung der Opposition in der verfassungsrechtlichen Einheit von politisch-legislativer und justizieller Rechtsbegründung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Der schwierige Kontrapunkt: Gesetz und Richter . . . . . . . . .
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IV. Die zwei Brennpunkte der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Einwendungen gegen die Prinzipienlehre des Rechts
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VI. Noch einmal: Die Einheitkraft Verfassung
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die absolutistische Opposition Kern der frühneuzeitlichen Theorie der souveränen Landesherrschaft ist die These, daß der Wille des Herrschers Gesetz und das Gesetz nichts anderes als der Wille des Königs sei. Bodin wie Hobbes definieren das Gesetz als ,.Befehl" oder ,.Willen" des Souveräns 1 , der sich gerade durch die Gesetzgebung als solcher erweist: Condere Iegern, est signum supremae potestati/. Im Zeichen der Souveränität überstrahlt das neue Bild des fürstlichen Gesetzgebers die alte Figur des königlichen Richters 3 . Damit erklärt die Souveränitätsdoktrin den Willen des Monarchen zur höchsten irdischen Rechtsquelle und schneidet ihm gegenüber jede Berufung auf andere herkömmliche Rechtsquellen ab: Irdisch-positive Rechte gehen dem Wort des Königs demgemäß im Range nach, und die Gebote und Verbote des natürlichen oder göttlichen Rechts werden solcherart in das forum internum des Fürsten verwiesen, d. h. als bloß moralische und damit von keinem Untertanen reklamierbare Gewissensbindungen des Monarchen politisch neutralisiert4 . Der Gesetzesbegriff dieser souveränen Landesherrschaft ist also von Haus aus ein voluntativer und politischer. Als solcher markiert er fortan den Kernpunkt aller 1 Siehe Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Buch I Kap. 8 (Bd. 1 S. 234): " ... das Gesetz ... ist nichts anderes .. . als der Befehl des Souveräns"; vgl. ebd. S. 222 u. Kap. 10 (Bd. 1 S. 293f.); Hobbes, Leviathan, Kap. 26 (S. 208): " ... Gesetz, das heißt, ... der Wille des Souveräns"; u.ö. Im einzelnen dazu mit weit. Nachw. Mohnhaupt, Potestas legislatoria, S. 199-208. 2 Sebastian Medicis, De legibus, statutis, et consuetudine, Coloniae 1574, P. I qu. 8 (S. 34). 3 Dazu Stolleis, Idee des souveränen Staates, S. 70 ff. Siehe auch Eder, Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, S. 165. 4 Dazu mit weit. Nachw. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung S. 2Sf.
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Kämpfe um die Beteiligung an der Ausübung der Staatsgewalt5. Macht nun auch die Souveränitätsbehauptung alle Rechtsverhältnisse jenseits gewisser Ieges fundamentales 6 th~o retisch-prinzipiell zu einem möglichen Gegenstand einseitiger herrscherlieber Rechtsetzung, so impliziert dieser Gesetzesbegriff gleichwohl nicht von Anfang an den Anspruch, all' die unzähligen Rechte und Privilegien, Gerechtsame, Gesetze, Statuten und Gewohnheiten des Landes durch fürstliche Normen zu verdrängen und zu ersetzen. Die spezifisch etatistische Technik der Positivierung des Rechts von einem "einheitlichen Ausstrahlungspunkt" her7 , bricht sich erst allmählich Bahn. Dazu mußte sich die Vorstellung einer allgemeinen, d. h. generellen und abstrakten, flächendeckenden Gesetzgebung ausbilden. Und die wiederum setzt ein gewisses Maß bürgerlicher Gleichheit, die Adoption des Begriffs von Naturgesetzen als Lebensordnungen und die aufklärerische Überzeugung voraus, auch alle sozialen Beziehungen ließen sich planmäßig rekonstruieren8. Aber selbst dort, wo dieser nicht zuletzt dank Montesquieu populär gewordene Vernunftbegriff des Gesetzes in und mit dem Kodifikationsgedanken triumphiert, folgt daraus nicht umgekehrt, daß der Souverän sich mit der Promulgation eines umfassenden Gesetzbuches des Rechts begeben hätte, seinen Willen künftig mit Gesetzeskraft durchzusetzen. Zum einen behielten sich die Souveräne die Interpretation ihrer Gesetzeswerke vor und verboten sie ihren Richtern9 • Die 5 Zu dem hier gründenden Problem des doppelten Gesetzesbegriffs s. vom Verf, Allgemeinheit des Gesetzes, S. 277- 282. 6 Dazu Mohnhaupt, Lehre von der nLex Fundamentalis"; ders., in: Verfassung, S. 36ff., 62 ff.; Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, S. 275 - 277. 7 del Vecchio, Über die Staatlichkeit des Rechts, S. 222 ff. s Dazu Hofmann, Allgemeinheit des Gesetzes, S. 265- 270. 9 Zu nennen sind: Ordonnance civile touchant Ia reformation de Ia justice Ludwigs XIV. von 1667, tit. I art. 7: Recueil general, tome XVIII, S. 103180 (106); Codex Theresüznus [1766), Erster Teil, Cap. I§ V no. 81ff.: bei Harrasowsky, Bd. 1, S. 49ff.; Allgemeine Gerichtsordnung v. 1. Mai 1781
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mußten im Zweifel bei Hofe nachfragen. In Frankreich wurde die Herbeiführung der Entscheidung des Königs in derartigen Fällen (später) refere legislatif genannt 10. Ein zweiter Vorbehalt ergab sich aus dem anderen zentralen Majestätsrecht: der vom alten Richterkönigtum ererbten höchsten Gerichtsbarkeit des Souveräns 11 • Sie äußere sich nämlich auch, schrieb der bayerische Kanzler Kreittmayr in seinem "Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes" von 1769, "in den Machtsprüchen, welche er ex plenitudine potestatis so weit ergehen lassen kann, als es utilitas vel necessitas publica erfordert"12. Wenige Jahre später hat, wie man weiß, Friedrich der Große diesem staatsrechtlichen Institut des Machtspruchs im Falle des Müllers Arnold zu einer gewissen, zwar zweifelhaften, aber bleibenden Popularität verholfen 13 • Richter und Reformer, die gegen solche Eingriffe kämpften, bis sie im 19. Jahrhundert die Anerkennung der Unabhängigkeit der Rechtspflege erreichten 1\ begründeten die UnzulässigJosephs 11.: Gesetze und Verordnungen im Justizfache für Böhmen usw., no. 13, § 437; Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Josephs 11. von 1786: ebd. Jg. 1785 bis 1786, no. 591, I §§ 24, 26; PrALR von 1794, Einl. §§ 47, 48. -Im einzelnen dazu Conrad, Richter und Gesetz, S. 12f., 16f., 20f. 1o Dazu Spiegel, Der refere legislatif; Vogel, Praxis und Theorie der richterlichen Bindung, S. 20ff.; Mohnhaupt, Potestas legislatoria, S. 223ff. 11 Siehe etwa PrALR II 13 § 6 "Das Recht, Gesetze und allgemeine Polizeiverordnungen zu geben, dieselben wieder aufzuheben und Erklärungen darüber mit gesetzlicher Kraft zu erteilen, ist ein Majestätsrecht"; II 17 § 18 "Die allgemeine und höchste Gerichtsbarkeit im Staate gebührt dem Oberhaupte desselben und ist als ein Hoheitsrecht unveräußerlich". Dazu Conrad, Staatsgedanke und Staatspraxis, S. 38 - 59. Zur Zentralisierung der Rechtsprechung Roellecke, Bindung des Richters, S. 25f. 12 Kreittmayr, Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes, S. 21 (§ 9). Unveränderte Wiederholung in der 2. Auf!. Hierzu u. zum folg. Conrad, Richter und Gesetz, S. 23 ff.; speziell zur Einbettung der richterlichen Tätigkeit in die friderizianische Staatspraxis und dem darin angelegten Dualismus vom Fürstendienst und Dienst an der Gerechtigkeit Maiwald, Herstellung von Recht, S. 139- 202 (bes. 192- 195). 13 Dazu Dießelhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold, S. 52 ff., 62 ff. 14 Dazu Simon, Unabhängigkeit des Richters, S. 1 - 7, 12- 14.
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keit jener Machtsprüche auf zweierlei Weise. Eher defensiv wird Montesquieus Gewaltenteilungslehre zitiert und die Gefahr von Willkür, Machtmißbrauch, Günstlingswirtschaft und Unberechenbarkeit beschworen. Stärkeres Gewicht kommt indes den positiven Behauptungen zugunsren der richterlichen Selbständigkeit zu. So weist Svarez den preußischen Kronprinzen in seinen Vorträgen nicht nur auf jene naheliegenden Gefahren der monarchischen Machtsprüche hin 15 , sondern auch darauf, was der richterliche Rechtsspruch den Entscheidungen des Souveräns unerreichbar voraus hat: die besonderen Kenntnisse des Richters, das nur durch Übung zu erlangende ,Judiz' und den Zeitaufwand eines spezifisch gerichtlichen Verfahrens16. Die Richter des badischen Hofgerichts beriefen sich gegen einen Eingriff des Markgrafen 1791 unter Führung ihres Direktors Schlosser, Goethes Schwager, auf den "geraden Weg" der hergebrachten "Rechte" und der "Gerechtigkeit" 17. "Gerechtigkeit" war auch das Schlüsselwort, mit dem der berühmte Feuerbach bei seiner Einführung als erster Präsident des Appellationsgerichts in Ansbach 1817 die "hohe Würde des Richteramts" gegen jede Art von Kabinettsjustiz und Machtspruch "als fluchwürdige Entweihung eines Heiligtums" recht offensiv verteidigte 18 . Wiewohl der Richter sein Amt vom 15
Vorträge von Svarez, S. 236 - 238. Dazu Conrad, Richter und Gesetz,
s. 13f.
16 Ebd. S. 484 heißt es: "Er (sc. der Landesherr) muß nicht selbst Richter sein wollen. Es fehlt ihm dazu die nötige Kenntnis, die erforderliche Zeit, die nur durch Übung zu erlangende Fertigkeit. Alle die Ursachen, welche die Regenten genötigt haben, das Richteramt andern zu übertragen, verpflichten sie auch, sich der eigenen Entscheidungen in einzelnen Fällen zu enthalten." 17 Dazu Lenel, Badens Rechtsverwaltung, S. 165 - 176; das Schlosser-Zit. S. 171. Zur Position Schlossers Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 124f.; sehr krit. Stintzingl Landsberg, Geschichte der Rechtswissenschaft, III/1, S. 466ff., 471f. 18 Feuerbach, Die hohe Würde des Richteramts, S. 127f. Für den Fall einer Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit behauptet F. ebd. nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern eine Widerstandspflicht. -Die schon 1817 publizierte Rede ist öfter nachgedruckt worden; siehe etwa Quellenbuch zur
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König empfange, stehe er ausschließlich im Dienste der Gerechtigkeit und dürfe keinem anderen Willen gehorchen als dem des Gesetzes. Die Reklamation der Gerechtigkeit steht symbolisch für das richterliche Selbstverständnis und dessen Anspruch, daß das Recht des Richters letztlich nicht aus der Macht des Herrschers kommt, sondern aus dem Recht, das ja schließlich älter ist als der Staat. Auch das Gesetz, dem Feuerbach Gehorsam verspricht, wird hier nicht mehr als Wille des Souveräns begriffen, sondern als ein entpersönlichter, objektivierter Bestimmungsgrund des Rechts: vom Willen des Gesetzes spricht der große rechtsstaatliche Strafrechtler, nicht mehr vom Willen des fürstlichen Gesetzgebers, der sich eben auch in Machtsprüchen zu äußern und durch Reskripte selbst authentisch zu interpretieren vermochte. Hieß es früher: suprema lex regis voluntas, so gilt jetzt: supremus rex legis voluntas 19 • Die Gesetzgebung wird entpersonalisiert, und das Gesetz selbst zur interpretationsleitenden Autorität erklärt20 . Was allerdings im Einzelfall der Wille des Gesetzes ist, das verbindlich zu ermitteln, kommt danach allein dem Richter zu. Folglich steht die Garantie der Unabhängigkeit der Richter von Kabinettsjustiz und Machtsprüchen im engsten Zusammenhang mit der Abschaffung des gewissermaßen kompledt. Rechtswissenschaft, S. 277- 285; Festg. f. d. Teilnehmer d. dt. Richtertages 1963, S. 21 - 27. -Zum Text Radbruch, Feuerbach, S. 135: "Nie ist Geist und Unabhängigkeit der Rechtspflege im Geiste einer liberalen Staatsauffassung mit ergreifenderen Worten gefeiert worden." 19 Spiegel, Erbe des absolutistischen Staates, S. 17f. Einen etwas anderen Akzent bekommt die Sentenz, wenn der Öffentlichrechder sie bemüht: Anschütz, Lücken in den Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, ·s. 330. Hier unterstreicht sie gegen gewisse Lehren der Zivilisten die strenge Gesetzesbindung der "Verwaltungsrechtspflege" wie der Strafjustiz und kann das auch "gefahrlos" tun; denn Lücken im Gesetz verursachen dort keine richterliche Entscheidungsnot: Trägt das löcherige Gesetz den Verwaltungsakt nicht, wird er kassiert, rechtfertigt es die Bestrafung nicht, ist freizusprechen. Auf diese Differenz wird noch einmal zurückzukommen sein: siehe in Teil III bei und nach N 84. 20 Dazu Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, S. 144- 169.
