Recht und Konflikt: Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko 3166383824, 9783161602955, 9783166383828


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Titel
Vorwort
Inhalt
1. Theoretischer Bezugsrahmen der Untersuchung
1.1 Konflikte in der Sicht der Rechtswissenschaften
1.2 Konflikte in der Sicht der Rechtssoziologie
1.3 Umriß eines konfliktsoziologischen Ansatzes
1.4 Zum Aufbau der Arbeit
2. Die untersuchte Gesellschaft: Mexiko
2.1 Auswahlkriterien
2.2 Einige relevante Strukturmerkmale
2.2.1 Bevölkerung
2.2.2 Wirtschaft
2.2.3 Agrarstruktur
2.2.4 Politisches System
2.3 Konflikte im mexikanischen Kontext
3. Beobachtung
3.1 Methodisches Vorgehen
3.1.1 Allgemeine Probleme
3.1.2 Mehrspurigkeit der Methodik
3.1.3 Fragebogenerhebung
3.1.4 Stichproben
3.1.4.1 Untersuchungsregionen
3.1.4.2 Stichprobe der Fragebogenerhebung
3.1.5 Auswertung
3.2 Strukturierung der Beobachtungen
3.3 Institutionen I: Gerichte:
3.3.1 Organisation der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit
3.3.2 Methodisches Vorgehen der Gerichtsuntersuchung
3.3.3 Zivilgerichte 1. Instanz (Juzgados de Primera Instancia)
3.3.4 Friedensgerichte (Juzgados de Paz)
3.3.5 Untere Bundesgerichte (Juzgados de Distrito)
3.3.6 Lokale Arbeitsgerichte (Juntas Centrales de Conciliación y Arbitraje)
3.3.7 Bundesarbeitsgericht (Juntas Federales de Conciliación y Arbitraje)
3.3.8 Privatrechtliche Ansprüche vor den Strafgerichten
3.3.9 Das Bild der Gerichte in der Bevölkerung
3.3.10 Zusammenfassung: Die Rolle der Gerichte bei der Streiterledigung
3.4 Institutionen II: Schlichtung
3.4.1 Patentabteilung im Wirtschaftsministerium (Departamento de Patentes de la Secretaría de Industria y Comercio)
3.4.2 Generaldirektion für Urheberrechte (Dirección General del Derecho de Autor)
3.4.3 Nationale Versicherungskommission (Comisión Nacional de Seguros)
3.4.4 Technischer Rat (Consejo Técnico) der mexikanischen Sozialversicherung (Instituto Mexicano del Seguro Social, IMSS)
3.4.5 Schlichtungskommissionen in Arbeitsstreitigkeiten (Juntas de Conciliación)
3.4.6 Amt für Rechtshilfe in Arbeitssachen (Procuraduría de la Defensa del Trabajo)
3.4.7 Nationale Bankenkommission (Comisión Nacional Bancaria, CNB)
3.4.8 Schlichtungskommission (Comisión de Conciliación y Arbitraje) in einem genossenschaftlich organisierten Verlag
3.4.9 Revisionskommission für Entlassungen (Comisión Revisora de Destituciones) bei der mexikanischen Staatseisenbahn
3.4.10 Paritätische Disziplinarkommission (Comisión Mixta Disciplinaria) beim Instituto Mexicano del Seguro Social (IMSS)
3.4.11 Kommissionen für Ehre und Gerechtigkeit (Comisiones de Honor y Justicia) in den Gewerkschaften
3.4.12 Polizeidelegationen
3.4.13 Amt für zivile Rechtshilfe (Oficina de la Defensoría de Oficio)
3.4.14 Schlichtungsstellen in einer Wohnanlage der Sozialversicherung (Unidad Independencia)
3.4.15 Arbeitsinspektoren (Inspectores del Trabajo)
3.4.16 Laienrichter in Nayarit (Jueces de Paz, Jueces Auxiliares)
3.4.17 Ejido-Präsident (Presidente Ejidal)
3.4.18 Sozialarbeiterin beim staatlichen Kinderfürsorgewerk (Instituto Nacional de Protección de la Infancia, INPI)
3.4.19 Katholische Priester
3.5 Schlichtung und Entscheidung im Zusammenwirken
3.5.1 Die Verfahrensbedingungen der Gerichte und Schlichtungsinstitutionen
3.5.2 Der Schlichtungsfilter
3.6 Konfliktverhalten
3.6.1 Kläger – Nichtkläger
3.6.2 Gerichtliche Streitbeendigung
3.6.3 Außergerichtliche Streitbeendigung
3.6.4 Zusammenfassung: die drei Wege zur Beendigung privatrechtlicher Konflikte
4. Analyse
4.1 Individuelle Merkmale zur Erklärung des Konfliktverhaltens
4.1.1 Schichtzugehörigkeit
4.1.2 Modernität
4.1.3 Aktivismus
4.1.4 Zusammenfassung
4.2 Theorie der Konfliktform
4.2.1 Komplexität von Interaktionen
4.2.2 Konflikt und Konfliktkomplexität
4.2.3 Konfliktkomplexität und der Dritte im Streit
4.2.4 Systemstruktur und Konflikt
4.2.5 Machtungleichgewicht im Konflikt
4.3 Theorie des Konfliktausgangs
4.3.1 Bewertungskriterien für den Konfliktausgang
4.3.2 Bedingungen des Eingangs von Recht in den Konflikt
4.3.2.1 Allgemeine Voraussetzungen der Wirksamkeit von Recht
4.3.2.2 Niedrige Konfliktkomplexität
4.3.2.3 Verfahren
4.4 Komplexität privatrechtlicher Konflikte in Mexiko
4.5 Konflikte in hochorganisierten Systemen
4.5.1 Konflikte in der Familie
4.5.2 Konflikte auf dem Land
4.5.3 Konflikte im Betrieb
4.5.4 Konflikte in der Wirtschaft
4.6 Konflikte außerhalb hochorganisierter Systeme
Anhang
Literaturverzeichnis
Sachverzeichnis
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Recht und Konflikt: Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko
 3166383824, 9783161602955, 9783166383828

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BEITRÄGE Z U M A U S L Ä N D I S C H E N U N D INTERNATIONALEN PRIVATRECHT

H E R A U S G E G E B E N VOM

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES UND INTERNATIONALES PRIVATRECHT Direktor: Professor Dr. Konrad Zweigert

40

RECHT UND KONFLIKT Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko

von

Volkmar Gessner

19 7 6

J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gessner, Volkmar Recht und Konflikt: e. soziolog. Unters. privatrechtl. Konflikte in Mexiko. - 1. Aufl. Tübingen: Mohr, 1976. (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht; 40) ISBN 3-16-638382-4 eISBN 978-3-16-160295-5 unveränderte eBook-Ausgabe 2022

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© Volkmar Gessner ]. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Buchdruckerei E. Göbel, Tübingen Einband: Großbuchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld als Habilitationsschrift angenommen. Ich danke den Gutachtern Luhmann sowie Dammann und Schümann für ihre eingehenden und mit vielen zusätzlichen Hinweisen versehenen Stellungnahmen. Die empirischen Erhebungen, über die hier berichtet wird, habe ich in den Jahren 1969 und 1970 zusammen mit meiner Frau, Dipl. Soz. Birgit Gessner, durchgeführt. Ein Teil der methodischen Anlage und viele theoretische Aussagen entstanden erst in dieser ehelichen Teamarbeit vor Ort. Es ist daher nicht nur ein Stilmittel, sondern auch ein dankbarer Bezug auf viele gemeinsam erarbeitete Gedanken, wenn dieser Bericht den Autor im Plural sprechen läßt. Zur Vorbereitung der Untersuchung hatte mir die damalige Sozialforschungssteile in Dortmund eine wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeit eingeräumt. Die Datenanalyse erfolgte in den Jahren 1971-1974 am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg. Der Mexiko-Aufenthalt selbst wurde von der Heinrich-HertzStiftung (verwaltet vom Kultusministerium Nordrhein-Westfalen) finanziert. Allen diesen Institutionen sei an dieser Stelle für ihre Unterstützung gedankt. Die Arbeit hätte auch nicht durchgeführt werden können ohne die vielfältige Hilfe, die wir in Mexiko erfahren haben. Dankbar sei hier insbesondere das Instituto de Investigaciones Jurídicas der Mexikanischen Nationaluniversität Héctor Fix Zamudio, Elsa Bieler sowie der Zivilrichter von Tepic, Rubén Hernández de la Torre erwähnt. Das in Mexiko gegebene Versprechen, die Ergebnisse dieser Studie auch in spanischer Sprache herauszubringen und damit auch praktisch nutzbar werden zu lassen, bleibt noch einzulösen. Für die aufmerksame Mithilfe bei der Drudkvorbereitung danke ich sehr herzlich Frau Diersche und Frau Karsten. Hamburg, im März 1976

V. G.

Inhalt 1. Theoretischer Bezugsrahmen der Untersuchung

1

1.1 Konflikte in der Sicht der Rechtswissenschaften

2

1.2 Konflikte in der Sicht der Rechtssoziologie

4

1.3 Umriß eines konfliktsoziologisdien Ansatzes

8

1.4 Zum Aufbau der Arbeit

11

2. Die untersudite Gesellschaft: Mexiko

12

2.1 Auswahlkriterien

12

2.2 Einige relevante Strukturmerkmale

14

2.2.1

Bevölkerung

14

2.2.2

Wirtschaft

18

2.2.3

Agrarstruktur

23

2.2.4

Politisches System

25

2.3 Konflikte im mexikanischen Kontext

27

3. Beobachtung

37

3.1 Methodisches Vorgehen

37

3.1.1

Allgemeine Probleme

37

3.1.2

Mehrspurigkeit der Methodik

38

3.1.3

Fragebogenerhebung

41

3.1.4

Stichproben

43

3.1.4.1 Untersuchungsregionen 3.1.4.2 Stichprobe der Fragebogenerhebung

43 46

Auswertung

48

3.1.5

3.2 Strukturierung der Beobachtungen

50

3.3 Institutionen I: Gerichte:

54

3.3.1

Organisation der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit

3.3.2

Methodisches Vorgehen der Gerichtsuntersuchung

3.3.3

Zivilgerichte 1. Instanz (Juzgados de Primera Instancia)

54 55 . . . .

57

3.3.4

Friedensgerichte (Juzgados de Paz)

69

3.3.5

Untere Bundesgerichte (Juzgados de Distrito)

74

Inhalt

VIII

Lokale Arbeitsgerichte (Juntas Centrales de Conciliación y Arbitraje) Bundesarbeitsgericht (Juntas Federales de Conciliación y Arbitraje) Privatrechtliche Ansprüche vor den Strafgerichten Das Bild der Gerichte in der Bevölkerung Zusammenfassung: Die Rolle der Gerichte bei der Streiterledigung

79 88 95 98 100

3.4 Institutionen I I : Schlichtung 3.4.1 Patentabteilung im Wirtschaftsministerium (Departamento de Patentes de la Secretaría de Industria y Comercio) 3.4.2 Generaldirektion für Urheberrechte (Dirección General del Derecho de Autor) 3.4.3 Nationale Versicherungskommission (Comisión Nacional de Seguros) 3.4.4 Technischer Rat (Consejo Técnico) der mexikanischen Sozialversicherung (Instituto Mexicano del Seguro Social, IMSS) 3.4.5 Schlichtungskommissionen in Arbeitsstreitigkeiten (Juntas de Conciliación) 3.4.6 Amt für Rechtshilfe in Arbeitssachen (Procuraduría de la Defensa del Trabajo) 3.4.7 Nationale Bankenkommission (Comisión Nacional Bancaria, CNB) 3.4.8 Schlichtungskommission (Comisión de Conciliación y Arbitraje) in einem genossenschaftlich organisierten Verlag 3.4.9 Revisionskommission für Entlassungen (Comisión Revisora de Destituciones) bei der mexikanischen Staatseisenbahn 3.4.10 Paritätische Disziplinarkommission (Comisión Mixta Disciplinaria) beim Instituto Mexicano del Seguro Social (IMSS) 3.4.11 Kommissionen für Ehre und Gerechtigkeit (Comisiones de Honor y Justicia) in den Gewerkschaften

101

3.3.6 3.3.7 3.3.8 3.3.9 3.3.10

103 104 106 107 110 111 114 116 117 119 120

3.4.12 Polizeidelegationen 3.4.13 Amt für zivile Rechtshilfe (Oficina de la Defensoría de Oficio) . . 3.4.14 Schliditungsstellen in einer Wohnanlage der Sozialversicherung (Unidad Independencia) 3.4.15 Arbeitsinspektoren (Inspectores del Trabajo) 3.4.16 Laienrichter in Nayarit (Jueces de Paz, Jueces Auxiliares) . . . . 3.4.17 Ejido-Präsident (Presidente Ejidal) 3.4.18 Sozialarbeiterin beim staatlichen Kinderfürsorgewerk (Instituto Nacional de Protección de la Infancia, INPI) 3.4.19 Katholische Priester

122 127

3.5 Schlichtung und Entscheidung im Zusammenwirken 3.5.1 Die Verfahrensbedingungen der Gerichte und Schlichtungsinstitutionen 3.5.2 Der Schlichtungsfilter

138

3.6 Konfliktverhalten 3.6.1 Kläger - Nichtkläger 3.6.2 Gerichtliche Streitbeendigung

149 150 152

129 131 133 134 136 137

138 147

Inhalt 3.6.3 3.6.4

Außergeriditlidie Streitbeendigung Zusammenfassung: die drei Wege zur Beendigung privatreditlidier Konflikte

4. A n a l y s e

IX 154 158 161

4.1 Individuelle Merkmale zur Erklärung des Konfliktverhaltens 4.1.1 Schiditzugehörigkeit 4.1.2 Modernität 4.1.3 Aktivismus 4.1.4 Zusammenfassung

162 164 165 167 169

4.2 Theorie der Konfliktform 4.2.1 Komplexität von Interaktionen 4.2.2 Konflikt und Konfliktkomplexität 4.2.3 Konfliktkomplexität und der Dritte im Streit 4.2.4 Systemstruktur und Konflikt 4.2.5 Maditungleichgewidit im Konflikt

170 170 174 177 179 181

4.3 Theorie des Konfliktausgangs 4.3.1 Bewertungskriterien für den Konfliktausgang 4.3.2 Bedingungen des Eingangs von Redit in den Konflikt 4.3.2.1 Allgemeine Voraussetzungen der Wirksamkeit von Recht . 4.3.2.2 Niedrige Konfliktkomplexität 4.3.2.3 Verfahren

184 184 187 188 190 192

4.4 Komplexität privatreditlidier Konflikte in Mexiko 4.5 Konflikte in hodiorganisierten Systemen 4.5.1 Konflikte in der Familie 4.5.2 Konflikte auf dem Land 4.5.3 Konflikte im Betrieb 4.5.4 Konflikte in der Wirtschaft

194 202 202 210 221 228

4.6 Konflikte außerhalb hochorganisierter Systeme

235

Anhang

247

Literaturverzeichnis

284

Sadiverzeichnis

289

1. Theoretischer Bezugsrahmen der Untersuchung Man muß nicht Anhänger jener absoluten Theorien sein, die den Konflikt als alleinigen Erklärungsfaktor gesellschaftlichen Seins und Wandels auffassen, um sich für Konflikte zu interessieren. Alle Sozialwissenschaften haben sich mehr oder weniger intensiv mit diesem sozialen Phänomen befaßt. Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften, Anthropologie, Soziologie, Sozialpsychologie, Spieltheorie werfen ihre Netze nach ihm aus und fangen jeweils höchst unterschiedliche Aspekte von ihm ein. Unter dem Begriff der Konfliktforschung versucht man seit einigen Jahren, diese verschiedenen Sichtweisen aufeinander abzustimmen und sich gegenseitig befruchten zu lassen. Ein eigener theoretischer Ansatz ist hier jedoch noch nicht in Sicht, so daß man sich einstweilen damit wird begnügen müssen, wenigstens die Ansätze der einzelnen Disziplinen fortzuentwickeln. Dies ist auch das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Wir betrachten Konflikte mit soziologischen Kategorien und versuchen, die noch reidilich unentwickelte Konfliktsoziologie etwas voranzubringen. Nun gibt es viele soziale Erscheinungen, die sich als Konflikte umschreiben und analysieren lassen. Kriege, Streiks, Klassenkämpfe und Revolutionen sind schon lange Gegenstand geistvoller Abhandlungen, und niemand wird bestreiten, daß es sich hier um ein sehr wichtiges Forschungsgebiet handelt. Trotzdem erstaunt es, daß die Konflikte des täglichen Lebens demgegenüber so wenig Interesse gefunden haben. Weniger spektakulär, aber unendlich viel häufiger als die erwähnten gesamtgesellschaftlichen Phänomene sind in allen Sozialbereichen Auseinandersetzungen zu beobachten, deren Ausgang den einzelnen in seiner sozialen und sogar physischen Existenz ebenso tangieren kann. Diese täglichen Konflikte sind allerdings Gegenstand der Rechtswissenschaften sowie der Rechtssoziologie, denn in allen Gesellschaften versucht man, diese Auseinandersetzungen mit Hilfe des Rechts zu steuern und „in geordnete Bahnen zu lenken". Wir wollen uns daher zunächst ansehen,

2

Theoretischer Bezugsrahmen der Untersuchung

ob in den dortigen Forschungsansätzen der Erscheinung des sozialen Konflikts ausreichend Rechnung getragen wird. 1.1 Konflikte in der Sicht der Rechtswissenschaften Die juristische Behandlung von Konflikten, wie sie in den Methodenlehren vorgeschrieben, von der Forschung verfeinert und in der Rechtsprechung praktisch vollzogen wird, ist nicht ohne ihren rechtsphilosophischen Hintergrund zu verstehen. Danach ist das Recht eine „Friedensordnung". „Der Friede und das Recht kommen gemeinsam; das Recht bringt den Frieden, und Herstellung des Friedens ist Voraussetzung für eine Entfaltung des Rechtes. Uberall, wo Recht sich entwickelt, löst es den gewaltsamen Kampf ab und setzt eine friedliche Lösung an seine Stelle. Rechtsverfahren tritt an Stelle von Selbsthilfe." 1 Friede und Ordnung gehören untrennbar zusammen, ohne Recht ist die Gesellschaft chaotisch, anarchisch. Ordnung gewährt Sicherheit im doppelten Sinn, nämlich rationale Kalkulierbarkeit der Zukunft und Schutz vor gewaltsamen Eingriffen in die eigene Interessensphäre. Unter diesem Aspekt bürgt Sicherheit auch für Gerechtigkeit. „In der Gerechtigkeit selbst liegt ein Zug des Berechenbaren, daher Sicheren."2 Alle diese Werte bedingen sich also gegenseitig. Ambivalenzen im Verhältnis zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit oder zwischen Friede und Gerechtigkeit — die meisten Rechtsordnungen verdanken ja ihre Entstehung mehr oder weniger gewaltsamen Auseinandersetzungen - werden zwar gesehen, aber nicht überwunden. Gewalt ist mehr eine historisdie Größe: „(D)urch Ausgestaltung eines Rechtsverfahrens zur Geltendmachung privater Ansprüche gelingt es, in einem über Jahrhunderte sich erstreckenden Entwicklungsprozeß innerhalb derjenigen Sozietäten, die ein höheres Zivilisations- und Kulturniveau erreichen, einen Zustand der Gewaltlosigkeit in den Sozialbezügen der Einzelnen und Gruppen - von den nicht auszurottenden Gewaltverbrechen abgesehen - zu erzielen." 3 In einer Gesellschaft, die sich eine Rechtsordnung gegeben hat, sind gewaltsame Konflikte also schon fast ex definitione ausgeschlossen. Für die gewaltlose Regelung von Konflikten werden Lösungsvorschläge angeboten. Wird von ihnen kein Gebrauch gemacht, so fallen die Konflikte 1 2

3

COING 138; COING 1 4 6 .

ähnlidi

HENKEL

110ff.

HENKEL 111 (meine Hervorhebung, V.G.).

Konflikte

in der Sicht der

Rechtswissenschaften

3

außerhalb des juristischen Interessenbereichs (Problem der Nichtinanspruchnahme von Rechten). Aber selbst Konflikte, die mit Mitteln des Rechts ausgefochten werden, liegen für den Juristen in der Nähe des Pathologischen. Dies ist erklärlich, sind sie doch im Grunde ein Anzeichen für das Fehlschlagen der „Friedensfunktion" des Rechts. „Neid, der haben möchte, was ein anderer hat, Mißgunst, die nicht dulden will, daß ein anderer habe, was man selbst nicht hat, Rachsucht, die einen anderen leiden machen will, was man selbst gelitten hat, legen in Heudielei oder Selbstbetrug das Gewand der Gleichheits- oder Gerechtigkeitsforderung an, und die in der Berechtigung enthaltene Rechtsmacht entartet zu einer Machtbegierde, die sich losgelöst vom Interesse am Gegner auswirken will." 4 Wenn ein Rechtsgelehrter sidi für einen „Kampf ums Recht" ausspricht 5 , rückt er in die Nähe des Kleistschen Michael Kohlhaas, er wird zum Querulanten abgewertet, „der in Gießen drei Prozesse gegen seinen Hausbesitzer anstrengte und übrigens verlor" 8 . Diese Sichtweise ist keine gute Voraussetzung für die Analyse von Konflikten — geschweige denn für Überlegungen über deren positive Funktionen 7 . So haben die Rechtswissenschaften keinerlei Instrumentarium entwickelt zur Feststellung sozialer Konflikte, zur Aufdeckung ihrer Ursachen und zur Verfolgung ihrer Abläufe. Es wird dem politischen System („Rechtspolitik") überlassen, soziale Spannungen aufzuspüren und anzumelden. Von den Rechtswissenschaften werden gesellschaftliche Auseinandersetzungen dabei aber nicht in ihrer Komplexität wahrgenommen, sondern lediglich als Entstehung von „Rechtsbedürfnissen" 8 . Es wird nicht gesehen, daß es sich dabei um einen Wertungsvorgang handelt, der sich aus einer rationalen Aufbereitung der konfliktiven sozialen Situation heraus zu legitimieren hätte. Es gibt kaum Bemühungen, die tatsächliche Wirkungsweise von rechtlichen Regelungen zu überprüfen - der in den Vereinigten Staaten neuerdings gepflogene „impact research" ist ein (im übrigen recht zweifelhaftes) Nebenprodukt der RechtssoziologieDie Rechtsprechung sieht sich frei von Folgenverantwortung und sorgt nicht 4 5

RADBRUCH 2 0 3 f . IHERING.

• WIEACKER 35. Vgl. audi die Meinung des chinesischen Kaisers K'ANG-SHI (16621722): „Diejenigen aber, die streitsüchtig und hartnäckig sind, laßt sie sich vor den Gerichten selbst ruinieren - das ist die Gerechtigkeit, die sie verdienen." Zit. bei COHEN 67. 7

8

V g l . SIMMEL; C O S E R .

Vgl. die Auseinandersetzung mit diesem Konzept bei GESSNER, Soziologische Uberlegungen 233 ff. 9 Vgl. GESSNER, Zusammenarbeit.

Theoretischer Bezugsrahmen der Untersuchung

4

für Rückmeldungen, die über das weitere Schicksal der das Geriditsgebäude verlassenden Konflikte Auskunft geben könnte 1 0 . Die Selektivität der Konfliktbehandlung durch den Juristen zeigt sidi auch - und dies ist wohl sogar der entscheidenste Punkt - in der Methodik der Rechtsanwendung. Die Rechtslehre gibt der Praxis sehr genau die Kriterien an, die für die Bearbeitung eines Streitfalles relevant sind. Es ist das Kennzeichen eines guten Juristen und daher das Ziel eingehender Methodenübungen („Relationen"), diese Selektionsleistung treffsicher und rasch zu vollziehen. Mit Hilfe eines möglichst in sich konsistenten Kategorienrasters wird aus einem in einen jeweils spezifischen sozialen Kontext verwobenen Konflikt ein „Sachverhalt" abstrahiert 11 , aus dem sich dann „Rechtsfolgen" ableiten lassen. Der Jurist erfaßt daher notwendig nur einen (kleinen) Teil der die Konfliktsituation bestimmenden Faktoren. Diese Konfliktbehandlung entspricht dem Selbstverständnis der Rechtswissenschaft. Werden Konflikte als exzeptionelle und pathologische Erscheinungen angesehen, so ist es nur folgerichtig, sich ihrer auf dem schnellstmöglichen Weg zu entledigen. Es ist auch unbestreitbar, daß allein die selektive Realitätsverarbeitung schnelles Entscheiden ermöglicht. Die Rechtswissenschaft als reine Entscheidungswissenschaft ist so rational wie die mathematische Spieltheorie. Wir beabsichtigen hier nicht, auf eine kritische Auseinandersetzung mit der juristischen Denkmethode einzugehen. Festzuhalten ist lediglich der für unseren Zusammenhang entscheidende Gesichtspunkt, daß die Erforschung der „Konflikte des täglichen Lebens", wie wir sie einstweilen genannt haben, von den Rechtswissenschaften nicht oder nur vollkommen unzureichend geleistet wird. Zwar werden weitaus die meisten dieser Konflikte von rechtlichen Regelungen erfaßt, und das Recht gibt daher eine Fülle von nützlichen Hinweisen auf die kritischen Stellen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aber weder bei der Aufstellung der Normen noch bei ihrer Anwendung auf den Einzelfall findet eine adäquate Analyse statt, die uns bei der Aufhellung des Konfliktphänomens weiterzubringen vermöchte. 1.2 Konflikte in der Sicht der Rechtssoziologie Die Rechtssoziologie analysiert, wie das Recht soziales Verhalten erfaßt. Man kann, ohne diesem breiten Forschungsbereich allzusehr Gewalt 10

V g l . ECKHOFF/DAHL-JACOBSON; LUHMANN, F u n k t i o n a l e M e t h o d e ; DERS., R e d i t s -

soziologie 231. 11

V g l . LAUTMANN, J u s t i z 19 f . u n d 6 0 ff.

Konflikte

in der Sicht der

Rechtssoziologie

5

anzutun, drei Schwerpunkte unterscheiden: den Normenaspekt, den Personen- und Rollenaspekt und den Verfahrensaspekt. Soweit Normen von der Soziologie lediglich unter dem Aspekt der „sozialen Kontrolle" 1 2 betrachtet werden, sagt sie uns nicht viel mehr über Konflikte als die Rechtswissenschaften. Beide haben das gleiche Denkschema: Verbot - Nichtbefolgung - Sanktion. Es sind lediglich mehr Normen, nämlich auch die außerrechtlichen, die ins Blickfeld geraten. Normobjekt ist der einzelne. Man erfährt zwar - und dies ist unter anderen Aspekten natürlich ein Mehr an Erkenntnis gegenüber dem juristischen Vorgehen —, unter welchen Bedingungen er zur Anpassung bereit ist. Theorien abweichenden Verhaltens und der Subkulturen helfen hier. Nicht einbezogen wird aber der vom sozialen Handeln des einzelnen betroffene andere, der Gegner, der Partner, der Feind. Unberücksichtigt bleibt die Konfliktstruktur, die soziale Umwelt des Konflikts, der Konfliktverlauf. Vielversprechender ist in dieser Richtung die von PARSONS13 ausgehende, dann aber unter anderen von L U H M A N N 14 fortentwickelte Theorie der Verhaltenssteuerung durch erlernte Erwartungen. Nicht die Gesellschaft oder ihre Institutionen treten dem einzelnen unmittelbar als Normgeber, als Kontrolleure gegenüber. Er wird vielmehr beeinflußt von Informationen oder Vorstellungen darüber, was der andere, mit dem er interagiert, von ihm erwartet („Erwartung von Erwartungen"). In dieser Sicht werden Normen also - über psychische Mechanismen wirksam erstmalig in einem sozialen Verhältnis, im Mit- oder Gegeneinander von Menschen und nicht, wie bei den juristischen oder soziologischen Kontrolltheorien, im isolierten Individuum, im „Normempfänger". Konflikte treten dann auf, wenn auf Erwartungsenttäuschungen normativ und nicht kognitiv reagiert wird, d. h. wenn die Erwartung aufrechterhalten, wenn nicht gelernt wird. Da das soziale System an der Aufrechterhaltung „richtiger" normativer Erwartungen (z. B. Rechtsnormen) interessiert ist, muß es die Abwicklung von Enttäuschungen betreuen und kanalisieren. Eine der vielen Vorkehrungen, die diesem Ziel dienen, ist die Institutionalisierung hauptberuflicher Rollen - der Rollen für Richter. Dieser systemtheoretische Ansatz LUHMANNS gibt zwar bisher überwiegend nur Antworten auf Fragen nach Systemintegration, -Stabilisierung und -Strukturbildung, aber dies erscheint nicht zwingend. Der Ansatz ist ebensogut verwendbar zur Erarbeitung desintegrativen, konflik12

Vgl. insbes.

13

PARSONS/SHILS,

Social System. General Theory.

14

V g l . LUHMANN, R e d i t s s o z i o l o g i e 3 3 ff.

LAPIERE; PARSONS,

Theoretischer

6

Bezugsrahmen

der

Untersuchung

tiven Verhaltens. Allerdings läßt er gleichzeitig wesentliche Fragen offen, nämlich die, welche sozialen Bedingungen welche Erwartungen entstehen lassen und welche Formen der Enttäuschungsabwicklung welchen Interessen dienen. Die Analyse konkreter Konflikte wird durch das Studium funktionaler Beziehungen und äquivalenter Mechanismen zwar gut vorbereitet. Sie muß aber, wenn sie erklären will, noch eine Reihe weiterer Faktoren beachten und auf ihren Einfluß testen. Es ist weder methodisch illegitim noch unfruchtbar, den Blickpunkt der Analyse lediglich auf funktionale Beziehungen innerhalb sozialer Systeme zu lenken. Aber ein solches Vorgehen gibt niemals ausreichend Information, was in einer konkreten sozialen Situation vor sich geht. Gesellschaften bestehen nicht nur aus differenzierten Rollen und Institutionen, sondern auch aus Personen und Gruppen, die sich hinter diesen analytischen Kategorien verbergen, die Interessen haben, Gewinne machen und Verluste erleiden. Solange die konkreten Akteure mit ihrer Macht oder Ohnmacht unberücksichtigt bleiben, ist allenfalls etwas beschrieben über die systematischen Probleme der Gesellschaft schlechthin, aber es ist nichts erklärt, was den Soziologen hier und jetzt umgibt. Ein solches Beispiel gibt etwa SMELSERS strukturell-funktionale Analyse der Industriellen Revolution in England 1 5 . In Stufe 1 des siebenstufigen Modells entstehen „Unzufriedenheiten" mit den wirtschaftlichen Verhältnissen. In den folgenden Stufen treten „Ideen" in das Geschehen, die, wenn sie zur Wirkung kommen, die „Unzufriedenheiten" beseitigen. Während dieses ganzen Prozesses erfährt man nicht, wer unzufrieden ist, wer die Ideen in die Welt setzt und zur Wirkung bringt, wer aus den Problemlösungen Nutzen zieht. Es ist, als ob ein Deus ex machina mit dem Namen Gesellschaft Probleme schafft und dann Mechanismen entwickelt, sich ihrer wieder zu entledigen. Personen und Rollen, die auf Konflikte einwirken, sind ein weiterer Schwerpunkt rechtssoziologischer Forschung 16 . Im Vordergrund stehen Rollen wie der Anwalt, die Polizei, der Vermittler, der ehrenamtliche und dann vor allem der hauptberufliche Richter. Es geht um die Rollenerwartungen und -konflikte und auch um die Personen, aus denen sich die Rollenträger typischerweise rekrutieren. Ein Teil dieser Arbeiten ist eher in die Berufssoziologie einzuordnen. Eine ganze Reihe von Untersuchungen geht jedoch weiter und prüft Vorgänge der Normselektion und -inter15

SMELSER.

16

Die Literatur hierzu ist schon fast unübersehbar. Einen guten Zugang vermitteln

LAUTMANN, R o l l e u n d E n t s c h e i d u n g , u n d ROTTLEUTHNER.

Konflikte

in der Sicht der

7

Rechtssoziologie

pretation, der Sachverhaltskonstruktion, der Kooperation zwischen den verschiedenen in den Konflikt intervenierenden Dritten. Der Konflikt selbst steht allerdings bei alledem nur am Rande. Die Intervention Dritter ist ja immer nur ein Teilaspekt des Streitgeschehens, ein, wie wir vermuten, üblicherweise weit überschätzter Teilaspekt. Man vergißt bei der Lektüre derartiger Studien fast, daß es in Konflikten nicht nur Dritte, sondern auch Erste und Zweite gibt. Parteien also mit ihrem spezifischen sozialen Hintergrund, mit ihren Kalkulationen, Emotionen und Allianzen. Die Komplexität der Konfliktsituation kommt in den Ansätzen mehr zur Geltung, die sich dem dritten Schwerpunkt rechtssoziologischer Forschung widmen, dem Verfahrensaspekt. Gemeint sind hier nicht die Untersuchungen, die rein organisatorischen Fragen nachgehen, etwa wie die Dauer rechtlicher Entscheidungsverfahren verkürzt oder wie den unteren Bevölkerungsschichten Möglichkeiten der Rechtsverfolgung eingeräumt werden können 17 . Die im einzelnen zweifellos nützliche Suche nach Problemlösungen geht meist auf Kosten von Theoriebildung. Gemeint sind Arbeiten, die Verfahren als Handlungsabläufe oder -systeme begreifen und damit versuchen, sowohl der Sozialkomponente - dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Beteiligten - wie auch der Zeitkomponente die Konfliktsituation verändert sich im zeitlichen Verlauf eines Verfahrens — Rechnung zu tragen. Eine theoretisch noch lange nicht hinreichend ausgewertete Fülle von Material ist hierzu von Rechtsethnologen und -anthropologen erarbeitet worden 18 . Seine Aussagekraft beschränkt sich allerdings auf einfache, nichtindustrialisierte Gesellschaftsformen, in denen die Streitbeendigungsverfahren noch wenig ausdifferenziert sind. Die in diesen Forschungen festzustellende Hereinnahme der gesamten Konfliktproblematik in die Analyse der Schlichtungs- und Entscheidungsprozesse ist aus dieser Undifferenziertheit und geringen Strukturierung der untersuchten Gesellschaften selbst zu erklären, nicht aber aus einem bewußt breiten Zugriff bei der Wahl des theoretischen Bezugsrahmens. LUHMANN19 macht dagegen gerade das aus der sozialen Umwelt ausdifferenzierte Verfahren zum Thema. Er analysiert es als soziales System, in dem Umweltinformationen durch systemeigene Regeln gesteuert werden und durch Zusammenwirken der Beteiligten eine systemeigene Wirk17

Vgl.

neben

vielen

anderen

ZEISEL/KALVEN/BUCHHOLZ,

SYKES,

CARLIN/HOWARD/

MESSINGER, BENDER. 18

Vgl.

bei

BOHANNAN,

insbes.

die Beiträge

von

M . GLUCKMAN,

L. NADER,

R. F.

BARTON, E . A . H O E B E L , K . O . L . BURRIDGE. I n t e r e s s a n t ist f e r n e r N A D E R , S t y l e s o f C o u r t

Procedure. " 2

LUHMANN, L e g i t i m a t i o n .

Gcssner, Konflikt

Theoretischer Bezugsrahmen der Untersuchung

8

lichkeit erarbeitet wird. Die Mitwirkung am Verfahren ermöglicht den Abbau von Erwartungen und damit die Verkleinerung von Enttäuschungen. Auch nachteilige Entscheidungen werden als „legitim" anerkannt, Enttäuschungen bleiben folgenlos. Der letztgenannte Punkt - eine zentrale Aussage der Arbeit - erscheint jedoch empirisch nicht gesichert und zeigt das Dilemma auch dieses Ansatzes. Das Verfahrensende wird mit dem Konfliktende gleichgesetzt, so daß nicht weitergefragt wird, was sich eigentlich zwischen den Konfliktparteien nach Rechtskraft der Entscheidung ereignet (man denke etwa an ein abweisendes Ehescheidungsurteil!). Ebensowenig sind die Konfliktbeziehungen vor Verfahrensbeginn berücksichtigt oder die Bedingungen für den Abbruch des Verfahrens (außergerichtliche Vergleiche, Klagerücknahme). Schließlich bleibt im Dunkeln, in welchem Ausmaß Gerichtsverfahren in Anspruch genommen werden oder, konkreter ausgedrückt, wie erklärt werden kann, daß offenbar doch in den allermeisten Konflikten die durch die Einreichung einer Klage ermöglichte Enttäuschungsabwicklung nicht begehrt wird. 1.3 Umriß eines konfliktsoziologischen

Ansatzes

Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie betrachten, wie sich gezeigt hat, nur Einzelaspekte der Konfliktproblematik. Wir sehen nicht, daß eine Kumulierung dieser Ergebnisse dazu führen könnte, ein theoretisch konsistentes Gesamtbild des Konflikts herzustellen. Dafür sind die Perspektiven zu unterschiedlich. Man wird also neu ansetzen müssen, denn die Nachteile des bisher Erreichten liegen auf der Hand: Ein einheitliches soziales Phänomen ist zergliedert, und gerade die Brillanz, mit der einzelne Facetten herausgearbeitet wurden, blendet den Blick auf das Ganze. Die Konfliktsoziologie vermeidet derartige Ausschnittsbetrachtungen. Sie hält den sozialen Vorgang konstant, nicht aber den theoretischen Bezugsrahmen. Sie versucht, soziologische Theorien danach abzufragen, was sie zum Konflikt zu sagen haben, hat aber selbst noch nicht viel an eigener Theorie anzubieten. Dies ist natürlich ein Ubergangsstadium und erklärt sich daraus, daß — von Vorläufern wie S I M M E L abgesehen — die Konfliktsoziologie erst seit etwa zwanzig Jahren als Wissenschaft Gestalt anzunehmen beginnt 20 . Kein einziger Konflikt ist heute nach nur einer Theorieperspektive voll erklärbar. Aufgabe der Konfliktsoziologie ist es, zwischen den verschiedenen Theorieansätzen einen inneren soziologischen Zusam20

BÜHL 9 , 3 6 .

Umriß eines konfliktsoziologischen

Ansatzes

9

menhang herzustellen, um so mit der Zeit zu etwas zu kommen, was sich mit Recht „Konflikttheorie" nennen könnte. Bei der Analyse der Konfliktformen hat man sich immerhin schon auf einige gemeinsame theoretische Perspektiven geeinigt. Dazu gehört 1. die Annahme, daß Konflikte keineswegs einem pathologischen Zustand der Gesellschaft entsprechen, sondern überall eine normale und häufig auftretende Erscheinung sind. Es gibt keine „Friedensordnung" im Sinne eines harmonischen Gesellschaftszustandes. Es kann daher nicht darum gehen, Konfliktsituationen von konfliktfreien Situationen zu unterscheiden, sondern nur darum, die Bedingungen variierender Ausdrucksformen des Konflikts zu untersuchen 21 . Konflikte werden 2. keineswegs nur als destruktive Faktoren im Gesellschaftsleben angesehen. Sie sind ein wichtiges Element sozialer Interaktion. Sie können zur Erhaltung von Gruppen wie auch zur Festigung interpersonaler Beziehungen beitragen, damit also gerade stabilisierend und integrierend wirken. Sie können produktiv sein, indem sie normative Ordnungen modifizieren oder neu schaffen oder auch nur in dem Sinne, daß sie den Kontrahenten oder ihrer sozialen Umwelt überhaupt Normen und Regeln ins Bewußtsein bringen 22 . Aus beiden Gesichtspunkten folgt dann 3., daß Aufgabe der Bewältigung von Konflikten nicht deren Vermeidung, sondern nur deren Regelung sein kann, d.h. es geht nicht um die Beseitigung der Konflikte als solcher, sondern darum, negative soziale Auswirkungen zu verhindern bzw. einzuschränken. Uneinheitlich wird das Bild, wenn man die verschiedenen Konfliktdefinitionen miteinander vergleicht, was einfach daraus zu erklären ist, daß jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Ein allgemein akzeptiertes Element des Konflikts ist das Auftreten sich gegenseitig ausschließender Zielvorstellungen in einem Handlungszusammenhang. Kein Konsens besteht, wo der Konflikt auf dem Kontinuum beginnen soll, dessen einen Pol man mit „Wettbewerb" und dessen anderen Pol man mit „Aggression" umschreiben könnte. Man kann sich die Handlungen der Beteiligten entlang dieser Skala so vorstellen, daß sie anfangs parallel gerichtet sind, sich dann aber zunehmend gegeneinander wenden. Im Augenblick, wo sich diese gegeneinander gerichteten Handlungen berühren, beginnt für uns der 21

DAHRENDORF, Sozialer Konflikt.

22

Vgl.

COSER

142,

151

und

passim.

COSER

führt

seine

Gedanken

auf

SIMMEL,

LLEWELLYN und HOEBEL zurück. Auch LUHMANN sieht ein tolerierbares Maß an offenen» Konflikt als Normalzustand eines sozialen Systems, vgl. DERS., Rechtssoziologie 64. 2 *

10

Theoretischer Bezugsrahmen der

Untersuchung

Konflikt. Daraus formulieren wir folgende Definition: Konflikte sind soziale Situationen, deren Änderung von einer der beteiligten Parteien in der Weise erstrebt wird, daß die Interessen einer anderen Partei gegen deren durch irgendeine Handlungsweise zum Ausdruck gebrachten Willen tangiert werden. Die uns am nächsten stehende Definition aus der konfliktsoziologischen Literatur lautet: „Conflict suggests a special Situation of competition in which both actors are aware of the incompatibility of potential future positions and in which each is strongly impelled to occupy a position incompatible with the perceived interests of the other." 23 Damit kommen wir zum konkreten Vorhaben dieser Untersuchung. Wir hatten gesagt, wir interessierten uns für die „Konflikte des täglichen Lebens". Diese umfassen Streitigkeiten zwischen dem einzelnen und Organisationen wie Behörden oder Wirtschaftsunternehmen, zwisdien Organisationen untereinander sowie Streitigkeiten, an denen nur Individuen beteiligt sind. Wir hatten weiter auf den Umstand hingewiesen, daß jede Gesellschaft diese Konflikte durch Recht zu regeln versucht. Daraus formulieren wir folgendes Untersuchungsziel: Es soll empirisch geprüft werden, welche Konfliktverläufe bei den Konflikten festzustellen sind, für die das Recht eine Regelungsmöglichkeit anbietet. O b die Konflikte von der Gesellschaft als Rechtsverletzung angesehen und verfolgt werden, soll hier nicht axiomatisch angenommen, sondern gerade in Frage gestellt werden. Die rechtlichen Beendigungsverfahren stehen also bei unseren Beobachtungen gleichwertig neben anderen Austragungsweisen sozialer Konflikte. Es interessieren die sozialen Faktoren, die die Konfliktverläufe beeinflussen, sowie die Normen, die in ihnen zur Geltung kommen 24 . Allerdings müssen wir uns beschränken. Alle „Konflikte des täglichen Lebens" in der dargestellten Weise empirisch zu überprüfen, überschreitet den Rahmen einer Einzelforschung. Wir haben uns daher dahin entschieden, nur die Konflikte näher zu verfolgen, für die das Privatredit eine Regelungsmöglichkeit anbietet, wobei wir dieses Rechtsgebiet in dem weiteren Sinn verstanden wissen wollen, der auch das Arbeitsrecht mit einschließt 25 . Solche Konflikte können, soziologisch ausgedrückt, zwischen Individuen, zwischen Gruppen bzw. Organisationen sowie zwischen einem Individuum und einer Gruppe bzw. Organisation auftreten. NORTH. Ein ähnlicher Ansatz wurde für den Bereich internationaler Konflikte bereits versucht bei GESSNER, Richter im Staatenkonflikt. 25 Vgl. ENNECCERUS/NIPPERDEY 2 2 4 f f . ; STAUDINGER 4 f . 23

24

Zum Aufbau

der

Arbeit

11

Diese konfliktsoziologische Perspektive beansprucht nicht, das Gesamtphänomen der Präsenz des Rechts in interpersonalen Beziehungen voll zu erfassen. Dem Recht dürfte, ohne daß dies allerdings jemals empirisch nachgewiesen ist, auch außerhalb der streitigen Interessenartikulation eine gewisse Wirksamkeit zukommen, nämlich als bloße Möglichkeit zu klagen, als Hintergrundswissen, das Konflikte vermeiden kann. Ist jedoch einmal das Verhältnis von Recht und Konflikt bekannt, so wird auch die Rechtsgeltung im Gesamtbereich sozialen Handelns abschätzbar sein. Denn es ist anzunehmen, daß die Wahrscheinlichkeit der Rechtsanwendung im Falle eines Streits auch das (noch) nicht konfliktive Verhalten schon beeinflußt. 1.4 Zum Aufbau

der

Arbeit

Nach der folgenden Darstellung des mexikanischen Kontextes und der methodischen Vorgehensweisen und Probleme berichten wir deskriptiv über einen Teil unserer Ergebnisse. Dies rechtfertigt sich aus dem Umstand, daß man mangels empirischer Untersuchungen in der Konfliktsoziologie sich zunächst ein gewisses Basiswissen aneignen und also explorativ vorgehen muß. Natürlich sind auch hierbei unsere Beobachtungen strukturiert, aber eben auf einem theoretisch relativ niedrigen Niveau. Derartiges Forschungsmaterial dürfte den Vorteil haben, auch für theoretische Ansätze, die sich von unserem wesentlich unterscheiden, Wissen bereitzustellen. Falls wir hierdurch Vorarbeit für andere, insbesondere vielleicht mexikanische Wissenschaftler geleistet haben, hat sich die Mühe dieser Art empirischer Erhebungen gelohnt. Der folgende analytische Teil stellt im einzelnen unseren theoretischen Kategorienraster dar und berichtet über die Meßergebnisse, mit denen es empirisch — allerdings nicht immer quantitativ - getestet wurde. U m den Charakter dieser Studie als empirischer Arbeit zu bewahren, wurde abgesehen von allen vergleichenden Überlegungen, von rechtspolitischen Vorschlägen sowie von einer Diskussion der Ergebnisse im Lichte anderer soziologischer und rechtssoziologischer Theoreme und Aussagen der Rechtstheorie. Die Arbeit bricht daher bewußt dort ab, wo sich eine Fortsetzung in die angegebenen Richtungen geradezu aufdrängt. Wir wollen uns in anderen Studien darum bemühen und hoffen, auch andere dazu anzuregen.

2. Die untersuchte Gesellschaft: Mexiko 2.1

Auswahlkriterien

Die Soziologie beansprucht mit ihren Theorien universale Gültigkeit. Gleichwohl ist festzustellen, daß die große Masse des empirischen Materials, auf dem die Theorien beruhen oder das sie testen soll, in einigen wenigen Gesellschaften, nämlich in den großen Industrienationen, erhoben worden ist. Es erscheint unvermeidlich, daß sich aufgrund dieser Auswahl schwerwiegende Verzerrungen einschleichen. Soweit diese Gefahr wahrgenommen wird und die Aussagen daher bewußt auf die hochindustrialisierten Gesellschaften beschränkt werden, ist ihre Reichweite sehr verringert - der weit überwiegende Anteil der Erdbevölkerung lebt ja nicht in dieser Gesellschaftsform. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt und alles spricht dafür, daß es geschieht —, werden wir bald sehr viel über uns selbst und sehr wenig über die anderen wissen. Dieser Forschungsethnozentrismus erscheint uns wissenschaftlich wie politisdi unerwünscht. Wenn die Soziologie gesellschaftliches Zusammenleben schlechthin erklären will, muß sie zu wirklich universeller Forschung gelangen. Es muß zur Selbstverständlichkeit werden, daß empirische Erhebungen nicht dort angesetzt werden, wo der Forscher zufällig zu Hause ist, sondern dort, wo sie die interessantesten Ergebnisse erwarten lassen. Für die von uns erarbeitete Fragestellung erschien Mexiko die geeignete Untersuchungsregion. Ein einige Jahre zurückliegender Aufenthalt des Verfassers in Lateinamerika hatte Hinweise darauf ergeben, daß sich hier aus einer Reihe von Gründen ein ungewohnt erscheinendes Konfliktverhalten und ein bislang noch nicht beachtetes Streitschlichtungssystem für privatrechtliche Konflikte herausgebildet hat. Eine Ursachenkette geht auf die spanische Kolonialzeit zurück, in der es mit wenigen Ausnahmen - etwa den Jesuitenmissionen - nicht gelungen ist, die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen miteinander in Einklang zu bringen oder auch nur aufeinander abzustimmen. So entstanden ein Rechtssystem und ein Gerichtswesen, die lange Zeit ein Fremdkörper in der Gesellschaft blieben. Die Kolonialherren sahen dies wohl und halfen

Auswahlkriterien

13

sich mit der berühmten Formel „Obedezco mas no cumplo" aus der Klemme. Sie versprachen, dem Recht (des spanischen Königs) zu dienen, erklärten jedoch, es nicht ausführen zu können, da die Verhältnisse dies nicht zuließen. Ein anderer Grund läßt sich darin vermuten, daß die Gesellschaften dieses Subkontinents auch in sich selbst noch nicht zu einer Integration gefunden haben. Traditionelle und moderne Verhaltensweisen, die verschiedenen Kulturformen einer Vielzahl von eingewanderten und einheimischen ethnischen Gruppen leben noch miteinander und gegeneinander fort. Einzelne Subsysteme, wie die einer Reihe von Indiostämmen oder das Wirtschaftssystem, führen praktisch ein Eigenleben, d. h. sie sind nicht etwa ausdifferenziert aus dem Gesamtsystem zur besseren Erfüllung ihrer Aufgaben, sondern sind erst allmählich auf dem Wege, integrierender Teil der Gesellschaft zu werden. Wenn sich, wie wir annahmen, diese gesellschaftliche Zergliederung auf das Konfliktverhalten des einzelnen auswirkt, so bietet sich dem Soziologen in diesen Gesellschaften ein vielversprechendes Arbeitsfeld. Je verschiedenartiger die privatrechtlichen Konflikte ausgetragen werden, desto reichhaltigeres Material ließ sich erwarten. Denn es mußte sich messen lassen, welche sozialen Bedingungen jeweils welche Streitform begünstigen. Eine solche Gegenüberstellung von verschiedenen Streitformen und den unterschiedlichen sozialstrukturellen Voraussetzungen, unter denen sie stattfinden, haben bereits SCHWARTZ und MILLER unternommen 1 - allerdings im interkulturellen Vergleich. Anhand einer Stichprobe von 51 (meist Stammes-)Gesellschaften versuchen sie nachzuweisen, daß das Auftreten folgender Streitintervenienten mit dem Komplexitätsgrad der Gesellschaft variiert: Ratgeber: regelmäßige Inanspruchnahme nichtverwandter Helfer (Anwälte) bei der Beendigung von Streitigkeiten; Schlichter: regelmäßige Inanspruchnahme von neutralen Dritten bei der Beendigung von Streitigkeiten; Polizei: Einsatz einer spezialisierten bewaffneten Macht zur Normerzwingung. Der Komplexitätsgrad (gemessen daran, inwieweit folgende Merkmale vorhanden sind: symbolisches Tauschmittel; Sanktionierung von Straftaten durch Regierungsgewalt; Ausdifferenzierung von Religion, Erziehungswesen und Verwaltung; Schrift) bestimme, ob keiner dieser Streit1

SCHWARTZ/MILLER,

Legal Evolution and Societal Complexity.

