Recht im Dienst des Friedens: Festschrift für Eberhard Menzel zum 65. Geburtstag am 21. Januar 1976 [1 ed.] 9783428435401, 9783428035403


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German Pages 673 Year 1975

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Recht im Dienst des Friedens: Festschrift für Eberhard Menzel zum 65. Geburtstag am 21. Januar 1976 [1 ed.]
 9783428435401, 9783428035403

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FESTSCHRIFT FüR EBERHARD MENZEL

Recht im Dienst des Friedens Festschrift für Eberhard Menzel zum 65. Geburtstag am 21. Januar 1976

Herausgegeben von

Jost Delbrück, Knut Ipsen, Dietrich Rauschning

DUNCKER & HUMBLOT / BEltLIN

Alle Rechte, auch die des auszugswelsen Nachdrucks, der photomechanIschen wiedergabe und der tl"bersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1975 bel Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prlnted In Germany ISBN 3 428 03540 2

Zueignung Diese Festschrift wird einem Juristen dargebracht, der sich als Gelehrter und Universitätslehrer für das Recht im Spannungsfeld zwischen staatlicher und internationaler Gesellschaft beispielhaft eingesetzt, vielfältig und fruchtbar ausgewirkt und selbstlos verzehrt hat. Eberhard Menzels Weltoffenheit und Hingabe an seinen Beruf wurden schon in Erziehung und Ausbildung vorgeprägt: Er geht zunächst in der Schweiz zur Schule, wächst in einer preußischen Beamtenfamilie auf, besucht dann öfter England. Nach dem Studium in Tübingen, Berlin und Frankfurt und dem Referendarexamen läßt ihn die Wissenschaft nicht frei: Neben dem Justizausbildungsdienst wirkt er bei Friedrich Giese in Frankfurt als Fakultätsassistent. Seinen internationalen Interessen gemäß arbeitet er dort vor allem über Grundsatzfragen des Völkerrechts. 1938 promoviert er in Frankfurt mit der 1940 erschienenen Arbeit über die Englische Lehre vom Wesen der Völkerrechtsnormen. In der gespannten Situation des Sommers 1939 besucht er den Kurs der Academie de Droit International in Den Haag. Als Jurist hat ihn seine nur kurze Zeit im Justizdienst 1939/40 mit geprägt; er ist richterlich in Wiesbaden und Frankfurt tätig. Von 1940 an steht er als Soldat im Felde. 1943 kann er sich in Frankfurt habilitieren und wird dort zum Dozenten ernannt. Im Jahre 1946 kehrt er aus der Kriegsgefangenschaft heim. Seine fruchtbare Tätigkeit in der Wissenschaft und für sie entfaltet sich seit 1947 vor allem in Universitätsinstituten. Er tritt zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter in die neugegründete Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht an der Universität Hamburg ein und wird bald ihr geschäftsführender Leiter. Aufbau und Arbeit jenes Instituts hat er wesentlich bestimmt. Die Aufgaben geisteswissenschaftlicher Institute, insbesondere auf dem Gebiet des Völkerrechts und dem der Rechtsvergleichung, kennzeichnet Eberhard Menzel 1953 mit einer dienenden Funktion: Sie haben durch Dokumentation des für den einzelnen nicht mehr zu übersehenden Materials die wissenschaftliche Bearbeitung, das Gewinnen neuer Erkenntnisse zu ermöglichen; sie haben ihr Material und ihre Forschungsergebnisse zu publizieren, und sie haben schließlich als politische Aufgabe sich an den großen Auseinandersetzungen unserer Zeit zu beteiligen - nicht durch leidenschaftliche Parteinahrne, sondern durch das wissenschaftliche Auf-

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Zueignung

zeigen der zugrundeliegenden Problematik, durch die Verwertung ausländischer Lösungsversuche und durch die Entwicklung von Lösungsvorschlägen. An der Hamburger Forschungsstelle und am Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, das er seit 1955 leitet, verwirklicht er die formulierten Ziele, wie die Publikationsreihen zeigen: In Hamburg entsteht das Verfassungsregister als Basis vergleichender Verfassungslehre; in der Dokumenten-Reihe zeigt sich der Verbund mit den Schwesterinstituten in Kiel und Göttingen. Die Reihe über das Staatsangehörigkeitsrecht aller Länder erweist die weiterführende Kraft der Institutionalisierung, die zur Fortsetzung und Fortschreibung zwingt. Im Kieler Institut liegt der Schwerpunkt außer auf der Fortführung der Dokumentenreihe in der Anregung und Pflege weiterer Forschung, die in der monographischen Reihe die Öffentlichkeit sucht. Hinzu tritt die neue Reihe über ausländisches Parteienrecht mit Modellcharakter. Die dienende Funktion des Instituts gelangt zum Ausdruck in der Publizierung der Bibliographien. Dem Jahrbuch für Internationales Recht gibt Eberhard Menzel ein neues Gesicht und neues Leben. Die Hamburger Forschungsstelle führt er auf kollegiale Weise, durch Arbeitsbesprechungen, in denen sich Mitglieder oft seiner Initiative, seinen Verwirklichungsvorschlägen und seinen Anregungen für die Aufgabenübernahme anschließen. Im Kieler Institut setzt er die Maßstäbe der Forschungstätigkeit und lebt diese Maßstäbe vor. Er stellt sich so überzeugend in den Dienst des Instituts, daß kein Mitarbeiter die eigene Tätigkeit als persönlichen Dienst, sondern ebenfalls als Erfüllung der Institutsaufgaben betrachtet. Er verlangt von sich ein Arbeitspensum, das für die Mitarbeiter unerreichbar ist, aber sie anspornt. Es liegt nicht in seiner Art zu loben, und dennoch ist erkennbar, daß er sich über die gelungene Leistung eines Mitarbeiters freut. Er vermag es nicht, Anteilnahme auszudrücken, und nur die ihm Nahestehenden merken, wie sehr er Anteil nimmt. Kompetenz, Achtung und Anerkennung, die ihm entgegengebracht werden, sind die Grundlagen seiner erfolgreichen Führung. Seine organisatorische Leistung, sein schwäbisches Haushalten und preußische Korrektheit sichern auch den eindrucksvollen äußeren Auf- und Ausbau seiner Institute. Als akademischer Lehrer bindet er das positive Recht in die historischgeistigen, weltoffen-internationalen und auch aktuell-politischen Bezüge ein. Seine Allgemeine Staatslehre eröffnet dem jungen Juristen Züge des Staatsdenkens von Platon bis Hegel. Das Deutsche Staatsrecht erscheint vor dem Hintergrund dieser Staatslehre, greift in das ausländische Verfassungsrecht über und ist stets angereichert mit konkreten Beispielen der Weimarer Zeit und der Gegenwart. Das Völkerrecht ent-

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wickelt er an den Richtpunkten der internationalen Friedensordnung und des Gewaltverbots. Im persönlichen Gespräch, auf der Exkursion und durch Beteiligung an wissenschaftlicher Arbeit am Institut weckt und pflegt er das Interesse der Studenten an einem weltoffen verstandenen öffentlichen Recht. Nicht nur von seinem Wirken an der Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amtes, sondern gerade auch von seiner Lehre an den Universitäten her betrachten sich zahlreiche Angehörige des Auswärtigen Amtes und Mitarbeiter internationaler Organisationen als zur Schar seiner Schüler gehörig. Sein akademisches Wirken gilt in seiner ganzen Amtszeit nicht nur den Studenten und der Wissenschaft, sondern auch der Erhaltung und Ordnung der wissenschaftlichen Institutionen der Universität, der Fakultät und dem Institut. Die maßvoll moderne Universitätsverfassung Kiels gestaltet er in den sechziger Jahren wesentlich mit. Er verteidigt die Stärke von Universität und Fakultät, um sie nicht zum Spielball der Tagespolitik werden zu lassen. Sein Rat und seine Unterstützung werden von einer Kette von Rektoren gesucht. Als er nach seiner Wahl zum Rektor durch Intrigen tief verletzt wird, bleibt er vor allem um die Position und das Wohl der Universität besorgt. Auch in der Fakultät als Mitglied und Dekan gibt er ein Beispiel vorbildlicher Amtsführung. Dem Rechtsgelehrten Eberhard Menzel verdankt die Wissenschaft viele Anregungen, fundierte Ausarbeitungen und weiterführende Gedanken. Seine grundsätzlichen Arbeiten zum Völkerrecht und zur Auswärtigen Gewalt beginnen mit seiner Dissertation und setzen sich in seinem Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 1953 über die Auswärtige Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, in den Kommentierungen der völkerrechtlich bedeutsamen Artikel im Bonner Kommentar und in anderen Arbeiten zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht fort. Präzise Aussage, systembildende Kraft und didaktische Beschränkung zeichnen sein Völkerrechtslehrbuch aus. Mit seinen wissenschaftlichen Publikationen stellt er sich vielfach den aktuellen Problemen und greift in einer Weise in die Diskussion ein, die seinem ganzen Wesen entspricht: Äußerst kritisch nach innen hin und schützend nach außen. Im Staatsrecht nimmt er zu Einzelfragen Stellung, so zur Aussagegenehmigung, zur Richtlinienkompetenz, zur Parteienfinanzierung, zur Finanzkontrolle und zu den Verfassungsproblemen des Notstandsrechts. Hochschul- und Bildungsrecht ziehen ihn an und dementsprechend das Grundrecht auf Berufswahl. Das Gespür für kommende Rechtsfragen von entscheidendem Gewicht führt zu frühen Arbeiten und bedeutenden Beiträgen zum Recht des Festlandsockels und der Meeresnutzung; als Fachberater gehört er der deut-

Zueignung

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schen Prozeßvertretung im Festlandsockelstreit vor dem Internationalen Gerichtshof an. Er nimmt nach dem Kriegsende die Hoffnung auf Europa mit auf und begleitet die Bemühungen um die internationale Sicherung der Menschenrechte. Die Frage nach der Stellung Deutschlands, nach seinen Grenzen und den Möglichkeiten der Wiedervereinigung zieht sich durch viele Jahre wissenschaftlicher Arbeit, die indessen der Gefahr der frühen oder endlichen Illusion nicht ausweichen kann. Sie ist geprägt von der Suche nach einer wirklich befriedenden Lösung. Die deutsche Frage bleibt eingebettet in die Spannung zwischen den Weltmächten und ist so verbunden mit den Möglichkeiten des Völkerrechts zur Konfliktlösung oder -begrenzung. Wenn auch die Beseitigung der Gewalt Eberhard Menzel als unrealistisch erscheint, so kann ihre Anwendung doch zurückgedrängt und mit Regeln des humanitären Rechts gebunden werden. Schon die kriegsrechtliche Textsammlung von 1940 diente diesem Ziel. Seine Publikationen zur Rüstungskontrolle, zum Verbot der Anwendung von Atomwaffen und zur Friedenssicherung im Bündnis gehen gerade von der Gefahr des Konflikts, ihren Ursachen und Erscheinungsformen aus und suchen in realistischer Bescheidung die friedenssichernde Funktion des Völkerrechts zur Wirkung zu bringen. Gerade dieses Bemühen hat ihm die Achtung der internationalen Wissenschaft eingetragen. Werk und Wirken Eberhard Menzels umspannen viele Bereiche unserer Wissenschaft. Sie sind zunehmend gekennzeichnet durch das Bemühen um die befriedende Funktion des Rechts, um das Recht im Dienste des Friedens. Vielfältig wie die Bereiche seiner wissenschaftlichen Arbeit sind auch die in dieser Festschrift behandelten Themen, die sein Bemühen aufnehmen. Mit ihren Beiträgen bringen Kollegen und Schüler Eberhard Menzel ihre besondere Achtung und ihre Verbundenheit zum Ausdruck. Im Namen aller Beteiligten wird sie dem Jubilar mit den besten Wünschen dargebracht. Jost Delbrück

Knut Ipsen

Dietrich RaUSchning

Inhaltsverzeichnis I. Juristisme Methodenlehre EKKEHARD STEIN, Dr. iur., Professor an der Universität Konstanz: Juristische Auslegungslehren und wissenschaftliche Methodik

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11. staatIime Ordnung CHRISTIAN TOMUSCHAT, Dr. iur., Professor an der Universität Bonn: Der staatlich geplante Bürger. Verfassungsrechtliche Bemerkungen zu den Richtlinien für den Politik-Unterricht des Landes NordrheinWestfalen .......................................................... 21 INGO VON MÜNCH, Dr. iur., Professor an der Universität Hamburg: Verfassungsrechtliche Aspekte des Dreier-Wahlkreis-Systems

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WOLFGANG RÜFNER, Dr. iur., Professor an der Universität Kiel: Zur Stellung der bundesunmittelbaren Unternehmen des öffentlichen Rechts im Haushaltsrecht .......................................... 67 JOST DELBRÜCK, Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Quo vadis Bundesverfassungsgericht? - Überlegungen zur verfassungsrechtlichen und verfassungsfunktionalen Stellung des Bundesverfassungsgerichts ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 111. Staatsremt und internationale Ordnung RUDOLF BERNHARDT, Dr. iur., Professor an der Universität Heidelberg: Völkerrechtli'che Bemerkungen zum Grundvertrags-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ............................................ 109 JOCHEN ABR. FROWEIN, Dr. iur., Professor an der Universität Bielefeld: Die Bindungswirkung von Akten der auswärtigen Gewalt, insbesondere von rechtsfeststellenden Akten ................................ 125 WALTER RUDOLF, Dr. iur., Professor an der Universität Mainz: Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung .......... 141 BORIS MEISSNER, Dr. iur., Professor an der Universität Köln: Die Partei im sowjetischen Staats- und Völkerrecht ................ 155 HELLMUTH HECKER, Dr. iur., Referent am Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg: Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen in völkerrechtlichen Verträgen deutscher Staaten in Vergangenheit und Gegenwart ...... 177

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Inhaltsverzeichnis

IV. Grundfragen des Völkerrechts HARTWIG BÜLcK, Dr. iur., Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer: Von den Ursprüngen des Völkerrechts .............................. 215 GEORG SCHWARZENBERGER, Dr. iur., Professor an der University of London: The Problem of International Constitutional Law in International Judicial Perspective ................................................ 241 ULRICH SCHEUNER, Dr. iur., Professor an der Universität Bonn: Solidarität unter den Nationen als Grundsatz in der gegenwärtigen internationalen Gemeinschaft ...................................... 251 BART LANDHEER, Dr. iur., Professor: Innovation and Diffusion in the Worldsystem

279

GEORG PICHT, Dr. phi!., Professor an der Universität Heidelberg: Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten ............................................................ 289 OTTO KIMMINICH, Dr. iur., Professor an der Universität Regensburg: Probleme der Anpassung der Genfer Flüchtlingskonvention an gewandelte Verhältnisse ............................................ 307 WILHELM A. KEWENIG, Dr. iur., Professor an der Universität Kiel: Der Internationale Gerichtshof und die französischen Kernwaffenversuche. Kritische Anmerkungen zum Urteil der IGH vom 20. Dezember 1974 im Nuclear Tests-Case ........................................ 323

V. Konfliktsverhütungsrecht und Konfliktsrecht HELGA HAFTENDORN, Dr. phil., Professor an der Hochschule der Bundeswehr Hamburg: Gewaltverzicht als Instrument Europäischer Ordnungspolitik ........ 351 BERT V. A. RÖLING, Dr. iur., Professor an der Rijksuniversiteit Groningen: Die Definition der Aggression ...................................... 387 KNUT IpsEN, Dr. iur., Professor an der Universität Bochum: Zum Begriff des "internationalen bewaffneten Konflikts" .......... 405

VI. Gebietsfragen DIETRICH RAUSCHNING, Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Die Grenzlinie im Verlauf der EIbe ................................ 429 IGNAZ SEIDL-HoHENVELDERN, Dr. iur., Professor an der Universität Köln: Das Münchener Abkommen im Lichte des Prager Vertrages von 1973 451 KRZYSZTOF SKUBISZEWSKI, Dr. iur., Professor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften Warschau: Gdansk and the Dissolution of the Free City ........................ 469

Inhal tsverzeichnis

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OTTOBERT L. BRINTZINGER, Dr. iur., Ministerialrat: Versu'ch über Exklaven und Enklaven .............................. 487

VII. Seevölkerrecht LUDWIK GELBERG, Dr. iur., Professor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften Warschau: Rechtsfragen des Festlandsockels in der Ostsee .................... 519 VLADIMIR IBLER, Dr. iur., Professor an der Universität Zagreb: Anti-Pollution Jurisdiction in the Exclusive Economic Zone and the Freedoms of Navigation ............................................ 535 MAx SflRENSEN, Dr. iur., Professor an der Universität Aarhus: Brückenbau und Durchfahrten in Meerengen ........................ 551

VIII. Europäische Ordnung und Zusammenarbeit HANS-R. KRÄMER, Dr. iur., Professor an der Universität Kiel: Die Bedeutung der Abkommen von Jaunde und Lome für die regionale Integration zwischen Entwicklungsländern .................... 567 GOTTFRIED ZIEGER, Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Die Rechtsstellung Berlins in den Europäischen Gemeinschaften

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GEORG CHRISTOPH VON UNRUH, Dr. iur., Professor an der Universität Kiel: EUREGIO. Programm und Realität einer grenzüberschreitenden Kooperation ........................................................ 607 SIEGFRIED MAGIE RA, Dr. iur., Referent am Institut für Internationales Re'cht der Universität Kiel: Bundesstaat und EG-Finanzordnung. Zur Verteilung der Finanzlast zwischen Bund und Ländern bei der Durchführung von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften ........................ 621

IX. Bibliographie

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I. Juristische Methodenlehre

Juristische Auslegungslehren und wissenschaftliche Methodikl Von Ekkehard Stein 1.

Als Franz Josef Strauß wenige Jahre nach seinem Rücktritt im Gefolge der Spiegel-Affäre die Rückkehr in ein Ministeramt vorbereitete, untersuchte Eberhard Menzel die Frage, ob der Bundespräsident bei einem entsprechenden Vorschlag des Bundeskanzlers zu seiner Ernennung verpflichtet wäre2 • Der Aufsatz zeichnet sich durch die Offenlegung der Methodik aus, mit der das Ergebnis gewonnen wird. Menzel wendet zunächst die "traditionellen Auslegungsmethoden" im Sinne jener "schon von Savigny aufgezeigten vier Grundtypen juristischer Interpretationsmöglichkeiten" an: "die grammatische (Wort-), die logisch-systematische, die genetisch-historische und die teleologische Auslegungsmethode"3. Dabei erkennt er, daß letztere Methode in eine petitio principii umschlagen kann, wenn der Zweck der Norm wie in dem untersuchten Fall gerade umstritten ist4 • Insgesamt ergeben die traditionellen Auslegungsmethoden hier wie in vielen anderen Fällen zwar wichtige Lösungshilfen, aber keine zweifelsfreie Klärung der Streitfrage. Menzel versucht daher ihre Beantwortung auf einem anderen methodischen Weg: durch Prüfung der Parallelfälle der Ernennung von Bundesrichtern, Bundesbeamten, Offizieren und Unteroffizieren und durch Gegenüberstellung der allgemeinen Funktionen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers. So wird mit großer argumentativer Sorgfalt eine differenzierte, auf die je spezifischen Funktionen von Bundespräsident und Bundeskanzler abgestimmte Lösung erarbeitet. Methodisch bemerkenswert ist, daß Menzel seinen Weg deutlich von der logisch-systematischen Methode im engeren Sinne abgrenzt, obwohl er sieht, daß man ihn ihr zurechnen könnte, "wenn man diesen Begriff stark ausweitet"5. In dieser Abgrenzung zeigt sich, wie klar Menzel den 1 Dieser Beitrag wurde wesentlich beeinflußt durch Anregungen und Kritik von Frau Fridel Eckhold-Schmidt. Ihr schulde ich daher meinen besonderen Dank. 2 Ermessensfreiheit des Bundespräsidenten bei der Ernennung der Bundesminister?, DÖV 1965, S. 581 ff. 3 Ebd., S. 582. 4 Ebd., S. 584. 5 Ebd., S. 585.

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Ekkehard Stein

Unterschied sieht zwischen der Aufdeckung einer der Verfassung immanenten Systematik und systematischen Erwägungen des Interpreten, mögen sie auch noch so eng an die Verfassung anknüpfen. Zu der hier von Menzel behandelten Frage nimmt auch Konrad Hesse verhältnismäßig ausführlich Stellung6 • Wenn gerade er aus der Fülle der Autoren genannt wird, die sich hiermit befaßt haben, geschieht es wieder wegen der Offenlegung seiner Methodik7 • Hesse kommt mit einer stark gegensätzlichen Methode zu einem fast genau entgegengesetzten Ergebnis wie Menzel, wobei man sich allerdings davor hüten muß, einen engen Zusammenhang zwischen der Gegensätzlichkeit der Methoden beider Autoren und der ihrer Ergebnisse anzunehmen. Die traditionellen Auslegungsmethoden bezeichnet Hesse insgesamt als fragwürdig, weil "in allen Fällen der Verfassungsinterpretation" "die Verfassung oder der Verfassungsgeber in Wahrheit noch nicht entschieden", sondern nur mehr oder weniger zahlreiche unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung gegeben hätten8 • Gleichwohl meint Hesse, daß die Verfassungsinterpretation ihre Grenzen dort finde, "wo keine verbindliche Setzung der Verfassung vorhanden ist"9. Um die "verbindliche Setzung der Verfassung" zu ermitteln, wenn die Verfassung "in Wahrheit noch nicht entschieden" hat, bedient sich Hesse der Topik im Sinne Viehwegs10, die er mit Hilfe von fünf besonderen verfassungsrechtlichen Topoi für die speziellen Zwecke der Verfassungsinterpretation aufbereitetl l . Die Topoi sind der "Maßstab integrierender Wirkung", das "Prinzip der Einheit der Verfassung", das "Prinzip praktischer Konkordanz", der "Maßstab funktioneller Richtigkeit" und die "normative Kraft der Verfassung". Die Kluft zwischen der Orientierung am zu interpretierenden Text, der in der Wahl des Wortes "Verfassungsinterpretation" zum Ausdruck kommt, und der Orientierung am zu entscheidenden Sachproblem, welche für die gerade nicht textbezogene Topik charakteristisch ist, überbrückt Hesse mit Esser1! unter Berufung auf Gadamer13 : Da jedes • Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7. Auflage 1974, S. 258 f. 7 Ebd., S. 20 ff. 8 Ebd., S. 23. G Ebd., S. 30. 10 Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Auflage 1965, besonders S. 53 ff. 11 Hesse, S. 27 ff. Hiergegen wendet Peter Schwerdtner (Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus, Rechtstheorie 1971, S. 66 ff., 224 ff.) ein, der Rechtsanwender könne schwerlich an etwas gebunden sein, was er selbst bestimme (S. 79); Hesse überschätze damit die Eingrenzungsmöglichkeit durch die Problembezogenheit des Denkens: "Wenn der Interpret das Problem bestimmt, bestimmt er auch die Topoi" (S. 80). 12 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Auflage 1972, S. 136 ff.

Juristische Auslegungslehren und wissenschaftliche Methodik

5

Verstehen eines Textes ein Vorverständnis des Interpreten voraussetze und sich nicht von dem jeweils zu lösenden konkreten Problem ablösen lasse, sei jede Verfassungsinterpretation notwendig problembezogen14 • 11.

Die Arbeiten Menzels und Hesses stehen hier als Beispiele für den Stand der methodischen Reflexion der sich als Wissenschaft verstehenden Lehre vom Verfassungsrecht. Sie können nicht beanspruchen, repräsentativ auch nur für die wichtigsten methodischen Strömungen auf diesem Gebiet zu sein, zeigen aber doch einerseits die Gegensätzlichkeit der Standpunkte, deren Ansprüche auf wissenschaftliche Richtigkeit sich gegenseitig ausschließen, andererseits zwei allerdings weniger offen zutage tretende Gemeinsamkeiten, auf die sogleich näher einzugehen ist. In beiderlei Hinsicht unterscheidet sich die Methodendiskussion im besonderen Bereich des Verfassungsrechts nicht grundsätzlich von der allgemeinen Diskussion der juristischen Methodik. Auffällig ist zunächst die weitgehende Gleichsetzung der Entscheidung von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten mit "Verfassungsinterpretation" (wie in der allgemeinen Diskussion die Gleichsetzung der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten mit einer "Auslegung" des Rechts). Dies überrascht besonders, wenn ein Autor wie Hesse zunächst betont, es gehe um die Entscheidung von Fällen, "die Verfassung oder Verfassungsgeber in Wahrheit noch nicht entschieden" hätten. Ein Nicht jurist käme schwerlich auf den Gedanken, die Lösung trotzdem durch ein "Verstehen der Verfassung" zu suchen, und würde, wenn hierauf gleichwohl ein Ergebnis gestützt wird, den Juristen Goethe15 zitieren: "Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter." In der Jurisprudenz jedoch steht gerade in den letzten beiden Jahrzehnten die Hermeneutik wieder ganz im Mittelpunkt, und es gehört schon fast zum guten Ton, in einer methodischen Arbeit auch Gadamer zu zitieren. Noch allgemeiner, im Grunde aber noch auffälliger, ist der Konsens über die Gleichsetzung der Frage nach den Auslegungsmethoden mit der Frage nach den Methoden der wissenschaftlichen Erforschung des Rechts. Es liegt mir fern, hier auf die zur Genüge diskutierte Frage 13 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Auflage 1965, vor allem S. 307 ff.

14 lG

Hesse, S. 25 f. Zahme Xenien,

1823, 2. Buch.

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Ekkehard stein

nach der Berechtigung des Wissenschaftlichkeitsanspruchs der Jurisprudenz18 einzugehen. Gerade wer dieses Selbstverständnis teilt und sich mit der überwiegenden Mehrzahl aller Hochschullehrer des Rechts auf die richterliche Tätigkeit konzentriert (wogegen sich allerdings manches einwenden läßt), müßte doch die Methoden, die der Richter bei seiner Entscheidungsfindung anwendet, zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung machen und dürfte sie nicht mit rechtswissenschaftlichen Methoden gleichsetzen. Soweit ich sehe, wird das Problem im Bereich des Verfassungsrechts17 nur von Martin Kriele18 und Friedrich Müller19 angedeutet. Beide wischen es allerdings schnell wieder vom Tisch, Kriele20 , indem er fordert, die Rechtswissenschaft müsse sich nach den Methoden der Rechtspraxis richten, und Müller2 t, indem er behauptet, die Rechtspraxis richte sich nach den Methoden der Rechtswissenschaft.

III. Diese Gleichsetzung der Methodik einer wissenschaftlichen Erforschung des Rechts mit der Methodik der Auslegung des Rechts und letzterer mit der Technik der (vor allem richterlichen) Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten weist auf eine kaum reflektierte Prämisse unserer Jurisprudenz hin: Seit Plato gilt es als ausgemacht, daß dem Geistigen in der Welt eine vom Menschen unabhängige Realität zukomme. Mag die Ideenlehre Platos auch noch so oft angegriffen worden sein, diese ihre Prämisse hat die Jahrtausende überdauert und beeinflußt über Kant und Hegel noch heute unser Denken. Sie ist tragender Bestandteil gerade derjenigen modernen philosophischen Strömungen, welche die rechtswissenschaftliche Methodik am stärksten 18 Siehe dazu vor allem Ralph Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 1971, S. 37 ff.; Klaus Adomeit, Rechtswissenschaft und Wahrheitsbegriff, JuS 1972, S. 629 ff. und JuS 1973, S. 207; Wol/gang Meyer, Noch einmal: Wahrheitsbegriff und Rechtswissenschaft, JuS 1973, S. 202 ff.; Jürgen Schmidt, Noch einmal: Wahrheitsbegriff und Rechtswissenschaft, JuS 1973, S. 204 ff. 17 Als allgemeines Problem der Rechtswissenschaft wird es klar gesehen von Hubert Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 84 ff., wo er klarstellt, daß die Rechtspraxis für die Rechtswissenschaft "den Objektbereich (oder besser: einem Teil davon)" (S. 87) bildet und daher nicht mit ihr identisch sein kann. 18 Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 43 ff. le Juristische Methodik, 1971, S. 95. 20 So schreibt Kriele (S. 46), die juristische Methodenlehre "ist, wie die Methodenlehre eines Handwerks, der Versuch, ein vor ihr daseiendes und auch unabhängig von ihr tradiertes Meisterwissen systematisch zu formulieren". 21 Müller (S. 95) sagt, die Anwendung des Verfassungsrechts durch Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung sei "vorwiegend durch wissenschaftlichen Denkstil gekennzeichnet".

Juristische Auslegungslehren und wissenschaftliche Methodik

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beeinflußt haben. Genannt seien nur die Phänomenologie Edmund Husserls, die hieraus abgeleitete materiale Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns sowie die Existenzphilosophie vor allem in der Ausprägung des Husserl-Schülers Martin Heidegger, aber auch der Marxismus, der (trotz aller Betonung des Materiellen) in der Ausrichtung auf die Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft die Abstammung von Hegel nicht verleugnen kann. Die unser herrschendes Rechtsdenken prägenden Vorstellungen kommen besonders klar im Werk Nicolai Hartmanns zum Ausdruck, der das Recht wie die Sprache dem objektiven Geist zurechnet22 und beide unter anderem durch ihre innere Einheit charakterisiert sieht23• Nach diesem Verständnis ist die Rechtsprechung ebenso auf die Erkenntnis des Rechts als einer vorgegebenen Einheit ausgerichtet wie die Rechtswissenschaft. Techniken der richterlichen Entscheidung, Methoden der Auslegung und Methoden der wissenschaftlichen Erforschung des Rechts werden zu Synonymen. Eine ganze Reihe von Problemen, über die immer wieder nachgedacht und geschrieben wird, hängt mit der Zuordnung des Rechts zum Geistigen in dem genannten Sinne zusammen. Da ist zunächst der Begriff der "objektiven Methode" oder "objektiven Auslegungstheorie", zu dem sich die herrschende Lehre bekennt. Er ist orientiert an der Auslegung von Gesetzen, wird aber geprägt von einer seltsamen Abhebung des "objektiven Sinnes des Gesetzes" vom "subjektiven Willen des Gesetzgebers", die nur verständlich wird, wenn man von einem Eigenleben des Gesetzes unabhängig von den Menschen, die es geschaffen haben und die es anwenden, ausgeht ähnlich dem Eigenleben eines Kindes unabhängig von seinen Eltern. Da ist ferner der Begriff der rechtlichen Geltung eines Rechtssatzes, die zwar als Geltung des positiven Rechts deutlich von der rein ideellen Geltung eines Normenvorschlags (und sei er noch so ideal) abgehoben, in der aber doch etwas anderes, sozusagen höheres gesehen wird als die soziale Geltung einer Norm (letztere verstanden nicht im Sinne der Wahrscheinlichkeit der Befolgung oder Sanktionierung, sondern im Sinne einer sozial-psychischen Realität als vorherrschende Normüberzeugung). Ferner hängen damit zusammen die Probleme der Nichtigkeit von Rechtsnormen, Verträgen oder Verwaltungsakten, die diesen Tatbeständen von Anfang an anhaften sollen, auch wenn sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt hat, daß in die richterliche Feststellung ihrer Nichtigkeit ein mehr oder weniger großes volitives Element einfließt. Weiter kommt es daher, daß 22

Nikolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Auflage 1949.

S. 275 f. 23 Ebd., S. 259.

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Ekkehard stein

an allen unseren Universitäten gelehrt wird, bei der Bearbeitung von Einzelfällen (etwa in Klausuren oder Hausarbeiten) dürfe wohl bei unklarem Sachverhalt, nicht aber bei unklarer Rechtslage alternativ entschieden werden; denn - und auch diese These basiert auf jener Prämisse - alle Normen und Einzelakte hätten entweder einen (zwar nicht notwendig bestimmten, aber) durch Auslegung bestimmbaren Sinn oder seien mangels hinreichender Bestimmtheit rechtlich unbeachtlich. Allerdings ist keinem Studenten zu raten, beim Fehlen einer hinreichenden Bestimmbarkeit (etwa weil sich die Rechtsgelehrten über den Sinn der Rechtsnorm nicht einigen können) ihre Unbeachtlichkeit anzunehmen. Die Reihe derartiger Probleme ließe sich noch lange fortsetzen. Es dürfte jedoch bereits genügend deutlich geworden sein, wie stark dieses Verständnis des Rechts unsere gesamte rechtliche Methodik und Dogmatik durchdringt. Die meisten Rechtswissenschaftler würden zwar heute, nach dem Abklingen der Naturrechts-Renaissance, dem Recht schwerlich noch eine Realität unabhängig von Menschen und Gesellschaft zusprechen. Die genannten Beispiele belegen aber, daß, dessen ungeachtet, das vorherrschende methodische und dogmatische Denken nach wie vor von Begriffen geprägt wird, die nur sinnvoll wären, wenn dem Recht diese selbständige geistige Realität zukäme. Offenbar hat also die Einsicht in die Unhaltbarkeit jener Prämisse zwar schon die Naturrechtsdiskussion, nicht aber die allgemeine Methodik und Dogmatik zu beeeinflussen vermocht. Mit anderen Worten: das Umdenken hat zwar begonnen, ist aber noch nicht weit genug fortgeschritten, um das Ausmaß der Abhängigkeit traditioneller rechtlicher Vorstellungen von jener unhaltbaren Prämisse bewußt werden zu lassen. IV. Erstaunlich ist, wie wenig daran auch die sozialwissenschaftlichen Ansätze geändert haben, die vor allem im Laufe des letzten Jahrzehnts in die Rechtswissenschaft hineingetragen worden sind. Sie haben zwar der Einsicht zum Durchbruch verholfen, daß das Recht ein soziales Phänomen ist, haben aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die traditionelle rechtswissenschaftliche Fragestellung kaum expliziert. Dies liegt vor allem daran, daß sie unter dem Einfluß der Soziologie Fragestellungen bevorzugt haben, mit denen sich bisher mehr die Rechtssoziologie als die Rechtswissenschaft befaßt hat. Im Vordergrund stehen empirische Aussagen über das Recht24, über seine Auswirkungen 24 Hier und in den folgenden Fußnoten werden lediglich einige Beispiele aus dem neueren Schrifttum ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit gegeben. So wird die Aufgabe der Rechtswissenschaft unter anderem in

Juristische Auslegungslehren und wissenschaftliche Methodik

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und über die Möglichkeiten, durch eine Änderung des Rechts andere Wirkungen zu erzielen25 , über seine historischen Bezüge und seine gesellschaftlichen Funktionen26 , über die Prozesse der Rechtsetzung 27 und der richterlichen Entscheidungsfindung28 bis hin zu Verallgemeinerungen, die es ermöglichen sollen, künftiges richterliches Verhalten mittels induktiv gewonnener Regeln der Erfahrung vorauszusagen29 • Daneben stehen Versuche, wissenschaftliche Handlungsanweisungen mit Hilfe von Prognosen der Auswirkungen verschiedener Entscheidungsalternativen zu erarbeiten30 • So berechtigt die Kritik an der herkömmlichen Verengung der rechtswissenschaftlichen Fragestellung auf die richterliche Rechtsanwendung ist, so verfehlt wäre es, im Gegenzug die traditionelle Fragestellung ganz auszuklammern. Hierfür aber vermögen die bei den meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen rechtlicher Phänomene im Vordergrund stehenden empirischen Fragen zwar mittelbar gewisse Hilfen, aber keine direkten Antworten zu liefern. Die an letzter Stelle genannten, auf wissenschaftliche Handlungsanweisungen zielenden Untersuchungen kommen dem Problem schon näher. Indem sie aber ganz allgemein nach den Vorzügen und Nachteilen verschiedener Entscheidungsalternativen fragen, verfehlen sie den Unterschied richterlicher gegenüber rein politischen Entscheidungen, der in der Ausrichtung am geltenden Recht liegt. Zwar ist auch richterlichen Entscheidungen ein politisches Element immanent. Soweit dieses Element reicht, ist der genannte Ansatz zutreffend und fruchtbar. Er vermag jedoch nicht das rechtliche Element zu erfassen, dessen Erforschung gerade den spezifischen Gegenstand der Rechtswissenschaft ausmacht31 • Soll empirischen Aussagen über das geltende Recht gesehen von Hans Albert, Erkenntnis und Recht, Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie, Band 2, 1972, S. 80 ff., 89 ff.; Ralph Dreier (Fn. 16),

S.43. 25 Frederick K. Beutel, Die experimentelle Rechtswissenschaft (übertragen aus dem Amerikanischen), 1971, S. 34 ff. 28 Hubert Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 42 ff.; ders., Richterliches Handeln, 1973, S. 162 ff. 27 Karl-Dieter Opp, Soziologie im Recht, 1973, S. 126 ff.; Peter Noll, Gesetzgebungslehre, 1973. 28 Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 7 ff.; ders., Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 91 ff.; Karl-Dieter Opp, S. 111 ff.

29 So vor allem der in den USA verbreitete juristische Realismus. Näheres hierzu bei G. Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, 1967. 30 So etwa Peter Schwerdtner (Fn. 11), S. 232 ff.; hierzu zählt auch der Ansatz von Ralph Dreier (Fn. 16), S. 49 ff. 31 Dies gilt im übrigen auch für die Topik, die keine Erkenntnis-, sondern eine Argumentationsmethode ist, und zwar eine allgemeine und keine spezifisch juristische, wie sich gerade auch aus der berühmten Studie von Viehweg (Fn. 10) ergibt. Hier heißt es (S. 1): "Die Topik ist eine von der Rhetorik

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sie nicht zu einem Teil der Politologie und damit zu einer Rechtswissenschaft ohne Recht werden, muß auch vom Standpunkt einer sich als Sozialwissenschaft verstehenden Rechtswissenschaft ein eigener methodischer Ansatz entwickelt werden, der sich am Recht als sozialem Phänomen orientiert.

v. Auszugehen ist von den Bezügen zwischen der sozialen Einheit, deren Wirken rechtlich normiert ist, zu den Instanzen innerhalb dieser sozialen Einheit, die als ihre Organe ihre Rechtsnormen setzen und ändern, und zu den Gerichten32 , die im Einzelfall entscheiden, was rechtens ist. Rechtsetzende Instanzen und Gerichte orientieren sich bei ihrer Willensbildung an der Wirklichkeit jener sozialen Einheit und bemühen sich um eine an Richtigkeitskriterien ausgerichtete Entscheidung der innerhalb von ihr auftretenden Konflikte. Zusätzlich orientieren sich die Gerichte aufgrund ihrer Bindung an das geltende Recht an den Entscheidungen der rechtsetzenden Instanzen33 • Der Richter steht damit in einem Dreiecksverhältnis einerseits zu den Entscheidungen der rechtsetzenden Instanzen und andererseits zur sozialen Wirklichkeit, wobei diese beiden Faktoren für den Richter nicht in unaufhebbarem Gegensatz stehen, weil die Entscheidungen der rechtsetzenden Instanzen ihrerseits an der sozialen Wirklichkeit orientiert sind. Für die Orientierung an der sozialen Wirklichkeit, die den Gerichten wie den rechtsetzenden Instanzen eigen ist, bieten sich entscheidungstheoretische Ansätze an, die auf die Erarbeitung von Handlungsanweisungen zielen mit Hilfe von Prognosen der Auswirkungen verschiedener Entscheidungsalternativen, wie sie oben bei den sozialwissenschaftlichen Ansätzen an letzter Stelle genannt wurden. Diese Folgenanalyse ist schon deshalb erforderlich34, weil, jedenfalls unter dem Grundentwickelte Techne des Problemdenkens." Die Topik kann zwar auch mit rechtlichen Topoi aufgeladen werden, vermag aber nicht den Unterschied rechtlichen Argurnentierens von rein politischem Argumentieren zu begründen. Das gilt in besonderem Maße, wenn die Topoi so allgemein und vieldeutig sind wie bei Konrad Hesse. 32 Ich beschränke mich auf die Gerichte, um zu zeigen, daß sich auch die traditionelle rechtswissenschaftliche Fragestellung von einem sozialwissenschaftlichen Verständnis des Rechts aus beantworten läßt. 33 Damit stimme ich Kriele (S. 195) zu, wenn er schreibt: "Die juristische Argumentation unterscheidet sich von der rechts- und verfassungspolitischen durch ihre Bindung an die Entscheidungen der rechtsetzenden Gewalt und durch ihre präsumptive Bindung an Präjudizien" (zur letztgenannten Bindung siehe weiter unten bei Anmerkung 37). 34 Im Bereich des Verfassungsrechts wird der Gedanke der Folgenanalyse vor allem von Kriele (S. 157 ff., besonders klar aber in der Zusammenfassung S. 314 unter Nr. 18) vertreten. Er befürwortet eine "vernunftrechtliche Ar-

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gesetz, das Recht um des Menschen willen da ist, nicht der Mensch um des Rechtes willen. Hiergegen würde ein Richter verstoßen, der einen Rechtssatz ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für die hiervon betroffenen Menschen anwenden würde. Der Ansatz der Folgenanalyse muß jedoch kombiniert werden mit einem zweiten, der es erlaubt, die Bindung des Richters an das geltende Recht zu erfassen. Hierfür scheint mir weder die literaturwissenschaftliche noch die traditionelle juristische Hermeneutik geeignet zu sein35 • Letztere ist mehr darauf abgestellt, Lösungen für Fälle zu finden, die der Normsetzer nicht entschieden hat, also etwas in die Norm hineinzulegen, was in ihr nicht enthalten ist, als auf die Realisierung der Normbindung. Die literaturwissenschaftliche Hermeneutik aber ist dazu bestimmt, den Sinn dessen zu erfassen, was ein Individuum kraft seiner durch die Zeitverhältnisse geprägten Persönlichkeit gemeint hat, während es beim Recht um die Ermittlung der Ergebnisse der Rechtsetzung als eines sozialen Prozesses geht36• Hinter der Bindung des Richters an das Recht steht im demokratischen Staat nicht nur das Rechtsstaatsprinzip, sondern auch das demokratische Prinzip. Es besagt hier, daß der Richter Einzelfälle nicht im Widerspruch zu generellen Entscheidungen der Volksvertretung entscheiden darf, die aufgrund ihrer Wahl unmittelbar demokratisch legitimiert ist und sich eines Verfahrens bedient, das eine weit stärkere Einbeziehung gesellschaftlicher Meinungsströme erlaubt als das Gerichtsverfahren. Die Bindungskraft von Entscheidungen der Volksvertretung darf aber sinnvollerweise nicht weiter gehen als die diesen Entscheidungen vorausgehende Meinungs- und Willensbildung. Damit gumentation", die in nichts anderem besteht als in der Voraussage der zu erwartenden Konsequenzen, die die Verwirklichung eines Normvorschlags haben würde, und in der Bewertung ihrer Relevanz für die berührten Interessen; siehe ferner Peter Schwerdtner (Fn. 11), S. 87. - Die Berücksichtigung der Folgen bei der Rechtsanwendung wird heftig von Niklas Luhmann kritisiert (Rechts system und Rechtsdogmatik, 1974, bes. S. 31). Hiermit versucht Luhmann seine frühere Einordnung der Rechtsanwendung in ein Verhalten, das ausschließlich durch "Konditionalprogramme" gesteuert werde, zu rechtfertigen (ursprünglich sprach Luhmann von "Routineprogrammen", so in Lob der Routine, Verwaltungsarchiv 55, 1964, S. 1 ff., 7 ff., später aber von "Konditionalprogrammen" wie in Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968, S. 66 ff.). Die Kritik beruht auf der Vorstellung, daß die "Selbststeuerung eines Rechtssystems" ausschließlich durch eine von den Zentralinstanzen ausgehende Steuerung, also eher eine Fremdsteuerung, möglich sei. Diese überbetonung der zentralen Steuerung des Rechtssystems scheint mir weder wünschbar noch realisierbar zu sein. 35 Im einzelnen wird die Unbrauchbarkeit der allgemeinen Hermeneutik für die Rechtswissenschaft von Ralph Dreier (Fn. 16), S. 49, nachgewiesen. 38 Gegen die Anwendung der Hermeneutik und für die Verwendung empirischer Methoden bei der Ermittlung des geltenden Rechts spricht sich unter Hinweis auf die Zugehörigkeit des Rechts zur sozialen Wirklichkeit auch Hans Albert (Fn. 24), S. 89 - 92, mit Entschiedenheit aus.