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mentären refere legislatif Er wurde bei Einführung des Code civil 1804 beseitigt, der Richter also angewiesen, in jedem Fall zu entscheiden21 • Preußen war hierin 1798 vorangegangen22. Mit der Durchsetzung dieses sog. Rechtsverweigerungsverbots23 wird der direkte Draht, den der Absolutismus durch den voluntativen Gesetzesbegriff samt Interpretations- und Machtspruchsvorbehalt zwischen dem Zentrum der politischen Willensbildung und der Justiz gespannt hatte, wieder gekappt. Zugleich verändern sich zwangsläufig Beschaffenheit und Struktur des von den Gerichten zu verwaltenden Rechtsstoffs. Indem das Rechtsverweigerungsverbot die Verschiebung der Einzelfallentscheidung über Recht und Unrecht auf die politische Ebene ausschließt, werden die Gerichte zu produktiver Arbeit am gegebenen Rechtsmaterial sowohl befreit wie genötigt. Nach der Gerichtsordnung für W estgalizien von 1796 (§ 575) und dem Badischen Landrecht, einer Bearbeitung des Code civil, von 1809 (Einl. Satz 4a) demonstriert in Sonderheit Zeillers österreichisches AGBGB von 1811 diese systembildende Kraft des Rechtsverweigerungsverbots, indem das Gesetz in § 7 den Richter für den Fall des Schweigens des Gesetzgebers auf den natürlichen Sinn des Gesetzes, dann die Analogie und schließlich auf die natürlichen Rechtsgrundsätze verwies 24. Im Gegensatz zu anderen großen Gesetzgebern hatte Franz von Zeiller nie den goldenen Traum des Ein-für-allemal geträumt, sondern war in seinen Grundsätzen der Gesetzge21 Code civil titre preliminaire art. 4: Le juge qui refusera de juger, sous pretexte du silence, de I' obscurite ou de l'insuffisance de Ia loi, pourra etre poursuivi comme coupable de deni de justice. 22 Cabinettsordre v. 8.3. 1798 u. Rescript v. 21.3. 1798: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium, Bd. X, Berlin 1801, Sp. 1609- 12. 23 Hierzu vorzüglich Schumann, Rechtsverweigerungsverbot. 24 Dazu Dniestranski, Die natürlichen Rechtsgrundsätze, S. 33: "(Der Richter) kann auch solches Recht ,finden', das noch nicht Gesetz ist, er kann n'eues Recht, neue Rechtsverhältnisse, neue Rechtsinstitute aus den natürlichen Rechtsgrundsätzen schöpfen und er ist dazu verpflichtet, wenn die Bedürfnisse des Verkehrslebens es gebieterisch fordern und die Gesetzgebung nichtimstande war, ihnen nachzukommen."
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bung davon ausgegangen, "daß durch einen zufälligen Zusammenfluß der Umstände ... unvorhergesehene, seltenere Streitfälle herbeigeführt werden, die sich aus dem positiven Recht nicht entscheiden lassen". Da aber nun jeder Rechtsstreit durch Urteil beendigt werden müsse, gebe es keinen anderen Ausweg als den, "die Entscheidung aus den allgemeinen Rechtsprinzipien, aus dem Natur- oder Vernunftrecht herzuholen, welches keine im Sehkreis der praktischen Vernunft liegende Frage unbeantwortet läßt" 25 • Im gleichen Sinne hatten die Verfasser des ersten Entwurfs zum BGB auf "die aus dem Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze" verweisen wollen26• Solcherart zwingt das Rechtsverweigerungsverbot die Rechtsanwender zur Reflexion ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten. Ist der Ausweg hin zur politischen Entscheidung des Falles durch andere versperrt, wird der Richter nach den Worten Zeillers "zum Denken genöthiget", muß er eine im Geist der Gesetze und in allgemeinen Rechtsprinzipien gegründete Auslegung hervorbringen27 • Damit schließt sich ein exklusiver Kommunikationskreis der vor allem das Zivilrecht anwendenden und diese Anwendung lehrenden Juristen- einschließlich derjenigen, die vermöge derselben Schulung solche Gesetze vorbereiten. Und das übrigens nicht zum ersten Mal. So hatten schon die gelehrten Juristen des 17. Jahrhunderts mit ihrer ,.positiven Rechtsdogmatik des gesamten in Deutschland geltenden Rechts" 28 aus dem Gerichtsgebrauch des gemeinen Rechts nach Maßgabe des Usus modernus ein selbständiges Juristenrecht geschaffen. Zudem ist hier der Historischen Rechtsschule zu gedenken, und zwar in 25 Zeiller, Eigenschaften eines Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 247f. Gleichzeitig wies Z. S. 248 aber auch auf die Gefahren der Verweisung auf die "Rechtsphilosophie" für die Rechtssicherheit hin. 26 Mugdan (Hrsg.), Materialien zum BGB, S. LII. 27 Ofner (Hrsg.), Ur-Entwurf und Berathungs-Protokolle, S. 473f. 28 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 214. Dazu auch Esser, Grundsatz und Norm, S. 289ff.
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Savignys zivilistisch-romanistischer Version. Widersprach es auch den bekannten, eher romantischen Programmschriften einer geschichtlichen Rechtswissenschaft des Volksgeistes, daß nun ausgerechnet das Römische Recht in einer bis dahin nicht gekannten historisch-kritischen Weise quellennah kultiviert und überdies nach dem vernunftrechtlichen Sozialmodell freier, gleicher und willensautonomer Eigentümer rationalisiert wurde. So war doch auf diese Weise der sicherste rechtspositivistische Grund und Stand zu gewinnen gegen den vom napoleonischen Frankreich her anbrandenden Gesetzespositivismus und damit gegen das Vorwalten einer die Rechtswissenschaft und den gelehrten Juristenstand zurückdrängenden - potentiell demokratischen - Gesetzgebung. Das Gefühl, eine zweitausendjährige Tradition, eine allen juristischen Problemen längst gewachsene Erfahrung hinter sich zu haben, verlieh insbesondere den Zivilrechtlern in nachhaltiger Weise Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen. 1857 schrieb Rudolph von Jhering, ein Vertreter der aus der Historischen Rechtsschule herausgewachsenen "Begriffsjurisprudenz": "Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und innerhalb ihrer verläuft auch jede fernere Bewegung, so sehr sie im Uebrigen von der bisherigen divergiren möge; eine gereifte Jurisprudenz läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit bringen." 29 Vor diesem Hintergrund ordnet Art. 1 des schweizerischen ZGB von 190730 an, daß der Richter bei Schweigen des Gesetzes und Fehlen einschlägigen Gewohnheitsrechts gemäß derjenigen Regel zu entscheiden hat, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, und zwar notabene in der Nachfolge "bewährter Lehre und Überlieferung" und d. h.: im Gedankenkreis jenes ]hering, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, S. 14. Krit. zur praktischen Bedeutung dieser Vorschrift aus heutiger Sicht Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, S. 13 ff.: Art. 1 ZGB sei zu eng, noch zu sehr auf die Vorstellung einer prinzipiell geschlossenen gesetzlichen Regelung fixiert und lasse insbesondere die Verfassung außer acht. 29
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geschlossenen juristischen Kommunikationszusammenhangs. Richterrecht tritt offiziell neben das Gesetzesrecht, wie das vordem in Deutschland und Frankreich wissenschaftlich bereits postuliert worden war. Liegt die Bedeutung der epochemachenden Rede Oskar Bülows über "Gesetz und Richteramt" aus dem Jahre 1885 doch weniger in der überfälligen Kritik des "Justizsyllogismus", d. h. der angeblich bloß logisch-rechenhaften (und deswegen vermeintlich völlig unpolitischen, weil wertungsfreien) Subsumtionstätigkeit der Richter, als in der gegen den Gesetzgeber gerichteten Betonung der Eigenständigkeit des Richteramtes und d.h.: in der Präsentation des Richterrechts als staatlicher Rechtsproduktion 31 • "Nicht das Gesetz", schloß Bülow, "sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volke sein Recht!" In Frankreich reklamiert Fran~ois Geny gegen Ende des Jahrhunderts aus der Erfahrung mit einer umfassenden, aber veralteten Kodifikation die richterliche Befugnis, sie zu überschreiten und in "freier wissenschaftlicher Forschung" (libre recherche scientifique) auf die in der Lehre entwickelten und justiziell bewährten Rechtsgrundsätze wie zudem auf die "Gegebenheiten" (!es donnees) zurückzugreifen, um objektiv sachgerechte Entscheidungsregeln zu entwickeln32 . Nun macht die Pluralität von Rechtsquellen als solche noch kein Problem und hat nichts Beunruhigendes - solange der Glaube an deren durchgängig hierarchische Ordnung unerschüttert ist. Aber genau das ist hier der kritische Punkt.
31 Dazu Simon, Unabhängigkeit der Richter, S. 68- 103 bzw. 104- 145, und im besonderen Ogorek, Richterkönig, S, 257- 264, 32 Geny, Methode d'Interpretation, Bd. 1, S, 302ft, u. Bd, 2. Dazu Dubischar, Rechtstheorie, S. 5L
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II. Aufhebung der Opposition in der verfassungsrechtlichen Einheit von politisch-legislativer und justizieller Rechtsbegründung? Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Scheinbar enger und schärfer unterwirft Art. 97 Abs. 1 GG die Richter gar "nur dem Gesetze". Doch will diese Vorschrift bloß die Weisungsunabhängigkeit der Justiz sicherstellen, sagt mithin nichts über die inhaltlichen Bindungen der Rechtsprechung33 • So bleibt es beim sog. "Vorrang des Gesetzes" und des "Rechts", d. h. aller rechtsstaatliehen Rechtsgrundsätze, namentlich der Menschenrechte34 • Dazu mag für die richterliche Rechtsfortbildung in ,abgeschwächter Form' auch noch der sog. "Vorbehalt des Gesetzes" gelten, jener ungeschriebene Verfassungsgrundsatz also, der vor allem für grundrechtsrelevante Eingriffe der Exekutive explizite gesetzliche Ermächtigungen verlangt35 . Wie eng man jedoch die Gesetzesbindung der Richter unter Vernachlässigung heutiger hermeneutischer Einsichten36 auch immer nehmen mag: im konkreten Fall kommt ihnen bei der Entscheidung über Recht und Unrecht von der Sache her unvermeidlich eine relativ große Selbständigkeit zu, weil es in der Jurisprudenz keinen logischen Dazu Neuner, Rechtsfindungcontra Iegern, S. 8- 10. Siehe dazu BVerfGE 34, 269 (287, 292); Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, s. 1007- 1009. 35 So Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 264f., gegen Herzog, Gesetzgeber und Gerichte, S. 107ff.; ders., Rechtsfortbildung durch Richterrecht, S. 27ff. Überblick über den Stand der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes bei Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, S. 1020f. 36 Siehe dazu Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, bes. S. 5, 9- 13, 177f., 181; Depenheuer, Wortlaut als Grenze. 33
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Weg vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Normtext zum Urteil gibt, insofern die konkrete Sachverhaltsfeststellung ein empirisches Problem und deren Subsumtionsfähigkeit eine Wertungsfrage ist. Auslegung und Fortbildung des Rechts sind im übrigen keine verschiedenartigen geistigen Operationen37• Sogar das - nach dem "Vorrang des Gesetzes" prinzipiell selbstverständlich verbotene -contra-legern-Judizieren läßt sich als solches überhaupt nur identifizieren, wenn man anstelle eines objektiv-gegenwartsbezogenen Gesetzesverständnisses im Sinnganzen der Rechtsordnung gemäß einer "subjektiven" Interpretationslehre von der Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers ausgeht38 - was im Hinblick auf die parlamentarische Gesetzgebungspraxis auch wieder nur ein theoretisches Konstrukt ise 9 . Und selbst diese Theorie muß dann - wie eng und unter wievielen Kautelen auch immer - die Möglichkeit richterlicher "Normkorrekturen" zugestehen40 • Umgekehrt ist ja auch die Gesetzgebung mehr und etwas anderes als bloß eine Art von iurisdictio, wie Bartolus - facere statuta est iurisdictio in genere sumpta - im Hinblick auf die Statutargesetzgebung der italienischen Kommunen gemeint hatte41 • Gewiß sind Gesetze jedenfalls auch bestimmt und geeignet, nach dem Wenn-dann-Schema in künftigen Fällen als Richtschnur der Entscheidung zwischen Recht und Unrecht zu dienen. Selbst die vielen finalen Programmierungen, die v. a. im modernen Planungsrecht an die Stelle der konditionalen gesetzlichen Entscheidungsprogramme klassischen Stils getreten sind, können (und müssen), wenn es in der konkreten Situation um Larenz!Canaris, Methodenlehre, S. 187ff. Dazu ebd. S. 250 - 252. 39 Siehe dazu später in Teil IV bei N 109. 40 Siehe die sehr gewissenhafte und genaue Arbeit Neuners über Rechtsfindung contra Iegern, S. 132 ff., 160, 184 ff. 41 Bartolus, Commentaria ad Dig. 1,1 ,9 (Iex "Omnes populi"), nr. 3. Dazu näher Mohnhaupt, Potestas legislatoria, S. 189f. Zur Übergangserscheinung der bayerischen "Landgebote", einer Art fürstlicher Maßnahmegesetzgebung im frühen 15. Jahrhundert, Schlosser, Rechtsgewalt und Rechtsbildung. 37