14

Die untersuchte Gesellschaft:

Mexiko

intervenienten (niedrigste Komplexität), nur Schlichtung (niedrige Komplexität), Schlichtung und Polizei (mittlere Komplexität) oder zusätzlich auch Anwälte (hohe Komplexität) zu beobachten seien. SCHWARTZ und M I L L E R müssen einräumen, daß ihre Daten nichts aussagen über die Faktoren, die innerhalb einer Gesellschaft zu unterschiedlichen Streitformen führen. Gerade diese Frage scheint uns nun besonders lohnend zu sein, da die Unverbindlichkeit interkultureller Vergleiche, die nur „Entwicklungen" nachweisen können, ersetzt werden kann durch die konkrete Analyse räumlich und zeitlich verortbarer gesellschaftlicher Bedingungen. Im übrigen hören SCHWARTZ und M I L L E R gerade dort auf, wo es eigentlich erst interessant wird, nämlich an der Schwelle zur modernen Industriegesellschaft. In dieser Gesellschaft sind zwar alle drei Streitformen und einige weitere zu beobachten — aber die Inanspruchnahme der Dritten ist nicht „regelmäßig", nicht gleichmäßig, aber auch nicht zufällig. Eine Gesellschaft, die es erlaubt, Streitformen von traditionalen bis in moderne Sozialbeziehungen zu verfolgen und gleichzeitig die institutionelle Struktur (insbesondere die Einrichtungen des politischen und des Rechtssystems) konstant zu halten, mußte ein vielversprechendes Untersuchungsobjekt sein. Eine solche Gesellschaft ist im europäischen Raum nicht anzutreffen. Dagegen erwies sich Mexiko als geeignet. Mexiko ist neben Brasilien und Argentinien auf dem lateinamerikanischen Subkontinent einer der Staaten mit dem größten Wirtschaftspotential. Es hat in den großen Städten eine moderne und mobile Mittelschicht und gleicht insoweit allen anderen Industriegesellschaften. Dies ist die eine Seite. Der überwiegende Teil der Bevölkerung ist ganz anders einzuordnen. Er lebt - großenteils auf dem Land — in traditionellen Familienund Gemeindestrukturen. Für alle gemeinsam „gilt" aber eine moderne Privatrechtsordnung, d. h. es steht allen Konfliktparteien frei, sich ihrer zu bedienen. Diese Gleichzeitigkeit von traditionellen und modernen Strukturen unter einem einheitlichen Recht war eine günstige Voraussetzung, das Verhältnis von Konflikt und Recht auf einer breiten Skala soziologisch denkbarer Variationen zu prüfen. 2.2 Einige relevante 2.2.1

Strukturmerkmale

Bevölkerung

Mexiko nimmt etwa die achtfache Fläche der Bundesrepublik ein und hat eine Einwohnerzahl von 48,4 Millionen (1970), die sich nach der Ortsgröße wie folgt verteilt:

Einige relevante Strukturmerkmale

15

Tab. 1: Verteilung der Bevölkerung nach Ortsgröße (Quelle: Censo General 1970) Ortsgröße nadi Einwohnerzahl

Anteil an der Gesamtbevölkerung «>/o

bis 99 100500 500- 1 000 1 0 0 0 - 2 500 2 500- 5 000 5 000- 10 000 10 000- 20 000 20 0 0 0 - 50 000 50 000-100 000 100 000-250 000 250 000-500 000 mehr als 500 000

3,06 14,28 10,75 13,36 8,54 7,80 7,10 9,56 4,87 7,73 4,08 11,44 100,00

Die Bevölkerung wuchs in den letzten hundert Jahren von 9,1 Millionen (1871) auf 48 Millionen (1970), von denen mehr als die Hälfte unter 19 Jahre alt sind. Aus diesem starken Wachstum - verbunden mit dem schnellen Industrialisierungsprozeß — resultieren hohe Mobilität und rascher Wandel in der Sozialstruktur. Tab. 2: Entwicklung der sozialen Schichten 1940-1960 (Quelle: H. F. CLINE, Mexico, Revolution to Evolution 1940-60, New York 1968, 124)

a) b) c) d) a) b) c) d)

Schicht

1940 °/o

1950 °/o

1960 °/o

Oberschicht Mittelschicht Ubergangssdlicht untere Schicht

2,9 12,6 6,5 78,0

2,0 25,0 20,0 53,0

6,5 33,5 20,0 40,0

100,0

100,0

100,0

Manager, Akademiker u. a. Angestellte, Handwerker, Tediniker mit Fachausbildung oder im Büro kleine Händler, Bergarbeiter, Bedienstete ungelernte Arbeiter, Landarbeiter, Kleinbauern

Während im Jahre 1940 weniger als 16 % der Gesamtbevölkerung den Ober- und Mittelschichten zuzuredinen waren, dürfte sich dieser Anteil

Die untersuchte Gesellschaft: Mexiko

16

bis heute mehr als verdoppelt haben 2 . Die großen Städte bieten je nach Ausbildungsstand eine Vielzahl von Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Tab. 3: Bevölkerung über 6 J a h r e nadi A r t der Ausbildung (Quelle: Censo General 1970) ohne Ausbildung Primarsdiule Sekundärschule Preparatoria (College) Fachschule/Universität

34 55 5 1 6

°/o °/o °/o °/o °/o

100 °/o

Für das Jahr 1970 nennen die Zensusdaten eine Analphabetenquote von 23,8 %>. Die Angaben hierzu schwanken jedoch aufgrund unterschiedlicher Umschreibungen dieses Merkmals. So werden nach einem Bericht der Tageszeitung „Excelsior" vom 4. August 1970 sogar 90 °/o der Landbevölkerung als faktisch analphabetisch eingestuft. Aufgrund der starken Bevölkerungsvermehrung scheint die absolute Zahl der Analphabeten zuzunehmen (1930: 9 Millionen, 1960: 10,6 Millionen). Eine ähnliche Entwicklung ist anhand eines anderen — in Mexiko gebräuchlichen — Einteilungskriteriums zu beobachten. Die Zahl derjenigen, die über kein festes Schuhwerk verfügen (also barfuß gehen oder Sandalen tragen), sank nur in geringfügigem Maß von 10 Millionen (1940) über 12,7 Millionen (1960) auf 9,4 Millionen (1970) 3 . Die Entwicklung der Einkommensverteilung stellt sich bis zum Jahre 1963 folgendermaßen dar: Tab. 4: Entwicklung der Einkommensverteilung 1 9 5 0 - 1 9 6 3 (Quelle: R . D. HANSEN, ThePolitics of MexicanDevelopment, Baltimore 1 9 7 1 , 7 5 ) Percent of Families

1950

Deciles

1950

1957

1963

I II III

10.0 10.0 10.0

10.0 10.0 10.0

10.0 10.0 10.0

2

3

% of Total Income 2.7 3.4 3.8

CLINE 1 1 7 í í . GONZÁLEZ CASANOVA, L a democracia 2 3 3 und Censo General 1 9 7 0 .

Cumulative Income 2.7 6.1 9.9

Einige relevante

Strukturmerkmale

17

Tab. 4 (Forts.) Percent of Families

IV V VI VII VIII IX X

Totals

1950 °/o of Total Cumulative Income Income

1950

1957

1963

10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 5.2 2.4 2.4

10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 5.1 2,6 2.3

10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 5.0 2.5 2.5

4.4 4.8 5.5 7.0 8.6 10.8 9.2 7.5 32.3

100.0

100.0

100.0

100.0

Deciles

1957

14.3 19.1 24.6 31.6 40.2 51.0 60.2 67.7 100.0

1963

% of Total Cumulative °/o of Total Cumulative Income Income Income Income I II III IV V VI VII VIII IX X

Totals

1.7 2.7 3.1 3.8 4.3 5.6 7.4 10.0 14.7 10.1 12.6 24.0 100.0

1.7 4.4 7.5 11.3 15.6 21.2 28.6 38.6 53.3 63.4 76.0 100.0

2.0 2.0 2.5 4.5 4.5 6.0 8.0 11.5 17.5 14.5 11.0 16.0

2.0 4.0 6.5 11.0 15.5 21.5 29.5 41.0 58.5 73.0 84.0 100.0

100.0

Danach hat sich die Einkommensverteilung zuungunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten entwickelt. Die untere Hälfte der Einkommensschichtung erhielt 1950 noch 19,1 °/o des Volkseinkommens, 1 9 5 7 einen Anteil von 15,6 °/o und 1963 einen solchen von 15,5 °/o. Auch das Realeinkommen ist für die niedrigsten Schichten zurückgegangen, während die oberen Schichten (mit Ausnahme der Spitzengruppe) eine Zunahme verbuchen konnten:

Die untersuchte Gesellschaft:

18

Mexiko

Tab. 5: Entwicklung der Realeinkommen 1950-1963 (Quelle: R. D. HANSEN, The Politics of Mexican Development, Baltimore 1971,76) Average Monthly Income (1957 pesos) Deciles I II III IV V VI VII VIII IX X

Percent of Families 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 10.0 5.2 2.4 2.4

1950

1957

1963

247 311 348 403 440 504 641 788 989 1,621 2,858 12,329

192 304 350 429 485 632 835 1,128 1,658 2,233 5,460 11,765

223 223 279 502 502 669 892 1,282 1,952 3,234 4,907 7,137

Die mexikanische Gesellschaft ist heute geprägt von der ethnischen und kulturellen Mischung aus den spanischen Einwanderern und der einheimischen indianischen Bevölkerung. Sie ist eine Mestizengesellschaft. Die Zahl der selbständigen Indio-Sprachen, die bei der Eroberung durch die Spanier noch 150 betragen haben soll, ist auf 53 zurückgegangen 4 . Auch diese Zahl gibt jedoch noch ein täuschendes Bild, denn der Anteil der Bevölkerung ohne Kenntnis der spanischen Sprache beträgt nur 2,17%. Der Zensus von 1970 weist ferner einen Anteil von 5,68 % aus, der sowohl eine Indio-Sprache als auch Spanisch beherrscht. Die ethnischen Minderheiten leben zurückgedrängt in Gebirgsregionen, wo sidi ihre eigenständigen Kulturformen und Produktionsweisen weitgehend erhalten haben. Die Isolation bedeutet wirtschaftliche Stagnation, der verschiedene Hilfsmaßnahmen der Regierung über das Instituto Nacional Indigenista nicht abzuhelfen vermochten. 2.2.2 Wirtschaft Die mexikanische Wirtschaftsentwicklung wird allgemein als eindrucksvoll bezeichnet. Die Zuwachsraten der letzten Jahrzehnte übersteigen nicht nur die der anderen lateinamerikanischen Staaten, sondern halten selbst einem Vergleich mit den Industriestaaten stand. 4

POZAS 6 3 .

Einige relevante Strukturmerkmale

19

Tab. 6: Wachstumsraten ausgewählter Länder (Quelle: R. D. HANSEN, The Politics of Mexican Development,Baltimore 1971,2) Area Latin America (total) Mexico Argentina Brazil Chile Canada U.S.A. U.S.S.R.

Period

Product

Population

Per Capita Product

to to to to to to to to

55.2 79.7 27.2 59.6 41.1 58.3 48.7 52.1

24.2 31.4 20.4 30.2 22.2 23.1 16.4 4.8

25.0 36.8 6.2 22.6 15.5 28.6 27.7 45.1

1935--39 1935--39 1935--39 1935--39 1935--39 1939 1939 1940

1954--56 1960--62 1960--62 1959--61 1960--62 1960--62 1960--62 1960

Für die sechziger Jahre ergibt ein Vergleich innerhalb Lateinamerikas folgendes Bild: Tab. 7: Neuere Wachstumsraten von Lateinamerika (Quelle: R. D. HANSEN, The Politics of Mexican Development, Baltimore 1971,3) Gross Domestic Product Area Latin America Mexico Argentina Brazil Chile Venezuela

Per Capita GDP

1960-66

1967

1968

1960-69

4.6 6.3 2.9 4.1 5.4 5.1

4.5 6.5 1.9 5.0 2.0 6.0

6.1 7.3 4.8 8.3 2.7 5.7

2.2 3.3 1.9 2.6 2.0 1.3

Während Mexiko von 1 9 6 0 - 1 9 6 9 Wadistumsraten von mehr als 6,4 % aufwies, lag der lateinamerikanische Durdischnitt unter 5 % . Gemessen am Gesamtzuwachs oder am Pro-Kopf-Zuwachs, verglichen mit anderen lateinamerikanischen Staaten oder den Industriestaaten, betrachtet für einen längeren Zeitraum oder für die stärksten Wachstumsperioden der einzelnen Länder: die mexikanische Wirtschaft hat in jedem Fall eindrucksvolle Leistungen aufzuweisen 5 . Die öffentlichen Investitionen des Jahres 1973 von insgesamt 56 Milliarden Peso kamen speziell Förderungsprogrammen der Industrie und des Handels sowie dem Verkehrswesen, dem Bergbau und dem Sozial5

H A N S E N 1.

20

Die untersuchte Gesellschaft: Mexiko

sektor zugute. Die privaten Investitionen haben im selben Jahr um 16 % auf 69 Milliarden Peso zugenommen. Dagegen entwickelten sich die ausländischen Direktinvestitionen rückläufig*.

1967 B

1969

1968

öffentliche Investitionen

1970 1971 1972 1973') 'JVofläulige D«len Private Investitionen davon Ausländische Investitionen

Fig. 1: öffentliche, private und ausländische Investitionen 1 9 6 7 - 1 9 7 3 (Quelle: Deutsche Überseeische Bank, Mexico, Rückblick 1973)

Die in Fig. 1 dargestellten Proportionen der öffentlichen, privaten und ausländischen Investitionen geben nur den jeweiligen Jahreszuwachs wieder. Von den ausländischen Investitionen sind nur die Direktinvestitionen erfaßt. Eine Gegenüberstellung der Umsätze der 400 größten Unternehmen Mexikos kam im Jahre 1962 zu folgenden Zahlen: Tab. 8: öffentliche, private und ausländische Kontrolle über die umsatzstärksten Unternehmen Mexikos (Quelle: J O S É L U I S C E C E Ñ A , Los monopolios en México, Diss. Mexico 1 9 6 2 , zit. bei G O N Z Á L E Z CASANOVA, L a Democracia en México, México D. F. 1965, 2 0 7 f.)

umsatz Unternehmen (Mill. Peso) Die 100 größten

Unternehmen

1. Insgesamt 2. Ausländische Kontrolle 3. Starke ausländische Beteiligung 6

°/o

%> d. GesamtUmsatzes aller Unternehmen

100 39

28 038 9 340

100,00 33,31

49,63 16,50

17

4 756

16,96

8,42

DEUTSCHE ÜBERSEEISCHE BANK, Rückblick 1973.

Einige relevante Strukturmerkmale

21

Tab. 8 (Forts.) %> d. GesamtUmsatz Unternehmen

4. Staatsunternehmen 5. Einheimische Privatwirtschaft Die 200 größten

Unternehmen

24

10153

36,21

17,97

20

3 789

13,52

6,74

200

35 370 12 639

100,00 35,73

62,61 22,37

6 449

11,41 18,47

83 39 28

10 436

18,23 29,51

50

5 846

16,53

10,36

300 126

40 077 14 695

100,00 36,64

70,94 25,99

54 32

7166 10 608

17,87 26,45

12,69 18,78

87

7 668

19,04

13,48

400 161

43 643 15 788

100,00 36,20

77,26 28,00

71 36

7 796 10 844

17,86 24,85

13,80 19,19

132

9 215

21,09

16,27

Unternehmen

1. Insgesamt 2. Ausländische Kontrolle 3. Starke ausländische Beteiligung 4. Staatsunternehmen 5. Einheimische Privatwirtschaft Die 400 größten

umsatzes aller °/o

Unternehmen

1. Insgesamt 2. Ausländische Kontrolle 3. Starke ausländische Beteiligung 4. Staatsunternehmen 5. Einheimische Privatwirtschaft Die 300 größten

(Mili. Peso)

Unternehmen

1. Insgesamt 2. Ausländische Kontrolle 3. Starke ausländische Beteiligung 4. Staatsunternehmen 5. Einheimische Privatwirtschaft

Aufgeteilt nach den einzelnen Sektoren wurde das Bruttosozialprodukt in folgender Weise erwirtschaftet:

Die untersuchte Gesellschaft: Mexiko

22

Tab. 9: Produktionsstruktur im Zeitvergleidi (in Prozent vom Bruttosozialprodukt) (Quelle: R.D.HANSEN, The Politics of Mexican Development, Baltimore 1971, 43) Year Category

1940

1945

Agricultural Production Industrial Production Manufacturing Mining Electricity Petroleum Construction Services

23.2 31.0 17.8 4.6 0.9 2.8 4.9 45.8

18.6 34.0 20.8 3.5 0.8 2.4 6.5 47.4

100.0

100.0

Total

1950

1955

1962

1967

20.8 31.0 20.7 2.4 0.9 2.7 4.3 48.2

20.3 31.3 21.1 2.2 1.0 2.7 4.3 48.4

17.2 33.9 23.3 1.6 1.3 3.2 4.5 48.9

15.8 36.7 26.5 1.5 1.5 3.2 3.9 47.5

100.0

100.0

100.0

100.0

Die Beschäftigungsentwicklung wird für die drei Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungsgewerbe wie folgt angegeben: Tab. 10: Beschäftigungsstruktur im Zeitvergleich (in Prozent von der Gesamtheit aller Beschäftigten) (Quelle: R. D. HANSEN, The Politics of Mexican Development, Baltimore 1971, 43) Year

Agriculture

Industry

Services

1940 1950 1960 1964

65.4 58.3 54.1 52.3

12.7 15.9 19.0 20.1

21.9 25.7 26.9 27.6

Wegen der Unregelmäßigkeit der Beschäftigung und der vielen Stufen der Unterbeschäftigung sind genaue Daten zur Arbeitslosigkeit in Mexiko nicht zu ermitteln 7 . Nach Schätzungen des mexikanischen Arbeitsministeriums sind gegenwärtig über 40 % der erwerbsfähigen Bevölkerung Mexikos arbeitslos oder unterbeschäftigt. Daneben beziehen über 4 0 % der erwerbsfähigen Bevölkerung nicht den gesetzlidi festgelegten Mindestlohn und lediglich 20 % genießen den Schutz kollektiver Arbeitsverträge. Waren vor 20 Jahren noch 32 %> der Bevölkerung erwerbstätig, so sind 7

SOLIS 2 4 9 .

Einige relevante

Strukturmerkmale

23

es derzeit nur noch 27 % . Nach der gleichen Quelle wäre bei vorsichtiger Schätzung die Schaffung von jährlich 6 0 0 0 0 0 neuen Arbeitsplätzen erforderlich, um der zunehmenden Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung Einhalt zu gebieten 7a . 2.2.3

Agrarstruktur

Die mexikanische Agrarreform, die nach der Revolution 1910 bis 1920 einsetzte, hat eines ihrer Hauptziele erreicht: die Abschaffung der semifeudalen Hacienda und des Vasallentums. Nicht erreicht wurde bis heute jedoch ein anderes Ziel: die Verteilung des Landes an die, die es bearbeiten. Hier hat man allenfalls die halbe Strecke zurückgelegt und wird - schon wegen des Umstandes, daß die besitzlose Landarbeiterschaft in absoluten Zahlen noch zunimmt — auch nicht weiter vorankommen. 3,3 Millionen Arbeitskräfte umfaßt dieses Landproletariat und stellt damit mehr als die Hälfte der ökonomisch aktiven Bevölkerung auf dem Land. Von dem in der Landwirtschaft erzielten Einkommen fallen ihm nur 8 %> zu. Immerhin sind 3 Millionen Bauern in den Besitz eigenbewirtschafteten Landes gekommen — allerdings nur in Form von Minifundien von im Durchschnitt fünf Hektar, die gerade ausreichen, um die Grundbedürfnisse einer Subsistenzwirtschaft abzudecken. N u r 15 % der Bauern kann man als wohlhabend bezeichnen. Sie stellen 7 % der ökonomisch aktiven Landbevölkerung, beziehen aber 4 6 % des gesamten in der mexikanischen Landwirtschaft erzielten Nettoertrages 8 . Im einzelnen ergibt sich zur Sozialstruktur auf dem Land folgendes Bild: a) Die besitzlosen Landarbeiter sind nur zu einem kleinen Teil auf größeren Gütern oder Plantagen fest angestellt. Alle übrigen arbeiten als Tagelöhner oder Saisonarbeiter, müssen oft in entfernten Gegenden Anstellung suchen und entbehren jeder arbeits- und sozialrechtlichen Sicherheit und einer ausreichenden ärztlichen Versorgung sowie schulischen Erziehung der Kinder. Zwar richtet die Politik des gegenwärtigen Präsidenten Echeverría mehr Augenmerk auf die Probleme der Landbevölkerung. Ein grundlegender Wandel der Landverteilungspolitik ist aber auf lange Sicht nicht zu erwarten, so daß allenfalls 15 bis 20 % des Landproletariats auf Zuteilung eigenen Besitzes hoffen können. Dem Rest bleibt die Wahl zwischen dem sehr niedrigen Lebensstandard auf dem 7"

8

3

DEUTSCHE ÜBERSEEISCHE BANK, W i r t s c h a f t s b e r i c h t M ä r z 1 9 7 4 , S. 2 8 .

Alle Daten dieses Absdinitts aus STAVENHAGEN 11 ff.

Gessner, Konflikt

24

Die untersuchte Gesellschaft:

Mexiko

Land und der unter vielen Aspekten problematischen Ansiedlung in den Randzonen der großen Städte. b) Über die Hälfte der Bauern lebt in genossenschaftlich organisierten Einheiten, sei es in Ansiedlungen mit nicht-aufteilbarem Landbesitz (Weiden, Wälder), sei es in der aus der präkolumbianischen Zeit wieder zum Leben erweckten Form des Ejidos, der ebenfalls gemeinsam bewirtschaftet wird oder aber parzelliert ist. Entsprechend der individualisierenden Tendenz der kapitalistisch orientierten Politik Mexikos sind die kollektiven Bewirtschaftungsformen stark rückläufig, so daß der parzellierte Ejido der bei weitem häufigste Genossenschaftstypus ist. Jedem Ejidatario ist hier Landbesitz von im Durchschnitt 6,5 Hektar zugeteilt, den er vererben, aber nicht veräußern, verpachten oder belasten darf. Der Ejido wird durch gewählte Gremien verwaltet, die die Außenkontakte mit den verschiedenen Bundes- und Landesbehörden sowie den Banken aufnehmen. Auch ins Ausland bestehen gelegentlich Verbindungen. So hat im Staat Nayarit ein Ejido einen Handelsvertrag mit Polen, in dessen Erfüllung Rohtabak gegen Traktoren getauscht werden. Gleichwohl ist die Einbindung des Ejidos in das politische System Mexikos nicht zu übersehen. Die Schwierigkeiten, Kredite, Bewässerungsanlagen, Elektrizität, Zufahrtsstraßen etc. zu bekommen oder auch nur das meist seit Jahrzehnten im Landwirtschaftsministerium schwebende Ejido-Anerkennungsverfahren zum Abschluß zu bringen, bewirken, daß die Ejidatarios immer weiter in Abhängigkeit zum Staat geraten und sich dessen Interessen unterwerfen müssen. Ihre wirtschaftliche Situation ist daher alles andere als gesichert: Obwohl sie die Hälfte der Bauernschaft stellen, fließen ihnen nur 33 % des in der Landwirtschaft verdienten Einkommens zu. c) Die selbständigen Bauern — also die andere Hälfte der Bauernschaft können nicht als Einheit gesehen werden, sondern nur unter Berücksichtigung ihrer ausgeprägten Schichtung. Zu zwei Dritteln handelt es sich um Eigentümer von Flächen unter 5 Hektar, also von Minifundien, deren Erträge kaum das Existenzminimum einer Familie hergeben. Wenn möglich schaffen sich diese Bauern eine Nebenerwerbstätigkeit als Tagelöhner auf benachbarten Plantagen, im Handel oder auch bei der Herstellung von Kunstgewerbeprodukten. In jedem Fall sehen sie sich monopolistischen Strukturen des ländlichen oder städtischen Bürgertums gegenüber, denen sie mangels jeglicher politischer Organisation ihrer Interessen nichts entgegenzusetzen haben. Ihre Zahl wird mit 900000 Familienhäuptern angegeben. Sie stellen 31 %> der Bauernschaft und beziehen 13 % des Agrareinkommens.

Einige relevante

Strukturmerkmale

25

Darüber liegt ein wohlhabender bäuerlicher Mittelstand mit etwa 400 000 Anwesen bis zu einer Größe von 200 Hektar - der Grenze des in Mexiko zulässigen Einzelbesitzes. Diese Grenze ist allerdings keine reale. Durch Zusammenlegung von auf den Namen von Familienangehörigen und Strohmännern laufenden Anwesen sind etwa 42 000 Plantagen und Güter neu entstanden, die dem Großgrundbesitz zuzurechnen sind und 84 % der in Privatbesitz befindlichen landwirtschaftlichen Fläche einnehmen. Hinter den als Eigentümer ausgewiesenen Personen stehen Familien des städtischen Großbürgertums und vielfach in- und ausländische Unternehmen. Sie sind auf Bundesebene organisiert in „KleinbauernVerbänden", die im politischen und wirtschaftlichen Bereich von allergrößtem Einfluß sind. Bäuerlicher Mittelstand und Großgrundbesitz stellen 15°/o der gesamten Bauernschaft und beziehen 4 6 % des Agrareinkommens. 2.2.4

Politisches System

Die Struktur des politischen Systems wird bestimmt von der herrschenden Staatspartei P R I (Partido Revolucionario Institucional), dem Präsidenten und den Berufsverbänden. Zwar bestehen neben der P R I weitere P a r t e i e n - P a r t i d o Acción Nacional ( P A N ) und Partido Popular Socialista ( P P S ) —, doch wird ihnen eine wirksame politische Tätigkeit oder gar Opposition nicht gestattet. Die P R I besetzt alle wichtigen staatlichen Stellen und Richterämter und ist mit allen politisch irgendwie relevanten Interessen im Staat eng verflochten. Eine parlamentarische Kontrolle findet nicht statt. Fast alle Gesetzentwürfe der Regierung werden einstimmig verabschiedet. Die Partei gliedert sich organisatorisch in drei Sektoren: sector obrero (Arbeiterschaft), sector campesino (Landwirtschaft), sector popular (Mittelstand). Der sector obrero wird aus einer Vielzahl von Gewerkschaftsverbänden und Fachgewerkschaften gebildet. Der bei weitem wichtigste Verband ist die C T M (Confederación de Trabajadores de Mexico). Die dort zusammengeschlossenen Gewerkschaften sind kollektive Mitglieder der P R I , so daß alle CTM-Gewerkschaftler automatisch der P R I angehören. Der sector campesino hat als breite Organisationsbasis die C N C (Confederación Nacional Campesina), die für sich in Anspruch nimmt, 98 °/o der erwachsenen Landbevölkerung zu erfassen. In Unterverbänden sind 3*

Die untersuchte

26

Gesellschaft:

Mexiko

Ejido-Bauern, selbständige Kleinlandwirte und Landarbeiter organisiert, die in regionalen und lokalen Komitees vertreten und koordiniert werden. Der sector populär hat ein sehr breites soziales Spektrum: Handwerker, Kaufleute, Genossenschaftler, Bankangestellte, Angehörige freier Berufe, Staatsbedienstete etc. Für alle drei Sektoren gilt, daß die Parteimitgliedschaft nur sehr beschränkt im Belieben des Bürgers steht, da die Ausübung der in der PRI zusammengefaßten Berufe zum Teil automatisch einen Beitritt bewirkt und zum Teil ihn faktisch zur Voraussetzung hat 9 . In dieser Organisationsform stellt die PRI einen fast allmächtigen Kontrollmechanismus dar, der allerdings intern die begrenzte Artikulation von Gruppeninteressen zuläßt. Außerhalb der PRI stehen die - in Mexiko in ihrer politischen Betätigung stark eingeschränkte - katholische Kirche und die Unternehmer. Letztere sind durch starke Verbände vertreten und haben unmittelbaren - also nicht durch die PRI vermittelten Zugang zum Präsidenten. Auch das Militär ist in der PRI nicht (mehr) vertreten, jedoch eng mit ihr verbunden. Sein Gewicht ist aber für lateinamerikanische Verhältnisse außerordentlich gering, was sich auch darin ausdrückt, daß der Verteidigungshaushalt seit langem einen Anteil von unter 10 °/o am Gesamtbudget hat. Die Stellung des Präsidenten ist - gerade weil ihm das höchst wirksame Kontrollinstrument der PRI zur Verfügung steht - für die Dauer seiner nicht-verlängerbaren sechsjährigen Amtszeit außerordentlich stark. Er bestimmt über die Vergabe wichtiger wie unwichtiger Stellen, kann faktisch ohne jede rechtliche Bindung Macht ausüben und wird - auch wenn man von der durch die Regierung (über die Zuteilung von Zeitungspapier) ausgeübten Pressezensur absieht - in der Öffentlichkeit nicht kritisiert. Er sieht sich einer aus der traditionellen „Caudillo"-Vorstellung stammenden Erwartungsstruktur gegenüber, alles regeln zu können und in Krisen größte Härte zu zeigen. Dafür kann er unbedingte Loyalität fordern. So ist etwa auch die Häufigkeit von Streiks nicht ein Zeichen politischer oder wirtschaftlicher Unzufriedenheit, sondern im Gegenteil ein Zeichen der Arbeitnehmerfreundlichkeit des Präsidenten, der für solche Aktionen grünes Licht gegeben haben muß. Das politische Ubergewicht des Präsidenten nimmt auch der föderalistischen Struktur Mexikos alle Realität. Er kann ohne Schwierigkeiten den Gouverneur eines Einzelstaates absetzen oder zur Abdankung zwin9

FURTAK 3 6 ff.

Konflikte

im mexikanischen

Kontext

27

gen und greift ständig in die politischen Kompetenzen der Provinzmachthaber ein. Deutlich wird die Macht der Zentralregierung auch in ihrem Budget, in das 9 0 % aller Staatseinnahmen eingehen. Jedes größere Projekt der Einzelstaaten bedarf der finanziellen Hilfe des Bundes. Noch größer ist die finanzielle Abhängigkeit der Gemeinden, deren von Art. 115 der Verfassung garantierte Selbstverwaltung daran scheitert, daß sie nur über weniger als 2 °/o der Staatseinnahmen verfügen können. 2.3 Konflikte

im mexikanischen

Kontext

Die Häufigkeit von privatrechtlichen Konflikten ist zunächst abhängig davon, wie oft private Rechte verletzt werden. Nach unserer Konfliktdefinition ist aber auch dann, wenn eine Rechtsverletzung vorgekommen ist, noch nicht per se ein Konflikt gegeben. Hinzukommen muß der Wille des Verletzten, sich dagegen zu wehren. Es ist in jeder Gesellschaft eine tägliche Erscheinung, daß gekaufte Waren fehlerhaft sind, daß Eigentumsrechte gestört und die Bedingungen von Arbeitsverhältnissen verletzt werden. Keineswegs entstehen aber daraus immer interpersonelle Konflikte. Die hier gestellte Frage wäre also so zu formulieren, wie häufig Rechtsverletzungen begangen und vom Geschädigten nicht ohne weiteres hingenommen werden. Die Frage nach der Häufigkeit der Verletzung privater Rechte ist quantitativ weder für Mexiko noch für irgendeine andere Gesellschaft zu beantworten. Allerdings ist eine grobe Einschätzung durch verschiedene Beobachtungen und Vergleiche mit anderen Rechtsordnungen möglich. Zunächst scheint es uns zulässig, die Kriminalstatistik als Indikator auch für die Frequenz der Verletzung nicht strafrechtlich geschützter Rechtsgüter heranzuziehen. Um die Dunkelziffer gering zu halten, nehmen wir nicht die Zahl aller bekanntgewordenen Straftaten, sondern nur die Quote der Tötungsdelikte. Sie beträgt, gleichbleibend berechnet für die Jahre 1965, 1966 und 1967, 19 vorsätzliche und vollendete Tötungen auf 100000 Einwohner für die Republik Mexiko 10 . Die Vergleichszahl für die Bundesrepublik Deutschland (1967) lautet 1 u . Weitere Hinweise geben psychologische, soziologische und anthropologische Arbeiten, die die starke Aggressivität und geringe Normbindung im sozialen Verhalten des Mexikaners betonen und sich im 10 11

Anuario Estadístico de los Estados Unidos Mexicanos 1966-1967, 99 ff. Statistisches Jahrbuch 1969, 105.

Die untersuchte

28

Gesellschaft:

Mexiko

wesentlichen nur darin unterscheiden, wie diese Phänomene zu erklären sind. GONZÁLEZ P I N E D A setzt schon im Titel seiner Arbeit (El Mexicano Psicología de su destructividad) diese Eigenschaften als gegeben voraus. Er sieht zwei Ausdrucksformen destruktiver Einstellung: Lüge und Aggression. Die erstere hält er in Mexiko in allen ihren Formen für sozial akzeptiert, das Aufdecken einer Unwahrheit erzeuge keine Überraschung und keine ethische Disqualifizierung 12 . „Die Delikte, die sich auf Unwahrheiten und Betrügereien gründen, multiplizieren sich bis ins Unzählbare." 1 3 „In Mexiko weiß jedermann einschließlich der kleinen Kinder, daß man sich auf nichts, aber auch gar nichts, was mündlich oder schriftlich vereinbart ist, verlassen kann." 1 4 Die andere destruktive Ausdrucksform, die offene Aggression, sei gleichfalls in allen Lebensbereichen an der Tagesordnung. Politik und Wirtschaftsleben seien ohne sie nicht verständlich, die Frau als Mutter, als Ehefrau, als Geliebte sei ihr tägliches Opfer. Aggressionen forderten im Straßenverkehr einen hohen Blutzoll, und selbst die Kommunikation unter Freunden erfordere ständige und möglichst verletzende Attacken 15 . SAMUEL R A M O S verweist auf einen Mangel an Planung, an Disziplin, an Organisation und sieht die mexikanische Gesellschaft als „ein Chaos" an, „in dem die Individuen vom Zufall hin und her gerissen werden wie verstreute Atome" 1 6 . In einem Leben ohne Zukunft könne es keine Normbindung geben. Insbesondere das Leben in den Städten sei beherrscht von gegenseitigem Mißtrauen, was ständig zu Konflikten führe: „Der Mißtrauische lebt in ständiger Furcht, ständig alarmiert, bereit zur Defensive. Er ist argwöhnisch bei jeder Geste, jeder Bewegung, jedem Wort. Überall glaubt er einem Gegner gegenüberzustehen. In dieser Hinsicht gerät der Mexikaner in unglaubliche Extreme, seine Wahrnehmungsfähigkeit ist schlechthin anomal. Wegen seiner Überempfindlichkeit zankt sich der Mexikaner ständig. Er wartet schon gar nicht mehr, bis man ihn angreift, er kommt anderen zuvor, indem er sie verletzt. Oft sind unnötige Delikte das Resultat solcher pathologischer Reaktionen." 1 7 Der Mexikaner sei psychisch unausgeglichen und daher leidenschaftlich, aggressiv, streitsüch-

tig 18 . Komplexer ist das Bild, das

OCTAVIO PAZ19

von seinen Landsleuten

12

V g l . GONZÁLEZ P I N E D A 2 9 .

13

GONZÁLEZ PINEDA 4 0 .

14

GONZÁLEZ P I N E D A 4 7 .

15

GONZÁLEZ P I N E D A 7 3 FF.

18

RAMOS 5 9 .

17

RAMOS 6 0 .

18

RAMOS 6 1 .

19

PAZ, El laberinto.

Konflikte

im mexikanischen

Kontext

29

entwirft. Sie leben nach ihm in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen maskenhafter Abschirmung nach außen und exuberanten Festen, zwischen Unterworfensein und Unterwerfung, zwischen Todesfurcht und Todesverachtung. Daraus resultieren intrapersonale, interpersonale und gesamtgesellschaftliche Konflikte bis hin zu den Ereignissen von Tlatelolco im Jahre 1968, der blutigen Unterdrückung von Studentendemonstrationen kurz vor den Olympischen Spielen in diesem Land 2 0 . Deutliche Hinweise auf geringe Normbindung im Sozialverhalten des Mexikaners finden sich auch in der Feldstudie, die G E O R G E M. F O S T E R in Tzintzuntzan über Jahre hinweg durchgeführt hat 2 1 , und in allen anthropologischen Arbeiten von O S C A R LEWIS 2 2 . Die methodischen Mängel aller dieser Studien, auf die R . B E J A R N A V A R R O 2 3 von einem allerdings sehr positivistischen Standpunkt aus hinweist, mindern zweifellos ihren Erklärungswert. Ihre Ubereinstimmung hinsichtlich der Aussagen, auf die wir unsere Argumentation stützen, scheint uns jedoch ein guter Indikator zu sein für die Richtigkeit dieser Hypothesen. Jedenfalls scheint uns aus allen diesen Beobachtungen hinreichend belegt, daß Rechtsverletzungen in Mexiko eine besonders häufige Erscheinung sind. Was uns weniger sicher erscheint, ist die Antwort auf die Frage, wie oft aus diesen Rechtsverletzungen Konflikte entstehen, d. h. nach unserer Definition, wie oft der Verletzte danach trachtet, die ihn benachteiligende Situation zu seinen Gunsten zu verändern. Das Frustrations-Aggressionsmodell ist ja keineswegs die einzige Dimension sozialer Konflikte. Es können noch psychische Mechanismen ins Spiel kommen, die wir Konfliktvermeidungsstrategien nennen wollen. Die durch die Rechtsverletzung geschaffene nachteilige Situation wird als normal definiert, so daß kein innerer oder äußerer Zwang zu Gegenaktionen empfunden wird. Der „schlechte Charakter" oder die „mangelnde Kultur" des Mexikaners, die Klassenlage oder allgemein das Schicksal dienen als Begründung, das geschehene Unrecht nicht als individuelles, sondern als kollektives anzusehen. Damit wird es unabänderlich 24 — sofern es überhaupt noch als Unrecht empfunden wird. Sprichwörter helfen hierbei: Un bien con un mal se paga (Jede gute Tat wird mit einer schlechten vergolten). Derartige Strategien, die eng mit fatalistischen Einstel-

20

PAZ, Posdata.

21

FOSTER 1 0 8 .

22

LEWIS, Tepotztlán 293, 2 9 7 ; DERS., Die Kinder von Sánchez 197, 234.

23

B É J A R NAVARRO p a s s i m .

2 4 Ein kämpferisches Klassenbewußtsein CASANOVA, Enajenación passim.

fehlt in Mexiko völlig; vgl. GONZÁLEZ

30

Die untersuchte Gesellschaft:

Mexiko

lungen korrelieren 25 , schnüren solche (potentiellen) Konflikte frühzeitig ab, in denen die Rechtsverletzungen in der sozialen Hierarchie von oben nach unten erfolgten, in denen also die Forderung von unten nach oben durchgesetzt werden müßte. Es handelt sich hier um das bekannte „traditionale" Verhaltensmodell, dem es entspricht, alle Lebensumstände zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen. Unterschichten und Landbewohner - in Entwicklungsländern immer der überwiegende Teil der Bevölkerung - definieren ihre Situation so, daß kaum Motivationen entstehen zur aktiven Veränderung ihrer Lage. Man wird daher sagen können, daß Konflikte gerade eine „moderne" Verhaltensform sind, womit wir uns zwar nicht gegen die Beobachtungen der angeführten Kritiker der mexikanischen Gesellschaftsform wenden, wohl aber gegen ihre Bewertungen. Die von ihnen geschilderten Phänomene, die durchaus auch unserer Primärerfahrung während unseres Mexikoaufenthalts entsprechen, sind nichts anderes als das sichere Kennzeichen einer sich rasch wandelnden Gesellschaft. Aus unserer Untersuchung seien vorgreifend einige Zahlen wiedergegeben. Von den 500 Befragten gaben 305 an, in letzter Zeit einen oder mehrere privatrechtliche Konflikte gehabt zu haben. Insgesamt wurde uns von 383 Konflikten berichtet. 195 nannten keinen Konflikt. Zur richtigen Interpretation dieser Zahlen ist folgendes anzumerken. Schon theoretische Überlegungen ergaben, daß die Feststellung von interpersonalen Konflikten mittels einer Befragungsaktion schwierig sein müsse. Der einzelne stellt sich nach außen gern als friedlicher Mitbürger dar, der sich mit seiner sozialen Umgebung zu arrangieren weiß, ohne in Streitigkeiten zu geraten. Um das Ausmaß dieser Einstellung zu testen, fügten wir in unseren Fragebogen folgende Frage ein: „Angenommen, der Sohn Ihrer Nachbarn zerschlägt versehentlich Ihre Fensterscheiben und Sie fordern dafür Schadensersatz. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn andere Nachbarn von der Angelegenheit erführen? Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn unbekannte Personen von der Angelegenheit erführen?" Da es sich hier um einen fiktiven Streitfall handelte, konnte ohne die Überwindung von Schuldgefühlen geantwortet werden. Es ergaben sich zunächst folgende Zahlen:

25

V g l . KAHL 18 f.; LEVIS, T e p o t z t l a n 302, 304.

Konflikte

im mexikanischen

Kontext

31

Tab. 11: Haltung zur Publizität eigener Streitfälle (n = 500) 2 6 Kenntnis erhalten andere Nachbarn unbekannte Personen ja, die Sache betrifft nur midi und meinen Nachbarn nein, es würde mir nichts ausmachen keine Antwort

237 (47 «/o)

222 (44 Vo)

257 (51 °/o) 6 (1 % )

270 (54 °/o) 8 (2 o/o)

500 ( 1 0 0 % )

500 (100 %>)

Etwa die Hälfte aller Befragten fürchtet also die Publizität eigener Streitfälle, wobei die Scheu vor dem Klatsch der Nachbarn nur um ein geringes stärker ist als die Furcht davor, auch unter fremden Leuten als rechthaberisch und streitsüchtig bekannt zu sein. Diese verbreitete Haltung war zweifellos keine günstige Voraussetzung zur Durchführung einer Befragung über das eigene Konfliktverhalten in der Vergangenheit. Unsere Pretests ließen sehr deutlich diese Schwierigkeiten erwarten. Stereotyp bekamen wir immer zu hören: „Ich habe noch nie mit anderen Leuten Streitigkeiten gehabt". Wir entschlossen uns daher, im Interview Konflikte zunächst als etwas Selbstverständliches hinzustellen und dann bewußt suggestiv auf den Befragten einzuwirken, über eigene Konflikte zu berichten. Stimulus und Frage bekamen folgenden Wortlaut: „Die Mexikaner haben es in ihrer Geschichte immer verstanden, ihre Rechte gegenüber anderen zu verteidigen. Diese Tradition zeigt sidi darin, daß der Mexikaner auch in seinem Privatleben nicht alles Unrecht hinnimmt, das ihm andere zufügen. Sicherlich wären auch Sie nicht einverstanden, wenn andere Ihr Grundstück in Besitz nehmen, die Fenster Ihres Hauses zerschlagen, Ihnen den Lohn nicht bezahlen, Ihnen geliehenes Geld nicht zurückgeben. Sicherlich erinnern Sie sich, solche oder ähnliche Schwierigkeiten mit anderen Leuten gehabt zu haben. Könnten Sie uns einige davon aus der letzten Zeit angeben?"

Natürlich bleibt die Frage offen, ob wir auf diese Weise alle Konflikte, an die sich die Befragten erinnern konnten, aus ihnen herauszulocken vermochten. Versuchsweise haben wir die Antworten gekreuzt mit der in Tab. 11 dargestellten generellen Haltung der Befragten zur Publizität

26

Alle Tabellen dieser Arbeit sind signifikant auf dem 5°/o-Niveau, vgl. 3.1.5.

32

Die untersuchte

Gesellschaft:

Mexiko

eigener Streitfälle unter unbekannten Personen (eine solche ist z.B. der Interviewer). Das ergab folgendes Bild: Tab. 12: Generelle Publizitätssdieu bei Konflikten und Angabe eigener Konflikte im Interview (n = 500; keine Antwort: 8) berichtet von Konflikt keinem Konflikt Publizität unter unbekannten Personen stört stört nicht

108 ( 5 7 % ) 83 ( 4 3 % )

114 ( 3 8 % ) 187 ( 6 2 % )

191 ( 1 0 0 % )

301 ( 1 0 0 % )

Deutlich ablesbar ist hier, daß die Befragten, die uns im Interview keinen Konflikt angaben, überwiegend auch gegen die Publizität eigener Konflikte eingestellt waren. Umgekehrt befindet sich unter denen, die sich an Publizität nicht stören, auch die Mehrzahl derer, die uns über Konflikte berichten. Was folgt daraus? Wir meinen, es folgt daraus nicht, daß uns die „Konfliktlosen" aus Scheu vor Publizität ihre Streitfälle einfach verschwiegen haben. Denn es kann sein - und dies ist eine Hypothese, die wir im analytischen Teil der Arbeit entwickeln werden - , daß es aus Scheu vor Publizität, aus Angst, bei Nachbarn oder auch nur Fremden als unfriedlich angesehen zu werden, gar nicht erst zum Konflikt kommt. Dann aber sagen uns die Publizitätsscheuen die Wahrheit, wenn sie im Interview angeben, keinen Streit gehabt zu haben. Wir meinen daher, daß wir trotz der angedeuteten Gefahr, daß uns Konflikte verschwiegen wurden, mit keiner ins Gewicht fallenden Verzerrung zu rechnen haben. Stimulus, Suggestivfrage und zudem die Intervieweranweisung, auf diesem Punkt zu insistieren und dem Befragten Zeit zu geben, sich an Streitigkeiten zu erinnern, dürften ihre Wirkung getan haben. Wir interpretieren daher unsere Daten dahingehend, daß alle für die Befragten irgendwie wichtigen Konflikte genannt wurden. Wenn wir also im folgenden die Personengruppen ohne Konflikt und die mit Konflikt einander gegenüberstellen und ihre Unterschiede anhand einiger interessant erscheinender Variablen darstellen, so gehen wir davon aus, daß es Personengruppen sind, die sich tatsächlich bei Rechtsverletzun-

Konflikte im mexikanischen Kontext

33

gen unterschiedlich verhalten und/oder denen gegenüber unterschiedlich viele Rechtsverletzungen begangen werden. „Kein Konflikt" heißt, der Befragte weiß aus der letzten Zeit über keinen Konflikt zu berichten, den er subjektiv als wichtig empfunden hat. Die Frage nach regionalen Unterschieden in der Konfliktentstehung ist klar zu beantworten. Aus unseren Daten ergibt sich folgendes Bild: Tab. 13: Konfliktentstehung nadi Untersudiungsregion (n = 500)

kein Konflikt Konflikt

Mexiko-Stadt

Tepic

Land

83 (41%) 117 (59%)

61 (30%) 139 (70%)

51 ( 5 1 % ) 49 ( 4 9 % )

200 ( 1 0 0 % )

200 ( 1 0 0 % )

100 ( 1 0 0 % )

Hier bestätigen sich unsere Überlegungen zur Modernität von Konflikten. Die Stadtbewohner - vor allem die in der Kleinstadt Tepic erweisen sich als erheblich streitwilliger als die Landbewohner. Ein Vergleich mit der Statistik der Gewaltkriminalität — Mord, Raub, schwere Körperverletzung - bestätigt diese Beobachtung. Danach liegt die Kriminalitätsrate im Durchschnitt für ganz Mexiko bei 3 auf 1000 Einwohner, auf dem Land aber bei 2 pro mille. Entsprechend liegt die Beschuldigtenrate bei den Alphabeten bei 1,67 pro mille, bei den Analphabeten bei 0,51 pro mille; die Verurteiltenrate bei den Alphabeten beträgt 1,42 pro mille, bei den Analphabeten 0,42 pro m i l l e G O N Z A L E Z CASANOVA gibt folgende Begründung: „Unter normalen Umständen zeigt der marginale ,Bürger' niemals seinen Unwillen, auch nicht in einer besonderen Form von Gewalt oder Aggressivität; denn jede individuelle oder kollektive Gewalt kostet ihn selbst mehr als irgend jemanden sonst. Er bedenkt oder fühlt es mit einem konservativen Instinkt, daß er mehr zu verlieren hat, als er gewinnen kann. Sein kontemplatives und duldsames Verhalten ist das Ergebnis einer langen Erfahrung. Der marginale Bürger kann am Rande der Gewalt stehen oder am Rande der Verzweiflung, er kann Träume, Erzählungen oder Tänze haben, die voll sind von Wildheit, Unsicherheit und Aggressivität. Aber solange sich keine Explosion ereignet, ,duldet' er. Solange er nicht alles verliert, ist er das frömmste, höflichste und ruhigste Wesen 27 GONZÁLEZ CASANOVA, La democracia 118. Zwar ist generell die Dunkelziffer auf dem Land größer, doch spielt sie bei schwerer Gewaltkriminalität und insbesondere bei Tötungsdelikten eine relativ geringere Rolle.