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ist positiv gemeint, daß der Richter gebunden ist, soweit es um Fragen geht, die im Gesetzgebungsverfahren diskutiert und entschieden worden sind. Negativ ist damit gemeint, daß der Richter die Besonderheit eines Konflikts oder die Neuartigkeit einer Auswirkung seiner Entscheidung berücksichtigen darf, falls diese Momente im Rechtsetzungsverfahren nicht geprüft worden sind, mag das auf den Besonderheiten einer dabei übersehenen speziellen Gruppe von Konflikten oder auf einem inzwischen eingetretenen Wandel der sozialen Verhältnisse beruhen. Auch in diesen Fällen ist aber der Richter nicht einfach von einer rechtlichen Bindung befreit, sondern hat die dem geltenden Recht zu entnehmenden Wertentscheidungen sinngemäß auf die dort noch nicht entschiedenen Fragen zu übertragen. Methodisch folgt hieraus, daß bei der Ermittlung des rechtlich relevanten Sinns von Rechtsnormen die Konflikte zu analysieren sind, die Anlaß zum Tätigwerden der normsetzenden Instanz waren, und die Meinungsbildung, die jeder einzelnen Abstimmung vorausging, um die genaue Bedeutung der in der Abstimmung liegenden Willensbildung erfassen zu können. Dabei sind die Erkenntnisse der Politologie über die Faktoren der parlamentarischen Willensbildung zu berücksichtigen. So dürfen die Zusammenhänge bestimmter Meinungsströme im Parlament mit sozialen Gegebenheiten außerhalb des Parlaments, die erst die wirkliche Bedeutung und das politische Gewicht jener Meinungsströme erhellen, nicht außer acht gelassen werden. Die Bindung des Richters an das Recht geht weiter als seine Bindung an das Gesetz. Das Recht unterliegt, wie alle sozialen Phänomene, einem ständigen Wandel. Hierzu trägt nicht nur die Rechtsetzung, sondern (abgesehen von der ständigen Anwendung des Rechts durch seine Adressaten) auch die Rechtsprechung bei. Wenn auch in unserer Rechtstradition einer einzelnen Gerichtsentscheidung nicht die Qualität eines Rechtssatzes zukommt, muß doch eine das Recht als soziales Phänomen verstehende Rechtswissenschaft die tradierte These in Frage stellen, daß einer ständigen Rechtsprechung in keinem Fall Normqualität zukomme 37 • Praktisch orientiert sich längst nicht nur jeder Rechtsanwalt, sondern auch jeder Richter und jeder Rechtswissenschaftler weitgehend an der ständigen Rechtsprechung unserer höchsten Gerichte. Nur die Vorstellung, daß der Richter auch dort, wo er ein Gesetz fortentwickelt, lediglich eine unabhängig von seiner Entscheidung vorhandene geistige Realität des Rechts erkenne, hat bisher die Anerkennung der normierenden Komponente seiner Tätigkeit verhindert. 37 Martin Kriele (S. 243 ff.) hat bereits differenzierte Vorschläge für eine "Rechtsgewinnung aus Präjudizien" entwickelt, die einerseits ihre faktische Bedeutung für die Rechtsanwendung berücksichtigen, andererseits ausreichende Möglichkeiten für ihre Fortentwicklung offen lassen.

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Auch dort jedoch, wo der Richter das Recht fortentwickelt, steht er nicht außerhalb der Bindung an das Recht. Die Orientierung am geltenden Recht und die Orientierung an der sozialen Wirklichkeit bilden nicht zwei Bereiche von Fallgruppen, erstere für die vom Recht entschiedenen Fälle, letztere für die "Lücken" des Rechts, sondern zwei Aspekte, die jede richterliche Tätigkeit, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung, kennzeichnen. Selbst wenn, um das eine Extrem zu nennen, der Richter schlicht den von ihm zu entscheidenden Sachverhalt unter den Tatbestand einer Norm subsumiert, ist der Aspekt der Orientierung an der sozialen Wirklichkeit nachweisbar. Jede Subsumtion setzt ja die Bildung logischer Untersätze voraus. Um ein Beispiel zu nehmen, wo das Ergebnis der Subsumtion ganz eindeutig ist: Wenn ein Mann im Zorn den Zaun seines Nachbarn demoliert, wird der Richter nicht zögern, den Zaun als "Sache" im Sinne von § 303 StGB anzusehen und die Strafbarkeit zu bejahen. Die Strafbarkeit ist dabei die Schlußfolgerung, die sich aus der Subsumtion des Untersatzes "der Zaun ist eine Sache (im Sinne von § 303 StGB)" und weiterer Untersätze unter den Obersatz des § 303 StGB ergibt. Diese Untersätze, die erst eine Subsumtion ermöglichen, sind (unabhängig davon, ob Zweifel über sie bestehen oder nicht) eine Aussage des Richters und nicht des Gesetzgebers. Bei ihrer Bildung aber hat der Richter ständig darauf zu achten, daß die Ergebnisse seiner Entscheidungen, also die Schlußfolgerungen, den aus den Gesetzen ablesbaren Wertentscheidungen des Gesetzgebers entsprechen. Mag er sich im Einzelfall für die Subsumtion (wie oben) oder gegen sie (wie im Stromdiebstahl-Urteil des Reichsgerichts) entscheiden, in jedem Fall geht ein rechtspolitisches Element in seine Entscheidung ein, gewonnen aus einer Berücksichtigung der Auswirkungen der Entscheidung. Das andere Extrem bilden Entscheidungen, bei denen die Orientierung an der sozialen Wirklichkeit ganz im Vordergrund steht. Selbst wenn der Richter hierbei ausschließlich nach den Grundsätzen der Folgenanalyse vorgeht, muß er die von ihm prognostizierten Folgen bewerten, um zu einer Entscheidung kommen zu können. Bei der Folgenbewertung aber hat er sich an rechtlichen Kriterien zu orientieren, die er nur durch eine Analyse des geltenden Rechts gewinnen kann. Diese Orientierung an rechtlichen Kriterien wird regelmäßig einige der denkbaren Entscheidungsalternativen als im Widerspruch zur Rechtsordnung stehend ausscheiden lassen. Häufig wird sich jedoch der Kreis der verbleibenden Alternativen nicht auf eine einzige reduzieren lassen, und zwar oft gerade wegen unauflösbarer Schwierigkeiten bei der Konkretisierung allgemeiner Wertentscheidungen des geltenden Rechts.

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VI.

Gerade an diesem Punkt scheitern viele Versuche, eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Methodenlehre zu entwickeln. Dabei wird übersehen, daß es sich um ein Scheinproblem handelt, das durch die Gleichsetzung von wissenschaftlicher Methodik mit der Methodik richterlichen Entscheidens entstanden ist. Es löst sich auf, wenn man erkennt, daß nur der Wissenschaftler seine Aussagen in einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Weise zu begründen hat, während nur der Richter sich für eine bestimmte Lösungsalternative entscheiden muß, auch wenn nach wissenschaftlichen Kriterien mehrere Alternativen gleichwertig sind. Im vorstehenden wurde diese notwendige Unterscheidung zwischen richterlicher und wissenschaftlicher Methodik noch nicht durchgeführt. Sie ist notwendig S8, weil es sich beim richterlichen Entscheiden und beim wissenschaftlichen Erkennen um unterschiedliche Funktionen mit unterschiedlichen Zielen handelt. Funktion des Richters ist die verbindliche Entscheidung eines Konflikts. Hierzu ist der Richter kraft seines Amtes berechtigt und verpflichtet39 • Dabei unterliegt er wie jeder andere Amtswalter rechtlichen Bindungen. Diese rechtlichen Bindungen erstrecken sich auch auf die Methoden der Rechtsanwendung'°. Es sei nur daran erinnert, daß die Bindungswirkung richterlicher Vor-Entscheidungen in unserer Rechtsordnung anders geregelt ist als im Bereich des Common Law (Vorrang älterer vor jüngeren Präjudizien). Im übrigen ist die Rechtsanwendung für die verschiedenen Verfahrensarten unterschiedlich geregelt. Bekannt ist das Analogieverbot im Strafrecht. Weniger bekannt ist die freiere Stellung des Richters in all den Fällen, wo ihm die Entscheidung von Interessenkonflikten übertragen ist, gegenüber denjenigen Fällen, wo er zu beurteilen hat, ob der Gesetzgeber oder eine Verwaltungsbehörde Handlungsnormen verletzt hat41 • Diese Beispiele belegen, 38 Von der Notwendigkeit dieser Differenzierung geht auch Wolfgang Naucke (Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972) aus,

wenn er in gesonderten Abschnitten die Relevanz der Sozialwissenschaften für die Rechtsanwendung (S. 34 ff.) und für die Rechtswissenschaft (S. 55 ff.) untersucht. 39 Die demokratische Legitimation des Richters ist allerdings mit der Aufgabe des juristischen Determinismus problematisch geworden. Hierzu und zum Zusammenhang zwischen dem Legitimationserfordernis und der Begründungspflicht siehe Fridel Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, Eine erkenntniskritische Analyse der Drittwirkungskontroverse, 1974, bes. S. 15 - 23. 40 So führt Rupert Schreiber (Die Geltung von Rechtsnormen, 1966, S. 158) aus, die Wahl der Mittel der Auslegung sei deshalb notwendig rechtlich gebunden, weil die Auslegung über den Geltungsumfang der Rechtsnormen entscheide. 41 Näheres dazu siehe in meiner Dissertation, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz, 1958, S. 43 ff.

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daß bei der richterlichen Tätigkeit auch die Rechtsanwendung zumindest teilweise rechtlich geregelt ist. Der Rechtswissenschaftler kann sich dagegen seine Forschungsmethoden nicht vom Recht vorschreiben lassen. Dieses bildet den Gegenstand seiner Forschungen, während sich seine Forschungsmethoden ausschließlich nach wissenschaftlichen Kriterien zu richten haben. Schon deshalb ist es verfehlt, die vom Erfordernis der Rechtmäßigkeit geleitete Tätigkeit eines Richters der vom Erfordernis der Wissenschaftlichkeit geleiteten Tätigkeit eines RechtswissenschaftIers gleichzusetzen. Die Verschiedenheit ihrer Funktionen aber bedingt Unterschiede in der von ihnen anzuwendenden Methodik. Ferner ist zu berücksichtigen, daß der Richter verbindlich entscheidet, während der Wissenschaftler nur Entscheidungsvorschläge machen kann. Auch muß der Richter stets eine Entscheidung treffen, während der Wissenschaftler nicht unter Entscheidungszwang steht. Gerade dieser Unterschied hat weitreichende Konsequenzen. Die Wissenschaft bezieht sich, welchem Wissenschaftsbegriff man auch anhängen mag, auf das Erkennen und nur hierauf. Wissenschaftlichkeit können daher nur Aussagen beanspruchen, die Erkenntnisse beinhalten. In die richterliche Entscheidung gehen jedoch nicht nur Erkenntnisse, sondern auch nicht von Erkenntnissen getragene Willensakte ein. Letztere lassen sich nicht verwissenschaftlichen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die Zahl der denkbaren Entscheidungsalternativen mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis nicht auf eins reduzieren läßt. Die Entscheidung für eine der verbliebenen Entscheidungsalternativen, die der Richter treffen muß und die der Rechtswissenschaftlicher regelmäßig gleichfalls trifft, kann nicht Wissenschaftlichkeit beanspruchen. Ein Wissenschaftler, der ehrlich genug ist, dies zuzugeben, braucht die Entscheidung im Gegensatz zum Richter nicht zu treffen, sondern kann sich auch mit der Aufzählung der gleichwertigen Entscheidungsalternativen begnügen, weil er nicht unter Entscheidungszwang steht. Auch soweit in die richterliche Entscheidung Erkenntnisse eingehen, wird man vom Richter regelmäßig nicht die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnismethoden verlangen können, weil ihm, mag seine Vorbildung hierfür ausreichen oder nicht, jedenfalls seine starke Belastung nicht die hierfür erforderliche Zeit läßt. Es wäre eine lohnende Aufgabe für die Rechtswissenschaft, Techniken richterlichen Entscheidens zu entwickeln, welche der zeitlichen Begrenzung des richterlichen Entscheidungsprozesses Rechnung tragen42 • Die Anwendung der oben genannten wissenschaftlichen Methoden zur Sinnermittlung von 42 Eine konsequent auf richterliche Entscheidungen ausgerichtete Begründungstheorie entwickelt Fridel Eckhold-Schmidt (Fn. 39), bes. S. 16 ff., 66 ff. und 90 ff.; eine Abgrenzung gegenüber der rechtswissenschaftlichen Methodik liegt ihr allerdings fern.

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Rechtsnormen und zur Folgenanalyse wird jedenfalls schon aus diesem Grund regelmäßig den Wissenschaftlern vorbehalten bleiben müssen.

VII. Es lohnt sich, zum Schluß noch einmal einen Blick auf den eingangs erwähnten Aufsatz von Eberhard Menzel zu werfen. Er wurde vor ziemlich genau zehn Jahren geschrieben, zu einer Zeit also, als erst wenige Autoren für eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Rechtswissenschaft eintraten. Dementsprechend fehlt im Aufsatz jeder ausdrückliche sozialwissenschaftliche Bezug. Gleichwohl aber spricht aus der ganzen Arbeit eine klare Einsicht in die Zusammenhänge zwischen dem Recht und der sozialen Wirklichkeit einerseits, der Rechtsanwendung und ihrer wissenschaftlichen Erforschung andererseits. Zunächst bemüht sich Menzel um die Ermittlung des vorgegebenen Sinns der Verfassung. Wenn er sich dabei auch der traditionellen Auslegungsmethoden bedient, rückt er doch praktisch schon vom hermeneutischen Ansatz ab und befürwortet der Sache nach eine Analyse der Willensbildungsprozesse, die zum Anlaß des Gesetzes geführt haben (unter Einbeziehung der späteren Rechtsfortbildung aufgrund sozialer Veränderungen), wenn er schreibt43 , "daß es gerade beim Erlaß von Gesetzen schwer sein wird, die vielfach ungeäußert gebliebenen Motivationen der einzelnen Legislatoren zu ermitteln und eine Mehrheitsmeinung festzustellen. Selbst wenn Äußerungen einzelner Abgeordneter vorliegen, bedeutet dies noch nicht, daß alle Schweigenden diese Auffassungen teilen. Beim Erlaß von Rechtsnormen im Parlament handelt es sich um einen Objektivierungsvorgang. Diese Erkenntnis hat Radbruch in die Worte gefaßt, das Gesetz sei klüger als der Gesetzgeber. Wenn dem aber so ist, kommt es auf den individuellen Willen der Legislatoren nicht mehr an. Ist damit schon der ,Wille des Gesetzgebers' als Ausdeutungsmaßstab weitgehend relativiert, so kommt noch hinzu, daß eine für verbindlich erklärte Norm ihr Eigenleben führt und bei Veränderung der soziologischen oder politischen Umwelt eine Bedeutung erhalten kann, die ihr ursprünglich nicht eigen war und die gar nicht vorausgesehen werden konnte". Der ganze erste Teil des Aufsatzes, in dem sich Menzel um eine Ermittlung des der Verfassung (unabhängig von seiner persönlichen Meinung) immanenten Sinns bemüht, ist mit vorbildlicher Deutlichkeit von der Begründung des eigenen Lösungsvorschlags abgesetzt. Die Abgrenzung dieser beiden Teile hindert Menzel jedoch nicht daran, die aus der Verfassung abgeleiteten Aussagen über die Funktionen von Bundespräsident und Bundeskanzler zum Kriterium der Bewertung der verschiedenen Lösungsalternativen zu machen. Wenn Menzel dabei 43

Menzel (Fn. 2), S. 583.

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auch keine Folgenanalyse im eigentlichen Sinn durchführt, machen seine Begründungen doch allenthalben deutlich, daß er die Folgen bedacht und durch ihre Bewertung zu seinen differenzierten Lösungsvorschlägen gekommen ist. Aufs Ganze gesehen hält daher die von Menzel im Jahre 1965 angewandte Methodik auch einer durch ein weiteres Jahrzehnt wissenschaftlicher Methodenreflexion geschärften Kritik stand.

11. Staatliche Ordnung

Der staatlich geplante Bürger Verfassungsrechtliche Bemerkungen zu den Richtlinien für den Politik-Unterricht des Landes Nordrhein-Westfalen

Von Christian Tomuschat 1.

Im Oktober 1974 hat der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen eine zweite Auflage der erstmals im Jahre 1973 erschienenen "Richtlinien für den Politik-Unterricht" (damals unter dem Titel: "Richtlinien für den Politischen Unterricht") veröffentlicht (im folgenden: RPU). Wie es im Vorwort des Ministers heißt, hat man bei dieser Neufassung "eine Reihe mißverständlicher oder der Fehldeutung ausgesetzter Stellen klar formuliert" und einen neuen Abschnitt über das Verhältnis des Politik-Unterrichts zu Verfassung und Rechtsordnung sowie einige andere Passagen neu aufgenommen, "die dem Fachlehrer selbstverständlich erscheinen mögen, aber der breiten öffentlichen Diskussion und dem Bedürfnis einer sehr differenzierten Leserschaft entgegenkommen "1. In der Tat hatten die Richtlinien in ihrer ursprünglichen Version eine lebhafte politische Kontroverse erzeugt2 , wobei nicht zuletzt der Vorwurf erhoben worden war, es handele sich um den Versuch einer Indoktrination der Schüler mit marxistischem Gedankengut. Auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten waren zumindest einige der in den Richtlinien ausgewiesenen Lernziele sowie Teile des gleichzeitig herausgegebenen Planungsmaterials beanstandet worden3 • Offensichtlich sollten die erkannten Fehler durch die Neuauflage bereinigt werden. Stehen geblieben ist aber nach wie vor das grundlegende Konzept, welches von Anfang an verfolgt worden ist, nämlich bestimmte 1 Der Kultusminister des Landes NRW, Richtlinien für den Politik-Unterricht, 2. Auf!. 1974, S. 5. 2 Verwiesen sei allein auf die Debatten des nordrhein-westfälischen Landtags: 5.4.1973, Plenarprotokoll 7172, S. 2760 - 2777 (zum Entwurf); 29.5.1974, Plenarprotokoll 71102, S. 4152 - 4167; 9. 7. 1974, Plenarprotokoll 7/lO6, S. 4311 4312, 4316 - 4332. 3 J. A. Frowein, Erziehung zum Widerstand?, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, 1974, S. 579 ff.

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"Qualifikationen" des Schülers anzustreben. In der Erstauflage waren diese Qualifikationen näher umschrieben worden als "Verhaltensdispositionen, die es dem Bürger ermöglichen, gesellschaftlich-politische Lebenssituationen zu bewältigen"4. Die RPU umfassen zehn Qualifikationen dieser Art, aus denen dann im Wege der Ableitung Lernziele I. und II. Ordnung gewonnen sind. In einem klarstellenden Vermerk heißt es ausdrücklich, die Reihenfolge der Qualifikationen sei nicht als Rangfolge zu betrachten5 • Ein Beispiel soll das Gesagte näher verdeutlichen. Die Qualifikation 1 der geltenden Fassung der RPU lautet wie folgt: "Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche und politische Ordnungen einschließlich ihrer Zwänge und Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft hinzunehmen, sondern auf ihren Sinn, ihre Zwecke und Notwendigkeiten hin zu befragen und die ihnen zugrunde liegenden Interessen, Normen und Wertvorstellungen kritisch zu überprüfen." Dieser Qualifikation zugeordnet sind drei Lernziele I. Ordnung, von denen eines (1.3) lautet: "Fähigkeit zu demokratisch legitimiertem Widerstand gegen nicht akzeptierbare Unterordnung und gesellschaftliche Abhängigkeit." Daraus wiederum sind fünf Lernziele II. Ordnung deduziert, von denen das erste (1.3.1) wie folgt definiert ist: "Fähigkeit zu beurteilen, ob Abhängigkeiten und gesellschaftlicher Druck die Entfaltung der Persönlichkeit unzumutbar einengen." Der damit entworfene Raster soll im Politik-Unterricht an verschiedenen Inhalten durchexerziert werden. Einzelne Beispiele dafür geben die Planungsmaterialien, die für die Hand des Lehrers bestimmt sind und die eine Ergänzung finden in den Arbeitsmaterialien, die der Schüler benutzen soll. Verbindlichkeit ist nur den Qualifikationen und den Lernzielen beigelegt, während die Themenwahl dem Lehrer freigestellt ist6 • Didaktische Erfahrungen aus der Schulpraxis sollen Anlaß sein für eine weitere, bereits in Aussicht gestellte überarbeitung. Die mit den RPU verfolgte Zielsetzung könnte kaum anspruchsvoller gedacht sein. Der auf ihrer Grundlage stattfindende Unterricht soll die "Entwicklung des politisch mündigen Bürgers" fördern, "der seine Freiheitschance wahrnehmen, Steuerungsprozesse durchschauen und Steuerungsmittel handhaben kann"7. Ausdrücklich wird das Endprodukt einer solchen Erziehung als der Bürger bezeichnet, "wie ihn das Grundgesetz zu seiner Verwirklichung braucht"8. Offenbar ist es also , Der Kultusminister des Landes NRW, Richtlinien für den Politischen Unterricht, 1973, S. 9. 5 Anm. 1, S. 14. e Anm. 1, S. 3I. 7 Anm. 1, S. 5. 8 Anm.1, S. 5.

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die Meinung der Verfasser der RPU, daß die konsequente Verwirklichung ihrer Intentionen geeignet sei, ein Idealbild des Citoyen hervorzubringen. Diese Meinung kann nicht nur im Hinblick auf die Eigenschaften, welche dem perfekten Staatsbürger beigelegt werden, besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, sondern wirft auch die grundsätzliche Frage auf, inwieweit der Staat, handelnd durch seine Schulen, überhaupt berechtigt ist, die Aktivbürger von morgen nach einem Reißbrettentwurf zu planen und zu modellieren. Darf der Schüler derart massiv zum Zielpunkt pädagogischer Beeinflussung gemacht werden? Die Frage lohnt eine nähere Untersuchung, auch wenn griffige Antworten sich nicht ohne weiteres einstellen.

11. 1. Die Lernzielorientierung der RPU ist das Ergebnis einer ganz bestimmten pädagogisch-didaktischen Strömung, die seit einer Reihe von Jahren in den Erziehungswissenschaften die Oberhand gewonnen hat. Wegbereitend wirkte das im Jahre 1967 erschienene Buch von Saul B. Robinsohn: "Bildungsreform als Revision des Curriculum", das sich auch die Verfasser der RPU zum Ausgangspunkt gewählt habenD. Robinsohn geht in diesem Werk von der Überlegung aus, daß die Erziehung die Aufgabe habe, Lebenshilfe zu geben, dem Schüler also bestimmte Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die ihn in die Lage versetzen, Lebenssituationen zu bewältigen. Von dieser Erwägung aus erschien es Robinsohn sinnvoll, dem Schüler nicht nur bestimmte Unterrichtsstoffe vorzusetzen, sondern den Lernerfolg aus seiner Perspektive zu beschreiben als den Erwerb eben jener jeweils fachspezifisch festgelegten - Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten, abgekürzt: Qualifikationen10• Dieser Sprachgebrauch hat sich in der Folgezeit durchgesetzt und schließlich eine amtliche Sanktionierung nicht nur in den hier erörterten Richtlinien, sondern auch in dem von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung im Jahre 1973 verabschiedeten Bildungsgesamtplan erhalten, wo Lernziele definiert werden als "Qualifikationen, die angestrebt werden sollen"l1. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Qualifikation steht das "Curriculum" als zusammenfassender Begriff für ein wissenschaftlich ausgeklügeltes Verfahren zur Realisierung von Lernzielen. In einer recht e W. Gagel, Sicherung vor Anpassungsdidaktik? Curriculare Alternativen des politischen Unterrichts: Robinsohn oder BlankeTtz, in: R. Schörken (Hrsg.), Curriculum "Politik". Von der Curriculumtheorie zur Unterrichtspraxis, 1974, S. 15, 21 ff. 10 S. B. Robinsohn, Bildungsreform als Revision des Curriculum, 1967, S. 45. 11 Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, Bildungsgesamtplan, 1973, Bd. 1, S. 72.

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bürokratischen Sprache präzisiert der Bildungsgesamtplan das Curriculum als "ein System für den Vollzug (!) von Lernvorgängen im Unterricht in bezug auf definierte und operationalisierte Lernziele"12. Schon der Ausdrucksmodus läßt unmißverständlich erkennen, daß das Curriculum als ein Instrument möglichst effizienter, zupackender Einwirkung auf den Schüler angelegt ist. "Operationalisiert" oder konkretisiert sollen die Lernziele deshalb sein, damit der Lernfortschritt, in Einzeletappen zerlegt, einer empirischen Messung und Überprüfung zugänglich wird13 • Insgesamt verwandelt also das Curriculum den Unterricht in ein Verfahren, das sowohl hinsichtlich der Zielsetzungen, der didaktischen Verfahren zur Umsetzung dieser Zielsetzungen und schließlich auch im Hinblick auf die Erfolgskontrolle gleichsam naturwissenschaftlichen Präzisionsansprüchen genügen soll. Den Unterricht nach curricularen Vorstellungen zu strukturieren, ist sicher vom rechtlichen Standpunkt aus unproblematisch, soweit es um technische Fähigkeiten geht, wie sie namentlich in den naturwissenschaftlichen und in den Sprachfächern erworben werden müssen. In der Tat kann dort der Lernerfolg zweckmäßig als "Verhaltensänderung" angegeben werden: Für das Fach Mathematik etwa läßt sich genau festlegen, zur Ausführung welcher Denkoperationen ein Schüler in einem bestimmten Zeitpunkt in der Lage sein muß. Eine ganz andere Dimension gewinnt aber die Lernzielorientierung, wenn sie auf Disziplinen übertragen wird, deren Beherrschung mehr verlangt als den Einsatz des intellektuellen Potentials. Die sozialwissenschaftlichen Fächer vor allem lassen sich im Wege einer bloßen Deskription nicht angemessen behandeln. Eher als durch den Stoff wird die Einheit des Gegenstandes häufig durch die an ihn herangetragenen Fragestellungen konstituiert. Schon der Unterrichtende kann sich dort niemals auf die Rolle des bloßen neutralen Stoffvermittlers zurückziehen. Im Hinblick auf den Schüler stellt sich folglich die Grundsatzfrage, ob solche Werthaltungen auch in die Lernzielkataloge aufgenommen werden können. Die Verfasser der RPU haben offenbar keinen Zweifel daran gehabt, daß gerade Lernziele solcher Art für den Politik-Unterricht formuliert werden müßten. Nicht eine einzige der zehn Qualifikationen läßt sich als wertneutral bezeichnen. So wäre etwa die bereits wörtlich wiedergegebene Qualifikation 1 als Schärfung der Einsichts- und Erkenntnisfähigkeit des Schülers in bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse keineswegs zutreffend wiedergegeben. Angestrebt ist Überprüfung der traditionellen Ordnungen, ja man wird ohne weiteres von einer Aufforderung zur kritisch-distanzierten Analyse der gesellschaftlichen Anm.ll. Dazu das Standardwerk von R. F. Unterricht, 1965, passim. 12

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Lernziele und programmierter

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Wirklichkeit sprechen können. Stillschweigende Voraussetzung dabei ist, daß manche der das Individuum umgebenden kollektiven Bindungen sich bei näherem Hinsehen als Zwänge entlarven werden, die der inneren Rechtfertigung entbehren. Die Verfasser der RPU werden dieser Deutung gewiß zustimmen, ist doch ihr Leitbild erklärtermaßen der mündige, emanzipierte Bürger, der sich aus Bindungen befreit, die ihn in seiner Selbstentfaltung behindern14. Wolfgang Klafki hat den qualitativen Unterschied zwischen den bei den Arten von Lernzielen ausdrücklich hervorgehoben. Von den als geistigen Werkzeugen "ambivalent" verwendbaren technisch-intellektuellen Fähigkeiten unterscheidet er die "emanzipatorischen Lernziele", die "direkt auf Distanzierung von vorgegebenen Verhältnissen, auf Kritikfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Motivation zur produktiven Veränderung des Bestehenden gerichtet sind"15, und mißt ihnen entscheidende Bedeutung für die Erziehung insgesamt zu. 2. Für den Juristen, dem die Unterscheidung zwischen den Kategorien von Sein und Sollen zu einer selbstverständlichen Denkhaltung geworden ist, auch wenn er weiß, daß der Realitätsbezug der Norm ihre raison d'etre ausmacht, liegt es auf der Hand, daß eine Entscheidung über Erziehungsziele nicht aus einer platten Bestandsaufnahme der Wirklichkeit abgeleitet werden kann, sondern nach normativen Maßstäben verlangt. Zu Recht haben daher die Verfasser der RPU von Anfang an versucht, ihr Werk in die Rechtsordnung einzubetten und von dorther ihre Wertvorstellungen zu beziehen. Freilich treten die Mängel des von ihnen eingeschlagenen gedanklichen Verfahrens bei auch nur flüchtiger Lektüre sofort zutage. Von der Verfassung des Landes NRW, die sich in sehr detaillierter Weise über das Schulwesen äußert und die in Art. 7 einen ganzen Katalog von Erziehungszielen formuliert, ist an keiner Stelle die Rede, auch nicht in der verbesserten Neuauflage von 1974; ebensowenig wird das Schulordnungsgesetz erwähnt1 6 • über die Gründe für dieses Versäumnis kann man nur Vermutungen anstellen. Sollte den Verfassern der RPU entgangen sein, daß die Landesverfassung dem Unterricht eine bestimmte Grundrichtung vorschreibt? Auch ein Blick in den Theorieband17 , in dem die Angehörigen der mit dem Entwurf des Curriculums beauftragten Kommission 14 GageI, Anm. 9, S. 30; ders., Zur Frage der Legitimation von Richtlinien für den poltiischen Unterricht, Neue Sammlung (NS), 1974, 87, 96 f.; Schörken, Lernen als Verhalten - Unzumutbare Steuerung oder Chance neuer Lehrplanentwicklung?, NS 1974, 111, 120. 15 Von der Lehrplantheorie zur Curriculum-Forschung und -Planung, in: Klafki u. a., Erziehungswissenschaft 2 (Funk-Kolleg), 1970, S. 74, 84 f. 18 Vom 8.4. 1952, GV NW S. 430 = Hippel/ Rehborn, Gesetze des Landes NRW,Nr.75. 17 Vgl. oben Anm. 9.

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ihre Ausgangserwägungen dargelegt haben, verhilft zu keiner größeren Klarheit. Zwar wird dort in einem Abschnitt im wesentlichen in Form von Exzerpten das politische System der Bundesrepublik skizziert18, doch fehlt jeder Hinweis auf die Eigenverantwortung der Länder im Kulturbereich. Die Landesverfassung wird mit totalem Stillschweigen übergangen. Auch die Anknüpfung an das Grundgesetz ist äußerst undeutlich gehalten, wobei freilich hier die Neuauflage gegenüber der Erstfassung gewisse Fortschritte erkennen läßt. In der Erstfassung wies der Minister in seinem Vorwort auf das "Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland" hin1', und in den einleitenden Bemerkungen war dann noch einmal kurz die Rede von dem "Konsensus, wie er in den Grundrechten gegeben ist"20; an einer anderen Stelle wurden die Art. 1 und 2 GG als "Bezugspunkt für die Konfliktaustragung" charakterisiert21 • Der in der jetzt geltenden Fassung neu eingefügte Abschnitt 1.4: "Das Verhältnis des Politik-Unterrichts zu Verfassung und Rechtsordnung", hat zwar manche Klarstellungen gebracht, doch hat er sich als nachträgliche Korrektur auf die Gewinnung und Feststellung der primären Lernziele nicht mehr oder doch nur in Randpunkten auswirken können. Auch wer sich von den im Theorieband enthaltenen Ausführungen nähere Aufschlüsse erhoffen mochte, wird enttäuscht. Zwar findet er die bereits genannte Materialsammlung über das politische System der Bundesrepublik vor, doch wird ihm an keiner Stelle mitgeteilt, wie denn nun eigentlich dieses Material verarbeitet und in die überlegungen zur Bestimmung der zehn Qualifikationen eingebracht worden ist. Ein Aufsatz von Dieter Menne über das "Verfahren zur Gewinnung von Qualifikationen und Lernzielen"22 schildert lediglich in abstrakter Weise, wiederum in Anlehnung an Robinsohn, den wissenschaftlichen Prozeß, in dem sich die Kommissionsarbeit vollzogen hat. Von welchen Gesichtspunkten man sich in der Sache hat leiten lassen, wird aber gerade verschwiegen. Man erfährt lediglich, daß insbesondere die didaktische Literatur zur politischen Bildung wichtige Hilfestellungen gegeben habe und daß die zunächst versuchsweise entworfenen Lernziele "in einem langwierigen Prozeß miteinander verglichen, gruppiert und kategorisiert" worden seien; den letzten Ausschlag habe dann die Plenumsdiskussion gegeben23 • Mit anderen Worten, eine normative Deduktion hat nicht stattgefunden, entscheidend war vielmehr das sub18

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S. 107 - 129. Anm. 4, S. 5. Anm. 4, S. 7. Anm. 4, S. 17. In: Curriculum .,Politik" (Anm. 9), S. 197 - 201. Anm. 22, S. 199.

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jektive, allerdings fachpädagogisch gestützte Gutdünken der Kommissionsmitglieder. Nirgendwo wird erläutert, weshalb gerade die zehn ausgewählten Qualifikationen als Beschreibung des mündigen Bürgers sollen gelten können. Auch die RPU selbst enthalten keine Begründung, sondern jeweils nur eine Beschreibung. Angesichts des von der Curriculum-Forschung erhobenen Anspruchs, erstmals die Grundlage für ein wissenschaftliches - was insbesondere heißen muß: transparentes und damit nachprüfbares - Verfahren der Gewinnung von Lernzielen gelegt zu haben, muß dieser Befund desillusionierend wirken. Trotz des wiederholt gegebenen Hinweises auf das "Selbstverständnis" der Bundesrepublik vermag der Leser daher den Verdacht nicht loszuwerden, daß es im Grunde die politischen Richtigkeitsvorstellungen der Erziehungswissenschaftler sind, welche jenes Selbstverständnis konstituieren sollen. Für diese Vermutung erhält er zusätzliche Nahrung, wenn er in dem grundlegenden Aufsatz von Walter Gagel auf die Aussage stößt, das Selbstverständnis sei "weder eindeutig zu lokalisieren noch eindeutig zu definieren", während es im gleichen Atemzuge mit großer Unbefangenheit heißt, eine Deduktion aus Verfassungsnormen scheide aus, weil diese wie Art. 1 GG auslegungsbedürftig oder sonst auslegbar seien. Im übrigen würde die Lernzielbestimmung in Anlehnung an die Verfassung die Entscheidung im Grenzfall - horrible dictu! - an das BVerfG delegieren24 • 3. Klarer könnte die Grundsatzfrage kaum gestellt werden. Hier erhebt eine sozial wissenschaftliche Disziplin in unverhüllter Form einen Führungsanspruch im Hinblick auf die Festlegung von allgemeinverbindlichen materiellen Wertgehalten25 , indem sie die durch Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG statuierte Bindung aller Staatsgewalt an Gesetz und Recht gerade im Kernbereich der Verfassung (Art. 1 GG!) mit dem hochbequemen Argument für irrelevant erklärt, daß ja doch alles umstritten sei. Dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber verfassungsrechtlichen Determinanten ist auch sonst im erziehungswissenschaftlichen Schrifttum anzutreffen, wobei im Grunde nur eine Tradition fortgeführt wird, die früher das Goethewort von der "pädagogischen Provinz" gebrauchte, um die Autonomie der Erziehung gegenüber aller Politik zu postulieren26 • So taucht etwa in den überlegungen von KarlAnm. 9, S. 32. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff., kann voll zugestimmt werden, wenn er ein Monopol der Juristen für die Verfassungsauslegung ablehnt. Hier aber wird die Verfassung schlicht beiseitegestellt. 28 Führende und oft zitierte Vertreter dieses Konzepts einer "Autonomie der Pädagogik" sind Th. Litt, Führen oder wachsen lassen?, 12. Auf!. 1965, insbes. S. 122 ff.; H. Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 7. Auf!. 1970, insbes. S. 124 - 145; E. Weniger, Die Autonomie 24

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Christoph Lingelbach 27 zur Erstellung eines Curriculums für die poli-

tische Bildung das Grundgesetz als Begriff nicht an einer einzigen Stelle auf, und es ist nur in unklarer Weise von "sozio-kulturellen Normen" sowie von "Werten und Normsystemen" die Rede 28 • Bloße tatsächliche Verhaltenserwartungen, moralische Forderungen und RechtsregeIn werden damit zunächst einmal in einen Topf geworfen, um dann wieder ausgelesen, sortiert und kritisiert werden zu können eine Behandlung, die selbst Verfassungsnormen zu einem Gegenstand degradiert, der zunächst einmal das Filter der wissenschaftlichen Legitimationsinstanz durchlaufen muß. Andere Autoren scheuen sich nicht, das Grundgesetz mit ihren eigenen Wertpräferenzen zu besetzen, ohne auch nur dem juristisch weniger versierten Leser anzudeuten, daß sie damit eine Außenseiterposition beziehen. So folgert Hermann Giesecke in seiner zum Standardwerk gewordenen "Didaktik der politischen Bildung" aus dem Zentralbegriff der Emanzipation die notwendige "politische Parteilichkeit" des Unterrichts29 . Die Verfassung bezeichnet er als einen "formalen Boden", auf dem sich allerlei Gruppen bewegen könnten, "die zwar nicht verfassungsfeindlich sind" - immerhin wird ihnen das konzediert -, die sich aber aufgrund ihrer Interessenbindungen gegen jeden Demokratisierungsfortschritt wenden müßten 30 • Insgesamt sei das Grundgesetz zu verstehen als "Ausdruck eines langfristigen historischen Emanzipations- und Demokratisierungsprozesses", so daß es darauf ankomme, seine "fortschrittlichen Implikationen" aufzugreifen31 . Demgemäß verschwendet er an die Grundrechte im liberal-freiheitlichen Sinne keinen Gedanken, sondern deutet sie generell als Aufträge, als vom Gesetzgeber "einzulösende Versprechungen"32. Schließlich sei noch Hans-Hermann Hartwich genannt, der in der Tat zutreffend feststellt, daß die Festlegung eines Curriculums ein eminent politischer Vorgang sei33 , dann aber sofort die Forderung erhebt, daß zwischen den verschiedenen möglichen Konzeptionen der Pädagogik, in: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, 1952. Das juristische Schrifttum macht einhellig Front gegen den Eigenständigkeitsanspruch, vgl. etwa Stock, Pädagogische Freiheit und politischer Auftrag der Schule, 1971, passim, insbes. S. 241; A. v. Campenhausen, Erziehungsauftrag und staatliche Schulträgerschaft, 1967, S. 25 f.; K.-J. Heymann / Ekkehart Stein, Das Recht auf Bildung, AöR 97 (1972), S. 185, 188. n Zum Verhältnis der "allgemeinen" zur "besonderen" Didaktik, in: Erziehungswissenschaft 2 (Anm. 15), S. 93. !8 S. 101. 2U Didaktik der pol tischen Bildung, 8. Aufl. 1973, S. 126, 131. 30 S. 127 f. 31 S. 129, 131. 32 S. 129 - 131. 33 Demokratieverständnis und Curriculumrevision, Gegenwartskunde 1973, 141, 142, 145.