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die Unterscheidung von Recht und Unrecht geht, in solche wenn auch voraussetzungsreichere - fallbezogene Konditionalsätze umformuliert werden42 • Dennoch: die Aufgabe genereller Normierungen erschöpft sich darin nicht. Mag die Rechtsregel auch Lernprodukt aus einem sozialen Konflikt sein: sie modelliert ihn nicht einfach nach43 • Vielmehr konstituieren die Gesetze den Normalfall, geben in diesem Sinne - zumindest implizit - Handlungsanweisungen und suchen diese durch Sanktionen zu stabilisieren, bevor die sozusagen pathologischen Konfliktfälle auftreten. Sie sind m. a. W. nicht nur Rezepturen für den richterlichen Arzt der kranken Fälle, sondern zuvörderst politisch gedachte und gewollte, präventive Ordnungsund Gestaltungsentwürfe für das gesellschaftliche Leben wie in wachsendem Maße für die administrative Staatstätigkeit. Rechtstheoretische Analysen, Qualifikationen und Klassifikationen staatlicher Normierungen setzten denn auch hier und nicht bei der Programmierung der Justiz an. Selbst Strafgesetze, die ausschließlich Sanktionsanweisungen für das Justizpersonal formulieren, werden in erster Linie als indirekter Ausdruck allgemeiner Verhaltensnormen verstanden44 . Rechtsbegrifflich erscheinen Regeln, die das Rechtswesen entscheidungsfähig machen, gegenüber den Verhaltensvorschriften eben allemal als sekundär45 • Dementsprechend begreifen soziologische Analysen das positive Recht vornehmlich als eine Technik zweckgerichteter Verhaltenssteuerung46 • Und die Analyse der 42 Dazu Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 195 - 204; Koch I Rüßmann, Begründungslehre, S. 91ff.; Rubel, Planungsermessen, S. 48ff.; a.A. Gratefels/ Hoppe, Bau- und Bodenrecht, S. 96. 43 Dazu Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 567f., in biologistisch-plastischer Wendung: Gesetze seien "Antikörper" des Rechtssystems. 44 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, S. 42 ff. Dazu Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 3 ff., 102ff., 280ff.; Röhl, Rechtslehre, S. 217ff. Umfassende Analyse des Adressatenproblems bei Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes. 45 Hart, Begriff des Rechts, bes. S. 45- 65, 115- 118, 131 - 141. 46 Dazu etwa Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 21, 25, 44, 74. Allenfalls unter den weiteren Aspekten von "Konfliktbereinigung"
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Normstrukturen nach Maßgabe der deontischen Logik denkt mit Geboten, Verboten, Erlaubnissen und Freistellungen selbstverständlich nicht Handlungsanweisungen für Organe der Rechtsanwendung47• Nach alledem sind Zweifel angebracht, ob die Frage nach der "Begründung des Rechts" rechtshistorisch wie rechtstheoretisch überhaupt einheitlich beantwortet werden kann. Sind es wirklich dieselben Gründe, die die Narrnativität des Rechts im Sinne der vom Willen der Beteiligten oder Betroffenen unabhängigen Maßgeblichkeit des Rechts sowohl bei der Gesetzgebung wie in der Rechtsprechung tragen? Oder müssen wir nicht eine Bipolarität unseres Rechtssystems in Rechnung stellen und sozusagen zweigleisig nach justiziellen und politischlegislativen Rechtfertigungen von Recht fragen? Diese Fragen provozieren sogleich einige Gegenfragen: Sind jene beiden Bereiche nicht längst konstitutionell miteinander verklammert? Hat folglich die Lehre von der (Staats)Verfassung die Begründungsfrage nicht einheitlich gelöst? Ist es nicht möglich, ja notwendig, die Verfassung im Sinne der Systemtheorie Luhmanns als strukturelle Koppelung des justiziellen Rechtssystems und des gesetzgeberisch agierenden politischen Systems zu begreifen ?48 Tatsächlich sehen Verfassungslehre und Staatsrecht im Verfassungsgesetz außer der FeGtlegung von Staatsstruktur und Staatsorganisation, neben Machtbeschränkung, Freiheitsgarantie und der Regulierung politischer Willensbildung, d. h. dem Austragungsmodus politischer Konflikte, vornehmlich die Stiftung einer staatlich-politischen wie einer rechtlichen Einheit und deren Legitimation49 inmitten anderer und .Überwachung" kommt auch die kasuistische Unterscheidung von Recht und Unrecht in der soziologischen Analyse des Rechts vor: so Rehbinder, Funktionen des Rechts, der außerdem Verhaltenssteuerung, Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft sowie Gestaltung der Lebensbedingungen nennt. 47 Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, S. 32f. 48 Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 440ff., 470ff.
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Staaten und Rechtsordnungen50 • Indes scheint diese Einheit zumeist hierarchisch und nicht bipolar gedacht, die Legitimation demgemäß eher monistisch als elliptisch vorgestellt. Zumindest folgt wohl die Verfassungstheorie französischer Provenienz, dem Stammvater Rousseau verpflichtet, einem derartigen RechtfertigungsmusteL Ihm wenden wir uns zunächst zu. Grundlage aller neuzeitlichen politischen Theorie, Rechtsund Staatsphilosophie ist der methodologische Individualismus, wie ihn zuerst Hobbes systematisch entfaltet hat 51 • Mit ihm tritt in Angelegenheiten von Gesellschaft, Recht und Staat an die Stelle der alten theologisch-philosophischen Ontologie der Welt als eines wohlgeordneten Kosmos eine neue Ontologie des Willens rationaler Egoisten, die sich in dieser, wenn nicht chaotischen, so doch jedenfalls höchst unsicheren Welt durch Stiftung von Regeln allererst vernünftig einrichten müssen. Nach der scholastischen Philosophie war das Recht - verkürzt und vereinfacht - im wesentlichen eine Erscheinungsweise der die Welt durchwaltenden Vernunft ihres Schöpfers, figurieren rechtliche Feststellungen demgemäß als Seins-Aussagen. Der willentlichen Rechtsetzung wurde theoretisch nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Gerechtfertigt allein als notwendige Konkretisierung und Anpassung des göttlich-natürlichen Rechts durch die jeweils angestammten Herrschaften, unterlag das ius positivum moraltheologisch dem unbedingten Geltungsvorrang des ius naturale und des ius divinum 52 • Mög49 Dazu statt vieler Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 5 ff.; detaillierter Stern, Staatsrecht I, S. 78 ff. 50 Zu diesem Aspekt Hofmann, Versprochene Menschenwürde, S. 116f. 51 Hierzu u. zum folg. Hofmann, Lehre vom Herrschaftsvertrag und Neokontraktualismus. 52 Thomas von Aquin, Summa theologica I/11 qu. 91 a. 3 und a. 4, qu. 95 a. 2, zit. nach der Deutschen Thomas-Ausgabe, hrsg. v. d. Philosophischtheologischen Hochschule Walherberg bei Köln, 13. Bd., Heidelberg u.a.O. 1977, S. 22ff., 95ff. Zum folg. auch Hofmann, Auronomieansprüche, S. 5557.
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liehe tyrannische Entgleisungen disqualifizieren die Person des Herrschers, ohne indes die feudale Herrschaftsordnung als solche in Frage zu stellen. Die neuzeitliche Physik der Vergesellschaftung dagegen basiert auf der grundstürzenden theoretischen Annahme der Freiheit des isolierten Individuums in einer ungesicherten Ausgangsposition, dem sog. Naturzustand53 • Im Kontrapunkt zur barocken Rechtfertigung der Herrschaft und ihres Rechts aus dem Gottesgnadentum des divinen fürstlichen Menschen führt eine egalitäre individualistische Handlungstheorie ökonomischer Rationalität zu dem Schluß, daß das Eigeninteresse der einzelnen gegen selbstzerstörerische Konsequenzen der Freiheit mittels Übereinkunft Rechtsregeln mit Zwangscharakter und dadurch Sicherheit durch Recht hervorbringe - und zwar durch direkt darauf gerichtete Willenseinigung oder mittelbar über eine vereinbarte Herrschafts- und Rechtssetzungsgewalt, also vermittels des berühmten Herrschaftsvertrages54. Erst auf der Grundlage dieser beiden konkurrierenden Rechtfertigungsvarianten mit oder ohne politische Theologie können Rechtsnormen durchgängig als sanktionierte Gebote und Verbote begriffen, kann Recht schlechthin als Befehl einer Autorität, als Solleussatz aufgefaßt werden. Eine der Folgen war die, daß das Verhältnis von Sein und Sollen dank Humes und Kants moralphilosophisch-logischer Unterscheidung sich bei Kelsen zu einem zentralen rechtstheoretischen Problem auswuchs 55 . Rousseau hat aus dem neuen Begründungsansatz für Recht und Herrschaft die Konsequenzen einer demokratischen Gesetzgebungslehre gezogen56 . Kann doch nach jenen Prämis53 Dazu Hofmann, Lehre vom Naturzustand; Harzer, Naturzustand als Denkfigur. 54 Dazu jetzt maßgeblich Kersting, Philosophie des Gesellschaftsvertrages; neuestens Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, S. 83124; aus zivilistischer Sicht Graf, Vertrag und Vernunft, S. 35- 49. 55 Dazu Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 34ff. 56 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, bes. Buch II Kap. 3 u. 4, Buch IV Kap. I u. 2 (S. 267- 39!). Dazu Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesell-
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sen der für alle in gleicher Weise verbindliche Gemeinwille nur aus einem Gesetzgebungsverfahren hervorgehen, an dem alle in gleicher Weise beteiligt sind - was wiederum nur möglich ist, wenn der Gegenstand des Verfahrens als ein allgemeiner niemanden in besonderer Weise betrifft. In dieser doppelten Allgemeinheit - Gemeinsamkeit des Willens und des Gegenstandes, wie Rousseau sagt - hat die Geltungskraft der volonte generate Grund und Grenze, ruht die Kraft von Rousseaus republikanischer, d. h. gewaltenteilender, unpersönlicher Herrschaft des Gesetzes. Die revolutionäre französische Nationalversammlung hat diese Bestimmung des Gesetzes - freilich erst nach Interpolation des Repräsentativprinzips m ihre berühmte Declaration von 1789 (Art. 6 S. 1 - 3) übernommen und mit ihr die politische Pointe: Überordnung der Gesetzgebung des souveränen Volkes über die monarchische Exekutive. Demgemäß verglich Kant das Gesetz - obwohl es der Kritiker der Urteilskraft besser wußte - mit dem Obersatz in einem praktischen Syllogismus, nach dem der unter dem Gesetz stehende Regent von Fall zu Fall bloß zu subsumieren habe 57. Dieses hierarchische Modell der Gewaltenteilung58 muß freilich, da der konstitutionelle republikanische Gesetzgeber nach dem Konzept beschränkter und berechenbarer Herrschaft trotz seiner höchsten Stellung im Staat selbst doch auch nicht souverän, also unbeschränkt sein darf, die originäre Rechtsquelle gleich wieder in den Hintergrund rücken: Le principe de taute souverainete reside essentiellement dans la nation, heißt es in schaft, S. 82ff.; Forschner, Rousseau, S. 117ff.; Hofmann, Allgemeinheit des Gesetzes, S. 270 - 272. 57 Kant, Metaphysik der Sitten: Das Öffentliche Recht. Erster Abschnitt. Das Staatsrecht§§ 45, 49 (S. 136, 139f.). 58 Zu diesem hierarchischen und dem konkurrierenden, später in Teil 111 behandelten Gleichgewichtsmodell der Gewaltenteilung, für die beide John Locke den Grund gelegt hat und denen auch unterschiedliche Freiheitsauffassungen entsprechen: Imboden, Politische Systeme, S. 162ff.; Maluschke, Grundlagen des Verfassungsstaates, bes. S. 58ff., 299ff.; Seiler, Gewaltenteilung, S. 180- 188, 238- 240; Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, S. 20 - 24.
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Art. 3 jener Rechteerklärung. Der das ganze hierarchische System tragende und legitimierende Grund wird unter dem Namen der Volkssouveränität und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes aus dem Verfassungssystem hinaus in den Bereich des Virtuellen, d. h. des Nicht-Aktuellen, aber der Kraft und Möglichkeit nach beständig Anwesenden verlegt. Als staatsrechtliche Kompensationen dieser Externalisierung des demokratischen Rechtsgrundes erscheinen periodische Volkswahlen, Vorrang des Gesetzes, des Prinzips politischer Verantwortung und Kontrolle sowie der Grundsatz der Mehrheitsentscheidung. Nur in dieser gebrochenen Weise erbt das Volk die Souveränität des Fürsten, ziemlich ungebrochen jedoch dessen Problem des Verhältnisses von Gesetzesbefehl und Gesetzesanwendung insbesondere durch die Richter. Konsequenterweise eiferten die Revolutionäre den absolutistischen Monarchen in dem Versuch nach, die Richter und alle anderen Rechtsanwender durch Interpretationsverbote an die politische Leine zu legen59 • Dabei konnten sie sich, wie es schien, auf einen hochbedeutenden Vorläufer der neuen Ordnung berufen, den "Erfinder" der Gewaltenteilung: Montesquieu. Hatte der den Richter (jedenfalls den des englischen Geschworenenprozesses) doch zum bloßen "Mund des Gesetzes" erklärt, zu einem "willenlosen Wesen", dessen Urteilssprüche "niemals etwas anderes sind als eine genaue Formulierung des Gesetzes" 60 • Das werde durch bloß zeitweilige Berufung von Laienrichtern ohne Rückhalt in einer eigenständigen Gerichtsorganisation - durch eine Jury also - gesichert. Und gerade einer republikanischen Verfassung 59 Decret sur l'organisation judiciaire du 16 aout 1790, titre II art. 12: Bulletin annote des Lois, Decrets et Ordonnances, hrsg. v. Lepec, Bd. 1, Paris 1834, S. 225; Decret sur le mode de gouvemement provisoire et rev olutionnaire vom 4. 12. 1793 (14 frimaire II), section II, art. 11: bei Lepec, Bd. 5 (Paris 1835), s. 18. 60 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. I S. 217, 225. Mit Recht krit. zur Deutung i. S. einer normativen Rechtsanwendungslehre Ogorek, De !'Esprit des legendes, bes. S. 288 f.