34

Die untersuchte

Gesellschaft:

Mexiko

und fragt sich wie im Roman von Augustin Yänez: ,Was nützt es den Armen, wenn sie sich aufregen? Man zahlt es ihnen immer mit noch mehr Ärger heim.'" 28

Daß sich im Geschlecht der Befragten im Hinblick auf Konflikthäufigkeit Unterschiede ergeben würden, war zu erwarten. Hier unsere Zahlen: Tab. 14: Konflikthäufigkeit nach Geschlecht der Befragten (n - 500)

kein Konflikt Konflikt

männlich

weiblidi

69 ( 2 8 % ) 181 ( 7 2 % )

126 ( 5 0 % ) 124 ( 5 0 % )

250 ( 1 0 0 % )

250 ( 1 0 0 % )

Männer haben erheblich mehr Konflikte als Frauen. Dieses Ergebnis entspricht den vielen Beobachtungen, die über den „machismo" angestellt wurden, das Männlichkeitsbild des mexikanischen Mestizen, das von vielen geradezu als Männlichkeitskult apostrophiert wird. „Notwendiges Merkmal des ,macho' ist die Gewalt, die sich fast immer manifestiert als Fähigkeit zu verletzen, zu vergewaltigen, zu vernichten und zu demütigen" (OCTAVIO PAZ). Der spanische Eroberer lebt hier fort als Verhaltensvorbild, so wie die mexikanische Frau identifiziert wird mit der Indianerin, die sich ihm unterwirft und hingibt 29 . Die Sozialisation des mexikanischen Jungen ist auf Aggressivität gerichtet, die des Mädchens auf Duldsamkeit. Obwohl sich diese Leitbilder im städtischen Mittelstand allmählich wandeln mögen30, sind sie in allen Lebensbereichen auch des modernen Mexiko noch verhaltensrelevant. Dies wirkt sich nicht nur unmittelbar in der Form der Reaktion auf Verletzungen der eigenen Interessen aus, sondern auch mittelbar dadurch, daß Frauen aus konfliktreichen Lebensbereichen nach Möglichkeit herausgehalten werden. Frauen haben daher notwendigerweise auch weniger Konflikte, weil sie weniger berufstätig sind und erheblich weniger soziale Kontakte haben. Frauen sind daher wie die Landbevölkerung zu den Marginalen der mexikanischen Bevölkerung zu zählen. Aber auch die Aussage, daß Unterschichten sich passiver verhalten als höhere Schichten, läßt sich anhand einer Aufgliederung unserer Stichprobe nach dem Beruf des Befragten belegen: 28

G O N Z Á L E Z C A S A N OV A

29

RAMÍREZ 4 8

30

E L U DE LEÑERO 1 7 0 .

f.,

119.

6 2 ; PAZ,

El laberinto

32.

Konflikte

im mexikanischen

Kontext

35

Tab. 15: Konflikthäufigkeit nach Beruf der Befragten (n = 500)

kein Konflikt Konflikt

kein Konflikt Konflikt

Akademiker

Büroangestellter

Landwirt

7 (25%) 21 ( 7 5 % )

10 ( 2 3 % ) 33 ( 7 7 % )

19 ( 3 7 % ) 32 ( 6 3 % )

28 ( 1 0 0 % )

43 ( 1 0 0 % )

51 ( 1 0 0 % )

Arbeiter

Kaufmann

Haushalt

58 ( 3 4 % ) 114 ( 6 6 % )

10 ( 2 8 % ) 26 ( 7 2 % )

91 ( 5 4 % ) 79 ( 4 6 % )

172 ( 1 0 0 % )

36 ( 1 0 0 % )

170 ( 1 0 0 % )

Hiernach sind es neben den im Haushalt tätigen Frauen und den Landwirten die Arbeiter, die die wenigsten Konflikte aufweisen. Zunächst unerwartet ist es, in der dann folgenden Gruppe die Kaufleute zu finden, die sich doch kaum passiver verhalten werden als Büroangestellte und Akademiker. Die gleiche Überraschung bietet die Einkommensverteilung der Befragten mit und ohne Konflikt: Tab. 16: Konflikthäufigkeit nach dem Einkommen der Befragten (n = 500) bis 200 Peso kein Konflikt Konflikt

2 0 1 - 6 0 0 Peso 6 0 1 - 1 5 0 0 Peso über 1500 Peso

63 (45 % ) 77 ( 5 5 % )

75 ( 3 4 % ) 147 ( 6 6 % )

32 ( 3 6 % ) 58 ( 6 4 % )

19 ( 4 9 % ) 20 ( 5 1 % )

140 ( 1 0 0 % )

222 ( 1 0 0 % )

90 ( 1 0 0 % )

39 ( 1 0 0 % )

Nach Tab. 16 weist die unterste Einkommensschicht erheblich weniger Konflikte auf als die mittleren Einkommensschichten. Aber die höchste Einkommensschicht hat noch weniger Konflikte. Bei genauer Betrachtung sind diese Daten das notwendige Korrelat zur festgestellten Passivität gegenüber Rechtsverletzungen, die in der sozialen Hierarchie von oben nach unten begangen werden. Gegenüber der Oberschicht werden weder gern Forderungen geltend gemacht, noch bestehen viele Möglichkeiten, deren Rechte zu verletzen. Was den Wirtschaftsbereich, also die unter der Kategorie der Kaufleute zusammengefaßte Berufsgruppe in Tab. 15 betrifft, so kommt noch hinzu, daß auch innerhalb des eigenen Bereichs eine spezielle Konfliktvermeidungsstrategie verfolgt wird. Der Handel ist zu

36

Die untersuchte Gesellschaß: Mexiko

sehr voneinander abhängig, um sich Konflikte leisten zu können. Wir werden der Konfliktproblematik im mexikanischen Wirtschaftssystem im Verlauf dieser Arbeit noch besondere Aufmerksamkeit widmen. Die soziale Schicht der Parteien spielt also unter einer Reihe von Aspekten eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Konflikten. Dagegen scheint der Schritt von der Rechtsverletzung zum Konflikt nicht von der Gesetzeskenntnis des Betroffenen abzuhängen. Die Frage unserer Untersuchung, ob eines der mexikanischen Gesetze zum Schutz der unteren Bevölkerungsschichten (z. B. Sozialversicherungsgesetz, Arbeitsgesetz und Arbeitsschutzbestimmungen der Verfassung) genannt werden könne, beantworteten etwa gleich viele Personen mit und ohne Konflikte (63,3 °/o bzw. 62,5 °/o) negativ. Schließlich interessieren noch die festgestellten Konfliktarten. Die von den 500 Befragten genannten 395 privatrechtlichen Konflikte verteilen sich auf folgende Bereiche: Tab. 17: Konfliktarten in der Stidiprobe Arbeit Familie Schadensersatz Grundbesitz Geldschuld andere

97

(24»/»)

77

(19

4 2

(11

34

(9

111 34 395

o/o) % ) %>)

(28

o/o)

(9o/o) ( 1 0 0 % )

Aufgegliedert nach den drei Untersuchungsregionen ergibt sich folgendes Bild: Tab. 18: Konfliktarten nach Untersuchungsregion Mexiko-Stadt (200 Befragte) Arbeit Familie Schadensersatz Grundbesitz Geldschuld andere

Tepic (200 Befragte)

Land

(100 Befragte)

0 (0%)

56

( 3 5 % )

41

(24

0/o)

28

( 1 7 0/0)

35

(20

% )

24

( 1 5 0/0)

11

( 6 0/0)

10

( 6 0/0)

10

(6

14

( 2 4 % )

30

( 1 8 % )

59

(34o/o)

22

( 3 7 % )

17

(10%)

3

14 (9«/o) 162

( 1 0 0 % )

174

0/0)

( 1 0 0 0/0)

14

(24

0/o)

6 (10%)

59

(5o/ft) ( 1 0 0 % )

3. Beobachtung 3.1 Methodisches Vorgehen 3.1.1 Allgemeine Probleme Empirische Verfahren waren bisher in der Konfliktforschung rar. Dies liegt zum einen — wie in den Sozialwissenschaften allgemein - daran, daß sie, wenn sie korrekt durchgeführt und ausgewertet werden sollen, unendlich viel mehr Aufwand an Zeit und Geld erfordern als reine Schreibtischarbeit. Zum anderen liegt der Entscheidung über die Forschungsmethodik notwendig die Überlegung zugrunde, wie dem Objekt am besten beizukommen ist. Sind nun Konflikte überhaupt hinreichend abgrenzbar und operationalisierbar, um sie als einheitliches soziales Ereignis messen und quantitativen Verfahren unterziehen zu können? Diese Frage stand vom Beginn der Vorarbeiten an als schwarzer Schatten über der Untersuchung, und die Anfangsphase in Mexiko war überwiegend damit angefüllt, hier gangbare Wege zu finden. Wie beobachtet man Konflikte, wenn man sie nicht nur nach objektiven, sondern auch nach subjektiven Merkmalen definiert hat? Wer ist Konfliktpartei, und wie können Informationen über den Gegner gesammelt werden? Wann endet ein Konflikt? Wie läßt sich messen, welche Normen auf ihn einwirken? Solche und viele andere Fragen waren sehr schwer zu beantworten, und es kann nicht verdeckt werden, daß die Lösungen, mit denen die Erhebungen dann durchgeführt wurden, zuweilen nicht ganz befriedigen. Um die Einschätzung unseres Vorgehens zu erleichtern, ist der Untersuchungsbericht so transparent gehalten wie möglich. In die Sachdarstellung sind vielfach methodische Diskussionen einbezogen, Interviewerfragen sind in der Regel im Wortlaut bei den Ergebnissen zu finden; über Fehlschläge wird berichtet, soweit sie Informationswert haben. Die Mängel, die auf diese Weise ans Licht kommen, können ähnlichen Forschungen sicher weiterhelfen. Abgesehen von diesen allgemeinen Meß- und Operationalisierungspro-

Beobachtung

38

blemen brachten die Forschungsbedingungen in Mexiko erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Empirische Vorarbeiten, auf die man einzelne Fragestellungen hätte aufbauen können, fehlten vollständig. Das statistische Material war sehr schwer zugänglich, wenig zuverlässig und meist viel zu wenig detailliert, um für die konkreten Ziele dieser Untersuchung hilfreich zu sein. Schwierigkeiten bei der Literaturbeschaffung bestanden selbst in Mexiko-Stadt. Außerhalb der Metropole waren wir allein auf die mitgebrachte Literatur angewiesen. So war es immer wieder erforderlich, Artikel und Bücher von Deutschland anzufordern. Hinzu kam, daß die erfreulich große Hilfsbereitschaft vieler mexikanischer Institutionen nicht unbedingt auch von Sachkunde begleitet war, so daß Gespräche und Diskussionen zuweilen wenig präzise Informationen erbrachten. Die Forschungsinteressen an der juristischen wie an der soziologischen Fakultät der Universidad Autónoma de México waren von den unseren sehr verschieden, so daß dort nicht allzu viele Kommunikationsmöglichkeiten bestanden. Dagegen lösten sich Probleme mehr technischer Art leichter als erwartet. Der Zugang zu den Gerichtsakten stieß auf kein Hindernis. Es fanden sich geeignete Interviewer und überall gute Freunde, die bei den vielen organisatorischen Problemen empirischer Untersuchungen Hilfe leisteten. Auch politische Schwierigkeiten, die nach den Erfahrungen Lateinamerikas mit dem CIA-Projekt „Camelot" durchaus verständlich wären, blieben aus. Nur mit einem Augenzwinkern wurden wir gelegentlich gefragt, von welchem Geheimdienst wir wohl ausgeschickt seien. 3.1.2

Mehrspurigkeit

der Methodik

Es mag sein, daß es sozialwissenschaftliche Forschungobjekte gibt, die sich mit nur einer empirischen Erhebungsmethode analysieren lassen. Der Anspruch, zu gültigen Ergebnissen zu kommen, erfordert aber meist die Anwendung mehrerer Verfahren. Dies gilt verstärkt für Untersuchungsbereiche, über die noch wenig Erkenntnisse vorliegen. Jeder Methodenmonismus erscheint hier fahrlässig und gefährlich, da mit der mangelnden Information über das Objekt auch eine Unsicherheit über die Adäquanz des Beobachtungsverfahrens einhergeht. Forschungen in Entwicklungsländern fallen in diese Kategorie. Die in den Industriestaaten erprobte Empirik findet hier andere Voraussetzungen vor und kann nur mit Vorsicht zur Anwendung kommen. Die vorliegende Untersuchung hat diesem Gesichtspunkt Rechnung getragen und eine ganze Reihe von Techniken parallel eingesetzt: un-

Methodisches

Vorgehen

39

gelenktes Interview, Intensivinterview, Beobachtung, Inhaltsanalyse von Gerichtsakten, Gruppendiskussion und schließlich eine standardisierte Befragung mittels Fragebogen. Während wir auf letztere im nächsten Abschnitt näher eingehen, seien die anderen Verfahren hier kurz dargestellt. Ungelenkte Interviews standen in der explorativen Anfangsphase der Untersuchung im Vordergrund. Es galt, das Problem zu präzisieren, mitgebrachte Vorstellungen zu revidieren und die Fragestellung an die konkreten Gegebenheiten anzupassen. Alle von uns in der Folge analysierten Streitschlichtungsinstitutionen wurden auf diese Weise ermittelt. Wie die spätere Fragebogenerhebung ergab, haben wir auf diese Weise die wichtigsten Dritten alle in den Blick bekommen. Technisch läuft das ungelenkte Interview um ein Rahmenthema, über das sich der Befragte mit dem Interviewer frei unterhält, wobei letzterer ihm durch Zwischenfragen weiterhilft und zur Präzisierung auffordert 1 . Ohne Zweifel kommt diese Gesprächsform dem lateinamerikanischen Interaktionstypus am meisten entgegen. Sie allein schafft Anknüpfungspunkte, die die Chance einräumen, die Kommunikation fortzusetzen und zu vertiefen. Beim Intensivinterview liegt bereits ein festes Frageschema vor, aber es kommt nicht auf den Wortlaut und die Reihenfolge der Fragen an. Vor allem sind keine Antwortkategorien vorgegeben, die nur zu verkoden wären. Alle mitgeteilten relevanten Informationen wurden mitgeschrieben oder unmittelbar nach dem Interview aufgezeichnet. Dieses Verfahren wurde bei der Befragung von Wirtschaftsunternehmen eingesetzt. Der Gesprächsverlauf und die Richtung der Antworten wurden dabei möglichst offen und flexibel gehalten. Das Ergebnis der Wirtschaftsuntersuchung rechtfertigt dieses Vorgehen: Es ergaben sich nämlich wenig quantifizierbare Daten. Ein standardisierter Fragebogen mit Antwortkategorien wäre mit Sicherheit fehlgeschlagen. Der benutzte Leitfaden findet sich im Anhang I I I . Die angestellten Beobachtungen waren teilnehmend wie nicht-teilnehmend, relativ unsystematisch und hatten „natürliche" — also nicht experimentell erzeugte — soziale Situationen zum Gegenstand. Ihr Schwerpunkt lag bei Gerichtsverhandlungen und bei Streitschlichtungen vor den verschiedenen außergerichtlichen Mittlern, insbesondere den Polizeidelegationen. Daneben gingen auch Informationen aus mehr zufälligen Beobachtungen des Konfliktverhaltens-etwa im Straßenverkehr, im Geschäftsleben, der Fahrgäste in Autobus und Eisenbahn — in das Datenmaterial 1

4

Vgl. MAYNTZ/HOLM/HÜBNER

Gessner, Konflikt

104.

40

Beobachtung

ein. Es ging in allen diesen Fällen darum, unter Relativierung der eigenen „kulturellen Selbstverständlichkeiten" zu einem adäquaten Sinnverständnis des beobachteten Sozialsystems zu kommen — ein Ziel, was wir sicher wohl erst am Ende unseres Aufenthalts erreichten, als wir genügend Distanz gewonnen hatten zu den mitgebrachten Wahrnehmungsmustern. Die Inhaltsanalyse von Gerichtsakten erbrachte das quantitativ umfänglichste Material. Allerdings war es inhaltlich weniger ergiebig als erhofft, da es sich größtenteils um Routineverfahren handelte, bei denen in der Sache kaum gestritten wurde. Wenn sich, wie in der überwiegenden Zahl der Fälle vor den Zivilgerichten, der Gegner nicht einmal zu den Akten gemeldet hatte, war weder über ihn etwas zu erfahren noch über den sozialen Hintergrund des Konflikts. Auch zur Entscheidungstätigkeit des Richters gaben die Akten nur ganz selten etwas Aufschluß. Wenn es überhaupt zum Urteil kam, die Parteien also nicht schon vorher abgebrochen hatten, so bestand dieses in Zivilsachen mit nur wenigen Ausnahmen aus den gleichen formelhaften Wendungen und zum Teil sogar aus Urteilsvordrucken. Die Urteile in Arbeitssachen waren dagegen argumentativ abgefaßt und daher interessanter. Die Aktenauswertung erfolgte, mit kleinen Abweichungen beim Arbeitsgericht, nach folgenden Kriterien: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10)

Gericht Streitgegenstand Name und Anschrift der Parteien Nähere Daten zu den Parteien (Beruf, juristische Person etc.) Nähere Charakterisierung des Konflikts und Höhe des Streitwertes Anwaltschaftliche Vertretung Klageerwiderung Prozeßende Termine von Klageerhebung und Prozeßende Zwangsvollstreckung

Aus den genannten Gründen erbrachte nur ein Teil dieser Erhebungsmerkmale brauchbare, d. h. sinnvoll auswertbare Daten. Schließlich ist von einer Gruppendiskussion zu berichten, die unter Mitarbeit der Sozialarbeiterin der mexikanischen Kinderschutzbehörde ( I N P I ) in Tepic durchgeführt wurde. Teilnehmer waren Frauen verschiedener Altersstufen, denen wir als Thema „Rechte und Pflichten in unvollständigen Familien" vorgaben, um Rechtskenntnis und das Vorhandensein

Methodisches

Vorgehen

41

abweichender sozialer Normen zu prüfen. Die etwa zweistündige Diskussion wurde auf Tonband aufgenommen. 3.1.3

Fragebogenerhebung

Mit Ausnahme der Gruppendiskussion gingen alle vorgenannten Erhebungsmethoden der Erstellung eines Fragebogens zeitlich voran. Nach achtmonatigem Aufenthalt im Land waren genügend Erfahrungen gesammelt, um mit der Ausarbeitung standardisierter Interviews zu beginnen 8 . Die ersten Pretests ergaben jedoch bald die besonderen Probleme, die sich dieser Form der Datensammlung in einem teilindustrialisierten Land wie Mexiko in den Weg stellen. Zwar ist es immer schwierig, Frageformulierungen zu finden, die für inhomogene Populationen gültige Ergebnisse erwarten lassen. Nur ist der Grad der Inhomogenität in Entwicklungsländern besonders groß. Gemäß unserem Vorhaben, die Streitbeendigungsformen gerade in sozial und kulturell sehr unterschiedlichen Schichten und Subsystemen einander gegenüberzustellen, waren die Adressaten in eine außerordentlich breite Skala einzuordnen, die von Analphabeten zu Akademikern, von isolierten Landbewohnern tropischer Zonen bis zu den Geschäftsleuten der europäisch-amerikanischen Metropole Mexiko-Stadt reichte. Der Zwang, zu vereinfachen und sprachliche Kompromisse zu finden, bedeutet ohne Zweifel einen Informationsverlust, der unvermeidlich ist, wenn die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erhalten bleiben soll. Ein weiteres Problem ist die schon aus anderen Untersuchungen in Lateinamerika bekannte „Sí-Señor-Problematik", die auch in Mexiko zu beobachten ist. Aufgrund langer historischer Erfahrung, die, wenn man will, bis in die vorkolumbianische Zeit zurückverfolgt werden kann, unmittelbar aber dem Hacienda-System der spanischen Kolonialepoche entstammt, ist es ein tiefverwurzeltes Verhaltensmuster der mexikanischen Unterschichten, jeglichen Widerspruch zu vermeiden. Was immer von einem Höherrangigen gefragt wird, die Antwort besteht zunächst aus einem Unterwerfung ausdrückenden „Sí, Señor" 3 . Es galt also Fragen zu ver-

Vgl. den übersetzten Fragebogen im Anhang. KAHL 29 räumt ein, dieses Phänomen übersehen zu haben, "that persons of low status tended to be very polite to their status superiors (sudi as the university students who interviewed them). Therefore some of the traditionalism expressed in their answers may reflect the tendency to agree to any question, regardless of the content of the item". Da er fast ausschließlich mit Fragen arbeitete, die Ja/Nein-Antworten erforderten, dürften nach unseren Erfahrungen durch diesen Faktor seine Ergebnisse erheblich stärker verzerrt sein, als er selbst zugesteht. 2

3

4 *

42

Beobachtung

meiden, die auf einfache Zustimmung oder Ablehnung abzielten. Dies ist nicht schwierig, wenn man den geschilderten Effekt kennt: der Interviewte kann zur Konkretisierung seiner Antwort veranlaßt werden, oder die Frage stellt mehrere Meinungen nebeneinander, aus denen ausgewählt wird. Unsere Erhebung enthält viele solcher Varianten und jedenfalls keine einzige Frage, die ohne Ergänzungsfragen nur Ja/Nein-Antworten erfordert. Zusätzlich sind Kontrollen eingebaut, mit denen vorhergehende Unrichtigkeiten schon durch den Interviewer leicht feststellbar und daher noch korrigierbar waren. Die inhaltlichen Aspekte des Fragebogens, also insbesondere die Operationalisierungen werden bei der Darstellung der Ergebnisse diskutiert. Zum rein Technischen sei noch erwähnt, daß die meisten Fragen offen gestellt wurden. Die Interviewer hatten die Antworten in vorgegebenen Antwortkategorien sofort zu verschlüsseln („Feldverschlüsselung"). Die vorher gesammelten Erfahrungen und Pretests bewirkten, daß die Kategorien in aller Regel ausreichten. Der Fragebogen gliedert sich in verschiedene Teile: persönliche Daten (soweit sie zur Einordnung des Interviewten in das Quotasample sofort bekannt sein mußten), Faktenfragen, Meinungsfragen und wiederum persönliche Daten. Die Interviews dauerten zwischen einer halben und einer Stunde. Mindestens ebenso wichtig wie die gesamte Ausarbeitung des Erhebungsinstruments sind Auswahl, Einsatz und Betreuung der Interviewer. Dies scheint verstärkt für die Entwicklungsländer zu gelten, in denen diese Art von Sozialforschung ungewohnt ist. Hinzu kommt in Mexiko noch ein besonderes Mißtrauen bei allen zwischenmenschlichen Kontakten, über das später zu berichten sein wird (vgl. unten 4.4). Von den Interviewern mußte einige Aufmerksamkeit beim Verschlüsseln des nicht ganz einfach aufgebauten Fragebogens und bei der Auswahl der nach Quotenmerkmalen zu bestimmenden Befragungspersonen verlangt werden. Ein vorheriges Training und ein detaillierter Leitfaden erwiesen sich als nicht ausreichend. So wurde in Mexiko-Stadt ein einheimischer „Oberinterviewer" zur Kontrolle und Beratung eingesetzt, der ganz unschätzbare Dienste leistete und Fehler vermeiden und beseitigen half 4 . In den beiden anderen Untersuchungsregionen bewährte sich ein anderes Verfahren, das für derartige aus verschiedenen Gründen diffizile Forschung allgemein sehr empfohlen werden kann. Die Interviewer bekamen immer nur eine „Tagesration" von höchstens fünf Fragebogen ausgehändigt, die sie dann 4

IGNACIO VILLASEÑOR

sei an dieser Stelle besonders gedankt.

Methodisches

Vorgehen

43

ausgefüllt zurückbrachten und die einzeln mit ihnen diskutiert wurden. Hier war ihnen jedes Interview noch im Gedächtnis, so daß wir auf Befragen Fehlkodierungen und unrichtige Quotenbestimmungen korrigieren konnten. Diese Kontrolle gibt auch die Gewähr, daß „Phantasie-Interviews" unterbleiben. Insgesamt standen uns elf Interviewer zur Verfügung. In MexikoStadt handelte es sich überwiegend um Studenten, in Tepic um junge Lehrer und auf dem Land um eine Sozialarbeiterin. Da in Mexiko - wie in allen sich rasch wandelnden Gesellschaften — die soziale Mobilität der unteren Schichten in die Mittelschicht relativ hoch ist (vgl. Tab. 2), hatten sie durchwegs keine Schwierigkeiten, Schichtenabstände zu überwinden: zum Teil waren sie selbst die erste aufgestiegene Generation und unterschieden sich im Sprachverhalten dann kaum von der Mehrheit der Befragten. 3.1.4

Stichproben

Die Grundgesamtheit der Untersuchung sollte „die mexikanische Gesellschaft" sein. Aus ihr waren sinnvolle Stichproben zu ziehen, die die für die Fragestellung wichtigen Variablen derart widerspiegeln, daß die auf die Auswahl gestützten Aussagen auch für die Grundgesamtheit Gültigkeit haben. Dieser Anspruch auf Repräsentativität wurde zunächst durch die Festlegung von drei Untersuchungsregionen verwirklicht, die die Breite des sozialen Verhaltens dieser Gesellschaft möglichst wiedergeben sollten: die Metropole Mexiko-Stadt, eine kleine Provinzhauptstadt und eine ländliche Region. Innerhalb dieser Regionen wurden dann verschiedene weitere Auswahlverfahren durchgeführt. 3.1.4.1 Untersuchungsregionen. - Die Wahl von Mexiko-Stadt als Objekt der Untersuchung stand außer Frage — man kann über das heutige Mexiko nichts aussagen, ohne dem Geschehen in dieser Stadt Rechnung zu tragen. Alle für Mexiko wesentlichen Entscheidungen fallen in der Metropole. Sie liegt im Hochland (2240 m) und hat mit allen zum Urbanen Geflecht dieser Bevölkerungsagglomeration zählenden Randgebieten etwa sechs Millionen Einwohner. Diese Randgebiete erstrecken sich jedoch über die Verwaltungseinheit „Ciudad de Mexico" hinaus in den Bundesdistrikt (Distrito Federal), der insgesamt knapp sieben Millionen Einwohner aufnimmt. Da ein Teil dieses Distrito Federal noch ländlichen Charakter hat, war er für einen Vergleich mit den anderen Untersuchungsregionen nicht homogen genug. Deshalb wurde nicht er, sondern der engere Stadtbereich

44

Beobachtung

„Ciudad de Mexico" mit etwa drei Millionen Einwohnern als Untersuchungseinheit ausgewählt. Dieser umfaßt das gesamte Regierungs- und Geschäftsviertel, die Wohnbezirke der Unter-, Mittel- und Oberschichten und einen Teil der Industriegebiete sowie Armensiedlungen. Letztere befinden sich - wie auch in anderen lateinamerikanischen Metropolen zu beobachten ist - nämlich keineswegs nur an der Peripherie, sondern ganz verstreut sowohl im innersten Stadtkern nahe den Regierungsgebäuden als auch zwischen den vornehmen Wohnvierteln. Bei der Auswahl der beiden anderen Untersuchungsregionen war zu entscheiden, inwieweit die selbständigen Indiokulturen mit in die Erhebung einbezogen werden sollten. Im Rahmen der allgemeinen Charakterisierung der mexikanischen Gesellschaft wurde bereits darauf hingewiesen, daß man sinnvoll zwischen Indios und Mestizen in Mexiko keine abstammungsmäßige, sondern nur eine sozio-kulturelle Unterscheidung trifft. Die kulturell selbständigen Indios leben meist in entlegenen Bergregionen, können aber durchaus - wie etwa in Oaxaca - den Charakter größerer Städte mitbestimmen. Der Anteil der kulturell zu den Indios zu zählenden Gruppen an der Gesamtbevölkerung geht über den Anteil, der nur eine Indiosprache spricht (Zensus von 1970: 2 , 1 7 % ) hinaus und wird auf etwa 6 % geschätzt 5 . Diese Gruppen stehen weitgehend isoliert am Rande der übrigen mexikanischen Gesellschaft und sind allenfalls wirtschaftlich, nicht aber kulturell mit ihr verbunden. Eine Reihe von Anthropologen hat sich mit ihnen befaßt, so daß sehr viel - auch ihr Konfliktverhalten - von ihnen bekannt ist 5 a . Mit diesen oft sehr eingehenden Studien konnten und wollten wir hier nicht konkurrieren und entschieden uns schon um eine einheitliche Methodik beibehalten zu können - dahin, die Indiokulturen ganz aus der Untersuchung auszuklammern. Ein paar Tage, die wir unter den Cora-Indianern der Sierra de Nayarit verbrachten, bestätigten uns später, daß dieser Entschluß wegen der enormen empirischen Probleme, vor denen wir sonst gestanden hätten, richtig war. Damit ist unsere Grundgesamtheit die mexikanische Mestizen-Gesellschaft unter Ausschluß der reinen Indio-Kulturen. Die Untersuchungsregionen außerhalb der Metropole waren entsprechend auszuwählen. Bundesstaaten wie Chiapas, Puebla, Tlaxcala, Oaxaca schieden wegen der relativ starken Indio-Bevölkerung aus. Unseren Zuschlag erhielt nach eingehenden Vorstudien schließlich der Staat Nayarit im Nordwesten des Landes. Die beiden Stämme der Cora- und 5

5a

GONZÁLEZ CASANOVA, L a d e m o c r a c i a 7 9 .

Vgl. jetzt insbesondere COLLIER.

Methodisches

Vorgehen

45

Huichol-Indianer leben hier abgedrängt in unfruchtbaren und nur mit dem Flugzeug oder in vielen Tagesmärschen zugänglichen Bergregionen. Auf die Mestizengesellschaft des Staates üben sie weder politischen noch wirtschaftlichen noch kulturellen Einfluß aus. Besonders wichtig war auch, daß der Staat Nayarit einen Codigo Civil hat, der dem des Bundesdistrikts genau entspricht, so daß für unsere ganzen Untersuchungsgebiete Zivil- wie Arbeitsrecht als Konstanten angesehen werden konnten. Der Staat hat nach dem Zensus von 1970 5 5 0 0 0 0 Einwohner (20 Einwohner pro Quadratkilometer), von denen 1 5 0 0 0 0 einer Erwerbstätigkeit nachgehen. 54 °/o des Wertes der produzierten Güter stammen aus der Landwirtschaft, 11 % aus der weiterverarbeitenden Industrie, 3 0 % aus Handels- und Dienstleistungsgewerbe, 5 % aus dem Bau- und Energiesektor und 1 °/o aus anderen Bereichen. Die Erhebungen wurden durchgeführt in der Hauptstadt Tepic sowie in drei ländlichen Regionen. Zusätzlich wurde noch ein Zivilgericht in einer kleineren Stadt (Tecuala) aufgesucht. Das Munizip Tepic hat auf einer Fläche von 2000 Quadratkilometern ca. 1 0 0 0 0 0 Einwohner. Die Stichprobe der Fragebogenerhebung betraf wie in der Metropole wiederum nur den städtischen Bereich dieser Verwaltungseinheit, der etwa die Hälfte der Einwohner des ganzen Munizips umfaßt. Die Aktenauswertung und die übrigen Erhebungsmethoden beziehen sich dagegen auf die ganze Einheit. Tepic dürfte im Charakter dem durchschnittlichen Bild der mexikanischen Provinzhauptstadt entsprechen: eine Geschäftsstraße, einige moderne Verwaltungsgebäude, ein Marktviertel und im übrigen die langen, rechtwinklig verlaufenden Straßenzüge mit meist ebenerdigen Gebäuden. Abgesehen von seiner Rolle als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum des Staates erhält es noch Impulse von der wichtigen Bundesstraße Nr. 15, die die Verbindung von Guadalajara mit den nördlich am Pazifik gelegenen Bundesstaaten und den U S A herstellt. In Tepic zweigt auch die einzige Zufahrtsstraße noch Puerto Vallarta, einem großen Badeort, ab. Die Entfernung nach Mexiko-Stadt beträgt 800 km, die nach Guadalajara 143 km. Die untersuchten ländlichen Regionen liegen in den Munizipien San Blas, Santa Maria del Oro und Tecuala. La Libertad gehört zur tropischen Zone, Zapotanito zum Hochland. Beides sind kleine Ansiedlungen mit etwa 400 bis 600 Einwohnern, die mit dem Auto in ungefähr einer Stunde von Tepic aus zu erreichen sind. Das Gehöft (rancho) El Chicochi zählt etwa hundert Seelen und ist, da die Wegstrecke zum Teil schwierig ist,

46

Beobachtung

von Tepic aus im Jeep in einem halben Tag zu erreichen. Alle drei Gebiete sind — so isoliert sie auch gelegen sind — durch Autobusse mit der Umwelt verbunden. 3.1.4.2 Stichprobe der Fragebogenerhebung. - Art und Umfang der Stichprobe der Fragebogenerhebung hing zunächst und vor allem von den zur Verfügung stehenden Finanzmitteln ab. Sie beliefen sich auf 5100 DM, was für 500 Interviews ausreichte, wenn sie nicht mit allzu hohem Zeitund Spesenaufwand verbunden waren. Ein solcher Aufwand wäre nun bei jeder Art von Zufallsstichprobe entstanden, auch wenn man etwa durch Klumpen-Auswahl die regionale Streuung der Befragten vermindert hätte. Denn um Ausfälle zu vermeiden, wäre häufiges Aufsuchen der zum Interview Vorgesehenen notwendig geworden. Im übrigen bestand die hinter jeder Zufallsstichprobe stehende und bei diesem Projekt vielleicht doch besonders große Gefahr von Verweigerungen, die ja alle statistischen Vorzüge dieser Stichprobenart leicht zunichte machen können. Wir entschieden uns aus diesen Gründen für eine Quotenstichprobe. Das Quotaverfahren wird als Annäherungsverfahren an die Zufallsauswahl umschrieben: „Wenn man alle Merkmalsdimensionen einer Grundgesamtheit und die Verteilungen entlang dieser Dimensionen kennen würde, dann wäre es möglich, eine Stichprobe zu planen, die in allen Dimensionen so ,quotiertc wird, daß sie für die Grundgesamtheit repräsentativ ist, und zwar ohne daß die Einheiten nach dem Zufallsprinzip gezogen würden. Das ist natürlich nicht möglich. Faktisch beschränkt man sich beim Quotaverfahren auf eine kleine Zahl von Dimensionen — vor allem auf solche, über deren Verteilung in der Grundgesamtheit man Kenntnis hat (durch amtliche Statistiken, Mitgliedsverzeichnisse von Organisationen usw.) - und hofft dann, daß auch die anderen Merkmale der Gesamtheit mehr oder weniger repräsentativ vertreten sein werden. Um das vor allem für die Untersuchungsmerkmale zu erreichen, wählt man vor allem solche Quotenmerkmale, die mit den ersteren stark korrelieren." 6 Die Frage ist immer, ob man geeignete Statistiken findet, mit denen sich sinnvolle Quoten zusammenstellen lassen. Gelingt dies, so ist das eigentliche Erhebungsverfahren sehr vereinfacht. Dem Interviewer wird eine Anzahl von Personen zugewiesen, die jeweils bestimmte Merkmale aufweisen müssen, also etwa: weiblich, zwischen 20 und 29 Jahre alt, verheiratet mit einem Arbeiter. Bei der Auswahl solcher Merkmalsträger ist 6

MAYNTZ/HOLM/HÜBNER 83.

Methodisches

Vorgehen

47

der Interviewer frei. Allerdings bedarf es genauer Kontrolle, ob die Auswahl korrekt durchgeführt wird. In Mexiko fand sich eine einigermaßen brauchbare Statistik mit sinnvollen Merkmalen im Zensus von i 9 6 0 7 . Neuere Daten waren nicht zu erhalten. Die Merkmale waren Geschlecht, Alter und Beruf. Der Beruf war hinreichend grob bezeichnet (Arbeiter, Angestellter, Unternehmer, Selbständiger, Ejidatario, Landeigentümer, Landarbeiter und unentlohnte Hausarbeit), um dem Interviewer die Auswahl nicht allzusehr zu erschweren. In den beiden städtischen Regionen reduzierten sich die Berufskategorien auf Arbeiter, Angestellte, Unternehmer und Selbständige, auf dem Land auf Landarbeiter, Ejidatarios und Landeigentümer. Mit diesen Kategorien wurde die Grundgesamtheit „Bevölkerung Mexikos", der wir ja schon die Indios ausgegliedert hatten, erneut beschnitten. Nur die wirtschaftlich aktive Bevölkerung kam in unsere Stichprobe. Nicht repräsentiert sind Studenten und unverheiratete bzw. nicht im Konkubinat lebende Frauen, die keiner Arbeit nachgehen. Arbeitende Frauen wurden entsprechend ihren Berufen quotiert, Hausfrauen entsprechend den Berufen ihrer Männer. Vorübergehend Arbeitslose sind entsprechend ihrem letzten Beruf repräsentiert. Diese Beschränkung auf den wirtschaftlich aktiven Teil der Bevölkerung war zwar durch das zugängliche statistische Material erzwungen, aber auch sinnvoll, da das Verhalten von Studenten und nicht-arbeitenden Haustöchtern für unsere generelle Fragestellung nicht interessierte. Das Einkommen wurde zusätzlich noch dadurch einbezogen, als jeder Interviewer eine bestimmte Anzahl von Personen mit niedrigem Einkommen (unter 600 Peso) aufweisen mußte - dies eine Vorsichtsmaßnahme gegen die Tendenz, möglichst Personen aus der gleichen sozialen Schicht zu befragen. Eine Quotierung nach den Einkommensstufen hätte sich übrigens sicher nicht bewährt, da insoweit die mexikanischen Statistiken allgemein für unzuverlässig gehalten werden. Schließlich haben wir noch eine weitere Einschränkung der Grundgesamtheit vorgenommen: Personen im Alter unter 20 und Personen über 69 finden sich nicht in der Stichprobe repräsentiert, weil angenommen wurde, daß ihr Konfliktverhalten nicht selbst-, sondern fremdbestimmt wird. Zusammenfassend läßt sich unsere Stichprobe für die Fragebogenerhebung folgendermaßen beschreiben: Quotenstichprobe der wirtschaftlich aktiven (einschließlich der Hausfrauen und der Arbeitslosen, ausschließlich 7 Censo General de Población 1960. Población Económicamente Activa (Rectificación a los cuadros 25, 26 y 27 del resumen general ya publicado), Cuadro 27.

48

Beobachtung

der Studenten und Haustöchter), nicht in selbständigen Indiokulturen lebenden, zwischen 20 und 69 Jahre alten Bevölkerung Mexikos. Die Repräsentativität von Quotenstichproben kann durch einen Vergleich der Verteilung nicht quotierter Merkmale mit der amtlichen Statistik geprüft werden. Die einzige für uns in Betracht kommende Vergleichsmöglichkeit - eine wesentlich detailliertere Berufsaufgliederung als die groben Berufstypen in der Quotierung - ist leider im Zensus nicht nach Altersgruppen auftabelliert 8 . Unsere Daten betreffen nur die Altersgruppen 20 bis 69 Jahre, die Vergleichsdaten die ganze wirtschaftlich aktive Bevölkerung. Wir hoffen, daß es auf diesen Umstand zurückzuführen ist, daß sich unsere Stichprobe in zwei Punkten nicht sehr nahe an die amtlichen Daten anlehnt: Sollten die Altersgruppen keine gewichtige Rolle spielen, so wären in unserer Stichprobe die Büroangestellten, Verkäufer und Händler unterrepräsentiert und die Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner überrepräsentiert. Aber diese negative Aussage erscheint uns nicht hinreichend gesichert, um die Abbildwirkung der vier kontrollierten Merkmale als nicht ausreichend ansehen zu müssen. Die Quotierung für eine der Untersuchungsregionen und das Beispiel einer Quotenanweisung für einen Interviewer finden sich im Anhang I I . Weitere Auswahlprobleme der übrigen Erhebungen werden im Zusammenhang mit der Darstellung der Ergebnisse abgehandelt. 3.1.5

Auswertung

Für die Auswertung der - nicht allzu ergiebigen — Inhaltsanalyse von Gerichtsakten wurde zum alten Mittel der Strichliste gegriffen. Dagegen wurden die Daten der Fragebogenerhebung auf Lochkarten übertragen und im Hamburger Rechenzentrum weiterverarbeitet. Die Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung verführen nun dazu, sehr anspruchsvolle Analysemethoden anzuwenden. Dabei können leicht die jedem Datenmaterial immanenten Grenzen übersehen werden. Eine solche rasch erreichte Grenze war durch die Stichprobengröße gezogen, die mit 500 Befragten nicht allzu eindrucksvoll ist. U m die Dateninterpretation nicht auf zu kleine Zahlen stützen zu müssen, waren viele detaillierte Informationen in gröbere Raster umzukodieren, was einen oft schmerzlichen Informationsverlust bedeutete. Und vor allem: Das Material erlaubte nicht die Erstellung dreidimensionaler Tabellen, da die einzelnen Zellen dann immer zu klein geworden wären. Dieser Verzicht auf die Einführung von 8

Censo General 1960 (vorige Note), Cuadro 26.

Methodisches

Vorgehen

49

Testvariablen bedeutet, daß die von uns nachgewiesenen Zusammenhänge immer nur hypothetisch sind und auf Scheinkorrelationen beruhen können oder multikausal erklärt werden könnten. Wir haben aber derartige Gesichtspunkte in die Tabelleninterpretationen eingeführt und immer versucht, die Ergebnisse in einen weiteren Zusammenhang zu stellen. In einigen Fällen waren die Zahlen sogar für zweidimensionale Tabellen zu klein, so daß nur die Verteilung eines Merkmals wiedergegeben wird. Da die Anforderungen an die Größe aussagekräftiger Zahlen in der Sozialforschung verschieden streng sind, bleibt dem Leser die Bewertung unseres quantitativen Materials, das wir zu diesem Zweck in jedem Fall auch in seiner absoluten Verteilung angeben, selbst überlassen. In den beiden städtischen Untersuchungsregionen wurden jeweils 200 Personen befragt, auf dem — homogeneren - Land waren es 100. Diese Unterschiede in den Stichprobengrößen bedeuteten, daß in der Auswertung die Gesamtergebnisse dort nie aufsummiert werden durften, wo die Stadt-Land-Variable von Bedeutung sein konnte. Die Regionen sind in solchen Fällen immer gesondert ausgewiesen. Von der Möglichkeit, die Ergebnisse entsprechend der Stadt-Land-Verteilung der gesamten mexikanischen Gesellschaft hochzurechnen, wurde kein Gebrauch gemacht. Wir beanspruchen zwar, Aussagen machen zu können, die über die konkreten Untersuchungsregionen hinaus - ceteris paribus — auch für ganz Mexiko Gültigkeit haben. Aber das Zahlenmaterial im Detail auf ganz Mexiko auszudehnen, wäre unzulässig. Wäre dies beabsichtigt gewesen, so hätte es nicht genügt, „typische" Regionen auszuwählen. Man hätte nicht nur innerhalb der Regionen Repräsentativität herstellen müssen - wie wir es getan haben —, sondern es wäre mit sehr viel anspruchsvolleren Verfahren (und mit sehr viel mehr Finanzmitteln) eine Vielzahl von Regionen zu untersuchen gewesen, die die strukturelle Vielfalt der mexikanischen Gesellschaft getreu widergespiegelt hätten. Alle wiedergegebenen Zusammenhänge haben ein mit Hilfe des ChiQuadrat-Tests ermitteltes Signifikanzniveau von mindestens 95 °/o, d. h. die Hypothese, daß die Verteilung der Zahlenwerte zufällig ist („Nullhypothese"), kann mit mindestens 95prozentiger Sicherheit zurückgewiesen werden. Zwar ist die Anwendung statistischer Tests außerhalb von Wahrscheinlichkeitsstichproben nicht unbestritten, doch kann man einer Forschungspraxis folgen, die sie auch bei den verschiedenen Formen einer bewußten Auswahl für unbedenklich oder jedenfalls nicht schädlich erachtet. Schließlich ein Wort über die Erstellung der drei im Text verwendeten

50

Beobachtung

Skalen. Modernitätsskala, Fatalismusskala und die Skala des sozioökonomisdien Status sind in gleicher Weise zustande gekommen. Die erstgenannten Skalen beruhen mit einer Ausnahme (die Frage nach Zeitungslektüre als Indikator für Modernität) auf Meinungs- und Einstellungsmessungen, die letztgenannte auf Fragen zu Beruf, Haushaltsausstattung, Haushaltseinkommen und Bildungsgrad. Die jeweiligen Antwortmöglichkeiten wurden mit einem bestimmten Wert versehen, summiert und durch die Anzahl der Testfragen (jeweils vier) geteilt. Auf diese Weise ergibt sich für jeden Befragten ein bestimmter Platz auf einem Kontinuum. Dieses Kontinuum wurde dann zur Kreuzung mit anderen Variablen in verschiedene Stufen eingeteilt: bei der Fatalismusskala wurden es sieben Ausprägungen, bei der Modernitätsskala fünf und beim sozio-ökonomischen Status drei (niedrig = Unterschicht, mittel = Mittelschicht, hoch = Oberschicht). Die Peso-Werte, die im Text vorkommen, rechneten sich für den Untersuchungszeitraum im Verhältnis 4 : 1 in D M um. Die mexikanische Währung ist an die Schwankungen des Dollar gekoppelt, so daß sich das Verhältnis Peso-Dollar gleichbleibend auf 12,5 : 1 beläuft. 3.2 Strukturierung

der

Beobachtungen

Die selbstauferlegte Beschränkung auf Deskription in diesem Teil unseres Berichts bedeutet nicht, daß wir alles darzustellen vermöchten, was bei den Untersuchungsobjekten wahrnehmbar gewesen wäre. Dies ist nicht so sehr auf Zeit- und Kostenfaktoren zurückzuführen, als vielmehr auf den bekannten erkenntnistheoretischen Umstand, daß man von den unendlichen Facetten der Wirklichkeit überhaupt nur die sinnlich aufnehmen kann, von denen man sich vorher einen Begriff gebildet hat, die man als problematisch, als relevant empfindet. Insofern ist auch unsere scheinbar reine Deskription theoriebezogen, wir beschreiben eben nur, was wir aufgrund irgendwelcher theoretischer Überlegungen oder sogar aufgrund eines unreflektierten Vorverständnisses, d. h. einer rational nicht verarbeiteten „natürlichen" Gesellschaftstheorie, als relevant ansehen. In der Forschungspraxis besteht aber doch ein zumindest gradueller Unterschied zwischen Deskription und der weitaus strengeren Beobachtung zur Prüfung spezieller Hypothesen. Die letztgenannte Verfahrensweise selegiert stärker und macht die Beobachtung im Extremfall nur für die Beantwortung einer einzigen wissenschaftlichen Frage relevant. Deskriptives Vorgehen dagegen ist offener. Es stellt Daten für eine Vielzahl von Theorien zur Verfügung, die dann durch immer stärkere Einengung und Isolierung

Strukturierung

der Beobachtungen

51

der Beobachtung getestet werden müssen. In den folgenden Abschnitten wird also bewußt mehr beschrieben, als wir später erklären können. Wir geben der Wissenschaft wie der Praxis Daten an die Hand, mit denen sie sich weiter auseinandersetzen können, wobei wir uns selbst natürlich nach Kräften an der Ausbeutung des Materials beteiligen wollen. Aber es bleibt der Umstand: Der Unterschied zwischen Deskription und Prüfung ist nur ein gradueller, unsere Beobachtung ist strukturiert, und es gilt, unsere Selektion der Beobachtung, soweit sie überlegt geschah, zu begründen. Unsere Fragen gingen zunächst dahin, wo, worüber, wie und zwischen wem in privatrechtlichen Streitigkeiten unter Zuhilfenahme von Dritten entschieden oder geschlichtet wird. Entsprechend sammelten wir Informationen über die Struktur der Entscheidungs- bzw. Schlichtungsinstitutionen, über die Konfliktarten und -häufigkeit, über die Entscheidungsweise und die Streitparteien. In unseren Blickwinkel auf die Struktur der mit der Abwicklung von Konflikten befaßten Institutionen beziehen wir eventuelle rechtliche Normierungen ein, den sachlichen und räumlichen Einwirkungsbereich, die personelle Besetzung und die faktische Zugänglichkeit. Diese Aspekte lassen ganz allgemein eine gesellschaftliche Verortung zu. Die rechtliche oder soziale Organisationsform gibt Aufschluß über die hinter der Institution stehenden Machtfaktoren und die ihr zur Verfügung stehende Sanktionsgewalt. Die personelle Besetzung läßt in quantitativer Hinsicht Aussagen über die Arbeitsbelastung zu und in qualitativer Hinsicht solche über die soziale Distanz zu den Parteien. Aus Art und Häufigkeit der den Institutionen vorgetragenen Konflikte sind zunächst Informationen zu entnehmen über die jeweilige Streitbeilegungsfunktion, dann aber und vor allem, in welchen sozialen Schichten und Systemen diese Funktion ausgeübt wird. Die Daten über die Entscheidungsweise bzw. über das Vorgehen der Institution bei der Schlichtung von Streitigkeiten liegen im Zentrum des Interesses entscheidungs- und konflikttheoretischer Aussagen. Wir prüfen z.B. anhand der Kriterien Schriftlichkeit - Mündlichkeit, Möglichkeit und Üblichkeit von Anwaltsvertretung, Formalisierungsgrad des Verfahrensablaufs u. a. die unterschiedliche Behandlung, die ein Konflikt beim riskanten Ubergang von der Dyade in die Triade erfahren kann. Wenn sich aus diesem vielfältigen Material konkretere Typisierungen von Drittinterventionen bei der Streitbeendigung erarbeiten lassen, ist bereits viel gewonnen. Aus den Feststellungen, welche Normen zur Anwendung gelangen, hoffen wir Thesen über den Geltungsbereich des Rechts gewin-