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von Demokratie eine klare normative Option zugunsten desjenigen Verständnisses getroffen werden müsse, welches für eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche eintritt34 • 4. Die Aufzählung sei an dieser Stelle abgebrochen, da es ja nur darum gehen kann, repräsentative Beispiele vorzuführen. Ein Fazit läßt sich gleichwohl ziehen. Es lautet, daß die RPU im wesentlichen gängige Vorstellungen einiger heute als führend angesehener Vertreter der Erziehungswissenschaften widerspiegeln, während richtungweisende normativ-rechtliche Prämissen unberücksichtigt geblieben sind. Völlig übergangen hat man jedenfalls die Landesverfassung, obwohl diese anders als das Grundgesetz eine direkte Aussage über die Ziele enthält, welche schulische Erziehung anzusteuern hat. Das ist mehr als ein Schönheitsfehler. Kaum ein schwererer Angriff auf den Föderalismus könnte geführt werden, als wenn man in den Ländern selbst zu erkennen gibt, daß man mit der eigenen Verfassungsordnung nichts Rechtes anzufangen weiß95.

III. 1. Unbeantwortet ist bisher die Frage geblieben, nach welchen Richtpunkten Lernziele festzulegen sind und wo die Grenzen des erzieherischen Zugriffs auf den jungen Menschen verlaufen. Den Verfassern der RPU ist es offenbar nur als ein technisches Problem erschienen, ob es in praxi gelingen kann, den Staatsbürger hervorzubringen, den man zunächst am Reißbrett entworfen hat, während grundsätzliche Zweifel an der Zulässigkeit einer solchen Planung in ihrer Selbstdarstellung jedenfalls nicht zu bemerken sind. Dementsprechend beschränken sich die RPU nicht darauf, dem Lehrer die Förderung bestimmter Kenntnisse aufzugeben, ja um Kenntnisse geht es nur am Rande. Im wesentlichen wird verlangt, daß alle möglichen wertenden Erkenntnisse und Einsichten, sogar "Bereitschaften", zu wecken seien. So soll etwa im Rahmen der Qualifikation 1 gelernt werden die "Fähigkeit und Bereitschaft, eigene Gefühle, Widerstände und Bedürfnisse, die der Annahme notwendiger gesellschaftlicher Zwänge entgegenstehen, wahrzunehmen und die daraus entstehenden Spannungen zu verarbeiten" (Lernziel 1.2.3). Es ist hier nicht der Ort, das einer solchen Vorschrift zugrunde liegende didaktische Konzept zu kritisieren. Immerhin sei 34

S. 152 f.

Kritisch auch G. Dürig, in: Maunz I Dürig I Herzog, GG, 3. Aufl. 1973, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 94. Zu Recht tadelnd daher die CDU-Opposition im Landtag von NRW in der Aussprache vom 29. 5. 1974 (Anm. 2), S. 4153, der der Kultusminister lediglich entgegenhielt, Lernziele für den Mathematikund Englisch-Unterricht könnten aus der Verfassung nicht abgeleitet werden (S. 4155 B). 35

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als Grundlage für die nachfolgenden rechtlichen Erwägungen - angemerkt, daß vor allem Wolfgang Geiger36 geltend gemacht hat, es bestehe ein grundlegender Unterschied zwischen der bloßen Wissensvermittlung als einem in Teilschritte aufzulösenden Instruktionsprozeß und den Reflexionsprozessen, durch die allein Einsichten in von Wertgesichtspunkten bestimmte politische Zusammenhänge erworben werden könnten. Mündigkeit sei nicht operationalisierbar, d. h. lasse sich nicht in einzelne Teilelemente zerlegen, die in ihrer Rekonstruierung dann das gewünschte Ganze ausmachten37 • 2. Unmittelbar verwertbare Aussagen über Bildungs- oder Erziehungsziele enthalten von den geltenden Verfassungsgesetzen lediglich einige Landesverfassungen (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland), nicht jedoch das Grundgesetz. Dessen Zurückhaltung ist leicht erklärlich. Sie ergibt sich aus der Dominanz der Länder im Kultusbereich. Soweit den Länderverfassungen einschlägige Normativbestimmungen fehlen (Hamburg, Niedersachsen, Schieswig-Hoistein, Berlin), hat der Landesgesetzgeber die Lücke jeweils durch das Schulgesetz geschlossen 38• Die Lektüre dieser Vorschriften gibt ein Bild, das im ersten Augenblick geradezu verwirrend erscheinen muß. Immerhin bieten aber die von der Rechtswissenschaft bereits unternommenen Kategorisierungsversuche eine wesentliche Erleichterung bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, ob überhaupt staatliche Erziehungstätigkeit sich anheischig machen darf, ein Idealbild des Bürgers anzustreben. Nach Auffassung von Christian Starck lassen sich die vielfältigen Normierungen um die drei Grundziele gruppieren, daß -

der junge Mensch zu sich selbst finden solle, er anderen Menschen gegenüber duldsam sein solle und daß er lernen solle, soziale und politische Verantwortung zu übernehmen 39 •

Konfrontiert mit Art. 7 der Landesverfassung zeigt sich die Starck'sche Trias freilich ergänzungsbedürftig. Die dort in Abs. 2 aufgeführten Werte, auf die die Jugend hingelenkt werden soll, lassen sich nicht sämtlich auf den Begriff der Duldsamkeit reduzieren. Das leuchtet vor allem für die "Liebe zu Volk und Heimat" ohne weiteres ein und gilt Lernziele und politischer Unterricht, Gegenwartskunde 1974,17,23. Wenig überzeugende Erwiderung durch Gagel, Noch einmal: Lernziele und politischer Unterricht, 1974, 435 ff. 38 Ausführliche Darstellung der Erziehungsziele in den Landesverfassungen und Landesschulgesetzen durch F. Hennecke, Staat und Unterricht, 3B

37

1972, S. 52 - 78.

ae Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 9, 1975, S. 9, 22 f.

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in noch verstärktem Maße für die in Abs. 1 genannte "Ehrfurcht vor Gott", die allerdings im religiös-weltanschaulich neutralen Staate sicher keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen kann 40 • Anders gewendet: Gefördert werden soll zunächst die individuelle Entfaltung des educandus, wobei aber zugleich auf die notwendige Eingliederung in die Gesellschaft Bedacht zu nehmen ist. Weder die Erziehung zur personell-individuellen Selbstbestimmung noch zur gesellschaftlichen Tüchtigkeit wird wertneutral vollzogen, sie soll vielmehr an bestimmten sozialethischen Grundpostulaten orientiert sein. Allein das damit gewonnene Ergebnis, daß im Hinblick auf die Landesverfassung kein grundsätzlicher Hinderungsgrund besteht, mit den Mitteln der schulischen Erziehung auf Charakter und Einstellung der Jugendlichen einzuwirken, entkräftet die vielfach geäußerte Kritik an den Normierungen der Landesverfassungen. Frank Henneckes Vorwurf, bei den meisten Inhalten handele es sich doch nur um "Leerformeln", die der Ausfüllung bedürften41 , könnte im übrigen genausogut gegen den gesamten Grundrechtsteil des Grundgesetzes erhoben werden, und auch Joachim Gernhuber kann nicht recht gegeben werden, wenn er den Einwand erhebt, daß die Erziehungsziele sich nicht von Land zu Land ändern könnten und daher "fast belanglos" seien42 • Gewiß gibt es Formulierungsunterschiede, doch in ihrer Schichtung und in ihrem Aufbau ähneln sich die Länderverfassungen aufs stärkste; allerdings ist die Akzentsetzung verschieden. Während die nordrhein-westfälische Landesverfassung - ebenso wie die baden-württembergische, die rheinland-pfälzische und die saarländische - ausdrücklich die Liebe zu Volk und Heimat nennen und damit den Wunsch nach einer bestimmten Wertassimilation prononciert in den Vordergrund stellen, sind in der bremischen Verfassung, dem modernsten Werk, in detaillierter Form die individuellen Charakterzüge beschrieben, welche der Erziehung zum Leitbild dienen sollen: eigenes Denken, Achtung vor der Wahrheit, Mut sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun (Art. 26 Nr. 3). Unterschiedliche Akzentuierung und unterschiedliche Grade der Konkretisierung - gewiß. Keinesfalls aber kann als berechtigt das abschätzige Urteil anerkannt werden, in manchen Landesverfassungen und -gesetzen hätten sich "die repristinierten Autoritätsvorstellungen der ersten Jahre nach 1945 niedergeschlagen "43. 40 So zutreffend H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 289. Im Ergebnis übereinstimmend Geller / Kleinrahm / Fleck, Die Verfassung des Landes NRW, 2. Aufl. 1963, Anm. 3 zu Art. 7, S. 67, da sie den

Wortsinn bis zur Unkenntlichkeit umgestalten. 41 Anm. 38, S. 70. 41 Kindeswohl und Elternrecht, FamRZ 1973, 229, 233. 43 So Stock, Anm. 26, S. 166.

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3. Freilich darf die Betrachtung die Bestimmungen der Landesverfassung nicht zum alleinigen Maßstab nehmen, sondern muß die Frage stellen, ob der Landesgesetzgeber möglicherweise einen Schritt zu weit gegangen ist. In strukturellen Grundentscheidungen darf die Landesverfassungsordnung nicht von den Normierungen des Grundgesetzes abweichen (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Zunächst bietet sich der Gedanke an, die Erziehungsziele der Landesverfassungen mit dem sog. "Menschenbild" des Grundgesetzes in Beziehung zu setzen. Erstmals in seinem Investitionshilfe-Urteil aus dem Jahre 1954 hatte das BVerfG die Formel vom Menschenbild gebraucht und festgestellt, das Grundgesetz habe nicht etwa ein isoliertes, souveränes Individuum vor Augen, sondern setze die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der menschlichen Person als selbstverständlich voraus44 • In ständiger Rechtsprechung tauchen die dort geprägten Wendungen stereotyp bis hin zur Gegenwart immer wieder auf45 • Der enge zeitliche Zusammenhang mit einer von Hans Peters kurz zuvor getanen Äußerung, "daß der durch Gemeinschaftsideale gebundene, heteronom, nämlich vor Gott, verantwortliche Mensch dem Persönlichkeitsbild des Grundgesetzes" entspreche 46 , könnte den Schluß nahelegen, daß der von Peters entwickelte Denkansatz die verfassungsrichterliche Billigung habe erfahren sollen. Nähere Betrachtung lehrt indes, daß es nicht die Intention jener Rechtsprechung ist, in das Zentrum der Verfassungsordnung einen bestimmten Idealbürger, und nur ihn, zu setzen - mit höchst ungewissen Folgen für denjenigen, der gegenüber den Idealmaßen abfällt. Der Begriff des Menschenbildes stellt vielmehr einen Argumentationsbehelf von sachlich beschränkter, genau angebbarer funktioneller Tragweite dar. Mit einer gewissen Vorliebe wird die Wendung vom gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Bürger ins Feld geführt, wenn dargetan werden soll, daß ein bestimmtes Grundrecht nicht als mit umfassendem Geltungsanspruch begabt gedacht werden könne. Wo das Individuum einen Raum der Freiheit beansprucht, der sich mit den Rechten anderer Personen überschneidet, kann es mit der Denkfigur des Menschenbildes in die Schranken der Gemeinverträglichkeit verwiesen werden47 • Niemals ist indessen in der bisherigen Judikatur des BVerfG vom Menschenbild als einer Zielvorstellung die Rede gewesen, die zu verwirklichen die Staatsgewalt berechtigt - oder möglicherBVerfGE 4, 7, 15 f. Zuletzt: BVerfGE 33,1,10 f.; 32, 98, 107 f. 41 Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, in: Festschrift für Rudolf Laun zu seinem 70. Geburtstag, 1953, S. 669, 671. 41 So auch der Gebrauch in der grundlegenden Entscheidung zum Elternrecht: BVerfGE 24, 119, 144. 44

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weise sogar aufgerufen - wäre. So ist Ekkehart Stein voll zuzustimmen: Das Grundgesetz hat kein normatives Menschenbild48 • Die Verfassung ist für alle da, und ihre Freiheitlichkeit zeigt sich gerade daran, daß dem Individuum die Möglichkeit gegeben wird, sich seinen Anlagen gemäß zu entfalten, ohne wie ein Zögling in eine bestimmte Schablone gepreßt und auf ein gemeinschaftsförderliches Optimum zurechtgestutzt zu werden. Seit einer Reihe von Jahren tauchen im erziehungswissenschaftlichen Schrifttum immer wieder "die Grundrechte" als Erziehungsziel auf49 , wobei den Anstoß offensichtlich der von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates beschlossene Strukturplan (1970)50 gegeben hat. Wie ausgeführt, hatte sich ja auch die Erstfassung der RPU ausdrücklich auf den in den Grundrechten gegebenen Konsensus bezogen. Freilich scheint dieser Ansatz wenig reflektiert zu sein. Verkannt wird, daß anders als die Verfassungsmitte des Art. 79 Abs. 3 GG die Grundrechte in ihrer konkreten Gestalt nicht unabänderlich festgeschrieben sind und daher auch teilhaben an der Offenheit, welche das Verfassungswerk insgesamt kennzeichnet51 • Eine ganze Reihe von Grundrechten besitzt sicher einen Kernbestand, der sich zwingend aus dem Satz von der Menschenwürde ableiten läßt. Im übrigen aber ist die verfassungspolitische Debatte nicht abgeschnitten. Es ist das selbstverständliche Recht eines jeden Staatsbürgers, sich für eine Revision des Grundgesetzes und seine Anpassung an die vermeintlichen Bedürfnisse der Gegenwart einzusetzen. In der Tat ließe sich eine stattliche Liste von Dissenspunkten aufstellen. In das Kreuzfeuer der Kritik ist namentlich das Eigentum geraten, dem vor allem die Rechtsprechung des BGH einen umfassenden Schutz hat zuteil werden lassen. Es kann nicht Aufgabe der Schule sein, in dieser Kontroverse Stellung zu beziehen und damit notwendig stets den auf Erhaltung des hergebrachten Rechtsbestandes bedachten Standpunkt zu vertreten. Eine Erziehungstätigkeit, die unkritische Grundrechtsapologetik betriebe, müßte als politische Parteinahme bezeichnet werden. Eine breite Strömung im neueren Schrifttum zum Bildungsrecht vertritt die Auffassung, daß im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG schulische Erziehung primär die Aufgabe habe, die Mündig48 Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule, 1967, S. 21 f.; ebenso H.-D. Heymann / E. Stein (Anm. 26), S. 211. 48 Zahlreiche Nachweise bei M. Quilisch, Die Verfassung als Auftrag oder als Hindernis für die Bildungsreform, NS 1973, 346, 357 Anm. 28. 50

S.25.

Vgl. dazu die grundsätzlichen Ausführungen von K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 7. Aufl. 1974, S. 66; K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 262 ff. 51

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keit oder Emanzipation des Jugendlichen anzustreben62 • Es kann sicher kein Zweifel daran bestehen, daß jede Erziehung den Eintritt des jungen Menschen in den Status des Erwachsenen vorzubereiten und ihm - soweit überhaupt möglich - das Rüstzeug mitzugeben hat, das er zur Führung eines selbstverantwortlichen Lebens benötigt. In diesem Sinne bildet Emanzipation ein ganz selbstverständliches Erziehungspostulat. Es anerkennen, heißt aber keineswegs es verabsolutieren oder ihm ein derart ausgeprägtes Primat einzuräumen, wie dies nicht zuletzt Ekkehart Stein getan hat53 • Wählt man sich den Art. 2 Abs. 1 GG als Argumentationsbasis, so muß man vor allem den im Text der Bestimmung selbst angelegten Hinweis beachten, daß die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz Schranken ziehen, innerhalb deren nur die Freiheit den Schutz der Verfassung genießt. überdies ist hier eine entscheidende Weichenstellung erreicht. Während Stein in einem ganz schlichten Sinne fordert, daß ein geistiger Nährboden geschaffen werden solle, der das Individuum zur selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung instandsetzen könne, und demgemäß eine ideologisch in keiner Weise geprägte neutrale Vermittlung der tradierten Gedankenwelt in ihrer Vielfältigkeit fordert 54 , vertrauen die RPU auf ein technokratisches Machbarkeitsrezept. Emanzipation soll nicht das Produkt eines in den wesentlichen Phasen autonom verlaufenden Bildungsprozesses sein, sondern soll in sorgsam durchkonstruierten Lernsequenzen planvoll hervorgebracht werden, indem beliebige Inhalte anhand der Lernzielraster durchgespielt werden. Keinesfalls läßt sich auch vom Boden des Art. 2 Abs. 1 GG aus die Frage lösen, welche Wertbindung, wenn überhaupt, die Schule dem Heranwachsenden vermitteln soll. Ob dazu überhaupt irgendeine Aussage möglich ist, kann im Lichte des allgemeinen Neutralitätsgebots durchaus fraglich erscheinen. Konstituierend für das Staatswesen der Bundesrepublik sind die Freiheit von Glauben und Gewissen (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Eine offizielle Staatsphilosophie oder gar eine Staatsreligion und -kirche gibt es nicht (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV). Niemand - und damit rundet sich das Bild - darf seiner politischen Anschauungen wegen benachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 3 Abs. 3 GG). G! E. Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 166; Heymann / Stein, Anm. 26, S. 214, 216; L.-R. Reuter, Soziales Grundrecht auf Bildung?, DVBl. 1973, 10 ff.; id.; Sozialer Wandel durch Schule?, RdJB 1973, 330, 333; Stock (Anm. 26), S. 87 ff., 158 ff.; id., "Materielle Selbstverwaltung" der öffentlichen Schule?, AöR 96 (1971), 392, 405, 408, 414. 53 Anm. 48, passim; ebenso Heymann / Stein (Anm. 26), S. 214, 216. Kritisch P. SaZadin, Das Recht auf Bildung, Zeitschrift für schweizerisches Recht 90 (1971, I), 113, 128 Anm. 42. 64 Anm. 48, S. 5 f., 50 ff.

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Die Verfassungsordnung erkennt ein von vornherein feststehendes absolut Richtiges grundsätzlich nicht an. Der Staat, hier verstanden als die verfaßte Herrschaftsorganisation, öffnet sich den im Volke tatsächlich vorhandenen politischen Strömungen; es ist ihm verwehrt, in die Auseinandersetzungen zwischen den um die Vorherrschaft ringenden gesellschaftlichen Gruppierungen mit seinen spezifischen Mitteln einzugreifen und sich mit einer dieser Konzeptionen zu identifizieren55 . Gerade das Schulwesen stellt in dieser Konstruktion einen neuralgischen Punkt dar. Parteiliche Erziehung bringt parteiliche Staatsbürger hervor, und wer die Jugend für sich hat, dem gehört die politische Zukunft so hat man die für die rechtlichen Überlegungen maßgebende Grundannahme zu formulieren, wenn man überhaupt meint, daß Erziehung geeignet sei, die von ihr angestrebten Ziele zu erreichen. Nicht ohne Überzeugungskraft haben daher manche Autoren gefordert, das Schulwesen ebenso wie die Massenmedien Hörfunk und Fernsehen dem unmittelbaren Einfluß der jeweils herrschenden Regierung zu entziehen56 . Wie sensibel das BVerfG auf alle Versuche des Staates reagiert, in den politischen Meinungsbildungsprozeß an der Basis lenkend einzugreifen, hat nicht zuletzt das Parteienfinanzierungs-Urteil57 gezeigt. Freilich gilt das Prinzip der als Nichtidentifikation verstandenen Neutralität im politischen Raum nur mit Einschränkungen. Der demokratische Staat, wie ihn das Grundgesetz konstituiert hat, ist nicht wertneutral, sondern gründet sich auf bestimmte ethische Prinzipien. Durch Art. 79 Abs. 3 GG, der die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze jeder Abänderung entzieht, wird unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß es sich hier um Kernelemente der Verfassungsordnung handelt, die als unerläßliche Grundlagen des Gemeinschaftslebens betrachtet werden. Die sich auf dieselben Wertvorstellungen gründende Parteiverbotsklausel (Art. 21 Abs. 2 GG)58 stellt überdies klar, daß auch schon das der eigentlichen staatsorganschaftlichen Willensbildung vorgelagerte Feld der politischen Meinungs- und Überzeugungsbildung abgesichert sein soll - oder jedenfalls abge55 Die von H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 178 ff., geprägte Formel von der Nichtidentifikation gilt für den pluralistischen Staat allgemein und nicht nur im religiös-weltanschaulichen Bereich, vgl. etwa Dürig, Anm. 35, Art. 3 Abs. 3, Randnr. 126; A. HolZerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), 27,94; G. Püttner, Toleranz und Lehrpläne für Schulen, DÖV 1974, 656, 657; Schlaich, Anm. 51, S. 239, 259 ff.; H. F. Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, Der Staat 9 (1970), 161, 182 f. 50 Püttner, Anm. 55, S. 659; Stein, Anm. 48, S. 56; Stock, Anm. 26, S. 184 Anm.44. 57 BVerfGE 20, 56, 97 ff. G8 Zur inhaltlichen übereinstimmung vgl. etwa K. Stern, Zur Verfassungstreue des Beamten, 1974, S. 10 f.



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sichert werden kann - gegen Bestrebungen, die den Basiskonsens in Frage stellen, in dessen Zeichen das deutsche Volk sich im Jahre 1949 eine neue Verfassung gegeben hat. Bezeichnet Art. 79 Abs. 3 GG einen Fixpunkt, der zwar auch teilhat an der allein schon durch die Verfassungsinterpretation bewirkten allgemeinen Bewegung der Verfassung in der Zeit, der aber prinzipiell mit dem Mantel der Unverbrüchlichkeit umgeben sein soll, so ist mit dieser Erkenntnis auch eine feste Grundlage für alle Überlegungen gewonnen, welchen politischen Ordnungsvorstellungen der Staat eine besondere pflegende Förderung angedeihen lassen darf59• Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß sehr schnell Differenzen auftauchen, sobald es darum geht, im Wege der Deduktion Aussagen im Hinblick auf konkrete Problemlagen zu machen, läßt sich doch erkennen, daß einerseits ein Bekenntnis zur Würde des Menschen, d. h. zum Einzelmenschen schlechthin, als Mittelpunkt des ganzen Verfassungswerkes abgelegt wird, daß aber andererseits gleichzeitig bestimmte Strukturelemente der politischen Ordnung festgeschrieben werden, ganz offenbar deshalb, weil sie als die bestgeeigneten Sicherungen zur Verwirklichung des in Art. 1 Abs. 1 GG niedergelegten Postulats angesehen werden. Damit trifft sich die Interpretation des Grundgesetzes mit den Versuchen der Landesverfassungen, in ihren Erziehungszielbestimmungen den Bestand an nicht kontroversen Grundwerten der individuellen und gesellschaftlichen Existenz des Menschen zu umreißen6o • 4. Wenn Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 GG für die verfaßte Staatsgewalt die einzig möglichen Kriterien der Differenzierung zwischen "guten" und "schlechten" politischen Positionen liefert, ist es selbstverständlich, daß sie die Orientierungsmarke sein müssen, wenn schulischer Unterricht sich nicht auf die Vermittlung reinen Wissens beschränkt, sondern auf die Ausbildung von politischen Bürgertugenden ausgerichtet ist. a) Wenn die Würde des Menschen nur in einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie erhalten werden kann, so ist es richtig, ja notwendig, die schulischen Mittel zur Förderung des verantwortlichen Staatsbürgers einzusetzen. Immerhin muß aber Art. 1 Abs. 1 GG, ge58 BVerwGE 43, 162, 164 ff., erörtert die Vorschrift des § 33 Abs. 1 SG, derzufolge die Soldaten "nicht zugunsten oder zuungunsten einer bestimmten politischen Richtung beeinflußt werden" dürfen. 80 Ähnliche überlegungen zur verfassungs rechtlichen Determinierung der Unterrichtsinhalte bei FTowein, Anm. 3, S. 583; Hennecke, Anm. 38, S. 35; B. Löhning, Der Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis, 1974, S. 151; Th. OppeTmann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 257; PüttneT, Anm. 54, S. 660; Saladin, Anm. 53, S. 136; StaTck, Anm. 39, S. 23; ETwin Stein, Bildung im Dienste des Wohlstandsidols, in: Festschrift für Willi Geiger ... , Anm. 3, S. 561, 576.

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sehen in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, vor allem bedeuten, daß dem Kinde die Möglichkeit der autonomen Selbstbestimmung zu geben ist. Das Unbehagen, welches den Leser der RPU beschleicht, rührt nun gerade daher, daß zwar Selbstbestimmung in der Tat als oberstes Lernziel plakatiert wird, ohne daß aber die RPU ihrerseits für Selbstbestimmung noch sehr viel Raum ließen. Nach Maßgabe des Curriculums, unter Anleitung des Lehrers, soll das Kind mit einer ganzen Reihe von Charaktereigenschaften versehen werden und gerät damit unweigerlich in den Bannkreis fremdbestimmter Leitbilder. Erziehung ohne solche Leitvorstellungen ist zwar niemals möglich, hier aber wird dem Schüler keine Wahl gelassen, es wird ihm bis ins kleinste Detail anhand eines kaum zu übersehenden Katalogs von Lernzielen vorgeschrieben, in welcher Weise er mündig und selbstverantwortlich zu sein habe. Befremden muß namentlich hervorrufen, daß - wegen des generellen Verzichts, die RPU durch konkrete Inhalte anzureichern - bestimmte Verhaltensbereitschaften gleichsam "nackt" zum selbständigen Lernziel erhoben worden sind. Kenntnisse und analytische Fähigkeiten lassen sich gewiß abstrakt definieren. Welchen Sinn aber kann es haben, die "Bereitschaft, sich gegen Sanktionen mit angemessenen Mitteln zu verteidigen" (Lernziel 4.3.3), zu fördern, einer Leertaste ähnlich, die bei Bedarf zur Durchsetzung beliebiger Inhalte gedrückt werden kann? Der total auf Mündigkeit geplante Bürger gerät jedenfalls in Gefahr, nicht eine sich selbst bestimmende autonome Persönlichkeit zu sein, sondern zu einem vom gesamtgesellschaftlichen Nutzen bestimmten Funktionselement denaturiert zu werden61 • Erziehung, welche mehr sein will als Hilfe zur Selbstentfaltung und den Bürger als einen zu planenden politischen Funktionsträger betrachtet, überschreitet im übrigen die Grenzen der Daseinsvorsorge und muß sich an den Kriterien messen lassen, welche für die Eingriffsverwaltung gelten. Besonderes Gewicht kommt in diesem Zusammenhang der Rechtsprechung zu, daß bei Beeinträchtigungen der privaten Lebenssphäre das Gebot des Interventionsminimums mit besonderer Rigorosität zu achten sei62 • 81 Das ist auch der Kernpunkt der von Th. Nipperdey, Das Ende der Selbstbestimmung, in: G.-K. Kaltenbrunner, Klassenkampf und Bildungsreform, S. 95, 105 ff., gegen die hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre erhobenen Einwendungen. Im wesentlichen übereinstimmend auch Giesecke, Lernen als Verhalten - Unzumutbare Steuerung oder Chance neuer Lehrplanentwicklung?, NS 1974, S. 107 ff.; F. Minssen, Legitimationsprobleme in der Gesellschaftslehre - Zum Streit um die hessischen "Rahmenrichtlinien", Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. B 41/73, S. 14 f., spricht zu Recht von einem aus der Würdeschutzbestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden "Indoktrinations- und Überwältigungsverbot", das im übrigen auch eine Stütze in der MRK findet, vgl. M. T. Opsahl, in: Vie privee et droits de l'homme, 1973, S. 243, 246. 82 Vgl. BVerfGE 35, 202, 220 f.; 34, 238, 246; 33, 367, 377; 32, 373, 379; 27, 344, 351.

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Ein massiverer Angriff auf den Intimbereich, als wenn der Versuch gemacht wird, der Persönlichkeit ein allgemeines Prägemuster aufzudrücken, läßt sich kaum denken. b) Zu den Qualifikationen und Lernzielen im einzelnen kann an dieser Stelle nicht Stellung bezogen werden. Wenn aber feststeht, daß die Verfasser der RPU von höchst unklaren Vorstellungen über die ihnen von Verfassungs wegen obliegenden normativen Bindungen ausgegangen sind, so rückt diese Erkenntnis auch die Kompetenzfrage wiederum in das Licht der verfassungsrechtlichen Reflexion. In der Vergangenheit galt es als ausgemacht, daß Lehrpläne, die im wesentlichen Kataloge von durchzunehmendem Bildungsstoff waren, eigenverantwortlich von der Exekutive in Form von Verwaltungsvorschriften erlassen werden dürften, wie es auch hier geschehen ist. Selbst die Kritik der beiden Referenten der Staatsrechtslehrertagung von 196483 hat an dieser Praxis nichts geändert, und die mutige Entscheidung des VG Hamburg84, das jedenfalls die Einführung eines neuen Unterrichtsfachs wie der Sexualkunde dem Gesetzesvorbehalt unterstellen wollte, ist in der Berufungsinstanz aufgehoben worden65 • Gerade der übergang vom Lehrplan mit seinen allgemeinen Zielformeln und den davon abgehobenen Stoffkatalogen zum Curriculum als einem - jedenfalls nach Meinung seiner Urheber - effizienten Instrument zur Realisierung der vorgegebenen Lernziele muß die Debatte neu beleben68 • Es ist zu einer geläufigen Erkenntnis geworden, daß jedenfalls in den sozialwissenschaftlichen Fächern allein schon die Stoffauswahl eine politische Entscheidung darstellt. überhaupt nicht mehr mit dem hergebrachten Lehrplan ist ein Curriculum wie das vorliegende zu vergleichen, welches planvoll ein bestimmtes Menschenbild zu verwirklichen trachtet. Daß solche gelenkten Erziehungsmaßnahmen zumindest den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG berühren - und möglicherweise auch anderer Grundrechte (Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2 GG) - kann allein schon angesichts der Reaktionen eines erheblichen Teils der Betroffenen kaum zweifelhaft erscheinen. Das heißt aber nichts anderes, als daß die richtungweisenden Rechtsakte der Gesetzesform bedürfen87 • 83 Berichte zum Thema "Verwaltung und Schule": H.-U. Ewers, VVDStRL 23 (1966), 147, 166; E.-W. Fuß, ibid., S. 199, 202. So jetzt auch Hennecke, Anm. 38, S. 154 ff., mit weiteren Nachweisen; Th. Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog, Anm. 35, Art. 7, Randnr. 26. 84 DOV 1973, 54. 85 OVG Hamburg, DOV 1973, 574 (Zeitungsberichten zufolge hat das BVerwG die erstinstanzliche Entscheidung wiederhergestellt). Ebenso OVG Berlin, NJW 1973, 819 = JZ 1973, 551. Gegen den Gesetzesvorbehalt im Hinblick auf die Festlegung von Lehrplänen hat ferner Stellung bezogen: BayVerfGH, DOV 1974, 672. 88 Dazu Erwin Stein in seiner Besprechung der Schrift von Hennecke, Der Staat 14 (1975), S. 135, 138 f.

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Gerade die bisherige Praxis der Erstellung von Richtlinien hat gezeigt, daß das traditionelle Verfahren, bei den Kultusministerien Kommissionen zu bilden, deren Ergebnisse dann im allgemeinen mit geringen Abstrichen en bloc übernommen werden, als Legitimationsbasis nicht ausreicht. Auch der mit der Ausarbeitung der RPU beauftragten Schörken-Kommission ist es nicht gelungen, sich von der technokratischen Prägung durch die Fachwissenschaft freizumachen, obwohl sie das Legitimationsproblem mit in das Zentrum ihrer Überlegungen gestellt hat 68 • Die Einschaltung des Gesetzgebers würde in verstärktem Maße dazu führen, daß man sich auf die verfassungsrechtlichen Wertungen besinnt, welche nun einmal die demokratische Kompromißbasis darstellen, die von allen politischen Kräften als verbindlich angesehen wird. Auch hier wiederum bestätigt sich, daß die Lehre vom Gesetzesvorbehalt nicht als bloßer Formalismus zu verstehen ist. Das Gesetz schützt die Freiheit des Bürgers, und wo diese Freiheit bedroht sein kann, bedarf die staatliche Exekutive einer gesetzlichen Absicherung für ihr Handeln. Das Gesetzgebungsverfahren dient dazu, daß die verschiedenen miteinander konkurrierenden Ansichten in einem offenen Verfahren zum Austrag kommen, und gewährleistet, daß die politische wie verfassungsrechtliche Strukturierung des zu regelnden Problems zumindest erkannt wird. IV. Mit einem resignierenden Unterton hat Ingrid Haller in einer öffentlichen Diskussion auf dem Deutschen Historikertag vor kurzem erklärt, Lehrpläne hätten noch nie einen Einfluß auf die Unterrichtspraxis gehabt6o • Angesichts dieser Skepsis erscheint der totale Perfektionismus der RPU wie auch der Hessischen Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre um so unverständlicher. Im übrigen sollte auch die Diskrepanz zwischen Anspruch und schulischer Wirklichkeit nicht nur als zu behebendes Manko beklagt, vielmehr der Widerstand in Gestalt von traditionellen Denkgewohnheiten bei den Lehrern und von eigensinniger Unbelehrbarkeit bei den Schülern gleichzeitig als befruchtendes dialektisches Element begriffen werden, das der Sicherung vor ideologischer Gleichschaltung dient. Gerade wer Kritik und Konflikt in den Mittelpunkt stellt und in Anlehnung an Jürgen Habermas den 67 Die Folgerung wird nicht gezogen von Erwin Stein, Anm. 66, obwohl er den Planungscharakter des Curriculums deutlich herausstellt. Vgl. dazu auch die Debatte im Landtag von NRW am 29. 5. 1974, Anm. 2. 68 Vgl. GageI, Anm. 9, S. 15, 18 f. ng E. Schwalm, Bericht über den 30. Historikertag, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 26 (1975), 86, 88.

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"Diskurs" als das geeignete Verfahren zur Ermittlung einer - stets nur vorläufigen - Wahrheit betrachtet7°, muß auch bereit sein, die eigenen Richtigkeitsvorstellungen stets von neuem in Frage stellen zu lassen.

70 Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1971, S. 101, 114 ff.

Verfassungsrechtliche Aspekte des Dreier-Wahlkreis-Systems Von Ingo von Münch

I. Vorbemerkung In ihrem am 24. Juni 1968 veröffentlichten Bericht! empfahl die Wahlrechtskommission der SPD die Einführung des sog. Dreier-Wahlkreis-Systems für die Bundestagswahl 1969: "Bei diesem Wahlrecht ist das Bundesgebiet in 166 Wahlkreise einzuteilen. In jedem Wahlkreis werden drei Abgeordnete gewählt. Jeder Wähler hat eine Stimme. Die den Parteien zufallende Anzahl der Mandate wird nach der d'Hondtschen Methode ermitteIt2." Eberhard Menzel hat sich stets für Rechtsfragen des politischen Machtkampfes interessiert. Deshalb wird im folgenden eine Arbeit vorgelegt, die sich mit Problemen des Wahlrechts beschäftigt. Es handelt sich dabei um ein Rechtsgutachten, das der Verfasser im Jahre 1968 unter dem selben Titel erstattet hat, und das seinerzeit an entlegener Stelle3 (ohne im Buchhandel erhältlich zu sein) veröffentlicht worden ist. Der folgende Abdruck ist eine leicht gekürzte4, im übrigen aber unveränderte Fassung; neuere Literaturbeiträge, z. B. die wichtigen Arbeiten von Hans Fenske5 und Hans Meyer6 , sind, um die Originalfassung 7 des Textes nicht zu verwischen, nicht eingearbeitet. Im folgenden zitiert als: Kommissionsbericht. Kommissionsbericht S. 9. - Zur Begründung vgl. insbes. S. 7 ff. 3 fdk. freie demokratische korrespondenz. Bonn. Sonderausgabe vom 11. November 1968. 4 Aus der Originalfassung fehlen die Abschnitte 1. Tatbestand, 2. Methode der Untersuchung, sowie die Zusammenfassung. Die Fußn. 1 - 8 im Original enthalten Hinweise auf den Kommissionsbericht, die Fußn. 9 bezog sich auf Scheuch, Die Bedeutung sozialer Faktoren für die Wirkung von Wahlsystemen, in: Mehrheitswahlrecht? Beiträge zur Diskussion um die Änderung des Wahlrechts. Hrsg. von Zilleßen, 1967, S. 66 fi. S Wahlrecht und Parteiensystem. Ein Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Frankfurt a. M. 1972. 8 Wahlsystem und Verfassungsordnung. Bedeutung und Grenzen wahlsystematischer Gestaltung nach dem Grundgesetz. Frankfurt a. M. 1973. 7 Die Originalfassung beginnt also mit dem Abschnitt In. Auf die nach Ers'cheinen dieses Rechtsgutachtens publizierten speziell auf das DreierWahlkreis-System bezogenen Arbeiten wird deshalb nicht eingegangen; es handelt sich dabei um die dem Bundesminister des Innern erstatteten "Rechtsgutachten zu der Vereinbarkeit der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen 1

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11. Aktuelle Bedeutung Die Veröffentlichung der verfassungsrechtlichen Erörterung eines Wahlrechtsvorschlages von 1968 ist heute nur noch ein Beitrag zur Wahlrechtsgeschichte. Zur Zeit wird über Wahlrechtsänderungen a la Dreier-Wahlkreis-System nicht laut gesprochen; andere Wahlrechtsfragen stehen auf der Tagesordnung8 • Jedoch kann ein Wahlausgang wie der bei den Landtagswahlen im Saarland im Frühjahr 1974 die Diskussion leicht wieder entzünden, und die jüngste Kontroverse zwischen Günther Willms und Gerhard Leibholz9 zeigt, wie an einem an sich toten Thema immer wieder gerührt wird. 111. Grundsätzliche Zulässigkeit von Wahlrechtsänderungen 1. Das derzeit geltende Wahlsystem ist im Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 19561°, also in einem einfachen Bundesgesetz, festgelegt. Einfache Bundesgesetze können grundsätzlich mit Wirkung für die Zukunft geändert werden, "weil sich nicht von Anfang an übersehen läßt, ob die gesetzliche Regelung allen in der Zukunft möglicherweise vom Gesetz ergriffenen Lebenstatbeständen gerecht wird"l1. Dementsprechend ist auch das Bundeswahlgesetz in mehreren Vorschriften durch einfaches Bundesgesetz abgeändert worden12 • Allerdings betrafen diese Änderungen nicht das Wahlsystem als Ganzes, sondern regelten nur mehr technische Detailfragen. Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob demgegenüber die Zulässigkeit einer Wahlrechtsänderung, die das Wahlsystem insgesamt ändert, anderen Regeln unterliegt. 2. In der Zeit der Weimarer Republik war das Wahlsystem in der Reichsverfassung (Art. 22 Abs. I Satz 1: Verhältniswahl) festgelegt. Diese frühere verfassungskräftige Festlegung des Wahlsystems ist jedoch für den heutigen Rechtsquellenrang des § 6 I, II BWahlG ohne rechtliche Bedeutung. Indem der Parlamentarische Rat kein bestimmtes Wahlsystem im Grundgesetz festlegte 13 , sondern dies dem einfachen Ge(Dreier-Wahlkreissystem) mit dem Grundgesetz" von Frowein und Herzog (1968), sowie Sattler, Zur Frage der Vereinbarkeit des Dreier-Wahlkreissystems mit dem Grundgesetz DÖV 1970, S. 545 ff.; Hans Meyer, Die herkömmliche Wahlsystematik und ihre Folgen, DÖV 1970, S. 691 H.; Sattler / Hans Meyer, nochmals: Dreier-Wahlkreissystem und Grundgesetz, DÖV 1971, S. 449 ff. S Vgl. dazu die Bundestagsdrucksachen 7/2873,2435,3371 und 3466. g Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 156 vom 10. Juli 1975, S. 13. 10 BGBl. I, S. 383, 1011. 11 BVerfGE 15, 202. 12 Änderungsgesetz vom 14. 2. 1964 (BGBl. I, S. 61). 13 Vgl. die Hinweise bei Friedrich Schäfer, Der Beitrag der Sozialdemokratie zur Gestaltung des Wahlrechts in Deutschland, abgedr. im Kommissionsbericht, S. 51 ff.