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entspreche es, heißt es in anderem Zusammenhang, daß der Richter sich an den Buchstaben des Gesetzes halte 61 • Der revolutionären Führung mußte das gefallen. Nach Montesquieus eigenen Worten bleiben so allerdings. nur zwei wirkliche Gewalten übrig 62 . Gehandelt hat er dann freilich - dies nebenbei- dennoch von dreien, drei anderen offenbar. Da Klassikertexte aber nur zitiert und nicht gelesen werden, besteht für das liebe alte Klischee trotzdem keinerlei Gefahr. Wir werden darauf jedoch noch einmal zurückkommen müssen.
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Montesquieu, Bd. I, S. 109. Ebd. S. 220.
111. Der schwierige Kontrapunkt: Gesetz und Richter Fürs erste bleibt festzuhalten, daß die bürgerlichen Revolutionäre mit ihrem Monopolanspruch auf die Interpretation ihrer Gesetze so wenig Erfolg hatten und haben konnten wie zuvor die Könige. Ganz im Gegenteil setzte sich eben gerade im Konstitutionalismus die Unabhängigkeit der Justiz als einer anerkannt eigenen Staatsgewalt durch. Und gerade unter diesen Bedingungen entfaltet das Rechtsverweigerungsverbot seine synthetisierende Kraft. Nirgendwo ist das aus leicht einsichtigen Gründen eindrucksvoller zu erfahren als dort, wo Konstitutionalismus und Common law-Tradition sich ineinanderschieben: in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 63 . In seinem mittlerweile auch bei uns einflußreichen Buch Taking Rights Seriously hat vor 20 Jahren Ronald Dworkin ein plastisches Bild davon entworfen, wie ein Richter in und aus dem Common law Recht findet 64 • Dworkins Ausgangspunkt ist die Situation der Justiz unter Rechtsverweigerungsverbot: Der Richter muß - sofern verfahrensrichtig vor ihn gebracht jeden Streitfall entscheiden, auch wenn das inhaltlich einschlägige positive Recht unklar, unangemessen, bis zur Widersprüchlichkeit ungereimt oder lückenhaft ist. Und zwar wird ihm auch in dieser Lage ein Akt der Rechtsprechung abverlangt, also weder eine beliebige Ermessensentscheidung freige63 Dazu jüngst Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 27 36. Siehe zum folg. aber auch Reinhardt, Jurisdiktion, S. 271 - 310, der die fortschreitende Einebnung der Unterschiede zwischen Fallrecht und kodifiziertem Recht herausgearbeitet hat. 64 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, zum folg. s. bes. S. 145ff., 199ff., 499ff., 543ff. Vgl. jetzt auch ders., Law's Empire, S. 62ff., 419. Dazu die Analyse bei Bittner, Recht als interpretative Praxis, S. 165 ff.
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stellt noch ein Opportunitätsurteil im Sinne des öffentlichen Interesses gestattet. Soweit sich die notwendige rechtliche Schlußfolgerung aus dem geschriebenen Recht aber nicht einfach ableiten läßt, bleibt das Recht stets hinter seinem eigenen Begriff einer Ordnung der sozialen Lebenswelt zurück. Dworkins Lösung: Der Richter muß voraussetzen, daß sich für jeden Fall eine rechtliche Antwort (genauer: die eine, einzig richtige rechtliche Antwort) finden läßt, und er muß dieses Postulat in einer schier übermenschlichen Anstrengung in begrenzter Zeit diskursiv einzulösen suchen. Für diese eine richtige rechtliche Antwort65 hat er, der Modell-Richter Herkules, wie Dworkin ihn nicht von ungefähr nennt, unter größtmöglicher Berücksichtigung aller rechtlichen Determinanten über die positiven Rechtsregeln hinaus auf die bewertungsorientierenden Rechtsgrundsätze als prinzipielle Verteilungsgrundsätze von Rechten und Pflichten zurückzugreifen und diese unter Rückbindung an die fundamentalen Bewertungsmaßstäbe der Gemeinschaft im Kontext aller rechtlichen Regeln, Verfahren, Grundsätze und anerkannten Lehren fortzuschreiben. Kurz: In schwierigen Rechtsfragen gibt die "von den Gesetzen und Institutionen der Gemeinschaft vorausgesetzte ... politische Moral" den Ausschlag66. Es geht m. a. W. um die durch das Kohärenzkriterium kontrollierte Überführung von sozialem Ethos, von objektiver gesellschaftlicher Sittlichkeit in die Bedeutung von Verfassung und Recht. Rechtstheoretisch reformuliert heißt das, daß jede gegebene Rechtsordnung nicht nur aus Regeln besteht, die im Einzelfall entweder anwendbar oder nicht anwendbar sind, sondern auch Grundsätze oder Prinzipien enthält, die im kon65 Vielleicht hält Dworkin zwei Dinge nicht genügend auseinander, nämlich die notwendige "regulative Idee, daß es in jedem Rechtsfall eine beste Lösung gibt, und die" - schwerlich haltbare - "Existenzbehauptung, daß so eine Lösung wirklich immer existiert": so Koller, Theorie des Rechts, S. 181. Doch kann dieser Punkt hier auf sich beruhen. Das gilt auch für die Fixierung von Dworkins Theorie auf den Streit um Individualrechte; dazu Bittner, Recht als interpretative Praxis, S. 215 ff. 66 Dworkin, Bürgerrechte, S. 215.
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kreten Fall mehr oder weniger wirksam werden können, also zu optimieren sind. Jene Prinzipien können auch nicht nach bestimmten "Erkenntnisregeln" als gültig ausgewiesen werden, sondern müssen, meint Dworkin, entsprechend ihrer "moralischen" Herkunft und Beschaffenheit philosophisch begründet werden67 - rechtstheoretisch zweifellos ein außerordendich heikler Punkt. Natürlich hat das alles viel zu tun mit dem angelsächsischen Fall-Recht und seiner exzeptionellen Stellung des Richters, zudem auch mit angloamerikanischer Streit- und Argumentationskultur wie mit deren minderem Maß an ausgefeilter Grundrechtsdogmatik und Grundrechtsjudikatur. Daß man angesichts jahrzehntelanger Grundrechtsrechtsprechung nicht nur des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch der Fachgerichte mit Dworkins programmatischem Titel "Bürgerrechte ernstgenommen" in Deutschland hätte Wirbel machen können, ist eher unwahrscheinlich. Indes hat Robert Alexy gezeigt, in welchem Umfang die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien auch noch für das deutsche Verfassungsrecht fruchtbar gemacht werden kann68 • Allerdings trifft Dworkins Theorie hierzulande auf ein älteres privatrechtliches Gegenstück, nämlich die rechtstheoretische Anreicherung und methodologische Mobilisierung und Dynamisierung des Systemgedankens seit Walter Wilburgs "Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht" (Graz 1951) und Josef Essers "Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" (Tübingen 1956, 4 1990). Grundgedanke des "Beweglichen Systems" ist, daß eine Rechtsfolgeentscheidung für einen Konfliktfall um so besser begründet ist und um so weiter greift, je mehr Gründe dafür und je weniger Gründe auf der anderen Seite dagegen sprechen. Anders als Theodor Viehweg, der die alte Tradition topischer Jurisprudenz gegen einen sehr eng gefaßten Begriff des Rechts67
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Ebd. S. 248. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff.
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systems erneuerte (Topik und Jurisprudenz, 5 1974), arbeitet diese Theorie von vornherein mit einem weiteren und differenzierteren, "ungeschriebene", d. h. nicht regelhaft vom Gesetzgeber fixierte, sondern in Rechtsprechung und Lehre tradierte Grundsätze und Gesichtspunkte einbeziehenden Systembegriff und schließt in diesem strukturbildenden Rahmen von Fall zu Fall alle einschlägigen Präjudizien, Billigkeitserwägungen, Sachgesetzlichkeiten, Folgebewertungen, Rechtssicherheits- und Praktikabilitätsgesichtspunkte, u. U. wie im Technikrecht auch soziale Normbildungen ein69 . Diese Überlegungen hat Franz Bydlinski in einer der Lehre Dworkins vergleichbaren Weise durch den Gedanken erweitert und vertieft, daß im Falle einer anders nicht zu behebenden Unsicherheit auf die "grundlegenden rechtsethischen Maximen" der Sozietät zurückgegriffen werden könne und müsse 70• Solcherart rechtsdogmatisch gestützt wirkt die Justiz rechtsschöpferisch- und zwar zumindest de facto nicht nur inter partes, wie sehr auch Art. 5 des Code civil die Wirkung der richterlichen Ausfüllung von Gesetzeslücken einst auf das streitige Rechtsverhältnis hatte beschränken wollen71 • Im einzelnen gibt es dazu viele und gewichtige rechtsdogmatische, methodische und rechtstheoretische Fragen. Sie können hier aber dahinstehen. Denn im Augenblick geht es nur darum, an den riesigen Abstand der heutigen Auffassung justizieller Tätigkeit von jener alten und zählebigen Legende zu erinnern, 69 Dazu Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 74ff.; Bydlinski u.a., Das bewegliche System. 70 Siehe Bydlinski, Methodenlehre; ders., Recht, Methode und Jurisprudenz; ders., Fundamentale Rechtsgrundsätze; ders. , Prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht. - Siehe dazu auch Fikentschers Theorie der Bildung von "Fallnormen": Methoden des Rechts, Bd. IV, S. 176ff. (233). Zur Fruchtbarkeit dieser Theorie jüngst Reinhardt, Jurisdiktion, S. 454ff. 71 Code civil titre preliminaire art. 5: II est defendu aux juges de prononcer par voie de disposition generale et reglementaire sur !es causes qui Ieur sont soumises. - Dazu Knapp, Ist das Recht lückenlos oder lückenhaft?; Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 233ff., 241ff., sowie eingehend Bydlinski, Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 501 - 515.
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die aus dem Richter nach Montesquieus Parole vom bloßen "Mund des Gesetzes" einen Subsumtionsautomaten gemacht hatte72 • Zugleich ist indes der wachsenden Einsicht zu gedenken, daß die richterliche Rechtsfortbildung über das Gesetz hinaus eher ein positives Element der Vitalität einer Rechtsordnung darstellt, als bloß den unvermeidlichen Tribut an die Kluft zwischen abstrakter Norm und konkretem Fall zu bedeuten oder als Notlösung bei gesetzgeberischem Versagen zu fungieren73. So steht die enorme rechtspraktische Bedeutung solchen "Richterrechts" oder - terminologisch vielleicht etwas weniger provokativ und daher leichter verdaulich - solchen "Präjudizienrechts" auch für die kontinentalen Rechtsordnungen längst außer Zweifel. Sieht man von den endlosen terminologischen Querelen auf diesem Felde ab, wird in der Sache nur um zweierlei gestritten: nämlich um die Verbindlichkeit und um die Grenzen des Richterrechts. Zunächst geht es also um die Frage, ob die präjudiziellen Entscheidungen über ihre faktische Steuerungsmacht kraft Autorität des Rechtsspruchs und tatsächlicher Befolgung durch andere Gerichte hinaus "verbindlich", also (noch vor der Erstarkung zu Gewohnheitsreche4 ) wie die Gesetze "echte" Rechtsquellen sind75 oder ob ihnen nur eine "prä72 Siehe N 60. Zur theoretischen Entwicklung des Verhältnisses von Gesetz und Richter im 19. Jh. grundlegend Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautornat? 73 Zur Unverzichtbarkeit des "Richterrechts" in modernen, hochkomplexen Rechtsordnungen jetzt umfassend und eindringlich Reinhardt, Jurisdiktion, S. 85 - 90, 213 - 223, 339 ff. 74 Dazu Larenz, Methodenlehre, S. 432; Stern, Staatsrecht ll, S. 586. 75 So die Frage bei lpsen, Richterrecht, S. 60. Als "Ersatzgesetzgeber" anerkennt den Richter R. Wassermann, selbst ein hoher Richter, in: AlternativKommentar zum Grundgesetz, 2. Auf!., Neuwied 1989, Rn. 15ff., 20 zu Art. 92. Salomonisch Germann, Richterrecht, S. 273: "Trotz fehlender formeller Verbindlichkeit" bildeten die Präjudizien der Höchstgerichte auch in den kontinentaleuropäischen Ländern "auf Grund ihrer tatsächlichen Geltung praktisch die wichtigste Rechtsquelle neben dem Gesetzesrecht". Nach dem Arbeitsrechtier Rüthers, Richterrecht, S. 306f., muß "Richterrecht der höch-
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sumtive Verbindlichkeit" zukomme6 , ob es sich lediglich um Indikatoren des Rechts, also um "Rechtserkenntnisquellen" 77, allenfalls um "subsidiäre Rechtsquellen" 78 handelt. Alle diese Einschränkungen tragen dem Umstand Rechnung, daß es die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen dem Richter nicht verbieten, präjudizielle Entscheidungen mit besseren juristischen Gründen einer besseren Rechtserkenntnis beseitezuschieben79. Das macht normativ gesehen freilich nur einen kleinen Unterschied, wenn man die Gesetze, jene "primären Rechtsquellen", nicht als Verhaltensregeln für den N ormalfall, sondern unter dem Aspekt der Konfliktentscheidung in "kranken" Fällen betrachtet. Denn in solchen Situationen muß sich ja erst noch zeigen, wie weit das Gesetz die Entscheidung gemäß seinem bisherigen Verständnis zu determinieren vermag, ohne richterlicher Rechtsfortbildung anheimzufallen. Diesen Gesichtspunkt atypischer Fälle nun andererseits übertreibend, hat man das traditionelle Modell der Rechtsanwendung schlechthin für unrealistisch erklärt80 . Aber zumindest von Sinn und Zweck des Gesetzes vermag sich der Richter keineswegs gänzlich zu lösen81 . Begrifflich fand Josef Esser das Ei des Kolumbus: Präjudizien seien keine Rechtsquellen, Richterrecht schaffe keine ,außergesetzliche Rechtsordnung', sei folglich revisibel und reversibel wie jede richterliche Anwendung der materiellen Rechtsnormen. Die freilich stünden allemal unter dem Vorbehalt nicht nur der inhaltlichen Konkretisierung, sondern auch der Ergänzung, Um- und sten Instanzen in seinen Auswirkungen als Rechtsquelle verstanden werden". Es sei "neben und unter dem Gesetz ,Rechtsquelle' ". 76 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 243 ff. 77 Larenz, Methodenlehre, S. 432; Esser, Vorverständnis, S. 195 f. 78 So Bydlinski, Methodenlehre, S. 501 ff. 79 Für die Bindung an Präjudizien plädiert dagegen vorsichtig Wassermann (N 75), Rn. 54 zu Art. 97. 80 lsay, Rechtsnorm und Entscheidung, passim; Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 152. 81 Dazu Ebsen, Gesetzesbindung, S. 31 ff.