52

Beobachtung

nen zu können, die Formen der Konfliktbeendigung geben Hinweise darauf, wem das Streitende zugute kommt. Die Merkmale der Streitparteien und ihr Verhalten im Verfahren werden in Bezug gesetzt werden zu theoretischen Aussagen über das Verhalten in Konflikten. Hier ist das wichtigere Material jedoch nicht von der Institutionenanalyse, sondern von unserer Bevölkerungsbefragung zu erwarten. Alle diese Daten, die wir mit der eben umrissenen Beobachtungsperspektive gewinnen, ergeben schon von jeder einzelnen Institution ein komplexes Bild. Noch weit schwerer wird es dem Leser dieses Berichts fallen, einen aussagekräftigen Vergleich zwischen ihnen zu ziehen. Es ist nicht üblich, zwischen einem Priester und einem Arbeitsgericht, zwischen einer Sozialarbeiterin und einem Versicherungsaufsichtsamt Gemeinsamkeiten herzustellen. Unter dem Gesichtspunkt, wie sie in privatrechtlichen Konflikten intervenieren, sind aber gerade solche Vergleiche ein Ziel dieser Arbeit. Wir haben daher einige Faktoren, die wir als besonders nützliche Vergleichsmaßstäbe erachten, ausgewählt und zu einem einheitlichen Prüfschema zusammengestellt, das wir jeweils bei den einzelnen Institutionen mit Werten zwischen 1 (niedrig) und 4 (hoch) versehen und am Ende der Darstellung analysieren: Input-Merkmale Soziale Distanz zwischen den typischen Parteien Soziale Distanz zwischen dem Dritten und dem typischen Kläger Soziale Distanz zwischen dem Dritten und dem typischen Beklagten Grad der Streitigkeit des Konflikts

Verarbeitungsmerkmale Grad der Formalisierung Intensität der Sachverhaltsermittlung Chance der Anwendung rechtlicher Normen Schnelligkeit der Bearbeitung Kostenrisiko für die Parteien

Output-Merkmale Quote der Streitbeendigung außerhalb des Verfahrens Quote der Streitbeendigung innerhalb des Verfahrens

Einige Kategorien dieses Prüfschemas bedürfen einer Erläuterung. Soziale Distanz ist in soziologischer Terminologie die Barriere, die die Interaktion von Individuen erschwert oder verhindert, welche Gruppen mit verschiedenem Status angehören. Die Unterschiede, aus denen sich

Strukturierung der

Beobachtungen

53

soziale Distanz begründet, können auf Schichtenmerkmale zurückzuführen sein, auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Volksgruppen oder auf die Übernahme bestimmter Rollen. In Mexiko spielt für die sozialen Interaktionschancen die Volksgruppenzugehörigkeit nur eine sekundäre Rolle - die langjährigen Integrationsbemühungen dieses fast nur aus ethnischen Minderheiten zusammengesetzten Staates haben sich zweifellos ausgezahlt, die Ideologie der „Mexicanidad" ist heute weitgehend Wirklichkeit geworden. Wir verwenden als Kriterien für soziale Distanz daher nur die schichten- und rollenbedingten Statusmerkmale. Beim Grad der Streitigkeit meinen wir das Ausmaß des Dissenses über Tatsachen oder Werte. Mit dieser Kategorie versuchen wir über die juristische Klassifizierung, die konflikttheoretisch wenig aussagt, hinwegzukommen. Der Grad der Formalisierung bemißt sich danach, ob eine Verfahrensordnung besteht und wie flexibel sie ist, ob der Streit schriftlich oder mündlich abgewickelt wird und inwieweit Anwälte eingeschaltet werden. Anhaltspunkte für die Intensität der Sachverhaltsermittlung sind Informationen, ob und welche Beweismittel zugelassen sind und inwieweit tatsächlich Beweiserhebungen durchgeführt werden. Die Chance der Anwendung rechtlicher Normen ist eine faktische Kategorie. Sie kann bei einem Gericht kleiner sein als bei einer Schlichtungseinrichtung. Verschiedene Faktoren wirken auf diese Chance ein: Sind Juristen als Dritte oder als Anwälte an der Streitbeendigung beteiligt, so fördert dies die Anwendung rechtlicher Normen. Auch soweit der Streit nur unter Nichtjuristen verhandelt wird, ist interessant, ob irgendwelche Rechtskenntnisse bestehen oder Rechtsliteratur zugänglich ist. Bestehen beim Dritten Interessenbindungen oder sind diese - insbesondere durch Korruption - leicht herstellbar, so wird dem Recht relativ geringe Bedeutung im Konflikt zukommen. Schließlich spielt eine Rolle, wie sich eventuelle Entscheidungskontrollen auswirken. Sie können auf die Einführung politischer Gesichtspunkte hinauslaufen (etwa bei Kontrollen durch die Verwaltungshierarchie) oder auf verstärkte Beachtung des Rechts (etwa bei Beschreiten des Gerichtswegs nach erfolglosem Schlichtungsversuch). Die Wirksamkeit dieser Kontrollen hat Einfluß auf die Normanwendung des zuerst mit der Sache befaßten Dritten. In die Kategorie des Kostenrisikos fassen wir sowohl die legalen Verfahrenskosten (Gericht, Anwalt) wie auch die faktisch notwendig anfallenden Nebenkosten, also insbesondere Bestechungsgelder und die üblichen Geldgeschenke für die niederen Angestellten in den staatlichen Institutionen, aber auch etwa Schreibkosten, soweit Schriftform vorgeschrieben ist. Nach unserer Definition erfolgt die

54

Beobachtung

Streitbeendigung innerhalb des Verfahrens, wenn eine Entscheidung ergeht oder ein Schlichtungsvorschlag angenommen wird. Jedes andere Konfliktende, also außergerichtliche Vergleiche oder einfache Aufgabe des Anspruchs, erfolgt für uns außerhalb des Verfahrens. Die einzelnen Werte lokalisieren wir auf einem Kontinuum, das zwischen den Ziffern 1 und 4 verläuft. Es ist bewußt sehr grob gehalten, weil auch unsere Daten keinen größeren Anspruch auf Genauigkeit erheben können. Die wenigsten unserer Kategorien sind mit Statistiken erfaßbar. So handelt es sich meist um eine kritische Zusammenschau von verschiedenen selbst gesammelten Informationen und fremden Einschätzungen. 3.3 Institutionen I: Gerichte 3.3.1 Organisation der Zivil- und

Arbeitsgerichtsbarkeit

Mexiko stellt für privatrechtliche Konflikte ein verzweigtes System von Entscheidungsverfahren zur Verfügung, mit dem wir hier unsere Analyse beginnen wollen und mit dem wir unsere empirischen Studien im Land auch begonnen haben. Diese Vorzugsstellung ist zwar für den Juristen eine Selbstverständlichkeit, bedarf aber für den Soziologen doch einer Begründung. Zwar hat auch die Rechtssoziologie der gerichtlichen Streitbeendigung in letzter Zeit große Aufmerksamkeit geschenkt, doch ist dies eher als Befriedigung eines Nachholbedarfs denn als Einräumung eines Vorrangs zu werten. Vordem neigte man dazu, diese soziale Einrichtung vernachlässigen zu können. Wir wollen hier versuchen, keine dieser Verzerrungen zu wiederholen. Die gerichtlichen Verfahren sollen im Hinblick auf ihre soziale Bedeutung relativiert werden. Das heißt, sie müssen zunächst selbst sehr ausführlich zu Worte kommen, bevor man die anderen Streitbeendigungsformen ins Auge faßt. Die für privatrechtliche Streitigkeiten zuständige Gerichtsbarkeit gliedert sich zunächst in die Zweige der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit. Innerhalb dieser Zweige gibt es jeweils Bundesgerichte (Mexiko ist ein Bundesstaat) und Gerichte der Einzelstaaten (vgl. Fig. 2). Um die Bedeutung dieser Gerichtswege in Vergleich setzen zu können mit den anderen Streitbeendigungsformen der mexikanischen Gesellschaft, genügt es, jeweils nur die untersten Instanzen als die Eingangspforten für alle eventuellen weiteren gerichtlichen Entscheidungsverfahren im Blick zu behalten. Nicht der Entscheidungsinhalt, sondern die Konfliktform steht im Mittelpunkt unseres Interesses. In den Untersuchungs-

Institutionen

I:

ZIVILGERICHTE Bund

55

Gerichte

ARBEITSGERICHTE

Einzelstaat

Bund

Einzelstaat

Suprema Corte de Justicia Tribunales de Circuito

Tribunal Superior

Juzgados de Distrito

Juzgados de Primera Instancia

Juzgados de Paz

Juntas Federales de Conciliación y Arbitraje

Juntas Centrales de Conciliación y Arbitraje

Fig. 2: Gerichtswege in privatrechtlichen Streitigkeiten regionen wurden daher nur die Distriktgerichte des Bundes (Juzgados de Distrito), die Arbeitsgerichte des Bundes (Juntas Federales de Conciliación y Arbitraje) und die von den Einzelstaaten gebildeten Gerichte 1. Instanz (Juzgados de Primera Instancia), Friedensgerichte (Juzgados de Paz) und lokalen Arbeitsgerichte (Juntas Centrales de Conciliación y Arbitraje) einer Prüfung unterzogen. Auf die verschiedenen Möglichkeiten von Berufung, Revision und Verfassungsbeschwerde gehen wir nicht ein. Der Bund und jeder Gliedstaat haben für Zivilsachen ein eigenes Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht (in jedem Gliedstaat gibt es auch einen eigenen Código Civil). Im Gegensatz hierzu sind alle formellen und materiellen Arbeitsrechtsnormen bundeseinheitlich. Die Zivilgerichte des Bundes sind ausschließlich zuständig, insoweit Bundeseigentum oder bundeseigene Unternehmen in Streit stehen. Fakultativ können sie angegangen werden, wenn Ansprüche auf Bundesrecht gestützt werden. Für die Arbeitsgerichte des Bundes ist ausschließliche Kompetenz begründet für Arbeitskonflikte in Bundesunternehmen und in einigen wichtigen in Art. 359 Ley Federal del Trabajo aufgeführten Industriezweigen. Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Friedensgerichten und den Gerichten 1. Instanz in den Einzelstaaten erfolgt im wesentlichen nach dem Streitwert. Im Distrito Federal können die Friedensrichter bei Streitigkeiten bis zu 1000 Peso (entspricht etwa DM 250) entscheiden, im Staat Nayarit bis zu einem Streitwert von 50 Peso. 3.3.2 Methodisches

Vorgehen der

Gerichtsuntersuchung

Die Tätigkeit von Gerichten ist selten transparent. Selbst im Strafprozeß mit seiner weitreichenden öffentlichen Zugänglichkeit zur Haupt5 Gessner, Konflikt

56

Beobachtung

Verhandlung stellt sich für den Soziologen, der die tatsächlichen Entscheidungsabläufe beobachten möchte, das Problem, wie er Daten über wichtige Verfahrensteile, wie z. B. die Urteilsberatung, erhalten kann. Dieses Problem akzentuiert sich in Zivilprozessen, die meist schriftlich abgewickelt werden. Wird kein Zugang zu den Akten gewährt, ist man allein auf Gerichtsstatistiken angewiesen, die kaum jemals die sozialwissenschaftlich interessanten Faktoren ausweisen. Auch in Mexiko waren aus den Tätigkeitsberichten der einzelnen Gerichte nur einige Grunddaten für unseren Forschungsansatz von Interesse. Im übrigen war alles in den Akten verborgen. Ohne Einblick in diese läßt sich bei der extremen Schriftlichkeit der dortigen zivil- und arbeitsrechtlichen Verfahren wenig über die Funktionsweise der Gerichte aussagen. Unsere bei der Vorbereitung des Projekts gehegten Sorgen über die Durchführbarkeit eines eingehenden Aktenstudiums erwiesen sich jedoch erfreulicherweise als unberechtigt. Nach Darstellung unseres rein wissenschaftlichen Interesses erwiesen sich alle Gerichtspräsidenten und Richter als außerordentlich hilfsbereit und gewährten unbeschränkte Akteneinsicht. Insgesamt wurden in den verschiedenen Untersuchungsgebieten über zweitausend Prozeßakten ausgewertet. Neben den Daten aus Akten und Statistiken erhielten wir nützliche Informationen aus zahlreichen Gesprächen mit den Richtern, ihren Mitarbeitern und mit Anwälten. Schließlich nahmen wir an Partei- und Zeugenvernehmungen teil und begleiteten Gerichtsvollzieher bei ihren Dienstgängen. Wichtig war die Repräsentativität der Daten für die Untersuchungsregionen. Die Probleme stellten sich hier auf zwei Stufen: weder bei der Auswahl der Gerichte noch bei der Auswahl der Akten in den Gerichten durften Verzerrungen vorkommen. Die unteren Bundesgerichte in Zivilsachen, das Bundesarbeitsgericht und die lokalen Arbeitsgerichte waren jeweils nur einmal vertreten, so daß nicht ausgewählt werden mußte. Auch mit den beiden lokalen Zivilgerichten in Tepic konnte die Region vollständig erfaßt werden. Beim Besuch der Friedensgerichte im Bundesdistrikt wurde darauf geachtet, daß die ärmlichen, mittleren und wohlhabenden Stadtteile gleichermaßen vertreten waren. Ebenso verteilen sich die auf dem Land untersuchten Gerichte sowohl auf eine isolierte Region wie auf eine kleinere Ortschaft. Die größten Probleme stellten in dieser Hinsicht die Zivilgerichte 1. Instanz in Mexiko-Stadt. Die 34 Gerichte, die sich in einem gemeinsamen Gebäude befinden, haben alle die gleichen örtlichen und sachlichen Zu-

Institutionen

I:

57

Gerichte

ständigkeiten. Die Kläger können die Klage bei einem Gericht ihrer Wahl anhängig machen. Lehnt der Beklagte dieses Gericht ab (recusación sin causa), so gelangt die Sache zu dem in der Numerierung nächsthöheren Gericht. Es ist unmittelbar einsichtig und konnte auch leicht faktisch bestätigt werden, daß diese den Parteien eingeräumten Möglichkeiten bei den Gerichten qualitativ und quantitativ zu höchst unterschiedlichem Arbeitsanfall führen. Eine zufällige Auswahl hätte daher mit Sicherheit zu verzerrten Ergebnissen geführt. Nur eine bewußte Auswahl kam in Betracht. Wir nahmen als Indikator für Repräsentativität die Verteilung der verschiedenen Klagearten in den Gerichten. Ihre Verteilung insgesamt war errechenbar aus der täglichen Bekanntmachung der Beschlüsse (acuerdos) aller 34 Gerichte im Boletín Judicial. Eine Auswahl nach folgender Formel erwies sich schließlich als dem Gesamtbild stark angenähert:

2 = Xx X2 X3 2

= = = =

X, + X , 2

- + x3

Juzgado 14 de lo Civil Juzgado 28 de lo Civil Juzgado 34 de lo Civil Gesamtheit aller Klagearten vor den 34 Juzgados de Primera Instancia

Das weitere Problem der unverzerrten Auswahl der Akten in den einzelnen Gerichten wurde sehr unterschiedlich gelöst. In den kleineren Gerichten konnte jeweils ein ganzer Jahrgang geprüft werden, im übrigen erfolgte die Auswahl nach Buchstaben oder nach Schubladen. 3.3.3 Zivilgerichte 1. Instanz (Juzgados de Primera

Instantia)9

In diesem und den folgenden Abschnitten werden wir uns bemühen, möglichst viele Informationen über die mexikanischen Gerichte, die für privatrechtliche Streitigkeiten zur Verfügung stehen, zusammenzustellen. Dabei interessieren besonders die Fragen nach Struktur und Entscheidungsweise der Gerichte, nach den den Klagen zugrundeliegenden Konflikttypen und nach der sozialen Einordnung der Parteien. a) Zusammensetzung und Arbeitsbedingungen. - Alle Zivilgerichte 1. Instanz bestehen aus einem Richter und weiteren ihm unterstellten Ange9

Die früheren jueces menores sind jetzt den juzgados de primera instancia gleichgestellt. 5 *

58

Beobachtung

stellten. Der Richter ist im Bundesdistrikt wie in Nayarit Jurist mit Hochschulabschluß (Licenciado) und wird vom Obersten Gericht des Einzelstaates für die Dauer einer Wahlperiode (sechs Jahre) ernannt. Unter den Angestellten befinden sich im Bundesdistrikt vier weitere Juristen (Licenciados), von denen zwei (Secretarios de acuerdo) die laufende Beschlußund Vernehmungstätigkeit des schriftlichen Zivilverfahrens durchführen, während die beiden anderen (Secretarios actuarios) Zustellungen, Pfändungen und Vollstreckungen zu erledigen haben. Auch in Nayarit befaßt sich mit diesen Tätigkeiten ein juristisch ausgebildeter Sekretär. Nicht unwesentlich in unserem Zusammenhang sind die äußeren Arbeitsbedingungen der Richter. Die Zivilgerichte in Mexiko-Stadt sind vor einigen Jahren in ein modernes und geradezu luxuriös ausgestattetes Gebäude gezogen. Eine ganze Mannschaft von Angestellten ist dem Richter zu Diensten, isoliert ihn aber gleichzeitig weitgehend von unmittelbaren Kontakten mit Anwälten und Parteien. Das Richtergehalt lag zum Untersuchungszeitpunkt bei etwa 5500 Peso im Monat. Sehr viel anders sind die Bedingungen in Tepic und auf dem Land (Tecuala). Die Gehälter betragen weniger als die Hälfte, der gesamte Gerichtsbetrieb findet in zwei kleinen von Akten überquellenden Räumen statt, zu denen jedermann ohne besondere Schwierigkeiten Zutritt bekommt. Weder Richter noch Anwälte tragen in Mexiko Roben oder sonstige äußere Standeskennzeichen. b) Konfliktarten. - Von den unzähligen Konflikten, für die die Zivilgesetzbücher Regelungen vorsehen, kommen, wie aus Tab. 19 deutlich wird, nur einige wenige Arten zu den Zivilgerichten 1. Instanz. Die mit Abstand wichtigste Gruppe stellen die Ansprüche aus den drei gebräuchlichsten mexikanischen Schuldverschreibungen — Scheck, Wechsel und Pagaré - dar, die praktisch bei jeder Kreditnahme gezeichnet werden. Die Papiere, die bei Gericht eingeklagt werden, stammen ganz überwiegend aus Abzahlungsgeschäften. Quantitativ spielen daneben nur noch die Mietstreitigkeiten eine Rolle. Überwiegend sind dies Räumungs- und Kündigungsklagen, die aufgrund der Mieterschutzbestimmungen des mexikanischen Privatrechts vor die Gerichte gelangen. In wesentlich geringerem Umfang werden Mietzinsforderungen eingeklagt. Alle übrigen Konflikte fallen zahlenmäßig kaum ins Gewicht, es sind einige wenige Ehescheidungsklagen, Hypothekenklagen und Unterhaltsklagen (überwiegend für die Ehefrau, nur in drei Fällen für uneheliche Kinder).

Institutionen

I: Gerichte

59

Tab. 19: Konflikttypen vor den Zivilgeriditen 1. Instanz

Scheck, Wechsel, Pagare Mietsachen Hypothekensachen streitige Scheidungen Unterhalt Sonstige Total

Mexiko-Stadt Vo

Tepic/Nayarit

Tecuala/Nayarit o/o

62,3 29,7 1,9 1,4 1,4 3,3

87,8 7,0 0,4 0,5 0,2 3,0

75,5 17,7

100 (n = 361 Konflikte)

100 (n = 2064 Konflikte)

100 (n = 90 Konflikte)

%

— • —

2,2 4,4

In den Restkategorien sind folgende Konfliktarten enthalten: Mexiko-Stadt

(12 aus 361 Akten)

Geltendmachung eines Eigentumsvorbehalts (Auto) Rücktritt vom Wohnungsverkauf, Zahlung, R ä u m u n g Rückzahlung einer ungerechtfertigten Schadensersatzleistung f ü r Schäden am gemieteten A u t o Anspruch auf Mietentgelt f ü r Baugerüst Ansprüche auf Importkosten- und Auslagenersatz Forderung auf Zahlung gelieferter Waren Ersatz von A u f w e n d u n g e n f ü r einen Minderjährigen Erfüllung eines Werkvertrags auf Herstellung eines Grabmals, Zahlung der Vertragsstrafe A n t r a g eines Gläubigers auf Konkurseröffnung Tepic (24 aus 889 Akten) Geltendmachung eines Eigentumsvorbehalts Grundstücksangelegenheiten Rücktritt vom Mietvertrag über eine Maschine Werklohnforderung aus Bauauftrag Schadensersatz f ü r die Ermordung des Ehemannes H o n o r a r f o r d e r u n g eines Rechtsanwalts Rückzahlung eines Darlehns f ü r einen Hauskauf Feststellung des Erbrechts.

Beobachtung

60

Auffällig ist, daß in der Auswahl kein Schadensersatzkonflikt aus Verkehrsunfall und keine Gewährleistungsforderung enthalten sind. Die geringe Varianz der Konfliktarten bedeutet allerdings nicht, daß die Gerichte unterbeschäftigt wären. Abgesehen davon, daß die beiden Hauptfälle der Wechsel- und Mietsachen in großer Zahl eingehen, ist zu beachten, daß die Richter neben ihrer Tätigkeit in streitigen Fällen noch etwa 20-30 °/o ihrer Arbeitszeit für Aufgaben zu verwenden haben, die wir nicht als Konfliktbeendigung klassifiziert haben. Es sind dies Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit 10 , Handels- und Personenstandsregistersachen, Hinterlegungssachen, unstreitige Erbfälle und einverständliche Scheidungen. Auch im Rahmen dieser Tätigkeiten werden Urteile erlassen. c) Entscheidungsweise. — Die Arbeit der Zivilgerichte mag zunächst aus einigen den Jahresberichten entnommenen Zahlen 11 deutlich werden: Tab. 20: Akteneingang und Urteilshäufigkeit in Zivilgerichten 1. Instanz

Eingänge/ Berichtsjahr *

Urteile/ Berichtsjahr *

Anteil der Urteile an den Eingängen °/o

144 296

37 383

25,9

2 860

543

19,0

159

12

7,5

Zivil geridite 1. Instanz Mexiko-Stadt Zivilgeridite 1. Instanz Tepic/Nayarit Zivilgerichte 1. Instanz Tecuala/Nayarit

* in Mexiko-Stadt: 1.12.1967-31.11.1968 in Nayarit: Kalenderjahr 1969 10 Vgl. die weite Definition in Art. 893 Código de Procedimientos Civiles (D. F.): „La jurisdicción voluntaria comprende todos los actos en que por disposición de la ley o por solicitud de los interesados se requiere la intervención del juez, sin que esté promovida ni se promueva cuestión alguna entre partes determinadas." 11 Die Zahlen geben die gesamte Arbeit der Geridite wieder, also auch die Tätigkeiten, die nicht Konfliktbeendigungen betreffen (insbes. freiwillige Gerichtsbarkeit). Dagegen betreffen die Zahlen unserer Aktenauswahl nur Konflikte.

61

Institutionen I: Gerichte

Auffällig an diesen Zahlen ist zunächst die deutlich abnehmende Urteilshäufigkeit zwischen der Metropole, der Provinzhauptstadt und der Ortschaft auf dem Land. Im übrigen aber stellen sich die Fragen: Wie erledigen sich die Klagen, bei denen es zu keinem Urteil kommt? Wieso ist überhaupt der Anteil der Urteile so gering? Wie sehen die Entscheidungen inhaltlich aus? Die Antworten sind unseren Aktenstichproben zu entnehmen. D a es sich bei den Zivilgerichten in Mexiko-Stadt um noch nicht archivierte Akten handelte, im Einzelfall also noch weitere Verfahrensereignisse eintreten konnten, geben sie keinen ganz richtigen Eindruck vom Prozeßabschluß. Immerhin läßt sich ein sehr viel konkreteres Bild vermitteln, als es aus den amtlichen Zahlen gewonnen werden konnte. Als wichtigste Variable, die die gerichtliche Entscheidungsweise beeinflußt, erweist sich dabei die Konfliktart. Tab. 21: Prozeßende nach Konfliktarten vor den Zivilgeriditen (Mexiko-Stadt) Klagerücknahme

Urteile

wegen außergen

Scheck, Wechsel, Pagaré 225 107 Mietsachen Hypothekensachen 7 streitige 5 Scheidungen Unterhalt 5 Sonstige 12 361

wegen

richtl. Vergleich

Erfüllung

(vermutet)

stattgeg.

11 7

9 3

67 52

33 17

2

2 entf.

1

1 1 2

13

125

2

20

abge-

Zwangs-

wiesen

Vollstreckung

2 54

In etwa einem Drittel unserer in Mexiko-Stadt ausgewählten Akten war bereits ein Urteil ergangen, und zwar fast ausschließlich in Wechselund Mietsachen. Nur sechs Urteile betrafen andere Konflikte. Etwa ein Zehntel der Konflikte war durch Klagerücknahme beendet. Fast die Hälfte der Urteile mußte vollstreckt werden. In keinem der 125 Urteile wird die Klage ganz oder auch nur teilweise abgewiesen. Die in Tab. 22 wiedergegebenen Zahlen sind das Ergebnis der Auswertung eines Jahrgangs (1969) eines der beiden Zivilgerichte (juzgado

Beobachtung

62

civil 1°) in Tepic 12 . Es handelte sich zum Teil um laufende, zum Teil um archivierte Akten. Wegen dieses nicht ganz identischen Verfahrensstandes sind die Tabellen 21 und 22 nur beschränkt vergleichbar. Tab. 22: Prozeßende nadi Konfliktarten (Tepic)

n

Scheck, Wechsel, Pagare Mietsachen Hypothekensachen streitige Scheidungen Unterhalt Sonstige

Klagerücknahme wegen, wegen außergeriditl. Erfüllung Vergleich

Urteile

stattgeg.

abgewiesen

1

751 50

392 5

33 10

98 10

15

3

1

2

11 11 23

2

1 4 1

2

861

412

50

112

1

Auch in Tepic stammen fast alle Urteile aus Wechsel- und Mietsachen. In allen anderen Prozessen ergingen insgesamt nur vier Urteile. In nur einem einzigen Urteil wird die Klage abgewiesen. Wechselprozesse werden überwiegend durch Klagerücknahmen beendet. Weiter kann das Prozeßverhalten des Beklagten Aufschluß geben über die Entscheidungsweise der Gerichte. Verlaufen die Verfahren überwiegend streitig, so kommt dem Richter und dem Recht eine andere Funktion zu, als wenn dies nicht der Fall ist. Auch die Konflikte selbst sind anders zu beurteilen, wenn die Auseinandersetzung vor Gericht mit allen dort zur Verfügung stehenden Mitteln fortgeführt wird, als wenn ein „Kampf ums Recht" hier gar nicht stattfindet. T a b . 23 führt uns in dieser Beziehung höchst überraschende Zahlen vor. Es stellte sich nämlich heraus, daß sich der Beklagte vor den Zivilgerichten 1. Instanz in 85 °/o der von uns untersuchten Prozesse überhaupt nicht zu den Akten gemeldet hatte 1 3 . Nicht 12 Von der Gesamtzahl der 889 Konflikte konnten nur 861 Akten aufgefunden werden. Die fehlenden 28 Akten betreffen nicht Wechselsachen. Die in der Tabelle enthaltenen Angaben über die Beendigung von Wechselprozessen wurden aus einem Sample von 44 Akten hochgerechnet, da die Prozeßverläufe sich nur als wenig unterschiedlich erwiesen. 1 3 Die Zahlen sind nur unwesentlich dadurch verzerrt, daß sie durch eine Auswertung

Institutionen

I: Gerichte

63

einmal die 1 2 % der Beklagten, die in irgendeiner Form auf die Klage reagiert hatten, waren überwiegend in eine Argumentation über Tatsachen oder Rechtsfragen eingetreten. Wir haben in der Aktenauswahl dieses Gerichtstyps keine einzige Beweisaufnahme aufgefunden, höchst selten setzt sich ein Urteil mit unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Parteien auseinander. Tab. 23: Verhalten des Beklagten in den Prozessen vor den Zivilgeriditen 1. Instanz o/o der °/o der Vo der Prozesse Prozesse Prozesse ohne mit m. GegenReaktion Reaktion klage

Scheck, Wechsel, Mexiko-Stadt Pagare Tepic Mietsachen Mexiko-Stadt Tepic HypothekenMexiko-Stadt sachen Tepic streitige Mexiko-Stadt Scheidungen Tepic Unterhalt Mexiko-Stadt Tepic Sonstige Mexiko-Stadt Tepic Gesamt (gewogenes Mittel)

91,1 93,1 81,3 38,0 85,7 84,7 60,0 54,6 100,0 63,6 41,6 43,4

8,9 6,9 13,0 52,0 14,3 15,3 40,0 45,4 27,2 41,6 56,6

9,2 16,8

85,8

12,6

1,1



— —

5,7 10,0 — — — —





Total 100 % 100% 100 % 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100%

(n = 2 2 5 ) (n = 751) (n = 107) (n = 50) (n = 7) (n = 15) (n = 5) (n = 11) (n = 5) (n = 11) (n = 12) (n = 23)

1 0 0 % (n = 1222)

Alle diese Zahlen werden erst interessant und aussagekräftig, wenn es gelingt, mit ihnen und den weiteren Informationen aus unserer teilnehmenden Beobachtung ein plastisches Bild vom Zivilgerichtsprozeß in Mexiko zu vermitteln. Zunächst erscheint vieles paradox: Das tägliche Bild der vielen wartenden oder eifrig diskutierenden Menschen in den Gängen der Gerichtshöfe verträgt sich nicht mit dem uninteressierten Prozeßverhalten der Parteien. Die Zahl der Prozesse steht in einem offenbaren Mißverhältnis zur Zahl der Urteile. Und schließlich widerspricht es jeder Vorstellung vom interessenabwägenden Gerichtswesen, wenn noch nicht archivierter Akten gewonnen wurden. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, daß sich der Beklagte auch in einem späten Stadium des Prozesses - also eventuell nach dem Untersuchungszeitpunkt - noch zu den Akten meldete. Die Eigenart des mexikanischen Zivilverfahrens macht eine solche späte Reaktion aber nicht sehr sinnvoll.

64

Beobachtung

durchwegs nur Urteile erlassen werden, die der Klage in vollem Umfang stattgeben. Wir wollen uns vorrangig mit den Prozessen befassen, die in allen Untersuchungsregionen mehr als 9 0 % der streitigen Fälle ausmachen, nämlich den Wechsel- und den Mietprozessen. Wichtig ist zunächst, daß für beide summarische Verfahren vorgesehen sind (juicio ejecutivo mercantil, juicio sumario de desahucio, de terminación de contrato, de desocupación), die den Entscheidungsgang erleichtern und beschleunigen sollen (vgl. Art. 489 ff. mit Art. 225 bis 429 Código de Procedimientos Civiles und Art. 1391 bis 1414 Código de Comercio). Den bei Gericht geltend gemachten Wechsel-, Scheck- oder Pagaréansprüchen liegt regelmäßig ein Abzahlungsgeschäft zugrunde. Werden die fälligen Raten nicht rechtzeitig bezahlt, so geht die Sache routinemäßig zum Anwalt. Dieser reicht die Klage bei dem Gericht seiner Präferenz ein, d. h. dort, wo ihm der Zustellungs- und Vollstreckungsbeamte (actuario) am besten vertraut ist. Diesem kommt wegen der in Exekutivprozessen vorgesehenen Sicherheitspfändung (embargo precautorio) entscheidende Bedeutung zu. Er kann die gewünschte Pfändung in der Reihenfolge der Anträge erledigen — was eine Verzögerung von mehreren Monaten bedeuten kann —, oder er kann sich zu einem früheren Termin bewegen lassen. Er kann alle Pfändungen eines Anwalts, der ihn zu begleiten hat, auf denselben Tag legen oder nicht. Schließlich kann er bei den Verhandlungen mit dem Schuldner sehr unterschiedlichen Druck ausüben. Die Pfändung erfolgt durch Besitzübertragung eines dem Wert des Anspruchs entsprechenden Gegenstandes auf einen Verwahrer (depositario). Im allgemeinen wird die durch Abzahlungsgeschäft erworbene Sache selbst weggenommen und einer Vertrauensperson des Klägers ausgehändigt. Damit ist für einen Teil der Kläger das Ziel bereits erreicht. Die Sache wird vor Gericht nicht weiter betrieben, was zur Folge hat, daß auch dort keine Veranlassung besteht, irgendwelche Beschlüsse zu fassen oder ein Urteil zu erlassen 14 . Nach einer gewissen Zeit wird die Akte archiviert. Verbleib oder Verwertung des gepfändeten Gegenstandes interessieren gerichtlicherseits nicht mehr. Auf diese Weise erklärt sich die Diskrepanz zwischen der hohen Zahl der Akteneingänge bei Gericht und der niedrigen Zahl der auf förmliche Weise beendeten Prozesse. 14 Art. 137 Cód. Proc. Civ., der bei Nichtbetreiben der Sache während eines halben Jahres die Einstellung des Verfahrens und damit die Unwirksamkeit der Prozeßhandlungen wie z. B. die Sicherheitspfändung vorsieht, gilt wegen Art. 1051 Cód. de Comercio nicht in Handelssachen. Vgl. BECERRA BAUTISTA 383 f.

Institutionen

I: Gerichte

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Eine zweite wichtige Beendigungsform, die Klagerücknahme wegen Erfüllung der Forderung, ist auch nur aus der Einrichtung der Sicherheitspfändung her verständlich. Die Situation bei diesen Pfändungen ist für den Schuldner außerordentlich prekär. Unangemeldet erscheinen bei ihm zu Hause der Aktuarius, der Klägeranwalt (evtl. in Begleitung des Klägers) und einige Transportarbeiter mit einem Lastwagen. Ihre Drohungen mit dem endgültigen Verlust der zu pfändenden Gegenstände, mit den Prozeßkosten und mit dem Verlust der bereits gezahlten Raten veranlassen viele Schuldner zu den größten Anstrengungen, den ausstehenden Betrag aufzutreiben. Es mag an der Stärke solcher Drohungen liegen oder daran, daß außerhalb der Metropole die gegenseitige Hilfsbereitschaft von Angehörigen der Großfamilie oder von Nachbarn stärker ausgebildet ist, daß die Forderungserfüllung in dieser Situation in Tepic erheblich häufiger ist als in Mexiko-Stadt (vgl. die entsprechenden Zahlen in Tab. 21 und 22). Die dritte Beendigungsform von Wechselprozessen ist schließlich das der Klage stattgebende Urteil. Es läßt nicht nur in aller Form die Befriedigung aus der gepfändeten Sache zu, sondern gibt insbesondere auch noch eine letzte Möglichkeit, den Schuldner zur Zahlung zu bewegen. Von Seiten des Gerichts ist es eine Routineangelegenheit. Tatsachen und anzuwendendes Recht sind unstreitig geblieben, der urteilsverfassende Gerichtssekretär kann sich damit begnügen, die Daten des Prozesses in ein vorgefertigtes Formular einzufügen. Mietprozesse sind in aller Regel Klagen von Vermietern gegen Mieter auf Beendigung des Mietvertrags und Räumung der Wohnung. Dahinter steht die Absicht der Vermieter, höhere Mieteinnahmen zu erzielen, was durch das „Einfrieren" der Mieten durch das Dekret vom 24. Dezember 1948 für den Bereich des Bundesdistrikts über die Schutzbestimmungen der Art. 2483 ff. Código Civil hinaus erheblich erschwert worden ist. Das Dekret verlängert alle im Bundesdistrikt zum Zeitpunkt des Erlasses bestehenden Mietverträge auf unbestimmte Zeit und läßt Vertragsbeendigungen gegen den Willen des Mieters nur durch Gerichtsentscheid zu. Wichtigster Auflösungsgrund ist ein Mietrüdkstand von drei oder mehr Monaten. Diesen Klagegrund schaffen nun Vermieter oft selbst, indem sie - etwa durch Abwesenheit - die pünktliche Mietzahlung verhindern oder die Annahme verweigern. Zwar machen nicht wenige Mieter von der dann rechtlich gegebenen Möglichkeit Gebrauch, die geschuldete Summe bei Gericht zu hinterlegen (in unserer Aktenauswahl für MexikoStadt stehen den 107 Mietprozessen immerhin 10 Hinterlegungen gegen-

66

Beobachtung

über, im übrigen dürften aber die meisten Mieten bei den Friedens g e r i e ten hinterlegt werden). Weniger informierte Bevölkerungsschichten gehen jedoch leicht in die Falle und sehen sich unvermittelt als Beklagte in einem Prozeß. Relativ viele im Vergleich zu den anderen Prozeßtypen (in unserer Aktenauswahl fast 20 % ) versuchen, ihre Situation durch Klagebeantwortung oder Gegenklage noch zu retten. Außer einer oft erheblichen Prozeß Verzögerung (einige Mietakten waren bereits drei und mehr Jahre alt) läßt sich jedoch substantiell nichts mehr erreichen 15 : Alle Urteile geben wiederum der Klage statt. Werden sie vollstreckt (dies war der Fall in 17 der 52 in Mexiko-Stadt eingesehenen Mieturteile), so erscheint beim Mieter der Aktuarius in Begleitung des Klägers und/oder seines Anwalts und einer Mannschaft von Transportarbeitern, die innerhalb kürzester Frist alle Möbel und Einrichtungsgegenstände vor das Haus auf die Straße stellen, wo die Familie - schon um ihr Eigentum zu schützen - auch übernachtet, bis es ihr gelingt woanders Obdach zu finden. Außerhalb der Metropole und damit außerhalb des Geltungsbereichs der Mieterschutzbestimmungen hat der Mietprozeß anderen Charakter. D a Mietpreise und Mietdauer sich nach dem Vertragsinhalt, nicht aber nach den gesetzlichen Bestimmungen richten, hat der Vermieter größere Handlungsfreiheit und ist bei der Gestaltung des Mietverhältnisses nicht auf das Beschreiten des Gerichtsweges angewiesen. Es steht in seinem Belieben, das Mietverhältnis nach Ablauf des Vertrags nicht zu verlängern oder die Miete zu erhöhen. Dadurch erklärt sich der in der Provinz erheblich niedrigere Anteil der Mietprozesse an der Gesamtheit der zu den Gerichten gelangenden Streitigkeiten (vgl. die Zahlen in Tab. 19). Weiter wird das besonders aktive Prozeß verhalten des Beklagten (vgl. Tab. 23) verständlich: Die Fälle selbst sind streitiger, für die Routinefälle bedarf es keiner Klage. So erreichen die Beklagten ebenso viele Vergleiche wie die Kläger Urteile, und in einem Mietprozeß in Tepic wird sogar die Klage abgewiesen (vgl. Tab. 22). Die knapp 10 % der Prozesse, die neben den Wechsel- und Mietsachen 1 5 Das Mieterschutzdekret vom 29. 12. 1948 gibt in Art. 7 I dem verklagten Mieter die Möglichkeit, die Vertragsauflösung durch nachträgliche Zahlung der rückständigen Miete abzuwenden. Entgegen dem eindeutigen Wortlaut schränkt aber der Oberste Gerichtshof diese Bestimmung dahin ein, daß dies nur bei höchstens drei rückständigen Monatsmieten gelte. Dadurch wird der dem Mieter gegebene Schutz praktisch zunichte gemacht, da der Vermieter erst nach vier ausstehenden Mietraten klagen wird.

V g l . den T e x t des D e k r e t s bei ROJINA VILLEGAS 2 5 0 f . u n d die W i e d e r g a b e des E n t -

scheidungssatzes der Corte Suprema de la Nación in der 3. Auflage, México 1968, Bd. I V , S. 2 5 3 .

Institutionen

I:

Gerichte

67

die Gerichte beschäftigen, sind unterschiedlich zu beurteilen. Hypothekenklagen stehen den Wechselprozessen sehr nahe; auch sie unterliegen einem summarischen Verfahren, die Beklagten befinden sich weder faktisch noch prozessual in einer Position, in der eine Klagebeantwortung aussichtsreich ist. Anders bei Scheidungen und den Konflikten, die wir in der Restkategorie zusammengefaßt haben. Tabelle 23 erweist deutlich die größere Beteiligung des Beklagten am Prozeß, und es ist wohl nicht besonders gewagt zu vermuten, daß die berüchtigten Einwirkungen auf den Richter, die das nachteilige Bild des Gerichtswesens in der mexikanischen Gesellschaft bewirken, hauptsächlich hier ihren Platz haben. Nur hier sind Freundschaftsbezeugungen oder — als primitivere Form — materielle Zuwendungen sinnvoll, denn nur hier ist die Entscheidungssituation hinreichend offen, flexibel und schwer kontrollierbar. Wenn trotzdem kein abweisendes Urteil zu verzeichnen ist, so sagt das wenig aus: Zum einen sind schon hinter den der Klage stattgegebenen Urteilen derartige Einwirkungen zu vermuten. Zum anderen aber ist dort ein weites Feld für Freundlichkeiten, wo Prozesse unendlich lange verzögert werden oder Akten nicht mehr auffindbar sind. Auf diese Weise ist ja für die Beklagten auch meist mehr zu erreichen als durch klagabweisende Urteile, gegen die Rechtsmittel eingelegt werden könnte. Es bleibt die Frage: Was machen all die vielen Leute, die in den Gängen der Zivilgerichte warten und diskutieren? Denn daß sie selbst die Prozesse führen, ist bei der komplizierten schriftlichen Verfahrensweise ein seltener Fall. Wir haben leider über diesen Punkt keine Befragung durchgeführt und können daher nur einige Erklärungen anbieten. Im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, für Hinterlegungen und einverständliche Scheidungen ist das Erscheinen der Partei zum Teil ohne Anwalt möglich, zum Teil mit Anwalt notwendig. Im übrigen gibt es natürlich auch Zeugenvernehmungen, wenn sie auch in der Masse der Prozesse kaum eine Rolle spielen. Schließlich gibt es auch Motive für die Parteien, ihre Anwälte bei den Gängen zum Gericht zu begleiten. Eines davon ist sicherzugehen, über den Verfahrensstand informiert zu werden, denn die Kommunikation Anwalt-Klient scheint gelegentlich nicht allzu intensiv zu sein 16 . 1 6 Von einer Zwangsräumung, die wir beobachten konnten, war der Anwalt des Beklagten benachrichtigt worden. Dieser sah sich aber nicht veranlaßt, Rechtsmittel einzulegen oder die bevorstehende Räumung seinem Klienten auch nur mitzuteilen, so daß der Mieter buchstäblich aus heiterem Himmel mit H a b und Gut auf die Straße gesetzt wurde. Seine Überraschung wird daraus deutlich, daß er die Polizei holte, um nach dem Rechten sehen zu lassen.

Beobachtung

68

d) Merkmale der Parteien. - Es war eines der wichtigsten Ziele dieser Untersuchung herauszufinden, wie sich die verschiedenen Konfliktbeendigungsformen auf die sozialen Schichten verteilen. Erst eine Beantwortung dieser Frage ermöglicht weitere Interpretationen über Funktionen und Folgen der einzelnen Streitlösungswege, die die mexikanische Gesellschaft anbietet. Unsere Aktenauswertung ließ eine genaue Einordnung der Parteien nach ihrer Schichtenzugehörigkeit nicht zu. Berufe oder sonstige für die Zuordnung wichtige Merkmale waren im allgemeinen nicht angegeben; es hätte schon eines Besuchs bei den Parteien bedurft, um sie herauszufinden. Abgesehen von dem beträchtlichen Zeit- und Kostenaufwand hätte dies aber gegen die Diskretionspflicht verstoßen, der wir bei der Einsichtnahme unterlagen. Zu ersehen war allerdings, ob eine Partei die Form einer Aktiengesellschaft hatte. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in Mexiko die meisten - auch sehr kleinen — Unternehmen diese Rechtsform wählen. Für Mexiko-Stadt ergaben sich folgende Zahlen: Tab. 24: Aktiengesellschaften als Prozeßparteien v o r den Zivilgeriditen 1. Instanz in Mexiko-Stadt

Prozesse insgesamt

davon ist Kläger A G Beklagte A G

Scheck, Wechsel, Pagaré Mietsachen andere Prozesse

225 ( 1 0 0 % ) 107 ( 1 0 0 % ) 29 ( 1 0 0 % )

9 0 (35,5 % ) 13 (12,1 % ) 11 ( 3 7 , 9 % )

Total

3 6 1 (100«/«)

114 (31,6%)

26 ( 1 0 , 0 % ) 2 (1,9%) 4 (1,3%) 32 ( 8 , 8 % )

Der in Tab. 24 bereits relativ hohe Anteil der Aktiengesellschaften unter den Klägern dürfte in Wirklichkeit noch erheblich höher liegen. In sehr vielen Fällen machen die Anwälte die Schuldpapiere in eigenem Namen geltend. Derartige Indossamente auf die Anwälte zum Zwecke der Beitreibung der Forderung hat für den Auftraggeber den Vorteil, nach außen nicht als Kläger in Erscheinung zu treten. Er vermeidet auf diese Weise seine Veröffentlichung im Boletín Judicial, in dem die laufenden Gerichtsbeschlüsse angezeigt werden, wie auch im „Mexico Mercantil", einem wöchentlich herausgegebenen Mitteilungsblatt einer privaten Gesellschaft, in dem Konkurse, Zahlungseinstellungen, Klagen, Kapital-

Institutionen I: Gerichte

69

erhöhungen etc. bekanntgemacht werden. Es liegt auf der Hand, daß es nachteilige geschäftliche Auswirkungen haben kann, hier allzu oft genannt zu werden. Mit dieser Korrektur weisen unsere Daten sehr deutlich darauf hin, daß es sich bei den Klagen vor den Zivilgerichten zum großen Teil um Verfahren von Wirtschaftsunternehmen gegen Privatleute handelt. Dies läßt sich auch dahin ausdrücken, daß sich Wohlhabende der Gerichte bedienen, um ihre Ansprüche gegen weniger Wohlhabende durchzusetzen. N u r Wohlhabende können die Klagen einreichen, die über 90 °/o der vor die Gerichte gelangenden Konflikte ausmachen: N u r sie haben Wechsel in Händen, vermieten Häuser oder geben hypothekarisch gesicherte Darlehen aus. Input-Merkmale Soziale Distanz zwischen den typischen Parteien: 3 Soziale Distanz zwischen dem Dritten und dem typischen Kläger: 1 Soziale Distanz zwischen dem Dritten und dem typischen Beklagten: 3 Grad der Streitigkeit des Konflikts: 1

Verarbeitungsmerkmale Grad der Formalisierung: 4 Intensität der Sachverhaltsermittlung: 2 Chance der Anwendung rechtlicher Normen: 3 Schnelligkeit der Bearbeitung: 1 Kostenrisiko für die Parteien: 4

Output-Merkmale Quote der Streitbeendigung außerhalb des Verfahrens: 4 Quote der Streitbeendigung innerhalb des Verfahrens: 1

3.3.4 Friedensgerichte (Juzgados de Paz) Der Grundgedanke der Einrichtung der mexikanischen Friedensgerichte ist es, den unteren Bevölkerungsschichten einen unkomplizierten Rechtsweg zu verschaffen. Organisatorisch sind sie in den einzelnen Staaten jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet. Im Bundesdistrikt handelt es sich um Gerichte im eigentlichen Sinn mit einem voll ausgebildeten Juristen als Richter und weiterem Dienstpersonal. Ihre Zuständigkeit geht bis zu einem Streitwert von 1000 Peso. Im Staat Nayarit fungieren dagegen Laien als Friedensrichter, die lediglich des Lesens und Schreibens fähig sein müssen. Sie können nur bis zu einem Streitwert von 25 Peso (etwa

Beobachtung

70

DM 6.-) endgültig entscheiden. Entscheidungen über 25 bis zu maximal 50 Peso sind bei den Zivilgerichten als Berufungsinstanz anfechtbar. Da die Entscheidungskompetenz dieser Richter so unbedeutend ist, ihnen andererseits eine nicht unwichtige Schlichtungsfunktion zukommt, werden wir sie im Rahmen der Streitschlichtungsinstitutionen abhandeln. Im folgenden beziehen wir uns also nur auf die Friedensgerichte in der Metropole. a) Arbeitsbedingungen. — Die sechzehn Friedensgerichte in Mexiko-Stadt befinden sich aufgrund gesetzlicher Anordnung jeweils im selben Gebäude mit den für die einzelnen Stadtbezirke zuständigen Polizeidelegationen. Sie sind durchwegs äußerst bescheiden eingerichtet. Die Räumlichkeiten beschränken sich auf zwei bis drei Zimmer, die, da die Türen immer offen stehen, für jedermann ohne weiteres zugänglich sind. Die Richter, deren (verlängerbare) Amtsperiode auch hier nur sechs Jahre beträgt, bezogen zum Untersuchungszeitraum ein Gehalt von etwa 4000 Peso monatlich. Der Arbeitsbereich ist in Zivil- und Strafsachen aufgeteilt (es handelt sich durchwegs um juzgados mixtos de paz), deren laufende Beschluß- und Vernehmungstätigkeit von jeweils einem Sekretär erledigt wird. b) Konfliktarten. - Das vereinfachte Verfahren vor den Friedensgerichten, ihre Lokalisierung in allen Stadtbezirken und ihre äußere Gestaltung, die so wenig darauf angelegt ist, Distanz zu halten, legen die Vermutung nahe, daß sich hier die ganze Vielfalt von privatrechtlichen Konflikten, die in jeder Gesellschaft entstehen, in den Prozessen widerspiegelt. Unsere Aktenauswertung erweist, daß dies nicht der Fall ist: Tab. 25: Klagearten vor den Friedensgerichten in Mexiko-Stadt (n = 203) Scheck, Wechsel, Pagaré etc. Mietsachen Sonstige

121 (59,6 «/o) 68 ( 3 4 , 0 % ) 14 (7,0 /o)

Total

203

(100%)

93 °/o der Prozesse sind Wechsel- und Mietsachen. Die sonstigen Konflikte betreffen: mehrere Kaufpreisforderungen für gelieferte Waren Rückzahlung einer Kaution nach Beendigung eines Dienstverhältnisses Werklohn eines Handwerkers Schadensersatz aus Werkvertrag (Reinigung von Kleidung)

71

Institutionen I: Gerichte

Rückgewähranspruch nach Rücktritt vom Kaufvertrag Rückzahlung einer Maklergebühr Geltendmachung einer Vertragsstrafe. Von den vielen Streitigkeiten, die man in dieser Aufstellung vermißt, soll besonders eine erwähnt werden: die Rückforderung von gewährten Darlehen. In den unteren Schichten Mexikos ist das Leihen von kleineren Geldsummen an der Tagesordnung. Offenbar scheut man sich aber davor, ausstehende Beträge gerichtlich geltend zu machen. c) Entscheidungsweise. — Als Ausgangspunkt lassen sich wiederum die amtlichen Zahlen über den Anteil der durch Urteil erledigten Prozesse an der Gesamtzahl der Akteneingänge heranziehen: Tab. 26: Eingänge und Urteile in den 16 Friedensgerichten von Mexiko-Stadt Eingänge/Berichtsjahr * Urteile/B eriditsjahr * Verhältnis Urteile/Eingänge

20 542 2 035 9,8 o/o

Berichtsjahr: 1.12.1967-31.11.1968 Vor den Friedensgerichten werden also nur noch knapp 10 % der Verfahren durch Urteil abgeschlossen. Es liegt nahe, diese geringe Urteilshäufigkeit auf die ausgleichende Funktion zurückzuführen, die diesem Gerichtszweig zugedacht ist. Gemäß Art. 20 Abs. VI des Spezialkapitels über die Friedensgerichtsbarkeit innerhalb der Zivilprozeßordnung für den Bundesdistrikt hat der Richter in jedem Stadium des mündlichen Verfahrens auf eine vergleichsweise Einigung der Parteien hinzuwirken. Dies setzt allerdings voraus, daß überhaupt ein mündliches Verfahren stattfindet, und ferner, daß die Beklagten zu den Terminen erscheinen. Wir haben versucht, in den Prozeßakten der vier in Mexiko-Stadt besuchten Friedensgerichte darüber Aufschluß zu erlangen. Zunächst ist zu sagen, daß in 6 0 % der vor den Friedensgerichten ausgetragenen Streitigkeiten gar kein mündliches Verfahren stattfindet, weil es sich um Scheck-, Wechsel- oder Pagaresachen handelt, deren prozessuale Behandlung sich nach dem Codigo de Comercio richtet. Für eine ausgleichende Funktion des Richters ist hier nirgends Raum. Der Beklagte meldet sich fast nie zu den Akten (vgl. Tab. 28). Der Kläger erlangt entweder volle Zahlung seines Anspruchs schon bei der Sicherheitspfändung, oder er befriedigt sich stillschweigend oder nach einem Urteil aus dem 6

Gessner, Konflikt

Beobachtung

72

Tab. 27: Prozeßende nadi Konfliktarten vor den Friedensgerichten (Mexiko-Stadt) Klagerücknahme

n

wegen Erfüllung

Urteile wegen außerger. Vergleich (vermutet) stattgegeben abgewiesen

Scheck, Wechsel, Pagaré Mietsachen Sonstige

121 68 14

25 11

16 22 2

18 17 7

2

Total

203

36

40

42

2

Tab. 28: Verhalten des Beklagten in den Prozessen vor den Friedensgerichten (Mexiko-Stadt) o/o der Prozesse ohne Reaktion

o/o der Prozesse mit Reaktion

°/o der Prozesse mit Gegenklage

Total

Scheck, Wechsel, Pagaré Mietsachen Sonstige

99,2 58,7 92,8

0,8 41,3 7,2

— — —

100 o/o (n = 121) 100°/o (n = 68) 100 °/o (n = 14)

gewogenes Mittel

86,5

13,5



100 °/o (n = 203)

gepfändeten Gegenstand (vgl. Tab. 27). Bei den Vergleichen, die wir hinter einem Teil der Klagerücknahmen vermuten (vgl. Tab. 27), kann allenfalls der Vollstreckungsbeamte (actuario) mitgewirkt haben, der ja mit beiden Parteien während des Pfändungsvorgangs zusammentrifft. Allein in Mietprozessen hat der Richter Gelegenheit, so wie es die Prozeßordnung vorsieht, die Sach- und Rechtslage mit den Parteien zu erörtern, ohne an ein strenges Verfahrens- und Beweisrecht gebunden zu sein. Immerhin werden hier etwa 40 °/o der Beklagten bei Gericht vorstellig (vgl. Tab. 28); sie erzielen in einem Drittel der Fälle — sei es mit Mitwirkung des Richters, sei es ohne diesen - Vergleiche und erlangen gelegentlich sogar ein die Klage abweisendes Urteil. Insgesamt spielt aber diese eigentlich streitige Tätigkeit auch vor den Friedensgerichten keine wesentliche Rolle: Nimmt man alle Verfahren zusammen, so bleiben

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Gerichte

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86 %> ohne jede Reaktion seitens des Beklagten. Der Richter hat in diesen Fällen entweder untätig zu bleiben (wenn der Kläger das Verfahren nicht weiter betreibt), oder er fällt eine Routineentscheidung. Jedenfalls sieht er keine Veranlassung, über Zuständigkeitsfragen hinaus Überlegungen zur Sach- und Rechtslage anzustellen. Neben dieser Entscheidungstätigkeit in förmlichen Prozeßverfahren kommt den Friedensgerichten jedoch noch eine gewisse Beratungs- und Schlichtungsfunktion zu. Es kommt täglich vor, daß Personen - meist aus unteren Bevölkerungsschichten - Auskunft über die Lösung persönlicher Probleme erbitten, wobei sie vielfach nicht nur rechtlichen Rat erwarten. Im allgemeinen gewährt einer der beiden Gerichtssekretäre die erbetene Hilfe, der Richter selbst wird weniger mit diesen Fragen behelligt. Gelegentlich erscheinen sogar beide Streitparteien vor Gericht, um ein neutrales Urteil zu hören. Da hierzu schon einiges an Einigungsbereitschaft gehört, verwundert es nicht, daß diese Schlichtungen meist erfolgreich verlaufen. In einem Friedensgericht im ärmlichen Teil des Stadtzentrums von MexikoStadt konnten wir eine derartige Schlichtung beobachten. Zwei Frauen in mittleren Jahren erschienen sehr aufgeregt und präsentierten dem Gerichtssekretär, den sie für den Richter hielten, eine rote Perücke. Diese sei, meinte die eine, von der anderen - einer Friseuse - falsch behandelt und daher beschädigt worden. Die Friseuse bestritt nicht den Schaden, führte ihn aber auf die schlechte Qualität der Perücke zurück. Beide Frauen brachten ihr ganzes Temperament zum Einsatz, eroberten sich jeweils abwechselnd das Streitobjekt und unterstützten ihre Argumente mit einem vollen Griff in die Haartracht. Der Sekretär ließ sie gewähren bis die Emotionen nachließen und schlug endlich die Zahlung einer geringen Schadensersatzleistung vor, mit der sich schließlich beide Frauen zufrieden gaben. Mit einer nun endgültig unbrauchbar gewordenen Perücke, aber friedlich, verließen beide die Gerichtsstube. Ob und in welcher Höhe tatsächlich Ersatz geleistet wurde, war nicht festzustellen.