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setzgeber überließ, ist damit eine klare Entscheidung gegen den Verfassungsrang und für den einfachen Gesetzesrang des Wahlsystems getroffen worden14 • Zwischen Verfassung und einfachem Bundesgesetz gibt es - was die Abänderbarkeit betrifft - kein Mittelding. Es mag wichtige und weniger wichtige einfache Bundesgesetze geben (das Wahlgesetz ist sicherlich eines der wichtigsten einfachen Bundesgesetze), aber alle einfachen Bundesgesetze sind gleichermaßen abänderbar: Innerhalb der einfachen Bundesgesetze gibt es insoweit kein "soft law" oder "hard law". Daraus folgt, daß es grundsätzlich rechtlich zulässig ist, das geltende Wahlrecht im Wege des einfachen Gesetzgebungsverfahrens zu ändern15, sofern dabei die Schranken eingehalten werden, die für jede Gesetzesänderung im allgemeinen und für eine Wahlrechts änderung im speziellen gelten. IV. Sachlicher Grund als Schranke der Wahlrechtsänderung 1. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist nicht unbegrenzt16 • Sie wird mißbraucht, wenn sich für die betreffende gesetzliche Regelung kein sachlicher Grund finden läßt. Das Bundesverfassungsgericht hat zutreffend mehrfach betont, daß für eine gesetzliche Regelung ein "sachlich einleuchtender Grund" erforderlich ist17, und es hält sich für befugt nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber eine "offenbar nicht gerechtfertigte Regelung getroffen hat, also offenbar nicht sachgerecht verfahren ist"18.

2. Der Vorschlag zur Einführung eines Dreier-Wahlkreis-Systems wird in dem Bericht der SPD-Wahlrechtskommission damit begründet1 9, daß ein Machtwechsel mit dem gegenwärtigen Wahlsystem nicht erreichbar sei, und daß demgegenüber das Dreier-Wahlkreis-System regierungsfähige Mehrheiten und eine starke Opposition schaffe unter gleichzeitiger Sicherung der Sperrminorität der Opposition bei Verfassungsänderungen und Vermeidung der Gefahr der politischen "Verödung" weiter Regionen2o • U Vgl. Bericht des vom Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform (im folgenden zitiert als Beiratsbericht), 1968, S. 38; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1968, S. 58. 15 Maunz / Dilrig, GG, Art. 38, Anm. 58. 18 Vgl. dazu Maunz / Dilrig, GG, Art. 38, Anm. 36. 17 BVerfGE 4, 356; 13, 234 f. 18 BVerfGE 10,40; 13, 38. 19 Kommissionsbericht, S. 9. 20 Kommissionsbericht, S. 9.

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Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob die genannten Gründe politisch vernünftig sind und ob sie geeignet sind, etwa bestehende andere verfassungsrechtliche Bedenken zu überspielen. Jedenfalls aber können diese Gründe nicht apriori als offensichtlich unsachlich oder offensichtlich ungerechtfertigt abqualifiziert werden; sie könnten deshalb - für sich allein betrachtet - als ausreichender Grund für die Wahlrechtsänderung angesehen werden.

v. Zulässigkeit einer "maßgeschneiderten" Wahlrechtsänderung 1. Dem Vorschlag des Dreier-Wahlrechts-Systems liegen Berechnungen zugrunde, die innerhalb der SPD mit dem Ziel angestellt worden sind, ein für die SPD günstiges Wahlsystem herauszufinden21 • Die Abhandlung von Ernst Wrage, auf die der Vorschlag der Wahlrechtskommission der SPD zurückgeht22 und auf die der Bericht der Kommission ausdrücklich Bezug nimmt23 , trägt den Titel: "Dreier-Wahlkreise. Vorteile der Drei-Mann-Wahlkreise". Die Abhandlung beginnt mit der Feststellung: "Der Ausgang der baden-württembergischen Landtagswahl hat manchen Befürworter einer Wahlrechtsreform skeptisch werden lassen. Selbst wenn man annimmt, daß der Wähler bei Anwendung des relativen Mehrheitswahlrechts anders gewählt hätte, kann als sicher angenommen werden, daß die SPD die Sperrminorität von einem Drittel der Mandate unterschritten hätte. Die SPD hat in dieser Wahl nämlich nur 10 Ofo der Direktmandate erlangt24 ." Die Abhandlung schließt mit den Worten: "Wir Sozialdemokraten brauchen ein neues Wahlsystem, damit wir aus dem Koalitionszwang - übrigens auch aus der Zwangskoalition mit gewissen Parteien auf der Oppositionsbank - herauskommen. Die Alternativen können nur deutlicher werden bei einem anderen Wahlsystem26 ."

Der Bericht der Wahlrechtskommission der SPD selbst ist zwar insoweit nicht ganz so deutlich wie diese Ausführungen von Wrage; aber der Bericht gibt immerhin zu, daß innerhalb der Kommission die Auswirkungen einer Wahlrechtsreform auf die Chancen der SPD bedacht worden sind: "Die Meinungen innerhalb der Kommission, ob die Par21 H. Wehner (lt. Spiegel 1967, H. 11, S. 32): "Die Fragen des Mehrheitswahlrechts muß man ohne Haß und Liebe unter Zugrundelegung zehnmal geprüfter Durchrechnungen entscheiden." 22 Zu einem früheren Vorschlag eines Dreier-Wahlsystems in Enwurfsarbeiten der Bundesregierung zum BWahlG von 1953 vgl. Seifert, Das Bundeswahlgesetz, 2. Aufl. 1965, S. 16. 23 Kommissionsbericht, S. 9, 10. U Zitiert im Kommissionsbericht, S. 68. 25

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tei 26 bei dem in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gegebenen Wählerverhalten und dem bedeutenden Vorsprung der CDU/ CSU eine reelle Chance hat, unter den Bedingungen des relativen Mehrheitswahlrechts eine absolute Mehrheit der Mandate zu erringen, gingen auseinander27 ." Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen - und ist auch von der SPD nie bestritten worden -, daß das Dreier-Wahl-System ein für die SPD besonders günstiges Wahlsystem ist Z8 • Damit stellt sich die Frage, ob eine solche "maßgeschneiderte" (d. h. auf die Bedürfnisse einer Partei speziell zugeschnittene) Wahlrechts änderung verfassungsrechtlich zulässig ist. 2. "Alle Geschichte der parlamentarischen Demokratie ist eine Geschichte von Wahlrechtsmanipulationen" - mit diesen Worten leitet Thomas von der Vring den Abschnitt: "Wahlgesetzgebung als politische Waffe" in seinem Buch "Reform oder Manipulation? Zur Diskussion eines neuen Wahlrechts" ein29 • Nicht ganz so hart formuliert, aber in der Sache ähnlich hat der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Richard Katz, diesen Tatbestand dahin umschrieben: "Wie die Erfahrung zeigt, pflegt bei der Diskussion von WahlrechtsNovellen in den Parlamenten sehr bald jener - zunächst unterschwellige - Hang nach Möglichkeiten der eigenen Begünstigung einzusetzen. In den Debatten pflegt dann jenes Suchen nach zwar verfassungsrechtlichen legalen, aber doch deutlich erkennbaren Wahlvorteilen für die jeweils herrschende Mehrheit oder Koalitionsgruppe aufzutauchen, die auf den Inhalt des Gesetzes dann des öfteren bestimmenden Einfluß nimmt30 ." Daß politische Parteien im politischen Kampf Vorteile für sich erstreben, ist natürlich und legal. Mit welchen Mitteln die Parteien diese Vorteile zu gewinnen trachten, ist eine Frage des politischen Stiles. Politischer Stil ist nach geltendem Recht regelmäßig nicht verfassungsrechtlich überprüfbar 31 und daher kein praktische Bedeutung erlangendes Rechtsproblem. Gemeint ist die SPD. Kommissionsbericht, S. 8. 28 Vgl. auch die Anlage 1 zum Kommissionsbericht S. 11, welche die Mandatsverteilung nach dem Ergebnis der Bundestagswahlen von 1957 und 1965 nach dem geltenden und nach dem vorgeschlagenen Wahlsystem wiedergibt, insbesondere auch die graphische Darstellung auf S. 13. 29 S.19. 30 Zur Änderung des Wahlgesetzes. Anregung zu einer verfassungsrechtlichen Erschwerung. In Festgabe für Carlo Schmid, 1962, S. 122. 11 Regulativ ist hier regelmäßig nur die Wahl, bei der die Bürger über den politischen Stil abstimmen können. 26

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3. Praktisch und problematisch wird dieser Tatbestand erst, wenn eine oder mehrere politische Parteien sich mit Hilfe einer Gesetzesänderung Vorteile verschaffen wollen. Der Gesetzgeber ist Staatsorgan. Jedes Staatsorgan hat das Wohl des Ganzen zu wahren und zu fördern. Im Parlament als dem Gesetzgebungsorgan sind jedoch nur Abgeordnete von Parteien vertreten 32 • Wie immer man die tatsächliche und rechtliche Unabhängigkeit der Fraktionen und der einzelnen Abgeordneten beurteilen mag, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Weisungsfreiheit gemäß Art. 38 Abs. I Satz 2 GG, so kann die enge Verbindung zwischen Partei und Parlament nicht geleugnet werden. Soll eine Wahlrechts änderung durch Gesetz beschlossen werden, so muß also dabei einerseits das Parlament das Wohl des Ganzen wahren und fördern, andererseits geht es dabei gerade um die Belange der im Parlament vertretenen politischen Parteien. Diese Situation ist als Gesetzgebungsvorgang in dieser Direktheit der Konfrontation zwar nicht typisch, aber auch nicht völlig ungewöhnlich, wie das Beispiel der Verabschiedung des Parteiengesetzes zeigt; die genannte Konfrontation behaftet die Wahlrechts änderung ebensowenig mit einem rechtlichen Makel wie die Verabschiedung des Gesetzes zur Erhöhung der Diäten der Bundestagsabgeordneten33 • Solange die "Selbstbegünstigung" zum Wohl des Ganzen erforderlich ist oder (allerdings bei Anlegung eines strengen Maßstabes) auch nur mit dem Wohl des Ganzen verträglich ist, kann sie verfassungsrechtlich nicht per se beanstandet werden. Verfassungsrechtliche Beanstandungen sind also hier wie bei jedem anderen Gesetzgebungsakt nur aus der Verletzung von Verfassungsbestimmungen zu erheben. Auf eine Wahlrechtsänderung durch Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems bezogen bedeutet dies: Die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems begünstigt die SPD; für die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems werden jedoch auch übergeordnete Gründe des Wohles des Ganzen vorgebracht. Die "maßgeschneiderte" Wahlrechtsänderung ist damit verfassungs rechtlich zulässig, es sei denn, das Dreier-Wahlkreis-System ver letzt Verfassungsbestimmungen.

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So jedenfalls im Bundestag. Beginnend mit den Bundestagswahlen von

1953 ist es keinem sog. Unabhängigen mehr gelungen, in den Bundestag gewählt zu werden; bei der Wahl von 1949 waren drei Unabhängige in den

Bundestag gelangt. 33 Vom 3. Mai 1968 (BGBl. I, S. 334 ff.). Vgl. aber Hildeg. Krüger, Verfassungsrechtliche Einschränkung von Wahlrechtsänderungen?, NJW 1956, S. 246 ff., die eine Erhöhung der Diäten für die laufende Legislaturperiode für unzulässig hält (S. 247).

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VI. Wahlrechtsänderung als verdecktes Parteienverbot 1. Gemäß Art. 21 Abs. II Satz 2 GG entscheidet über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei das Bundesverfassungsgericht. Das bedeutet, daß für ein Parteiverbot einzig und allein das Bundesverfassungsgericht zuständig ist 34 • Diese ausschließliche Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist geschaffen worden, um Mißbräuchen durch Parlament und Regierung vorzubeugen. Die in Parlament und Regierung vertretenen politischen Parteien sollten nicht die Möglichkeit haben, eine oder mehrere konkurrierende Parteien durch ein Verbot auszuschalten. Das bedeutet, daß ein Wahlrechtsänderungsgesetz, das eine oder mehrere politische Parteien verbietet, wegen Verstoßes gegen Art. 21 Abs. II Satz 2 GG unzulässig ist. 2. Die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems würde kein Verbot einer oder mehrerer politischer Parteien aussprechen, seine Einführung würde jedoch bedeuten, daß allen politischen Parteien mit Ausnahme der CDU/CSU und der SPD gegenwärtig und in absehbarer Zukunft der Einzug in den Bundestag erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird36 • Die von Ernst Wrage selbst angestellte Umrechnung des Dreier-Wahlkreis-Systems auf das Ergebnis der Bundestagswahl von 1965 nennt für die Mandatsverhältnisse die folgenden Prozentzahlen36 : CDU 49,4 Jetziges Wahlsystem Gruppenwahlrecht in Drei-Mann-Wahlkreisen 54,6

SPD F.D.P. u. sonst. 40,7

9,9

45,5

Hat das Dreier-Wahl-System die Verdrängung einer oder mehrerer politischer Parteien aus dem Bundestag zur Folge37 , so stellt sich die Frage, ob die Verdrängung einer oder mehrerer Parteien aus dem Bundestag dem Verbot im Sinne von Art. 21 Abs. II Satz 2 GG gleichkommt. 34 BVerfGE 1, 255: "Parteien dürfen aus dem Grund, daß sie eine politische Gefahr für die Demokratie darstellen (Art. 21 Abs. 2 Satz 1), nur in dem Verfahren des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 ausgeschaltet werden, nicht aber mit Mitteln der Wahltechnik." 35 Daß bei der rechtlichen Würdigung eines Gesetzes nicht dessen Form entscheidend ist, sondern seine Auswirkung, hat schon BVerfGE 8, 84 festgestellt: "Nicht die äußere Form, sondern der materiell-rechtliche Gehalt ist entscheidend. " 3& Zitiert im Kommissionsbericht, S. 70. 37 Dabei ist es gleichgültig, ob die betreffende(n) politische(n) Partei(en) schon im Bundestag vertreten sind oder nicht.

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3. Formalistisch gesehen bedeutet die Verdrängung einer oder mehrerer politischer Parteien aus dem Parlament kein Verbot, weil die Existenz der betroffenen Partei(en) rechtlich nicht ausgelöscht wird. Das Wirken einer Partei erschöpft sich aber nicht in ihrer bloßen Existenz. Die Parteien sollen und wollen bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (Art. 21 Abs. I Satz 1 GG). Der zwar nicht einzige, aber der wichtigste Platz der Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung ist das Parlament. Nicht umsonst gehört nach § 2 Abs. I Satz 1 i. Verbindung mit Abs. II ParteienG unabdingbar schon zum Begriff der politischen Partei, daß sie sich an den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften im Bund oder in den Ländern beteiligt38 • Die - zumindest angestrebte - Vertretung im Parlament unterscheidet die politische Partei im Sinne des Art. 21 GG von irgendeiner beliebigen Vereinigung im Sinne des Art. 9 Abs. I GG und bildet das Kernstück der Tätigkeit jeder politischen Partei: Wird einer oder mehreren politischen Parteien der Einzug in das Parlament durch Gesetzgebungsakt von vornherein verwehrt, so trifft diese Maßnahme die betroffene Partei in ihrem Kernbereich. Da - wie die Erfahrung beweist - diejenigen politischen Parteien, die längere Zeit hindurch nicht im Parlament vertreten sind, entweder völlig verschwinden oder zu einem Schattendasein auf regionaler Basis verurteilt sind, wirkt die Absperrung vom Parlament als Parteienverdrängung, die in ihrer Wirkung faktisch und auf die Dauer gesehen einem Parteiverbot gleichkommt. Diese Feststellung wird deutlich, wenn man sich folgendes (hypothetisches) Gesetz vor Augen hält: "Die X-Partei wird wegen verfassungswidrigen Verhaltens von der Vertretung im Deutschen Bundestag ausgeschlossen. Existenz und Tätigkeit der Partei bleiben im übrigen unberührt." Ein solches Gesetz wäre zweifellos wegen Verstoßes gegen Art. 21 Abs. II Satz 2 GG (andere Vorschriften39 können in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben) verfassungswidrig; zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht schon in seinem ersten Urteil40 zu Wahlrechtsfragen festgestellt: "Parteien dürfen aus dem Grunde, daß sie eine politische Gefahr für die Demokratie darstellen (Art. 21 Abs. 2 Satz 1), nur in dem Verfahren des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 ausgeschaltet werden, nicht aber mit Mitteln der Wahltechnik." Diese Feststellung muß dahin ausgelegt werden, daß auch eine an sich verfassungsrechtlich zulässige Wahlrechtsgestaltung dann verfas38 Vgl. § 2 Abs. II ParteienG: "Eine Vereinigung verliert ihre Rechtsstellung als Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Vorschlägen teilgenommen hat." 39 Z. B. Art. 19 Abs. I, Satz 1 GG. (0 BVerfGE 1, 255.

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sungsrechtlich unzulässig ist, wenn sie von jenem Grund (Motiv) getragen wird. 4. Der Vorschlag des Dreier-Wahlkreis-Systems enthält keinen ausdrücklichen Hinweis darauf, daß er die Verdrängung einer anderen Partei wegen deren verfassungsfeindlicher Haltung bezweckt. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Erklärung besagt jedoch noch nichts; entscheidend ist vielmehr das wirkliche Motiv 41 • Wird ein vorhandenes Motiv verschleiert, so heilt diese Tatsache den Verstoß gegen Art. 21 Abs. II Satz 2 GG nicht; die Verschleierung verschärft vielmehr die Verfassungswidrigkeit, weil die Verschleierung selbst bereits gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in anderem Zusammenhang zutreffend mit den Worten festgestellt: "Jedenfalls verstößt eine solche der Sachlage zuwiderlaufende Gesetzesgestaltung, die die wahren Absichten des Gesetzgebers verschleiert, gegen das Rechtsstaatsprinzip; sie hält sich nicht im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und ist deshalb nichtig 42 ." 5. Die Frage nun, ob das wahre Motiv des Vorschlages eines DreierWahlkreis-Systems ganz oder teilweise die Ausschaltung einer für verfassungswidrig angesehenen Partei war, ist eine Tatfrage, keine Rechtsfrage. Gegen diese Annahme könnte eingewendet werden, daß das Problem einer Wahlrechtsänderung schon seit vielen Jahren in der Bundesrepublik diskutiert wird. Bereits im Jahre 1952 hatten einige Abgeordnete der CDU/CSU einen Initiativentwurf für ein neues Wahlgesetz auf der Grundlage eines relativen Mehrheitswahlrechts eingebracht; seitdem ist die Debatte - mag sie auch mehrfach über kürzere oder längere Zeiträume hinweg geruht haben - nie mehr ganz verstummt43 • So gesehen könnte der Vorschlag eines Dreier-WahlkreisSystems als ein Glied in einer langen Kette von Erörterungen angesehen werden, die bereits vor dem Auftreten der NPD begonnen haben und deshalb mit dieser Partei nicht notwendig zusammenhängen. Auch haben prominente Politiker der Bundesregierung wie auch der SPD mehrfach betont, die Wahlrechts änderung richte sich nicht gegen eine oder mehrere bestimmte Parteien44 • Andererseits kann nicht über41

Zum Motiv des Gesetzgebers in solchen Fällen vgl. auch BVerfGE 1,

257: "Die Bekämpfung ,krankhafter' Parteien bedeutet in diesem Zusammen-

hang aber ein sachfremdes Motiv." 42 BVerfGE 17, 318. 43 Vgl. von der Vring, S. 65 ff. 44 Vgl. z. B. Paul Lücke, Ist Bann doch Weimar?, 1968, S. 84: "Mein Eintreten für eine Wahlrechtsreform richtet sich weder gegen die F.D.P., noch gegen die NPD, noch gegen irgendeine Partei, die noch kommen könnte." Bundeskanzler Kiesinger in der Bundespressekonferenz am 3. November 1967 (zitiert nach: Der Wähler, 1967, Nr. 8, S. 17: "Ich will damit nur sagen, es geht dabei nicht um die Ausschaltung irgendeiner Partei, sondern darum, 4 Festschrift Menzel

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sehen werden, daß zumindest ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den Wahlrechtsänderungsbestimmungen der Großen Koalition und der SPD-Wahlrechtskommission einerseits und dem Aufkommen der NPD andererseits besteht, und daß entsprechende Äußerungen sowohl von Mitgliedern der Bundesregierung als auch von SPD-Politikern zitiert werden können's. Eine genaue Sichtung und Würdigung des Tatsachenmaterials kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Im Streitfall wäre die Klärung der Tatfrage gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.

VII. Wahlrechtsänderung und Chancengleichheit der Parteien 1. Von der oben behandelten Frage, ob die Einführung des DreierWahlkreis-Systems einem verdeckten, gegen Art. 21 Abs. II Satz 2 GG verstoßenden Parteiverbot gleichkommt, ist die Frage zu trennen, ob die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems gegen den Grundsatz der Chancengleichheit verstößt. Ging es bei der erstgenannten Frage um die gezielte Ausschaltung speziell einer für verfassungswidrig oder zumindest für verfassungsrechtlich suspekt gehaltenen Partei, so geht es bei der zweitgenannten im folgenden zu erörternden Frage um das ein Wahlrecht zu schaffen, bei dem nicht ewig der Zwang zu Koalitionen besteht ... oe). 45 Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 3. Januar 1968 berichtet z. B. unter Berufung auf "Regierungskreise" : "Man wolle aber alle Möglichkeiten prüfen, die dazu beitragen könnten, die NPD aus dem Bundestag fernzuhalten und damit außenpolitischen Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden." Die gleiche Zeitung bringt in ihrer Ausgabe vom 7. November 1967 die Nachricht: ..Das bestehende Verhältniswahlsystem sollte nach Ansicht von Barzel so abgeändert werden, daß radikalen Parteien der Eintritt in den Bundestag fast unmöglich gemacht werde. Die Demokratie habe die Aufgabe, sich vor dem Radikalismus zu schützen, sie dürfe dabei alle erlaubten Mittel anwenden, sagte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende." - Vgl. ferner Herbert Wehner, Wahlrechtsänderung (hrsg. vom Vorstand der SPD, S. 4: "Unmittelbar vor Weihnachten hat der Bundeskanzler in einem Gespräch, zu dem dann Herr Lücke hinzugezogen wurde, erklärt, daß er in der Frage Übergangswahlrecht - jetzt schalte ich wieder um auf diesen zweiten Bestandteil der Regierungserklärung - umgedacht habe auf Grund der Entwicklung, die die NPD bei Landtagswahlen genommen habe.") - Vgl. weiter Hennis, Große Koalition ohne Ende, 1968, S. 46: "Und warum sollte das Fernhalten radikaler Parteien die zudem den Koalitionszwang nur verstärken würden, nicht ein legitimer Gesichtspunkt im Zusammenhang der Wahlrechtsdiskussion sein?" - Der Eindruck in der Öffentlichkeit ist wiedergegeben von Dürig, Beiratsbericht, S. 59: "Leider haben politische Spitzenkräfte der beiden großen Parteien wiederholt zu erkennen gegeben, daß es ein erklärtes Ziel der Reform sei, radikale Gruppen auszuschalten." - Vgl. auch - als Illustration der "Stimme des Volkes" - den Leserbrief "Wahlrechtsreform" im Vorwärts vom 17. Oktober 1968, S. 4: "Mir scheint der Wunsch nach einer Wahlrechtsänderung die Angst zu sein, daß eine rechtsradikale Partei in den nächsten Bundestag einzieht. Mehr oder weniger scheint dies doch des Pudels Kern, sich mit dem Problem einer Wahlrechtsänderung überhaupt beschäftigt zu haben."

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allgemeine Problem des Verhältnisses zwischen einer Wahlrechtsänderung und dem Grundsatz der Chancengleichheit aller Parteien. 2. Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien ist heute ein anerkannter Rechtsgrundsatz des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung von der Geltung dieses Rechtsgrundsatzes aus, mögen auch Terminologie ("Gleichheit der Wettbewerbschancen", "Gleichbehandlung", "Gleichbewertung", "Gleichberechtigung") und rechtsdogmatische Begründung (Art. 38 Abs. I S. 1, 21 Abs. I S. 1, 2, 3 Abs. I, 20 Abs. I GG) im einzelnen unterschiedlich gehandhabt werden46 • Unbestritten ist ferner, daß der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gerade auch für das Wahlverfahren gilt, und zwar in besonders strengem Maße, nämlich im Sinne einer formalisierten, d. h. grundsätzlich auch bloß sachgemäße Differenzierungen ausschließenden Chancengleichheit41 • Im Wahlverfahren läßt der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien - von wenigen, noch zu behandelnden Ausnahmen abgesehen - keine Abstufungen nach der augenblicklichen Größe der Parteien zu. Dieser Feststellung steht § 5 Abs. I ParteienG nicht entgegen; hier heißt es zwar: "Wenn ein Träger öffentlicher Gewalt den Parteien Einrichtungen zur Verfügung stellt oder andere öffentliche Leistungen gewährt, sollen alle Parteien gleichbehandelt werden. Der Umfang der Gewährung kann nach der Bedeutung der Parteien bis zu dem für die Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Mindestmaß abgestuft werden. Die Bedeutung der Parteien bemißt sich insbesondere auch nach den Ergebnissen vorausgegangener Wahlen zu Volksvertretungen." Die Vorschrift des § 5 Abs. I S. 1- 3 ParteienG will (und kann) aber nicht das Wahlverfahren selbst regeln, sondern zielt auf andere Vorgänge, insbesondere auf die Vermietung öffentlicher Säle und die Gewährung von Sendezeiten im Rundfunk. Dagegen kann die einfache Gesetzesvorschrift des § 5 ParteienG nicht den Verfassungsrechtssatz der Chancengleichheit außer Kraft setzen. 3. Von dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien hat allerdings auch das Bundesverfassungsgericht stets Ausnahmen zugelassen; solche Ausnahmen betrafen die Fünfprozent-KlauseI48 , das Erfordernis eines Grundmandats und das Unterschriftenquorum bei Einreichung von Wahlvorschlägen. Die Zulässigkeit der Aufstellung solcher Ausnahmen hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend nicht in das Belieben des Gesetzgebers gestellt; es hält Ausnahmen vom Grundsatz der Chancengleichheit vielmehr nur dann für verfassungsrechtlich zu48 47

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Vgl. Jülich, Chancengleichheit der Parteien, 1967, S. 63, 64. Vgl. Jülich, S. 103. BVerfGE 1, 208 ff.

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lässig, wenn dafür "zwingende" oder "besonders wichtige" Gründe vorliegen49 • Als ein solcher zwingendender Grund ist im Zusammenhang mit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Fünfprozentklausel die "Funktionsfähigkeit des Parlaments" angesehen worden 50 • 4. Damit stellt sich die Frage, ob auch die Gründe, die für die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems vorgebracht worden sind, als derartige zwingende, die Chancengleichheit der Parteien durchbrechende Gründe bezeichnet werden können. Zentrales Anliegen des Dreier-Wahlkreis-Systems ist es, die Notwendigkeit der Bildung von Koalitionsregierungen auszuschließen, mit anderen Worten, um den Bericht der Wahlrechtskommission der SPD wörtlich zu zitieren: "Dieses Wahlrecht schafft ... regierungsfähige Mehrheiten und eine starke Opposition51 ." Diese Begründung knüpft an die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger vom 13. Dezember 1966 an, die in dem hier interessierenden Zusammenhang lautete: "Die stärkste Absicherung gegen einen möglichen Mißbrauch der Macht ist der feste Wille der Partner der Großen Koalition, diese nur auf Zeit, also bis zum Ende der Legislaturperiode, fortzuführen. Während dieser Zusammenarbeit soll nach Auffassung der Bundesregierung ein neues Wahlrecht grundgesetzlich verankert werden, das für künftige Wahlen zum Deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht. Dadurch wird ein institutioneller Zwang zur Beendigung der Großen Koalition und eine institutionelle Abwehr der Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen überhaupt geschaffen." Eine verfassungsrechtliche Prüfung dieses Anliegens muß untersuchen, ob jenes Unwerturteil über die Bildung von Koalitionsregierungen vom Grundgesetz gefordert oder zumindest gedeckt ist. Da die Notwendigkeit einer Koalitionsregierung nur beim Vorhandensein von mindestens drei Parteien eintreten kann (nicht: muß), ist Vorfrage, was das Grundgesetz zum Mehr-als-zwei-Parteien-System52 sagt. In seiner abweichenden Stellungnahme zum Hauptvorschlag des vom Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform hat Günter Dürig dazu ausgeführt: "Zum Vielparteiensystem mag man stehen, wie man will: Nur kann man ein Unwerturteil darüber nicht aus dem Grundgesetz ablesen. Die Vorschriften des Art. 21 Abs. 1 Satz 2, Art. 63 Abs. 4, Art. 67, Art. 68 GG sind erkennbar Vgl. die übersicht bei Jülich, S. 103. Vgl. Jü!ich, S. 106. 51 Kommissionsbericht, S. 9. 5! Dieser Ausdruck wird hier bewußt gebraucht, da der Ausdruck "Vielparteiensystem" insofern nicht korrekt ist, als er das Vorhandensein mehrerer (aber nicht = vieler) Parteien nicht deckt; ein 3-Parteien-System ist kein Vielparteiensystem. 49

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nicht53 auf ein Zweiparteiensystem gemünzt. Es ist zuzugeben, daß zwar keine dieser Norm gegenüber einem Mehrheitswahlsystem verfassungsrechtliche Sperrwirkung hat. Ebenso steht jedoch fest, daß der Hauptvorschlag, der das Wahlrecht "funktional" an den Anforderungen des parlamentarischen Regierungssystems mißt, gleich drei Vorschriften im Abschnitt VI: "Die Bundesregierung" außer Funktion setzt ("obsolet" macht). Auch für eine Aversion gegen einen "institutionellen Zwang" zu Koalitionsregierungen kann man - vorsichtig gesagt - jedenfalls nicht das Grundgesetz bemühen. Dabei müßte auffallen, daß die "kommenden harten Zeiten", mit denen man futuristisch die Notwendigkeit des Mehrheitswahlrechts begründet, eigentlich Plädoyers für Koalitionen sind. Man erhält als Staatsrechtler erfahrungsgemäß auch kaum eine befriedigende Antwort, wenn man etwa fragt, warum eigentlich die Kabinette noch "stabiler" sein sollen, als es durch das "konstruktive Mißtrauensvotum" des Art. 67 GG bewirkt wird; wenn man feststellt, daß die Bildung von Koalitionsregierungen bei uns eher zu vorschnell als zu langsam erfolgt; wenn man behauptet, daß die beiden bisherigen Regierungskrisen nur am Rande "Koalitionskrisen" waren und auch ohne den Koalitionspartner eingetreten wären ... Herauszustellen ist jedoch ganz klar, daß gerade der bestechendste Grundgedanke des Hauptvorschlags, der im Sinn eines scharfen "EntwederOder" eine funktionelle Trennung zwischen Regierungspartei einerseits und Opposition andererseits vornehmen will, unter der Geltung des Grundgesetzes gar nicht durchzuhalten ist: a) Wir brauchen (anders als in England) bereits für jede noch so rein technische Verfassungsänderung das Quorum einer "ad-hoc-Koalition". b) Die Bundesrepublik ist (wiederum anders als in England) permanent auf den Bundesrat angewiesen ... 54. 5. Die Feststellungen Dürigs sind hier so ausführlich wiedergegeben worden, weil sie den Kern der Sache treffen. In der Tat läßt sich aus dem Grundgesetz kein Unwerturteil über ein Mehr-als-zwei-ParteienSystem und über Koalitionsregierungen herauslesen. Ergänzend zu der von Dürig gegebenen Begründung, die insbesondere in ihrem Hinweis auf Art. 67 GG kaum zu widerlegen sein dürfte, ist dabei noch auf folgendes hinzuweisen: Die Annahme, das Grundgesetz habe sich gegen ein Mehr-als-zwei-Parteien-System im allgemeinen und gegen Koalitionsregierungen im besonderen ausgesprochen, erscheint bei Berücksichtigung der historischen Situation, in der das Grundgesetz entstanden ist, unverständlich; denn im Parlamentarischen Rat waren AbgeGa S(

Hervorhebungen im folgenden entsprechen dem Originaltext. Zitiert im Beiratsbericht, S. 60.

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ordnete der CDU, derCSU, der SPD, der F.D.P., der DP, des Zentrums und der KPD vertreten; anzunehmen, daß bei dieser Zusammensetzung aus Vertretern von sieben Parteien der Parlamentarische Rat sich für ein Zwei-Parteien-System aussprechen wollte, wäre geradezu widersinnig. Die unguten Erfahrungen mit dem Viel-Parteien-System in Weimar waren dem Parlamentarischen Rat bekannt. In seinen Beratungen ist dieses Problem zur Sprache gekommen, jedoch nur im Hinblick auf Splitterparteien55 • Schon der Herrenchiemsee-Konvent hatte in seinen Entwurf eines Grundgesetzes eine Bestimmung eingefügt (Art. 47 Abs. V), die lautete: "Das Bundeswahlgesetz kann bestimmen, daß Parteien, die nicht wenigstens 5 v. H. aller gültigen Stimmen auf sich vereinigen, keinen Sitz erhalten, und daß auf zusammengerechnete Reststimmen einer Partei nicht mehr Sitze entfallen als die Partei in den Wahlkreisen unmittelbar erlangt hat56 ." Das weitere Schicksal dieser Sperrklausel gegen Splitterparteien braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden; es genügt die Feststellung, daß in den Beratungen des Parlamentarischen Rates keine Bestrebungen für ein Zwei-Parteien-System angeklungen sind, geschweige denn ihren Niederschlag in Gesetzesformulierungen gefunden haben, und daß eine Vielzahl von Parteien nur in bezug auf Splitterparteien für verfassungspolitisch unerwünscht angesehen wurde. Ebenso unverständlich wäre es auch, wenn der Parlamentarische Rat ein Unwerturteil über Koalitionsregierungen gefällt hätte just zu einer Zeit, in der alle deutschen Länder mit Ausnahme von Bayern und Schleswig-Holstein von Koalitionsregierungen regiert wurden, und in der die Erinnerung an eine pervertierte Machtordnung, die gerade Parteienvielfalt und Regierungskoalitonen ausgeschlossen hatte, noch lebendig war. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß der Parlamentarische Rat sich der Vergötzung des Satzes "Der Starke ist am Mächtigsten allein" und dem Unwerturteil über Koalitionen nicht anschließen wollte. Hier seien nur einige solcher typischer Äußerungen aus der NS-Zeit zitiert: "Man vergesse niemals, daß alles wirklich Große auf dieser Welt nicht erkämpft wurde von Koalitionen, sondern daß es stets der Erfolg eines einzelnen Siegers war. Koalitonserfolge tragen schon durch die Art ihrer Herkunft den Keim zu künftigem Abbröckeln, ja zum Verlust des schon Erreichten. Große, wahrhaft weltumwälzende Revolutionen geistiger Art sind überhaupt nur denkbar und zu verwirklichen als Titanenkämpfe von Einzelgebilden, niemals aber als Unternehmen von Koalitionen" (Adolf Hitler)57. 55 58 57

Vgl. JöR 1951, S. 204 ff.

JöR 1951, S. 202. Mein Kampf, 370 - 371. Auf!. 1938, S. 578.

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"Sie (die NSDAP) ist also gar keine Partei im Sinne der parlamentarischen Demokratie. Ihr Ziel ist nicht eine Koalition, sondern das Volk" (Joseph Goebbels)58. "Parteienstaaten leben nur von Mehrheitskoalitionen, unnatürlichen Verbindungen zwischen auseinanderstrebenden Kräften, also von Kompromissen und Lügen" (Specht)59. ". .. würdelose Zerrissenheit von Parlamentariern, die Monate brauchen, um nur dem Namen nach eine Regierung zu bilden" (Seckel)80. 6. Da also weder das Mehr-als-zwei-Parteien-System noch die Bildung einer Koalitionsregierung vom Grundgesetz mißbilligt werden, andererseits der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien aus dem Grundgesetz als zwingendes Verfassungs recht direkt zu entnehmen ist, hat der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien absoluten verfassungsrechtlichen Vorrang. Da der Grundsatz der Chancengleichheit wesentlicher Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist, kann er auch mit verfassungsändernder Mehrheit nicht aufgehoben werden (Art. 79 Abs. III in Verbindung mit Art. 20 Abs. I GG). Der Inhalt des Grundsatzes der Chancengleichheit der Parteien, der im übrigen komplexer Natur ist61 , kann für den vorliegenden Zusammenhang dahin umschrieben werden, daß zwar keine Partei einen verfassungsrechtlichen Anspruch besitzt, im Parlament vertreten zu sein, wohl aber einen Anspruch darauf hat, nicht durch einen nicht alle Parteien gleich treffenden Gesetzgebungsakt daran gehindert zu werden. Verfassungsrechtlich zulässig ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich die sog. Fünfprozentklausel im Rahmen des geltenden personalisierten Verhältniswahlrechts. VIII. Modifiziertes Mehrheitswahlrecht oder modifiziertes Verhältniswahlrecht? 1. Die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems würde die Sperrklausel anheben und verschärfen. Schätzungen haben ergeben, daß der Sperreffekt des Dreier-Wahlkreis-Systems bei 20 0J0 der abgegebenen Stimmen liegt62 • Es kann hier dahingestellt bleiben, wie die Grenze numerisch exakt zu ziehen ist; jedenfalls besteht aber kein Zweifel daran, daß sie weit überhalb der Fünfprozent-Grenze liegt.

58 "Angriff" vom 20. August 1928, zitiert bei Neeße, Das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat, 1934, S. 14. 58 Politische Hochschule, Rektoratsantrittsrede, 1935, S. 5. eo Zitiert nach Berliner Universitätstage 1966, S. 32. 11 Vgl. BVerfGE 1, 242; 6, 280; 7, 107; 8, 64 f.; 20, 116; Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1964, S. 188 ff. eI Nach einer Notiz in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung liegt sie im Durchschnitt bei 22,23 %.