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Neubildung. Anders formuliert: Theoretisch auch als Verhaltensnorm für die Alltagsfälle betrachtet ist Rechtsquelle allein das Gesetz - in seinem jeweils gemeinen Verständnis. Für die Lösung des konkreten Konflikts im besonderen, besonders vertrackten Fall aber gibt es rechtspraktisch aus der Sicht der Parteien nur eine Rechtsquelle, d. h. Quelle rechtlicher Verbindlichkeit: den gerichtlichen Prozeß und die jeweils letzte Gerichtsentscheidung, die in der Sicht des Richters allerdings stets Rechtserkenntnis prätendiert82 • Dann mag sich auch zeigen, ob und inwieweit einschlägige Präjudizien schon in das gemeine oder wenigstens in das richterliche Verständnis des Gesetzes eingegangen sind und damit an dessen Rechtsquellenqualität teilhaben. Stärker als beim Problem der Verbindlichkeit des Richterrechts zeigen sich bei der Frage nach dessen Schranken gewisse typische Frontstellungen. Zivilisten suchen diese Grenzen eher methodologisch zu bestimmen, Publizisten sehen darin im Hinblick auf die Gewaltenteilung mehr eine Kompetenzfrage und mit Rücksicht auf das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ("Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus") zudem ein Legitimationsproblem. Überlagert wird dieser Unterschied unserer juristischen Kulturen allerdings durch eine Entwicklung zunehmender "Entdeckung" der verfassungsrechtlichen 82 Esser, Richterrecht, S. 113; ders., Grundsatz und Norm, S. 289; ders., Vorverständnis, S. 194f.; siehe auch Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 45: Das Richterrecht sei keine selbständige Rechtsquelle neben anderen, usondern ein allen Rechtsquellen - auch der Verfassung - anhaftender Vorbehalt inhaltlicher Konkretisierung, Ergänzung oder Änderung". Eine neue Ausdrucksvariante hat nach eingehender Untersuchung Reinhardt, Jurisdiktion, S. 517, gefunden: "Unter dem Bonner Grundgesetz besteht eine rechtliche Pflicht zur Befolgung einschlägiger Präjudizien .... Allerdings gilt diese Befolgungspflicht nicht allgemein und nicht uneingeschränkt, sie gilt noch nicht einmal grundsätzlich (sie) ... " Sie gelte zum einen nur "institutional", d.h. im Instanzenzug. uZum anderen wirkt die Bindung nicht absolut, sondern unterliegt einer immanenten marginalen Relativität (sie) im Interesse der Gewährleistung einer kontinuierlichen Evolution des materiellen Rechts; die grundgesetzliche Präjudizienbindung ist insoweit approximativ."
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Dimension des Problems 83 • Und in dieser Perspektive scheint die Vorstellung vom Gesetz als Vermittlungsinstrument demokratischer Legitimation durch parlamentarische Entscheidungsdetermination unentbehrlich84• Denn Richterwahl durch Parlamentsausschüsse oder die parlamentarische Verantwortlichkeit der die Richter ernennenden Exekutive vermögen den Eindruck demokratischer Legitimation des konkreten Richterspruchs wohl weniger zu erwecken85 • Von daher rühren spezifisch verfassungsrechtliche Bedenken, gesetzesüberschreitendes Richterrecht als Rechtsquelle anzuerkennen86• Sie können durch den ebenso konsequenten wie fragwürdigen Rekurs auf die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers 87, erst recht aber durch Forcierung der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes 88 sogar zu einer weitgehenden theoretischen Delegitimierung des Richterrechts führen. Dies demonstriert Friedrich Müller mit seiner These der "funktionellen Geschlossenheit" des Rechts83 In diesem Sinne die Gegenüberstellung der beiden Ansätze schon bei dem jungen Zivilisten und Arbeitsrechtier Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 34- 81 u. 82 - 250. Paradebeispiel dieser Entwicklung ist die außerordentlich gründliche Dissertation des Zivilisten Neuner. Zu den unterschiedlichen Ansätzen (die nicht notwendig zu unterschiedlichen Ergebnissen führen) in Zivilistik und Publizistik einerseits: Flume, Richter und Recht, S. 17ff.; Hattenhauer, Reform durch "Richterrecht" ?, S. 86: Stabilisierung durch Rechtsdogmatik; Picker, Richterrecht, S. 154ff.; Coing, Rechtsphilosophie, S. 347; Larenz, Methodenlehre, S. 369, Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 232- 252; Bydlinski, Methodenlehre, S. 472ff.; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 197ff.; andererseits: Ipsen, Richterrecht, S. 47ff., 116ff., Roellecke u. Starck, Bindung des Richters, S. 3Dff., 76ff.; Müller, ,Richterrecht', S. 96ff.; Ossenbühl, Richterrecht, S. 14ff., 17ff.; Reinhardt, Jurisdiktion, passim. 84 Hierzu u. zum folg. mit weit. Nachw. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 78 ff. (bes. 82 - 85 ). 85 So aber im Hinblick auf die Richterwahl nach Art. 95 Abs. 2 GG Wassermann (N 75), Rn. 17 zu Art. 92. Krit. dazu Ipsen, Richterrecht, S. 198ff. Zur Legitimation richterlicher Rechtsetzung aus verfassungsrechtlicher Sicht jetzt umfassend Reinhardt, Jurisdiktion, S. 342 - 349. 86 Sehr klar Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 235 (Rn. 549). 87 Siehe N 38 und später bei N 109. 88 Dazu schon N 35.
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systems89• Im Unterschied zur begriffsjuristischen Behauptung materieller Lückenlosigkeit der Rechtsordnung sieht er das allemal lückenhafte materielle Recht durch die Prozeßgesetze ergänzt. Und danach sei eine nicht ausdrücklich gedeckte Klageforderung eben abzuweisen. Damit wird der verfassungsrechtliche Vorbehalt des Gesetzes für das Verwaltungsrecht und speziell für das Strafrecht (nulla-poena-Grundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG) in seiner strengsten Version auf das Zivilrecht übertragen. Da dies dem Art. 20 Abs. 3 GG 90 offenkundig widerspricht, muß jene Lehre für den· enger gefaßten Art. 97 Abs. 1 GG nach dem Spezialitätsprinzip Vorrang reklamieren. Dieser Versuch scheitert allerdings schon an der für die Prävalenz des Art. 20 Abs. 3 GG sprechenden Wertung der "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG. Zudem gibt es für die Behauptung eines Normwiderspruchs zwischen Art. 20 Abs. 3 GG einerseits und 97 Abs. 1 GG andererseits im Hinblick auf dessen besondere Funktion der Abschirmung der Justiz gegen politische Einflüsse 91 keinen sachlichen Grund. Die Theorie löst mit der These vom Vorrang des Art. 97 Abs. 1 GG folglich bloß ein Problem, das es ohne sie nicht gäbe. Mithin bleibt es dabei, daß dem Zivilrecht nicht apriori und generell eine unbedingte Negation aller nicht ausdrücklich gewährten Ansprüche zugrundeliegt, was es den Zivilgerichten unmöglich machen würde, ihre Ausgleichsaufgabe zu erfüllen. Für den Aspekt verfassungsrechtlicher Rechtfertigung des Richterrechts gibt es allerdings eine ziemlich einfache Begründungsalternative, nämlich die kompetenzrechtliche, also rein formale Legitimation der Richtersprüche. Danach hat über die 89 Hierzu u. zum folg. Müller, ,Richterrecht', S. 89- 110. Krit. dazu Neuner, Rechtsfindung, S. 67. 90 Dazu u. zum folg. N 34. 91 Dazu Seiler, Gewaltenteilung, S. 279, und vorne N 33. Die Textdifferenz zwischen Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG bezeichnet m. a. W. keinen Unterschied in Art und Umfang der Bindung. Das ist heute allgemeine Meinung. Dazu jetzt ausführliehst Reinhardt, Jurisdiktion, S. 129154.
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entsprechenden Organisations- und Verfahrensgesetze die demokratische Verfassung selbst den Gerichten ihre Entscheidungsgewalt verliehen92 • Punktum. Diese Version könnte sich in gewisser Hinsicht vielleicht sogar mit mehr sachlicher Berechtigung auf Montesquieus Gewaltenteilungslehre berufen als jene andere, monistisch-hierarchische. Zwar hat der berühmte Baron aus Brede bei Bordeaux in der bekannten Weise die drei Staatsfunktionen unterschieden und aus nur allzu begründeter Furcht vor der Willkür der Strafrichter93 sowohl auf der grundsätzlichen (wenn auch keineswegs ausnahmslosen) Trennung von Legislative und Justiz wie eben auf der striktesten Gesetzesbindung der organisatorisch unselbständigen Gerichtsbarkeit bestanden94 . Die drei Gewalten, d.h. wirklichen Mächte, von denen er handelte, waren dagegen das Königtum, der Adel und das Bürgertum. Im Medium des englischen Verfassungsrechts entwarf er, der Sicht der damaligen englischen Opposition folgend, ein integratives System der Machtverschränkung in Gesetzgebung und Administration zwischen der Krone, dem adligen Oberhaus und dem bürgerlichen Unterhaus. Die Justiz spielt hier nur ausnahmsweise bei gewissen richterlichen Funktionen des Oberhauses in politischen Verfahren und der equity-Rechtsprechung eine Rolle. Kern der ganzen Theorie ist die freiheitsfördernde Idee des Gleichgewichts der Kräfte. Es war diese Balance-Vorstellung, die - das Denken des 18. Jahrhunderts in Astronomie, Moral, Wirtschaft und Politik geradezu modisch bestimmend - den Erfolg des kleinen Kapitels "Über die Verfassung Englands" aus dem "Geist der Gesetze" eigentlich begründete.
92 So hält Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 129, den Gesichtspunkt, daß alle drei Gewalten in gleicher Weise durch dieselbe demokratische Verfassung eingerichtet und mit ihren Kompetenzen versehen seien, für wichtiger als die besondere Legitimation des Gesetzgebers durch die Volkswahl. 93 Dazu sehr instruktiv Ogorek, Richterkönig, S. 41 - 46. 94 Vgl. hierzu u. zum folg. Montesquieu, Bd. I, S. 217, 224f.; 220- 226; sowie Eisenmann, L'Esprit des Iais; und Seiler, Gewaltenteilung, S. 18 - 25.
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Nun war zwar die Justiz mangels eigener fafon -dies Montesquieus Ausdruck - von ihm nicht als eigenständige Größe in jenes Balancesystem einbezogen. Aber in diesem Punkt hat sich viel verändert. Eigenständigkeit von Organisation und Verfahren sowie Professionalität der Richter, kurz: die Bürokratisierung der Justiz und die Ausweitung ihrer Zuständigkeit auf den öffentlichen Bereich bis hin zur Wahrung der Verfassung haben ihr im Verein mit der institutionalisierten Rechtswissenschaft und dem Rückhalt in Rechtstradition, bewährter Lehre und konstitutionellen Leitideen längst ein eigenes Machtgewicht verliehen und sie zu einer unserer drei Gewalten, zu einem wirklichen Gegenspieler von Parlament und Administration wachsen lassen95 . In der Herausbildung dieses justiziellen Eigengewichts gegen monarchische und demokratische Machtansprüche erneuert sich der europäische Prozeß der Emanzipation des Rechts von der Politik seit der sog. Päpstlichen Revolution im 11. Jahrhundert96 • Krönung dieser Entwicklung ist die Verfassungsgerichtsbarkeit97• Höchst bezeichnenderweise haben die Franzosen dank des aus ihrem monistisch-hierarchischen Modell folgenden Gesetzeskults 98 bis heute Schwierigkeiten mit dem Gedanken einer gerichtlichen Kontrolle der vom Parlament artikulierten volonte generale - von der englischen Parlamentssouveränität ganz zu schweigen99• Im Entwurf eines 95 Es waren die alten Legenden von der "unpolitischen", d. h. wertungsfreien, bloß subsumierenden Justiz (s. schon bei N 60), die der Wahrnehmung der Justiz als wirklicher, eigenständiger dritter Gewalt (und nicht nur: dritter Funktion) lange im Wege standen. Siehe jetzt aber Reinhardt, Jurisdiktion, S. 67, 91 ff. 96 Nach Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur, bes. S. 42 ff., 62 ff., 79 ff., nunmehr maßgeblich Berman, Recht und Revolution; vgl. auch Gurjewitsch, Weltbild des mittelalterlichen Menschen, S. 196ff.; Wieacker, Grundlagen der Rechtskultur, bes. 182; Pitz, Der Untergang des Mittelalters, S. 104ff. 97 Zur Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts als Gericht und Verfassungsorgan Schlaich, Bundesverfassungsgericht, S. 20 ff. 98 Cotteret, Le pouvoir legislatif en France, S. 12ff., spricht von der Vergötterung des Gesetzes.