Häufiger sind diese Schlichtungen aber in den Polizeidelegationen, die sich in demselben Gebäude befinden. Auf ihre Funktion werden wir im Rahmen der Behandlung der außergerichtlichen Streitbeendigungsformen näher eingehen. d) Merkmale der Parteien. — In den 203 untersuchten Prozeßakten waren 33 Kläger und 9 Beklagte als Aktiengesellschaften zu identifizieren. Im übrigen muß auch hier einstweilen der Hinweis genügen, daß selbst vor den Friedensgerichten fast ausschließlich „von oben nach unten" (in der Schichtenhierarchie) geklagt wird, denn die große Masse der Verfahren 6

Beobachtung

74

(über 90 % ) betrifft Abzahlungsforderungen und Miet- bzw. Räumungsansprüche. Das vereinfachte Verfahrensrecht vor diesen Gerichten erleichtert den unteren Schichten zwar in einigen Fällen, konkret in Mietsachen, ihre Verteidigung. Ganz eindeutig verhilft es diesen Schichten aber in keiner Weise zur Durchsetzung ihrer eigenen Rechtsansprüche. Input-Merkmale Soziale Distanz zwischen Soziale Distanz zwischen Soziale Distanz zwischen Grad der Streitigkeit des

den typischen Parteien: 3 dem Dritten und dem typischen Kläger: 1 dem Dritten und dem typischen Beklagten: 4 Konflikts: 1

Verarbeitungsmerkmale Grad der Formalisierung: 3 Intensität der Sachverhaltsermittlung: 2 Chance der Anwendung rechtlicher Normen: 3 Schnelligkeit der Bearbeitung: 1 Kostenrisiko für die Parteien: 3

Output-Merkmale Quote der Streitbeendigung außerhalb des Verfahrens: 4 Quote der Streitbeendigung innerhalb des Verfahrens: 1

3.3.5 Untere Bundesgerichte (Juzgados de Distrito) a) Zuständigkeit und Organisation. - Die unteren Bundesgerichte sind in Zivilsachen ausschließlich zuständig für Streitigkeiten, an denen Bundesunternehmen oder -behörden beteiligt sind. Fakultativ können sie angegangen werden, soweit es sich um Konflikte handelt, die durch Bundesrecht geregelt sind, d. h. in erster Linie in Handelssachen. Im übrigen haben sie einen Teil der Verfassungsbeschwerden (amparo) zu erledigen, die jedoch in unserem Zusammenhang nicht von Interesse sind. Es gibt in ganz Mexiko insgesamt 55 untere Bundesrichter; kleinere Staaten, wie z. B. Nayarit, haben nur einen zugeteilt bekommen, größere Staaten mehrere. Das Schwergewicht ihrer Tätigkeit liegt auf strafrechtlichem Gebiet. Lediglich im Bundesdistrikt, der über acht Bundesrichter verfügt, sind zivilrichterliche, strafrichterliche und zudem noch verwaltungsgerichtliche Aufgaben personell getrennt. Zwei Richter versehen den zivilrechtlichen Zweig, einen von ihnen suchten wir auf und erhielten die Erlaubnis zum Aktenstudium17. 17

Die Kläger haben hier - im Gegensatz zu den Zivilgerichten 1. Instanz - keinen

Institutionen

I: Gerichte

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Die Richter - durchwegs Volljuristen mit längerer praktischer Erfahrung — werden vom Obersten Bundesgericht auf vier Jahre ernannt. Erfolgt nach Ablauf dieser Amtsperiode eine Wiederwahl, so sind sie nur noch unter erschwerten Bedingungen absetzbar (Art. 97 Abs. I der Bundesverfassung). Sie können jedoch immer an das Gericht eines anderen Bundesstaates versetzt werden. Die Richter ernennen ihre Sekretäre, die ebenfalls Volljuristen sind, und weiteres Dienstpersonal. Das Zivilverfahren wird geregelt durch eine eigene Bundeszivilprozeßordnung (Codigo Federal de Procedimientos Civiles). b) Arbeitsbereich und Arbeitsweise. - Die Rolle der unteren Bundesgerichte Mexikos bei der Beendigung privatrechtlicher Konflikte ist quantitativ im Vergleich zu den anderen Gerichtszweigen fast unbedeutend zu nennen. Während die Zivilgerichte 1. Instanz im Bundesdistrikt in einem Jahr etwa 150000 Sachen zu bearbeiten haben und die Friedensgerichte etwa 24000 Fälle, belief sich der Akteneingang bei den beiden Bundesrichtern in demselben Gerichtsbezirk von Dezember 1968 bis November 1969 nach den amtlichen Zahlen 18 lediglich auf 377. Im gesamten Staat Nayarit kamen im selben Zeitraum nur 33 Zivilrechtsfälle vor die Bundesgerichtsbarkeit. Die Daten, die wir im folgenden über die Konfliktarten und die -erledigungsformen vor den unteren Bundesgerichten wiedergeben, sind daher immer mit der wichtigen Einschränkung zu lesen, daß sie das Gesamtbild, das wir von der mexikanischen Zivilgerichtsbarkeit in diesem Abschnitt vermitteln wollen, kaum zu beeinflussen vermögen. Die 163 im Jahre 1969 beim 1. unteren Bundesgericht im Bundesdistrikt 19 zum Archivieren ausgesonderten Akten, die uns zur Einsicht überlassen wurden und die fast genau dem jährlichen Arbeitsanfall dieses Gerichts entsprechen (Akteneingang im selben Zeitraum: 162), enthielten folgende Konflikttypen:

Einfluß darauf, weldier Richter den Fall bearbeitet (vgl. Ley orgánica del poder judicial de la Federación), so daß die Beschränkung unseres Aktenstudiums auf einen Richter keinen Auswahlfehler erwarten läßt. 18 Informe, rendido a la Suprema Corte de Justicia de la Nación al terminar el año 1969, México 1969, 255f. 19 Alie 33 Zivilprozesse beim unteren Bundesgericht des Staates Nayarit in Tepic betrafen Schedc-, Wechsel- oder Pagaré-Forderungen. In 11 Fällen wurde ein der Klage stattgebendes Urteil erlassen. Diese Zahlen relativieren das von der Bundesgerichtsbarkeit im Distrito gewonnene Urteil noch weiter: dieses Bild ist keinesfalls für diesen Gerichtszweig in ganz Mexiko repräsentativ.

76

Beobachtung Tab. 29: Konfliktarten vor einem unteren Bundesgeridit (Bundesdistrikt)

Scheck, Wechsel, Pagaré Mietsachen Grundstücks- und Hypothekensadien allgemeine Schadensersatzsachen Ersatz aus tödlichem Unfall (Betriebsgefahr) diverse Vertragsforderungen Nachforderung von Bahnfrachtgebühr Klagen im Gesellschaftsverhältnis Bausachen Sonstige

%

23,3 31,3 11,6 2,5 14,1 6,7 3,0 2,1 2,1 3,6

38 51 19 4 23 11 5 3 3 6

100

163

Tabelle 2 9 macht deutlich, daß sich die Vielfalt der privatrechtlichen Konflikte auch in den Streitgegenständen v o r einem mexikanischen Gericht widerspiegeln kann. Auch die gerichtliche Streitbeendigung ergibt ein interessanteres Bild, als wir es bei den anderen Gerichtszweigen gewinnen konnten: Tab. 30: Prozeßende nach Konfliktarten in abgeschlossenen Akten eines unteren Bundesgerichts (Bundesdistrikt) Klagerücknahmen Einstellung wegen außergerichtl. mangels ganz o. teilw. wegen Vergleich Weiterstattg. abgewiesen Erfüllung (vermutet) verfolgung Vo %> Vo %> % Urteile

Scheck, Wechsel, Pagaré 21 20 Mietsachen Grundstücks- u. Hypotheken15 sachen Ersatzforderungen aus tödl. Unfall 4,3 Sonstige

16

gewogenes Mittel

16,6

Vo

2,6

7,9

26

42,1

4

2

20

55

100 (n = 38) 100 (n = 51)





30

55

100 (n = 19)

4,3

43

12,5

9,4

5

10,4

25

37

100 (n = 23) 100 (n = 32)

21,4

46,6

100 (n = 163)

4,3

43

Institutionen

77

I: Gerichte

Aus Tabelle 31 ergibt sich, daß der Anteil der mangels Reaktion des Beklagten unstreitigen Verfahren erheblich niedriger liegt, als bisher festzustellen w a r :

Tab. 31: Verhalten des Beklagten in den Prozessen vor einem unteren Bundesgericht (Bundesdistrikt) °/o d. Prozesse ohne Reaktion

°/o d. Prozesse mit Reaktion

°/o d. Prozesse mit Gegenklage

Total

Sdieck, Wechsel, P a g a r e Mietsachen Grundstüdes- u n d Hypothekensachen Ersatzforderungen aus tödl. U n f a l l Sonstige

92,1 66,0

7,9 32

2

100 % (n = 38) 1 0 0 % (n = 51)

63,1

31,6

5,3

100%> (n = 19)

8,7 21,8

91,3 75

3,2

1 0 0 % (n = 2 3 ) 1 0 0 % (n = 32)

gewogenes Mittel

54,6

43,6

1,8

1 0 0 % (n = 163)





Vergleicht man die einzelnen Konflikttypen, so wird deutlich, daß das Mittel von 54,6 °/o insbesondere auf die hohe Beteiligung des Beklagten in den Ersatzprozessen aus tödlichem Unfall und in den unter „Sonstige" zusammengefaßten Prozessen unterschiedlicher Art, wie sie sich aus Tab. 29 ergeben, zurückzuführen ist. Die Interpretation dieser Daten wird erleichtert, wenn man berücksichtigt, daß der Streitwert der Klagen vor dem unteren Bundesgericht, das wir im Bundesdistrikt untersucht haben, im Durchschnitt erheblich höher lag als in den anderen Gerichtszweigen 2 0 . Die Hypothese, daß die Beklagten sich bei höherem Streitwert eher zu den Akten melden und dann auch andere Prozeßbeendigungsformen erreichen, erscheint so wenig gewagt, daß sie in diesem mehr deskriptiven Teil unserer Arbeit wohl nicht fehl am Platze ist. Die weitere Frage, warum der Steitwert hier höher liegt, läßt sich leicht beantworten durch die c) Merkmale der Parteien. — Die obligatorische Zuständigkeit der Bundesgerichtsbarkeit für alle Streitigkeiten, in die Bundesunternehmen oder 20 Wir haben in unseren Aktenerhebungen von einer genauen Quantifizierung des Streitwertes abgesehen. Zum einen wäre die Berechnung in Prozessen, die nicht um Geldforderungen gehen, notwendig sehr willkürlich geworden. Zum anderen erschien uns der Erkenntniswert dieser Variablen nicht besonders groß.

Beobachtung

78

-behörden verwickelt sind, bewirkt, daß diese Organisationen und Organe in der weitaus überwiegenden Zahl der hier geführten Prozesse entweder Kläger oder Beklagte sind. Alle Miet- und die meisten Grundstücks- und Hypothekenklagen wurden in unserer Aktenauswahl von der Staatsbeamtenversicherung I S S S T E (Instituto de Seguridad y Servicios Sociales de los Trabajadores del Estado) eingereicht. Fast alle Ersatzklagen wegen tödlichen Unfalls eines Angehörigen richteten sich gegen die staatliche Elektrizitätsgesellschaft oder die staatliche Eisenbahn. Das Gesamtbild hierzu vermittelt Tab. 32. Sieht man einmal von den Mietsachen ab, so leuchtet unmittelbar ein, daß die Konflikte mit staatlichen Stellen sowohl höheren Streitwert haben, als auch einer unterschiedlichen prozessualen Behandlung unterliegen. Bei Konflikten mit dem ISSSTE sind die Beklagten immerhin alle Staatsangestellte, was ebenfalls den Streitwert als auch das Prozeßverhalten beeinflußt.

Tab. 32: Juristische Personen als Prozeßparteien vor einem unteren Bundesgericht (Bundesdistrikt)

Prozesse insgesamt Scheck, Wechsel, P a g a r e Mietsachen Grundstücks- und Hypothekensachen Ersatzforderungen aus tödl. Unfall Sonstige Total

d a v o n ist Kläger Beklagter jur. Person jur. Person

38 ( 1 0 0 % ) 51 ( 1 0 0 % )

23 ( 6 0 , 5 % ) 51 ( 1 0 0 % )

19 ( 1 0 0 % )

14 ( 7 3 , 6 % )

23 ( 1 0 0 % ) 32 ( 1 0 0 % )

22 ( 6 8 , 7 % )

23 ( 1 0 0 % ) 29 ( 9 0 , 6 % )

163 (100 °/o)

110 ( 6 7 , 4 % )

77 ( 4 7 , 2 % )



19 ( 5 0 % ) 1 (2%) 5 (26,3%)

Zu erwähnen ist, daß wir vor diesem Gericht mit den Ersatzforderungen aus tödlichem Unfall eines Angehörigen eine Klagekategorie haben, in der auch unterprivilegierte Bevölkerungsschichten ihre Forderungen geltend machen. Diese Klagen sind prozessual dadurch erleichtert, als die Entschädigungsbeträge genormt sind und ein Verschulden des Beklagten nicht nachgewiesen werden muß. Sie verlaufen, wie sich aus Tab. 30 ergibt, überwiegend erfolgreich.

Institutionen I: Gerichte

79

Input-Merkmale Soziale Distanz zwischen den typischen Parteien: 2 Soziale Distanz zwischen dem Dritten und dem typischen Kläger: 2 Soziale Distanz zwischen dem Dritten und dem typischen Beklagten: 2 Grad der Streitigkeit des Konflikts: 2

Verarbeitungsmerkmale Grad der Formalisierung: 4 Intensität der Sachverhaltsermittlung: 3 Chance der Anwendung rechtlicher Normen: 4 Schnelligkeit der Bearbeitung: 1 Kostenrisiko für die Parteien: 4

Output-Merkmale Quote der Streitbeendigung außerhalb des Verfahrens: 4 Quote der Streitbeendigung innerhalb des Verfahrens: 1

3.3.6 Lokale Arbeitsgerichte (Juntas Centrales de Conciliación y Arbitraje) a) Organisation und Arbeitsbedingungen. - Die lokalen Arbeitsgerichte werden in Mexiko von den einzelnen Bundesstaaten eingerichtet. Sie gehören nicht zur rechtsprechenden („dritten") Gewalt und unterstehen faktisch unmittelbar der Exekutive. Entsprechend unterliegt die Stellenbesetzung in erster Linie politischen Kriterien. Die Gerichte gliedern sich in jeweils für bestimmte Industriezweige zuständige Kammern. Diese bestehen aus einem von der Landesregierung eingesetzten Juristen als Vorsitzendem sowie je einem Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter, die von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden entsendet werden. Die Amtsdauer der beiden Interessenvertreter beträgt zwei Jahre mit Wiederwahlmöglichkeit (Artt. 367-401 Ley Federal del Trabajo, LFT). Im Bundesdistrikt sowie im Staat Nayarit gibt es jeweils ein lokales Arbeitsgericht. Nach Art. 343 LFT können in einem Bundesstaat auch mehrere derartige Gerichte eingerichtet werden. Von dieser Möglichkeit wurde aber nicht Gebrauch gemacht. Im Arbeitsgericht des Bundesdistrikts, das in einem modernen Gebäude untergebracht ist, herrscht reger Parteienverkehr. In der Umgebung des Gebäudes arbeiten in kleinen Schreibstuben oder einfach auf der Straße sogenannte „coyotes". Das sind nicht juristisch ausgebildete Rechtsberater, die Klagen aufsetzen und Arbeitnehmer vor Gericht vertreten, wofür sie Beträge bis zur Hälfte der Klagesumme als Erfolgshonorar einziehen. Auf dem Vorplatz des Gerichts finden sich ungezählte Gruppen diskutierender Arbeiter. Gelegentlich werden hier auf Spruchbändern öffentlich Beschwer-

80

Beobachtung

den vorgebracht. Im übrigen wird das Bild erst abgerundet, wenn auch die vielen Verkäufer, die Maisfladen, Lose oder das neue Arbeitsgesetzbuch anpreisen, erwähnt werden — ebenso wie mehr oder weniger kleine Musikgruppen, die die Wartenden zu unterhalten versuchen. Die Gerichtsverhandlungen finden nicht in abgetrennten Räumlichkeiten statt, sondern alle gemeinsam in einem großen Saal, der allgemein zugänglich ist. An einer Art Gerichtsschranke gruppieren sich auf der einen Seite die Anwälte (eventuell mit ihren Mandanten), auf der anderen Seite der Kammervorsitzende und eventuell ein oder beide Beisitzer. Trotz der allgemeinen Zugänglichkeit kann man diese Verhandlungen nicht als öffentlich bezeichnen, da sich Außenstehende nicht ohne besondere Begründung den Gruppen hinangesellen können. Auch der Ausdruck „Verhandlung" stellt den Vorgang soziologisch nicht richtig dar. In der Regel findet kein unmittelbares Gespräch unter den Anwesenden statt, sie diktieren vielmehr der dabeisitzenden Schreibkraft mehr oder weniger stereotype Formulierungen in die Maschine. Das in Tepic gelegene Arbeitsgericht des Staates Nayarit steht demgegenüber weit weniger im Zentrum des allgemeinen Interesses, obwohl in seinem Zuständigkeitsbereich wichtige Industriebetriebe angesiedelt sind (Tabakverarbeitung, Zuckerraffinerie). Im Vergleich etwa zum Petitionsbüro des Gouverneurs des Staates oder zur Polizeidienststelle oder zu den Zivilgerichten — alles Einrichtungen, die wie das Arbeitsgericht ihren Sitz im Regierungspalast haben — macht es fast einen isolierten Eindruck. Entsprechend niedrig ist die Zahl der dort vorgetragenen Konflikte (vgl. Tab. 33). b) Konfliktarten. — In Art. 123 der mexikanischen Verfassung von 1917 wie in den seitdem erlassenen Arbeitsgesetzen wurden den Arbeitnehmern Rechte eingeräumt, die auch im internationalen Vergleich ihresgleichen suchen. Arbeitsschutzbestimmungen, Regelungen über die Arbeitszeit, Mindestlohn, Frauenarbeit, Kinderarbeit, Sozialversicherung, Beteiligung am Unternehmensgewinn usw. versuchen, das Arbeitsverhältnis in sozialer Weise zu gestalten. Sind diese Sozialgarantien wirksam? Ein Blick auf die Konflikte, die vor den Arbeitsgerichten ausgetragen werden, verleitet dazu, diese Frage zu bejahen. Fast nur bei Kündigungen berufen sich die Arbeitnehmer auf ihre Rechte und wollen diese bei Gericht zur Durchsetzung bringen. Konflikte im laufenden Arbeitsverhältnis treten dagegen vor den lokalen Arbeitsgerichten quantitativ erheblich zurück. Tabelle 33 gibt unsere Ergebnisse aus der Aktenanalyse im Bundesdistrikt und im Staat Nayarit wieder:

Institutionen I: Gerichte

81

Tab. 33: Konflikte vor den lokalen Arbeitsgerichten des Bundesdistrikts und des Staates Nayarit

Ansprüche aus Kündigung Kündigungsgegenklagen Sonstige Arbeitsunfälle Zahlung von Lohnsdiulden Kündigung durch den Arbeitnehmer andere

Bundesdistrikt

Nayarit

141 (70%) 37 (18,5%) 22(11%)

88 (49%) 33 (18,5%) 57 (32,5 %)

1 5 11 5

* Zufallsstichprobe ** alle Akten der Jahrgänge 1960 und 1969

200 (100%)*

16 21 8 12

178 (100%)**

Die zahlenmäßig am stärksten auftretende Klageart wird danach gebildet durch die Ansprüche aus Kündigung. Dem Arbeitnehmer stehen gesetzlich (Art. 123 LFT) drei Monatslöhne zu, wenn der Arbeitgeber nicht das Vorliegen bestimmter Kündigungsgründe (aufgeführt in Art. 122 LFT) beweisen kann. Wahlweise kann aber auch Wiedereinstellung begehrt werden (Kündigungsgegenklagen). Daß die relativ geringe Anzahl von Klagen im laufenden Arbeitsverhältnis wenig aussagt über das tatsächliche Vorkommen von Arbeitskonflikten und noch weniger über die tatsächliche Beachtung der Arbeitsrechtsnormen durch die Arbeitgeber, wird daraus deutlich, daß die gekündigten Arbeitnehmer versuchen, diese Ansprüche im nachhinein geltend zu machen. Von den 200 im Bundesdistrikt untersuchten Arbeitsprozessen waren 178 die Reaktion auf eine Kündigung durch den Arbeitgeber. In 139 von diesen 178 Prozessen wurden neben dem Hauptanspruch auf Kündigungsentschädigung oder Wiedereinstellung zusätzlich Forderungen auf Lohnnachzahlungen erhoben. In 27 Fällen wurde geltend gemacht, der im Arbeitsvertrag vereinbarte Lohn entspräche nicht dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Die Frage liegt nahe, warum diese Ansprüche nicht schon im laufenden Arbeitsverhältnis eingeklagt worden sind. Zu einem Teil erklärt sich dies sicherlich daraus, daß viele Rechtsverletzungen des Arbeitgebers vom Arbeitnehmer wegen Rechtsunkenntnis gar nicht wahrgenommen werden. Erst nach einer Kündigung wird Kontakt mit einem Rechtsberater aufgenommen, der versucht, das Versäumte nachzuholen. Diese Fälle der Rechtsunkenntnis betreffen die von uns in dieser Arbeit angesprochene Problematik nicht, da nach unserer Definition insoweit gar keine Konflikte entstanden sind: wer seine Rechte nicht kennt, kann nicht um

82

Beobachtung

sie streiten. Er wird die Beeinträchtigung als normal und selbstverständlich hinnehmen. Dieser Erklärungsfaktor darf jedoch nicht überschätzt werden. Der Arbeitnehmer in Mexiko ist im allgemeinen gut informiert über die ihm im Arbeitsverhältnis zustehenden Rechte. Mit dieser Teilbeantwortung der eben gestellten Frage wollen wir es in diesem Abschnitt bewenden lassen. Hier ist nur wichtig, daß wir folgendes festhalten können: Kündigungen verursachen Arbeitskonflikte, die in großer Zahl vor den Arbeitsgerichten ausgetragen werden. Auch im laufenden Arbeitsverhältnis entstehen viele Konflikte. Diese werden jedoch selten vor den lokalen Arbeitsgerichten ausgetragen. c) Entscheidungsweise. - Die veröffentlichten Statistiken über die Arbeit der mexikanischen Arbeitsgerichtsbarkeit erscheinen nicht verläßlich genug, um hier mitgeteilt werden zu können 2 1 . Aus den Jahresberichten des lokalen Arbeitsgerichts im Bundesdistrikt bzw. den Eingangsbüchern des entsprechenden Gerichts in N a y a r i t ergaben sich folgende Daten:

Tab. 34: Arbeitsanfall bei den lokalen Arbeitsgerichten im Bundesdistrikt und in Nayarit Bundesdistrikt Akteneingänge außergerichtliche Vergleiche Urteile Nayarit Akteneingänge

Berichtsjahr ( 1 . 9 . - 3 1 . 8 . ) 1967/68 1968/69 9215 4987 2161 1960 64

9816 1956 2736 Kalenderjahr

1969 114

Es wäre interessant, die Zahl der Klagen in Beziehung zu setzen zu der Zahl der Beschäftigten in Handel, Industrie und Dienstleistungsgewerbe, 2 1 Die Angaben im A n u a r i o Estadístico 1 9 6 6 - 6 7 332 erschienen aus mehreren G r ü n den nicht verwertbar. Z u m einen sind die rechtshängig gewordenen Konflikte im Bundesdistrikt, die quantitativ stärkste Gruppe, nicht enthalten. Weiter mußte anhand der für N a y a r i t angegebenen Zahlen - unsere einzige Überprüfungsmöglichkeit - festgestellt werden, daß die Angaben jedenfalls insoweit unrichtig sind. Bei der Aufstellung über die Beendigungsformen der Konflikte ist die Spalte f ü r Klagerücknahmen unausgefüllt, obwohl diese F o r m nach unseren Ermittlungen den weitaus wichtigsten Verfahrensabschluß darstellt. Schließlich erscheint es befremdlich, daß nach diesen Tabellen das Bundesarbeitsgericht doppelt soviele K l a g e n zu bearbeiten hätte als alle lokalen Arbeitsgerichte (mit Ausnahme der drei, f ü r die entsprechende Angaben fehlen) zusammengenommen.

Institutionen

I:

Gerichte

83

um einen Eindruck von der Klagehäufigkeit zu gewinnen. Die Zensi gliedern diese Beschäftigungszahlen jedoch nicht auf nach den jeweiligen Zuständigkeiten der Bundes- und Landesarbeitsgerichtsbarkeit. Hinsichtlich der Angaben aus dem Bundesdistrikt haben wir Bedenken, aus der Anzahl der Vergleiche und Urteile Schlüsse zu ziehen auf die Entscheidungsweise der Gerichte (etwa dahin: 2 3 % bzw. 2 7 % der Klagen enden durch Urteil), denn diese Vergleiche und Urteile können ja aus Klagen stammen, die nicht in demselben Jahr eingereicht sind. Auch kann der scheinbare Rückgang der Vergleiche im Jahre 1968/69 nur auf einen Zählfehler zurückgeführt werden. Schließlich können die Klagebeendigungsformen nicht vollständig angegeben sein, da sonst ein ungewöhnlich großer Aktenüberhang entstünde. W i r halten daher die durch unsere Aktenauswertung gewonnenen Daten für die zuverlässigere Informationsquelle. Grundlage sind eine Zufallsstichprobe von 200 archivierten Akten im Bundesdistrikt und die ebenfalls abgeschlossenen Akten des Jahres 1960 in Nayarit (vgl. Tab. 35 und 36). Vor beiden untersuchten Arbeitsgerichten ist innerhalb der beiden Klagetypen der Anteil der Urteile ungefähr gleich groß: bei Klagen nach Kündigung 1 6 - 1 8 % , bei sonstigen Klagen 3 2 - 3 6 % . Da die sonstigen Klagen in Nayarit häufiger sind, liegt hier audi der Durchschnitt aller Klagen, die durch Urteil beendet werden, höher als im Bundesdistrikt: in Nayarit 23 % , im Bundesdistrikt 1 8 % . Die Urteilsvoten waren aus den Akten ersichtlich. Daraus ging hervor, daß die beiden Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in aller Regel jeweils nur zugunsten ihrer Interessenseite votierten - oft sogar dann, wenn es sich um Versäumnisurteile handelte. Der Sinn ihrer Mitwirkung im Entscheidungsprozeß kann dann nur noch darin liegen, daß sie auf die Meinungsbildung des Kammervorsitzenden einwirken. Inwieweit hier echte Sachdiskussionen stattfinden, konnte nicht überprüft werden. Sie werden wohl nicht sehr häufig sein, denn die Urteilsentwürfe, die von einem nicht der Kammer angehörenden Juristen (secretario dictaminador) allein aufgrund des schriftlichen Akteninhalts angefertigt werden, erhalten praktisch immer die ausschlaggebende Stimme des Vorsitzenden. M i t dem letztlich entscheidenden Urteilsverfasser finden jedenfalls keine Besprechungen statt. Angesichts dieses Entscheidungsverfahrens ist der Anspruch der mexikanischen Arbeitsgerichte, in besonderer Weise der Billigkeit und der dem jeweiligen Arbeitsverhältnis eigenen Problematik Rechnung zu tragen 22 , 22

V g l . DE LA CUEVA 922.

Beobachtung

84

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O O T—
) 11 (2 °/o) 500 ( 1 0 0 % )

Einverstanden mit Klage besser nicht zum Gericht, da das nichts nützt besser nicht, andere Gründe keine Antwort

432 (85 %)

45

( 9 % )

18

(4 Vo)

14

( 3 °/o)

500 ( 1 0 0 % )

Konflikte

in hochorganisierten

205

Systemen

Obwohl die Antwortkategorien nicht identisch sind, wird doch ganz deutlich, daß die Ergebnisse beider Fragen die entgegengesetzte Tendenz aufweisen. Im Familienstreit sind 7 7 % der Befragten gegen eine Einschaltung der Gerichte, im Streit aus einem Verkehrsunfall befürworten 85 % den Klageweg. Wir werden die Zahlen aus dem letztgenannten Konflikttyp weiter unten zu interpretieren haben. Was den Familienstreit anbetrifft, so bleiben die Ergebnisse eher hinter den Erwartungen zurück. Immerhin sprechen sich ja 11 °/o uneingeschränkt und weitere 10 % eingeschränkt für eine Klage um die Erbschaft aus. Wie sich aus der folgenden Tabelle ergibt, kommen diese gerichtsfreundlichen Antworten verstärkt aus den Mittel- und Oberschichten. Tab. 68: Klagedisposition im Familienkonflikt nach sozio-ökonomischem Status (n = 500; keine Antwort: 21) Sozio-ökonomischer Status niedrig mittel hoch Einverstanden mit Klage Regelung besser in der Familie hängt vom Fall ab

22 (9«/o) 198 (84 °/o) 16 (7%)

28 (14«/o) 153 (75 %) 24 (11 o/o)

3 (8 °/o) 24 (63 °/o) 11 (29 %>)

236 (100 o/o)

205 (100«/»)

38 (100%)

Diese zwischen höheren und niedrigeren Schiditen insgesamt deutliche Abnahme der Bereitschaft, innerhalb der Familie zu klagen, unterstützt unsere Interpretation von Familienstruktur und Konfliktform. Denn die gegen eine Intervention Außenstehender sprechenden Merkmale — hohe Systeminterdependenz, hohe Komplexität der Interaktionsbeziehungen und starkes Machtungleichgewicht - sind in den Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status, also auf dem Land und in den städtischen Unterschichten, am deutlichsten ausgeprägt. Die städtischen Mittel- und Oberschichtsfamilien nähern sich dagegen — aufgrund einer anderen ökonomischen und Bildungssituation — schon dem Typus der „modernen" Kernfamilie, die ihre Mitglieder weniger bindet und mehr gleichstellt und die Konflikte eher erlauben und auch von außen beeinflussen lassen kann. Von den in unserer Befragung ermittelten 77 Familienkonflikten, die sich etwa gleichmäßig auf Stadt und Land verteilten, kamen 10 Fälle vor Gericht, die in der folgenden Aufstellung näher beschrieben werden.

206

Analyse

Fragebogen-Nr. 48 167 244 283

310

329 342

343 404 418

Mittelsdlicht, Scheidungsverfahren gegen Ehemann, Scheidungsurteil erwirkt. Unterschicht, Scheidungsverfahren gegen Ehemann, Scheidungsurteil erwirkt. Unterschicht, Scheidungsverfahren gegen Ehemann, noch rechtshängig 74 Unterschicht, Konflikt mit einem wenig bekannten Familienmitglied. Die Forderung wurde erfüllt, die Klage zurückgenommen. Unterschicht, Scheidungsverfahren gegen den getrennt lebenden Ehemann, eingereicht bei der Rechtshilfestelle. Dort wird (zu Unrecht) eine Gebühr von 300 Peso verlangt, die die Klägerin aber nicht zahlen kann. Mittelschicht, Erbschaftsstreit in der Familie, noch rechtshängig. Unterschicht, Unterhaltsforderung vom getrennt lebenden Ehemann. Die Forderung wurde erfüllt, die Klage zurückgenommen. Mittelschicht, Erbschaftsstreit zwischen Verschwägerten (zusammenlebend), noch anhängig. Unterschicht, Konflikt mit dem außerehelichen Partner, Klage zurückgenommen. Unterschicht, vermögensrechtlicher Konflikt mit dem außerehelichen Partner. Die Forderung wurde erfüllt, die Klage zurückgenommen.

Die Schichtenverteilung der Klagen entspricht e t w a der der Stichprobe. Z u ersehen ist, d a ß e t w a die H ä l f t e der K l a g e n nicht in das Familiensystem in unserem Sinne fallen, sei es, weil der Gegner der bereits getrennt (wohl in einer anderen Familie) lebende E h e m a n n oder P a r t n e r ist, sei es, weil es sich bei der Streitpartei um ein entferntes und nur wenig bekanntes Familienmitglied handelt. N i m m t m a n hinzu, d a ß nur zwei Urteile e r w i r k t wurden, so sehen w i r unsere Aussage gestützt, d a ß die gerichtliche Streitbeendigungsform für Konflikte innerhalb des F a m i liensystems zum ganz seltenen Ausnahmefall gehört. Sie h a t praktisch nur für Scheidungen, die anders gar nicht zu erreichen sind, und schon sehr selten für Unterhaltsforderungen und für

Erbschaftsauseinandersetzun-

gen in den Mittel- und Oberschichten Bedeutung.

7 4 Der Fall hat ein besonderes Kolorit, da der Richter die Klägerin vor die Wahl stellte, entweder ihm den Geschlechtsverkehr zu erlauben oder 500 Peso zu zahlen. Obwohl in Mexiko keine Gerichtsgebühren erhoben werden, zog die Klägerin die Zahlung der gewünschten Summe vor.

Konflikte in hochorganisierten

Systemen

207

Die Ungewöhnlichkeit einer Klage im Familienbereich - jedenfalls wenn sie gegen den Vater gerichtet ist - geht aus einer groß aufgemachten Zeitungsnotiz in der Tageszeitung „Excelsior" vom 29. Oktober 1969 hervor: Jugendlicher verklagt seinen Vater wegen 14 000 Peso Vor dem 23. Zivilgericht hat José Leopoldo Aguilar Santo, 21 Jahre alt, seinen eigenen Vater, Alberto Aguilar Sánchez, verklagt. Er fordert von ihm die Zahlung von 14 693 Peso zuzüglich Kosten und Auslagen. In seiner Klage vor dem Richter Licenciado Huberto Navarro Mayoral madit der junge Mann geltend, daß sich seine Eltern Concepción Santo Reyes und Alberto Aguilar Sánchez im Jahre 1967 freiwillig scheiden ließen. In einem Vergleich seien sie übereingekommen, ihren Kindern Lilian, Carmen, Beatriz, Carlos und José Leopoldo ein Haus in der Tesorostraße 150, Bezirk Estrella in Mexiko-Stadt, zu übertragen. Das älteste Kind, der Kläger José Leopoldo, damals 19 Jahre alt, sei zum Verwalter des Gebäudes bestimmt worden. Der Kläger bringt vor, sein Vater Alberto Aguilar Sánchez bewohne trotz dieser Übertragung und ohne Einverständnis der Begünstigten, seiner Kinder, weiterhin das Haus und ziehe die Miete von 5 Wohnungen ein. Von den auf diese Weise bisher bezogenen 28 000 Peso habe er Hypothekenzinsen, Steuern und Wassergebühren bezahlt. Es bleibe ein Betrag von 14 693 Peso, den er den Kindern auszuzahlen habe.

Unsere Aktenauswahl bei den Zivilgerichten bestätigt das gewonnene Bild. In Mexiko-Stadt waren etwa 3 % der 361 dort untersuchten Rechtsstreitigkeiten Familienkonflikte. In Tepic waren es bei einer Stichprobe von 2064 Akten knapp 1 %, in der ländlichen Kleinstadt Tecuala aus den 90 Akten eines Jahres etwa 2 % (vgl. Tab. 19). Diese Anteile würden sich noch weiter verringern, wenn man — was aus den Akten nicht ersichtlich war - nur die Konflikte zählen würde, die innerhalb eines noch bestehenden Familiensystems ausgetragen werden. Nicht-gerichtliche Streitintervention durch Schlichter und Ratgeber spielt erwartungsgemäß im Familienstreit eine größere Rolle. So ging es im Amt für zivile Rechtshilfe in Mexiko-Stadt auch um Eheprobleme sowie Unterhalts- und Sorgerechtsfälle, die oft mit Erfolg beendet wurden. Allerdings ist die Zahl von etwa 1200 Familienstreitigkeiten, die dieses Amt während eines Jahres zu behandeln hat, doch wohl sehr gering, wenn man bedenkt, daß sie für die drei Millionen Einwohner der Metropole zuständig ist. Allein die Tatsache, daß sich das Amt für zivile Rechtshilfe in den Zivilgerichtsgebäuden befindet, dürfte viele davon abhalten, sich dort hinzuwenden. Der informellen Schlichtung vor den Polizeidienststellen oder durch die Einschaltung von Sozialarbeitern, Priestern oder anderen Prestigepersonen kommt ohne Zweifel die größte Bedeutung

208

Analyse

im Familienkonflikt zu, soweit überhaupt Außenstehende angegangen werden. Diese Daten über die üblichen Austragungsformen von Familienkonflikten sagen auch etwas über das Konfliktergebnis, das wir hier danach messen, inwieweit eine Chance für Rechtsanwendung besteht. Die geringe Inanspruchnahme formalisierter Verfahren zur Streitbeendigung führt dazu, daß das Recht nicht zum Zuge kommt. Dies ist - vom Standpunkt der Gleichberechtigung der Ehepartner her gesehen - sicherlich nur ein relativer Nachteil. Denn auch das mexikanische Familienrecht enthält Machtungleichgewichte, z.B. in Art. 170 Codigo Civil, nach dem der Ehemann der Ehefrau eine Berufstätigkeit untersagen kann. Die faktische Machtstellung des Familienvorstandes geht jedoch weit darüber hinaus und findet in der üblichen Austragungsweise des direkten Streits Einschränkungen nur in der auch ihn bindenden „Familienmoral" der Großfamilie. Auch die Interventionen der genannten Schlichter sind bei Streitigkeiten zwisdien Eheleuten allenfalls in der Lage, augenblickliche Aggressionen abzubauen. Die Herstellung eines dem mexikanischen Familienrecht entsprechenden Zustandes läßt sich kaum je erreichen. Dort, wo der Machtfaktor eine geringere Rolle spielt, also bei Konflikten, an denen der Familienvorstand nicht beteiligt ist, könnte Recht auch außerhalb formalisierter Mechanismen zur Machtneutralisierung (Verfahren) in den Familienstreit eingehen. Aber der typische Dichteund Komplexitätsgrad der Konfliktbeziehung stellt eine hohe Barriere auf, die vom Recht kaum überwunden werden kann. Die hohe Komplexität der Familienkonflikte in Mexiko macht das Recht zur stumpfen Waffe. Nicht eine spezifische Erwartung ist im Streit befangen, sondern ein ganzes Erwartungsbündel, wie es vom Recht nicht mehr dargestellt werden kann. Bei einem Erbschaftsstreit zwischen Verwandten geht es eben bald nicht mehr nur um den Nachlaß, sondern zugleich um alle anderen nicht ausgefochtenen Enttäuschungen, um die Familiensolidarität, um moralische Wertungen etc., so daß es wenig hilfreich ist, den Fall noch nach dem Erbrecht zu entscheiden. Die Fragen zum Sanktionsaspekt sind durch die Darstellung der Konfliktformen schon weitgehend beantwortet. Die Gerichte sind als Institutionen zur Erzwingung von Familienrecht kaum von Bedeutung. Unmittelbare Sanktionen zur Erzwingung von Recht, wie sie im Schuldrecht etwa in Form von Anfechtung, Nichtigkeit, Zurückbehaltungsrecht zur Verfügung stehen, spielen im Familienrecht keine Rolle. Allenfalls kann mit Auflösung der Gemeinschaft gedroht werden, was aber jedenfalls

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

209

gegenüber dem Familienoberhaupt, von dem man selbst abhängt, ohne große Wirkung sein wird. Eine gewisse Bedeutung kommt der strafrechtlichen Sanktionsdrohung der Polizei, wenn sie als Schlichter mit Familienstreitigkeiten befaßt wird, zu. Wir hatten z. B. von einem in der Polizeidienststelle in Tepic beobachteten Fall berichtet, bei welchem dem Verführer eines minderjährigen Mädchens mit Gefängnis gedroht wurde, wenn er nicht in eine Heirat einwillige. Durch dieses offenbar häufige Vorgehen wird eine familienrechtlich erwünschte Form, die standesamtliche Trauung, mit rechtlichen, aber wohl kaum rechtmäßigen (Erpressung?) Mitteln erzwungen. Die Erzwingung von Zivilrecht durch strafrechtliche Sanktionsdrohung ist audi in anderen Fällen möglich: bei Gewalttätigkeiten des Ehemannes gegen seine Frau und bei allen Familienkonflikten mit zivil- und strafrechtlichem Doppelcharakter. Die häufigste Ursache von Familienkonflikten, die unterlassene Unterhaltsleistung, ist allerdings auffälligerweise kein Straftatbestand, so daß man hier von Wirksamwerden von Redit durch strafrechtliche Sanktionsdrohung nicht sprechen kann. Nichtrechtliche Sanktionen werden nur insoweit verhängt, als kulturelle Normen das Recht stützen, d. h. soweit man von einem Rechtsbewußtsein der Bevölkerung sprechen kann. Zu Rechtskenntnis bzw. Reditsbewußtsein - wir haben hier nicht differenziert - haben wir folgende Daten erhoben 7 5 : Die rechtlichen Pflichten des Vaters gegenüber dem unehelichen Kind sind

für den hypothetischen Fall, daß mit der Mutter nur kurze Zeit Verbindung bestanden hatte, bekannt bei für den hypothetischen Fall, daß mit der Mutter eine länger dauernde Verbindung (Konkubinat) bestanden hatte, bekannt bei

MexikoStadt °/o

Tepic °/o

Land °/o

65

42

2

70

82

2

Die Zahlen schwanken also erheblich zwischen Stadt und Land und zwischen den - rechtlich ja gleich behandelten - vorgegebenen Fällen. 7 5 Vgl. den Wortlaut der Fragen N r . 57 und 58 im Anhang (n = 349 bzw. 353 Befragte ohne uneheliche Kinder).