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Bei dieser Sachlage erhebt sich die Frage, ob die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Fünfprozentklausel zu vereinbaren ist. Der wesentliche Inhalt dieser Rechtsprechung kann als bekannt vorausgesetzt werden; er ist in den amtlichen Leitsätzen des Urteils vom 5. April 1952 dahin zusammengefaßt: "In der Regel können Wahlgesetze nicht verworfen werden, wenn sie das Quorum nicht über 5 % ansetzen. Es müßten besondere Umstände des Einzelfalles vorliegen, die ein solches Quorum unzulässig machen würden. Es müssen ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5 % zu rechtfertigen 63 ." Es ist nicht ersichtlich, welche "ganz besonderen, zwingenden Gründe" heute gegeben sein sollten, um die Erhöhung der Sperrklausel über 5 % zu rechtfertigen. Die Erhöhung ist nicht erforderlich, um Splitterparteien vom Bundestag abzuhalten. Die F.D.P., die durch das DreierWahlkreis-System aus dem Bundestag ausgeschaltet werden soll, ist keine "Splitterpartei" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerich ts64 . Die Erhöhung der Sperrklausel ist auch nicht erforderlich, um "eine politisch aktionsfähige Regierung"65 zu schaffen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bundesrepublik unter der Geltung des derzeitigen Wahlrechts "politisch aktionsfähige Regierungen" gehabt hat66 . Da mithin keine "ganz besonderen, zwingenden Gründe" vorliegen, um die Erhöhung der Fünfprozent-Klausel zu rechtfertigen, wäre das DreierWahlkreis-System mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. 2. Die Unzulässigkeit der Anhebung der Sperrklausel über 5 Ufo hinaus bei Fehlen ganz besonders zwingender Gründe ist vom Bundesverfassungsgericht jedoch nur für das derzeit geltende sog. personalisierte Verhältniswahlrecht ausgesprochen worden. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß das Verhältniswahlrecht nicht das einzige nach dem Grundgesetz zulässige Wahlsystem ist67 . In seiner Entscheidung vom 5. April 1952 betreffend die Gültigkeit des § 3 Abs. I des Schleswig-Holsteinischen Landtagswahlgesetzes von 1951 (Fall des Südschleswigschen Wählerverbandes) hat das Gericht ausgeführt: "Weder das Grundgesetz noch die Landessatzung für Schleswig-Holstein BVerfGE 1, 210; bestätigt durch BVerfGE 3,383 ff.; 6, 94. Vgl. BVerfGE 13, 140; 14, 136. 8S SO die Formulierung in BVerfG 1, 248. 88 Man denke nur an die weitreichenden Beschlüsse zum Wehrbeitrag und zur Eingliederung in die Europäische Gemeinschaft. 87 BVerfGE 1, 246; 3, 394; auch OVG Lüneburg, OVGE Bd. 2, S. 170 und BayVerfGH N. F. Bd. 2, II, S. 45. 83

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schreiben die Verhältniswahl vor. Der Landtag von Schleswig-Holstein hätte das reine Mehrheitswahlrecht einführen können"68; und: "Es gibt Wahlverfahren, wie die Mehrheitswahl, die als unbedingt demokratisch angesehen werden, bei denen die politischen Anschauungen großer Teile des Volkes im Parlament unvertreten bleiben oder nicht ihrer Stärke gemäß vertreten sind69 ." Von diesem Ausgangspunkt könnte argumentiert werden, daß - wenn schon die Einführung des Mehrheitswahlsystems verfassungs rechtlich zulässig ist -, erst recht die Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems zulässig sein müßte. 3. Bereits der Ausgangspunkt dieser Argumentation ist nicht ganz unproblematisch. Zwar ist das BundeswahlG ein einfaches Bundesgesetz, das im einfachen Gesetzgebungsverfahren abgeändert werden kann70 ; aber der Gesetzgeber ist dabei an die Verfassung gebunden. In Art. 38 Abs. I Satz 1 GG ist der Grundsatz der Gleichheit der Wahl statuiert. Gleichheit der Wahl bedeutet gleicher Zählwert der abgegebenen Stimmen und kann bedeuten (zusätzlich) gleicher Erfolgswert der abgegebenen Stimmen. Das Erfordernis des gleichen Zählwertes ist heute unproblematisch und unbestritten, das Erfordernis des gleichen Erfolgswertes nicht7 1 . Das Bundesverfassungsgericht läßt für die Mehrheitswahl gleichen Zählwert genügen und fordert nur für die Verhältniswahl gleichen Erfolgswert: "Dabei kommt es bei der Mehrheitswahl auf den gleichen Zählwert jeder Stimme an, während bei der Verhältniswahl darüber hinaus - von den in engem Rahmen zulässigen Differenzierungen abgesehen - auch der gleiche Erfolgswert garantiert wird72 ." Unterscheidet man mit dem Bundesverfassungsgericht zwischen Zählwert und Erfolgswert in dem Sinn, daß nur der gleiche Zählwert absolut gilt, der gleiche Erfolgswert dagegen nicht, so können in der Tat keine verfassungsrechtlichen Einwände gegen die Einführung des Mehrheitswahlsystems erhoben werden. Eine betont an Art. 38 Abs. I Satz 1 GG orientierte Auslegung kann m. E. zu dem Ergebnis gelangen, daß der Grundsatz der Gleichheit der Wahl in höchstmöglichem Maße auch die Gleichheit des Erfolgswertes erfordert, die Gleichheit des Erfolgswertes beim Verhältniswahlsystem mehr gewahrt ist als beim Mehrheitswahlsystem, und daß deshalb das Verhältniswahlsystem mehr dem Art. 38 Abs. I Satz 1 GG entspricht als das Mehrheitswahlrechtsystem. Diese Wertung des Art. 38 Abs. I Satz 1 GG steht auch in keies BVerfGE 1, 246. 89 BVerfGE 1, 248. 70 Vgl. oben Abschnitt IU. 1. 71 Seifert, BWG, Randnr. 23 zu Art. 38 GG, S. 46. 72 BVerfGE 7, 70; vgl. auch BVerfGE 11,360.

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nem Widerspruch zu einem gleichwertigen Rechtsgut7 3, solange die Funktionsfähigkeit des Parlaments mit Hilfe der (verfassungsrechtlich zulässigen) Fünfprozentklausel gewahrt bleibt. 4. Diese Frage soll jedoch hier nicht vertieft werden. Es ist anzunehmen, daß Rechtsprechung und Rechtslehre ihren gegenteiligen Standpunkt vorerst nicht aufgeben werden. Von dieser Situation muß das vorliegende Gutachten ausgehen.

Der "Erst-recht"-Schluß von der Zulässigkeit einer Einführung des Mehrheitswahlrechtes auf die Einführung eines beliebigen anderen Wahlsystems ist vom Bundesverfassungsgericht selbst zurückgewiesen worden: "Daraus (nämlich aus der Möglichkeit der Einführung des Mehrheitswahlrechtes)14 ergibt sich aber nicht, daß bei der Kombination des Mehrheitswahlrechtes mit Elementen der Verhältniswahl der Verhältnisausgleich beliebig gestaltet werden könnte. Es wäre sachwidrig, eine ungleichmäßige Verwertung der Stimmen im Verhältnis ausgleich damit zu rechtfertigen, daß die Parteien bei der Mehrheitswahl noch ganz anders benachteiligt würden75 ." 5. Daher muß die Frage beantwortet werden, ob das Dreier-Wahlkreis-System ein modifiziertes Mehrheitswahlsystem oder ein modifiziertes Verhältniswahlsystem ist, weil nur bei Annahme eines modifizierten Verhältniswahlsystems nach herrschender Rechtsauffassung das Erfordernis des gleichen Erfolgswertes der abgegebenen Stimmen und das daraus und aus dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien resultierende Verbot der Verschärfung der Fünfprozentklausel zu beachten sind. Die Ansichten darüber, in welches Wahlsystem das Dreier-Wahlkreis-System einzuordnen ist, sind geteilt. Nach Ansicht von Friedrich Schäfer76 "ist es unrichtig, die Wahl in Mehrmandats-Wahlkreisen mit der Verhältniswahl mit vollem Verhältnisausgleich zu vergleichen und die Aussage des Bundesverfassungsgerichts über eine normativ festgelegte Sperrklausel auch auf die faktische Sperrklausel zu beziehen, die sich aus einem anderen Wahlsystem ergeben kann. Sind bereits von daher die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht gerechtfertigt, so läßt die Betonung, die das Bundesverfassungsgericht auf den Zweck und Charakter der Parlaments73 Zu beachten ist, daß das BVerfG (E 1, 33) das Wahlrecht als das "vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat" ansieht. Zu Abwägungsprinzipien zwischen Art. 21 und Art. 38 GG vgl. auch BVerfG 2, 72 f. 74 Einschub vom Verfasser. 75 BVerfGE 1, 246. 70 Zitiert nach Kommissionsbericht, S. 15.

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wahl legt, weiter darauf schließen, daß eine Differenzierung im Erfolgswert der Stimmen, wie sie die Wahl im Mehrmandats-Wahlkreis zur Folge hat, dann als aus der Natur der Sache kommend angesehen werden muß, wenn sie systemimmanent und systemkonsequent ist. Gerade das ist aber bei der Wahl in Mehrmandatskreisen der Fall". Georg Ress 77 meint, daß die Systeme "mit Mehrmannwahlkreisen streng genommen dem System der Verhältniswahl einzuordnen" sind, es sich aber nicht übersehen lasse, "daß zumindest die Systeme mit Zwei-, Drei- oder Viermannwahlkreisen in ihrer funktionalen Bedeutung eher dem Mehrheitswahlrecht zuzuordnen sind - immer unter der Voraussetzung, daß ein Verhältnisausgleich nicht stattfindet.... Ohne Verhältnisausgleich steht ein solches System (bei dem eine sehr geringe Zahl von Abgeordneten in kleinen Wahlkreisen gewählt wird) in funktionaler, auf den mehrheitsbildenden und personalisierenden Effekt abstellender Sicht der reinen Mehrheitswahl näher als der Verhältniswahl". Es sei daher als "Weiterbildung des reinen Mehrheitswahlrechts" aufzufassen. Rudolf Wildenmann, Werner Kaltefleiter und Uwe Schleth78 haben für das Vierer-Wahlkreis-System festgestellt: "Die Verhältniswahl ist nach der Berechnungsmethode ein Verhältniswahlsystem. Die Wirkungen aber entsprechen unter den Bedingungen des in der Bundesrepublik bestehenden Wählerverhaltens weitgehend denen der Mehrheitswahl. Das zeigt deutlich, daß die Grenzen zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl fließend sind. Es kommt allein auf die Größe der Wahlkreise und die Struktur der Wählerschaft an. Verhältniswahl in einem Einer-Wahlkreis ist relative Mehrheitswahl. Bei Dreier- oder ViererWahlkreisen überschneiden sich die Auswirkungen bei der Systeme, während bei größeren Wahlkreisen die klassischen Wirkungen der Verhältniswahl dominieren." Demgegenüber sagt Hans Schäfer79 : "Die Zahl der Mandate soll bei der Dreier-Wahl (wie bei der Vierer-Wahl, die aber inzwischen überholt ist) nach der d'Hondtschen Methode ermittelt werden. Damit fallen beide Systeme unter den Begriff der Verhältniswahl." Wertet man diese und andere Äußerungen, so fällt auf, daß das Dreier-Wahlkreis-System von niemandem (auch nicht von den AnhänDer Wähler 1968, Nr. 17/18, S. 5. Auswirkungen von Wahlsystem auf das Partei- und Regierungssystem der Bundesrepublik, in: Zur Soziologie der Wahl (hrsg. von Scheuch und Wildenmann), Sonderheft 9 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1965, S. 107. 79 Dreier-Wahl Eine Manipulation des Wählerwillens, in: fdk, Fachdienst für Innenpolitik der Freien Demokratischen Partei, Nr. IP 1/1968, S.2ff. 77

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gern dieses Systems) "Mehrheitswahlrecht" genannt wird, vielmehr wird für das Dreier-Wahlkreis-System stets die Bezeichnung "Verhältniswahlrecht" gebraucht80 , so von Lutz Franke81 ("Verhältniswahl im Vierer- und schließlich im Dreier-Wahl-Kreis"), Joachim Raschke 82 ("Verhältniswahl in Vierer-Wahlkreisen ..., die zwischen dem Verhältnis- und dem Mehrheitswahlrecht steht"), Helmut Unkelbach83 ("Verhältniswahl in Vier-Mann-Wahlkreisen"), Hans Apel84 ("Ich halte den Vorschlag einer Verhältniswahl in Viererwahlkreisen für keine echte Möglichkeit einer Reform"), Barthold C. Witte85 (" ... sozusagen Verhältniswahlrecht, aber reduziert auf vier Abgeordnete in einem Wahlkreis"). Besonders dezidiert hat sich Thomas Ellwein86 ausgedrückt, wenn er feststellt: "Wie zum Beispiel aus Köln oder Mannheim das Verhältniswahlrecht im Viererwahlkreis angeboten und dann unter den Terminus "Mehrheitswahlrecht" gestellt werden kann, ist wohl nicht nur mir etwas unverständlich, auch wenn ich mich damit nur gegen die benutzte Chiffre und noch nicht gegen das vorgeschlagene System wende." Schließlich nennt Ernst Wrage selbst, der das Dreier-Wahlkreis-System in der SPD zur Diskussion gestellt hat, dieses System Verhältniswahl: "Der Leser wird Parallelen zu Staatssekretär Friedrich Schäfers Vorschlag ,Wahl in Viererwahlkreisen' entdecken. Tatsächlich gehören beide Systeme in die Kategorie ,Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen'87." Dieser Sprachgebrauch entspricht im übrigen der Terminologie, die schon vor dem Bekanntwerden des Vorschlages von Ernst Wrage für die Wahl in Mehr-als-zwei-Mann-Wahlkreisen gebräuchlich war, z. B. bei Hans Peters88 ("Möglich sind aber auch Verhältniswahlen in kleinen Wahlkreisen [3 - 5] Abgeordnete") und bei Heinz Laufer {"Beim Verhältniswahlsystem ist entweder das Wahlgebiet ein einziger WahlAusgenommen Friedr'ich Schäfer, der diese Bezeichnung vermeidet. Die letzte Chance - wird sie vertan?, in: Der Wähler 1968, Nr. 16, S. 6. 8! Wie wählen wir morgen? Verhältnis- oder Mehrheitswahl in der Bundesrepublik, 1967, S. 68. 83 Die Viermann-Verhältniswahl keine Alternative zur relativen Mehrheitswahl, in: Der Wähler 1967, Nr. 3, S. 12. 84 Zur Problematik der Viererwahlkreise, in: Der Wähler, 1968 Nr. 13/14, S.l1. 85 In: Parteien, Wahlrecht, Demokratie, 1967, S. 113. Soweit diese - wie auch die genannten anderen Äußerungen - sich auf das Vierer-WahlkreisSystem bezieht, können sie angesichts der großen Nähe zwischen ViererWahlkreis-System und Dreier-Wahlkreis-System auch auf letzteres bezogen werden. 86 Wahlrechtsreform als Grundgesetzänderung?, in: Der Wähler 1968, Nr. 12, S. 3. 87 Zitiert nach Kommissionsbericht, S. 69. 88 Wahlen, in: Staatslexikon, Bd. 8,1963, Sp. 403. BO

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kreis oder es ist in einige wenige große Wahlkreise [Länder, Regierungsbezirke, Provinzen] aufgeteilt")89. Nun ist allerdings zuzugeben, daß der Sprachgebrauch allein - mag er auch Indiz für eine communis opinio sein - nicht entscheidend ist. Vielmehr muß danach gefragt werden, welche Funktion das jeweilige Wahlsystem hat und wie es wahltechnisch durchgeführt wird. Die erste Frage kann leicht beantwortet werden. Der Bericht der Wahlrechtskommission der SPD hält für "besonders bedeutsam ... das Problem der politischen ,Verödung' von ganzen Regionen, die im Falle der relativen Mehrheitswahl auf lange Sicht nur durch Abgeordnete einer Partei im Parlament vertreten wären"9o, und daß das DreierWahlkreis-System "der Opposition die Sperrminorität bei Verfassungsänderungen sichert"91. Die Funktion des Dreier-Wahlkreis-Systems als gewollte Antithese zur Einführung des relativen Mehrheitswahlrechtes liegt also im Schutz der Minderheit. Gerade das aber ist die Funktion des Verhältniswahlrechtes92 , so daß Dreier-Wahlkreis-System und Verhältniswahl sich in ihrer Funktion decken. Zur wahltechnischen Abwicklung, d. h. zur Verteilung der Mandate, heißt es im Bericht der Wahlrechtskommission der SPD: "Die den Parteien im Wahlkreis zufallende Anzahl der Mandate wird nach der d'Hondtschen Methode ermittelt." Genau diese wahltechnische Abwicklung ist für das Verhältniswahlrecht charakteristisch93 . Damit steht fest, daß das Dreier-Wahlkreis-System eine Variante des Verhältniswahlrechts darstellt, die zwar in die Nähe des Mehrheitswahlrechtes rückt, aber immer noch primär dem Verhältniswahlrecht zuzuordnen ist. 89 Die demokratische Ordnung, 1966, S. 166. Kommissionsbericht, S. 8. Ul Kommissionsbericht, S. 9. 02 Vgl. die Definition in Meyers Lexikon, 7. Aufl. Bd. 12, 1930, S. 932: "Den Gegensatz zur Mehrheitsvertretung (Majoritätswahl) bildet die eine Minoritätenvertretung bezweckende Verhältnis-(Proportionswahl). Verhältniswahl ist diejenige Wahleinrichtung, die bezweckt, daß durch die Wahl eine verhältnismäßige Vertretung erzielt wird, in der auch die Minderheiten zu einer entsprechenden Geltung kommen." 03 Vgl. § 6 Abs. II BVerfGG: "Der Bundestag wählt 12 seiner Mitglieder als Wahlmänner nach den Regeln der Verhältniswahl. Jede Fraktion kann einen Vorschlag einbringen. Aus den Summen der für jeden Vorschlag abgegebenen Stimmen wird nach dem Höchstzahlverfahren (d'Hondt) die Zahl der auf jeden Vorschlag gewählten Mitglieder errechnet ... " - Vgl. ferner Seifert, BWG, S. 7: "Die wichtigsten Verhältnisrechnungssysteme sind: (1) ••. (2) System d'Hondt (3) •.. , (4) ... , W. Jellinek, Die Zusammensetzung der Landesparlamente, in: Anschütz / Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, S. 627: "Von den Verhältniswahlsystemen trifft man das nach ... , das nach ... , das nach d'Hondt, das nach ... , und das ... an." 00

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6. Die Anhänger des Dreier-Wahlkreis-Systems meinen, daß "selbst wenn man ein solches Gruppenwahlsystem unter die Verhältniswahl einordnet, es aber durchaus mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben im Einklang stehen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich nur gefordert, daß innerhalb jedes Abschnittes der Wahl Folgerichtigkeit herrschen muß. Folgerichtigkeit herrscht bei dieser Verhältniswahl im Dreierwahlkreis, da von den sich bewerbenden Kandidaten die drei Kandidaten gewählt sind, auf welche nach dem Verhältnis der Parteilisten die höchste Stimmenzahl entfällt. Nur wenn sich der Gesetzgeber für einen zusätzlichen Verhältnisausgleich entscheidet, muß auch in diesem Teil des Wahlverfahrens die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden. Bemerkenswert ist, daß in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das konditionale "wenn" kursiv gedruckt ist. Hat der Gesetzgeber keinen zusätzlichen Verhältnisausgleich eingeführt, so kann sich die Frage nach der weiteren Folgerichtigkeit des Systems nicht stellen94 ." In der Sache gleich meint Friedrich Schäfer96 , es lasse "die Betonung, die das Bundesverfassungsgericht auf den Zweck und Charakter der Parlamentswahl legt, weiter darauf schließen, daß eine Differenzierung im Erfolgswert der Stimmen, wie sie die Wahl in Mehrmandats-Wahlkreisen zur Folge hat, dann als aus der Natur der Sache kommend angesehen werden muß, wenn sie systemimmanent und systemkonsequent ist. Gerade das ist aber bei der Wahl in Mehrmandatskreisen der Fall". Daran ist zwar richtig, daß das Bundesverfassungsgericht schon in seinem grundlegenden Urteil vom 5. April 195296 die Folgerichtigkeit (nur) für jeden Abschnitt der Wahl fordert, und daß in bezug auf das Dreier-Wahlkreis-System eine gewisse Folgerichtigkeit nicht von vornherein zu bestreiten ist; aber das Bundesverfassungsgericht hat in einer späteren Entscheidung vom 23. Januar 1957 97 klar und eindeutig herausgestellt: "Wenn der Gesetzgeber sich für einen Teil des Wahlverfahrens für das Verhältniswahlsystem entscheidet, so stellt er sich damit zugleich unter das Gesetz der Verhältniswahl und unterwirft sich damit der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfahren hat." Das Bundesverfassungsgericht geht sodann auf die Wahlgleichheit ein und fährt fort 9s : "Für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie das Grundgesetz sie geschaffen hat, ist die Gleichbewertung aller 94

8.4.

Ress, Grundgesetz und Dreierwahlkreise, Der Wähler 1968, Nr. 17/18,

Zitiert nach Kommissionsbericht, S. 15. BVerfGE 1, 246. 97 BVerfGE 6, 90. Diese Entwicklung widerspricht nicht der Entscheidung in Bd. I, 246, präzisiert sie aber. 98 BVerfGE 6, 91 f. 95

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Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts eine der wesentlichen Grundlagen des Wahlrechts ... Es darf auch nicht der Erfolgswert der Stimmen unterschiedlich gestaltet werden, je nach der Art der politischen Meinung, für die der Wähler sich entschieden hat. Da die Aufgabe der politischen Parteien nach Art. 21 Abs. I GG gerade darin besteht, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ist mit der verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit der Gründung im Grundsatz auch die freie Auswirkung bei der Wahl, d. h. die volle Gleichberechtigung aller Parteien, notwendig verbunden. Für das Staatsleben ,gefährliche' Parteien können nur nach Art. 21 Abs. 2 GG ausgeschieden werden." Im folgenden erörtert das Gericht sodann die Funktion der Wahl, "ein Parlament als funktionsfähiges Staatsorgan hervorzubringen" und folgert daraus, es "dürfen daher sogenannte ,Splitterparteien' bei der Zuteilung von Sitzen in der Verhältniswahl ausgeschaltet werden, um Störungen des Verfassungslebens vorzubeugen"99. Diese (zutreffende) Aussage des Bundesverfassungsgerichts kann gar nicht anders verstanden werden, als daß eben nur Splitterparteien, nicht aber andere Parteien in der Verhältniswahl ausgeschieden werden sollen. Die F.D.P. ist keine Splitterpartei, und drei Parteien im Parlament sind keine Gefahr in dem Sinne, daß "das Parlament eine größere Anzahl von kleineren Gruppen aufweist" 100. Die Festsetzung der von Friedrich Schäfer101 selbst so bezeichneten "faktischen Sperrklausei" weit über die Fünfprozentklausel hinaus verletzt eindeutig die Chancengleichheit der Parteien und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Diese Feststellung kann auch nicht mit einem Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Wahlgesetzgebers ausgeräumt werden, da "der dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Verhältniswahlrechtes nach dem Grundsatz der gleichen Wahl belassene Ermessensspielraum eng bemessen ist"102, 103. IX. Zeitpunkt der Wahlrechtsänderung -

1. Die Frage, ob - unabhängig von der grundsätzlichen Zulässigkeit das Wahlrecht hic et nunc geändert werden darf, läßt sich in zwei

BVerfGE 6, 92. So die Formulierung in BVerfGE 6, 94. 101 Zitiert nach Kommissionsbericht, S. 15. 102 BVerfGE 6, 94. 103 Vgl. auch Maunz, Grundgesetzliche Schranken einer Wahlrechtsreform, in: Der Wähler 1967, Nr. 8, S. 13: "Rechtlich ganz unbedenklich halte ich diesen Weg (gemeint ist: die Einführung des Vierer-Wahlsystems) übrigens auch nicht. Man kann darüber streiten, ob nicht doch die Realität der Chance so gering wird, neben den zwei großen Parteien ins Parlament zu kommen, daß man die Auffassung vertreten könnte, hier sei doch wohl die Chancengleichheit in ihrem Kern verletzt." 99

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Komplexe aufspalten: einmal kann die Frage gestellt werden, ob es bei den derzeitigen politischen Verhältnissen verfassungsrechtlich zulässig ist, das Wahlrecht zu ändern, zum anderen, ob das Wahlrecht noch für die Wahl zum nächsten Bundestag geändert werden kann. Beide Fragen hängen also mit dem Zeitpunkt der Wahlrechtsänderung zusammen, jedoch handelt es sich bei der erstgenannten Frage nicht um ein feststehendes (fixes) Datum, sondern gewissermaßen um die Zeitläufte, bei der zweitgenannten Frage dagegen um die konkrete Frage, wieviel Zeit zwischen Verabschiedung einer Wahlgesetzänderung und Wahltermin liegen muß. 2. Zur ersten Frage hat Peter Badura mittelbar Stellung genommen: "Insbesondere ist der Übergang von der einmal eingeführten Verhältniswahl zur Mehrheitswahl nicht einfach eine Verbesserung des Wahlrechts - wenn man von den Einwänden gegen die Mehrheitswahl einmal absieht -, sondern ein politischer Eingriff in die bestehenden Kräfteverhältnisse. Sofern nicht ein eindeutig ausgeprägtes Zwei-Parteiensystem vorhanden ist, und, was eine weitere und selbständige Bedingung ist, die Parteien nicht zueinander in einem konkurrierenden Verhältnis von Regierung und Opposition stehen, indem sie die beiden gesellschaftlichen Haupttendenzen der Beharrung und der Bewegung verkörpern, ist der Übergang von der Verhältniswahl zur Mehrheitswahl eine staatsstreichartige politische Entscheidung im Mantel des Wahlrechts, die für den demokratischen Charakter des politischen Prozesses gefährlich werden kann104 ." Eine Wertung dieser Stellungnahme ist nach der in vorliegendem Gutachten vertretenen Auffassung nicht erforderlich. Sieht man - wie hier geschehen - das Dreier-Wahlkreis-System nicht als eine modifizierte Mehrheitswahl, sondern als modifizierte Verhältniswahl mit erhöhter faktischer Sperrklausel an, so erfolgt bei Einführung des Dreier-Wahlkreis-Systems kein Übergang vom Verhältniswahlrecht zum Mehrheitswahlrecht, sondern nur ein Übergang von einer Art des Verhältniswahlrechtes zu einer anderen Art des Verhältniswahlrechtes. Mit der These von Peter Badura müssen sich aber diejenigen Autoren auseinandersetzen, die das Dreier-Wahlkreis-System als eine Art Mehrheitswahlrecht auffassen. 3. Welcher zeitliche Zwischenraum zwischen der Verabschiedung bzw. Änderung eines Wahlgesetzes und dem Wahltermin liegen muß, ist weder im Grundgesetz noch im Bundeswahlgesetz geregelt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat hierzu keine konkrete zeitliche Angabe ge10' Komm. zum Banner GG (Banner Kommentar), Randnr. 22 zum Anh. zu Art. 38 GG: BWahlG.

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macht, wohl aber allgemein festgestellt 105 : "Es könnte in diesem Zusammenhang (gemeint ist, ob das betreffende Landeswahlgesetz bestimmte Gruppen einer sie benachteiligenden Ausnahmebehandlung unterwirft)1°6 von Bedeutung sein, daß das neue, hier umstrittene Wahlgesetz kurz vor Ablauf der letzten Wahlperiode verabschiedet worden ist. Änderungen von Wahlgesetzen kurz vor Ablauf der Wahlperiode ... erwecken den Verdacht der Unsachlichkeit. Es bedarf deshalb gerade bei solchen Gesetzen aufmerksamer Prüfung, ob nach den Umständen des Einzelfalles der Schluß auf ein "Maßnahmegesetz" gezogen werden muß." Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß einerseits die organisatorischen Vorbereitungen für eine Bundestagswahl früh beginnen müssen, vor allem auch frühzeitig weittragende personelle und finanzielle Dispositionen zu treffen sind, andererseits auch dem Wähler für das Reifen seiner Wahlmotivation genügend Zeit gelassen werden muß, erscheint es rechtens, aber wohl auch ausreichend, zu fordern, daß die Wahlgesetzänderung vor Beginn des Wahljahres in Kraft getreten sein muß. Diesem Gebot steht eine zeitliche Begrenzung des Wahlkampfes nicht entgegen101 • Im übrigen zeigt auch § 20 Abs. I ParteienG mit der Möglichkeit, Abschlagszahlungen auf die Wahlkampfkosten bereits vom zweiten Jahr der Wahlperiode an zu beantragen, daß der Gesetzgeber davon ausgeht, daß die Vorbereitungen einer Wahl schon früh beginnen.

BVerfGE 3, 401. Einschub vom Verfasser. 101 Vgl. BVerfG 20, 114: "Der Wahlkampf setzt voraus, daß die Wahl nahe bevorsteht; er ist zeitlich begrenzt. 105

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5 Festschrift Menzel

Zur Stellung der bundesunmittelbaren Unternehmen des öffentlichen Rechts im Haushaltsrecht Von Wolfgang Rüfner Die Kontrolle der Rechnungshöfe über die juristischen Personen des öffentlichen Rechts im allgemeinen und über die Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person des öffentlichen Rechts im besonderen hat seit langem Probleme aufgeworfen, die z. Zt. der Geltung der Reichshaushaltsordnung und ihrer Nebengesetze vielfach diskutiert wurden. Manche der früheren Fragen hat die Neuordnung des Haushaltsrechts gelöst. Andere sind geblieben, nicht gering -ist die Zahl der neuen Zweifel, welche das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) und die Bundeshaushaltsordnung (EHO) sowie die ihr weitgehend gleichlautenden Haushaltsordnungen der Länder aufwerfen. Sie alle in diesem Beitrag zu behandeln, ist nicht möglich. Einige seien daher nur angedeutet: Schon der Begrüf des Unternehmens in der Rechtsform einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (UöR) gibt Anlaß zu Interpretationsschwierigkeiten, und zwar nach zwei Seiten. Zum einen ist der Begriff des Unternehmens nicht definiert, so daß dessen Abschichtung von den übrigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zum Problem werden kann!. Zum anderen gibt es unter den UöR Gebilde ganz verschiedener Nähe zum Staat. Zum Teil handelt es sich um Unternehmen, die ohne jede öffentliche Aufgabe und ohne staatliche Kapitalbeteiligung in der Wettbewerbswirtschasft stehen, einzelne unter ihnen haben nicht einmal eine Mutterkörperschaft, der sie zuzuordnen sind. Ob und inwieweit das Haushaltsrecht sie erfassen will und nach dem übergeordneten Verfassungsrecht überhaupt erfassen kann, ist eine nach wie vor offene Frage2 • Das neue Haushaltsrecht hat die Unklarheiten nicht beseitigt, 1 Vgl. dazu Karehnke, nOH 10, S. 208; Piduch, Bundeshaushaltsrecht, § 112 BHO, Anm. 3; Karehnke, nie Unternehmen in der Rechtsform einer bundesunmittelbaren juristischen Person des öffentlichen Rechts und ihre Prüfung, nOH 16 (1975), S. 27 f., 41. Für die Überlassung seines Manuskripts zur Vorbereitung dieses Beitrags möchte ich Herrn Karehnke an dieser Stelle aufrichtig danken. ! Vgl. W. Weber, in: Verfassung, Verwaltung, Finanzkontrolle, Festschrift für Hans Schäfer, 1975, S. 281 ff.; ders., JurJb. 8, S. 155 ff., bes. S. 158; Bank, AöR 80,266 f.; die Unterschiede zwischen den verschiedenen UöR betont auch Karehnke, nOH 16, S. 29 f.

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sondern gewissermaßen bestätigt, indem es formulierte, UöR seien "unabhängig von der Höhe der Beteiligung" des Bundes bzw. eines Landes seinen Regelungen unterstellt (§§ 48 Abs. 2 Satz 1, 55 Abs. 2 HGrG; § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO)3. Besondere Schwierigkeiten bereitet die verwirrende Verweisungstechnik, deren sich der Gesetzgeber in § 112 Abs. 2 BHO bedient hat. Hier steht der Interpret vor einer fast unlösbaren Aufgabe, weil die Regelung anscheinend nicht bis zum letzten durchdacht ist. Der nachstehende Versuch will die Grundlinien aufzeigen und auf dieser Basis die einzelnen zitierten Bestimmungen systematisch einordnen. I. Grundsätzliches Das Haushaltsrecht befaßt sich grundsätzlich mit der Tätigkeit des Staates bzw. der Gebietskörperschaften. Nur sie, nicht private Unternehmungen werden von den Rechnungshöfen kontrolliert. Das gilt auch dann, wenn der Staat sich an einem Unternehmen beteiligt. Gegenstand der Rechnungsprüfung ist die Betätigung des Staates in dem Unternehmen, an dem er beteiligt ist, nicht die Betätigung des Unternehmens selbst. Das frühere Haushaltsrecht folgte diesem Grundsatz fast uneingeschränkt und unterwarf Unternehmen, an denen der Staat beteiligt war, keiner Sonderbehandlung4 • Auch das neue Haushaltsrecht folgt den bisherigen Prinzipien. Gegenstand der Rechnungsprüfung ist nach wie vor nicht die Tätigkeit eines privatrechtlichen Unternehmens, mag auch der Staat an ihm beteiligt, sogar mit Mehrheit beteiligt sein. Allerdings beschränken sich HGrG, BHO und die Haushaltsordnungen der Länder nicht mehr nahezu ausschließlich auf Regelungen, welche Bund, Länder und Gebietskörperschaften verpflichten. Sie legen vielmehr in den §§ 53 f. HGrG unter Durchbrechung des Gesellschaftsrechts auch den Unternehmungen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, besondere Pflichten auf und unterwerfen sie besonderen Einflüssen der öffentlichen Anteilseigner. Die Macht der öffentlichen Hand als Gesellschafter wird verstärkt. Noch weitergehende Rechte gegenüber den Unternehmen des privaten Rechts hält die BHO für wünschbar, ohne indes ihre zwangsweise a Die Auslegung der Wendung ist umstritten. W. Weber, Festschrift Schäfer (2), S. 285 f., erklärt nur die Höhe der Beteiligung für irrelevant, nicht deren Bestehen überhaupt. Anders Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 3; Lohl, DÖH 12, S. 40. 4 Vgl. Vialon, Haushaltsrecht, 2. Aufl. 1959, § 110, Anm. 6; dazu §§ 110 ff. RHO; § 117 hatte kaum praktische Bedeutung, vgl. Vialon, § 117, Anm. 1; s. auch § 48 RHO, wonach der Staat immerhin ggf. auf die Einräumung von Sonderrechten hinwirken sollte. Auch § 48 RHO unterwarf die Unternehmen jedoch nicht kraft Gesetzes besonderen Pflichten.

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Durchsetzung zu ermöglichen. Das Gesetz sagt vielmehr nur, der zuständige Bundesminister solle darauf hinwirken, daß dem Bund Rechte eingeräumt werden (§ 65 Abs. 3 Satz 1, Abs. 6, § 66, § 67 BHO).

In allen diesen Fällen haben die besonderen Verpflichtungen der privaten Unternehmen, seien sie auf Grund der §§ 53 f. HGrG kraft Gesetzes oder auf Grund Gesetzes auferlegt oder entsprechend den zuletzt genannten Bestimmungen der BHO vom Unternehmen bzw. den weiteren Anteilseignern freiwillig übernommen, vor allem die Funktion, die Kontrolle der Tätigkeit des Bundes, der Länder oder der Gebietskörperschaften in den Unternehmen zu erleichtern. Die besonderen Rechte dienen dem Interesse des öffentlichen Anteilseigners, die Betätigung des privaten Unternehmens als solche steht nicht im Zentrum des Interesses. Soweit sie einer besondern Prüfung unterworfen wird, ist diese Prüfung eine Hilfe für die Kontrolle der öffentlichen Anteils eigner durch die Rechnungshöfe, die Parlamente und die Öffentlichkeit. Es wäre denkbar, die UöR im Prinzip so zu behandeln wie privatrechtliche Unternehmen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist. Gegenstand der Rechnungsprüfung wäre dann nicht die Betätigung der UöR selbst, sondern nur die des Staates in den UÖR. Dem Grundgesetz würde eine solche Regelung entsprechen, denn eine Prüfung der UöR selbst ist in der Verfassung nicht vorgeschrieben6 • Schon die Reichshaushaltsordnung hat jedoch eine unmittelbare Prüfung der UöR durch den Rechnungshof zwingend vorgeschrieben, wenn sie auch die Einzelausgestaltung den Gesetzen und Satzungen überließ (§ 88 Abs. 3 RHO). Die Verordnung über die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung während des Krieges, das sog. Kriegskontrollgesetz, unterwarf dann die UöR - wie alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts - der unmittelbaren Prüfung durch den Rechnungshof, sah allerdings die Möglichkeit von Ausnahmen vor6 • Das HGrG (§ 48 Abs. 2) und ihm folgend die BHO (§ 112 Abs. 2 Satz 1) sowie die Haushaltsgesetze der Länder ordnen ebenfalls eine unmittelbare Prüfung der UöR an. Zweifel, welche das nur subsidiär geltende Kriegskontrollgesetz (vgl. dessen §§ 4 Abs. 3 Satz 2)1 offengelassen hatte, sind heute bereinigt. Die UöR unterliegen - soweit sie von den 5 Vgl. Vogel/Kirchhof, Bonner Kommentar zum GG, Art. 14, Rdnr. 130; E. R. Huber, Festschrift für Arthur Nikisch, 1959, S. 348. Das frühere Haus-

haltsrecht behandelte die UöR praktisch weitgehend ähnlich wie privatrechtliche Unternehmen, vgl. Karehnke, DÖH 16, S. 31 f. 6 Zur Fortgeltung dieser Bestimmungen nach dem Kriege vgl. Vialon (4), S. 1178; W. Weber, DÖH 1, S. 29 ff., insbes. S. 33 ff., 38 f.; E. R. Huber (5), S. 332 ff. 7 Dazu W. Weber, DÖH 1, S. 33; Bank, DÖH 8, S. 210.

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zitierten Bestimmungen erfaßt werden - der unmittelbar kraft Gesetzes vorgeschriebenen Rechnungsprüfung. Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen grundsätzlich nicht. Die Rechnungsprüfung der UöR ist zwar nicht durch Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG angeordnet, aber auf Grund von Art. 114 Abs. 2 Satz 3 GG möglich8 • Durch diese unmittelbare Prüfung der UöR werden deren Beziehungen zu ihrer Mutterkörperschaft nicht erfaßt, jedenfalls werden insoweit Rechte und Pflichten nicht geregelt. Welche Pflichten der Bund bezüglich der bundesunmittelbaren UöR hat und wie deren Erfüllung durch den Bundesrechnungshof kontrolliert werden kann, ist allein durch die Bestimmung, UöR seien wie der Bund selbst zu prüfen, nicht geregelt. Allerdings gibt die Prüfung der UöR dem Rechnungshof die Möglichkeit, zu überprüfen, wie sich der Bund gegenüber "seinen" Unternehmen verhalten hat. Das neue Haushaltsrecht hat dieses Problem gesehen und dadurch gelöst, daß es die UöR weitgehend den Bestimmungen unterworfen hat, welche für die privatrechtlichen Unternehmen gelten, an welchen der Bund (bzw. die Länder) beteiligt ist. Auf diese Bestimmungen wird in § 55 Abs. 2 HGrG sowie in § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO (entsprechend in den jeweiligen Vorschriften der Länder)9 verwiesen. Die UöR werden also insoweit behandelt wie Unternehmen des privaten Rechts. Das Haushaltsrecht spricht die UöR also in zweifacher Eigenschaft an: Es erfaßt sie einmal als juristische Personen des öffentlichen Rechts und stellt sie insoweit dem Bund bzw. den Ländern und Gebietskörperschaften gleich. Es gewährt ihnen Rechte und legt ihnen Pflichten auf, wie sie dem Staat zukommen. Zum anderen betrachtet das Haushaltsrecht die UöR auch wie Unternehmen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, und ordnet daher die Anwendung von Vorschriften an, die für das Verhältnis der öffentlichen Hand zu den privatrechtlichen Unternehmen gelten, an denen sie beteiligt ist. Das Haushaltsrecht erfaßt die UöR daher gewissermaßen auf zwei Ebenen oder Stufen. Auf der Stufe der juristischen Person des öffentlichen Rechts und auf der Stufe der Beteiligung. Das ist freilich aus 8 Vogel / KiTchhof (5), Art. 114, Rdnr. 130; W. WebeT, DÖH 1, S. 39. Das heißt freilich nicht, daß die Rechnungskontrolle völlig unbeschränkt auf alle Gebilde erstreckt werden könnte, die zufällig als juristische Personen des öffentlichen Rechts konstituiert sind. Dazu vgl. o. Fußnote 3. v Vgl. dazu im einzelnen W. WebeT, Festschrift Schäfer (2), S. 284. Zur Gleichartigkeit der Regelungen in Bund und Ländern allgemein vgl. KaTehnke, DÖH 16, S. 33.