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III. Der schwierige Kontrapunkt: Gesetz und Richter
Gleichgewichtssystems unter Einschluß der eigengewichtigen Justiz gibt es dagegen kein grundsätzliches Problem dieser Art, wie das Beispiel der USA frühzeitig demonstrierte 100. Der auf die organisatorische und verfahrensrechtliche Eigenständigkeit der Justiz bauende Gedanke rein formaler Legitimation des Richterrechts entspricht der Normentheorie Hans Kelsens101. Sie überläßt jedoch allzu viel dem richterlichen Belieben, und zwar nicht etwa de facto, sondern von Rechts wegen. So leicht aber lassen sich die einschlägigen Partien der Methodologie, der Rechtsdogmatik und des Verfassungsrechts nicht für obsolet erklären. Ist jene Schlußfolgerung doch auch nur von einem ganz bestimmten neopositivistischen Wissenschaftsbegriff her 102 zwingend und entspricht jedenfalls nicht dem richterlichen Selbstverständnis. Das sucht eher "herkulisch" seinen rechtlichen Bedingungen gerecht zu werden. So schöpfen die Richter, auf wie schwierige Weise auch immer, ihr Recht aus dem Recht - aus dem Recht und nicht nur (in komplizierteren Fällen sogar zum geringsten Teil) aus einem bestimmten parlamentarisch verabschiedeten Gesetzestext. Und notfalls entscheiden sie gegen alle Theorie im Namen des Rechts gegen das Gesetz 103. Folglich bleibt die Frage nach der Begründung des Rechts im Horizont unseres bipolaren oder elliptisch-bifokalen Rechtssystems unumgänglich eine Doppelfrage. Um wenigstens deren Dimensionen zu ermessen, wollen wir einen etwas genaueren Blick auf die beiden Pole oder Brennpunkte werfen (IV.), sodann zwei grundsätzliche Einwendungen gegen das Recht des Rechts erörtern (V.), um Zur Historie Hofmann, Repräsentation, S. 338ff. Dazu Wahl, Vorrang der Verfassung, S. 488ff.; Hofmann, Idee des Staatsgrundgesetzes, S. 280. 101 Dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 349ff. Zur Kritik Walther, Problem des "normativen Syllogismus"; Bydlinski, Methodenlehre, S. 227-247. 102 Dazu Haller, Neopositivismus. 103 Als Paradebeispiel gilt die sog. Herrenreiter-Rspr.; dazu statt vieler Larenz I Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, II/2, S. 494 f. 99
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111. Der schwierige Kontrapunkt: Gesetz und Richter
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abschließend (VI.) noch einmal nach der verfassungsrechtlichen Einheit des Rechts zu fragen.
IV. Die zwei Brennpunkte der Rechtsordnung Bei Recht durch Richterspruch und Recht aus Parlamentsbeschluß handelt es sich um zwei verschieden akzentuierte Rechtsbegriffe. Richterliche Rechtsfindung und politische Rechtsetzung unterscheiden sich in einer Weise, die - wie schon angedeutet - mit der bloßen Gegenüberstellung von allgemeiner Normierung und deren Anwendung im konkreten Fall begrifflich nicht zureichend erfaßt wird. Vom Allgemeinen zum Besonderen führt eben kein direkter Weg der Deduktion. Auch nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten der spätmittelalterlichen Gerichte, die Kommandos des fürstlichen Amtsrechts überhaupt als Recht wahrzunehmen 10\ längst überwunden sind und Gesetze aller Art sich höchster Anerkennung als Rechtsquellen erfreuen, stellen sie in der gerichtlichen Konfliktentscheidung doch nur abstraktes Rechtsmaterial dar, das für die Anwendung - parallel zur Aufbereitung des Sachverhalts - allererst juristisch bearbeitet werden muß 105 • Doch fördern häufig genug auch die klassischen hermeneutischen Hilfsmittel keine ausreichenden Bestimmungsmomente für die Urteilsfällung zutage. Es bedarf des Rückgriffs auf weitere und tiefere Gründe. Wir sprachen schon davon. Klar ist dabei, daß die Unterschiede der richterlichen Rechtsgewinnung und der gesetzgeberischen Rechtsproduktion nicht nur Gegenstand und Art der Entscheidung betreffen, zudem selbstredend auch das Dazu Willoweit, Gesetzgebung und Recht. Dieser Zirkel ist im Anschluß an Engisch (Logische Studien, S. 14f.), oft beschrieben und analysiert worden. Siehe etwa Larenz, Methodenlehre, S. 206ff., 280ff. Weit. Nachw. bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 74f. 104 lOS
IV. Die zwei Brennpunkte der Rechtsordnung
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Verfahren, sondern schon die Handlungsmodalität, überdies Horizont und Tragweite wie insbesondere die Rechtfertigung der jeweils erzeugten normativen Verbindlichkeit. Hier können nur einige Punkte herausgegriffen werden 106 • Sind die richterlichen Bemühungen um eine Verhandlungslösung (die es inzwischen in gewissem Umfang ja sogar im Strafprozeß gibt 107 ) gescheitert, so muß hic et nunc in dem von den Antragstellern, nicht vom Gericht bestimmten Rahmen für bestimmte Personen hart und scharf zwischen Recht und Unrecht entschieden werden. Gefordert ist dabei hauptsächlich eine Erkenntnisleistung, zumindest muß Rechtserkenntnis dargestellt werden können 108 • Das Parlament dagegen erzeugt Recht nach politischer Opportunität und ohne rechtlichen Entscheidungszwang. Es artikuliert einen mehr oder weniger allgemeinen politischen Gestaltungswillen und übt dabei - bisweilen bis zum Exzeß- die demokratische Tugend des Kompromisses, der das Gesetzesrecht in gewisser Weise "kontraktualisiert" 109• Noch nicht einmal sachliche Regelungsnotwendigkeiten regieren; vielmehr befindet die Politik souverän darüber, welche Angelegenheiten, wann, wie und in welchem Umfang legislativ bearbeitet werden. Gewiß gibt es Gesetzgebungsaufträge in der 106 Zum folg. Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 297- 337 u. 407- 439. Zu dieser Doppelpoligkeit in Auseinandersetzung mit Habermas (Faktizität und Geltung) jüngst auch Kübler, Juristisches Vorverständnis, S. 103ff. Aus der älteren Lit. instruktiv Germann, Imperative und autonome Rechtsauffassung, bes. S. 44 f. 107 Dazu Lüderssen, Krise des öffentlichen Strafanspruchs, S. lOff.; Schünemann, Absprachen im Strafverfahren? 108 Zu dieser Unterscheidung zwischen Finden und Darstellen der Entscheidung schon lsay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 56, 77f., 163f., 177, 210. Für die neuere Diskussion grundlegend Luhmann, Recht und Automation, S. 51 ff., bes. N 3. Krit. zu dieser Version Koch/ Rüßmann, Begründungslehre, S. 116 ff., mit der wichtigen Klarstellung, daß die erforderliche, mögliche und kontrollierbare Deduktion der Urteilsgründe nicht einfach gleichbedeutend ist mit Gesetzesbindung. 109 So Morand, La contractualisation du droit. Dazu auch schon Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 89f., mit weit. Nachw.
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IV. Die zwei Brennpunkte der Rechtsordnung
Verfassung. Aber sie sind selten 11 0 und prägen das Bild so wenig wie die vom Verfassungsgericht immer wieder einmal ausgesprochenen Verpflichtungen zu legislativer Beseitigung verfassungswidriger Zustände 111 • Folglich können Gesetzgebungsakte normalerweise nicht als Vollzug der höherrangigen Verfassungsnormen begriffen werden. Auch steht die Anwendung der verfassungsrechtlichen Kompetenz- und Verfahrensvorschriften über die Gesetzgebung in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen politischen Ziel der Parlamentsmehrheit. Für dessen Artikulation und Durchsetzung ist selbst die Frage materieller Verfassungsmäßigkeit bloße Vorfrage der Gesetzgebung, nicht deren Gegenstand. Gegenstand ist auch nicht die Bewahrung, Festigung, Wiederherstellung oder kontinuierliche Entwicklung des geltenden Rechts, sondern dessen Änderung, der explizite Bruch. Selbst die bloße gesetzgeberische Klarstellung setzt altes Recht förmlich außer Kraft. Parlamentarische Gesetzgebung ist die verfassungsmäßige Form produktiver Brüche des Gesetzesrechts. Zwar kann das Gesetz dann als Verwirklichung geltenden Rechts verstanden werden, wenn damit Staatszielbestimmungen der Verfassung, wie das der Sozialstaatlichkeit oder des Umweltschutzes, gefördert werden sollen. Aber selbst solche Vorhaben stehen unter dem Vorbehalt politischer Opportunität. Jene Ziele können jeweils mehr oder weniger weit, umfangreich und intensiv verfolgt werden. In den politisch heiklen Fällen des Abbaus von Besatzungsrecht hat das Bundesverfassungsgericht befunden, daß nach dem Maß des politisch Erreichbaren selbst ein grundgesetzwidriger Akt der Gesetzgebung wie das Saarstatut112 - und komplementär dazu die zeitweilige Aufrechterhaltung grundgesetzwidrigen Rechts 113 - als Annäherun110 Siehe etwa An. 3 Abs. 2, 4 Abs. 3 S. 2, 6 Abs. 5, 21 Abs. 3, 38 Abs. 3, 41 Abs. 3, 117 Abs. 1 GG. 111 Dazu mit Nachw. Schlaich, Bundesverfassungsgericht, S. 286ff. 112 BVerfGE 4, 157; siehe auch BVerfGE 62, 169 (181 f.). 113 So BVerfGE 15, 337 (348f.); 36, 146 (169f:).
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gen an die Verfassung zu tolerieren seien. "Näher beim Grundgesetz" war die maßgebliche FormeP 14 . Der normale Fachrichter dagegen steht nicht vor der Wahl, richtig, ein bißchen richtiger oder ein bißchen weniger richtig zu entscheiden. Das bringt uns auf einen besonders wichtigen Punkt: den Unterschied der Entscheidungshorizonte. Ihn mit den Stichworten "Vergangenheit" und "Zukunft" zu bezeichnen, wäre zu einfach und auch nur teilweise treffend. Denn wenn die Gesetze grundsätzlich auch zukunftsgerichtet sind 115 , enthalten sie doch viel legislative Flickschusterei ohne große Zukunftsperspektive. Andererseits schaut der Richter nicht nur auf das Vorgefallene, den "Fall", zurück, schreibt die richterliche Rechtsgewinnung nicht nur Festlegungen der Vergangenheit fort, sondern greift mit der bei allen Güterahwägungen unvermeidlichen Kalkulation von Entscheidungsfolgen 116 auch in die Zukunft, öffnet mit Grundsatzentscheidungen nach Prinzipien mitunter sogar neue Perspektiven der Rechtsentwicklung 117• Doch macht es einen großen Unterschied, ob der Richter naheliegende Entscheidungsfolgen bedenkt und wertet oder ob der Gesetzgeber in einem mehr oder weniger umfassenden "Erkenntnisverfahren" 118 bei der Verfolgung seiner Zwecke Eignung und Effekte seiner Regelungsmodelle zu ermitteln sucht. Aufs Ganze gesehen hält sich die richterliche Rechtspro114 Dazu detailliert und umfassend Lerche, .Annäherung" an den verfassungsgewollten Zustand. m Dazu Hofmann, Allgemeinheit des Gesetzes, S. 283ff. (285). 116 Dazu die Kritik von Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen, S. 12-24, 113ff., an der These notwendiger Folgenindifferenz der Rechtsprechung bei Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 7, 25ff., 35ff.; s. jetzt aber auch ders., Recht der Gesellschaft, S. 309, 378f. Kritik an Lübbe-Wolff bei Smid, Rechtserkenntnis, S. 26 - 28 u. 44 - 50; wie hier auch Dubischar, Rechtstheorie, S. 75ff. 117 Paradebeispiel: die Rspr. zum Allg. Persönlichkeitsrecht; dazu etwa P. Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. v. K. Rebmann u.a., Bd. 1, 3. Auf!., München 1993, § 12 Rn. 155ff.; Larenz I Canaris, Schuldrecht, S. 489 ff. 118 Pawlowski, Methodenlehre, S. 261 ff.