210

Analyse

Man wird in der Interpretation nicht fehlgehen, wenn man davon ausgeht, daß auf dem Land keine, in der Kleinstadt mehrheitlich eine unsichere und in der Metropole mehrheitlich eine sichere Kenntnis der einfachsten familienrechtlichen Situation vorhanden ist oder daß die kulturellen Normen entsprechend unterschiedlich vom Recht divergieren. Vergegenwärtigt man sich, daß die Zahlen niedriger Rechtskenntnis bzw. divergierenden Rechtsbewußtseins für die 77 °/o der mexikanischen Bevölkerung, die außerhalb der Großstädte leben, gelten dürften, so wird deutlich, daß von diesen Faktoren her ebenfalls wenig Chancen für das Recht bestehen, den Ausgang von Familienkonflikten zu bestimmen. Allerdings ist die Situation im Wandel begriffen. Es ist auffällig, mit welcher Intensität die mexikanischen Behörden, die führende Staatspartei und ihre Unterorganisationen, das Schulsystem und die Einrichtungen der Sozialhilfe für die Einhaltung und Anerkennung des geltenden Familienrechts werben. Die Massentrauungen in Stierkampfarenen und Fußballstadien sind unübersehbare Indizien für den Erfolg dieser Aktionen, die langfristig ihre Wirkung nicht verfehlen dürften. Gegenwärtig ist die Situation aber noch sehr unterschieden von der, die das Familienrecht Mexikos anstrebt. Ein Viertel der Ehen sind rechtlich nicht bindend (Konkubinate und nur-kirchliche Trauungen) 78 und daher leicht auflösbar. Aber auch unabhängig von der formalen Gültigkeit der Verbindungen ist allgemein die Promiskuität hoch77. 30 % der Kinder sind im Jahre 1967 außerhalb legaler Ehen geboren worden 78 . Die Zahl der Kinder, die von ihrem Vater keinen oder ungenügenden Unterhalt beziehen, ist statistisch nicht erfaßt, gilt aber allgemein als sehr hoch. Insgesamt läßt sich also sagen: Es liegt nicht am Konfliktpotential, daß die mexikanischen Streitbeendigungsinstitutionen wenig mit Familiensachen betraut werden. Rechtsansprüche gelangen zahlreich zur Entstehung. Sie werden aufgrund der spezifischen Struktur der Familie in Mexiko intern ausgeglichen, soweit das männliche Familienoberhaupt nicht Partei ist. Richten sich die Ansprüche aber gegen das Oberhaupt, so besteht kein Mittel, sie zur Durchsetzung zu bringen. 4.5.2 Konflikte

auf dem Land

Wir haben bereits näher entwickelt (oben 4.4), daß auf dem Land die Interaktionsbeziehungen relativ dicht und damit die Konflikte relativ 76

Censo General 1970, XXII.

77

LEÑERO O T E R O 9 8 .

78

Anuario Estadístico 1966-1967, 70.

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

211

komplex sind. Die daraus zu ziehende Folgerung, daß gerichtlicher Streitbeendigung nur eine geringe Funktion zukommen könne, fand sich in den Daten bestätigt. Für die Beantwortung der Frage, ob und eventuell welche anderen Dritten in den Streit einbezogen werden, müssen die Struktur des ländlichen Interaktionssystems und die Machtverhältnisse, die auf die Konflikte einwirken, näher untersucht werden. Vor der mexikanischen Revolution bot der ländliche Bereich noch das Bild eines geschlossenen Systems. Es war die Zeit der großen Haciendas, die alle dort Tätigen praktisch in Leibeigenschaft vom Grundherrn hielt. Weder nennenswerte Außenkontakte noch gar ein Wegzug waren möglich, so daß das ganze Leben des Peons und seiner Familie auf das Gut beschränkt blieb. Diese Form höchster Interdependenz gehört - vielleicht mit Ausnahme einiger Erscheinungen faktischer Leibeigenschaft in den Indio-Gebieten wie Chiapas 7 9 — heute der Vergangenheit an. Der Zusammenbruch des Latifundiensystems erweiterte das soziale Universum der unteren und mittleren Schichten auf dem Land, verstärkte die soziale und geographische Mobilität und schuf neue Netze von Sozialbeziehungen und neue regionale Zentren politischer und wirtschaftlicher Macht. In der neuen Struktur spielt die kleine und mittlere Stadt eine immer größere Rolle. Ohne sie können die sozialen Prozesse auf dem Land nicht mehr adäquat begriffen werden 80 . Soweit in Mexiko noch (oder wieder) Großgrundbesitz besteht, haben die Landarbeiter auflösbare Arbeitsverträge, und ein Wegzug in die Städte ist an der Tagesordnung. Die selbständigen Bauern oder die Ejidatarios können ohnehin nicht gehindert werden, den angestammten Sozialbereich zu verlassen. Davon wird auch Gebrauch gemacht, sei es zu Besuchen, Einkäufen und Erledigungen in nahe gelegenen größeren Städten oder sei es zur Ausübung irgendeiner Nebenbeschäftigung. Ein dichtes Netz von Busverbindungen, die billig sind und auch praktisch überall hingelangen, wo nur zur Not ein Auto fahren kann, ermöglicht eine ständig zunehmende regionale Mobilität. Gleichwohl muß man das ländliche Interaktionssystem noch immer als stark interdependent ansehen. Dies gilt natürlich für die genossenschaftlich organisierten Einheiten, also die Gemeinden mit kollektiver Bodennutzung und die Ejidos. Ein Ineinandergreifen von Funktionen, Mechanismen zur Konsensbildung, Kanalisierung von Außenkontakten ™ Vgl. den Bericht über die Lage im Bundesstaat Chiapas in der Tageszeitung „Excelsior" vom 4. 2 . 1 9 7 0 unter der Oberschrift „Chiapas y su Miseria ante Echeverría". 60

S T A VENHAGEN 5 3 .

Analyse

212

sind hier unentbehrliche Voraussetzungen für den Fortbestand des Systems. Bei den Ejidos spricht man schon von einer Bürokratisierung, die die Kräfte ihrer gewählten Organe oft übersteigt 81 . Aber auch außerhalb dieser formalen Organisationen können die Interaktionssysteme der mexikanischen Landbevölkerung stark interdependent sein. Allerdings wird man hier differenzieren müssen. Der Saisonarbeiter, der sich auf Zeit im Nordosten des Landes oder auch als „bracero" in den U S A verdingt und sich während der arbeitslosen Zeit wieder zu Hause aufhält, ist sicherlich in kein solches System eingebunden. Das gleiche gilt für den Großgrundbesitzer, der oft mehr Zeit in Mexiko-Stadt, in Europa oder in den Vereinigten Staaten verbringt als auf seinem Gut. Die große Masse der Landbewohner lebt jedoch anders: in einer kleinen Ansiedlung, in der sich alle kennen und täglich mehrmals begegnen, in einem versteckten Gehöft (rancho) mit wenigen Familien, die noch dazu untereinander heiraten und Patenschaften eingehen. Außenkontakte kommen vor, doch genügen sie nicht, um Bezugsverhältnisse entstehen zu lassen, die in ihrer Relevanz für den einzelnen mit dem Nachbarschaftssystem konkurrieren können. Diese hochinterdependenten Systeme auf dem Land sind gefährdet, wenn interne Konflikte auftreten. Vorrangige Norm jeden Verhaltens ist es daher, Konflikte zu vermeiden. Wir haben (oben 2.3) von der geringeren Kriminalität auf dem Land berichtet, von der Duldsamkeit selbst bei offensichtlichen Beeinträchtigungen der eigenen Interessen und von der geringeren Konflikthäufigkeit, wie sie sich aus unseren Interviews in Nayarit ergibt (vgl. oben Tab. 13). Die Bedeutung, die die Landbewohner freundschaftlichen Beziehungen mit anderen zumessen, geht aus den Antworten auf folgende Frage hervor: „Welcher Ratschlag scheint Ihnen für Ihre Kinder der nützlichere zu sein: a) Man muß im Leben soviel wie möglich lernen, um mehr zu wissen als die anderen. b) Man muß im Leben überall viele Freunde haben, denn Beziehungen sind wichtig, wenn man vorwärtskommen will." Hier wird sehr deutlich, wieviel wichtiger es dem einzelnen erscheint, mit anderen „auf gutem Fuße zu stehen", je weiter man aufs Land kommt. Die Daten messen nicht die Dichte der Interaktion mit anderen, wenn sie auch die gleiche Tendenz zeigen wie das in den Tab. 65 81

S T A VENHAGEN 3 8 .

Konflikte

in hochorganisierten

213

Systemen

Tab. 69: Einschätzung der Bedeutung von Freundschaften und Kenntnissen für die Lebensgestaltung nach Wohnort (n = 500; keine Antwort: 11)

Freundschaften Kenntnisse

Mexiko-Stadt

Tepic

Land

51 (26 °/o) 144 (74 /o)

72 (37 ®/o) 125 (63%)

68 (70%) 29 (30%)

195 (100 °/o)

197 (100%)

97 (100%)

und 66 wiedergegebene Material. Es geht hier vielmehr nur um die äußere Form des Gut-Miteinander-Auskommens und um die „Beziehungen" audi im ambivalenten Sinn, den das Wort im Deutschen wie im Spanischen hat. Spannungen können trotzdem bestehen, aber sie werden nicht ausgetragen, da jeder auf jeden angewiesen ist. Das Entfachen von Streit kann zum Ausschluß aus dem Interaktionssystem führen und damit zum Verlust der Existenzgrundlage. Anthropologische Studien haben beschrieben, zu welchen kulturellen Denkmustern und Verhaltensweisen dieser Zwang zur Konfliktvermeidung führt. So berichtet FOSTER von der in Tzintzuntzan vorgefundenen Vorstellung von einer begrenzten Menge aller guten Dinge im Leben, wie Reichtum, Liebe, Freundschaft, Männlichkeit. Die Bereicherung einzelner an diesen Dingen müsse notwendig auf Kosten anderer gehen. Jedes übermäßige Streben nach ihnen wird daher als Störung des Gleichgewichts der Gemeinschaft empfunden und entsprechend diskriminiert 82 . Kommt es trotzdem zum Streit, so ist jedenfalls alles daranzusetzen, ihn vor anderen zu verbergen, also nicht öffentlich werden zu lassen. Um das Ausmaß dieser Einstellung zu testen, stellten wir in allen drei Untersuchungsregionen die oben (2.3) bereits unter anderem Blickwinkel ausgewertete Frage: „Nehmen wir an, der Sohn Ihres Nachbarn zerschlägt versehentlich Ihre Fensterscheiben und Sie fordern dafür Schadensersatz. a) Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn andere Nachbarn von der Angelegenheit erführen? b) Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn unbekannte Personen von der Angelegenheit erführen?" Die Ergebnisse zeigen zwischen der Metropole, der Provinzhauptstadt und dem Land eine kontinuierlich steigende Tendenz, Konflikte vor der Öffentlichkeit zu verbergen. 82

FOSTER

122ff.; vgl. audi

NADER 73

f.

214

Analyse

Tab. 70: Einstellung zur Publizität eines Nachbarschaftskonflikts unter anderen Nadibarn (n = 500; keine Antwort: 6)

abgeneigt gegen Publizität unter Nachbarn gleichgültig gegenüber Publizität unter Nadibarn

Mexiko-Stadt

Tepic

Land

68 ( 3 4 % )

101 ( 5 1 % )

68 ( 7 1 % )

131 ( 6 6 % )

98 ( 4 9 % )

28 ( 2 9 % )

199 (100%)

199 (100%)

96 (100%)

Tab. 71: Einstellung zur Publizität eines Nachbarschaftskonflikts unter Fremden (n = 500; keine Antwort: 8)

abgeneigt gegen Publizität unter Fremden gleichgültig gegenüber Publizität unter Fremden

Mexiko-Stadt

Tepic

Land

74 ( 3 7 % )

92 ( 4 6 % )

56 ( 5 9 % )

124 ( 6 3 % )

107 ( 5 4 % )

39 ( 4 1 % )

198 (100%)

199 (100%)

95 (100%)

In der Metropole zeigt sich nur eine geringe Scheu, die eigenen Konflikte bekanntwerden zu lassen. Zwischen Nachbarn und Fremden wird kaum ein Unterschied gemacht — eben weil die Nachbarn einem auch nicht sehr nahestehen. Die städtische Form des Zusammenlebens schafft keine hochinterdependenten Systeme und ist gegen interne Konflikte weitgehend unempfindlich. Ganz anders auf dem Land: 71 % der Befragten würden es ungern sehen, wenn die Schadensersatzforderung gegen den Nachbarn im Nachbarschaftskreis bekannt würde. Die Scheu nimmt gegenüber Fremden ab (59 % ) , ist aber auch dort noch deutlich vorhanden. Auch gegenüber Fremden kann man es sich auf dem Land nicht leisten, als unfriedlich dazustehen. Man könnte ja auch von ihnen im weiteren Verlauf noch abhängig werden und ihre Unterstützung benötigen. Wir haben diesen uns wichtig erscheinenden Faktor der Konfliktpublizität noch an einer weiteren Frage auf seinen Einfluß getestet: „Nehmen wir zum Beispiel an, daß jemand, der Geld hat, sich weigert, Ihnen eine Schuld zurückzuzahlen. Was hielten Sie davon, wenn sich eine Zeitung der Sache annähme?"

Konflikte in hochorganisierten Systemen

215

Tab. 72: Nützlichkeit einer Zeitungsveröffentlichung des Konflikts in der Sicht der Befragten (n = 500; keine Antwort: 19) Mexiko-Stadt

Tepic

Land

nützlich

79 (42 %)

28 (14 o/o)

36 (37 0/o)

schlecht

58 (31 %)

125 (64 o/o)

48 (49 % )

einerseits nützlich, andererseits schlecht

16 (8 o/o)

13 (7 o/o)

12 (12 0/0)

mir gleichgültig

36 (19 %)

28 ( 1 4 % )

2 (2o/o)

189 (100 °/o)

194 ( 1 0 0 % )

D i e Zeitungsveröffentlidiung wäre

98 ( 1 0 0 % )

Diese Zahlen weisen - mit Ausnahme der sehr starken Ablehnung in Tepic - die gleiche Tendenz auf: Die Hälfte der Befragten auf dem Land scheut sich vor dieser Publizität. Die differenzierende Antwort wird häufig gegeben, es sei sowohl nützlich als auch schlecht, auf diese Weise zu seinem Recht zu kommen - schlecht eben wohl deshalb, weil langfristig Nachteile und Diskriminierungen zu befürchten sind. Es könnte den Befragten ja gleichgültig sein - aber auf dem Land geben nur ganz wenige diese Antwort. Die Kategorie „schlecht" muß beinhalten, daß diese Art von Publizität für gefährlich gehalten wird. Das ländliche Sozialgefüge erschwert demnach eine Austragung von Konflikten. Die Angst vor dem öffentlich-Werden bewirkt in einem Kontext, in dem nichts unbeobachtet bleibt, daß die als diskriminiert empfundene Handlung in der Regel ganz unterbleibt. Dazu ein Erhebungsprotokoll aus dem rancho El Chicochi: D i e Familie mit dem größten ejido-Land hat sich einen Traktor auf Abzahlung gekauft. D i e Raten sollten unter anderem dadurch aufgebracht werden, daß der Traktor an Nachbarn vermietet wird. Einige Nachbarn haben jedoch diese Miete nicht gezahlt, so daß die Familie zunehmend mit den Raten in Verzug kommt. Die Nachbarn können aber nicht zur Zahlung gezwungen werden. Es sind gute Bekannte oder auch Verwandte, die rücksichtsvoll zu behandeln sind. U m Streitigkeiten zu vermeiden, werden die Ansprüche eher aufgegeben.

Brechen gleichwohl Streitigkeiten aus, so setzt das hochinterdependente Sozialsystem alles daran, sie unter Kontrolle zu halten. Die Kontrolle wird zu einem guten Teil schon durch die Gruppenöffentlichkeit ausgeübt, die alle Konflikte sehr schnell wahrnimmt und auf Ausgleich drängt. 15

Gessner, Konflikt

216

Analyse

Darüber hinaus stehen selbst in kleineren Ansiedlungen, wie der von uns besuchte rancho El Chicochi, Personen zur Verfügung, die als Streitschlichter anerkannt und in Anspruch genommen werden (vgl. oben 3.4.16). Formale Systeme, wie die Ejidos (vgl. oben 3.4.17) oder die Munizipien (Landgemeinden, die meist mehrere Ansiedlungen umfassen), haben jeweils eigene mehr oder weniger institutionalisierte Schlichtungsstellen. Ziel dieser Streitbeendigungsformen ist es, den Konflikt systemintern zu lösen und damit die Kontrolle über den Konfliktausgang zu behalten. Dies gelingt dann nicht, wenn eine der Konfliktparteien außerhalb wohnt oder im System eine Außenseiterstellung einnimmt. Dazu zwei weitere Protokolle aus dem rancho El Chicochi: In einer der befragten Familien war ein Bruderzwist um eine Erbschaft ausgebrochen. Der außerhalb des Ortes lebende Bruder reichte eine Klage ein, die er auch gewann. Die Kontakte mit ihm wurden abgebrochen. Niko ist Außenseiter (er ist sehr oft in San Felipe Aztatan, Tecuala oder Acaponeta; er trägt als einziger rancho-Bewohner keinen Sombrero, sondern ein rotes Jockey-Käppi; er ist aufgeweckter und weniger servil als die anderen). Nachbarn haben seiner Mutter ein Schwein getötet, den Wert in H ö h e von 80 Peso aber bisher nicht ersetzt. Als der Nachbar Niko wegen eines kleinen Darlehens in Tecuala verklagt hat (vielleicht auch nur v o r der Polizeidelegation; immerhin hat N i k o aus Tecuala in dieser Sache zwei Briefe bekommen), wollte Niko mit seiner Forderung aus dem Verlust des Schweins aufrechnen, doch scheint er Beweisschwierigkeiten gehabt zu haben. Nikos Frau sagte, er werde wohl in ein paar Tagen seine Schulden an den Nachbarn bezahlen müssen.

Im übrigen werden die Konfliktformen wesentlich von Machtdifferenzen zwischen den Parteien beeinflußt. Die Machtstruktur, der sich die Landbewohner Mexikos gegenübersehen, ist regional stark unterschiedlich. Immerhin lassen sich einige generelle Aussagen machen. „Im Verlauf der mexikanischen Agrarreform verlegten sich die Zentren politischer und wirtschaftlicher Macht von der Hacienda in die Provinzstädte. Eine herrschende Schicht von Gutsbesitzern wurde ersetzt durch eine ProvinzBourgeoisie, die in den Städten lebt, aber über das Leben auf dem Land bestimmen kann. Aus der Schicht der Peone wurden zwei neue Schichten: Minifundienbauern (Ejidatarios und Eigentümer) und die besitzlosen Landarbeiter. Schließlich entstanden bäuerliche Mittel- und Oberschichten, letztere eng verbunden mit der ländlichen Bourgeoisie in den Provinzstädten und mit bestimmten Sektoren der Großbourgeoisie der Nation." 8 3 Diese Machtkonzentration in den Städten wird von verschie83

Stavenhagen 55.

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

217

denen mexikanischen Autoren als nach innen gerichteter Imperialismus und Kolonialismus bezeichnet 84 . Sie reicht von der Entscheidung über Landzuteilungen, über die Gewährung von Bewässerungsrechten und Krediten bis zur Festsetzung von Einkaufspreisen für Agrarprodukte. Das meiste von dem, was für die Landbevölkerung wichtig ist, wird in den Städten entschieden. Konflikte erwachsen aus dieser Situation häufig, sei es in Form friedlicher Demonstrationen vor dem Landwirtschaftsministerium oder dem Gouverneur des Staates oder sei es in Form von Guerillatätigkeit, die immer wieder von sich reden macht. Dies sind keine Konflikte innerhalb des ländlichen Sozialsystems, sondern solche zwischen diesem und dem politischen System. Es handelt sich hierbei aber auch nicht um den Konflikttypus, den wir zum Gegenstand dieser Untersuchung gemacht haben. Gruppen- und Klassenkonflikte sind mit anderen Kategorien zu analysieren als die interpersonalen Streitigkeiten des täglichen Lebens. Die Mächtigen der mexikanischen Landregionen treten dem einzelnen aber nicht immer so ungreifbar und anonym gegenüber. Sie lassen sich benennen und bekämpfen, wenn es die Bank, die Zuckerraffinerie, das Tabakverarbeitungsunternehmen, der Großgrundbesitzer oder der Ejido-Präsident sind, die die Interessen der Bauern oder Landarbeiter beeinträchtigen. Die Eigentümer von Minifundien haben mit Banken kaum je etwas zu tun, da man ihnen dort keinen Kredit gewährt. Aber sie verpfänden ihre Ernten gegen wucherische Kredite an wohlhabendere Bauern 85 . Die Ejidos in den fruchtbaren Regionen Mexikos erhalten Kredite vom Banco de Crédito Ejidal, was allerdings mit einem weitgehenden Verlust an Selbständigkeit erkauft werden muß. „Aus verschiedenen Gründen und durch verschiedene Mechanismen hat die Ejido-Bank in bestimmten Zonen die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion der Ejidos übernommen. Sie bestimmt über die Anbaupläne, die Zuteilung von Düngemitteln, den Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen, die Verwaltung der weiterverarbeitenden Industrie (Zuckerraffinerien, Konservenfabriken) und über Lagerung und Verkauf der Produktion. In diesen Gegenden verlieren die Ejidatarios oft vollständig die Kontrolle über ihr Arbeitsprodukt und über ihre Arbeitskraft. Sie werden de facto auf ihren eigenen Parzellen zu Lohnempfängern der Bank." 8 6 In vielen Genossenschaften ist es die selbstgewählte Verwal84

97

GONZÁLEZ

CASANOVA, L a democracia 9 2 f f . ; STAVENHAGEN 5 2 f . ; PAZ, P o s d a t a

ff. 65 86

15 *

Vgl. „Excelsior" vom 4. 2. 1970. STAVENHAGEN

39.

Analyse

218

tung 87 , mit der es Konfliktstoff gibt. Viele Ejidatarios sind nicht hinreichend ausgebildet, um Verwaltungsämter zu übernehmen. Die Vorteile und Privilegien der Leitungsfunktion lassen nicht selten die alte Form des Kazikentums zum Schaden der inneren Harmonie der Genossenschaft und der Interessen ihrer Mitglieder neu entstehen88. Es ist häufig beobachtet worden, daß Ejido-Verwalter mit ihrer Macht umgehen wie die vorrevolutionären Landherren. Der Kampf der armen Bauern um die Landreform hat ihnen vielfach Führer aus der eigenen Gruppe beschert, die sie von neuem tyrannisieren und die ebenso unfähig und unwillig sind, ihr eigenes Interesse hinter dem der vertretenen Gruppe zurückzustellen, wie ihre Vorgänger. „In einer Welt, in der alles als entweder über- oder untergeordnet wahrgenommen wird (S. RAMOS), wird Macht als persönlicher Besitz angesehen und mit allen Kräften behauptet." 89 Mit Machtpositionen wird der einzelne Ejido-Bauer oder die Genossenschaft insgesamt auch im Kontakt mit angrenzenden Großgrundbesitzern konfrontiert. Die mexikanischen Tageszeitungen sind voll von Klagen der Ejidatarios gegen „Neolatifundisten", die sich mit illegalen — aber politisch abgesicherten - Maßnahmen des Ejido-Landes bemächtigen90. Ein weiter Bereich der interpersonalen Kontakte auf dem Land spielt sich also in Sozialbeziehungen ab, die durch starke Machtdifferenzen gekennzeichnet sind. Die Frage ist, welche Formen Konflikte hier annehmen. 8 7 Wegen des starken und meist ausschlaggebenden Einflusses der führenden Staatspartei P R I auf die Nominierung von Kandidaten kann man sicher nur mit Einschränkung von einer demokratischen Wahl der Ejido-Spitze sprechen. Vgl. HANSEN 117. 88

V g l . GONZÁLEZ C A S A N O V A , L a d e m o c r a c i a 4 1 .

69

HANSEN 1 9 8 , 2 0 6 .

Vgl. z. B. die Kommentarseite der Tageszeitung „Excelsior" vom 9. 7 . 1 9 6 9 : „Die Beschwerden finden hier kein Ende: Die Bauern der Siedlung Las Crucitas, Parácuaro, Michoacán, beschuldigen den Agraringenieur Dario Garcia Luévano, der im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums einen Großgrundbesitz aufteilen sollte, er hätte ihnen lediglich ein unbestellbares Hügelgelände zugewiesen. Das Gut selbst habe er zum Schein in Einzelgrundstücke aufgeteilt, diese dann aber wieder den alten Grundherren übertragen. Die Bauern behaupten, diese Machenschaft habe dem Agraringenieur 200 000 Peso als Bestechungsgeld eingebracht. Ein anderer Fall betrifft die Ejidatarios von El Tablón, Sinalóa, die festgenommen und ins Gefängnis von Culiacán gebracht wurden, weil sie sich geweigert hatten, die ihnen vom früheren Gouverneur des Staates zugeteilten Ländereien zurückzugeben. Nach einem Bericht des Excelsior-Korrespondenten Eduardo García Jaén versperrten 30 Frauen, Jugendliche und Kinder dem Autobus mit dem Gouverneur Alfredo Valdés Montoya und hohen Regierungsbeamten den Weg, um Gerechtigkeit zu fordern. - Es ist die Multiplikation vieler negativer Einzelfälle, die die Agrarreform in Gefahr bringt, Schiffbruch zu erleiden. . . . " 90

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

219

Gerichte werden kaum je eingeschaltet. Ihre Funktion ist auf dem Land aufgrund der schon erläuterten Faktoren ohnehin sehr gering. Bei Machtdifferenzen im hochinterdependenten System kommt hinzu, daß für den Schwächeren wenig Aussicht auf ein durch Machteinflüsse unverzerrtes Verfahren besteht. Wenn er gleichwohl ein Urteil erwirkt und es auch noch zur Vollstreckung bringt, hat er Repressalien zu gewärtigen. Dagegen bedarf der Stärkere im Konflikt des Gerichtsweges nicht, um seine Interessen durchzusetzen. Ihm stehen genug systeminterne Mittel zur Verfügung. Mit den Ergebnissen unserer Erhebungen läßt sich diese Situation deutlich belegen: In den vier Klagen, die uns in den hundert Interviews auf dem Land genannt wurden, ging es zweimal um Familienstreitigkeiten, um einen Schadensersatzanspruch und um eine Grundstücksangelegenheit. In keinem dieser Fälle ergaben sich Anhaltspunkte für Machtungleichgewichte zwischen den Parteien. Dasselbe gilt für die in den Zivilgerichten Tepic und Tecuala anhängig gemachten Klagen, die Konflikte aus dem ländlichen Sozialsystem zum Gegenstand hatten (vgl. Tab. 19). Sie wurden ausschließlich innerhalb des bäuerlichen Mittelstandes ausgefochten. Da auch von den sonstigen Dritten, die im ländlichen Bereich zur Streitschlichtung zur Verfügung stehen (Laienrichter, Ejido-Präsident, Priester, Lehrer etc.), keiner in Betracht kommt, im machtungleidien Konflikt einen Ausgleich herbeizuführen und durchzusetzen oder auch nur zu vermitteln, bleibt es zwischen mächtigen und machtlosen Parteien auf dem Land beim direkten Streit. Mit diesen Überlegungen zur Konfliktform ist gleichzeitig auch schon viel ausgesagt zum Konfliktergebnis auf dem Land. Wenn machtungleiche Konflikte nur direkt ausgefochten werden, so wird der Ausgang vom Stärkeren bestimmt. Der Schwächere sieht sich gezwungen, alsbald auf die Weiterverfolgung seines Anspruchs zu verzichten. In Tab. 59 hatten wir anhand unserer Befragungsdaten nachweisen können, daß die Verzichte beim direkten Streit doppelt so häufig sind (60 °/o der Beendigungsformen) wie bei Einschaltung von Schlichtern ( 3 0 % der Beendigungsformen). Diese Zahlen betrafen alle Konflikte, also die zwischen gleichen wie die zwischen ungleichen Parteien. Daraus folgt nun: Wenn schon die Gesamtheit der direkt ausgetragenen Konflikte zu 60 %> mit einem Anspruchsverzicht endet, dann wird sich der Anteil 1 0 0 % nähern, wenn es sich um Forderungen schwächerer Partner gegen stärkere handelt. Redit spielt bei diesem direkten Streit zwischen Ungleichen keine Rolle. Der

220

Analyse

den Konfliktausgang bestimmende Stärkere richtet sich nicht nach N o r men, sondern nach Interessen. Zu deren Durchsetzung bedient er sich der vielen systeminternen Einflußmittel, die es ihm in aller Regel ersparen, Gewalt anzuwenden. Bei den durch keine größeren Machtdifferenzen bestimmten Konflikten hat das Privatrecht aufgrund anderer Faktoren allerdings auch nicht viel mehr Chancen, das Streitergebnis zu beeinflussen. Durch die verschiedenen Schlichtungsverfahren der ländlichen Regionen kommen zwar Normen in den Streit, selten aber rechtliche Normen. Die von uns befragten Laienrichter, Priester, Lehrer und der Ejido-Präsident wiesen kaum Gesetzeskenntnisse auf. Sie waren auch nicht in der Lage, sich ad hoc Rechtsinformationen zu beschaffen. Lediglich die Polizeidelegationen sind besser informiert. Sie können de facto auch in gewissem U m f a n g rechtliche Sanktionen zur Durchsetzung des Privatrechts verhängen. Ihre Einschaltung durch die Landbevölkerung ist jedoch nicht sehr häufig. Die Dienststellen liegen meist entfernt bei der Verwaltung der — oft sehr großen — Munizipien. Im übrigen leiden sie wie die Gerichte darunter, daß sie den „autoridades" zugerechnet und als außerhalb des ländlichen Sozialsystems liegend wahrgenommen werden. Wenn somit über die Einschaltung Dritter kaum in nennenswertem U m f a n g Recht in den Konflikt kommt, so könnte doch noch bei den Parteien selbst die Fähigkeit und Bereitschaft vorliegen, ihre Streitigkeiten rechtlichen Normen entsprechend zu beenden. Aber dies ist natürlich in noch geringerem Maße der Fall. Die Gesetzeskenntnis wurde in unseren Interviews mit folgender Frage geprüft: „Können Sie ein Gesetz nennen, das die armen Leute schützt?" Tab. 73: Gesetzeskenntnis nach Wohnort (n = 500) Mexiko-Stadt

Tepic

Land

ein oder mehrere Gesetze genannt

81 ( 4 0 % )

102 ( 5 1 % )

2 (2%)

gibt es nidit

39 ( 1 9 % )

18 ( 9 % )

9 (9%)

keine Antwort

80 ( 4 0 % )

80 ( 4 0 % )

89 ( 8 9 % )

200 (100%)

200 (100%)

100 (100%)

Während in den Städten die Verfassung, das Sozialversicherungsgesetz, das Arbeitsgesetz und andere Gesetze häufig genannt wurden, blieben auf

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

221

dem Land 89 °/o die Antwort schuldig, und 9 % meinten, es gäbe solche Gesetze nicht. Nun kann man sich natürlich streiten, ob man angesichts der erbärmlichen Lage der Landbewohner von Gesetzen zu ihren Gunsten sprechen kann. Wenn die vorhandenen Gesetze aber als ungenügend empfunden würden, hätte die Antwort „gibt es nicht" gegeben werden müssen. Es ist also unbedenklich, aus dem Ergebnis das fast vollständige Fehlen jeder Gesetzeskenntnis zu entnehmen. Sogar noch deutlicher wird dieser geringe Informationsgrad aus den (oben 4.5.1) wiedergegebenen Daten, nach denen nur 2 % der Befragten auf dem Land über das rechtliche Ausmaß der Unterhaltspflichten des Vaters gegenüber seinen Kindern Bescheid wußten. Diese letztgenannten Daten konnten, wie wir gesehen haben, auch als differierendes Rechtsbewußtsein interpretiert werden. Wir sind dieser - in allen Gesellschaften zu beobachtenden - Situation verschiedener und konkurrierender Normensysteme nicht im einzelnen nachgegangen 91 . Hier genügt die negative Feststellung, daß es viele Anhaltspunkte dafür gibt, daß das Rechtsbewußtsein - also die Vorstellung vom „Richtigen" und „Gerechten" - auf dem Land dem geltenden positiven Recht nicht parallel läuft und es nicht stützt. Auch von diesem Faktor her gesehen besteht demnach wenig Chance für das Recht, Konfliktergebnisse zu beeinflussen. Als Ergebnis läßt sich somit sagen, daß das ländliche Sozialsystem vorrangig auf Konfliktvermeidung ausgerichtet ist. Treten Konflikte auf, so werden sie bei Machtgleichheit der Parteien vielfach geschlichtet. Bei Machtungleichheit enden sie rasch durch Aufgabe des Schwächeren, ohne daß Dritte eingeschaltet werden. Rechtliche Beendigungsformen und Konfliktergebnisse sind selten. 4.5.3 Konflikte im Betrieb Während in den vorgenannten Subsystemen die von uns kontrollierten Faktoren mit Einfluß auf Konfliktform und -ergebnis weitgehend in die gleiche Richtung zeigten, bilden sie im Arbeitsbereich Kräfte und Gegenkräfte, die im Zusammenspiel zu würdigen sind. Die für die Konflikt/onn relevanten Merkmale waren Konfliktkomplexität, Systemstruktur und Machtverteilung im Konflikt. Die Konfliktkomplexität ist als niedrig einzustufen: Die mexikanischen Betriebe sind in Unternehmensstruktur und-führung nicht wesentlich von denen ande91

V g l . e t w a FOSTER 179.

222

Analyse

rer Industriegesellschaften unterschieden. Von den Mitarbeitern wird nur ein bestimmtes und sehr spezifisches Rollenhandeln erwartet. Diese Situation ergibt sich, wenn unsere Operationalisierung zutrifft, auch sehr deutlich aus den Antworten auf die Frage, wer als Gesprächspartner bei Kinderproblemen in Betracht gezogen wird: Arbeitskollegen werden hier nur sehr selten genannt. Werden Erwartungen enttäuscht, so bleibt auch der Konflikt auf dieser Rollenebene. Er läßt sich von der Person der Streitparteien und der Geschichte ihrer Interaktion trennen und also isoliert austragen. Wir hatten gesagt, daß dieser Konflikt die Einwirkung von Dritten und damit auch eine normative Austragung zuläßt. Schlichtung und gerichtliche Streitbeendigung sind also durch diesen Faktor begünstigt. Von der Systemstruktur her gesehen ist zunächst festzustellen, daß Betriebe hochorganisierte Sozialgebilde sind und - zumindest bei größeren Unternehmen — dem Typus der „formalen Organisation" entsprechen. Als solche sind sie konfliktempfindlich, da das Ineinandergreifen der Aufgaben durch Konflikte gestört und möglicherweise der Systembestand gefährdet werden kann. Hier ist allerdings zu differenzieren. Die Konfliktempfindlichkeit ist im Verhältnis von Konflikt und System zu sehen. Es bedarf schon eines gewichtigen Konflikts — etwa eines Streiks - , um den Arbeitsablauf eines Großunternehmens in Unordnung zu bringen. Ein begrenzter Konflikt zwischen einem Mitarbeiter und dem Management oder zwischen zwei Mitarbeitern kann weitgehend toleriert werden. Dagegen kann ein sogenannter „mittelständischer Betrieb" mit nur wenigen Beschäftigten schon bei relativ unbedeutenden Streitigkeiten und beim Ausfall nur eines Mitarbeiters funktionsunfähig werden. Daraus folgt, daß es für Großbetriebe genügt, Konflikte so unter Kontrolle zu halten, daß gewährleistet ist, daß sie sich nicht - etwa zu kollektiven Formen - ausdehnen. Konflikte sind zulässig, wenn sie individualisiert und isoliert werden können. Kleine Betriebe werden jedoch alles daransetzen, Konflikte nach Möglichkeit erst gar nicht entstehen zu lassen. Unfriedliches Verhalten wird mißbilligt und sanktioniert. Inwieweit diese Systeminteressen zur Wirkung kommen, hängt von den Machtmitteln ab, die das System Betrieb einzusetzen in der Lage ist. Hier sind die starke Stellung der mexikanischen Unternehmer und die ambivalente Politik der Betriebsgewerkschaftsführer zu beachten. Die Unternehmermacht ist zunächst und vor allem eine Folge der Arbeitsmarktsituation. Das explosive Bevölkerungswachstum und der ständige Zuzug vom Land in die Städte schaffen ein enormes Uberangebot an

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

223

Arbeitskraft. Die Schätzungen gehen dahin, daß, nur um den gegenwärtigen Stand, der durch Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung gekennzeichnet ist, zu erhalten, jährlich etwa 6 0 0 0 0 0 neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen 92 . Während der sechziger Jahre belief sich die Zahl der arbeitsuchenden Landarbeiter auf drei Millionen. In den Jahren zwischen 1950 und 1960 war die Beschäftigungsrate dieser Bevölkerungsgruppe von 194 auf 100 Tage pro Jahr gefallen und ihr Realeinkommen um 18 % gesunken 93 . Jeder Arbeitsplatz in Industrie oder Handel ist also Mangelware, und wer über Einstellungen verfügen und Kündigungen aussprechen kann, entscheidet über die Ernährungs-, Wohn- und Ausbildungssituation ganzer Großfamilien. Eine Kontrolle dieser Macht durch unmittelbare staatliche Aufsicht ist, soweit sie überhaupt stattfindet, äußerst ineffektiv. Sie könnte von der Staatsanwaltschaft ausgeübt werden, denn die Verletzung einiger Arbeitgeberpflichten ist strafbar. Doch diese wird nicht tätig, schon weil sie weder von Arbeitnehmern noch von anderen Behörden (z.B. den Juntas de Conciliación y Arbitraje) von Verstößen in Kenntnis gesetzt wird 9 4 . Die Kontrolle könnte auch von Arbeitsinspektoren durchgeführt werden, aber diese sind mangels ausreichender personeller Besetzung und Organisation — insbesondere was die Koordination der Behörden untereinander anbelangt - zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben in keiner Weise in der Lage 9 5 . Auch eine Selbstbeschränkung in der Machtausübung - wie sie von manchen Arbeitgeberorganisationen, etwa in Europa, verschiedentlich propagiert wird — kommt jedenfalls in Mexiko nicht zur Wirkung. Sie entspräche nicht dem Verhaltensstandard des - oft sehr risikoreichen - Wirtschaftslebens, das nur auf kurzfristige Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, und wohl auch nicht der durch Aggressivität geprägten Sozialisation der männlichen Führungsgruppen („machismo"). Kontrolle der Unternehmermacht wäre auch zu erwarten von den Betriebsgewerkschaften. Diese kooperieren aber nicht nur häufig mit dem Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmerinteressen, sondern wirken sich sogar vielfach als zweiter Gegenspieler für den einzelnen Betriebsangehörigen aus 96 . Zunächst zum erstgenannten Problem der Zusammenarbeit 92

DEUTSCHE OBERSEEISCHE BANK, W i r t s c h a f t s b e r i c h t M ä r z 1 9 7 4 , S . 2 8 .

93

HANSEN 2 1 0 .

SCHULENBURG, Arbeitsrecht 23. Diese Beurteilung wurde uns im Bundesarbeitsministerium sehr offen vorgetragen; vgl. auch SCHULENBURG, Arbeitsrecht 93. 9 8 Vgl. MOORE 284: "The factory at Metepec represents an extreme and interesting 94

95

224

Analyse

von Arbeitgebern und Gewerkschaftsführern: „Aus der Einsicht, daß die Organisierung der Arbeitnehmer unvermeidlich ist, unterstützen viele Arbeitgeber die Gründung von Gewerkschaften in ihrem Unternehmen und versuchen, die Entwicklung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, indem sie ihnen genehme Arbeitnehmer in die Leitung der Gewerkschaft wählen lassen. Diese aufgrund der Lenkung des ,freien Willensaktes' der Arbeitnehmer sich bildenden Berufsverbände werden als weiß — im Gegensatz zu rot - bezeichnet. Selbst der Anschluß an eine Zentrale ist kein geeignetes Beurteilungsmerkmal, ob die Leitung der Einzelgewerkschaft tatsächlich die wohlverstandenen Interessen der Arbeitnehmer vertritt. An dieser Lage sind die Gewerkschaften nicht ganz unschuldig. Meist bewerben sich mehrere Zentralen um die Arbeitnehmer eines Betriebes; ihre Bereitschaft zu Zugeständnissen an den Arbeitgeber entscheidet dabei über den Erfolg." 87 Die weißen Gewerkschaften sind daher schon organisatorisch eng an den Arbeitgeber gebunden. Daneben gelingt es den Arbeitgebern bei allen Betriebsgewerkschaften — ob weiß oder rot — häufig, die Gewerkschaftsführer durch Einräumung besonderer Privilegien - die ihnen gesetzlich nicht zukommen98 - oder finanzielle Zuwendungen auf ihre Seite zu bringen. Nicht nur als unsicherer Interessenvertreter, sondern auch als unmittelbarer Gegner tritt die Gewerkschaft dem Arbeitnehmer dann gegenüber, wenn es sich um ein closed-shop-System handelt, bei dem kollektivvertraglich festgelegt ist, daß dem Betrieb nur Mitglieder der Betriebsgewerkschaft angehören dürfen. „Eintrittsklauseln" versperren jedem freien Arbeitnehmer den Zugang. Die Gewerkschaftsführer wählen meist aus ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis — die Neueinzustellenden aus. Noch einschneidender für das Individualrecht des einzelnen wirken sich in der Praxis die „Ausschlußklauseln" aus, die der Gewerkschaft das Recht geben, vom Arbeitgeber die Entlassung eines Betriebsangehörigen zu verlangen, dem seine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft aberkannt wurde". Zwar sind die Ausschlußgründe in den Gewerkschaftssatzungen enumerativ aufzuzählen, doch verhindert dies nicht in ausreichendem Maße willkürliches Handeln der Gewerkschaftsführer, die case. The sindicato not only determines most policies at levels below that of the general manager (representing the owner), with whom the labor organization works in friendly cooperation, but acts also as the disciplinary agent in the factory and in the town." 97 SCHULENBURG, Arbeitsrecht 60. 9 8 Vgl. SCHULENBURG, Arbeitsrecht 60. 99 Vgl. SCHULENBURG, Arbeitsrecht 60 f.

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

225

sich für die innerbetriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer offenbar sogar gelegentlich materielle Zuwendungen von den Mitgliedern ausbedingen 10°. Sieht man nun die Konfliktsituation im Betrieb im Zusammenhang, so folgt, daß auch hier für den einzelnen wenig Spielraum bleibt zur Austragung eigener Forderungen. Unsere Daten bestätigen recht genau die theoretischen Erwartungen. Die Umfrage ergab 92 Arbeitskonflikte, von denen 76 von den Befragten als wichtig eingestuft wurden. Von diesen 76 Konflikten wurden 16 eingeklagt und 60 außergerichtlich weiterverfolgt. Diese Klagebereitschaft in jedem fünften wichtigen Konflikt liegt schon unter der der übrigen städtischen Bevölkerung. Vor allem aber: Sie tritt erst ein, wenn der Arbeiter den Betrieb schon verlassen hat, also nach erfolgter Kündigung. Wir haben in der Befragung keine Klage im laufenden Arbeitsverhältnis ermittelt. Diese Aussage ist aufgrund unserer Aktenauswertung für den Zuständigkeitsbereich des Bundesarbeitsgerichts - also die bedeutendsten Unternehmen der nationalen Wirtschaft, die Großindustrie — einzuschränken. Etwa ein Drittel der dort analysierten Klagen wurde von Arbeitern, die noch dem Betrieb angehörten, anhängig gemacht, wobei es um Besserstellung im Arbeitsverhältnis, Arbeitsunfälle, Rückgängigmachung von Sanktionen, Zahlung von Lohnschulden etc. ging. Dies entspricht unserer Aussage, daß mit der Größe hochorganisierter Systeme die Konfliktempfindlichkeit sinkt. Dagegen wird in den kleinen Betrieben der mittelständischen Wirtschaft, die die breite Masse der weniger privilegierten Arbeiterschaft beschäftigt, die ganze Macht des Systems eingesetzt, um Konflikte zu unterdrücken oder zumindest alsbald unter Einsatz der betriebsinternen Steuerungsmittel zu beenden. Ganz selten nur ging es vor dem lokalen Arbeitsgericht in Mexiko-Stadt, das für solche Betriebe zuständig ist, um Arbeitsunfälle und Lohnschulden (3 % der Aktenauswahl), also um Forderungen im laufenden Arbeitsverhältnis 101 . Daß es jedoch für die Arbeiter genügend Anlaß gäbe, derartige Forderungen zu erheben, wird daraus deutlich, daß in 139 von den 178 nach der Entlassung vorgetragenen Klagen zusätzlich neben dem Hauptanspruch auf Kündigungsentschädigung oder Wiedereinstellung Forderungen auf Lohnnachzahlungen erhoben wurden. In 27 Fällen wurde geltend gemacht, der im Arbeitsvertrag vereinbarte Lohn ent100 Vgl. S c h u l e n b u r g , Arbeitsrecht 62. 1 0 1 Die Anteile der im laufenden Arbeitsverhältnis durchgefochtenen Klagen vor dem lokalen Arbeitsgericht in Tepic/Nayarit liegen erheblich höher (20%>) Die absoluten Zahlen sind jedoch so niedrig (der genannte Anteil von 2 0 % steht für 37 Klagen), daß ihnen nicht viel Aussagewert zukommt (vgl. oben Tab. 33).

226

Analyse

spräche nicht dem gesetzlichen Mindestlohn. Allein dieser Faktor könnte ja Anlaß sein zu einer wahren Flut von mit Sicherheit erfolgreichen Klagen: „Nach Angaben der Comision Nacional de los Salarios Minimos wurde im Jahre 1967 in der Wirtschaftszone Nr. 74, Distrito Federal und Area Metropolitana, an 12,8 % der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer der Mindestlohn nicht ausgezahlt. Das Wirtschaftsministerium kommt in einer Untersuchung für 1968 im Distrito Federal zu einem bedeutend höheren Prozentsatz: Wenn man berücksichtigt, daß 6,74 % der Arbeitnehmer weniger als 300 Peso monatlich, 21,86% weniger als 750 Peso und 20,43% zwischen 751 und 999 Peso verdienen, könne angenommen werden, daß ca. 40 % der Arbeitnehmer nicht den monatlichen Mindestlohn von 870 Peso erhalten." 102 Von einer Flut von arbeitsgerichtlichen Klagen in Mexiko kann man aber nicht einmal hinsichtlich der Gesamtzahl des Arbeitsanfalls der jeweiligen Gerichte sprechen: Es sind 5000 Klagen jährlich für den ganzen Zuständigkeitsbereich der Bundesarbeitsgerichtsbarkeit und etwa 10000 jährlich für den Einzugsbereich der lokalen Arbeitsgerichte im Bundesdistrikt. Uberträgt man die Anteilswerte unserer Stichproben, so gibt es bei den Unternehmen der mexikanischen Großindustrie jährlich 1500 Klagen im laufenden Arbeitsverhältnis und in der mittelständischen Wirtschaft des Bundesdistrikts etwa 300 Klagen dieses Typs. Die verschiedenen betriebs- und gewerkschaftsinternen Schlichtungseinrichtungen, wie die Schlichtungskommission in der Genossenschaft, die Revisionskommission der staatlichen Eisenbahn, die Disziplinarkommission der Sozialversicherung, die Kommission für Ehre und Gerechtigkeit in den Gewerkschaften, müssen als ein Mittel des „appeasement" angesehen werden, mit denen - wie wir gesehen haben, regelmäßig erfolgreich - unter Anwendung betriebsinterner und unter weitgehender Ausschaltung rechtlicher Normen Konfliktpotential abgebaut und die Machtstrukturen des Systems gefestigt werden. Für Konflikte im laufenden Arbeitsverhältnis kommt ihnen die größte Bedeutung zu. Wesentlich geringer ist schon die Einschaltung der Ämter für Rechtshilfe in Arbeitssachen, deren Tätigkeit als Intervention Außenstehender angesehen und im System daher mit Mißtrauen betrachtet wird. Wie die Gerichte werden sie ganz überwiegend mit Konflikten nach erfolgter Entlassung befaßt. Trotz ihres deutlich arbeitnehmerfreundlichen Vorgehens und ihres einfachen Verfahrens ist ihre Inanspruchnahme nicht besonders eindrucks102

SCHULENBURG, A r b e i t s r e c h t

schaftsberidit März 1974, S. 28.