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den gesetzlichen Vorschriften nicht ohne weiteres ersichtlich. Die verwirrende Verweisungstechnik des § 112 Abs. 2 BHO läßt zumindest dem Wortlaut nach verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zu, so daß versucht worden ist, die Bestimmungen weitestgehend so zu deuten, daß die UöR nur den Gebietskörperschaften, nicht den Beteiligungen gleichgestellt werden10 • Diese Auffassung wird jedoch dem Sinn des § 112 Abs. 2 BHO (für die Länder gilt entsprechendes) nicht gerecht, wie sich aus den folgenden überlegungen ergibt: § 48 Abs. 2 HGrG und ihm folgend § 112 Abs. 2 Satz 1 letzte Alternative (,,§ 111 unmittelbar anzuwenden") BHO schreiben die Anwendung der für Staat und staatsunmittelbare juristische Personen (für den Bund bundesunmittelbare juristische Personen) des öffentlichen Rechts geltenden Prüfungsvorschriften auf die UöR vor. Die UöR sollen geprüft werden wie Bund (und Länder) selbst. Insoweit werden sie also sicher nicht als Beteiligungen des Bundes (bzw. der Länder) angesprochen, sondern unmittelbar. Dagegen ergibt die entsprechende Anwendung von § 65 Abs. 1 Nr. 3 und 4 und Abs. 2, 3 und 4, § 68 Abs. 1 und § 69 BHO gern. § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO keinen vernünftigen Sinn, wenn man insoweit die UöR dem Bund gleichstellt. Dasselbe gilt für § 55 Abs. 2 HGrG. Auf die UöR als dem Bund gleichgestellte juristische Person des öffentlichen Rechts angewendet, wären diese Verweisungen so zu verstehen, daß das Verhältnis der UöR zu den privatrechtlichen Unternehmungen geregelt würde, an denen die UöR beteiligt sindl l . Das wäre zwar an sich möglich, würde aber § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO weitgehend leerlaufen lassen und zur Annahme einer dem Gesetzgeber nicht zu unterstellenden überflüssigen Doppelverweisung zwingen12 • Geht man indes davon aus, daß in § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO durch Verweisung auf die §§ 65 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2, 3, 4, § 68 Abs. 1 und § 69 BHO das Verhältnis von Bund und UöR entsprechend dem des Bundes zu seinen privatrechtlichen Unternehmen geregelt wird, so bleibt § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO sinnvoll. § 112 Abs. 2 Satz 2 spricht die UöR und ihre Beteiligungen in ihrem Verhältnis zueinander an und schreibt vor, daß hier dasselbe gelten soll, wie im Verhältnis des Bun10 Vgl. Karehnke, DÖH 10, S. 212, 222; ders., DÖH 16, S. 30 f., der aber selbst gewisse Zweifel äußert (S. 31 mit Fußnote 22, S. 32) und seine Auffassung nicht durchgehend festhalten kann. Vgl. insbesondere die Ausführungen auf S. 40 ff. 11 So Karehnke, DÖH 10, S. 212; ders., DÖH 16, S. 44. 12 So aber Karehnke, DÖH 16, S. 44 f., 74, der von Verweisungen, die sich zum Teil decken, und von einem möglichen Versehen des Gesetzgebers spricht.

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des zu seinen privatrechtlichen Unternehmen13 • Die UöR werden also hier auf der Stufe der Gebietskörperschaft erfaßt. Das ist wichtig, weil die Beteiligungen der UöR sonst lediglich den Bestimmungen über die mittelbaren Bundesbeteiligungen unterstellt wären (§ 53 Abs. 2 Satz 2 HGrG, § 65 Abs. 3 BHO). Eine übersichtliche Systematik verwendet die BHO freilich nicht. Sie spricht in § 112 Abs. 2 Satz 1 das UöR sowohl unmittelbar und damit auf der Stufe der Gebietskörperschaft (Verweisung auf § 111) wie auch als Beteiligung des Bundes (teilweise Verweisung auf die §§ 65, 68, 69) an, während § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO sie wieder unmittelbar und damit auf der Stufe der Gebietskörperschaft erfaßt. Systematisch gehören die Verweisung auf § 111 in § 112 Abs. 2 Satz 1 und die Verweisungen in § 112 Abs. 2 Satz 2 zusammen. Die Verweisung auf § 111 unterwirft die UöR der Rechnungsprüfung, § 112 Abs. 2 Satz 2 bindet sie hinsichtlich ihrer Beteiligungen an bestimmte Vorschriften des Haushaltsrechts und erleichtert dadurch die Rechnungsprüfung der UÖR. Die Prüfung der Betätigung der UöR bei privatrechtlichen Unternehmen ist integrierender Bestandteil der Prüfung der UöR durch den Bundesrechnungshof14 •

11. Einzelheiten Im folgenden wird zu zeigen sein, daß die hier vorgeschlagene Interpretation, welche die UöR haushaltsrechtlich einerseits als juristische Person des öffentlichen Rechts und insoweit dem Bunde bzw. den Gebietskörperschaften gleichbehandelt, sie andererseits jedoch auch Vorschriften unterstellt, welche für das Verhältnis des Bundes zu seinen privatrechtlichen Beteiligungen gelten, auch in den Einzelheiten zu sinnvollen Ergebnissen führt, mögen auch einige Schwierigkeiten verbleiben.

1. Gleichstellung der UöR mit dem Bund (§ 46 Abs. 2 und 3 HGrG, § 112 Abs. 2 Satz 1 letzter Satzteil, § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO) a) Die Prüfung der UöR selbst Entsprechend der Rahmenvorschrift des § 48 Abs. 2 Satz 2 HGrG schreibt § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO durch die Zitierung des § 111 BHO vor, daß die UöR der unmittelbaren Rechnungsprüfung durch den Bundesrechnungshof unterliegen. 13 Bezüglich der Auslegung des § 112 Abs. 2 S. 2 BHO besteht insoweit Einigkeit. Vgl. Piduch (1), § 112, Anm. 5; Karehnke, nOH 10, S. 222; ders., nOH 16, S. 39 f.; Loht, nOH 12, S. 42. 14 Vgl. Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 c a. E.

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Die Grundvorschrift, welche die Rechnungsprüfung anordnet, wird in § 111 Abs. 1 Satz 1 BHO besonders wiederholt, so daß § 88 BHO nicht für entsprechend anwendbar erklärt werden muß15. Im übrigen regelt die BHO die Rechnungsprüfung der UöR (wie aller juristischen Personen des öffentlichen Rechts) durch Verweisung auf die für den Bund geltenden Bestimmungen (§ 111 Abs. 1 Satz 2 BHO). Das wirft verhältnismäßig wenige Probleme auf. Umfang und Inhalt der Prüfung bei den UöR entspricht grundsätzlich derjenigen des Bundes (§§ 89 und 90 BHO), allerdings wirtschaften die UöR weder nach einem Haushalts- noch nach einem Wirtschaftsplan (§ 110 BHO), so daß § 90 Nr. 1 BHO leerläuft1 6 • Bezüglich § 91 BHO ist zu unterscheiden. Soweit die UöR mit Bundesmitteln arbeiten, ergibt sich das Prüfungsrecht bereits unmittelbar aus § 91, ohne daß es auf die entsprechende Anwendung gern. § 112 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 111 Abs. 1 Satz 2 BHO ankommt. Schon dadurch kann gern. § 91 Abs. 1 letzter Satz ein Prüfungsrecht auch gegenüber denjenigen begründet werden, die Mittel von den UöR erhalten haben17. Darüber hinaus ergibt sich ein Prüfungsrecht gern. § 91 gegenüber Dritten auf Grund der eigenen Tätigkeit der UÖR. Freilich kommen die Tatbestände von § 91 Abs. 1 Nr. 1 und 2 kaum in Betracht, auch die Vergabe von subventionierenden zweckgebundenen Zuwendungen gern. Nr. 3 aus eigenen Mitteln ist bei den UöR, auch bei den Kreditinstituten eher die Ausnahme. Sehr problematisch ist dagegen für die UöR des Bundes, die sämtlich Kreditinstitute sind, § 91 Abs. 3 BHO. Wendet man ihn ohne weiteres auf die UöR an1S, so ergibt sich, daß ihre Geschäftspartner sehr häufig dem (eingeschränkten, aber doch sehr weitgehenden) Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofs unterliegen. Ein wesentlicher Teil der Tätigkeit der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute besteht in der Ge15 Dabei entfällt freilich für die UöR wie für alle bunc!esunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts die besondere Erwähnung der Beratung, die indes keine rechtlichen Schwierigkeiten aufwerfen dürfte, wenn sie im Einzelfall für die UöR sinnvoll sein kann. Vgl. dazu Karehnke, DÖH 16, S. 57. 16 Vgl. Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 4 h; Karehnke, DÖH 16, S. 60, der darauf hinweist, daß die Einhaltung anderer Vorschriften (Errichtungsgesetz, Satzung) geprüft werden kann. Da die UöR weder nach einem Haushaltsnoch nach einem Wirtschaftsplan wirtschaften, sind die §§ 106 - 110 BHO grundsätzlich unanwendbar, vgl. dazu im einzelnen Karehnke, DÖH 16, S. 40. 17 Vgl. Karehnke, DÖH 16, S. 60. IB SO anscheinend Karehnke, wie vorst. Fußnote, der aber das Problem nicht anspricht.

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währung von Krediten, auch die Übernahme von Bürgschaften und sonstigen Garantien ist im Bankgeschäft üblich. Ob in allen diesen Fällen ein Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofs nicht nur bei den UöR, sondern auch bei den Partnern sinnvoll ist, muß bezweifelt werden. § 91 Abs. 3 BHO hat das Ziel, die recht- und zweckmäßige Verwendung von Haushaltsmitteln zu sichern. Um Haushaltsmittel geht es nicht, soweit die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute Kredite, Bürgschaften und Gewährleistungen aus eigenen oder aus Kapitalmarktmitteln gewähren. Wichtiger ist noch folgende Erwägung: Wer unmittelbar vom Bund aus Haushaltsmitteln ein Darlehen erhält, weiß, daß er sich in einer besonderen Situation befindet, die besondere Pflichten rechtfertigt. Ein Darlehen des Bundes läßt sich mit einem banküblichen Darlehen nicht vergleichen, denn Bankgeschäfte zu betreiben, ist an sich nicht Sache des Staates. Bei den öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten ist das anders. Sie arbeiten zwar zum größten Teil für besondere öffentliche Zwecke. Dies tritt aber in ihrem geschäftlichen Verhalten nach außen zumeist nicht hervor. Sie treten vielmehr ihren Geschäftspartnern nicht anders gegenüber als andere Banken. Die Geschäftspartner würden für besondere Prüfungsrechte des Bundesrechnungshofs kaum Verständnis aufbringen und sich wahrscheinlich scheuen, bei öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten Kredit aufzunehmen, wenn sie wüßten, daß sie damit besondere Verpflichtungen gegenüber dem Bundesrechnungshof eingehen. Das Prüfungsrecht gegenüber den Partnern aus § 91 Abs. 3 BHO würde die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute also im geschäftlichen Verkehr und damit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben erheblich behindern. § 91 Abs. 3 BHO paßt aus diesen Gründen für die UöR nicht. Eine Prüfung des Bundesrechnungshofs bei den Geschäftspartnern auf Grund dieser Bestimmung scheidet daher aus 19 • Die folgenden Bestimmungen der §§ 92 - 94 BHO sind weniger problematisch. § 92 gibt die Grundlage für die Prüfung der Betätigung der UöR in privatrechtlichen Unternehmen20 • § 93 kann für bundesunmittelbare UöR praktisch werden, an denen auch ein Land beteiligt ist. Die Einrichtung besonderer Prüfungsstellen (§ 94 Abs. 3) wird für die UöR nicht in Betracht kommen. Für die §§ 95 - 99 ist zu beachten, daß an die Stelle des Bundes das UöR tritt. So treffen die Pflichten aus § 95 das UÖR. Folgerichtig muß ID Bei den UöR selbst kann der BRR ohnehin auf Grund seines umfassenden Prüfungsrechts alle Vorgänge prüfen. zo Zu den Bestimmungen, welche die Beteiligungen betreffen und unter anderem die Prüfung der UöR gern. § 92 BHO erleichtern sollen, vgl. unten

b).

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der Bundesrechnungshof das Prüfungsergebnis gern. § 96 den zuständigen Organen des UöR mitteilen, eine Mitteilung an andere Dienststellen, insbesondere an den Bundesminister der Finanzen, an den aufsichtsführenden Minister oder an die Bundesregierung ist nicht ausgeschlossen 21 . Ähnliches gilt für § 97. An die Stelle von Bundestag und Bundesrat treten die Entlastungsorgane des UÖR. Eine zusätzliche Unterrichtung von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung ist zulässig und dann zweckmäßig, wenn sie für die Entlastung der Bundesregierung hinsichtlich ihrer Tätigkeit bei dem UöR von Bedeutung sein kann 22 • Auch hinsichtlich der §§ 98 23 und 99 BHO treten die zuständigen Organe des UöR an die Stelle der zuständigen Bundesstellen bzw. Bundesorgane. Im Fall des § 99 ist eine zusätzliche Unterrichtung von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat zulässig und u. U. zweckmäßig24. Nicht ohne weiteres auf die UöR anwendbar sind die §§ 102 und 103 BHO. Die dort angeführten Unterrichtungs- und Anhörungsrechte des Bundesrechnungshofs betreffen zentrale wichtige Maßnahmen oberster Bundesbehörden, die sich auf den Bundeshaushalt und auf die Bundesfinanzen beziehen. Maßnahmen von vergleichbarer Bedeutung sind innerhalb der UöR, wie überhaupt innerhalb der juristischen, Person des öffentlichen Rechts kaum möglich. Die wenig durchdachte gesetzliche Regelung muß sehr einengend interpretiert werden, um den Bundesrechnungshof vor der Belastung mit Kleinigkeiten zu bewahren. Unanwendbar erscheinen § 102 Abs. 1 Nr. 1, 2, 5 und § 103. Würde man diese Vorschriften auf die UöR anwenden, so ergäbe sich die merkwürdige Konsequenz, daß der Bundesrechnungshof sich nicht mehr mit zentralen die gesamte Bundesverwaltung und den Bundeshaushalt berührenden Angelegenheiten des Bundes, sondern mit vergleichsweise unwichtigen Interna der UöR zu befasssn hätte. So kann es z. B. nicht sinnvoll sein, den Bundesrechnungshof anzuhören, wenn in einem UöR allgemeine Anweisungen über die Handhabung der Buchführung ge21 Vgl. Lohl, DÖH 12, S. 41; Piduch (1), § 111 BHO Anm. 3 e; Richter, DöH 13, S. 250 f.; Karehnke, DÖH 16, S. 61 f., jedoch mit rechtspolitischer Kritik auf S. 74. 2! Piduch (1), § 111 BHO, Anm. 3 f.; a. A. Karehnke, DÖH 16, S. 62, der meint, daß die Organe des UöR schon nach § 96 Abs. 1 S. 1 unterrichtet werden müßten. § 96 betrifft aber nicht die Entlastungsorgane und nicht die zusammenfassenden Bemerkungen. 23 Karehnke, DÖH 16, S. 62 f., der aber gegen diese Bestimmung wie auch gegen die Anhörung nach § 93 Abs. 3 BHO rechtspolitische Bedenken äußert. u Zu § 99 ebenso Piduch (1), § 111 BHO, Anm. 3 f.; a. A. Karehnke (wie Fußnote 22 aus den dort erwähnten Gründen).

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geben werden 25 • Anderes gilt, wenn der Bund selbst eine der genannten Maßnahmen trifft und dann auch UöR betroffen werden 26 • Anwendbar ist dagegen § 102 Abs. 1 Nr. 3 BHO, da die Bedeutung einer Beteiligung nicht davon abhängt, ob sich der Bund unmittelbar oder ob sich ein UöR beteiligt. In Ausnahmefällen kann auch § 102 Abs. 1 Nr. 4 praktisch werden. Die Unterrichtungspflicht trifft dann das UöR, d. h. dessen geschäftsführendes Organ27 • b) Das Verhältnis der UöR zu ihren Beteiligungsunternehmen Das Verhältnis der UöR zu ihren Beteiligungsunternehmen wird durch § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO grundsätzlich analog zu dem Verhältnis des Bundes zu seinen Beteiligungsunternehmen geregelt. Zweck dieser Vorschrift ist nicht die Kontrolle und Einschränkung der Beteiligungsunternehmen. Es geht vielmehr darum, die Erfüllung der Aufgaben des UöR zu sichern und seine Vermögensinteressen zu schützen. § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO setzt eine Mehrheitsbeteiligung des UöR voraus, verweist aber auch auf Vorschriften, die ihrerseits nicht an eine Mehrheitsbeteiligung anknüpfen. Daraus ergibt sich eine Reihe von Problemen. Zunächst ist fraglich, wie zu verfahren ist, wenn nicht ein UöR allein, sondern nur dieses zusammen mit anderen UöR oder zusammen mit dem Bund die Mehrheit hat. Nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO ist zunächst der Fall eindeutig zu lösen, daß mehrere UöR zusammen eine Mehrheitsbeteiligung halten. Da das Gesetz nicht von einem, sondern von den in Satz 1 genannten Unternehmen spricht, genügt es für § 112 Abs. 2 Satz 2, daß mehrere UöR zusammen eine Mehrheitsbeteiligung haben28 • Die beteiligten UöR üben dann die ihnen zugedachten Rechte gemeinsam aus. Schwieriger wird es, wenn ein UöR (bzw. mehrere UöR) nur zusammen mit dem Bund die Mehrheit hält. Hier ist § 53 Abs. 2 HGrG einschlägig, der in § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO zitiert wird und auf den auch mehrere der angeführten Bestimmungen der BHO (§ 66, 68) Bezug nehmen. Daraus ergibt sich folgendes: 25 In diesem Sinn für eine restriktive Anwendung der §§ 102 f. BHO Karehnke, DÖH 16, S. 63, und insbes. Fußnote 167 f., der allerdings auch § 102

Abs. 1 und 5 für anwendbar hält. 28 Karehnke, wie vorst. Fußnote, Fußnote 168; Piduch (1), § 111 BHO, Anm. 3 g, der im übrigen §§ 102 f. BHO anscheinend ohne Einschränkung anwenden will. 27 Piduch (1), § 111 BHO, Anm. 3 g. 28 Karehnke, DÖH 16, S. 67.

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Die Anteile der UöR werden gem. § 53 Abs. 2 Satz 2 HGrG den Anteilen des Bundes zugerechnet, da die UöR gem. § 55 Abs. 2 HGrG zu den Unternehmen gehören, denen gegenüber der Bund die Rechte aus § 53 HGrG geltend machen kann. Der Bund hat dann, vorausgesetzt, er hält zusammen mit dem UöR wenigstens einen Anteil von einem Viertel, und es besteht insgesamt eine Mehrheit der öffentlichen Hand, die Rechte aus § 53. Das UöR, das selbst keine Mehrheit hat, erlangt keine Rechte aus § 53, zumal die Rechte des Bundes sich unmittelbar aus § 53 HGrG, nicht aus § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO ergeben29 • Das Ergebnis ist insofern nicht frei von Ungereimtheiten, als jede noch so geringe unmittelbare Beteiligung des Bundes, wenn sie nur zusammen mit der des UöR ein Viertel und zusammen mit anderen Gebietskörperschaften die Mehrheit erreicht, dem Bund die Rechtsstellung nach § 53 HGrG verschafft, während das UöR diese Rechtsstellung nicht erlangt, selbst wenn seine Minderheitsbeteiligung größer als die des Bundes ist. Das ist die notwendige Folge davon, daß § 53 HGrG ersichtlich der Gebietskörperschaft den Vorrang vor deren Sondervermögen und Unternehmen einräumt, während die UöR nur über § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO zum Zuge kommen. Fraglich bleibt dann noch, was gelten soll, wenn ein (oder auch mehrere) UöR eine Mehrheit hält, der Bund aber noch zusätzlich unmittelbar beteiligt ist. Eine wörtliche Auslegung von § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO und § 53 HGrG nebeneinander müßte zu konkurrierenden Rechten des Bundes und des UöR führen. Dasselbe müßte, streng genommen, sogar dann gelten, wenn unmittelbar nur das UöR, nicht der Bund beteiligt ist (§ 53 Abs. 2 Satz 2 HGrG). Man käme so zu einer völligen überschneidung der Rechte der UöR aus der entsprechenden Anwendung gem. § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO und der konkurrierenden Rechte des Bundes, dem die Anteile des UöR gem. § 53 Abs. 2 Satz 2 HGrG zugerechnet werden. Dieses sinnwidrige Ergebnis, das § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO - abgesehen von der Zitierung des § 65 BHO fast ganz überflüssig machen würde, gilt es durch eine einschränkende Interpretation des § 53 Abs. 2 HGrG zu vermeiden, die auf § 48 Abs. 3 HGrG und § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO zu stützen ist: Wenn die BHO entsprechend § 48 Abs. 3 HGrG den UöR gegenüber ihren Mehrheitsbeteiligungen besondere Rechte einräumt, so gibt sie damit zu erkennen, daß dem Bund selbst die Rechte aus § 53 HGrG nicht zustehen sollen. n Insofern kommt es nicht darauf an, ob zugunsten der UöR gem. § 53 Abs. 2 HGrG zusammengerechnet werden kann (verneinend insoweit Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 b). Es handelt sich nicht um eine entsprechende Anwendung über § 112 Abs. 2 S. 2 BHO, die Karehnke, WH 16, S. 64 mit Fußnote 180 anscheinend im Auge hat. Die Zusammenrechnung zugunsten des Bundes über § 55 Abs. 2 HGrG ist m. E. auch bei Karehnke, DöH 15, S. 217 unter 9.5.4. übersehen.

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Die UöR stehen ihren Beteiligungen näher und können sie besser überwachen als der Bund. Es ist nicht zu befürchten, daß sie ihre Befugnisse entgegen den Bundesinteressen mißbrauchen, zumal sie selbst der Aufsicht des Bundes und der Kontrolle des Bundesrechnungshofs unterstehen. Konkurrierende Kontrollrechte aus § 53 HGrG können sinnvollerweise vom Gesetz nicht intendiert sein. Soweit demnach das UöR (evtl. mehrere UöR zusammen) eine Mehrheitsbeteiligung hat, gilt folgendes: Das UöR hat die Rechte aus § 53 HGrG und übt sie gern. § 68 BHO durch seine zuständigen Organe aus. Bundesminister sind nicht beteiligt30 • Dem Bundesrechnungshof31 können gegenüber privatrechtlichen Unternehmen die Rechte aus § 54 HGrG verschafft werden. Darauf hinzuwirken, ist das UöR gern. § 66 BHO verpflichtet32 • Desgleichen treffen das UöR die Pflichten aus § 69 BHO. Es hat also die Unterlagen und Berichte, die ihm als Mehrheitsgesellschafter zugegangen sind, dem Bundesrechnungshof zu übersenden38 • Es bestehen indessen keine Bedenken dagegen, daß das UöR hier den Weg über den zuständigen Bundesminister wählt34, wenn es auch selbst gegenüber dem Bundesrechnungshof verpflichtet ist. Besondere Probleme wirft das Zitat solcher Bestimmungen in § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO auf, die eine Mehrheit der öffentlichen Hand nicht voraussetzen. § 67 BHO geht ausdrücklich von dem Fall aus, daß eine Mehrheitsbeteiligung im Sinn des § 53 HGrG nicht besteht. Die Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn eine Mehrheitsbeteiligung vorhanden ist, weil dann die strengere Vorschrift des § 66 BHO gilt. Da § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO eine solche Mehrheitsbeteiligung gerade voraussetzt, besteht ein offener Widerspruch im Gesetz, der nur auf einem Redaktionsversehen beruhen kann. Man wird daher § 67 BHO für das Verhältnis von UöR und ihren Beteiligungen für unanwendbar halten müssen35 • 30 Das gilt auch für den Verzicht gem. § 68 Abs. 2 BHO. Vgl. Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 c. 31 Er ist Rechnungsprüfungsbehörde gem. § 54 HGrG, vgl. Karehnke, DÖH 16, S. 71 f., der allerdings selbst gewisse Zweifel erkennen läßt und erwägt, ob nicht an die Stelle des Rechnungshofs die interne Revision des UöR treten müsse. 32 Vgl. Karehnke, DöH 16, S. 72; Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 b. Bundesminister sind nicht unmittelbar, sondern allenfalls als Aufsichtsbehörde (vgl. Karehnke, Fußnote 201) verpflichtet. 33 Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 c. 34 Karehnke, DöH 16, S. 71. 36 Vgl. Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 c; Karehnke, DÖH 16, S. 70, der ein Versehen des Gesetzgebers vermutet, da die UöR ohne Grund schlechter gestellt würden. Eine Schlechterstellung besteht freilich gerade bezüglich § 67

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Schwieriger ist das Zitat des § 65 BHO zu erklären. Nur § 65 Abs. 3 stellt auf eine Mehrheitsbeteiligung ab. Hier tritt das UöR an die Stelle der zuständigen Bundesminister. Im übrigen enthält § 65 BHO vor allem Regelungen über den Erwerb von Beteiligungen. Hier gibt es theoretisch folgende Lösungsmöglichkeiten: 1. Die Vorschriften über den Erwerb von Beteiligungen gelten nur, wenn eine bereits vorhandene Mehrheit ausgebaut werden soll.

2. Die Vorschriften gelten nur, wenn eine vorhandene Beteiligung zu einer Mehrheitsbeteiligung ausgebaut werden soll. 3. Die Vorschriften gelten für jede Beteiligung. Die einzig sinnvolle Alternative ist die unter 3. genannte. Da die UöR dem Bund gleichgestellt werden, im öffentlichen Interesse arbeiten sollen und in ihren geschäftlichen Zielsetzungen beschränkt sind, müssen sie ihrer Aufgabe auch bei der Begründung von Beteiligungen gerecht werden. In einer korrigierenden Interpretation des Gesetzes ist daher für die Anwendung des § 65 BHO auf die Beteiligungen der UöR keine bereits vorhandene (Mehrheits-)Beteiligung zu verlangen 36 • Das UöR soll sich daher nur unter den Voraussetzungen von § 65 Abs. 1 bzw. Abs. 5 BHO an einem Unternehmen des privaten Rechts beteiligen. Für § 65 Abs. 1 Nr. 1 BHO ist auf ein wichtiges Interesse des UöR abzustellen, das indes aus der AufgabensteIlung des UöR dem Bundesinteresse entsprechen muß. Das UöR soll darauf hinwirken. daß die auf seine Veranlassung gewählten oder entsandten Mitglieder der Aufsichtsorgane der Unternehmen bei ihrer Tätigkeit auch die besonderen Interessen des UöR berücksichtigen. An die Stelle der zuständigen Bundesminister tritt auch für § 65 BHO das UöR bzw. dessen Organe. § 65 Abs. 2 und 4 werden damit gegenstandslos87 • Schwierigkeiten bereitet noch § 65 Abs. 7: Wenn das UöR auf die Ebene des Bundes gestellt wird, so können sich ebensowenig wie ein Bundesminister die hier genannten obersten Bundesorgane unmittelbar BHO nicht, da die UöR nur von einer Verpflichtung ausgenommen sind, ihnen aber keine Rechte genommen werden. 38 In diesem Sinne Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 5 a; Karehnke, DöH 16, S. 67 ff., beide freilich, ohne das Problem darzustellen. 37 Insoweit abweichend Karehnke, DÖH 16, S. 69. Karehnke verkennt jedoch m. E., daß § 65 Abs. 2 und 4 BHO nur akzessorische Befugnisse des Bundesministers der Finanzen und des für das Bundesvermögen zuständigen Bundesministers begründen, die entfallen müssen, wenn überhaupt kein Bundesminister zuständig ist. Karehnkes Verlangen, im Fall des § 65 Abs. 2 BHO auch die Aufsichtsorgane des UöR zu beteiligen, hat rechtspolitisch viel für sich, findet aber im Gesetz keinen Ausdruck.

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mit seinen Beteiligungen befassen. Karehnke 38 meint deshalb, an die Stelle der gesetzgebenden Körperschaften müßten hier die Organe des UöR treten. Daß das gemeint ist, dürfte indes kaum anzunehmen sein. Es gibt in den UöR allenfalls andeutungsweise Vertretungskörperschaften, die Bundestag und Bundesrat vergleichbar sind. Außerdem ist die Frage der internen Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines UöR kaum von solchem Gewicht, daß sie durch § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO geregelt werden sollte. Es spricht daher einiges dafür, die Anführung von § 65 Abs. 7 BHO in § 112 Abs. 2 Satz 2 BHO für ein Versehen zu halten. Praktisch dürfte das Problem nicht wichtig sein, da es Beteiligungen von UöR von einer Bedeutung, wie sie § 65 Abs. 7 BHO voraussetzt, kaum geben wird3D •

2. Gleichstellung von UöR und BeteiZigungsunternehmen (Verhältnis von Bund und UöR) Die Verweisungen auf die §§ 65 Abs. 1 Nr. 3 und 4 und Abs. 2, 3 und 4, § 68 Abs. 1 und § 69 in § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO werfen keine sehr schwerwiegenden Probleme auf, wenn man von der Grundthese ausgeht, daß hier das UöR behandelt werden soll wie ein Unternehmen des Privatrechts, an dem der Bund beteiligt ist40 . Die Grundvorschrift für das Verhältnis von Bund und UöR ist in § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO überhaupt nicht zitiert, weil sie schon in § 55 Abs. 2 HGrG mit unmittelbarer Geltungskraft festgelegt ist. Danach ist auf Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person des öffentlichen Rechts § 53 HGrG entsprechend anzuwenden, und zwar "unabhängig von der Höhe der Beteiligung des Bundes oder eines Landes"41. Demnach hat der Bund gegenüber seinem UöR - mindestens42 - dieselben Rechte wie gegenüber einem Unternehmen des privaten Rechts, an dem er mit Mehrheit beteiligt ist. Er kann also eine über das Aktienrecht hinausgehende Prüfung verlangen, deren Karehnke, DÖH 16, S. 70 mit Fußnote 189. Eine Aushilfe bietet erforderlichenfalls die entsprechende Anwendung des § 65 Abs. 3 BHO auf das Verhältnis von Bund und UöR gern. § 112 Abs. 2 S. 1 BHO. Der Bund kann sich gegenüber dem UöR die Zustimmung vorbehalten. Dann kann vor der Zustimmung des zuständigen Bundesministers und der Einwilligung des Bundesministers der Finanzen eventuell die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat eingeholt werden. 40 Anders Karehnke, DÖH 16, S. 30 ff. und S. 44 f., der auch hier das UöR dem Bund gleichstellen will, seine These aber selbst als zweifelhaft bezeichnet und insbesondere auf S. 40 ff. im Abschnitt 4 nicht durchhalten kann. Vgl. auch denselben, DÖH 10, S. 223 f.; wie Karehnke zu § 112 Abs. 2 S. 1 BHO auch Lohl, DÖH 12, S. 41; wie im Text Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 3. 41 Dazu vgl. Fußnote 3. 42 Satzung oder Spezial gesetz können darüber hinausgehen. 38

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Ergebnis die Rechnungsprüfung des Bundes bezüglich seiner Betätigung bei den UöR wesentlich erleichtern kann. Die vorgeschriebene Anwendung der §§ 68 Abs. 1 und 69 BHO zieht daraus die Konsequenzen. Die Rechte gegenüber dem UöR übt der zuständige Bundesminister im Einvernehmen mit dem Bundesrechnungshof aus43 • Der Bundesminister unterrichtet den Bundesrechnungshof durch Übersendung der Unterlagen, die dem Bund als Mutterkörperschaft zugegangen sind (§ 69 BHO)44. Die Vorschriften über die Errichtung von privatrechtlichen Beteiligungsunternehmen in § 65 BHO sind auf die UöR nur teilweise anwendbar. Nicht zitiert sind in § 112 Abs. 2 Satz 1 BHO § 65 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BHO sowie § 65 Abs. 5 - 7 BHO. Ob das sinnvoll ist, läßt sich für § 65 Abs. 1 Nr. 1 und 2 bezweifeln, da die dort genannten Voraussetzungen einer Beteiligung des Bundes auch für die UöR gelten könnten. Die Begründung für ihre Nichtanwendung wird darin gesehen, daß die Errichtung eines UöR stets im öffentlichen Interesse erfolge und die Einzahlungsverpflichtung im Errichtungsgesetz oder im Errichtungsakt geregelt werde45 • Allerdings hätte man mit diesem Argument die Anwendbarkeit des gesamten § 65 Abs. 1 BHO ausschließen können. Schon jetzt läuft § 65 Abs. 1 Nr. 3 und 4 praktisch leer, weil die für erforderlich gehaltenen Bestimmungen jeweils im Errichtungsgesetz getroffen worden sind. Nur wenn einmal ein Modellgesetz für die Errichtung von UöR geschaffen werden sollte, also UöR nicht mehr durch Spezialgesetz errichtet werden müßten, könnte § 65 Abs. 1 Nr. 3 und 4 BHO Bedeutung erlangen. Ähnliches gilt teilweise für § 65 Abs. 2 BHO. Zumindest eine erstmalige Beteiligung des Bundes an einem bundesunmittelbaren UöR 43 Ein Verzicht gern. § 68 Abs. 2 BHO ist nicht vorgesehen. Er erübrigt sich, da Unternehmen, die von der Rechnungskontrolle freigestellt sind, ohnehin nicht dem § 53 HGrG unterstellt sind (vgl. § 55 Abs. 2 HGrG). U Anders hier Karehnke, DÖH 16, S. 47 ff., bes. S. 52 f. und S. 53 - 55, der auch für § 53 HGrG das UöR an die Stelle des Bundes setzt, folglich die Rechte in § 53 HGrG in Pflichten des UöR umdeutet und verlangt, daß das UöR selbst den Prüfungsbericht nach § 53 Abs. 3 HGrG dem Bundesrechnungshof übersendet. Konsequent nimmt er für § 68 und § 69 BHO eine Zuständigkeit des UöR selbst, nicht des zuständigen Bundesministers an. Wie Karehnke auch Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 4. Wie im Text dagegen Karehnke, DÖH 10, S. 215. Folgt man der hier vorgeschlagenen Auslegung, so entfällt das Problem, ob das UöR sich gern. § 69 S. 2 BHO selbst prüfen und das Ergebnis seiner Prüfung mitzuteilen hat (so Karehnke, DÖH 16, S. 54). Vielmehr hat der zuständige Bundesminister die Unterlagen ebenso zu prüfen, wie bei einem Unternehmen des privaten Rechts, an dem der Bund beteiligt ist. 45 Karehnke, DÖH 10, S. 211; ders., DÖH 16, S. 43; Piduch (1), § 112 BHO, Anm. 3 a.

6 Festschrift Menzel

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ist derzeit nur auf Grund eines Spezialgesetzes möglich. Eine Erhöhung der Beteiligung oder deren Veräußerung und insbesondere eine Erhöhung des Nennkapitals ohne spezielles Gesetz sind immerhin denkbar. Von größerer Bedeutung kann die entsprechende Anwendung des § 65 Abs. 3 BHO sein, jedoch finden sich auch insoweit bereits gesetzliche Bestimmungen, die über das hinausgehen, was § 65 Abs. 3 als erstrebenswert ansieht40 • Besonders zu beachten ist, daß hier auch mittelbare Beteiligungen erfaßt werden. Das UöR selbst steht einer unmittelbaren Mehrheitsbeteiligung des Bundes gleich, die Mehrheitsbeteiligungen des UöR sind also mittelbaren Mehrheitsbeteiligungen des Bundes gleichzuachten. Der zuständige Bundesminister soll darauf hinwirken, daß auch diese Mehrheitsbeteiligungen des UöR nur mit seiner Zustimmung Entscheidungen über Beteiligungen der in § 65 Abs. 3 genannten Art treffen47 • Es würde zu weit führen, hier noch weitere Einzelheiten der komplizierten haushaltsrechtlichen Regelungen für UöR zu behandeln. Der Beitrag sollte lediglich die Grundlinien der gesetzlichen Bestimmungen aufzeigen, über die, wie die einschlägige Literatur beweist, manche Zweifel möglich sind. Eine völlig widerspruchslose Systematik will dem Interpreten nicht gelingen. Besondere, hier nicht mehr weiter zu verfolgende Fragen ergeben sich dann, wenn ein UöR ganz oder teilweise von der Rechnungsprüfung freigestellt ist (§ 48 Abs. 2 Satz 2 und 3 HGrG, § 55 Abs. 2 HGrG, § 111 Abs. 2 BHO). Ob und welche Bestimmungen des Haushaltsrechts dann noch anwendbar sind, muß einer gesonderten Prüfung vorbehalten bleiben.

48 Vgl. z. B. § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die Landwirtschaftliche Rentenbank. 47 Das UöR selbst muß gern. § 112 Abs.2, S.2 BHO i. V. mit § 65 Abs.3 BHO gegenüber seinen Beteiligungsunternehmen auf die Einräumung entsprechender Rechte gegenüber dem UöR hinwirken.

Quo vadis Bundesverfassungsgericht? Vberlegungen zur verfassungsrechtlichen und verfassungsfunktionalen Stellung des Bundesverfassungsgerichts Von J ost Delbrück "I think 1 appreciate the objection to the law but it appears to me to present a question upon which men reasonably might differ and therefore 1 am unable to say that the constitution of the United States prevents the experiment being tried." (Justice Holmes in BarteIs v. lowa [1923], 262 US 404, 412.)

In seinen Arbeiten zur Standortbestimmung der auswärtigen Gewalt im Verfassungssystem des Grundgesetzes1 hat Eberhard Menzel wiederholt den konstruktiven Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Klärung der in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen zum Verhältnis von Regierung und Parlament bei der Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt positiv hervorgehoben2 • So kann es nicht verwundern, daß Menzel in seinen Untersuchungen des Verhältnisses der "auswärtigen Gewalt zu den anderen Gewalten"3 eine Problematisierung der Stellung des Bundesverfassungsgerichts zur auswärtigen Gewalt speziell und - in einer umfasserenden Perspektive - zu den anderen Gewalten nicht ausführlich vorgenommen hat. Jedoch spätestens seit der nicht nur politisch, sondern auch verfassungsjuristisch umstrittenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag 4 ist die Problematik der Stellung des Gerichts zu den mit der Führung der auswärtigen Politik betrauten Staatsorganen und -gewalten auch einer breiteren Öffentlichkeit voll bewußt geworden. Darüber hinaus ist das Verfassungsgericht aber auch durch einige Entscheidungen von größter innenpolitischer Relevanz in jüngster Zeit in 1 Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik in der Deutung des Bundesverfassungsgerichts, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 79 (1953/54), S. 326 ff.; den., Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVdStRL) 12 (1954), S. 179 ff. ! Menzel, in: AöR 79 (1953/54), S. 344 f.; ders., in: VVdStRL 12 (1954), S. 183 ff. (192). 3 Menzel, in: VVdStRL 12 (1954), S. 183. 4 BVerfGE 36, S. 1 ff.