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duktion im Horizont des faktisch und normativ Gegebenen, einschließlich der darin angelegten Entwicklungen. In diesem Rahmen muß sie sich letztlich nach dem Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit durch Kohärenz ausweisen 119 . Die von den politischen Kräften getragene willentliche Rechtserzeugung der Legislative feiert ihre Triumphe im endlosen demokratischen Progreß dagegen - im weiten Rahmen der Verfassungsmäßigkeit wie dem engeren der politischen Möglichkeiten frei - unter dem Banner der Reform gerade im gewollten Widerspruch zum Gegebenen und steht dabei selbst in allen Kleinigkeiten unter dem komparativen Gesichtspunkt des zukünftig Besseren. Solche Verheißung muß den im übrigen meist durch Übergangsregelungen gemilderten Bruch der Rechtsgleichheit zw1120 . schen gestern un d morgen k ompensteren ' Damit sind wir endlich beim Kern: der unterschiedlichen Begründung und Rechtfertigung justizieller und legislativer Normerzeugung. Tatsächlich stellt sich das theoretische Problem jeweils mit entgegengesetzter Frontstellung. Bei der richterlichen Entscheidung wird weniger thematisiert, warum sie für die Beteiligten bindend ist. Maßgeblich ist die Frage, ob und nach welchen Kriterien sie richtig ist. Die Verbindlichkeit des (rechtskräftigen) Urteils scheint eher selbstverständlich: Staatliches Selbsthilfeverbot samt Justizgarantie und RechtsverDazu Günther, Begriff der Kohärenz; Alexy, Juristische Begründung. Subjektivrechtlich erscheint das Problem als Frage des Vertrauensschutzes. Da es keinen Anspruch auf Beibehaltung gesetzlicher Regelungen gibt, verwandelt sich das allgemeine Recht auf (synchrone) Gleichbehandlung gemäß dem geltenden Gesetz diachron in einen besonderen Ausgleichsanspruch, wenn spezielle Gründe für den Schutz des Vertrauens in den Fortbestand des geltenden Rechts vorlagen. Zu einem Abwehrrecht kann dieser Vertrauensschutzanspruch auf sanften Übergang erstarken, wenn und soweit die Änderung zeitlich gegenläufig, also rückwirkend erfolgt. Zu dieser Korrespondenz Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht; ferner Mucke/, Vertrauensschutz bei Gesetzesänderungen, bes. S. 55 - 58; jetzt auch Schulze-Fielitz, Zeitoffene Gesetzgebung, S. 153ff. Das BVerfG hat das rechtsstaatliche Postulat von Übergangsregelungen in zahlreichen Entscheidungen behandelt; siehe den Bogen von E 21, 173 (183) bis E 70, 101 (114). 119 120
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weigerungsverbot verpflichtet die Streitenden, Recht von den staatlichen Gerichten zu nehmen. Als viel problematischer gilt die Frage, was das Urteil - über die Wahrnehmung einer gerichtsverfassungsrechtlich-prozessualen Kompetenz hinaus inhaltlich als Rechtsspruch ausweist und vor Entscheidungen nach Ermessen, politischer Opportunität oder sozialem Nutzen auszeichnet. Und je höher die Instanz, um so größer sind die entsprechenden Anforderungen. Sie werden durch Begründungen erfüllt, die an rechtsgelehrte Juristen, vielleicht nur noch an Juristen der einschlägigen Fachrichtung adressiert sind 121 • Wir haben darüber gesprochen. Umgekehrt schrumpft die Richtigkeitsfrage bei der Gesetzgebung auf ein Mehr oder Weniger im Hinblick auf selbstgesteckte Ziele. Die parlamentarischen Begründungen appellieren meist weniger an Juristen als entweder an die Staatsbürger, die alle in gleicher Weise als einsichtsund urteilsfähig vorgestellt werden, oder sie wenden sich an diejenigen, deren Interessen befriedigt werden sollen. Im übrigen bleibt die legislative Antwort auf die Richtigkeitsfrage wegen der Möglichkeit der Gesetzesänderung als vorläufig m der Schwebe 122• Im Gegensatz dazu war und ist das Problem der Verbindlichkeit kollektiver rechtlicher Ordnungen eine herausragende Frage, seit es eine Theorie des allgemeinen Gesetzes gibt. Von Hobbes bis Kant folgt die neuzeitliche politische Theorie des 121 In der durch Bülows Rede über "Gesetz und Richteramt" ausgelösten dauerhaften Kontroverse (dazu: Gesetzesbindung und Richterfreiheit - Texte zur Methodendebatte 1900-1914, hrsg. v. A. Gänge! u. K. A. Mollnau, Freiburg/Berlin 1992) hat seinerzeit Carl Schmitt in seinem Erstling "Gesetz und Urteil" daraus das Richtigkeitskriterium ableiten wollen. Richtig sei "eine richterliche Entscheidung . . . heute dann, ..., wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte." Wobei ,ein anderer Richter' "den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen (bedeute)" (S. 71). Dazu Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 32ff.; Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus, S. 217ff. 122 Und gerade dies rechtfertigt im Prinzip die Mehrheitsentscheidung: Hofmann/ Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip u. Minderheitenschutz, s. 186ff.
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methodologischen Individualismus dem Gedanken, daß jede gesetzliche Ordnung ihre Verbindlichkeit aus dem Willen der ihr Unterworfenen bezieht - sei es durch Autorisierung des Gesetzgebers oder die Vereinigung der Individualwillen im Gesetz. So oder so wird das für alle geltende Gesetz als kollektivierte Selbstbestimmung begriffen. Weil aber niemand gegen sich selbst Unrecht tun könne, hat Rousseau die Frage nach der Gerechtigkeit der Gesetze ganz konsequent für gegenstandslos erklärt 123 . Maßstab ist statt dessen, wie man aus Rousseaus Formulierung des Gesellschaftsvertrages 124 so gut wie aus Kants Definition des Rechts 125 weiß, die für alle gleiche und in diesem Sinne allgemeine Sicherung der individuellen Freiheit. Es ist sodann seit Hobbes viel Scharfsinn auf den Nachweis verwandt worden, daß demgemäß selbst noch ein Verbrecher die ihn nach dem allgemeinen, von ihm mitgewollten Gesetz treffende Strafe will, das Verbindlichkeitskriterium des Gesetzesrechts volenti non fit iniuria also auch hier erfüllt sei 126. Daß dies auch für denjenigen gilt, der im Zivilprozeß Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag II 6 (S. 299). Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag I 6 (S. 280): ",Wie findet man eine Form des Zusammenschlusses, welche die Person und die Habe jedes Mitglieds mit der ganzen gemeinschaftlichen Stärke verteidigt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er war?'. Dies ist das grundlegende Problem, das durch den Gesellschaftsvertrag gelöst wird." 125 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre§ B (S. 34f.): "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." 126 Zu der zwiespältigen Behandlung des Problems bei Hobbes s. v. Verf, Bemerkungen zur Hobbes-lnterpretation, S. 67ff., 71 f. Bei Rousseau heißt es (Vom Gesellschaftsvertrag, Buch IV Kap. 2 [S. 360f.]): "Der Staatsbürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen seinen Willen verabschiedet, und sogar denen, die ihn bestrafen, wenn er eines davon zu übertreten wagt. Der unveränderliche Wille aller Glieder des Staates ist der Gemeinwille, durch ihn sind sie Staatsbürger und frei." - Kant unterscheidet zwischen der "reinen rechtsgesetzgebenden Vernunft" des "homo noumenon" und dem verbrecherischen Willen des "homo phaenomenon": Metaphysik der Sitten, Allg. Anm. E zum Staatsrecht (S. 163). - Hege/ wollte in § 100 123 124
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mit seiner weder schwachsinnigen noch böswilligen, sondern gut begründeten Rechtsauffassung der Rechtsmeinung eines anderen unterliegt, ist so freilich noch weniger plausibel zu machen. Man müßte dann schon jedes zuständige staatliche Gericht als mittels der gewollten Organisations- und Verfahrensgesetze frei verabredete Schiedsinstanz begreifen, um dessen streitiges Urteil als einen Akt gemeinsamer Selbstbestimmung der Parteien verstehen zu können. Oder es wäre das Prozeßrecht als Vereinbarung vorzustellen, jeden danach unanfechtbar gefällten Richterspruch auch gegen die eigenen Interessen als Recht anzuerkennen - was allerdings die Rolle des materiellen Rechts im Prozeß höchst fragwürdig machte. Kurzum: Die demokratische Idee der Selbstbestimmung durch Gesetzesgehorsam trägt nicht über die Vorstellung hinaus, daß das Volk - aktuell wie bei Rousseau oder repräsentativ-virtuell wie bei Kant - mit dem allgemeinen, d. h. alle in gleicher Weise betreffenden Gesetz über sich selbst entscheide und Rechtsprechung nichts als automatischer Gesetzesvollzug sei. Kant hat das im Zweiten Teil seiner Rechtslehre expliziert. ". . . nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen", heißt es da 127 , könne "gesetzgebend sein". Der Grund: "Wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt", sei es "immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria )". Auf diese Weise kann und muß nach Kant jene Möglichkeit des Unrechttuns definitiv ("schlechterseiner Rechtsphilosophie (S. 95) auch diese Entzweiung wieder aufheben: "Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht, - als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht; sondern sie ist auch ein Recht an den Verbrecher selbst, d. i. in seinem daseienden Willen, in seiner Handlung gesetzt. Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf." 127 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 136 (§ 46).
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dings" sagt er) ausgeschlossen werden, weil von der Gesetzgebung ja "alles Recht ausgehen soll". Will die Gesetzgebung m. a. W. alleinige Rechtsquelle sein, muß sie also ausschließen, daß jemand über andere verbindlich verfügt. Vermag sie das nicht, räumt sie paradoxerweise die rechtliche Erlaubnis von Unrechtsentscheidungen ein. Alternativ dazu wäre anzunehmen, daß es eben noch eine andere, nicht in gleicher Weise rein voluntative Rechtsquelle im Sinne eines obersten, zentralen Willens gibt. Dies erscheint um so plausibler, als die Gesetzgebung des modernen Staates mit jenem Idealbild des allgemeinen Gesetzes längst nur noch wenig zu tun hat 128•
128
296.
Dazu Hofmann, Allgemeinheit des Gesetzes, S. 261 - 263, 289, 292-
V. Einwendungen gegen die Prinzipienlehre des Rechts Der Rekurs auf eine Begründung von Recht aus Recht, d. h. aus dem Sinnganzen der Rechtsordnung gemäß einer weit zurückreichenden "nicht-etatistischen Rechtsquellenauffassung" 129, geht davon aus, daß das Recht nicht nur als Produkt willentlich darauf gerichteter Rechtsakte, nicht nur als Gebot oder als paktierte Ordnung (respektive als darauf gegründeter Mehrheitsbeschluß) erscheint, sondern daneben auch auf eine eher unpersönliche Weise in Gestalt herkömmlicher Grundsätze oder Standards. Auf diesen Gesichtspunkt einer strukturellen Rechtsgrammatik ist hier jedoch nicht näher einzugehen 130. Dagegen sollen zwei rechtstheoretische Schwierigkeiten dieser Rechtsbegründung wenigstens kurz erwähnt werden. Das eine Problem resultiert daraus, daß die Prinzipienlehre des Rechts (im Widerspruch zur one-answer-These Dworkins131) für den Fall konfligierender Prinzipien, für den Fall also, daß etwa die Grundsätze von Freiheit und Gleichheit einander widerstreiten, keine Lösung aus einem nochmals übergeordneten Prinzip anzubieten hat 132. Für ein starres und auf Deduktion angelegtes System wäre ein solcher Einwand sicher tödlich. Doch handelt es sich hier nur um heuristische Prinzipien, um regulative, d. h. argumentativ uneinholbare Ideen. Deren Widerspruch vermehrt den Argumentationsaufwand, und dessen praktische Abarbeitung erhöht die Unsicherheit der
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Esser, Vorverständnis, S. 192. Dazu Hofmann, Gebot, Vertrag, Sitte. Dazu vorne bei und nach N 64. So Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 522.