2 3 ; e b e n s o DEUTSCHE ÜBERSEEISCHE BANK,

Wirt-

Konflikte in hocborganisierten Systemen

227

voll: 1500 Rechtsberatungen im Jahre 1967 für den Bereich der wichtigen mexikanischen Großbetriebe (Amt für Rechtshilfe beim Bundesarbeitsgericht) und 7000 Rechtsberatungen im Berichtsjahr 1968/69 für die mittelständische Wirtschaft im Bundesdistrikt. Wenn die Dinge in den übrigen Bundesstaaten so liegen wie in Nayarit, so kann außerhalb der Metropole von effektiven Rechtshilfeeinrichtungen erst recht nicht gesprochen werden. D a nach unseren theoretischen Überlegungen die Konfliktform wesentlich auch das Konfliktergebnis bestimmt, liegen hier einige Aussagen schon auf der Hand. Dritte werden für Konflikte im System Betrieb zwar in erheblichem Umfang eingeschaltet - aber es sind keine Streitintervenienten, die Recht anwenden. Gerichte bieten eine Chance der Rechtsanwendung: Die beim Bundesarbeitsgericht eingeklagten Forderungen im laufenden Arbeitsverhältnis werden in 62 % der Fälle (unsere Stichprobe) durch Richterspruch überprüft. Aber die Arbeitsgerichte werden eben kaum angegangen, so daß diese Fälle der Rechtsdurchsetzung in der Masse der Konflikte kaum von Bedeutung sind. Wenn gegen alle interne Diskriminierung eine Klage gewagt wird, wird häufig das erste Vergleichsangebot angenommen und auf weitere Rechte verzichtet (vgl. Tab. 36 und 40). Mit den Klagen nach Entlassung aus dem Betrieb ist von den verlorengegangenen Rechten nicht mehr viel zurückzuholen, da die ökonomisch angespannte Situation des Arbeitslosen kein Durchfechten eines Prozesses zuläßt. Hier schließen sogar 68 % der klagenden Arbeiter (Bundesarbeitsgeridit und lokales Arbeitsgericht Distrito Federal) Vergleiche und begeben sich ihrer weiteren Rechte. Für die außergerichtliche Beendigung von Arbeitskonflikten stehen uns Daten aus unserer Befragung zur Verfügung: Tab. 74: Ende außergerichtlich ausgetragener Arbeitskonflikte (n = 60) Anspruch durchgesetzt Verzicht Vergleich Konflikt nodi nicht beendet und andere Antwort

11 (18 °/o) 21 ( 3 5 % ) 12 ( 2 0 % ) 16 (27 °/o)

60 (100%) D a wohl kaum über 80 °/o der Forderungen der von uns Befragten unberechtigt waren, kann man aufgrund dieser Daten von jedenfalls sehr geringer Rechtsgewährung in Arbeitssadien sprechen. An diesem Ergebnis ändert nichts, daß der Informationsgrad des mexikanischen Arbeiters

228

Analyse

über seine Rechte im Betrieb relativ hoch ist. Information allein bewirkt nichts, wenn die Sozialstruktur die Verwertung der Information nicht zuläßt. Daß die Verletzung von Arbeitsrechtsnormen durch den Arbeitgeber durch unmittelbare staatliche Aufsicht nicht sanktioniert wird, hatten wir schon gesagt. Sanktionen gegen den Arbeitgeber aus dem politischen Bereich können allenfalls gelegentlich eintreten, wenn eine „rote" Gewerkschaft sich die Angelegenheit zu eigen macht oder die Arbeiter sich sonstwie zu Aktionen zu formieren vermögen (etwa in Form von Demonstrationen vor einem Ministerium). Die Annahme eines Rechtsbewußtseins schließlich, das den Arbeitgeber veranlassen könnte, im Konflikt mit dem Arbeitnehmer dessen Rechte voll zu erfüllen, wäre ganz und gar irreal. Ohne Skrupel wurde uns vom Management der Firmen bei unserer Wirtschaftsbefragung etwa in dem Sinne geantwortet, wie es einer der leitenden Herren in der Zweigniederlassung eines großen deutschen Konzerns zum Ausdruck brachte: „Der Gewerkschaftsboß bekommt ein Schmiergeld, damit der Arbeiter ausgeschlossen wird. Allenfalls geben wir dem Arbeiter die Hälfte der Abfindungssumme und lassen ihn eine Verzichtserklärung unterschreiben." 4.5.4 Konflikte in der Wirtschaft103 Die Beziehung von Unternehmen untereinander können als Sozialsystem begriffen werden, wenn eine deutliche Innen/Außen-Grenze feststellbar ist. Bestimmte Personen, bestimmte Verhaltensweisen müssen als „dazugehörig" begriffen werden und sich deutlich von allen anderen sozialen Ereignissen abheben, die zur „Umwelt" gehören. Für den Bereich der mexikanischen Wirtschaft gibt es genügend Hinweise, daß derartige Systemgrenzen als real empfunden werden. Die mexikanische Unternehmerschaft wird allgemein als besonders wirkungsvoll organisiert bezeichnet 104 , obschon und wohl gerade weil sie nicht in den ja sonst alle politischen Kräfte umfassenden Rahmen der P R I eingegliedert ist (vgl. oben 2.2.4). Seit dem Jahre 1936 bestehen die beiden Verbände mit Zwangsmitgliedschaft C O N C A M I N (Confederación Nacional de Cámaras Industriales) und C O N C A N A C O (Confederación Nacional de Cámaras Nacionales de Comercio), die praktisch den gesamten Bereich 1 0 3 Die Ergebnisse dieses Abschnitts beruhen auf einer Befragung von 25 Wirtschaftsunternehmen (vgl. 3.1 und Anhang III). Eine Quantifizierung der gewonnenen Informationen ist wegen der niedrigen Zahlen nicht möglich. 104

GONZÁLEZ CASANOVA, L a d e m o c r a c i a 5 5 ; BRANDENBURG 2 1 9 ; GUZMÁN VALDIVIA

318; SCHULENBURG, Arbeitsrecht 63.

Konflikte

in hochorganisierten

229

Systemen

von Industrie und Handel umfassen. Schon ein Betriebskapital von 2500 Peso verpflichtet einen Unternehmer dazu, sich einer Kammer anzuschließen und in ein von dieser geführtes Register einzutragen 105 . Damit bleiben nur kleine Handwerker und Straßenverkäufer außerhalb dieser Verbände 106 . Die C O N C A M I N gliedert sich in 66 Industriekammern für die verschiedenen Tätigkeitsbereiche und stellt ihre Leistungen für weitere 14 Industrievereinigungen zur Verfügung, die ihr freiwillig angehören. Die interne Willensbildung erfolgt sowohl innerhalb der Einzelkammern als auch innerhalb des Dachverbandes, gewichtet nach der Höhe der geleisteten Jahresbeiträge. Die C O N C A N A C O umfaßt 262 Einzelkammern, von denen die bei weitem größte, die der Hauptstadt, eine Mitgliederzahl von 15 000 aufzuweisen hat 107 . Die Kammern sind öffentlichrechtliche Institutionen mit Rechtspersönlichkeit. Daneben bestehen andere wichtige Wirtschaftsverbände, vor allem der Arbeitgeberverband C O P A R M E X (Confederación Patronal de la República Mexicana), der Bankenverband ABM (Asociación de Banqueros de México) und der Versicherungsverband AMIS (Asociación Mexicana de Instituciones de Seguros). Obwohl es sich bei diesen um freiwillige Zusammenschlüsse handelt, haben sie ebenfalls außerordentlich hohe Mitgliederzahlen aufzuweisen. C O P A R M E X nennt etwa 12 000 ihr angehörende Arbeitgeber in 33 regionalen Centros Patronales 108 . Die Hauptfunktion dieser Zusammenschlüsse liegt in der Artikulation und Durchsetzung von Unternehmerinteressen im Staat, d. h. vor allem gegenüber der Regierung. Sie unterhalten Kommissionen, die regelmäßig Stellungnahmen zu Gesetzesänderungen und Tagesereignissen erarbeiten. Im Jahre 1969 legten C O P A R M E X , C O N C A M I N , C O N C A N A C O und AMIS gemeinsam Gegenvorschläge zum Regierungsentwurf des neuen Arbeitsgesetzbuches vor 1 0 9 . In anderen Fällen erfolgt die politische Einflußnahme indirekt und je nach Organisation gesondert 110 . Der Umstand, daß Mexiko noch fünfzig Jahre nach der Revolution eine Steuerbelastung hatte, die zu den niedrigsten in Lateinamerika zählte und zudem regressiv wirkte, wird auf den Einfluß der Unternehmerverbände zurückgeführt 111 . Unter der Präsidentschaft von L. Echeverría wurde 105

SCHULENBURG, A r b e i t s r e c h t 6 5 .

107

SCHULENBURG, Arbeitsrecht 66.

i°8

SCHULENBURG, A r b e i t s r e c h t

64.

106

BRANDENBURG 8 8 .

GONZÁLEZ CASANOVA,

La

democracia,

gibt

im

Jahre 1965 eine Zahl von 7000 Mitgliedern in 21 Centros Patronales an. Sofern die Zahlen zuverlässig sind, drückt sich in ihnen die rasche Wirtschaftsentwicklung Mexikos aus. 109

SCHULENBURG, A r b e i t s r e c h t 6 5 .

111

HANSEN 2 0 5 .

110

GUZMÁN VALDIVIA 3 1 8 .

Analyse

230

jetzt eine Änderung der Einkommensbesteuerung erreicht. Die Wirksamkeit dieser Aktionen ist wegen ihrer wissenschaftlichen Vorbereitung, der zur Verfügung stehenden juristischen und politischen Instrumente und der internen Koordination hoch - möglicherweise auch deswegen, weil der Staat wegen des Gewichts der staatseigenen Betriebe (vgl. Tab. 8) vielfach Interessen verficht, die mit den Unternehmerinteressen identisch sind. Wenn die Organisation der Wirtschaft allerdings nur Außenwirkung hätte, wäre unsere These, daß es sich hier um ein hochorganisiertes Sozialsystem handelt, noch nicht ausreichend belegt. Die starke Außenwirkung ist allerdings ein Indiz für interne Kommunikation und Interdependenz. Die Kommunikation wird durch die Kammern offenbar intensiv angeregt und beschränkt sich nicht nur auf Wahlen zu den Kammergremien. Es werden Fragen der Unternehmensleitung, der Personalpolitik, der Produktivität diskutiert und zum Thema von Fortbildungskursen gemacht. Häufig ist Beratung in Rechtsfragen und Beistand in wichtigen Arbeitsgerichtsprozessen112. Die Interdependenz der Unternehmen untereinander übersteigt in Mexiko die in den großen europäischen und nordamerikanischen Marktwirtschaften. Die große Zahl von Unternehmen, die die Mitgliederverzeichnisse der Kammern inzwischen aufweisen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß für viele Produkte immer noch nur ein Hersteller zur Verfügung steht. Mexiko ist noch in der Entwicklungsphase, in der weniger auf Wettbewerb als auf den Aufbau von Industriekapazitäten Wert gelegt wird. Die staatliche Förderung richtet sich daher darauf, möglichst viele Waren im Land selbst herzustellen. Parallele Produktion gleicher Waren ist unter einer Politik der Importsubstitution nicht der geeignete Einsatz des knappen Investitionskapitals. Der Kreis möglicher Geschäftspartner ist aus diesem Grunde immer relativ klein. Ein Ausweichen auf ausländische Hersteller ist meist schwierig, da Importlizenzen schwer und nur in langwierigen Verhandlungen mit dem Wirtschaftsministerium zu erhalten sind. Die mexikanische Wirtschaft bildet also ein relativ kleines, hochorganisiertes und interdependentes Sozialsystem. Konflikte würden hier sowohl die notwendige interne Kooperation als auch die Schlagkraft nach außen, insbesondere die gleichgerichtete Einflußnahme auf das politische System behindern. Um sie nach Möglichkeit zu vermeiden, wurde eine Vielzahl von offenbar höchst wirkungsvollen Instrumenten entwickelt. Verträge 112

SCHULENBURG, Arbeitsrecht 64.

Konflikte

in hochorganisierten

Systemen

231

werden - insbesondere bei der Aufnahme länger dauernder Handelsbeziehungen — mit juristischem Beistand ausgearbeitet, was aber nicht bedeutet, daß man sich später auf sie beruft. Bevor eine wichtige Geschäftsbeziehung aufgenommen wird, werden Informationen über den Partner innerhalb der Branche oder durch Einschaltung von Auskunfteien eingeholt. Banken führen Listen über die „vida comercial" ihrer Kunden. Die Industrie- wie die Handelskammern führen „schwarze Listen" von Unternehmen, über die Beschwerden eingehen. Gerichtliche Auseinandersetzungen, Zwangsvollstreckungen, Konkurse etc., die Unternehmen betreffen, lassen sich aus der periodisch erscheinenden Zeitschrift „Mexico Mercantil" ersehen. Im übrigen werden bei jedem informellen Treffen sei es auf der Manager-Ebene im Lion's Club oder auf der Ebene der Vertreter, die sich auf ihren Geschäftsreisen ständig begegnen - Informationen über die Geschäftspraktiken der Konkurrenz ausgetauscht. Schafft selbst dieses verästelte Kommunikationssystem noch keine ausreichende Klarheit über die Vertrauenswürdigkeit des Partners, so wird die Vorlage von Handels- und Bankreferenzen verlangt, oder das Geschäft wird nur gegen Barzahlung abgewickelt. Gelegentlich werden eine Vertrauensschadensversicherung abgeschlossen oder sonstige Sicherungen wie Bürgschaften bestellt 113 . Kommt es trotz Anwendung dieser vorausschauenden Konfliktvermeidungsmaßnahmen gleichwohl zu Streit mit dem Geschäftspartner, so wäre unter dem Systemaspekt zu erwarten gewesen, daß interne Schlichtung in Anspruch genommen wird. Aber dies ist nach allem, was zu erfahren war, praktisch nie der Fall. Es gibt in Mexiko keine relevante Handelsschiedsgerichtsbarkeit. Die Kammern fungieren zwar als Ratgeber und Auskunftsstellen, nicht aber als neutrale Dritte zwischen den Parteien. Von den staatlichen Institutionen kann man allenfalls die Patentabteilung im Wirtschaftsministerium als Streitintervenienten ansehen, aber dies ist ein Sonderfall. Die auftretenden Streitigkeiten um die Bezahlung von Rechnungen und die Nichterfüllung von Verträgen werden ganz überwiegend direkt ausgetragen und kommen in seltenen Fällen ohne die Einschaltung weiterer Vermittler zum Gericht. Die direkte Austragung greift dann ein, wenn zwischen den Partnern deutliche Machtdifferenzen bestehen und/oder zwischen ihnen aufgrund längerer Geschäftsverbindung ein komplexes Interaktionsverhältnis 1 1 3 Dieser Zwang zur Auswahl sidierer Geschäftspartner begünstigt große und renommierte Unternehmen und erschwert es neu anfangenden Geschäftsleuten, Kredite zu bekommen.

16

Gessner, Konflikt

232

Analyse

herrscht. Bei Machtdifferenzen, die sich in der Größe der Unternehmen, ihren politischen Kontakten, aber auch in der Monopolstellung für bestimmte Waren oder Leistungen ausdrücken können, hat der Stärkere genügend Mittel, seine Forderungen ohne fremde Hilfe durchzusetzen. Die häufigste Form ist der Einsatz von „cobradores", also von Kassierern, die den säumigen Schuldner aufsuchen und zur Zahlung auffordern. Sie sollen gelegentlich bewaffnet sein, aber das ist wohl nicht der entscheidende Grund ihres Erfolges. Es ist die Unmittelbarkeit ihres Insistierens, die sie einer brieflichen Mahnung voraushaben, und die Öffentlichkeit ihres Auftretens, die die Firmenleitung gegenüber ihren Angestellten als unsicherer Geschäftspartner bloßlegt. Bei schwerwiegenderen Streitigkeiten werden die vielen in der Wirtschaft zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um den Gegner unter Druck zu setzen. Eine besondere Variante scheint in Mexiko die zu sein, für ein vom Streitgegner hergestelltes Produkt Importlizenzen zu beantragen und ihn damit dem Wettbewerb ausländischer Konkurrenten auszusetzen. Eine andere Variante ist die Veröffentlichung der Forderung in Form einer Zeitungsanzeige: SUrLICAMO*

Ali SEftOB

Arturo Juncal Hernández

lerente genera! " A S E S O R E S TECNICOS Y B I E W S K A I C E S " . S . A., con dirección en Colima 220-3. colonia Komi, de «atn ciudad, *e sirve pasar a esta Editorial a dejar resuelto el asunto que tiene pendiente. E X C E L S I O R . C O M f A U I A EDITORIAL, S . C . L . SUPLICAMOS A LOS

SEÑORES

AURELIO GONZALEZ CUELLAR JUAN DE DIOS GONZALEZ REYES

¿erente y administrador respectivamente de "Distribuidora L a S u l t a n a " , coa dirección ea Avenida Universidad Na. 634 de «sta ciudad, *e s i r v a * vasar a «sta Editorial a dejar arreglado asunto que tlena »endienta. E X C E L S I O R , CIA. EDITORIAL. S . C. L .

Sr. Ignacio Morales Homero Favor presentarse a terminar los asuntos que usted dejó pendientes, al separarse de esta empresa, hoy miércoles a las 10 horas.

Cía. Sherwin Williams, S. A. de C. V. Anzeigen im „Excelsior" v o m 13. Juli 1970

Konflikte in hochorganisierten Systemen

233

Ubersetzung: Wir bitten Herrn Arturo Juncal Hernández, Geschäftsführer der Fa. „Asesores Técnicos y Bienes Raices" A G , Colima-Str. 2 2 0 - 3 , Bezirk Roma, Mexiko-Stadt, im Verlag vorzusprechen und die offengebliebene Angelegenheit zu erledigen. Excelsior Verlagsgenossenschaft Wir bitten die Herren Aurelio González Cuellar und Juan de Dios González Reyes, Geschäftsführer bzw. Verwalter der Fa. „Distribuidora La Sultana", Avenida Universidad 634, Mexiko-Stadt, im Verlag vorzusprechen und die offengebliebene Angelegenheit zu erledigen. Excelsior Verlagsgenossenschaft Herr Ignacio Morales Romero, Sie werden gebeten, heute, Mittwoch, um 10 Uhr bei uns vorzusprechen, um die Angelegenheiten abzuschließen, die Sie unerledigt gelassen haben. Cia Sherwin Williams, S.A. de C.V.

Ist es dagegen der Schwächere, der eine Forderung durchzusetzen bemüht ist, so wird der Anspruch alsbald aufgegeben. Jede Einschaltung von Dritten, auch wenn sie unmittelbar zum Erfolg führen sollte, hätte langfristig nur Nachteile. Der Verlust muß auf die Preise abgewälzt werden. Meist haben die Unternehmen schon vorsorglich Rücklagen für uneinbringliche Forderungen. Diese Fälle unmittelbarer Machtkonfrontation sind allerdings abgemildert, wenn es sich um länger dauernde Geschäftsbeziehungen, also in unserer Terminologie um komplexe Interaktionsverhältnisse handelt. Hier haben wir im wesentlichen das gleiche beobachtet, was S. M A C A U L A Y über die US-amerikanische Geschäftspraxis berichtet114. Für beide Teile steht die Aufrechterhaltung des Kontakts im Vordergrund. Das Konfliktverhalten ist flexibel, man gibt eher nach, als daß man auf Verträge und rechtliche Normierungen pocht. Ansprüche, die heute aufgegeben werden, können durch besondere Leistungen des anderen morgen wieder kompensiert werden. Jede Einschaltung von Dritten würde diese Austauschbeziehung nur stören und Normen dort einführen, wo es nur um Interessen gehen soll115. Schließlich gibt es eine dritte Gruppe von Konflikten zwischen Partnern, die weder in längerer Geschäftsverbindung stehen, noch deutliche Machtunterschiede aufweisen. Zu einem Verzicht auf die Durchsetzung 114

M A C A U L A Y 1 5 4 ff.

„Keep channels open between partners! Be careful about fighting in public!" sind die Ratsdiläge, die US-amerikanischen Investoren f ü r Mexiko gegeben werden. V g l . 115

BUSINESS INTERNATIONAL C O R P O R A T I O N 5 5 . 16'

234

Analyse

der Forderung besteht weder aus Gründen der Rücksichtnahme auf den anderen noch aus Furcht vor Repressalien ein Anlaß. Da unmittelbare Machtmittel nicht zur Verfügung stehen, werden den Anspruch stützende Normen zu Hilfe genommen. Dies ist die Situation der Inanspruchnahme Dritter, und zwar hier der Gerichte, da das Wirtschaftssystem solche nicht anbietet. Diese Konfliktgruppe ist aber aufgrund der beschriebenen Struktur der mexikanischen Wirtschaft nicht groß - jedenfalls macht sie sich in der Gesamtzahl der bei den Gerichten anhängigen Klagen nicht sehr stark bemerkbar. In 8 % der vor den Zivilgerichten 1. Instanz in Mexiko-Stadt analysierten Akten w a r der Beklagte eine Aktiengesellschaft (vgl. Tab. 24). V o r den Friedensgerichten waren es 4 % . Die Zahl der Wirtschaftsstreitigkeiten könnte noch etwas darunter liegen, da eventuell nicht in allen Fällen die Klage von einem Unternehmen ausgeht.

Nur in dieser letztgenannten Gruppe ist durch Verfahren der Eingang von Recht in den Konflikt gewährleistet. Es handelt sich meist um Wechselprozesse, die relativ schnell und unbestechlich abgewickelt werden. Bei den anderen Konfliktgruppen könnte durch die übrigen hier kontrollierten Faktoren ein dem Recht entsprechendes Streitende herbeigeführt werden. Die Komplexität der Konflikte läßt sich, wie wir gesehen haben, nicht einheitlich beurteilen. Es gibt anonyme Wirtschaftsbeziehungen: Bestellungen nach Katalogen, bei denen der Geschäftspartner nicht bekannt ist und als Person oder Rolle nicht interessiert. Aber es ist riskant, so vorzugehen. Ob und wie geliefert wird, ob gezahlt wird, folgt nicht zwingend schon daraus, daß entsprechende Rechtsnormen bestehen. Es bedarf jedenfalls in Mexiko erheblich mehr an Informationen über den anderen, um normativ erwarten zu können. Rein normative Erwartungsstrukturen, bei denen der Partner nur als „Auslöser in einem Konditionalprogramm" fungiert, sind daher nicht häufig. Häufiger sind die Konflikte schon auf der anderen Seite unserer Skala angesiedelt, bei den dichten, personbezogenen Erwartungsstrukturen. Viele Geschäftspartner blicken auf eine jahrzehntelange Zusammenarbeit zurück. Sie kennen sich persönlich, treffen sich informell und können dementsprechend ihre Konflikte nicht austragen, ohne die gemeinsame Geschichte ihrer Beziehung mit zu berücksichtigen. Eine alle Komplexität ausblendende Subsumierung eines Konflikts unter eine Rechtsnorm ist in solchen Interaktionsverhältnissen nahezu undenkbar. Der Schwerpunkt allen Wirtschaftshandelns liegt aber sicher auf der

Konflikte

außerhalb

hochorganisierter

Systeme

235

Rollenebene. Der Partner interessiert nicht in seiner vollen Persönlichkeit, sondern in seinen geschäftlich relevanten Merkmalen, die allerdings vielfältiger N a t u r sind. Erwartungen, die sich auf die Größe des Betriebs, auf die Familie oder Nationalität des Inhabers, auf seinen Bildungsgrad usw. stützen, konkurrieren auf dieser Ebene mit normativen Erwartungen aus Handelsbräuchen und positivem Recht. Eine rein rechtliche Streitbeendigung wird also auch hier selbst dann nicht die Regel sein, wenn die Beziehung nicht durch Machtdifferenzen verzerrt ist. Nicht anders ist der Einfluß von Rechtsinformation und Rechtsbewußtsein zu bewerten. Die mexikanischen Geschäftsleute sind über Rechtsfragen im allgemeinen gut informiert. Zum Teil sind es selbst Juristen, da die Rechtsfakultäten weit mehr Studenten ausbilden, als in reinen Rechtsberufen unterkommen können. Größere Firmen haben immer Juristen eingestellt oder sind in engem Kontakt mit einem Anwaltsbüro. Aber auch ein mexikanischer Geschäftsmann könnte gesagt haben: „ Y o u can settle any dispute if you keep the lawyers and accountants out of it. They just do not understand the give and take needed in business." 1 1 6 In der Wirtschaft kennt man das Privatrecht und identifiziert sich auch mit seinen Inhalten. Aber es würde als unflexibel, unkonziliant und geradezu irrational gelten, das eigene Verhalten bei Streitigkeiten mit Geschäftspartnern ausschließlich oder auch nur überwiegend rechtlichen Interessen zu unterwerfen. Zusammenfassend gilt für Konflikte in der Wirtschaft, daß sie in ihrer großen Mehrzahl direkt ausgetragen werden und nur bei fehlenden Machtdifferenzen und flüchtigen Geschäftsverbindungen zum Gericht gelangen. Sonstige Dritte spielen keine Rolle. D a s Privatrecht findet nur Eingang in diese wenigen gerichtlich ausgetragenen Streitigkeiten. Im übrigen konkurriert es mit anderen Normen und Interessen und hat nur einen reduzierten Einfluß auf das Konfliktende. 4.6 Konflikte außerhalb hochorganisierter Systeme D a die Familie, das Land, der Betrieb und die Wirtschaft einen Großteil der Interaktionen in der mexikanischen Gesellschaft abdecken, sind wesentliche Konfliktbereiche bereits dargestellt. Man hätte diese Analyse noch fortsetzen können mit anderen ebenso hochorganisierten Systemen wie den Indiokulturen oder der jüdischen Bevölkerungsgruppe, doch 119

S o die Aussage eines amerikanischen Geschäftsmannes bei MACAULAY 155.

236

Analyse

haben wir angesichts methodischer Schwierigkeiten davon Abstand genommen. Es gilt nun, in einem notwendigerweise etwas gröberen Vorgehen all das darzustellen, was sich über Konflikte außerhalb solcher Systeme aus unserem Material belegen läßt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Streitigkeiten im Konsumbereich, aus Mietverhältnissen, aus Verkehrsunfällen und im städtischen Nachbarschaftsbereich, also um Konflikte, bei denen die Beteiligten mehr zufällig aufeinanderstoßen, sich kaum oder gar nicht kennen und jedenfalls über den Streit hinaus keine Gemeinsamkeiten - etwa eine gemeinsame Aufgabe wie in den Systemen haben. Sie gehören typisch zum städtischen Bereich, aber dieser ist kein Sozialsystem. Sicherlich sind auch diese Konflikte Teil der mexikanischen Gesamtgesellschaft, und insofern sind sie eingebunden in einen gemeinsamen kulturellen und strukturellen Zusammenhang. Aber diese Gesellschaft weist einen erheblich niedrigeren Organisationsgrad auf als ihre Subsysteme, und dieser Unterschied wirkt sich nach unseren theoretischen Überlegungen deutlich auf die Verläufe privatrechtlicher Streitigkeiten aus. Negativ läßt sich zunächst sagen: a) Es besteht kein Zwang zur Konfliktvermeidung. b) Es gibt kein Systeminteresse an Konfliktregulierung. c) Es findet keine Selbstregulierung durch „soziale Kreditbeziehungen" statt. Während in den beschriebenen Subsystemen Konflikte deutlich als unerwünschte Störung angesehen und entsprechend diskriminiert werden, besteht außerhalb dieser Systeme kein Zwang zur Konfliktvermeidung. Einen deutlichen Beleg erbrachte Tab. 67. Während im Familienkonflikt nur 11 °/o klar und 10 % bedingt zu einer Klage bereit waren, waren bei einem Schadensersatzanspruch aus Verkehrsunfall 85 % mit einer Klage einverstanden. Ein weiterer Beleg sind die Antworten auf folgende Frage: „Nehmen wir an, in einem Autobus mödite der Schaffner Ihren Sitzplatz einer anderen Person geben. Würden Sie es ablehnen, Ihren Platz freizumachen und stehend weiterzufahren, oder sind Sie der Meinung, man müsse in solchen Fällen nachgeben?"

Anlaß zur Einfügung dieser Frage waren häufige eigene Beobachtungen in mexikanischen Autobussen, in denen die Schaffner ein strenges Regime führen und vielfach nach Gutdünken Sitzplätze vergeben, auf die andere ein Anrecht hatten. Die Antworten verteilen sich in Nayarit (die Frage wurde in Mexiko-Stadt noch nicht gestellt) wie folgt:

Konflikte außerhalb hochorganisierter

Systeme

237

Tab. 75: Konfliktdisposition in einem mexikanisdien Autobus (n = 300 Befragte in Nayarit; keine Antwort: 1) D i e Anweisung des Schaffners wird abgelehnt wird befolgt

256 (85 %>) 43 (15 o/o) 299 (100 %>)

Beide Tests ergeben also eine gleichermaßen hohe Konfliktdisposition. Beobachtungen des mexikanisdien Straßenverkehrs, die wir allerdings nicht quantifizieren können, führten zu demselben Ergebnis. Man wird in diesem Bereich eher von einem Zwang zur Aggressivität sprechen können. Die Länge der Autos, die Lautstärke der Hupen und der Klanghörner, die obszönen Gesten, insbesondere aber die selten fehlende Pistole im Handschuhfach sprechen nicht gerade für eine Konfliktvermeidungsstrategie und eher für eine Ventilfunktion für sonst unterdrückte Aggressivität — Aggressivität, die ja kulturell positiv bewertet wird und beim Mann geradezu unerläßlich ist, um soziale Anerkennung zu erlangen. Läßt die Gesellschaft Konflikte außerhalb von Subsystemen ungehindert zum Entstehen kommen, so überrascht es nicht, daß auch Einrichtungen zur Konfliktreg«/ier«wg wenig ausgebildet sind. Die Gerichtsorganisation gilt in Mexiko allgemein als unzureichend: Vier Fünftel der Bevölkerung halten sie für langsam und korrupt (vgl. Tab. 41), die Tageszeitungen diskutieren immer wieder ihre Probleme 117 . Die Richter sind schlecht besoldet und nur jeweils auf sechs Jahre angestellt. Ihre Auswahl unterliegt politischen Gesichtspunkten. Und vor allem das Verfahren ist in seiner extremen Schriftlichkeit ungeeignet, den Konflikt in seiner sozialen Komplexität zu erfassen. Die Parteien haben allenfalls vor den Friedensgerichten Zugang zum Richter. Nur in Ausnahmefällen findet eine „Verhandlung" in dem Sinne statt, daß die Parteien anwesend sind und mit dem Gericht über den Streitstoff diskutieren. Ein „Verfahren" des Typs, den LUHMANN im Auge hat, also ein Rollenspiel, in dem durch Interaktion eine gemeinsame Wirklichkeit akzeptiert und Protest absorbiert wird 118 , findet kaum je statt. Jedenfalls hatten wir bei unseren mehrmonatigen Aufenthalten in Gerichten nie die Gelegenheit, 117

Vgl. „Excelsior" vom 22. 7. 1969, 23. 7. 1969, 5. 11. 1969, 14. 7. 1970, 4. 8. 1970 und „Ultimas Noticias" vom 23. 10. 1969. Die Ursache der Probleme wird allerdings allzu einfach in der Auswahl der Richter gesehen. II« Vgl. LUHMANN, Legitimation.

238

Analyse

etwas Derartiges zu beobachten. Nun ist es sicher strittig, inwieweit der Gerichtsprozeß das Konfliktpotential des individuellen Falles abbauen oder Recht zur Geltung bringen soll. Aber unstreitig ist, daß ersteres zumindest auch Aufgabe des Verfahrens ist. Dem tragen jedoch weder die mexikanische Zivilprozeßordnung noch die geübte Praxis Rechnung. Auch der Zugang zu den Gerichten wird kaum erleichtert. Zwar werden keine Gerichtsgebühren erhoben, aber ohne häufige Zuwendungen zumindest an das nicht-richterliche Gerichtspersonal kommt kein Verfahren voran; auch herrscht faktisch Anwaltszwang, da die Förmlichkeit und Schriftlichkeit der Prozesse von Laien nicht zu bewältigen sind. Die Rechtshilfeeinrichtungen sind unzulänglich bzw. nicht existent. Das Amt für Rechtshilfe in Mexiko-Stadt ist zweifellos die am stärksten besetzte derartige Einrichtung in ganz Mexiko und hat dennoch nicht mehr als 3000 Konflikte im Jahr zu bearbeiten, von denen etwa die Hälfte zu dem hier interessierenden Bereich der Konflikte außerhalb von Subsystemen zu rechnen ist (vgl. oben 3.4.13). Es fehlt jede Dezentralisierung der Rechtshilfe auf die einzelnen Stadtbezirke 119 . Außerhalb der Metropole kann man kaum von Rechtshilfeämtern sprechen. Nun wird allerdings ein Teil dieser Aufgaben von den Polizeidelegationen im ganzen Land wahrgenommen, nämlich Rechtsberatung und Schlichtung. Aber der interessante Punkt in unserem Zusammenhang ist, daß die „agentes del Ministerio Público" keineswegs zu diesem Zweck eingesetzt sind. Sie arbeiten in den Dienststellen, um staatsanwaltschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Die allerdings zum Teil beträchtliche Rechtshilfe, die von ihnen geleistet wird, geschieht spontan und im Grunde außerhalb der Dienstpflichten. Ihre Funktion bei der Regulierung von Konflikten ist daher im Einzelfall sehr unterschiedlich, was die Zahl der Fälle und deren Behandlung anbetrifft (vgl. oben 3.4.12). Auch die Delegationen beweisen, daß trotz großen und offensichtlichen Bedarfs ein Systeminteresse an Konfliktregulierung in der niedrig-organisierten mexikanischen Gesamtgesellschaft nicht besteht. Die Einzelgliederungen dieses Systems sind zu wenig interdependent, als daß Konflikte Störungen verursachen könnten. Hinzu kommt, daß sich die Konflikte außerhalb von Subsystemen auch kaum durch die oben (4.2.2) beschriebenen sozialen Austauschmechanismen selbst regulieren. Dazu bedarf es komplexer Sozialbeziehungen, wie

1 1 9 Zum Vergleich: Der Hamburger öffentlichen Rechtsauskunft- und Vergleichsstelle werden in den über die ganze Stadt verteilten Büros jährlich etwa 60 000 Fälle vorgetragen.

Konflikte

außerhalb

hochorganisierter

Systeme

239

sie durch enge, die Person einbeziehende Interaktionen über längere Zeitdauer entstehen. Nur dann ist es sinnvoll, die Konfliktaustragung zu „kreditieren" und auf späteren Ausgleich durch Überfüllung anderer Erwartungen oder eigenes Zurückbleiben hinter den Erwartungen des Partners zu warten. Diese Situation tritt aber in den hier ins Auge gefaßten Konflikten selten ein. Die Beziehungen zwischen Verkäufer und Käufer, zwischen Verkehrsteilnehmern, zwischen Geschädigtem und Versicherung etc. sind in der Regel einmalig und flüchtig. Der Partner interessiert nicht als Person oder Rolle, sondern als Normsubjekt, von dem isolierte und ganz konkrete Handlungsvollzüge erwartet werden. Dies letztere gilt auch meist für die Beziehungen zwischen Mieter und Vermieter, wenn sie auch auf Dauer gestellt und daher etwas anders zu bewerten sind. Bei geringer Systemsteuerung und niedriger Komplexität der Interaktion bleibt der Konflikt dann allein den Einflüssen des dritten Faktors überlassen, der Machtkonstellation zwischen den Parteien. Nun bedeutet aber eine Machtdifferenz außerhalb eines Subsystems etwas wesentlich anderes als eine Machtdifferenz innerhalb eines Systems. Systeme haben eine Machtstruktur, d. h. die Macht ist kanalisiert und mit spezifischen Mitteln ausgestattet, die auch nicht beliebig, sondern nur nach bestimmten Mustern eingesetzt werden können. So ist auf der einen Seite Gewalt als äußerste Machtanwendung zu vermeiden, da sie Widerstand hervorrufen kann und damit unerwünschte Konflikte im System. Legale Macht auf der anderen Seite wird zwar vielfach angestrebt, ist aber nicht notwendig, da sich die Interessendurchsetzung systemintern eine eigene Legitimierung schafft, die nicht immer einer Anerkennung durch das Rechtssystem bedarf. Macht im System bewegt sich also meist auf den vielen Zwischenstufen zwischen Gewalt und Recht. Dagegen hat Macht außerhalb von hochorganisierten Systemen keine Struktur und verfügt über kein jederzeit einsetzbares Instrumentarium. Machtdifferenzen können sich daher kaum in Zwischenstufen ausdrücken. Wer hier Macht anstrebt, bedarf entweder der Mittel der Gewalt oder des Rechts, oder er benutzt diese beiden Wege. Die Wohnanlage der Sozialversicherung (Unidad Independencia) bietet im Kontrast zu den übrigen Vermieter-Mieter-Beziehungen einen guten Beleg für diese Thesen. Der Verwalter führt ein strenges Regime, aber er hat genügend Möglichkeiten, seine Ziele ohne Gewalt und ohne Berufung auf Rechtsvorschriften durchzusetzen. Gewaltsame Konflikte kommen ebenso selten vor wie Klagen vor Gericht (vgl. oben 3.4.14). Dagegen ist die übrige Haus- und Grundstücksnutzung in der Metropole

240

Analyse

durch harte Extreme gekennzeichnet. Mangels hilfswilliger Sozialarbeiter in ihren Diensten oder schlichtender Mietervereinigungen — wie es in der Wohnanlage der Fall ist — erreichen viele Vermieter ihre Interessen unmittelbar, indem sie mißliebige Mieter vor die Tür setzen. Auch die Seite der Besitzlosen ist nicht untätig: Grundstücksbesetzungen durch Gruppen von landlosen Zuwanderern sind an der Tagesordnung und erstarken, auch wenn sie gewalttätig durchgeführt wurden, schon nach Ablauf von zehn Jahren zum vollen Eigentumsrecht (Art. 1154 Codigo Civil D.F.). Ein funktional äquivalentes Mittel zur Gewalt ist für den Vermieter die Einreichung der Klage nach dreimonatiger Verweigerung der Annahme des Mietzinses (vgl. oben 3.3.3). Aber dieses Mittel läßt sich durch Hinterlegung des Mietzinses bei Gericht abwenden, so daß es heute nur noch gegen die unteren und uninformierten Bevölkerungsschichten eingesetzt werden kann. In jedem Fall ist es trotz der Mieterschutzbestimmungen des Bundesdistrikts im Verhältnis zum Mieter für den Hauseigentümer das sicherste, seine starke Stellung rechtlich zu verankern und im Konflikt bei Gericht zur Durchsetzung zu bringen. Viele im Beobachtungsteil wiedergegebene Daten zeigen die Auswirkung der Machtdifferenz bei Mietkonflikten. Vor die Wahl gestellt zwischen gewaltsamer Interessendurchsetzung gegenüber dem Mieter oder Inanspruchnahme der Gerichte, zieht der Vermieter den letzteren als den meist einfacheren Weg vor. Deshalb sind Mietklagen häufig (29 % aller Klagen vor den Zivilgerichten 1. Instanz und 3 4 % der Klagen vor den Friedensgerichten im Bundesdistrikt). Aber sie werden nur dann eingereicht, wenn die Forderung rechtlich gesichert erscheint. Dies ist ein Grund, warum Mietklagen fast nie abgewiesen werden. Erscheint die Rechtslage unsicher, so bleibt es bei der direkten Auseinandersetzung. Dem Mieter als dem bei der extremen Wohnungsknappheit Schwächeren im Streit stellt sich die Lage so dar, daß er einer gewaltsamen Vertreibung Widerstand entgegensetzt, bei einer Klage gegen ihn aber vergleichsbereit wird und auch etwa eine dem Mieterschutzdekret widersprechende Mieterhöhung hinnimmt. Daher haben wir häufig Klagerücknahmen des Vermieters beobachtet. Eine Klageerwiderung empfiehlt sich für den Mieter bei der eindeutigen Rechtslage nicht, allenfalls zur Verzögerung des Prozesses: 8 1 % der Mietverfahren vor den Zivilgerichten und 5 9 % derjenigen vor den Friedensgerichten bleiben daher ohne Reaktion. Einen Erfolg bei Gericht durch Abweisung der Klage wird der Mieter bei den gegebenen Machtverhältnissen ernsthaft gar nicht anstreben können, da es der Vermieter dabei nicht bewenden lassen und die direkte Konfron-

Konflikte

außerhalb hochorganisierter

Systeme

241

tation um so härter betreiben wird. Der zunächst erstaunliche Umstand, daß Urteile zugunsten des Mieters fast völlig fehlen, kann auch von daher als Beleg für die Machtdifferenz bei Mietkonflikten gelten: Aus Angst vor den Folgen eines Erfolgs hält sich der Mieter bei Gericht zurück: mas vale un mal arreglo que un buen juicio. Zur Verfolgung eigener Ansprüche gegen den Vermieter fehlt dem Mieter jede Machtposition. Eine reditlich vorteilhafte Position kann er angesichts der Knappheit an Wohnraum nicht einhandeln. Die Gerichte können ihm daher nicht helfen: Eine Klage des Mieters gegen den Vermieter etwa auf Ausführung von Reparaturen, auf Herabsetzung einer zu hohen, weil gegen das Mieterschutzdekret verstoßenden Miete — fand sich in unserer Aktenauswahl nicht. Zum anderen Mittel, zur Gewalt, kann er nur greifen, sofern er sidi mit anderen Mietern verbündet — Aktionen, die allerdings als Delikt (despojo, Art. 395 Codigo Penal D.F.) mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Nach unseren in den Polizeidelegationen gewonnenen Informationen scheint diese einzige dem Mieter und Wohnungslosen zur Verfügung stehende Form der Interessendurchsetzung nicht selten vorzukommen. Die teils schlichtende, teils bestrafende Einwirkung der Polizei verhindert jedocii im allgemeinen einen Erfolg derartiger Aktionen. Im Verkäufer-Käufer-Konflikt liegt die Macht meist, aber nidit immer beim Verkäufer. Fälle, in denen Verkäufer ihre Interessen nicht durchzusetzen vermögen, wurden uns im Verlauf unserer Wirtschaftsbefragung bekannt, die audi sehr kleine Geschäfte mit einbezog. Derartige Läden des täglichen Konsums sind auf ihren guten Ruf im Stadtviertel angewiesen, was sie zwingt, gelegentlich großzügig auf Barzahlung zu verzichten. Da Wechselformulare nicht verfügbar sind und für solche kleinen Beträge auch nicht ausgefüllt werden und da es offenbar sogar als kleinlich gilt, nach dem Namen oder gar der Anschrift des Kreditnehmers zu fragen, werden die ausstehenden Beträge lediglich aufgelistet: „Mann im Gabardin-Anzug 80 Peso; Mann, mit dem über Studenten unterhalten, 25 Peso." Auf diese Weise gehen Summen verloren, die mehreren Monatsgehältern eines Arbeiters entsprechen. Selbst größere Geschäfte geraten gelegentlich mit einflußreichen Kunden in ein Machtgefälle, das sie zum Anspruchsverzicht zwingt. Selbst Wechsel können in solchen Fällen nicht mit Aussicht auf Erfolg eingeklagt werden. Ein Möbelgeschäft gab an, es sei ganz undenkbar, etwa bei einem Politiker eine Sicherheitspfändung durchzuführen. Nach Möglichkeit werde an solche Kunden gar nicht erst verkauft.

242

Analyse

Im Regelfall ist der Verkäufer allerdings in einer ausreichend starken Position, um sich durch Wechsel oder Pagaré mit Rechtsmacht zu versehen. Alle Abzahlungskäufe, also praktisch jeder Erwerb wertbeständiger Güter, erfolgen durch Unterzeichnung von Schuldpapieren. Sie werden routinemäßig eingeklagt und dann meist schon durch Zahlung oder Befriedigung aus der Sicherheitspfändung realisiert. Uber die Hälfte aller Prozesse in Mexiko-Stadt, drei Viertel aller Prozesse in Tecuala und vier Fünftel aller Prozesse in Tepic hatten Konflikte dieser Art zum Gegenstand. Da Einwendungen gegen den Anspruch meist nicht möglich und im Wechselprozeß auch nicht statthaft sind, geben alle hier ergehenden Urteile der Klage statt. In 9 0 % der Prozesse meldet sich der verklagte Abzahlungskäufer nicht einmal zu den Akten. Der VerkäuferKäufer-Konflikt ist der einzige wichtige Konflikttyp in der mexikanischen Gesellschaft, bei dem die Umwandlung von Macht in Rechtsmacht wegen deren einfacher Realisierung so attraktiv ist, daß alternative Machtmittel, insbesondere Gewalt, praktisch keine Rolle spielen. Der Käufer-Verkäufer-Konflikt, der sich insbesondere auf Mängel der Ware gründet, scheitert dagegen an der schwachen Position des Konsumenten. Rechtsmacht ist nicht, wie beim Verkäufer, durch Unterzeichnung eines Schuldpapiers zu erlangen, sondern müßte in einem von der rechtlichen wie der tatsächlichen Seite vollkommen offenen Prozeß erst erstritten werden. In dieser Situation wird in Mexiko keine Klage eingereicht. Sonst stehen dem Konsumenten aber keine Mittel zur Verfügung. Es gibt keine Verbraucherverbände und keine Verbraucherschiedsstellen. Ähnlich dem Käufer-Verkäufer-Konflikt liegt es beim Streit eines Ersatzberechtigten gegen eine Versicherungsgesellschaft. Ist letztere zu einer Ersatzleistung nicht bereit, so ist die Machtdifferenz zu groß, um eine Weiterverfolgung des Anspruchs noch lohnend erscheinen zu lassen. Zwar stehen hier Schiedsstellen in Gestalt der Nationalen Versicherungskommission (vgl. oben 3.4.3) bzw. des Technischen Rats der mexikanischen Sozialversicherung (vgl. oben 3.4.4) zur Verfügung. Aber zumindest diese letztgenannte ist zu eng mit der Versicherung verbunden, um aus der Sicht des Ersatzberechtigten eine neutrale Instanz darzustellen, die in der Lage wäre, Machtdifferenzen auszugleichen. Der Technische Rat ist ein Organ der Sozialversicherung, das sich, wenn auch durch verschiedene Interessengruppen besetzt, wegen der Beschwerde eines Versicherten nicht in Gegensatz zur eigenen Institution setzen wird. Der Einfluß der Machtdifferenz wird bei den dort ermittelten Zahlen sehr deutlich. Fühlen sich

Konflikte

außerhalb

hochorganisierter

Systeme

243

Arbeitgeber benachteiligt, so ist die Machtdifferenz relativ gering und die Beschwerdehäufigkeit hoch. Fühlen sich versicherte Arbeitnehmer oder ihre Angehörigen benachteiligt, so ist die Machtdifferenz hoch und die Beschwerdehäufigkeit niedrig. Die Nationale Versicherungskommission ist ein staatliches Aufsichtsorgan und kein Organ der Versicherungsgesellschaften. Aber die Verbindung zwischen der herrschenden Regierungspartei und den Unternehmen der Versicherungswirtschaft bedarf keiner juristischen Formen, um als zumindest verständnisvoll bezeichnet werden zu können. Daher findet sich auch hier eine Konstellation, die den Ersatzberechtigten, wenn er nicht selbst über politische Verbindungen verfügt, in eine schwache Machtposition bringt. Entsprechend selten nimmt er die Dienste der Kommission in Anspruch, was hier zwar nicht statistisch belegt, aber aus der geringen personellen Besetzung der Beschwerdeabteilung gefolgert werden kann. Da die Ausschöpfung dieser beiden Schlichtungswege Klagevoraussetzung vor den Arbeits- bzw. Zivilgerichten ist, ist es dann nicht mehr überraschend, wenn sich bei der Auswertung der Gerichtsakten keine Klagen gegen Versicherungsunternehmen haben finden lassen. Trotz hoher Konfliktdisposition (vgl. Tab. 67) kommen also mangels institutioneller Vorkehrungen Konflikte nicht zur Austragung. Bestehen solche Vorkehrungen — vgl. die bei den unteren Bundesgerichten leicht einklagbaren Ersatzquoten aus durch offentliche Verkehrsund Energieversorgungsbetriebe verursachten tödlichen Unfällen - , so werden Ansprüche auch durchgesetzt. Aber die Konflikte außerhalb von Subsystemen sind nicht immer durch Machtungleichheit der Partner gekennzeichnet. Bei nicht durch Versicherungen gedeckten Verkehrsunfällen etwa sind die Parteien typisch gleichgestellt oder auch bei Streitigkeiten aus geliehenem Geld, wie sie in den städtischen Armenvierteln, die ja keine Subsysteme sind, täglich vorkommen. Ist das fehlende Ubergewicht eines der Beteiligten unmittelbar zu erkennen, so versucht keiner, den Konflikt auszutragen. Man einigt sich schnell und ohne Einschaltung von Dritten, wie Polizei oder Gericht. Oft ist die Situation jedoch die, daß die Machtlage undurchsichtig ist, denn jede Konfliktpartei versucht zunächst, mit ihren Einflußmöglichkeiten zu bluffen. So empfiehlt sich nach einem Zusammenstoß im Straßenverkehr die Bemerkung, man habe es eilig und müsse gerade zu einer Party beim Präsidenten. Oder ein einflußreicher Verwandter wird schnell herbeigerufen. In solchen Situationen findet eine stark konfliktive Phase statt, die dazu dient, die reale Macht des anderen einzuschätzen. Dabei ist eine von mehreren Austragungsformen auch die, gemeinsam oder allein zur

244

Analyse

Polizeidelegation zu gehen. Jeder prüft dort, ob er durch staatliche Hilfe, insbesondere strafrechtliches, aber auch zivilrechtliches Einschreiten, einen Machtzuwachs erhalten kann. Kommen die Parteien nach Durchlaufen dieser Phase zum Ergebnis, daß niemand ausreichend Ressourcen aktivieren kann, um den anderen unter Druck zu setzen, dann findet der Konflikt sehr rasch durch beiderseitiges Einlenken ein Ende. Eine Klage vor Gericht wird in solchen Fällen wegen der schwierigen Kalkulierbarkeit des Prozeß Verlaufs nicht eingereicht: Die ausgewerteten Akten bei den Zivil- wie bei den Friedensgerichten enthielten keinen der so häufigen Konflikte aus Verkehrsunfall oder aus dem Verleihen von Geld. Die Einflußmöglichkeiten von Recht auf das Konfliktergebnis sind damit weitgehend schon umschrieben. Durch die Möglichkeit, Gerichte einzuschalten, werden die Vermieter-Mieter-Konflikte und die VerkäuferKäufer-Konflikte vielfach dem Privatrecht entsprechend beendet. Die jeweils Schwächeren, also die Mieter und die Abzahlungskäufer, können ihre Ansprüche nicht rechtlich durchsetzen. Ähnliches gilt für alle anderen Konflikte mit Machtdifferenzen, mit Ausnahme der Konflikte aus durch öffentliche Verkehrs- und Energieversorgungsbetriebe verursachten tödlichen Unfällen, wo einfache Klagemöglichkeiten (vor den unteren Bundesgerichten) eingeräumt sind. N u r beim Konflikt ohne Machtdifferenzen sind die weiteren Faktoren, die die Wirksamkeit des Rechts begünstigen, von möglicher Bedeutung. Die geringe Komplexität der Konflikte erlaubt die normative Betrachtung des Streits durch die Parteien — ob es allerdings Rechtsnormen sind, hängt vom Rechtsbewußtsein und von Rechtsinformation ab. Aber beide liegen in den Städten generell und speziell bei den in Betracht kommenden Konflikten — insbesondere also Verkehrsunfällen, Geldschulden, Schadensersatz unter Nachbarn - relativ hoch und werden weiter erhöht durch die häufige Einschaltung von Polizeidelegationen. Im Ergebnis ist für diesen Abschnitt daher festzuhalten, daß außerhalb von Subsystemen die Konfliktform allein von der Machtverteilung zwischen den Parteien abhängt, wobei Macht sich in Rechtsmacht und in Gewalt ausdrücken kann. Realisierbare Rechtsmacht ist jedoch nur von wenigen Bevölkerungsgruppen zu erlangen, nämlich Vermietern, Verkäufern und - ein Sonderfall - Angehörigen von Unfalltoten. N u r von diesen Gruppen werden Konflikte zum Gericht gebracht. Für andere Konflikte stehen keine Verfahren und damit keine Mechanismen des Machtausgleichs zur Verfügung. Recht kann aber auch dann noch im Konflikt zur Wirkung kommen, wenn die Parteien gleichgestellt sind. Hier haben

Konflikte

außerhalb hochorganisierter

Systeme

245

die Polizeidelegationen eine wichtige Orientierungs- und Schlichtungsfunktion. Während sich also für die Konflikte in hochorganisierten Systemen die konkreten Inhalte des Privatrechts und die derzeitige Gerichtsorganisation als weitgehend irrelevant erwiesen haben, da die Konfliktaustragung anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, sind Rechtsinhalte und Rechtsverfahren von entscheidendem Einfluß auf Streitform und -ergebnis außerhalb hochorganisierter Systeme.