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einen heftigen Widerstreit der Meinungen geraten. So erscheint es gerechtfertigt, unter Berücksichtigung der älteren, die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf seine Stellung im Verfassungsgefüge überwiegend positiv wertenden5 und der in jüngerer Zeit erschienenen kritischen Literatur6 einige der heftig umstrittenen Entscheidungen des Gerichts aus der jüngsten Vergangenheit (Urteil zum Niedersächsischen Vorschaltgesetz, Grundlagenvertragsurteil, Urteil zum § 218 StGBF daraufhin zu analysieren, ob sich das Gericht auf einen Weg begeben hat, der unter verfassungsrechtlichen und verfassungsfunktionalen Gesichtspunkten Anlaß zur Sorge gibt oder ob die vielfach recht lautstark geäußerte Kritik an der Verfassungsrechtsprechung nur der Enttäuschung der unterlegenen Streitparteien entsprungen ist. Eine solche Untersuchung ist zu einem Zeitpunkt ein nicht ungefährliches Unterfangen, in dem in der Öffentlichkeit einerseits die Wunden, die die behandelten Entscheidungen geschlagen haben, noch kaum vernarbt sind und andererseits die Genugtuung über die erstrittenen Urteile die Einschätzung ihrer Konsequenzen für das Funktionieren des Verfassungssystems unter längerfristiger Perspektive noch beeinflussen mag. So wird - wohin immer der Akzent kritischer Bemerkungen einer Untersuchung wie der hier unternommenen auch gesetzt werden mag - der Vorwurf verdeckter Voreingenommenheit nicht ausgeschlossen werden können. Um dennoch jedenfalls zu ver5 Vgl. dazu u. a. Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart Länderberichte und Rechtsvergleichung (Beitr. zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, hrsg. von Hermann Mosler, Bd. 36, Köln / Berlin 1962), S. 89 ff. (S. 151 ff.); Maunz, in: Maunz / Sigloch / Schmidt-Bleibtreu / Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Vorbemerkung Rdnr. 34; Ridder / Perschel, Bundesverfassungsgericht, in: Staatslexikon, 9. Bd., 6. Aufl., hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Freiburg 1969, Sp. 281 ff. (Sp. 290), die dem Gericht eher eine zurückhaltende Rolle attestieren; Schefold, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Ev. Staatslexikon, Sp. 2354 ff. (Sp. 2364); Smend, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Januar 1962, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951 - 1971, 2. Aufl., Karlsruhe 1971, S. 15 ff. 6 Vgl. z. B. Feuchte, Das demokratische Prinzip und die Rechtsprechung in Verfassungs sachen, in: Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 1964, S. 433 ff.; Franz Klein, Zum Begriff und zur Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DÖV 1964, S. 471 ff.; skeptisch bis kritisch im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertragsurteil Scheuner, Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik - Zum Karlsruher Urteil über den Grundlagenvertrag, in: DÖV 1973, S. 581 ff. (S. 584 rechte Spalte); Tomuschat, Auswärtige Gewalt und verfassungsgerichtliche Kontrolle - Einige Bemerkungen zum Verfahren über den Grundvertrag, in: DÖV 1973, S. 801 ff. (insbes. S. 807); Wilke / Koch, Außenpolitik nach Anweisung des Bundesverfassungsgerichts?, in: Juristenzeitung (JZ) 1975, S. 233 ff. 7 BVerfGE 36, S. 1 ff. (Grundlagenvertragsurteil) ; BVerfGE 35, S. 79 ff. (VorschaltgesetzurteiI); BVerfGE 39, S. 1 ff. (§ 218-Urteil).

Qua

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suchen, die hier angestellten Überlegungen, die nur der Analyse der Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts unter verfassungsrechtlichen und verfassungsfunktionalen Aspekten gelten, aus dem aktuellen Meinungsstreit über den Inhalt der Entscheidungen herauszuheben, sei hier an die Worte Erich Kaufmanns in seinem Referat über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit erinnert: "Es kann eine Partei ,Recht' haben, aber politisch unrichtig gehandelt haben; und es kann umgekehrt eine Partei politisch richtig, aber juristisch unrichtig gehandelt haben. Die nach Rechtsnormen erfolgte Entscheidung eines Verfassungsgerichts besagt nichts über die politische Weisheit der bestrittenen Maßnahme 8 ." Mit anderen Worten: auch die verfassungsrechtliche (einschließlich der verfassungsfunktionalen) Analyse politisch brisanter Urteile besagt nichts über deren politische Weisheit im Hinblick auf den von ihnen entschiedenen Sachgegenstand. Wohl aber besagt sie u. U. etwas über die politische Weisheit des "Wie" der Wahrnehmung seiner Funktion durch das Verfassungsgericht. Auch hierüber ist zwar Streit möglich. Jedoch dürfte dieser Streit der aktuellen politischen Polarisierung entrückter und sachlicher auszutragen sein, als der um den unmittelbaren Streitgegenstand der umstrittenen Urteile. Um für die Analyse nachprüfbare Kriterien zu gewinnen, soll eingangs der gegenwärtige Stand der Diskussion über Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts kurz skizziert werden (I). Sodann schließt sich die Analyse des Grundlagenvertragsurteils (U) sowie der Urteile zum Vorschaltgesetz und zu § 218 StGB an (lU). Den Abschluß werden einige Schlußfolgerungen unter Einbeziehung amerikanischer Erfahrungen bilden (IV).

I. Zum Stand der Diskussion über Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungssystem des Grundgesetzes 1. Der verfassungsrechtliche und verfassungsfunktionale Standort des Bundesverfassungsgerichts

Wiewohl von der Verfassung mit richterlichen Funktionen betraut und somit Teil der rechtsprechenden Gewalt, kommt dem Bundesverfassungsgericht nach ganz herrschender Auffassung eine - verglichen mit der allgemeinen Gerichtsbarkeit - verfassungsrechtliche Sonderstellung zug, wobei festzustellen ist, daß die - vornehmlich politikwis8 Kaufmann, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: VVdStRL 9 (1952), s. 1 ff. (S. 5 f.). 9 Aus der umfangreichen Literatur vgl. statt anderer Maunz, Deutsches Staatsrecht, 20. Aufl., München 1975, S. 283; Leibhotz, Das Bundesverfas-

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senschaftliche - kritische Literatur lO dazu neigt, das Verfassungsgericht in weit größerem Maße mit der herkömmlichen Justiz, "der stillen Gewalt"l1, zu identifizieren, als das staatsrechtliche Schrifttum. Die Sonderstellung des Verfassungsgerichts wird formal vom Grundgesetz durch die besondere Hervorhebung des Gerichts in Art. 92, 94 GG (ferner § 1 BVerfGG) unterstrichen. Inhaltlich ergibt sich diese Sonderstellung daraus, daß das Bundesverfassungsgericht - anders als die herkömmlichen Gerichte - mit der Ausnahme seiner eigenen verfahrensrechtlichen Gesetzesgrundlagen nicht der Bindung des Richters an das Gesetz unterliegt, vielmehr (wie der Gesetzgeber) allein verfassungsgebunden ist!2. Indem es ferner zur Kontrolle aller staatlichen Tätigkeit in Legislative, Exekutive und Judikative am Maßstab der Verfassung berufen ist, hat das Verfassungsgericht eine gegenüber anderen Staatsorganen hervorgehobene Stellung, die mit der der rechtsprechenden Gewalt im überkommenen Sinne nicht in Einklang zu bringen ist. In Ausfüllung dieser Position muß das Verfassungsgericht zudem in einer Weise tätig werden, die zu Überlappungen13 mit den Aufgaben anderer Staatsgewalten (Legislative, Exekutive) führt. Schließlich hebt sich das Bundesverfassungsgericht von den anderen Gerichten in seiner Tätigkeit dadurch ab, daß es aufgrund der Natur der ihm zur Entscheidung von Verfassung wegen zugewiesenen Streitigkeiten in besonderem Maße "im Schnittpunkt von Politik und Recht"14 steht: so sind z. B. Entscheidungen in Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern oder über Normenkontrollen im Bereich auswärtiger Politik ungleich "politischer" als Entscheidungen anderer Gerichte, ohne daß deren politische Implikationen in einem weiteren Sinne geleugnet werden sollen. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage nach dem verfassungsrechtlichen und verfassungsfunktionalen Standort des Bundesverfassungsgerichts. Eine klare Einordnung des Bundesverfassungsgerichts in das Verfassungsgefüge des Grundgesetzes nach den Kriterien sungsgericht im Schnittpunkt von Politik und Recht, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1974, S. 396. 10 Vgl. dazu den überblick bei Schäfer, Politikwissenschaftliche Analysen des Bundesverfassungsgerichts, in: Neue Politische Literatur 1974, S. 209 ff. m. w. Nachweisen. 11 Lautmann, Justiz - die stille Gewalt, Frankfurt/M. 1972. 12 So Seuffert, Die Abgrenzung der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1969, S. 1369. 13 Claus Arndt, in: Bundesverfassungsgericht im Dritten Jahrzehnt, Symposium zu Ehren von Ernst Friesenhahn anläßlich seines 70. Geburtstags am 8. Januar 1972, hrsg. von Jochen Abr. Frowein / Hans Meyer / Peter Schneider, Frankfurt/M. 1973, S. 16. 14 So Leibholz (Anm. 9).

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der klassischen Gewaltenteilungslehre verbietet sich nach dem zuvor Gesagten, wenn auch das Verfahren des Gerichts und die Stellung seiner Richter seine Zuordnung zur Judikative noch am ehesten rechtfertigen mögen. Andererseits erscheinen Qualifikationen des Bundesverfassungsgerichts als "de facto Gesetzgebungsorgan"15 bzw. Anregungen, daß Gericht möge sein Selbstverständnis in dieser Richtung wandeln, angesichts der dem Gericht vorgegebenen Methoden der Entscheidungsfindung (z. B. Bindung an "diejenigen Regeln, die dem Rechtsausleger auferlegt sind"16) überzogen. Überblickt man die verschiedenen Versuche, das Bundesverfassungsgericht in das klassische Gewaltenteilungsschema einzuordnen, so drängt sich die Feststellung auf, daß hier letztlich inadäquate Kategorien zur verfassungsrechtlichen und -funktionalen Qualifikation des Bundesverfassungsgerichts verwandt werden. Vielmehr ist mit einem gewichtigen Teil der Lehre zwar davon auszugehen, daß das Verfassungsgericht Gerichtsbarkeit, wenn auch "Gerichtsbarkeit besonderer Art"17 ausübt, daß es aber als ein oberstes Verfassungs organ neben den anderen obersten Verfassungsorganen Teil eines verfassungsrechtlichen Gefüges der Machtbalance, eines "checks and balances system"18 ist. Damit wird zugleich impliziert, daß das Bundesverfassungsgericht als ein oberstes Verfassungsorgan neben anderen nicht die Spitze einer Organhierarchie bildet, sondern zu den anderen Verfassungsorganen in einem Verhältnis der Koordination steht1 9 • Für die Gestaltung seiner Beziehungen zu den anderen Verfassungsorganen - und dieser zu ihm - bedeutet diese Kennzeichnung des Standortes des Verfassungsgerichts, daß es zwar in den ihm zugewiesenen Streitfällen autoritativ auch gegenüber anderen Verfassungsorganen die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit ihres HandeIns zu beurteilen hat. Jedoch muß dies in einem Verhältnis der Koordination mit dem Respekt für den rechtlich umschriebenen Kompetenzraum der anderen Organe erfolgen - wie umgekehrt, die anderen Organe dem Gericht gegenüber mit dem notwendigen Respekt vor dessen Kompetenzbereich agieren müssen, was nicht immer der Fall ist, wie die noch relativ kurze Geschichte des Bundesverfassungsgerichts und die sehr viel längere und erregendere Geschichte des unVgl. dazu Hinweis bei Schefold (Anm. 5), Sp. 2364. So Peter Schneider in Symposium (Anm. 13), S. 8. 17 Peter Schneider, ebd. 18 In diesem Sinne dürften die Ausführungen von Leibholz (Anm. 9), S. 397 (linke Spalte) zu verstehen sein. 19 So Leibholz (Anm. 9), S. 397; ähnlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., Karlsruhe 1975, S. 264 und Maunz, Deutsches Staatsrecht (Anm. 9), S. 283. 15

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ter dem hier erörterten Gesichtspunkt vergleichbaren amerikanischen Supreme Court zeigen20 . Was hier mit der Formel des "notwendigen Respekts" vor den Kompetenzräumen der anderen Verfassungsorgane als Konsequenz der verfassungsrechtlichen und verfassungsfunktionalen Standortbestimmung des Verfassungsgerichts umschrieben wurde, heißt für das Gericht konkret die Übung verfassungsrichterlicher Zurückhaltung, des im amerikanischen Verfassungsrecht entwickelten "judicial self-restraint"21, der als Konzept auch in das deutsche Verfassungsrecht Eingang gefunden hat22 . Will man die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf diese Zielvorstellung messen, bedarf es der Entwicklung von Kriterien, anhand derer geprüft werden kann, ob das Gericht eine der Balance des Verfassungsgefüges angemessene und damit funktionsgerechte Ausfüllung seiner Position verfolgt hat oder ob es Übergriffe in den Kompetenzbereich anderer Organe gegeben hat.

2. Zur Bestimmung von Kriterien der Bewertung verfassungsrichterlicher Entscheidungsfindung Als Maßstab der Bewertung der Rolle, die das Bundesverfassungsgericht im Verfassungsgefüge gespielt hat, ist die möglicherweise zu treffende Feststellung ungeeignet, daß Konflikte um die Art, wie das Gericht seine Kompetenzen genutzt hat, nicht aufgetreten sind, ebensowenig wie das Auftreten solcher Konflikte in diesem Sinne aussagekräftig wäre. Denn solche Konflikte können ihren Ursprung lediglich in der Enttäuschung der unterlegenen Streitparteien haben, wie umgekehrt das Nichtauftreten solcher Konflikte einerseits in der aktuellen Befriedigung über das Ergebnis einer bestimmten Entscheidung oder in der Resignation der unterlegenen Partei begründet sein kann. Allenfalls wäre die Häufigkeit solcher Konflikte ein Indiz für die vom Verfassungssystem her gesehen inadäquate Funktionserfüllung des Verfassungsgerichts. Wenig geeignet als Bewertungsmaßstab sind im allgemeinen auch explizite Äußerungen des Gerichts zu seinem Selbstver20 Zu erinnern ist an die Vorgänge um die Ratifikation des Grundlagenvertrages und für die USA an die immer wieder aufgetretenen Fälle sog. "Acts of nullification" - Beschlüssen von State Legislatures, mit denen Urteile des Supreme Court für nichtig erklärt wurden, vgl. dazu Charles S. Hyneman, The Supreme Court on Trial, New York 1964, S. 19 ff. 21 Dazu Thayer, The Origin and Scope of the American Doctrine of Judicial Review, Harvard Law Review 7 (1893), S. 129 ff. 22 Vgl. etwa die in Anm. 5 genannte Literatur; zur übertragbarkeit eines Konzeptes wie das des judicial self-restraint auf deutsche Verhältnisse vgl. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 181, Berlin 1972, passim.

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ständnis in bestimmten Entscheidungen. So muß jedenfalls einer Äußerung, das Gericht wolle "judicial self-restraint" üben, die Tat nicht folgen23 • Um solche Äußerungen des Gerichts für die Bewertung seiner Tätigkeit verwertbar zu machen, müßte eine Untermauerung durch Belege aus der Rechtsprechung erfolgen. Die Auswahl dieser "Belege" stellt jedoch wiederum die Anforderung, Kriterien nachzuweisen, die diese "Belege" als bewertungsrelevant ausweisen. Anders dürfte es sich bei solchen Äußerungen von Mitgliedern des Gerichts zu seinem Selbstverständnis verhalten, die - losgelöst von konkreten Entscheidungen - als Ergebnis kritischer Reflexion getan werden 24 . Ein greifbares, relativ objektiv nachprüfbares Kriterium liefert dagegen die Handhabung der verfahrensrechtlichen Kompetenzen, die dem Gericht zur vorläufigen Regelung von Streitfällen mit der Möglichkeit der einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) oder mit dem Recht der Bestimmung des Umfangs der Bindungswirkung einer Entscheidung durch die Tenorierung unter engerem oder weiterem Einschluß der Entscheidungsgründe (§ 31 BVerfGG)25 eingeräumt sind. Entscheidende Kriterien der Bewertung verfassungsgerichtlicher Tätigkeit müssen jedoch aus der Analyse der einzelnen zur Entscheidung führenden Schritte und entscheidungsbestimmenden Faktoren gesucht werden. Dabei muß allerdings für die Zwecke dieser Untersuchung auf Vorarbeiten 26 zurückgegriffen werden; eine eingehende sozialwissenschaftliche Analyse des richterlichen Entscheidungsprozesses kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Zudem gilt es, sich hier auch insoweit zu beschränken, als nicht das ganze Spektrum an sich entscheidungsrelevanter Faktoren (z. B. richterliches Vorverständnis, Sozialisation der Richter sowie Grad der Integration der Richterbank)27 in Vgl. dazu unten S. 93 ff., 79 ff. und 99 ff. In solchen Äußerungen wird immer wieder die Notwendigkeit zur richterlichen Zurückhaltung betont, vgl. dazu den in Anm. 5 zitierten Bericht des Bundesverfassungsgerichts zum zehnjährigen Bestehen; ferner Seuffert (Anm. 12), insbes. S. 1370. 25 Zur Problematik des § 31 BVerfGG vgl. neben der Kommentierung in Maunz / Sigloch u. a. (Anm. 5) neuerdings die eingehenden Auseinandersetzungen gerade auch mit der Praxis des Bundesverfassungsgerichts HoffmannRiem, Beharrung oder Innovation - Zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: Der Staat 13 (1974), S. 335 ff.; Wirke / Koch (Anm.6). 26 Neben den in Anm. 6 genannten Analysen des Grundlagenvertragsurteils ist hier in erster Linie auf die grundsätzlichen Arbeiten von Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit Bd. 2, hrsg. von Christian Starck, Baden-Baden 1973, und PhiZippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts (Annales Universitatis Saraviensis, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung, Bd. 64), Köln - Berlin - Bonn - München 1971, hinzuweisen. 27 Vgl. dazu Hoffmann-Riem (Anm. 25), S. 343 f. m. w. Nachweisen. 23 24

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die überlegungen einbezogen werden können. Hier soll die Untersuchung vielmehr auf solche entscheidungsrelevanten Schritte konzentriert werden, die in spezifischer Weise geeignet sind, den Entscheidungsrahmen bzw. den Umfang der Entscheidungswirkungen zu bestimmen und damit auf die Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts und so auch zugleich auf die Kompetenzen der anderen Verfassungsorgane einzuwirken. Zu diesen in spezifischer Weise relevanten Entscheidungsschritten gehört die Behandlung der empirischen Entscheidungsbasis28 , und zwar einmal im Hinblick darauf, in welchem Maße das Gericht sich die Sachkompetenz zumißt, den gegebenen Sachverhalt anders zu würdigen als es etwa der Gesetzgeber oder die Exekutive getan haben, bzw. in welchem Ausmaß das Gericht sich zusätzliche Informationsquellen bezüglich des Sachverhaltes erschließen zu können glaubt. Zum anderen geht es darum, inwieweit das Gericht aufgrund des vorgegebenen Sachverhalts meint, "richtigere" - für die verfassungsrechtliche Entscheidung relevante - Prognosen über die Konsequenzen einer Maßnahme anderer Verfassungsorgane stellen zu können. Und schließlich gehört in diesen Zusammenhang die Frage, ob das Gericht bei der Wertung eines Streitfalles "intersubjektiv transmissibles Wissen"21 zugrunde legt, also auf welcher für Dritte rational nachvollziehbaren Grundlage das Gericht die Auswahl konkurrierender Zielkonkretisierungen von Verfassungsleitprinzipien und anderen konkretisierungsbedürftigen Verfassungsnormen bewertet bzw. seine eigenen Konkretisierungen vornimmt3o • Im Sinne der vorgenannten Kriterien erfüllt das Bundesverfassungsgericht seine Funktion im System der Gewaltenbalance und handelt dementsprechend auch im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn es 1. seine verfahrensrechtlichen Kompetenzen so handhabt, daß es etwa bei der vorläufigen Regelung einer Streitigkeit nur diejenigen Anordnungen trifft, die das rechtliche und faktische Offenhalten des Entscheidungsergebnisses erfordert, oder bei der Bestimmung des Wirkungsumfanges seiner Entscheidung seine Dispositionsfreiheit im Rahmen des § 31 BVerfGG nicht als eine "KompetenzKompetenz"31 mißversteht, sondern sich vielmehr in der Wahrnehmung der im einzelnen noch immer umstrittenen Kompetenzen nach § 31 BVerfGG32 in seiner Entscheidungsfreiheit insofern verfassungsVgl. dazu allgemein Philippi (Anm. 26). Zu diesem Begriff Arnold Brecht, Politische Theorie, Tübingen 1961, S. 136 ff.; im hier behandelten Kontext vgl. Schuppert (Anm. 26), S. 167 ff. 30 Dazu Schuppert (Anm. 26), S. 200 ff. 31 So Wilke / Koch (Anm. 6), S. 239. 32 Vgl. die Angaben in Anm. 25. 28

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rechtlich und verfassungsfunktional gebunden sieht, als es nur einen Wirkungsumfang seiner Entscheidungen festlegt, der seine Begrenzung auf der einen Seite in dem für die Durchsetzung des normativen Anspruchs der Verfassung absolut Notwendigen und auf der anderen Seite in der größtmöglichen Respektierung der Kompetenzen und Gestaltungsbereiche der anderen Verfassungsorgane findet. Diese in ihrer Abstraktheit notwendigerweise weiter ausfüllungsbedürftige Aussage ließe sich - ohne Bezugnahme auf einen konkreten Entscheidungszusammenhang - vielleicht noch dahingehend präzisieren, daß das Verfassungsgericht bei der Bestimmung der Bindungswirkung i. S. des § 31 BVerfGG und damit lIdes für die Durchsetzung des normativen Anspruchs der Verfassung absolut Notwendigen" sich jedenfalls auch von dem Gesichtspunkt der "Tenorierungsfähigkeit" der als bindend erachteten Entscheidungsteile leiten läßt und sich nicht durch globale Verweisung auf die Gründe der Pflicht einer präzisen, vom Gebot der Rechtssicherheit geforderten Formulierung bzw. Benennung der bindenden Entscheidungsteile entzieht33 • Im Bereich der materiellen Kriterien funktionsgerechter Wahrnehmung der verfassungsgerichtlichen Aufgaben erfüllt das Gericht seine Rolle im Hinblick auf die hier vorgenommene verfassungsrechtliche und verfassungsfunktionale Verortung des Bundesverfassungsgerichts wenn es 2. nur bei ausweisbarer höherer Sachkompetenz oder nachweislich höherem Informationsstand von der Würdigung eines Sachverhaltes durch andere Verfassungsorgane abweicht34 . Dasselbe muß 3. hinsichtlich der Entscheidung des Gerichts gelten, seine Prognose über die Konsequenzen einer seiner Beurteilung unterstellten Maßnahme als "richtiger" einzuschätzen als die des streitbeteiligten Verfassungsorgans. Schließlich erscheint es im Sinne der hier entwickelten Standortbestimmung des Bundesverfassungsgerichts 4. geboten, daß es bei der "prioritätensetzenden Auswahl"35 von innerhalb der Verfassungsgrenzen konkurrierenden politischen Entscheidungen, die in Konkretisierung von Staatszielbestimmungen und Verfassungsleitprinzipien getroffen wurden, nicht seine Wertung an die Stelle derjenigen des zur Konkretisierungsentscheidung primär berufenen Verfassungsorgans setzt. Dieser Katalog der Restriktionen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit mag zunächst den Anhängern der Institution "Verfassungsgericht" als Ähnlich Wilke / Koch (Anm. 6), S. 239. In diesem Sinne verhält sich die - in der Ausgangslage allerdings nicht ganz vergleichbare - Verwaltungsrechtsprechung in den USA aufgrund der sog. "substantial evidence rule": Ist "substantial evidence" zugunsten der Verwaltungsentscheidung vorgebracht, weicht das Gericht von der Entscheidung nicht ab. 35 So Schuppert (Anm. 26), S. 201. 33

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der vornehmsten Errungenschaft rechtsstaatlicher Verfassungswahrung erschreckend und exzessiv erscheinen. Indes zeigt gen aue res Zusehen, daß mit der Einhaltung dieser Restriktionen das Bundesverfassungsgericht weder einen von der Verfassung her nicht gerechtfertigten Kompetenzverlust erleidet noch seine Entscheidungsfähigkeit und -freiheit entscheidend eingeengt wird. Zunächst einmal verbleibt dem Gericht die Aufgabe, Akte von anderen Verfassungsorganen, die "evident" dem Grundgesetz widersprechen, für verfassungswidrig und damit nichtig zu erklären, womit Fälle gemeint sind, die sich unter keinem rational argumentierbaren Gesichtspunkt mit Wortlaut und Zweck der Verfassung vereinbaren lassen. Darüber hinaus bleibt das Gericht in seinen Entscheidungsmöglichkeiten auch immer dann unbeschränkt, wenn etwa der Gesetzgeber oder die Exekutive ihrerseits für ihre Maßnahmen in tatsächlicher und/oder verfassungsrechtlicher Hinsicht inkonsistente oder nachprüfbar falsche Begründungen liefern. Mit anderen Worten, der Restriktionenkatalog will lediglich Situationen umreißen, in denen judicial self-restraint seitens des Bundesverfassungsgerichts aus verfassungs rechtlichen und verfassungsfunktionalen Gründen ein Gebot ist, d. h. Situationen, in denen die Entscheidung des Gerichts keinen höheren "Richtigkeitsgrad" beanspruchen kann als die der anderen Verfassungsorgane36 • Hier sollen diese von der Verfassung primär zur Entscheidung und zur Gestaltung der politischen Wirklichkeit berufenen Organe von der Intervention des Gerichts freigehalten werden, wie es das Bundesverfassungsgericht selbst für den Bereich der Gesetzgebung prinzipiell mit dem Institut der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen anerkannt hat.

11. Zur Analyse der Entscheidungsfindung im Grundlagenvertragsurteil Angesichts der zahlreichen Analysen 37 des Grundlagenvertragsurteils - auch unter den hier entwickelten bzw. zusammengefaßten Kriterien - kann die Untersuchung knapp gehalten werden.

1. ZU1· verfahrensrechtlichen Handhabung des Streitfalles Das Bundesverfassungsgericht hatte in diesem Streitfall zweimal Gelegenheit, sich im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens nach § 32 BVerfGG zu äußern. Zweimal wurden Anträge der Vgl. oben S. 90. Vgl. die Angaben in Anm. 6; ferner u. a. Kewenig, Auf der Suche nach einer neuen Deutschland-Theorie, in: DÖV 1973, S. 797 ff.; Kimminich, Das Urteil über die Grundlagen der staatsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland, in: DVBl. 1973, S. 657 ff.; sowie weitere Nachweise bei Wilke / Koch (Anm. 6), S. 233 Fn. 3. 36

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Bayerischen Staatsregierung auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung einer Ratifizierung des Vertrages vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache zurückgewiesen3S • Daß insbesondere die Begründung der ersten Entscheidung (4. Juni 1973) durch einen Teil der sie tragenden Richter sachlich wenig befriedigt3D , da sie sich wesentlich auf die im Entscheidungszeitpunkt befremdliche Erwägung stützt, das Gericht werde mit nur geringer Wahrscheinlichkeit zu der Überzeugung der Verfassungswidrigkeit des Vertrages gelangen40 , ist hier nicht zu erörtern. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, daß das Gericht nicht nur formal, sondern auch der Sache nach der Respektierung der von der Bundesregierung vorgenommenen Beurteilung der außenpolitischen Situation den Vorrang vor eigenen Einschätzungen der Lage gegeben hat, wobei zugleich die Bundesregierung eindringlich gemahnt wird, keine die Entscheidung des Gerichts präjudizierenden bzw. die Entscheidungswirkung beeinträchtigenden Schritte (d. h. die Ratifikation vor Erlaß der Entscheidung in der Hauptsache) zu unternehmen41 • Hier werden die Positionen der obersten Verfassungsorgane im oben beschriebenen Verständnis des grundgesetzlichen Machtbalancesystems überzeugend beschrieben und ausgefüllt. Anders ist jedoch das Grundlagenvertragsurteil selbst unter dem verfahrensrechtlichen Gesichtspunkt der Bestimmung seines Wirkungsumfangs zu beurteilen. Hier ist von der durch die Gerichtsmehrheit als Richtlinien ihres Vorgehens in diesem Fall verkündeten richterlichen Zurückhaltung 42 nichts mehr zu verspüren. In seiner Entscheidungsformel erklärt das Gericht den Grundvertrag zwar für mit dem Grundgesetz vereinbar, jedoch mit der in den Gründen noch präzisierten und verstärkten Maßgabe 43 , daß diese Vereinbarkeit des Vertrages mit dem Grundgesetz nur in der vom Gericht in der Urteilsbegründung vorgenommenen Auslegung gegeben sei. Der volle Umfang der so bereits ungewöhnlich ausgedehnten Bindungswirkung durch ihre pauschale Erstreckung auf "die Gründe" der Entscheidung wird jedoch erst sichtbar, wenn man hinzunimmt, daß das Gericht nicht nur verfassungskräftig eine - im einzelnen keineswegs immer wirklich vollzogene44 - Auslegung des Grundlagenvertrages festschreibt, sondern in den Urteilsgründen auch die offensichtlich doch als ebenfalls bindend ver38 39

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BVerfGE 35, S. 193; BVerfGE 35, S. 257. Vgl. dazu Tomuschat (Anm. 6), S. 802. BVerfGE 35, S. 197. BVerfGE 35, S. 199. BVerfGE 36, S. 14 f. BVerfGE 36, S. 35 f.; dazu auch Wilke / Koch (Anm. 6), S. 234, 239. So mit ätzender Kritik Wirke / Koch (Anm. 6), S. 237 f.

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standene "Klarstellung" vornimmt, "daß alles, was unter Berufung auf den Vertrag an weiteren rechtlichen Schritten geschieht, nicht schon deshalb rechtlich in Ordnung ist, weil die vertragliche Grundlage (der Vertrag) verfassungs rechtlich nicht zu beanstanden sei. Deshalb sind schon in diesen Normenkontrollverfahren, soweit übersehbar, die verfassungsrechtlichen Grenzen aufzuzeigen, die für das ,Ausfüllen' des Vertrages durch spätere Vereinbarungen und Abreden bestehen"45. Das Gericht judiziert hier also mit Verbindlichkeit auch im Hinblick auf Sachverhalte, die noch nicht erkennbar sind (das Gericht erläutert seinerseits z. B. nicht, was es als schon jetzt "übersehbar" ansieht!), die jedoch erst die Basis einer Entscheidung über die Relevanz der vom Gericht vorgenommenen Auslegung des Vertrages für Folgeabkommen abgeben können. Diese wenigen Hinweise, denen weitere hinzugefügt werden können46 , zeigen, daß das Gericht hier vom Pfad der Tugend verfassungsrichterlicher Zurückhaltung deutlich abgewichen ist, indem es sich von der "Fallbeurteilung" im strengen Sinne abwendet, also mehr entscheidet als vom Streitgegenstand geboten war und die Bindungswirkung souverän auch auf diese über den Fall hinausgreifenden Ausführungen im Urteil erstreckt47 • 2. Zu den inhaltlichen Kriterien der Entscheidungsfindung Das Gericht folgt zunächst einmal der Regierungsauffassung hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung des Grundlagenvertrages als Teil einer umfassenden ostpolitischen Konzeption48 , womit offensichtlich verdeutlicht werden sollte, daß das Gericht nicht leichtfertig in einen so bedeutsamen außenpolitischen Vorgang eingreifen will. So gesehen, hätte es für das Gericht nahegelegen, seine weiteren Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit des Vertrages an seiner früheren Rechtsprechung zum Saarstatut i. S. einer sog. Annäherungstheorie, angepaßt an die neue außenpolitische Situation, zu entwickeln, bzw. seinen im KPDUrteil benutzten "Test" der "evidenten" oder " nicht-evidenten " Verletzung des Wiedervereinigungsgebotes anzuwenden 49 • Beide Wege hätten es erlaubt, einerseits äußerste Grenzen noch verfassungsmäßiger Deutschland- und Ostpolitik aufzuzeigen, andererseits aber auch den Raum freier, flexibler außenpolitischer Gestaltung nicht über Gebühr einzuschränken. Stattdessen wählte das Gericht den Weg der verfasBVerfGE 36, S. 21. Insoweit sei auf die Ausführungen von Hoffmann-Riem (Anm. 25) und die in den Anmerkungen 6 und 37 genannten Arbeiten verwiesen. 47 Kritisch dazu Wilke / Koch (Anm. 6), S. 239 und passim; sehr skeptisch insofern auch Scheuner (Anm. 6), insbes. S. 584. 48 BVerfGE 36, S. 20. 4g Dazu Tomuschat (Anm. 6), S. 805 m. w. Nachweisen. 46

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sungskonformen Auslegung des Vertrages. Damit zwang sich das Gericht, sich im Detail über die verfassungsrechtlichen Grenzen ostpolitischer Schritte der Organe der auswärtigen Gewalt zu äußern. Selbst dieser Weg hätte nicht zu einer allzu starken511 oder überzogenen Einschränkung außenpolitischer Handlungsfreiheit der Regierung führen müssen, hätte das Gericht die politischen Prämissen bzw. die Würdigung der außenpolitischen Lage, der dieser Vertrag entsprang, sowie die Zielvorstellungen der Regierung explizit überdacht. Diese Voraussetzungen, Bedingungen und Ziele der Deutschland- und Ostpolitik waren und sind von der Regierung als auf überwindung des status quo gerichtet verstanden worden. Unter diesem Gesichtspunkt wurden die rechtlichen und politischen Positionen der Bundesrepublik aus den vertraglichen Regelungen weitgehend ausgeklammert. So wurden sie nicht aufgegeben, aber - mit Ausnahme der Aufrechterhaltung des Wiedervereinigungszieles und der völkerrechtlichen Nichtanerkennung der DDR - auch nicht ausdrücklich bestätigt. Damit wollte sich die Regierung ein Höchstmaß von Handlungsspielraum bei der "Normalisierung der Beziehungen zum anderen deutschen Staat" offenhalten. Das Gericht hat diesen Befund nicht reflektiert. Es hat sich mit der rechtlichen Feststellung, die im Verfahren nicht bestritten war, begnügt, keine deutsche Regierung dürfe von Verfassungs wegen das Ziel der Wiedervereinigung aufgeben oder durch rechtsverbindliche Schritte unmöglich machen 51 , um von hieraus nun ohne Offenlegung der eigenen Würdigung der gegebenen außenpolitischen Situation die von den Realitäten sich immer weiter entfernenden, auf die staatsrechtliche Stellung Deutschlands bezogenen verfassungsrechtlichen Positionen als unüberschreitbare Grenzen außenpolitischer Maßnahmen festzuschreiben. Wenn seitens des Prozeßvertreters der Regierung erklärt wurde, mit dem Urteil lasse sich leben52 , so ist angesichts der detaillierten Festlegungen im Hinblick z. B. auf künftig evtl. notwendig werdende Staatsangehörigkeitsregelungen nicht zu sehen, welche Handlungsspielräume bei loyaler Befolgung des Urteils der Regierung verbleiben, es sei denn man wollte - zum Schaden der Autorität des Bundesverfassungsgerichts - in "großzügiger" Auslegung des Urteils zur Tagesordnung übergehen. So ist der Kritik Recht zu geben53 , daß das Gericht sich den Realitäten deutscher Außenpolitik nicht gestellt hat und von nicht offengelegten und somit nicht nachprüfbaren Positionen aus die - von ihm selbst Als solche empfindet auch Scheuner das Urteil (Anm. 6), S. 584. BVerfGE 36, S. 18. 52 VgI. Kriele, Mit dem Karlsruher Urteil läßt sich leben, in: Die Zeit v. 10. August 1973, S. 4. 63 So etwa Tomuschat (Anm. 6), S. 804; auch Scheuner (Anm. 6), S. 584. 50

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grundsätzlich als vorhanden anerkannten 54 - verschiedenen Optionen außenpolitischen HandeIns wesentlich eingeschränkt hat, und dies zudem unter Außerachtlassung wesentlicher völkerrechtlicher Gesichtspunkte55 • Der vom Bundesverfassungsgericht unter zugegeben schwierigen Verhältnissen (wozu die Exekutive durch ihr Verhalten bei der Ratifikation des Vertrages das ihrige beigetragen hat!) beschrittene Weg legitimiert sich somit weder durch "richtigere" Würdigung des vorgefundenen Sachverhalts noch durch höhere Sachkompetenz.

m. Zur Analyse der Entscheidungsfindung in den Urteilen zum niedersächsischen Vorschaltgesetz und zum § 218 StGB Zu den innenpolitisch brisantesten, die Reformpolitik der sozialliberalen Parteien betreffenden Urteilen der jüngsten Vergangenheit gehören die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum niedersächsischen Vorschaltgesetz und zum 5. Gesetz zur Reform des Strafrechts56 • Gegenüber beiden Urteilen ist über die allgemeine, politisch motivierte Kritik hinaus vor allem von der Minderheit auf der Richterbank in den abweichenden Meinungen 57 der Gerichtsmehrheit mangelnde Zurückhaltung gegenüber den Entscheidungen des Gesetzgebers vorgeworfen worden 58 • 1. Die Entscheidungsfindung im Vorschaltgesetzurteil

Dieses Urteil gibt zu einer Überprüfung der Rolle des Verfassungsgerichts unter verfahrensrechtlichen Kriterien keinen besonderen Anlaß. Weder hatte das Gericht über eine einstweilige Regelung zu entscheiden noch weicht die Tenorierung von der normalen Praxis des Gerichts in Richtung auf eine Ausweitung der Bindungswirkung des Urteils ab. Unter den der Untersuchung zugrundegelegten Gesichtspunkten sind die Bestandteile der Entscheidung relevant, die dem Gesetzgeber einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz bei der Bestimmung der Angehörigen der Gruppe der Hochschullehrer (Zusammenfassung von habilitierten und nichthabilitierten, dauernd und nur zeitweilig lehrenden Hochschullehrern zur Gruppe der Hochschullehrer)59 und weiter unzureichende institutionell-organisatorische Sicherung der freien wissenBVerfGE 36, S. 18. SO mit Recht Tomuschat (Anm. 6), S. 804. 58 BVerfGE 35, S. 79 ff. und BVerfGE 39, S. 1 ff. 57 Abweichende Meinungen der Richter Rupp-v. Brünneck und Simon, BVerfGE 35, S. 148 ff. und 39, S. 68 ff. 58 So insbesondere BVerfGE 35, S. 149 f. und 39, S. 69 f. 59 BVerfGE 35, S. 134 und 139 f. 54

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schaftlichen Betätigung für habilitierte und ihnen in der Qualifikation gleichgestellte Hochschullehrer60 vorwirft. Das Gericht, das auch in dieser Entscheidung wiederholt den Primat des Gesetzgebers bei Akten politischer Gestaltung und die Schranken eigener Zweckmäßigkeitserwägungen betont61 , kommt hinsichtlich der ersten Frage nach Würdigung der gesetzlichen Regelung über die Zusammensetzung der Hochschullehrergruppe (§ 2 Abs. 2 VorschaltG) zu dem Ergebnis, der Gesetzgeber habe ein ungeeignetes Kriterium für die Gleichbehandlung der in der Hochschullehrergruppe zusammengefaßten Universitäts angehörigen gewählt62 • Wenn der Gesetzgeber die Gruppenuniversität zum Modell der inneren Ordnung der Universität wähle, dann liege dem erkennbar der Gedanke zugrunde, die Universitätsangehörigen für den internen Willensbildungsprozeß nach "typischen Interessenlagen" rechtlich zu formieren 63 • Hiervon ausgehend kann nach Ansicht des Gerichts das Kriterium "Lehrtätigkeit" nicht als ausreichende Grundlage einer zur Gruppenbildung legitimierenden Interessengleichheit gewählt werden, zumal die z. T. auch in der Lehre tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht der Gruppe der Hochschullehrer zugerechnet wurden. Das Verdikt verfassungswidriger Gruppenbildung durch den niedersächsischen Gesetzgeber beruht also auf dem - argumentativ und inhaltlich nachvollziehbaren - Gesichtspunkt, daß der Gesetzgeber seinerseits nicht konsistent seine Gleichbehandlungsentscheidung begründet hat. Das Gericht hat hier somit i. S. der oben genannten Kriterien nicht eine eigene Wertung des im Gesetz geregelten Sachverhaltes an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers gesetzt, sondern eine erkennbar widersprüchliche Wertung des Gesetzgebers aufgedeckt und als mit dem Gleichheitssatz unvereinbar erklärt. Diese Entscheidung ist aber typischerweise Aufgabe und Funktion des Bundesverfassungsgerichts. Als problematisch muß hingegen der Weg erscheinen, auf dem das Gericht zu der Entscheidung gelangt, der Gesetzgeber müsse zur institutionell-organisatorischen Sicherung der Freiheit der Wissenschaft der Hochschullehrer - wie vom Gericht definiert - diesen in den Universitätsgremien, die wissenschaftsrelevante Entscheidungen treffen (Fakultäten, Fachbereiche und Senate) ausschlaggebenden Einfluß, etwa durch Einräumung von mindestens 51 °/0 der Stimmen oder entsprechende Regelungsmodi, gewährleisten. Die Meinungsdifferenz zwischen Gericht und Gesetzgeber besteht hier darin, ob es zu dieser - allseits 60

61 62

63

BVerfGE 35, S. 120 ff. BVerfGE 35, S. 122 f., 125, 137, 140. BVerfGE 35, S. 134, 139. BVerfGE 35, S. 134.