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V. Einwendungen gegen die Prinzipienlehre des Rechts
Entscheidung. Aber sicher ist sie ja auch bei der Verfolgung nur einer regulativen Idee keineswegs. Daß es für jeden Rechtsfall eine richtige Lösung gibt, ist nur eine heuristische Fiktion und Ausdruck eines moralischen Postulats richterlicher Tätigkeit, aber nichts, was die Prinzipienlehre inhaltlich verspricht133. Worum es geht, ist die Erweiterung und Vertiefung rationaler Entscheidungsbegründungen und dadurch die Erhöhung ihrer theoretischen Anschlußfähigkeit. Und das unter dem Diktat des Rechtsverweigerungsverbots, das im Grunde gar keine andere Wahl läßt. Der zweite Einwand ergibt sich aus der sog. Trennungsthese, welche die Rechtspositivisten aller Schattierungen verbindet 134 . Jene Prinzipienlehre, so heißt es, vermische in unzulässiger Weise Recht und Moral. Das aber gefährde die Friedensfunktion des Rechts in einer pluralistischen Gesellschaft. Denn alle moralischen Unterscheidungen und Wertungen und folglich auch alle das allein formal zu bestimmende positive Recht überschreitenden Aussagen über das, was sein soll, seien nicht rational begründbar oder beweisbar: es handele sich dabei stets um subjektive, "nonkognitive" und folglich beliebige Ausdrücke von Gefühlen, Wertentscheidungen, Wünschen, Einstellungen oder Vorlieben, und die seien in der modernen Gesellschaft nun einmal völlig verschieden. Gewiß: Recht und Moral sind analytisch-begrifflich (nicht sachlich) zu trennen 135 • Und diese Unterscheidung ist in der Tat grundlegend wichtig sowohl für die rechtsstaatliche Beschränkung der Staatsgewalt, nämlich für die Freistellung der Privatsphäre von jedem staatlichen Zugriff, wie für die Wahrung des Friedens in der pluralistischen Gesellschaft, die nur noch über ein weltanschaulich neutrales, gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Siehe dazu noch einmal N 65. Dazu instruktiv Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 11, 20 ff. Zur notwendigen Kritik Dreier, Begriff des Rechts, S. 99 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 277- 299. 135 Dazu Lübbe-Wolff, Unterscheidung von Recht und Moral. 133
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V. Einwendungen gegen die Prinzipienlehre des Rechts
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Moralen indifferentes Recht integriert werden kann 136• Falsch aber ist die Exklusivität jener Antithese von positivem, d. h. in einer formalisierten Weise festgesetzten Recht und Moral im Sinne beliebiger individueller Richtigkeitsvorstellung 137• Denn dieses einfache Entweder-Oder verkennt die Existenz des tradierten lebensweltlichen Ethos, der in den alltäglichen Lebensformen längst objektivierten Sittlichkeit einer Sozietät. Dieser gewissermaßen sedimentäre kulturelle Boden und Kontext aller normativen Produktionen erzeugt gewiß keine zwingenden Bindungen und ist keineswegs unveränderlich, gleichwohl aber eine vom individuellen Meinen unabhängige, nicht als Ganzes beliebig disponible Gegebenheit. Recht vor diesem Hintergrund auszulegen, tragende und strukturbildende Elemente solcher "Moral" in einem Rückkopplungsverfahren wie bei Rawls 138 argumentativ (auch) als solche des Rechts auszuweisen, bedeutet keineswegs, die Interpretation subjektivem Belieben anheimzugeben. Letztlich zielt der positivistische Einwand denn auch gar nicht speziell auf die Prinzipienlehre des Rechts, sondern auf die Möglichkeit von Rechtsdogmatik als Wissenschaft überhaupt. Dieser Angriff aber geht ins Leere. Denn eine im engeren Sinn theoretische Wissenschaft ist Rechtsdogmatik sicherlich nicht. Ihre Funktion ist die einer praktischen Disziplin. Nur als solche hat sie ihre Bedeutung, ist darin für die Konsistenz, Überschaubarkeit und Lehrbarkeit des Rechts wie für Kontinuität und Prodttktivität seiner Anwendung und somit für das Recht des Rechts aber auch unentbehrlich 139 •
06 Zu diesem verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebot maßgeblich Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 178 ff. 07 Hierzu u. zum folg. Hofmann, Recht, Moral, Ethos; krit. zu dieser Position Pawlowski, Methodenlehre, S. 372ff. 138 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 68- 71. Zu Rawls' "Überlegungsgleichgewicht" etwa Hoerster, John Rawls' Kohärenztheorie; Tugendhat, Bemerkungen, S. 12ff.; Stegmüller, Überlegungsgleichgewicht; einen knappen Überblick bietet Siegwart, Art. Überlegungsgleichgewicht. 09 Dazu eingehender Hofmann, Rechtsdogmatik.
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VI. Noch einmal: Die Einheit kraft Verfassung Anzumerken bleibt schließlich, daß dem ganzen, theoretisch unverdrossen traktierten Problem längst die Spitze genommen ist - von Verfassungs wegen. Hat doch etwa das Bonner Grundgesetz in bewußter Rückwendung zum revolutionären Verfassungswesen des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit den ersten drei Artikeln über Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit die politischen Hauptstücke der Aufklärungsphilosophie als Verfassungsrecht "positiviert" 140 . Was das normtheoretisch bedeutet, ist allerdings gar nicht leicht zu sagen. Denn die philo&ophischen Prinzipien gehen in dieser Positivierung ja nicht einfach auf; könnten sie doch sonst durch Verfassungsänderung abgeschafft werden. So viel aber steht im Ergebnis fest, daß der Rückgriff auf jene Prinzipien bei Auslegung und Anwendung des "einfachen" Gesetzesrechts fortan nicht mehr als Durchbrechung oder Überschreitung des Rechtssystems betrachtet werden kann 141 • Vielmehr findet richterliche Rechtserkenntnis hier höchste Rechtsgrundsätze, u. U . sogar gegen den Gesetzgeber und dessen implizite Berufung auf die Volkssouveränität. Im Blick auf diese "rechtseigene(n) Kriterien der Selbstkontrolle des Rechts gegenüber allzu erratischen Bewegungen des 140 Dazu Dreier, Begriff des Rechts, S. 107. "Urform" des Problems ist die Frage nach der rechtlichen Bedeutung der berühmten Declar~tion der Rechte von 1789. Dazu jetzt Troper, Deklaration oder Konstitution, S. 68ff.; s. auch schon Jellinek, Verfassungsänderung, S. 4. 141 Von einem externen Beobachtungsstandpunkt aus erscheint jene Positivierung als "Schließung" des Systems: LHhmann, Recht der Gesellschaft, S. 96f. u. 474 mit Anm. 79; siehe ebd. auch S. 108 mit Anm. 133 zur Trennung der Bill of Rights und der Cor~stitHtion in der Amerikanischen Revolution.
VI. Noch einmal: Die Einheitkraft Verfassung
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Gesetzgebers" 142 scheint es einleuchtend, wenn Josef Isensee "Grundrechte und Demokratie" als "die polare Legitimation im grundgesetzliehen Gemeinwesen" bezeichnet 143 • Legitimitätstheoretisch-dogmatisch besteht ein solcher Gegensatz allerdings nicht. Denn Volkssouveränität und Freiheit fungieren seit Rousseau als Chiffren für die menschenrechtlich aus der gleichen Freiheit aller begründeten Herrschaft 144 . Doch sind immerhin unterschiedliche Vorstellungen von der Verwirklichung der Freiheit durch individuelle Selbstbestimmung oder durch Teilnahme an der Gesamtwillensbildung im Spiel. Im einen Fall steht die Garantie privater, durch das politische Balance-System auch institutionell gesicherter Freiräume im Vordergrund. Deren Nutzung soll zugleich die allgemeine Wohlfahrt fördern. Nach dem anderen Modell wird Freiheit vornehmlich - mehr in-put-orientiert - als Teilnahme an den allgemeinen Entscheidungen für alle verstanden, mithin als Selbstbestimmung auch in den öffentlichen Angelegenheiten begriffen 145• Vor allem aber verweisen jene beiden "Pole" der Grundrechtsprinzipien und der Volkssouveränität in einer dynamischen Betrachtung der Praxis des Staatsrechts und der Politik als verschiedenartige Begründungselemente zurück auf die hier behandelten zwei Kommunikationskreise, in denen das Recht dieses Gemeinwesens produziert wird. Staatsrechtlich präziser ließe sich das Problem als Antinomie von Rechtsstaat und Demokratie beschreiben146 • Und wie stiftet die Verfassung deren Einheit? Durch strukturelle Koppelung von Recht und Politik, wie wir von Luhmann gehört haben 147 • Was das systemtheoretisch bedeutet, mag auf 142
Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 521.
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Isensee, Grundrechte und Demokratie, S. 9ff.
Hofmann, Autonomieansprüche, S. 58ff. Dazu Berlin, Two concepts of liberty; Hofmann, Verfassungsprinzip der Freiheit; Preuß, Revolution, S. 19ff., 28ff. 146 So Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 112ff.; s. dazu auch Verf., Rechtsstaat, S. 1 - 11. 144
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sich beruhen. Denn Luhmanns glänzende Darlegungen zeigen 148, daß die sog. strukturelle Koppelung von Recht und Politik - und d.h.: die einheitliche konstitutionelle Ordnung von interessengesteuerten Willensakten zur Gestaltung des sozialen Lebens und unparteiischer, unpersönlicher, regelhafter Entscheidungen individueller Konflikte nach der Unterscheidung von Recht und Unrecht - in der Sache einige der alten Paradoxien des Verfassungsstaates, dieser grundstürzenden Erfindung des ausgehenden 18. Jahrhunderts bezeichnet: Da gründet sich eine Gemeinschaft in revolutionärem Umbruch auf universale Prinzipien - und definiert sich mit diesem konstituierenden Akt als partikulare politische Einheit149. Die Entscheidung politischer Aktivisten, der Konsens einer Führungsschicht stiftet einen rechtlichen Uranfang150, historischer subjektiver politischer Wille erscheint als objektives Gesetz der Gesetze. Die Konstitution erhebt so den höchsten normativen Anspruch und hat doch die geringsten Durchsetzungsgarantien. Sie ist in Wahrheit nur "evokativ", nicht "imperativ" 151 • Sie regelt die Formung und Ausübung der Macht, ohne aber die politischen Kräfte tatsächlich zu beherrschen. "Ihre Ordnung reicht daher viel stärker ins Ungewisse der Zukunft als die anderer Rechtsnormen. Jede Verfassung ist im Grunde nur ein Entwurf der politischen Form, mit der die Gegenwart künftige Zeiten zu binden sucht" 152 • So gesehen, kann man die Verfassunggebung "eine besondere Art von Geschichtsschreibung des Zukünftigen" nennen 153 • RechtstechVgl. N 48. Luhmann, Recht der Gesellschaft, bes. S. 470-481. 149 Dazu auch schon die in N 6 (S. 292ff.), N 50 (S. 115ff.) und N 58 (S. 16ff.) zit. Arbeiten des Verf 150 So hat Beling, Positivismus, S. 15 den Konsens der Führungsschicht den "realen Urgrund allen Rechts" genannt. 151 Amdt, Das nicht erfüllte Grundgesetz, S. 8. 152 Scheuner, Verfassung, Sp. 118. 153 Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, S. 274f. 147 148
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nisch macht das Fundamentalgesetz die Parlamentsgesetze zu beweglichen Gestaltungsmitteln des Gemeinwesens nach Maßgabe des Gemeinwillens. Zugleich bindet es die Legislative, indem es seinen eigenen Entstehungsgrund in der Figur der verfassunggebenden Gewalt externalisiert und sich selbst damit aus der Zeitperspektive beliebiger Setzung und Veränderung herausnimmt 154 • Die Konstitution schafft Rechtsfrieden, indem sie die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts auf die Frage nach dessen Geltung gemäß der Verfassung reduziert, für sich selbst indes nicht nur Geltung, sondern Richtigkeit nach Prinzipien beansprucht. Politische Macht beschränkt sich selbst durch Recht auf die Festlegung genereller äußerer Ordnungen und befreit die Sozialgestaltung durch deren Allgemeinheit aus traditionellen Bindungen. Verfassungsrechtliche Selbstdisziplinierung der Macht erhöht die Leistungsfähigkeit des arbeitsteiligen Systems. Die Einheit des Staates zeigt sich in der Ausdifferenzierung seiner aufeinander bezogenen Gewalten, nicht mehr in einem personifizierten Einheitsprinzip 155• Mit der rechtstechnischen Ausformung der Verfassung in einem Legislativakt, mit dieser gesetzlichen Positivierung droht zugleich die Gefahr, daß die qualitative Differenz zwischen Verfassung und "einfachen" Gesetzen zum rechtstechnischen Unterschied erschwerter Abänderbarkeit herunterkommt und die inhaltlichen Voraussetzungen der Transformation des Rechts in ein konstitutionelles Legalitätssystem sich auflösen. Alsdann muß die Paradoxie des sich politisch selbst begründenden Rechtssystems 156 durch die explizite Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz auf eine neue Ebene verschoben werden. Diese Unterscheidung hat uns nicht von ungefähr die Weimarer Staatsrechtslehre vererbt - und mit ihr die andere Gefahr: daß nämlich der Rechtscharakter des VerDazu schon vorne nach N 58. Da Hege! daran festhielt, kam er mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz nicht zurecht. IS6 Dazu Bobbio, Sur le principe de legitimite, S. 51 ff. IS4
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fassungsgesetzes als einer angeblich nur formalen Norm vom politischen Gehalt her relativiert (C. Schmitt) oder als bloßes Mittel politischer Integration funktional auf sie hin aufgelöst (Smend) wird. Andererseits sind durch diese Neuformulierungen des alten Problems die zwei gegenläufigen Perspektiven der Sache schärfer unterscheidbar geworden, nämlich einmal der rückwärts auf die Legitimität der Verfassunggebung gerichtete Blick und zum anderen der Aspekt des zukunftsoffenen verfassungsrechtlichen Entwurfs und dessen Legitimation durch geschichtliche Bewährung157• Für die Staatspraxis bedeutet all das: Die Verfassung bietet auf eine im Wortsinn prekäre Weise so etwas wie ein Schleusensystem, das es der Politik ermöglicht, ihre Entscheidungen in Informationen zu transformieren, die das Rechtssystem als Recht zu erkennen vermag. Auf diese Art und in diesem Rahmen können sich die politischen Akteure für ihre Pläne des Rechtssystems in dessen Eigengesetzlichkeit bedienen, d. h. das Recht ohne Mißbrauch, Gewalt oder Korruption als politisches Steuerungsinstrument gebrauchen. Das konstitutionelle Parlament vermag Politik in Recht zu verwandeln. Andererseits öffnet die Verfassung das Rechtssystem, d. h. denjenigen Kommunikationszusammenhang, der in der konkreten Entscheidung über Recht und Unrecht seinen Kern hat, für solche "Gerinnungen" oder Transformationen von Politik als Orientierungen richterlichen Handelns, stellt freilich zugleich Mittel bereit, diese politischen Direktiven in Gültigkeitsurteilen auf ihre Rechtsverträglichkeit zu kontrollieren, sie notfalls zurückzuweisen oder zu korrigieren und ansonsten in den Wechselfällen des Lebens als Material judizieller Entscheidungen zu verarbei-
157 Dazu Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 71 ff.; ders., Das Problem der cäsaristischen Legitimität im Bismarckreich, in: ders., Recht-Politik-Verfassung (N 6), S. 181-205 (202ff.). Den familienrechtlichen Terminus .,Legitimation" hat Brie, Legitimation, S. 4, in das öffentliche Recht und die Politik übertragen.
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ten, zu entwickeln und zu ergänzen. Damit werden zugleich Daten des rechtlich Zulässigen an die Politik zurückgegeben.
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