ANHANG I Fragebogen in deutscher Übersetzung* Es handelt sich um den im Bundesstaat Nayarit verwendeten Fragebogen. Gegenüber Mexiko-Stadt sind hier einige wenige Fragen hinzugekommen. Die Fragen 49 bis 60 dienten primär einer anderen (familiensoziologischen) Untersuchung.

*

Die Original-Fragebögen (Spanisch) können vom Verfasser angefordert werden.

17

Gessner, Konflikt

Anhang I

248

Projekt

Nayarit

Rechtssoziologie Name des Interviewers

Fragebogen 1 Nr. des Fragebogens

2 3 4 Ohne Frage verkoden!

Nr. des Interviewers 0

der Befragte ist männlich

1 der Befragte ist w e i b l i c h 5 1. Wie alt sind Sie?

k. A . 2 0 - 2 4 Jahre 2 5 - 2 9 Jahre 3 0 - 3 9 Jahre 4 0 - 4 9 Jahre 5 0 - 5 9 Jahre 6 0 - 6 9 Jahre

2. Welchen Zivilstand haben Sie?

0

k. A.

1

led ig

2

standesamtlich getraut

3

kirchlich getraut

4 standesamtlich und kirchlich getraut 5

im Konkubinat lebend

6

verwitwet

7

getrennt

8

geschieden

0 1

k. A . nein

3. Ledige: Haben Sie früher einmal im Konkubinat gelebt?

249

Anhang I 2 ja, in einer Ehe 3 ja, im Konkubinat

alle anderen: Haben Sie früher mit einem anderen Mann (einer anderen Frau) zusammengelebt? wenn ja: In einer Ehe oder im Konkubinat? 80

0 k. A.

4. Männer: Was ist Ihr Hauptberuf?

1 akademische und technische Berufe aller A r t

Verheiratete oder im Konkubinat lebende Frauen: Was ist der Hauptberuf Ihres Mannes?

2

Leitungspersonal, außer in Land-, Viehzucht-, Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei

3 Büroangestellte jeder A r t Witwen, getrennt lebende Frauen, geschiedene Frauen: Was war der Hauptberuf Ihres Mannes?

4 Verkäufer jeder A r t

Ledige Frauen, die arbeiten: Was ist Ihr Hauptberuf?

6 Hilfs- und Facharbeiter, Handwerker in der Rohstoffgewinnung

5 Beschäftigte in Landwirtschaft, Viehzucht etc., einschließl. Leitungspersonal

7 Hilfs- und Facharbeiter, Handwerker in der weiterverarbeitenden Industrie und im Dienstleistungsgewerbe 8 Gegen Lohn Beschäftigte im Haus halt oder in Institutionen und Un ternehmen, die rekreative oder so ziale Dienste anbieten 9 8 5. Männer, ledige Frauen: Sind Sie gegenwärtig fest angestellt? verheiratete oder im Konkubi-

Kaufleute

X andere (notieren!) 0 k. A. 1 ohne Arbeit 2 Arbeit ohne feste Anstellung 3 nein, pensioniert

250

Anhang I

nat lebende Frauen: Ist Ihr Mann gegenwärtig fest angestellt?

4

nein, andere Unterstützung

5 ja, feste Anstellung 6 weiß nicht

Witwen, getrennt lebende Frauen, geschiedene Frauen: War Ihr Mann fest angestellt? 9 6. Verheiratete, getrennt lebende. geschiedene, verwitwete Frauen: Was ist Ihr Hauptberuf?

0

k. A.

1 akademische und technische Berufe aller A r t 2

Leitungspersonal, außer in Land-, Viehzucht-, Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei

3 Büroangestellte jeder A r t 4 Verkäufer jeder Art 5 Beschäftigte in Landwirtschaft, Viehzucht, etc., einschl. Leitungspersonal 6 Hilfs- und Facharbeiter, Handwerker in der Rohstoffgewinnung 7 Hilfs- und Facharbeiter, Handwerker in der weiterverarbeitenden Industrie und im Dienstleistung sgewerbe 8 gegen Lohn Beschäftigte im Haushalt oder in Institutionen und Un ternehmen, die rekreative oder soziale Dienste anbieten 9

Kaufleute

X

Hausfrauen

y nicht betreffend 10 7. Wenn der Befragte arbeitet: Haben Sie nebenher noch eine

0 k. A. 1 ja, eine andere Arbeit

Anhang I

251

2 ja, zwei andere Arbeiten

andere Arbeit oder bezahlte Beschäftigung?

3 ja, drei oder mehr andere Arbeiten 4 nein, keine andere Arbeit 5 nicht betreffend 11

8. Wenn der Befragte arbeitet: Könnten Sie die Art oder die Größe des Unternehmens beschreiben, wo Sie hauptsächlich arbeiten?

0

k. A.

1 staatliche Verwaltung 2 arbeitet auf eigene Rechnung 3

Unternehmen mit: 1 - 5 Arbeitern oder Angestellten

4 6—10 Arbeitern oder Angestellten 5 11 — 2 0 Arbeitern oder Angestel Iten 6 21—50 Arbeitern oder Angestellten 7 51—100 Arbeitern oder Angestellten 8 1 0 1 - 2 0 0 Arbeitern oder Angestellten 9 200 u. mehr Arbeiter oder Angestellten y andere Art von Arbeit (notieren!) x nicht betreffend 12 9. Die Mexikaner haben es in ihrer Geschichte immer verstanden, ihre Rechte gegenüber anderen zu verteidigen. Diese Tradition zeigt sich darin, daß der Mexikaner auch in seinem Privatleben nicht alles Unrecht hinnimmt, das ihm andere zufügen. Sicherlich wären auch Sie nicht einverstanden, wenn: andere Ihr Grundstück in Besitz nehmen,

0

k. A.

1 keine Schwierigkeiten mit anderen

Anhang I

252 die Fenster Ihres Hauses zer-

(insistieren und die folgenden Bei

schlagen,

spiele lesen!) ->• 2 6

Ihnen den L o h n nicht bezahlen, Ihnen geliehenes Geld nicht zurückgeben.

2

Sicherlich erinnern Sie sich, sol-

Schwierigkeiten im Arbeitsverhält nis

che oder ähnliche Schwierigkei-

3

ten m i t anderen Leuten gehabt

Schwierigkeiten m i t Familienange hörigen

zu haben. K ö n n t e n Sie uns einige davon aus der letzten Zeit angeben?

4

Schadensersatz

5

Grundstückprobleme

6

Mietprobleme

7

Nichtzahlung einer Schuld

8

andere (notieren!)

0

k. A .

13 10.1m Staat Nayarit gehen jedes Jahr Tausende von Personen z u m G e r i c h t , w e n n sie m i t anderen Streitigkeiten haben, z.B. wegen Geldschulden, Schadenersatz, in G r u n d s t ü c k s k o n f l i k t e n oder aus anderen Gründen.

1

k e n n t keine Gerichte -> 19

2

nein, n i c h t geklagt

3

ja, eine Klage

4

ja, zwei Klagen

5 ja, drei Klagen

Haben Sie schon einmal jemanden vor Gericht verklagt?

6

ja, vier Klagen

7

ja, f ü n f oder mehr Klagen

8

nicht b e t r e f f e n d

14 11 .War das in den letzten f ü n f Jahren?

18

0 k. A . 1 ja, 1 Fall 2

ja, 2 Fälle

3

ja, 3 Fälle

4 ja, 4 Fälle 5 ja, 5 und mehr Fälle 6

nein, keiner -»• 18

Anhang I

253

7 weiß nicht 8 nicht betreffend 15 12.Erinnern Sie sich noch an die Art der Streitfälle aus den letzten fünf Jahren?

0 k. A. 1 nicht betreffend 2 Arbeit 3 Familie

falls mehr als ein Fall genannt. Kode hier notieren: 2. Fall: 3. Fall: 4. Fall: 5. Fäll:

4 Schadensersatz 5 Grundstück 6 Miete 7 Geldschuld 8 andere (notieren!) 16 0 k. A.

13.Hatten Sie in diesen Fällen einen Rechtsanwalt beauftragt?

1 ja, einmal 2 ja, zweimal 3 ja, dreimal 4 ja, viermal 5 ja, fünfmal und öfter 6 nein 7 weiß nicht 8 nicht betreffend 19

14.Haben Sie im allgemeinen vor der Klage, sei es ohne Vermittler, sei es mit Hilfe einer anderen Person, versucht, zu einem Vergleich mit dem Gegner zu kommen?

0 k. A. und nicht betreffend 1 nein 2 ja, Vergleichsversuch ohne Vermittler 3 ja, mit Hilfe eines Familienmitglieds 4 ja, mit Hilfe eines Nachbarn oder Arbeitskollegen

Anhang I

254

5 ja, mit Hilfe eines Freundes 6 ja, mit Hilfe eines Lehrers, Priesters oder Bürgermeisters 7 ja, mit Hilfe eines Polizeibeamten oder der Polizeidelegation 8 ja, mit Hilfe der Gewerkschaft 9 ja, andere (notieren!) 20 0 k. A.

15.ln welcher Beziehung standen Sie mit der anderen Seite, bevor der Streit begann?

1 nicht betreffend 2 ich kannte ihn nicht 3 ich kannte ihn wenig

falls mehr als ein Fall genannt. Kode der Beziehung hier notieren: 2. Fall: 3. Fall: 4. Fall: 5. Fall:

4 ich kannte ihn gut 5 Freund 6 Familienmitglied 7 Ehegatte (-in) 8 eheähnliche Beziehung 9 andere Beziehung (notieren!) 21

16.Wenn Sie bei Gericht eine Klage eingereicht haben, geschah dies vor allem. — weil Sie das für den sichersten Weg hielten, Ihren Anspruch zu verwirklichen? — um die andere Seite unter Druck zu setzen? — oder taten Sie es, weil Sie sich über die andere Seite geärgert hatten und ihr jetzt Schaden zufügen wollten? 24 17.Wie endete der Streit (die Streitigkeiten), den Sie vor Gericht

0 k. A. 1 nicht betreffend 2 sicherster Weg 3 um die andere Seite unter Druck zu setzen 4 weil verärgert 5 weil verärgert und Schädigung beabsichtigt

255

Anhang I 0 k. A.

gebracht haben?

1 nicht betreffend

falls mehr als ein Fall genannt. Kode hier notieren: 2. Fall: 3. Fall: 4. Fall: 5. Fall:

2 die andere Seite erfüllte den Anspruch vor dem Urteil 3 Vergleich vor dem Urteil 4

Klagerücknahme

5 die andere Seite erfüllte den Anspruch nach einem Urteil 6 Zwa ngsvo I Istreck u ng 7 abweisendes Urteil 8 der Prozeß ist noch nicht beendet 9 andere (notieren!) 25 0 k. A. 1 ja, einmal

18. Sind Sie schon einmal verklagt worden?

2 ja, zweimal

Nur Zivilklagen!

3 ja, dreimal 4 ja, viermal 5 ja, fünfmal und öfter 6 nein, niemals 7 nicht betreffend 28

19. Falls Frage 9 beantwortet worden ist: Könnten Sie etwas über einen Streit sagen, mit dem Sie nicht zu Gericht gegangen sind? (wenn der Befragte mehrere Streitigkeiten nennt, nur die für ihn wichtigste verkoden)

0

k. A.

1 nicht betreffend 2 Streitigkeiten im Arbeitsverhältnis 3 Streitigkeiten mit Familienangehörigen 4 Schadensersatz 5 Streitigkeiten um Grundstücke 6 Miet Streitigkeiten 7 Geldschuld

256

Anhang I

8 andere (notieren!) 9 keinen ->-26 29 0 k. A.

20. In welcher Beziehung standen Sie mit der anderen Seite, bevor der Streit begann?

1 nicht betreffend 2 ich kannte ihn nicht 3 ich kannte ihn wenig 4 ich kannte ihn gut 5

Freund(in)

6

Familienmitglied

7 Ehegatte (in) 8 eheähnliche Beziehung 9 andere Beziehung (notieren!) 30 21. Haben Sie während des Streites jemanden um Rat gefragt?

0 k. A. 1 nein 2 nein, ich regele so etwas lieber selbst 3 ja, Familienmitglied 4 ja, Nachbar oder Arbeitskollege 5 ja, Freund 6 ja, Lehrer, Priester, Bürgermeister 7 ja, Polizeibeamter, Delegation 8 ja, Gewerkschaft 9 ja, Rechtsanwalt x ja, andere Person (notieren!) 31

22. Sind Sie nicht zusammen mit der anderen Streitpartei zu einer Organisation oder zu einer Person gegangen, um sich dort zu einigen?

nicht vorlesen! 0 k. A. und nicht betreffend 1 nein 2 nein, ich regele so etwas lieber selbst, ohne Vermittler

Anhang I 3 ja, gemeinsamer Freund 4 ja, Lehrer, Priester, Bürgermeister 5 ja, Polizeibeamter, Delegation 6 ja, Rechtsanwalt oder Amt für Rechtshilfe 7 ja, Gewerkschaft 8 ja, Amt für Rechtshilfe in Arbeitssachen 9 ja, andere Personen oder Organisationen (notieren!) 32 0 k. A.

23. Wie ist der Streit ausgegangen?

1 nicht betreffend

wenn noch nicht beendet Wann hat der Streit begonnen?

2 die andere Seite hat die Forderung erfüllt 3 Verzicht auf die Forderung 4 vergleichsweise Regelung 5 nicht beendet, er begann vor drei Monaten 6 3 Monate - 1 Jahr 7 1 Jahr — 2 Jahre 8 2 Jahre — 3 Jahre 9 3 Jahre und mehr X

andere Antworten (notieren!)

33 24. Warum sind Sie in diesem Fall nicht zum Gericht gegangen?

nicht vorlesen! 0 k. A. 1 nicht betreffend 2 weiß nicht 3 Verlust an Zeit 4 Verlust an Geld 5 kein Vertrauen in die Unparteilich keit der Gerichte

258

Anhang I 6 kein Vertrauen in die Effektivität der Gerichte 7 nicht beabsichtigt, der anderen Seite zu schaden 8 zufrieden mit dem, was er hat; möchte anderen nichts wegnehmen 9 kennt keine Gerichte x nicht wichtig genug y andere Gründe (notieren!) 34

25. Würden Sie zum Gericht gehen, wenn es sich um viel Geld handelte und wenn keine andere Regelungsform vorhanden wäre?

0

k. A.

1 nicht betreffend 2 nein 3 ja, in diesem Fall schon 4 weiß nicht 5 andere Antwort (notieren!)

35 vorlesen!

26. In anderen Ländern gibt es verschiedene Möglichkeiten der Schichtung durch unparteiische Organisationen. Wissen Sie, welche der folgenden Organisationen auch in Mexiko bestehen?

0 k. A. 1 Schiedsgerichte 2 Amt für Rechtshilfe in Arbeitssachen 3

Kommissionen für Ehre und Gerechtigkeit der Gewerkschaften

4 Technischer Rat der Sozialversicherung 5 Beauftragter der Staatsanwaltschaft in der Polizeidelegation 6 Amt für zivile Rechtshilfe 7

Hilfsrichter

8

Handelskammer

wenn keine bekannt -»• 28 36

259

Anhang I nach dem Interview verkoden!

0

keine bekannt

1 eine bekannt 2 zwei bekannt 3 drei bekannt 4 vier bekannt 5 fünf bekannt 6 sechs bekannt 7 sieben bekannt 8 acht bekannt 37 0

27. Wären Sie im Falle eines Konfliktes bereit, zu einer dieser Organisationen zu gehen, um eine Regelung mit den anderen Partei zu erreichen?

k. A.

1 ia 2 ja, vielleicht 3 nein 4

Wenn nein Warum nicht?

nein, kein Vertrauen in die Unparteilichkeit

5 nein, kein ausreichender Druck auf die andere Seite 6 nein, kostet Geld 7 nein, kostet Zeit 8 andere A n t w o r t e n (notieren!) 38 0

28. Könnten Sie nun die folgenden etwas allgemeineren Fragen beantworten?

k. A.

1 gleiche Behandlung

Sind Sie der Ansicht, daß vor Gericht jedermann gleichbehandelt wird, oder meinen Sie, daß man nur mit Geld und Beziehungen einen Prozeß gewinnen kann? 39

2

nur mit Geld und Beziehungen

3 kennt keine Gerichte

Anhang I

260

29. Meinen Sie, daß die mexikanischen Gesetze Reiche und Arme in gleicher Weise schützen?

nicht vorlesen! 0

k. A.

1 nein, sie sind nur für die Reichen da 2

nein, sie sind nur für die Armen da

3 ja, gleicher Schutz 4 ja., gleicher Schutz; es ist die Anwendung des Gesetzes, die mangelhaft ist 5 kennt keine Gesetze 40 30. Können Sie ein Gesetz nennen, das die armen Leute schützt?

nicht vorlesen! 0

k. A.

1 gibt es nicht 2

Arbeitsgesetz

3

Sozialversicherungsgesetz

4 andere Gesetze (notieren!) x kennt kein Gesetz 41 31. Nehmen wir an, der Sohn Ihres Nachbarn zerschlägt versehentlich Ihre Fensterscheiben und Sie fordern dafür Schadensersatz. a) Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn andere Nachbarn von der Angelegenheit erführen? 42 b) Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn unbekannte Personen von der Angelegenheit erführen?

0

k. A.

1 ja, es würde mir etwas ausmachen; das ist eine Angelegenheit zwischen mir und meinem Nachbarn 2

nein, es würde mir nichts ausmachen

0

k. A.

1 ja, es würde mir etwas ausmachen; das ist eine Angelegenheit zwischen Nachbarn

261

Anhang I 2 nein, es würde mir nichts ausmachen 43 32. Was halten Sie davon, wenn zwei Brüder wegen einer Erbschaft zu Gericht gehen? Sollte eine solche Angelegenheit besser in der Familie geregelt werden, oder sind Sie mit dem Verhalten der Brüder einverstanden?

0

k. A.

1

einverstanden

2 besser in der Familie 3 hängt ab vom Wert der Erbschaft 4 hängt vom Fall ab

46 33. Eine Frau, die ihren Mann bei einem Verkehrsunfall verloren hat, verklagt die Autobuslinie, der der Wagen gehörte, auf Schadensersatz. Andere Leute erfahren von dieser Klage. Sind Sie mit dem Verhalten der Frau einverstanden, oder glauben Sie, daß es besser gewesen wäre, nicht zum Gericht zu gehen?

0

k. A.

1 die Frau hat Recht 2 nein, besser nicht, weil es nichts nützt 3 nein, besser nicht, weil viele Leute von dem Fall erfahren 4 nein, besser nicht, weil (notieren!)

45 34. Nehmen wir an, daß jemand, der Geld hat, sich weigert, Ihnen eine Schuld zurückzuzahlen. Was hielten Sie davon, wenn sich eine Zeitung der Sache annähme?

0

k. A.

1

nützlich

2 schlecht 3 nützlich und schlecht 4 mir gleichgültig

46 35. Drei Freunde sprechen über ihre Probleme. Der erste sagt: Wenn mir jemand Schwierigkeikeiten macht, streite ich mit

0

k. A.

1 mit dem ersten 2 mit dem zweiten 3 mit dem dritten

262

Anhang I

ihm, ohne daß ich andere Personen dazu brauche. Der zweite sagt:

Wenn mir jemand Schwierigkeiten macht, streite ich nicht, da ich noch mehr Probleme vermeiden möchte. Der dritte sagt:

Wenn mir jemand Schwierigkeiten macht, habe ich keine Lust mich zu ärgern, und suche die Hilfe einer anderen Person. Mit welchem der drei Freunde sind Sie am ehesten einverstanden?

17

36. Nehmen wir an, in einem Autobus möchte der Schaffner Ihren Sitzplatz einer anderen Person geben. Würden Sie es ablehnen, Ihren Platz freizumachen und stehend weiterzufahren, oder sind Sie der Meinung, man müsse in solchen Fällen nachgeben? 18

0 k. A.

37. Einer sagt:

0 k. A.

Wenn mit jemand eine Schuld nicht bezahlt, setze ich alle Mittel ein, um ihn zur Zahlung zu bewegen. Ein anderer sagt:

Wenn jemand sich weigert, mir eine Schuld zu bezahlen, möchte ich nicht nur mein Geld zu-

1 ablehnen 2 nachgeben

1 mit dem ersten 2 mit dem zweiten

263

Anhang I rückhaben, sondern außerdem erreichen, daß er bestraft wird, denn es handelt sich um ein Delikt. Mit welchem dieser beiden sind Sie am ehesten einverstanden? 22 38. Welcher Ratschlag scheint Ihnen für Ihre Kinder der nützlichere zu sein:

0

k. A.

1 Freundschaften 2

Kenntnisse

a) Man muß im Leben soviel wie möglich lernen, um mehr zu wissen als die anderen. b) Man muß im Leben überall viele Freunde haben, denn Beziehungen sind wichtig, wenn man vorwärtskommen will. 47 39. Wenn Sie Sorgen mit Ihren Kindern hätten, mit welchen der folgenden Personen würden Sie sie besprechen? verheiratete Frauen, die nicht arbeiten: ( ) Familienmitglieder ( ) ein Taxichauffeur ( ) Nachbarn ( ) der Geschäftsmann, bei dem Sie Ihre täglichen Einkäufe machen ( ) Freundinnen ( ) Personen, die Sie beim Arzt im Wartezimmer treffen ( ) die Angestellten einer Behörde, wo Sie etwas zu erledigen haben 48 18

Gessner, Konflikt

Summe der Personen 0

keine

1 1 2 2 3 3 4 4 5 5 6 6 7 7 y

k. A. und nicht betreffend

264

Anhang I

Frauen, die arbeiten: ( ) Familienmitglieder ( ) ein Taxichauffeur ( ) Nachbarn ( ) der Geschäftsmann, bei dem Sie Ihre täglichen Einkäufe machen ( ) Freundinnen ( ) Personen, die Sie beim Arzt im Wartezimmer treffen ( ) die Angestellten einer Behörde, wo Sie etwas zu erledigen haben ( ) Arbeitskollegen ( ) Ihr Chef ( ) Personen, mit denen Sie durch Ihre Arbeit in Kontakt kommen, z. B. Kunden 49 Männer: ( ) Familienmitglieder ( ) Nachbarn ( ) ein Taxichauffeur ( ) Ihr Chef ( ) Unbekannte, die Sie in einer Bar oder in einem Re( ) ( ) ( )

( )

staurant treffen der Handwerker, der Ihnen eine Reparatur ausführt Arbeitskollegen die Angestellten einer Behörde, wo Sie etwas zu erledigen haben Personen, mit denen Sie durch Ihre Arbeit in Kontakt kommen, z. B. Kunden 50

40. Glauben Sie, daß Mexiko einmal die Fußballweltmeisterschaft ge-

Summe der Personen 0' keine 1 1 2 2 3 3 4 4 5 5 6 6 7 7 8 8 9 9 X 10 Y k. A. und nicht betreffend

Summe der Personen 0

keine

1 1 2 2 3 3 4 4 5 5 6 6 7 7 8 8 9 9 X 10 Y k. A. und nicht betreffend

0

k. A.

1 kann niemals gewinnen

265

Anhang I

Winnen kann, oder wird es immer stärkere Nationen geben, die es besiegen werden? 51

3 kann vielleicht gewinnen

41. In Mexiko geht es vielen Leuten gut, weil sie arbeiten und sparen. Glauben Sie, daß ein armer Mann auch auf diesem Weg zu einem besseren Leben kommen kann? 52

0

k. A.

1

nein

3

vielleicht

42. Einer sagt: Im Leben muß man sich mit dem zufriedengeben, was man hat.

0

k. A.

2 ja

1 dem ersten 2 dem zweiten

Ein anderer sagt: Im Leben darf man sich nie mit dem zufriedengeben, was man hat, sondern man muß immer versuchen, mehr zu erreichen. Welchem von beiden würden Sie zustimmen? 53 0

43. Einer sagt: In der Zukunft werden wir glücklicher sein.

1 der ersten 2 der zweiten

Ein anderer sagt: Früher war es besser. Welcher der beiden Meinungen würden Sie eher zustimmen? 54 Nicht ausfüllen!

0 1 2

18 *

k. A.

Anhang I

266

3 4 55 44. Lesen Sie eine Zeitung?

0 k. A . 1 ja, gelegentlich

Wenn ja Regelmäßig?

2 ja, regelmäßig 56

45. Welche der folgenden Ansichten halten Sie für richtig? a) Jedes Kind verursacht Ausgaben, wenn man es gut ernähren, kleiden und erziehen will. Wenn das Geld nicht ausreicht, sollte man daher die Kinderzahl begrenzen, denn es ist besser, wenige glückliche als viele unglückliche Kinder zu haben.

3 nein 0 k. A . 1 die erste 2 die zweite

b)Es ist eine Sünde, die Zahl der Kinder zu begrenzen. A u c h wenn man ihnen nicht viel im Leben bieten kann, muß man jedes Kind annehmen, das Gott schickt. 57 46. Einer sagt: Die Frau muß sich um das Heim und die Kinder kümmern. Meine Tochter wird daher nicht soviel zur Schule gehen müssen wie meine Söhne. Ein anderer sagt: Vielleicht wollen meine Töchter auch nach der Heirat weiterarbeiten. Ich gebe ihnen daher diesel-

0 k. A . 1 der ersten 2 der zweiten

Anhang

I

267

be Ausbildung wie meinen Söhnen. Welcher dieser Meinungen stimmen Sie zu? 58 47. Ein Taxichauffeur hat 3.000 Peso in der Lotterie gewonnen. Er veranstaltet für seine Freunde ein Fest und gibt alles aus. Was denken Sie darüber? 59 nicht ausfüllen!

0

k. A.

1 einverstanden 2 nicht einverstanden

0 1 2 3 4 60

48. Sind Sie der Ansicht, daß ein Mann viele sexuelle Beziehungen gehabt haben muß, um ein richtiger Mann zu sein? 23

0

49. Ein junger Mann liebt ein junges Mädchen. Sie fragen ihre Tanten um Rat.

0

Eine Tante sagt: Wenn man zusammenleben will, muß man sich standesamtlich und kirchlich verheiraten. Die zweite Tante sagt: Man lebt besser im Konkubinat, denn man kann sich leichter trennen, wenn man sich nicht versteht.

k. A.

1 ja 2 nein

k. A.

1 mit dem ersten 2 mit dem zweiten 3 mit dem dritten 4 mit dem zweiten und dritten 5 andere Antworten (notieren!)

268

Anhang I Die dritte Tante sagt: Eine Hochzeit kostet viel Geld, und wenn man wenig hat, ist es besser, einfach zusammenzuziehen. Mit welchem Ratschlag sind Sie einverstanden? 26

50. Haben Sie Kinder, die außerhalb einer standesamtlichen Ehe geboren sind?

0 k. A. 1 ja, 1 Kind 2 ja, 2 Kinder 3 ja, 3 Kinder

Wenn ja: Wieviele?

4 ja, 4 Kinder 5 ja, 5 Kinder 6 ja, 6--8 Kinder 7 ja, 9--11 Kinder 8 ja, 12 und mehr 61

9 nein

57

0 k. A.

51. Wer hat die elterliche Gewalt?

1 Vater

Wenn mehr als ein Kind vorhanden, Zahl der Kinder bei jeder Kategorie hinzuvermerken!

2 Mutter 3 Vater und Mutter 4 Adoptiveltern 5 Vormund 6 weiß nicht 8 Großeltern mütterlichers. 9 Großeltern väterlichers. 62

7 nicht betreffend

Anhang I

269

Kinder

52. Wer unterhält diese(s) Kind(er) in erster Linie/und wo leben sie?

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Mutter

Für jedes Kind verkoden Wo lebt es: o Wer unterhält es: x

Vater Mutter u. Vater Familie d. Mutter Familie d. Vaters andere Familie öffentl. priv.od. kirchl. Einrichtung ( )

nicht betreffend

63 53. Männer: Haben Sie lhr(e) Kinder rechtlich anerkannt?

0 k. A. 1 nicht betreffend a, alle freiwillig

Frauen: Wurde(n) das (die) Kind(er) rechtlich anerkannt? Wenn ja Männer und Frauen Wurde(n) es (sie) freiwillig oder durch Gerichtsurteil anerkannt? 64

a, einige freiwillig a, alle durch Gerichtsurteil a, einige durch Gerichtsurteil 6

nein

Anhang I

270

54. Wurde(n) das (die) Kinder adoptiert?

Zahl der Kinder

Wenn ja Durch wen?

0

Wenn mehr als ein Kind vorhanden, Zahl der Kinder bei jeder Kategorie hinzuvermerken!

2

k. A.

1 nicht betreffend nein

3 ja, vom Ehemann 4 ja, von der Ehefrau 5 ja, von Familienmitgliedern oder Compadres 6 ja, von anderen Personen 7 weiß nicht

65 55. Männer: Hatten Sie ein Gerichtsverfahren mit der Mutter wegen des (der) Kindes (er)?

Zahl d. Kinder nicht vorlesen! 0

k. A. und nicht betreffend a, Unterhalt

Wenn ja Welche A r t von Verfahren?

a, Vaterschaftsfeststellung a, Anerkennung a, Adoption

Bei mehreren Fällen Anzahl notieren!

a, andere Gründe (notieren!) nein -» 59

66 Frauen: Sind Sie wegen Ihres (Ihrer) Kindes (Kinder) schon einmal zu Gericht gegangen? a) um Unterhalt zu bekommen? b) um die rechtliche Anerkennung durch den Vater zu erreichen? c) um den Vaterschaftsnachweis zu führen?

Zahl d. Fälle nicht vorlesen! 0

k. A. und nicht betreffend

1 ja, Unterhalt 2 ja, Vaterschaftsna ch w. 3 ja, Anerkennung 4 ja, Adoption 5 ja, andere Gründe (notieren!) 6 nein, erhält ausreichend Unterhalt

271

Anhang I d) aus anderen Gründen?

7

nein, A u f e n t h a l t des Vaters nicht bekannt

Wenn nein

8

Warum nicht?

nein, kein Vertrauen in die Gerichte

9

Bei mehreren Fällen Anzahl no-

nein, kann für den Unterhalt des Kindes selbst

tieren!

a u f k o m m e n und w i l l kein Geld vom Vater x

nein, andere Gründe (notieren!)

66 56 Frauen

0

Sind Sie wegen eines Streites u m lhr(e) uneheliches (en) Kind (er) schon einmal zu einem Priester, einem Rechtsanwalt, einer Sozialarbeiterin oder einer anderen Person gegangen?

k. A .

1 nicht betreffend 2

Priester

3

Rechtsanwalt

4

Sozialarbeiterin

5 andere (notieren!) 6

nein

0

k. A .

4

nein

67 57 Befragte ohne uneheliche Kinder: Nehmen wir an, ein Mann hat

1 rechtswirksam anerkennen, Nach-

ein uneheliches Kind mit einer

namen, Geld und Erbrecht geben

Frau, die er nicht gut kennt. Meinen Sie, der Vater muß et-

7 anerkennen und Nachnamen ge-

was für das Kind tun?

ben, aber nicht Geld und Erbrecht

Wenn ja

2 regelmäßig Geld geben

Was?

3 gelegentlich etwas geben, z. B. Geschenke 5 anderes Verhalten (notieren!) 6 andere A n t w o r t e n (notieren!) X

68

nicht betreffend

Anhang I

272

58. Nehmen wir nun an, ein Mann hat 5 Jahre mit einer Frau zusammengelebt, von der er mehrere Kinder hat. Um zu einer anderen zu ziehen, verläßt er sie und gründet eine neue Familie. Meinen Sie, daß der Vater etwas für seine ersten Kinder tun sollte?

0 k. A. 1 nein, er muß sich seiner neuen Familie widmen 2 gelegentlich etwas geben 3 regelmäßig Geld geben 4 Kinder rechtswirksam anerkennen, Nachnamen, Geld und Erbrecht geben 7 anerkennen und Nachnamen geben, aber nicht Geld und Erbrecht

Wenn ja: Was?

5 anderes Verhalten (notieren!) 6 andere Antworten (notieren!) x nicht betreffend 69 59. Ein Mann verläßt seine Familie, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Sind Sie damit einverstanden?

1 ja, einverstanden 2 nein, keinesfalls einverstanden 3 nein, aber einverstanden, wenn keine Kinder

Wenn nein (oder „das kommt darauf an"):

4 nein, aber einverstanden, wenn Kinder über 10 Jahre alt

a) Was meinen Sie, wenn keine Kinder da sind? b) Was meinen Sie, wenn die Kinder schon älter als 10 Jahre alt sind?

0 k. A.

5 nein, aber einverstanden, sowohl wenn ohne Kinder als auch wenn Kinder über 10 Jahre alt

27

60. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Ihre Tochter sich mit einem jungen Mann verheiratete, der unehelich geboren ist?

0 k. A.

61. Mit welchen Familienangehörigen leben Sie zusammen?

0 k. A.

1 ja 2 nein

1

Anhang I 2

( ) keinem ( ) seinem Ehegatten (Konkubine) ( ) seiner Ehegattin (Konkubine) ( ) seinem Vater ( ) seiner Mutter ( ) seinem Großvater ( ) seiner Großmutter ( ) Tante ( ) Onkel ( ) Vettern ( ) Kusinen ( ) Brüder ( ) Schwestern ( ) seinen Söhnen ( ) seinen Töchtern ( ) Schwager ( ) Schwägerin ( ) Schwiegervater ( ) Schwiegermutter ( ) Schwiegersohn ( ) Schwiegertochter ( ) Neffe ( ) Nichte ( ) Enkel ( ) Enkelin

3 4 5 6 7 8 9 X Y nicht verkoden! in den Klammern Anzahl jedes Verwandten eintragen

70 62. Haben Sie gegenwärtig zu Hause: ( ( ( ( ( ( ( (

) ) ) ) ) ) ) )

273

0 k. A. 1 1

Leitungswasser Licht, Strom Gasherd Radio Fernsehen Kühlschrank Auto Telefon

2 2 3 3 4 4 5 5 6 6 7 7 8 8

Summe verkoden 71

9 nichts davon

Anhang I

274

63. Wie hoch ist Ihr monatliches Einkommen?

0

k. A .

1 bis 300

Wie hoch ist das monatliche Eink o m m e n Ihres Ehegatten (in)? Wie hoch ist das monatliche Eink o m m e n anderer Personen, mit denen Sie zusammenleben? E i n k o m m e n Befragter:

S

E i n k o m m e n Ehegatte (in):

2

301 bis 500

3

501 bis 7 5 0

4

751 bis 1000

5

1001 bis 2000

6

2001 bis 3 0 0 0

7 3001 bis 5000 8

5001 bis 8 0 0 0

9

über 8000

0

k. A .

1

1 Person

2

2 Personen

3

3 Personen

4

4 Personen

$ E i n k o m m e n anderer Pers.:

$ Total

$

Wenn der Befragte allein lebt, sein E i n k o m m e n verkoden. Wenn er verheiratet ist ( K o n k u b i nat) und w e n n andere Personen zu Hause E i n k o m m e n haben, die Summe der E i n k o m m e n verkoden. 72 64. Wieviele Personen leben von diesen Einkommen, Sie selbst eingeschlossen?

5 5 Personen 6 6 Personen 7

7 Personen

8

8 Personen

9

9 Personen

275

Anhang I X 10 und mehr 73 65. Haben Sie Eigentum, etwa ein Haus, ein Grundstück Aktien?

V weiß nicht

0 k. A. 1 1 Haus 2 2 Häuser 3 3 und mehr Häuser 4 Grundvermögen 5 Häuser und Grundvermögen 6 Aktien 7

Häuser und Aktien

8 Aktien und Grundvermögen 9

Häuser, Aktien und Grundvermögen

X nichts davon

74 66. (Haben Sie die Volksschule besucht? ) Welchen Schulabschluß haben Sie?

Y anderes Eigentum mit hohem Wert (notieren!)

0 k. A. 1 war nicht in der Schule 2 Volksschule vorzeitig beendet

|>67

3 Volksschule beendet 4 Oberschule vorzeitig beendet 5 Oberschule beendet 6

Fachschule

7 Studium vorzeitig beendet 8 Studium beendet 9 andere Ausbildung (notieren) X weiß nicht

75

>68

Anhang I

276 67. Können Sie lesen und/oder schreiben?

0

k. A.

1 nein 2 lesen und schreiben

Nur fragen, wenn der Befragte ohne Volksschulabschluß

3

lesen

4 etwas lesen 5 ein bißchen 6 nicht betreffend 76 68. Nur für Tepic: Wieviel Jahre leben Sie schon in Tepic?

0

k. A.

1 in Tepic geboren -»• Ende 2 bis 2 Jahre 3 bis 5 Jahre 4 bis 8 Jahre 5 bis 10 Jahre 6 mehr als 10 Jahre 7 lebt nicht in Tepic 8 weiß nicht 9 nicht betreffend

77 69. Nur für Tepic: Der Ort, wo Sie die meiste Zeit gelebt haben, bevor Sie nach Tepic kamen, ist ein ländliches Gebiet, ein Dorf, eine kleine Stadt, eine mittelgroße Stadt, eine Großstadt?

0

k. A.

1 ländliches Gebiet 2 Dorf 3 kleine Stadt 4 mittlere Stadt 5 Großstadt 6 weiß nicht 7 nicht betreffend

78 Nach dem Interview verkoden: Der Befragte erscheint:

1 weiß 2 mestizisch 3 indianisch

ANHANG II Beispiele für eine Quotierung (Stichprobe von Mexiko-Stadt) und die Quotenanweisung eines Interviewers.

278

Anhang II

Total Numero del entrevistador: ocupación edad\.

2

1 2 3 4 5 S 1 2 3 4 5 S 1 2 3 4 5 2 1 2 3 4 5 trabaja por su obreros empleados patrones cuenta

20-29

a) 20 b) 10 c) 10

11 1 5

a) 13 b) 7 c) 5

1

30-39

40-49

a) b) c) a) b)

50-69

c)

1, 2, 3, 4, 5

3 4 4 6 6 6 12 1 2 2 1 1 2 11 6 2 3 3 3 3 4 9 1

4 4 4 9 3 2 1 1 5 1 2 2 5

1

7 3 3

2 2 2 1 6 3 3 3 3

2 3 1 2

6 3 4

2 1 2 3 4

1 6 3 2

3 3 2 1 1 2 11 1 2 2 1 1 2 1

2 1 1 2 1 3 1 1 1

1

4 2 2

1 2 1 1 1 1 1

1 6 3 2

1 2 1 2 1 1 1 1 1

4 1 2 2

1 1 1 1 1 1 1 1

5 3 1 1

1 2

Número de entrevistados con ingreso menos de 600 $ mensuales: 20 a) Hombres : b) Mujeres, que no trabajan (casadas o en unión libre; los datos indicados se refieren al esposo) c) Mujeres, que trabajan (casadas o no casadas)

100 51

49

200

1

11 1 1 1

Anhang II Numero del entrevistador:

279

5

ocupación edad^X^

20-29

30-39

40-49

obreros

empleados

patrones

trabaja por su cuenta

a)

6

4

1

b)

1

1

1

c)

4

3

a)

4

2

b)

1

1

c)

2

2

a)

1

2

b)

1

21

2 15

1 1

1

6

c) a) 50-69

1

1

2

b)

1

6

8

48

1

c) 20

17

3

Número de entrevistados con ingreso menos de 600 $ mensuales: 5 (no más que una muchacha) a) Hombres b) mujeres, que no trabajan:

28 8

(casadas o en unión libre; los datos indicados se refieren al esposo) c) mujeres, que trabajan

12

(casadas o no casadas) 48

19

Gessner, Konflikt

ANHANG III Leitfaden der Befragung von Wirtschaftsunternehmen

Anhang

III

281

Firmenfragebogen 1. Das Geschäftsleben bringt üblicherweise eine Reihe von Problemen mit Lieferanten, Kunden, den eigenen Arbeitnehmern usw. mit sich. Um diese Probleme aus der Welt zu schaffen, reichen Sie häufig

(cont. Fr. 3)

selten

(cont. Fr. 2)

niemals

(cont. Fr. 2, dann Fr. 7)

eine Klage bei den Gerichten ein? 2. Was sind die Gründe, daß Sie so selten (niemals) bei Gericht klagen? lange Prozeßdauer K o r r u p t i o n der Richter hohe Prozeßkosten

3. Wenn Sie sich an die Fälle erinnern, in denen Sie vor Gericht Ihre Forderungen geltend gemacht haben, um was für Fälle handelte es sich dabei? 4. Welche Gründe waren für Sie bestimmend, in diesen Fällen Ihren A n w a l t zu beauftragen, Klage einzureichen? 5. Sind Sie eher (1) oder weniger leicht (2) geneigt, Klage einzureichen, a) wenn Ihre Forderung an den Gegner besonders hoch ist? b) wenn Ihr A n w a l t Ihnen versichert, daß der Prozeß nur wenige Monate dauert? c) wenn Sie bisher mit dem Gegner immer in einem freundlichen Verhältnis oder in guter Geschäftsverbindung gestanden haben? d) wenn Sie wissen, daß der Gegner einflußreich ist? e) wenn Sie wissen, daß Sie ganz sicher im Recht sind? 6. Wenn Sie vor Gericht klagen, wollen Sie damit eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen (1) oder den Gegner dazu bewegen, einen Vergleich abzuschließen (2)? 7. Beauftragen Sie, wenn Probleme auftauchen, sofort einen Rechtsanwalt, oder versuchen Sie erst, sich mit dem Gegner zu einigen? 8. Erwarten Sie von Ihrem Rechtsanwalt, daß er sich auf die rechtlich möglichen Wege beschränkt, oder wollen Sie, daß er darüber hinaus Ihre Interessen in jedem Fall durchsetzt?

19

282

Anhang III

9. Wenn Sie oder Ihr Rechtsanwalt mit dem Gegner unmittelbar zu keiner Einigung gelangen, aber auch bei Gericht keine Klage einreichen wollen, sehen Sie noch andere Möglichkeiten, den Streit zu beenden? 10. Versuchen Sie gelegentlich, unparteiische Dritte (Personen oder Organisationen) bei der Beendigung eines Streites zu Hilfe zu nehmen? Wenn ja, welche? 11. Ich habe in diesem Land schon einige Organisationen kennengelernt, die sich bemühen, Streitigkeiten zu schlichten. Haben Sie eine der folgenden Einrichtungen schon einmal gebeten, in einem Streit zu intervenieren? Cämara de Comercio Consejo Nacional de Seguro Consejo Tecnico del Seguro Social Inspectores del Trabajo Corredores Mercantiles Arbitros 12. Es könnte sein, daß es in Mexiko praktisch ist, bei verschiedenen T y p e n von Konflikten unterschiedliche Wege zu gehen. Könnten Sie sagen, ob Sie bei folgenden Streitigkeiten den Streit lieber direkt mit dem Gegner austragen (1), lieber einen unparteiischen Dritten hinzuziehen (2) oder lieber eine Klage bei Gericht einreichen (3) : Nichtbezahlung gelieferter Waren Schadensersatz Streit mit einer Versicherung Streitigkeiten bezüglich eines Grundstücks Streitigkeiten mit den Arbeitnehmern Streitigkeiten um mangelhafte Warenlieferungen Streitigkeiten zwischen den Gesellschaftern der Firma Streitigkeiten um Patente und Warenzeichen 13. Sie sagten bereits, daß Sie einen Gegner, mit dem Sie ein freundschaftliches Verhältnis oder eine gute Geschäftsverbindung hatten, ungern bei Gericht verklagen. Was tun Sie in einem solchen Streit? Setzen Sie sich mit dem Gegner persönlich auseinander, oder bitten Sie eine unparteiische Person oder Organisation um Vermittlung? 14. Es ist offenbar hier, wie in anderen Ländern, schwierig, zu seinem Recht zu kommen. Wie schützt sich Ihr Betrieb bei dieser Sachlage vor Schaden? (Auswahl des Geschäftspartners, Absicherung von Forderungen, Anwälte bei

Anhang III

283

allen Vertragsabschlüssen, Suche nach Aufrechnungsmöglichkeiten und Möglichkeiten wirtschaftlichen Drucks, Einstellung von Cobradores, gute Kontakte zur Gewerkschaft, Zeichnung von Anspruchsverzichten durch Arbeitnehmer) 15. Z u m Abschluß bitte noch ein paar Angaben zu Ihrer Firma a) Geschäftszweig b) Organisationsform c) bei S. A . : Grundkapital d) Zahl der Angestellten e) Umsatz

20

Gessner, Konflikt

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Sachverzeichnis Aktivismus - Fatalismus 167 f. Apeasement 226 Arbeitskonflikte 81 ff., 110, 112 ff., 131 ff., 138 ff., 147ff., 154 f., 221 ff. Deduktion - Induktion 161 f. Ejido 24, 134, 211, 215 ff. Erwartungen 5, 170 ff. Erwartungsenttäuschungen 170 Familienkonflikte 36, 58 f., 61 ff., 123 ff., 128, 135, 136 f., 147 f., 155, 202 ff., 216, 219 Geldsdiuldkonflikte 36, 58 f., 61 ff., 70 ff., 76 ff., 124 f., 128, 141 ff., 147 f., 155, 243 Generalisierung von Konflikten 175, 176, 202 Gerechtigkeit 184 ff. Gerichte 54 ff., 150 ff., 162 f., 237 f. - Aufbau der Gerichtsbarkeit 54 f., 57 f., 237 Gerichtsakten 40, 56 Gewalt 181, 182, 203, 209, 218, 220, 239 ff. Gewerkschaften 25, 89, 118, 119, 120ff., 222 ff., 228 Grundbesitzkonflikte 36,58 f.,61 ff., 76ff., 123 ff., 141 ff., 147 f., 154 f., 219 Indio-Kulturen 44 Kläger 150 ff., 169 Kompensation von Enttäuschungen 175, 203 Komplexität - von Erwartungen 172 ff. - von Interaktionsverhältnissen 173 f.

- von Konflikten 174ff., 178, 190ff., 201 Konflikt - Definition 10 - Häufigkeit 17ff. - interkultureller Vergleich 13 - pathologischer 3 f. - privatrechtlicher 10 - sozialer 1 f. - Vermeidungsstrategien 29 ff., 237 Konfliktempfindlichkeit 180 ff., 202, 214, 222, 231, 236 Konfliktgegner 5, 7, 63, 72, 77, 138 ff., 142 ff., 150, 152 f., 155 f., 206 Konfliktsoziologie 1 , 8 ff. Konfliktthema 176 Konsumbereich 236, 241 f. Korruption 64, 67, 86, 89, 98 f., 111, 129, 133, 140, 145, 146, 206, 218, 224, 225, 228, 238 Madiismo 34, 152, 196, 223, 237 Macht 181 ff. - Differenzen 181 ff., 192ff., 203f., 208, 216ff., 222ff., 231, 239ff. - systeminterne 182, 203, 218, 223, 232 f. Methoden der Datenerhebung 38 ff. - in Entwicklungsländern 37 f., 41 f. Mexiko - Agrarstruktur 23 ff. - interpersonale Beziehungen 194 ff. - politisches System 25 ff. - Sozialstruktur 14 ff., 195 ff. - Wirtschaft 18 ff. Mietkonflikte 58 f., 61 ff., 70 ff., 76 ff., 125, 128, 129 ff., 141 ff., 147 f., 239 ff. Modernität 165 f., 205 Nachbarschaftskonflikte 216, 236 ff. Nayarit 44 ff.

30 f., 135, 213,

290

Sachve rzeichnis

Organisationsgrad 180 ff., 230, 236 Patentkonflikte 103 f., 141 ff., 148 Programmierung 177 ff., 201 Rechtsanwälte 86, 89, 101 f., 153 f., 194 Rechtsbedürfnis 3 Reditsbewußtsein 189, 209 f., 221, 228, 235, 244 Rechtshilfe 111 ff., 127ff., 226 f., 238 Rechtskenntnis 36, 188, 209 f., 220, 227, 235, 244 Reziprozitätsnorm 194 Sanktionen 189, 192, 208 Schadensersatzkonflikte 36, 60, 76 ff., 95 ff., 123 ff., 128, 141 ff., 147 f., 155, 204, 214, 219 Schichtung, soziale 35, 68, 73 f., 78, 99, 138 ff., 142, 164 f., 183, 205, 206, 216 Schiedsgerichte 102, 105, 106 f. Schlichtung, außergerichtliche 101 ff., 156 f., 163, 207 f. Schlichtung, gerichtliche 73, 86, 91 Schlichtungsfilter 147 ff. Sicherheitspfändung 64, 65, 145, 242 Skalierung 49 f.

Soziale Kontrolle 5, 194 Sozialversicherungskonflikte 107 ff., 141 ff., 148, 242 Systeme, soziale 179 ff. Staatsanwaltschaft 96, 122 Stichproben 43 ff., 56 f. Straßenverkehr 236 f., 243 Unternehmer 229 ff. Urheberrechtskonflikte 104 f., 141 ff., 148 Verfahren 7 f., 61 ff., 71 ff., 80, 83 ff., 91 ff., 95 ff., 103 f., 105, 108, 112 f., 115 f., 117, 118, 119, 138 ff., 162 f., 192 ff., 208, 219, 234, 237 Verfahrensdauer 85, 93, 104, 140 f., 145 f. Verfahrensflucht 141, 146, 160 Verfahrenskosten 141, 146, 206 Verfahrenstreue 141, 146, 160 Versicherungskonflikte 106 f., 141 ff., 147 f., 242 f. Wirksamkeit von Recht 187ff., 208 ff., 219 ff., 227 ff., 233 ff., 244 ff. Zufriedenheit 184