7 Festschrift Menzel

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für notwendig erachteten - Sicherung der Wissenschaftsfreiheit ausreicht, ein überstimmen der Hochschullehrer auszuschließen (wie der Gestzgeber meinte) oder ob eine absolute Mehrheit - unter welchen Modalitäten immer - für die Hochschullehrer erforderlich ist. Das Gericht hätte sich mit seiner Würdigung der Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer, die offenbar von der des Gesetzgebers abweicht, auf sicherem Grund befunden, wenn es aufgrund zusätzlicher Informationen belegt hätte, daß diese Gefährdung in der Tat größer ist, als vom Gesetzgeber angenommen. Jedoch verwertet das Gericht jedenfalls explizit keine anderen Tatsachen, als sie dem Gesetzgeber bekannt waren. Vielmehr erklärt es, daß in der gegebenen Lage bereits ein Mehr an Sicherung der Wissenschaftsfreiheit erforderlich ist64 , wobei es an keiner Stelle seines Urteils deutlich macht, wie bei Verwirklichung dieses Mehr die übrigen am Wissenschaftsprozeß teilnehmenden Universitäts angehörigen noch einen angemessenen, auch institutionell-organisatorischen Schutz des ihnen vom Gericht ebenfalls zuerkannten Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit erlangen können65 • Der Verdacht liegt nahe, daß das Gericht mit seiner Festlegung auf das Mindesterfordernis des ausschlaggebenden Einflusses der Hochschullehrer in wissenschafts relevanten Entscheidungen (und damit auf den Ausschluß unter diesem Standard liegender Optionen der organisatorischen Gestaltung der akademischen Selbstverwaltung) die bereits mit der Akzeptierung der Gruppenuniversität aufgegebenen Probleme wenigstens hat abschwächen wollen. Denn bei ehrlicher Betrachtung der Lage der Universitäten unter der Geltung des Prinzips der Gruppenuniversität und der politischen Polarisierung muß eingestanden werden, daß "Zwänge" nicht notwendig erst mit der Beschlußfassung durch einzelne Gremien ausgelöst werden, sondern sie durchaus - wenn auch in außerrechtlichen Formen - durch Anforderungen der Gruppensolidarität entstehen können. Hat man aber die Gruppenuniversität akzeptiert und kann empirische Belege für die rechtliche und faktische Gefährdung durch eine Selbstverwaltungsstruktur, wie sie der Gesetzgeber in Niedersachsen gewählt hat, über das vom Gesetzgeber eingestandene Maß hinaus nicht erbringen, "so unterliegt die weitere Konkretisierung der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes (d. h. hier der Wissenschaftsfreiheit - d. Verf.) der nur bedingt nachprüfbaren Eigenverantwortung des Gesetzgebers"66. Ein Urteil über die politische Weisheit des Vorschaltgesetzes ist damit - wie gesagt - nicht gefällt. Es erweist sich aber auch hier, daß das BundesVgl. BVerfGE 35, S. 122 ff. und insbes. S. 130. So zu Recht Meyn, Das Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Georgia Augusta, Nr. 20 (Oktober 1973), S. 6. GG BVerfGE 35, S. 156 (abweichende Meinung der Richter Rupp-v. Brünneck und Simon). 64 65

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verfassungsgericht geneigt war, in erheblichem Maße selbst gestaltend in den legislativen Raum einzugreifen, was nicht zuletzt eine Folge auch der zunehmenden Tendenz ist, gravierende politische Meinungsunterschiede dem Gericht zur Entscheidung aufzubürden.

2. Zur Entscheidungsjindung im Urteil zum § 218 StGB Das jüngste, heftig umstrittene Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist das Urteil über die Verfassungswidrigkeit der sog. Fristenlösung, die der Gesetzgeber bei der Reform des § 218 StGB einführte. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich zunächst mit einem Antrag der Landesregierung von Baden-Württemberg auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG zu befassen, mit dem der Aufschub des Inkrafttretens des 5. Gesetzes zur Reform des Strafrechts begehrt wurde. Das Gericht gab diesem Antrag mit der Einschränkung statt, daß es die neuen Regelungen nur in Teilen nicht in Kraft treten ließ, um nicht "mehr als unbedingt geboten von der gesetzgeberischen Entscheidung" abzuweichen 67 • Ob die partielle Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs, die sich der Sache nach fast als eine Vorwegnahme der Billigung einer Indikationenlösung des Abtreibungsproblems ausnimmt, im Wege der einstweiligen Anordnung sachgerecht war, mag hier dahinstehen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß das Gericht in plausibler Weise seine Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber deutlich gemacht hat, da angesichts des offenen Ausgangs des Verfahrens in der Hauptsache eine generelle Ablehnung der einstweiligen Anordnung wegen ihres präjudiziellen Charakters nicht möglich war. Als außerordentlich problematisch erweist sich jedoch die Entscheidungsfindung der Gerichtsmehrheit, wenn sie unter den hier verwandten inhaltlichen Kriterien betrachtet wird, wobei noch einmal betont werden soll, daß es hier nicht um die Apologie des einen oder anderen Modells zur Reform des § 218 StGB geht. Ausgehend von einer Darstellung der Gesetzesgeschichte, in der das Gericht die im Bundestag zur Debatte gestellten Modelle der Reform des § 218 StGB in Erinnerung ruft (drei Indikationenmodelle und die sog. Fristenlösung), kommt die Mehrheitsentscheidung zunächst zu einer Umschreibung des durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgutes "Leben" und stellt fest, es umfasse - was unbestritten war - auch das werdende Leben 68 • So dann wendet sich das Gericht der Frage der staatlichen Schutzpflichten einerseits gegenüber dem werdenden Leben, 67

6S

BVerfGE 37, S. 328. BVerfGE 39, S. 36 ff.

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andererseits der Mutter gegenüber zu. Diese Schutzpflichten könnten im Einzelfall kollidieren, ohne daß ein Ausgleich möglich sei, da die Zulassung eines Schwangerschaftsabbruchs in jedem Falle die Vernichtung des Embryos bedeute69 • Daraus folgert das Gericht, daß angesichts des Ranges des Rechtsgutes "Leben" die Erhaltung des Lebens des ungeborenen Kindes jedenfalls absoluten Vorrang vor einem generellen Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, und zwar für die ganze Dauer der Schwangerschaft, genieße 70 • Nach dieser grundsätzlichen Aussage wendet sich das Gericht der Überlegung zu, welchen Inhalt die staatliche Pflicht zu effektivem Schutz des werdenden Lebens hat7 1 . Es erkennt das Recht des Gesetzgebers an, grundsätzlich präventiven vor repressivem Schutz zu wählen. Jedoch sei ein genereller undifferenzierter Verzicht des Gesetzgebers auf die - auch strafrechtliche - Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs mit dem Rang des zu schützenden Rechtsgutes nicht vereinbar. Es bestehe zumindest eine "relative" Verpflichtung zur Strafdrohung72 • Nach dieser grundsätzlichen Bejahung der Notwendigkeit auch strafrechtlichen Schutzes des werdenden Lebens erörtert das Gericht sodann mögliche Ausnahmen von einer strafrechtlichen Ahndung des Schwangerschaftsabbruchs gegenüber der Mutter. Das Gericht erkennt als rechtfertigende Indikationen im wesentlichen die des erweiterten Indikationenkataloges an (medizinische, eugenische, ethische und soziale Indikation)13. Es fährt dann fort: "In allen anderen Fällen bleibt der Schwangerschaftsabbruch strafwürdiges Unrecht; denn hier steht die Vernichtung eines Rechtsgutes von höchstem Rang im freien - nicht durch eine Notlage motivierten - Belieben eines anderen74 ." Auf der Grundlage dieser allgemeinen Explikation seiner Entscheidungskriterien setzt sich das Gericht mit dem Strafrechtsreformgesetz im einzelnen und zugleich mit den Argumentationen des Gesetzgebers auseinander, wobei es noch einmal seine Pflicht zu richterlicher Zurückhaltung betont75 • Im Zentrum dieser Ausführungen steht die Diskussion der für diesen Zusammenhang wichtigsten Aspekte, ob nämlich der Gesetzgeber mit dem unterschiedslosen Verzicht auf die Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs und der Einführung von präventiven Ge 70

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BVerfGE 39, S. BVerfGE 39, S. BVerfGE 39, S. BVerfGE 39, S. BVerfGE 39, S. BVerfGE 39, S. BVerfGE 39, S.

43. 43 f. 44 ff. 47 f. 49 f. 50 f. 51.

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Maßnahmen zum Schutze des werdenden Lebens seine Schutzpflicht ausreichend erfüllt hat. Das Gericht verneint dies aus mehreren Gründen: 1. Die Aufhebung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs ohne Bindung an bestimmte Indikationen erwecke den Anschein, als sei die Abtreibung nunmehr fast völlig rechtlich gebilligt. Ergänzend stützt sich das Gericht bei dieser Feststellung auf Ausführungen der Bundesregierung, die in der Tat die Aufhebung der Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten bestätigte76 . 2. Die flankierenden präventiven Schutzmaßnahmen seien unzureichend. Nur bei wirklich überzeugenden präventiven Schutzmaßnahmen, die zugleich den Unrechtsgehalt des Schwangerschaftsabbruchs verdeutlichen, hätte evtl. auf den strafrechtlichen Schutz verzichtet werden können 77 . 3. Als entscheidend sieht das Gericht schließlich an, daß die Fristenlösung einerseits empirisch nicht gesichert einen Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche gewährleisten könne, selbst wenn - die günstigsten Ergebnisse der präventiven Schutzmaßnahmen unterstellt - die Bereitschaft zum Schwangerschaftsabbruch in einer größeren Zahl als heute vermindert werden könnte. Denn auf der anderen Seite sei ein Anstieg solcher Handlungen zu erwarten, weil die durch die Existenz der Strafrechtsvorschrift des § 218 StGB begründete Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs und damit der von ihr ausgehende "Einfluß auf Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung"78 entfalle. Auch sei die vom Gesetzgeber vorgenommene Abwägung "Inkaufnahme von freiwilligen, nicht durch Notwendigkeit gerechtfertigten Abtreibungen" gegenüber "gesteigerter Möglichkeit, Schwangerschaftsabbrüche durch Beratung zu verhindern" eine unzulässige pauschale Abwägung von Leben gegen Leben, die dem Gebot individuell-konkreten Schutzes des Lebens des Grundgesetzes widerspreche. Unbestreitbar erscheint zunächst einmal die Feststellung, daß das Gericht Güterabwägungen mit dem Ergebnis zuläßt, die nicht auf der Ebene der Abwägung "Leben gegen Leben" liegen. Dies träfe nur auf die medizinische Indikation zu. Bei allen anderen Indikationen erfolgt die Abwägung zwischen dem Rechtsgut "Leben des ungeborenen Kindes" und dem Rechtsgut "zumutbare Lebensbedingungen der Mutter", da das Leben der Mutter in den Fällen der eugenischen, ethischen und sozialen Indikationen jedenfalls nicht mit "medizinischer" Notwendigkeit auf dem Spiel steht. Daraus folgt aber, daß das Gericht gezwungen ist, Kriterien und Argumentationen zu liefern, die die vom Gesetzgeber zugunsten seiner ebenfalls nicht auf der Ebene individueller Abwä76

77 78

BVerfGE 39, S. 54, 55. BVerfGE 39, S. 51,52 f., 61 ff. BVerfGE 39, S. 60.

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gung von "Leben gegen Leben" beruhenden Lösung des Problems angeführten Kriterien und Argumentationen nachprüfbar und in sich schlüssig aus den Angeln heben. Andernfalls setzte das Gericht ausschließlich seine Wertung der Situation an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers. Da angesichts der Hinnahme einer offenbar relativ weitgefaßten Indikationenlösung dieser Teil der Argumentation zwischen Gesetzgeber und Gericht sozusagen außer Streit ist, geht es nur noch um die Problematik der Rechtfertigung der Freigabe des Schwangerschaftsabbruches bis zum Ende des dritten Monats außerhalb der Indikationen. Hier nun ist eine Argumentation auf der Ebene individueller Abwägung zwischen "Leben eines bestimmten ungeborenen Kindes" und einem ebenso bestimmten Rechtsgut auf der Seite der Mutter nicht mehr möglich, weil in diesem "nicht-indizierten" Bereich eben konkrete Abwägungsmomente per se nicht vorhanden sind. Die Abwägung vollzieht sich vielmehr - und zwar sowohl in der Argumentation des Gerichts als auch in der des Gesetzgebers - auf der Ebene der Einschätzung, welcher Weg in diesem Bereich außerhalb der Indikationen am wirksamsten den Schutz des werdenden Lebens gewährleistet. Der Gesetzgeber meint durch Wegfall der Strafdrohung eine größere Zahl von Schwangeren überhaupt an die Beratungsmöglichkeiten heranführen zu können, da bei Aufrechterhaltung der Strafdrohung der Weg zur Beratungsstelle von vielen Schwangeren gescheut werde, indem damit die Option späterer illegaler Abtreibung bereits verstellt werde. Um dieses Mehr an Beratung und dadurch bewirkten Schutzes werdenden Lebens willen ist der Gesetzgeber bereit, auch im Grunde ungerechtfertigte freiwillige Abtreibungen in Kauf zu nehmen. Das Gericht seinerseits hält diese nicht individualisierte, "abstrakte" Aufrechnung von geschütztem und nichtgeschütztem werdenden Leben zum einen für überhaupt unzulässig, zum anderen aber den vom Gesetzgeber prognostizierten höheren Schutz des werdenden Lebens durch die erweiterten Beratungsmöglichkeiten als nicht hinreichend gesichert. Seiner Ansicht nach reichen die empirischen Daten dafür nicht aus. Das Gericht hält deshalb den Schutz durch die Aufrechterhaltung der Strafdrohung wegen ihres Einflusses auf Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung für effektiver. Steht das Gericht mit dieser Ansicht auf der Grundlage "richtigeren", transmissibien Wissens und konsistenter Argumentation? Die Antwort ist negativ, und zwar aus folgenden Erwägungen. Zum ersten würdigt es die einander eher widersprechenden als bestätigenden Erfahrungen mit der Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in England und der DDR ohne erkennbar zusätzliche Erkenntnis schlicht anders als der Gesetzgeber. Allerdings fügt es ein weiteres Argument zu den empirischen Daten hinzu, indem es prognostiziert, die Aufrechterhaltung der

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Strafdrohung werde besser schützen als die vom Gesetzgeber befürwortete Lösung. Damit aber nimmt das Gericht Zuflucht zu einer Wertung der Effektivität der Strafdrohung gegen Schwangerschaftsabbrüche, deren von Kriminalstatistik und Kriminologie aufgezeigtes Nichtzutreffen jedoch Ausgangspunkt der gesamten Reformbestrebungen im Hinblick auf § 218 StGB war! Und schließlich unterschlägt das Gericht in seiner Argumentation gegen die vom Gesetzgeber vorgenommene pauschale, abstrakte Abwägung zwischen einem - zugegebenermaßen unsicheren - "Mehr an durch Beratung geschütztem werdenden Leben" und "freiwilligen Schwangerschaftsabbrüchen", daß es selbst die ebenfalls nicht sicher prognostizierbare Zahl (trotz aufrechterhaltender Strafdrohung) verbleibender illegaler Abtreibungen zugunsten individuellen wirksamen Schutzes von werdendem Leben durch das Strafrecht in Kauf nimmt. Angesichts dieses Befundes spricht vieles für die Ansicht der dissentierenden Richter, daß "wegen der mehr dogmatischen Betrachtungsweise eine hinreichende Würdigung der vom Gesetzgeber vorgefundenen Verhältnisse" unterblieben ist und daß sich der Gesetzgeber bei der teilweisen Rücknahme der Strafdrohung des § 218 StGB von Erwägungen hat leiten lassen, "die gerade unter dem Gesichtspunkt des Lebensschutzes Gewicht haben und sich - mindestens bei einer verbesserten Beratung - keinesfalls als offensichtlich fehlsam widerlegen lassen"79. Dies ist im Sinne der hier angewandten Kriterien ausreichender Grund, judicial self-restraint als die angemessene richterliche Reaktion anzusehen.

IV. Schlußfolgerungen Sieht man die Stellung des Bundesverfassungsgerichts weniger durch das klassische - wie immer modifizierte - Gewaltenteilungsprinzip als durch seine Einfügung in ein System der Machtbalance bestimmt, so sind in einzelnen bedeutsamen Entscheidungen des Gerichts aus der jüngsten Vergangenheit Tendenzen des Gerichts zur überschreitung der ihm in diesem System verfassungsrechtlich und verfassungsfunktional gesetzten Grenzen unübersehbar. Die in der älteren Literatur fast ausnahmslos dem Gericht bescheinigte Einhaltung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit80 scheint heute nicht mehr als selbstverständlich angenommen werden zu können. Indes wäre es gewiß vorschnell, aus der Analyse weniger, wenn auch außerordentlich bedeutsamer Entscheidungen zu schließen, daß das auf dem Prinzip der Machtbalance der staatlichen Gewalten beruhende Verfassungsgefüge 79

neck 80

BVerfGE 39, S. 88 (abweichende Meinung der Richter Rupp-v. Brünund Simon); ähnlich S. 91. Vgl. etwa die in Anm. 5 zitierten Autoren.

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der Bundesrepublik prinzipiell in Unordnung geraten wäre. Ferner stellte es auch eine unangemessene Dramatisierung der hier identifizierten Überschreitungen seiner Funktionsgrenzen durch das Verfassungsgericht dar, wollte man sie als einen außergewöhnlichen Vorgang erachten. Die Geschichte des judicial review durch den amerikanischen Supreme Court zeigt ein wiederholtes Pendeln des Gerichts zwischen "judicial activism" und "judicial self-restraint"81. Dennoch ist vor einer Verfestigung der in den untersuchten Entscheidungen deutlich gewordenen Tendenz zu einem "judicial activism" des Bundesverfassungsgerichts zu warnen. Nicht nur besteht die allgemeine Gefahr eines Autoritätsverlustes des Gerichts, wenn es sich allzu weit in die tagespolitischen Auseinandersetzungen hineinwagt, was es bei Aufgabe des Prinzips richterlicher Zurückhaltung notgedrungen tun müßte. Vielmehr würde bei einer Fortsetzung oder gar Verstärkung der hier deutlich gewordenen Linie der Rechtsprechung auch die Gefahr heraufbeschworen, daß das Gericht als Institution selbst oder zumindest seine Zuständigkeit in Frage gestellt werden. Auch insoweit ist die Geschichte des US Supreme Court lehrreich. So haben der Gesetzgeber und der Präsident verschiedentlich versucht teilweise mit Erfolg82 - dem "judicial activism" des Gerichts durch Beschneidung seiner Zuständigkeiten oder Beeinflussung der personellen Zusammensetzung des Gerichts zu begegnen83 . Aber nicht nur die wechselvolle Geschichte des US Supreme Court ist Beleg dafür, daß ein Überziehen der verfassungsgerichtlichen Position die Gefahr von Angriffen auf die Existenz der Institution hervorruft. Bereits die relativ kurze Geschichte des Bundesverfassungsgerichts kennt ein Beispiel dafür, daß eine Regierung im Zusammenwirken mit der sie tragenden Parlamentsmehrheit aus politischen Erwägungen im Ernstfall bereit ist, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu beschneiden - im konkreten Fall die Kompetenz zur Erstattung von Gutachten durch das Gericht aufzuheben 84 . 81 Vgl. dazu Haines, The American Doctrine of Judicial Supremacy, New York 1959; Hyneman (Anm. 20); McCloskey, The American Supreme Court, Chicago 1960. 82 So wurde dem Supreme Court vor Durchführung eines Berufungsverfahrens gegen ein Militärgerichtsurteil, das im Zusammenhang mit dem Sezessionskrieg durchgeführt wurde, vom Gesetzgeber die Zuständigkeit entzogen, vgl. dazu Löwenstein, Verfassungslehre, 2., durch einen Nachtrag auf den Stand von 1969 gebrachte Auflage, Tübingen 1969, S. 234 m. w. Nachweisen. 83 So der Versuch Präsident Roosevelts mit dem sog. Court Packing Plan von 1936; dazu Jackson, The Struggle for Judicial Supremacy, New York 1941; PTitchett, Congress v. the Supreme Court, Chicago 1960, S. 8 ff. 84 Vgl. Novelle zum BVerfGG vom 21. 7 1956, BGBL I, S. 662.

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Schließlich ist auch nicht zu übersehen, daß ein zu aktives Verfassungsgericht Regierung oder Gesetzgeber dazu treibt, die ihren Gestaltungsraum übermäßig einengenden Urteile nicht mehr loyal zu befolgen, sondern möglichst extensiv, und das heißt im Grunde unvertretbar großzügig auszulegen und damit die Autorität des Gerichts auch im Bewußtsein der Bevölkerung zu untergraben. Dies mag sich in politisch ruhigen Zeiten nicht akut auswirken. Aber auf die Autorität und volle Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts muß auch und gerade in Krisenzeiten Verlaß sein, was wiederum seine Einbettung in einen breiten Konsens über seine Existenz und Funktion voraussetzt. Wer die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts als einen unabdingbaren Garanten rechtsstaatlicher Entwicklung in der Bundesrepublik bejaht, muß wünschen, daß das Gericht zu seiner früheren uneingeschränkten übung des judicial self-restraint im Sinne des eingangs angeführten Zitates von Justice Holmes zurückfindet.

IH. Staatsrecht und internationale Ordnung

Völkerrechtliche Bemerkungen zum Grundvertrags-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Von Rudolf Bernhardt I.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 19731 zur Verfassungsmäßigkeit des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik hat wie kaum eine andere Entscheidung gezeigt, wie eng die Völkerrechtsordnung in unserer Zeit mit dem Verfassungsrecht verzahnt ist. Die gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung beider Rechtsbereiche wurde in diesem Fall verstärkt durch die gesamtdeutsche Problematik, für die weder dem Völkerrecht noch dem Staatsrecht gesicherte Aussagen entnommen werden können. Zudem steht der Vertrag neben den zuvor geschlossenen Verträgen von Moskau und Warschau2 als gewichtiger Teil der Ostpolitik der sozial-liberalen Regierungskoalition von 1969 und 1972 in einem außenwie innenpolitischen Spannungsverhältnis, in dem nicht selten die Einigkeit über Formulierungen beträchtlich über die Einigkeit in der Sache hinausgeht. Aus diesen Gründen ist es kaum verwunderlich, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Aussagen enthält, die völkerrechtlich und verfassungsrechtlich angreifbar sind und bei denen der Eindruck entsteht, daß im Bemühen um ein einstimmiges Votum des entscheidenden Senats die Stringenz der Argumentation Schaden genommen hat. Die folgenden Bemerkungen kommentieren einige völkerrechtliche Aussagen des Urteils, und zwar soll nach einigen 1 BVerfGE 36, 1. Vgl. auch die umfassende Dokumentation von CieslaT / Hampel! ZeitleT, Der Streit um den Grundvertrag, 1973.

2 Zur Verfassungsmäßigkeit und zu anderen Rechtsfragen des Moskauer Vertrages und des Warschauer Vertrages hat EbeThaTd Menzel mehrfach eingehend Stellung genommen, vgl. u. a.: Verfassungswidrigkeit der Ostverträge von 1970?, DÖV 1971, 361; Die Ostverträge von 1970 und der "Deutschland"-Begriff des Grundgesetzes, DÖV 1972, 1; Die ersten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Ostverträgen von 1970, JZ 1972, 501; Die Ostverträge von 1970 und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ZRP 1972, 35. Wesentliche Impulse erhielt die Diskussion durch das Kieler Symposium von 1971, seine Materialien sind in dem von EbeThaTd Menzel herausgegebenen Band veröffentlicht: Ostverträge - Berlin-Status - Münchner Abkommen - Beziehungen zwischen der BRD und der DDR, 1971 (Veröffentlichungen des Instituts für internationales Recht an der Universität Kiel, Band 66).

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allgemeinen Betrachtungen über die Relevanz des Völkerrechts in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und über die Aussagen des Gerichts zur Rechtslage Deutschlands einiges zum Problem der völkerrechtlichen Anerkennung, zur Vertragsauslegung und zu staatsangehörigkeitsrechtlichen Fragen gesagt werden. Daß damit nur ein kleiner Ausschnitt der vielschichtigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihrer Problematik erfaßt wird, zeigen die zahlreichen, meist kritischen Stellungnahmen, die inzwischen vorliegen 3 •

Ir. Staatliche Gerichte haben von jeher in einer Vielzahl von Konstellationen Völkerrecht auszulegen und anzuwenden gehabt. Wenn immer der nationale Richter im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens eine völkerrechtliche Vorfrage zu beantworten, eine allgemeine Regel des Völkerrechts festzustellen, die Geltung eines Vertrages, sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht und seine Auslegung zu bestimmen hat, muß er sich mit einer Rechtsordnung befassen, die die nationalen Grenzen überschreitet und nicht allein von den innerstaatlichen Gewalten einschließlich der Gerichte bestimmt wird. Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Ausgestaltung, die dem Grundgesetz eigentümlich ist, hat den herkömmlichen Problemen der innerstaatlichen Bedeutung völkerrechtlicher Normen neue hinzugefügt. Während der Richter in der Regel die Einwirkungen des Völkerrechts auf die innerstaatliche Rechtslage auf der Ebene des einfachen Gesetzes- und Gewohnheitsrechts zu beurteilen hat, hat es das Verfassungsgericht vor allem mit 3 Vgl. insbes. Wolfgang Hoffmann-Riem, Beharrung oder Innovation Zur Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen, Der Staat 13 (1974), 335; WHhelm A. Kewenig, Auf der Suche nach einer neuen Deutschland-Theorie, DÖV 1973, 797; Otto Kimminich, Das Urteil über die Grundlagen der staatsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland, DVBI. 1973, 657; Michael Kirn, Der Fortbestand des Deutschen Reiches nach 25 Jahren Grundgesetz, ZRP 1974, 84; Robert Leicht, Grundgesetz und politische Praxis, 1974, S. 90 ff.; Walter Lewald, Die verfassungsrechtliche Lage Deutschlands, NJW 1973, 2265; Hans Heinrich Mahnke, Der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, Deutschland-Archiv 1973, 1163; Thomas Oppermann, Anm. JZ 1973, 594; Adalbert Podlech, Logische und hermeneutische Probleme einer neuen Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 1974, 337; Ulrich Scheuner, Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik, DÖV 1973, 581; Meinhard Schröder, Zur verfassungskonformen Auslegung völkerrechtlicher Verträge, JR 1974, 182; Gunnar Folke Schuppert, Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik, ZRP 1973, 257; Christian Tomuschat, Auswärtige Gewalt und verfassungsgerichtliche Kontrolle, DÖV 1973, 801; Dieter Wilke, Gerd H. Koch, Außenpolitik nach Anweisung des Bundesverfassungsgerichts?, JZ 1975, 233. Zu einem Teil der völkerrechtlichen Problematik Bruno Simma, Der Grundvertrag und das Recht der völkerrechtlichen Verträge, AöR Bd. 100 (1975), S. 4 ff.

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dem Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht zu tun. Sein Verdikt über die Verfassungswidrigkeit eines Vertrages hat zudem gravierende Konsequenzen: Völkerrechtlich kann der verfassungsgerichtliche Spruch den Staat in der Regel nicht von seinen Verpflichtungen befreien, zugleich ist nur der verfassungsändernde Gesetzgeber in der Lage, innerstaatlich einen völkerrechtsgemäßen Zustand herbeizuführen. Dieses Dilemma läßt sich weder bei uns noch in anderen Staaten mit gesicherten verfassungsrechtlichen Kontrollbefugnissen der Gerichte dadurch ausschalten, daß völkerrechtliche Normen, vor allem völkerrechtliche Verträge, von der Überprüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit ausgenommen werden. Weder der amerikanische Supreme Court' noch der österreichische Verfassungsgerichtshof5 noch das deutsche Bundesverfassungsgericht sind davor zurückgeschreckt, ihre Prüfungskompetenz auf Verträge zu erstrecken. Sie haben sich andererseits meist darum bemüht, Lösungen und Antworten zu finden, die zu einer Übereinstimmung von Völkerrecht und Verfassungsrecht führen. Das stimmt überein mit einer in der Rechtsprechung vieler Staaten anzutreffenden Tendenz, auch auf Gesetzesebene zu völkerrechtskonformen Ergebnissen zu gelangen, vor allem dann, wenn ein späteres nationales Gesetz einem früheren Vertrag zu widersprechen scheint. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh erklärt, das Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag könne zusammen mit der Sachregelung, die in dem nach Art. 59 GG geschlossenen Vertrag enthalten sei, auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Inzwischen liegt eine eindrucksvolle Judikatur vor, die diesen Grundsatz immer wieder bestätigt hat6 ; zur Verfassungswidrigkeit eines Vertrages ist das Gericht wohl bisher nur in einem Fall von sekundärer Bedeutung gelangt7. Die angestrebte Harmonie zwischen Vertrag und Verfassung läßt sich - wenn das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nicht unausweichlich ist - auf unterschiedlichen Wegen erreichen: Durch verfassungskonforme Vertragsauslegung, durch eine völkerrechtsfreundliche Verfassungsinterpretation oder auch durch eine Verb in4 Seit der Entscheidung Ware v. Hilton (3 Dall. 199) von 1796 hat die Frage der Verfassungsmäßigkeit völkerrechtlicher Verträge in einer Vielzahl von Entscheidungen des Supreme Court und anderer Gerichte eine Rolle gespielt. 5 Seit 1964 gibt es in Art. 140 ades Bundesverfassungsgesetzes eine ausdrückliche Verfassungsbestimmung: "Der Verfassungsgerichtshof erkennt über die Rechtswidrigkeit von Staatsverträgen ... ". S Vgl. BVerfGE 1, 396 (410); 4, 157 (162 f.); 12, 281 (288); 30, 272 (280); 36, 1

(13).

7 BVerfGE 30, 272. Interessen des Vertragspartners (der Schweiz) wurden in diesem Fall von dem verfassungsgerichtlichen Spruch wohl nicht betroffen.

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dung beider Gesichtspunkte. Die verfassungskonforme Vertragsauslegung, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Vordergrund stehen dürfte8, wirft besondere Probleme auf 9• Während die verfassungskonforme Auslegung normaler innerstaatlicher Gesetze vor allem auf die Einheit der staatlichen Rechtsordnung und den Wunsch gestützt werden kann, das von der Volksvertretung erlassene Gesetz im Rahmen der Verfassung als der letztlich allein maßgeblichen Norm bestehen zu lassen, bringt eine verfassungskonforme Vertragsauslegung die Gefahr mit sich, daß gegen das Völkerrecht verstoßen wird, denn auf völkerrechtlicher Ebene sind offensichtlich andere Kriterien maßgeblich als die Normen der innerstaatlichen Rechtsordnung und ihre Interpretation durch die Gerichte. So verständlich es ist, daß der nationale Richter sein Augenmerk primär auf die Verfassung richtet und von daher einen Vertrag beurteilt, so problematisch erscheint doch diese Blickrichtung. Eine völkerrechtsfreundliche, wirkliche Harmonie von Verfassungsrecht und Völkerrecht anstrebende Haltung wird wohl doch anders vorgehen müssen. An den Anfang der überlegungen ist die Frage zu stellen, wie der Vertrag (oder ein sonstiger völkerrechtlich relevanter Akt) nach Völkerrecht zu bewerten und auszulegen ist. Nur so läßt sich zutreffend feststellen, welche völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staat überhaupt eingegangen ist, und um die Vereinbarkeit dieser Verpflichtungen mit der Verfassung geht es letztlich. Daher sollte die Suche nach einer verfassungskonformen Auslegung eines Vertrages nicht an den Anfang der überlegungen gestellt werden. Eine verfassungs konforme Auslegung kommt m. E. nur dann in Betracht, wenn die völkerrechtliche Auslegung trotz sorgfältiger Prüfung zweifelhaft bleibt und mehrere Alternativen verbleiben, von denen nur eine verfassungskonform ist. Schließlich könnte überlegt werden, ob dann, wenn die völkerrechtliche Betrachtung zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt, die verfassungskonforme Auslegung der völligen Verwerfung eines Vertrages vorzuziehen ist; dagegen spricht, daß das Dilemma, in das eine völkerrechtlich nicht haltbare Auslegung sowohl die eigenen Staatsorgane als auch den fremden Staat führt, kaum weniger bedenklich ist als eine (innerstaatliche) Verwerfung des Vertrages wegen Verfassungswidrigkeit. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Streit um den Grundvertrag scheint mir zu früh die verfassungskonforme Auslegung ins Spiel gebracht zu haben, ohne zuvor die völ8 Immerhin erklärte das BVerfG in der Entscheidung Bd. 4, S. 157 (168) die "für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge allgemein entwickelten Grundsätze" für maßgeblich und fügte hinzu: "Solange und soweit die Auslegung offen ist ... ", sei die verfassungskonforme Auslegung vorzuziehen. 9 Hierzu auch M. Schröder (Anm. 3).

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kerrechtlichen Aspekte hinreichend geprüft zu haben. So ist m. E. zwar das Ergebnis, zu dem das Verfassungsgericht gelangt ist, völkerrechtlich haltbar, die Begründung ist es kaum. III. Zur Klarstellung seien einige weitere Bemerkungen vorausgeschickt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht aus vom Fortbestehen des Deutschen Reichs, es hält weder die Bundesrepublik noch die DDR für voll identisch mit dem Deutschen Reich, vielmehr nimmt es eine Teilidentität an. Hierzu und hiergegen läßt sich viel sagen10, aber das mag hier dahinstehen. Die These vom Fortbestehen des Reichs und der Teilidentität mag in der Sache fragwürdig sein, völkerrechtswidrig ist das Festhalten an ihr kaum. Der Hinweis in der Präambel des Grundvertrages, daß "zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage", keine Einigung erzielt werden konnte, schließt es aus, im Festhalten an der These vom Fortbestehen Gesamtdeutschlands einen Verstoß gegen den Vertrag zu sehen. Und auch nach Völkergewohnheitsrecht bestehen m. E. gegen die Grundthese - mag sie richtig sein oder falsch - keine Bedenken in der Weise, daß schon die These selbst völkerrechtswidrig wäre. Selbst wenn man jedoch dem Bundesverfassungsgericht in seinem Ausgangspunkt zustimmt oder ihn für vertretbar hält, bleiben manche daraus gezogenen Folgerungen völkerrechtlich problematisch, und nur darauf soll unten näher eingegangen werden. Nicht weiter vertieft werden kann schließlich auch die zentrale Frage des verfassungsrechtlichen Streits um den Grundvertrag: Ist der Vertrag mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes vereinbar? Daß das Grundgesetz ein solches Gebot enthält, hat das Bundesverfassungsgericht schon früher verschiedentlich betont und in seiner Entscheidung zum Grundvertrag bekräftigtl1 • Das Grundvertragsurteil zieht daraus drei Folgerungen12 : (1) Es gibt eine Rechtspflicht der Bundesorgane, politisch die Wiedervereinigung anzustreben. (2) Es gibt eine damit verbundene Pflicht, bestehende (verfassungsrechtliche?) Rechtstitel - das Gericht spricht unklar von einer "Rechtsposition aus dem Grundgesetz" -, die dem Wiedervereinigungsgebot nutzbar gemacht werden können, zu erhalten und nicht aufzugeben. (3) Es darf schließlich "kein mit dem Grundgesetz unverein10 Am Rande sei vermerkt, daß über das Fortbestehen des Reichs entgegen der anscheinend gegenteiligen Auffassung des BVerfG (S. 15 f. der Entscheidung) das Grundgesetz allein nicht zu entscheiden vermag. 11 S. 16 der Entscheidung mit Hinweisen auf die frühere Rechtsprechung. 12 Vgl. die Leitsätze 4 und 5 sowie Leitsatz 7 und S. 17 ff. sowie S. 24 f. der Entscheidung.

8 Festschrift Menzel

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bares Rechtsinstrument unter Beteiligung der Verfassungsorgane der Bundesrepublik geschaffen werden, das der Bemühung der Bundesregierung um Wiedervereinigung entgegengehalten werden kann". Diese Thesen des Bundesverfassungsgerichts können in der hier gebotenen Kürze nicht überprüft werden. Auch für sie gilt, daß es sich um verfassungsrechtliche Aussagen handelt, über deren Richtigkeit man diskutieren kann, die aber völkerrechtlich keine unüberwindbaren Probleme aufwerfen, denn die verfassungs rechtlichen Gebote engen nur die politische Bewegungsfreiheit in einer völkerrechtlich m. E. unbedenklichen Weise ein. Geprüft wird im folgenden nur, ob einzelne Folgerungen des Gerichts aus seinen Prämissen völkerrechtlich überzeugen können.

IV. Zur Frage der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik enthält die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Aussagen, die der Völkerrechtler schwer einzuordnen vermag. Es heißt u. a. 13 : "Berücksichtigt man die dargelegten Zusammenhänge, so wird deutlich, welche Bedeutung den in der politischen Diskussion verwendeten Formeln ,zwischen den beiden Staaten bestehende besondere Beziehungen' und ,der Vertrag besitze einen diesen besonderen Verhältnissen entsprechenden besonderen Charakter' zukommt: Die Deutsche Demokratische Republik ist im Sinne des Völkerrechts ein Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt. Diese Feststellung ist unabhängig von einer völkerrechtlichen Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik Deutschland. Eine solche Anerkennung hat die Bundesrepublik Deutschland nicht nur nie förmlich ausgesprochen, sondern im Gegenteil wiederholt ausdrücklich abgelehnt. Würdigt man das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik im Zuge ihrer Entspannungspolitik, insbesondere das Abschließen des Vertrages als faktische Anerkennung, so kann sie nur als eine faktische Anerkennung besonderer Art verstanden werden." Diese Formeln sind wohl beeinflußt von dem Bestreben des Gerichts, sich nicht in Widerspruch zu setzen mit den mehrfachen Äußerungen der Bundesregierung, eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR komme nicht in Betracht14 • Wenn aber die DDR als Staat im Sinne des Völkerrechts und als Völkerrechtssubjekt existiert, wird man sich angesichts der vorliegenden Akte und Verträge mit bloßen Behauptungen kaum zufrieden geben können, sondern fragen müssen, ob nach völkerrechtlichen Kriterien nicht doch in der Sache eine "Anerkennung" vorliegt. Und wenn das zu bejahen ist, wäre weiter zu 13

S. 22 f.

l' Erwähnt auf S. 12 der Entscheidung.

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fragen, ob verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen, daß die Bundesrepublik die völkerrechtliche Lage förmlich anerkennt. Was heißt aber in der Entscheidung "faktische Anerkennung besonderer Art"? Zwar unterscheidet man im Völkerrecht herkömmlicherweise zwischen der de iure- und der de facto-Anerkennung (wobei die Fruchtbarkeit und die Tragweite der Unterscheidung zweifelhaft sind), aber in beiden Fällen handelt es sich um Vorgänge auf der Ebene des Völkerrechts15 • Es spricht einiges dafür, die verschiedenen Erklärungen der Bundesregierung mit ihren nicht leicht zu deutenden Nuancen18 dahin auszulegen, daß die DDR zwar als Subjekt der Völkerrechtsordnung anerkannt worden ist, aber als ein besonderen Bindungen und Beschränkungen unterliegendes Rechtssubjekt. Dann läge eine völkerrechtliche Anerkennung besonderer Art vor, und vielleicht hat das Verfassungsgericht dies gemeint, ohne es klar zu sagen. Jedenfalls läßt sich die "faktische Anerkennung besonderer Art" kaum als "staatsrechtliche" Anerkennung deuten, zumal ein solcher Begriff äußerst zweifelhaft ist und dem wirklichen Vorgang kaum gerecht wird. Es wird sich völkerrechtlich kaum bestreiten lassen, daß die DDR Völkerrechtssubjektivität besitzt und daß die Bundesrepublik durch eine Mehrzahl von Akten "anerkannt" hat, daß sie den völkerrechtlichen Befund zu respektieren gedenkt. Das schließt es nicht aus, neben den völkerrechtlichen auch Reste staatsrechtlicher Beziehungen als fortbestehend anzusehen und die Besonderheiten der völkerrechtlichen Lage Deutschlands - insbes. die Vier-Mächte-Verantwortung für Gesamtdeutschland - zu betonen. Die fortbestehenden "besonderen Beziehungen" zwischen den beiden deutschen Staaten werden ja in der Regel zweifach begründet: Mit dem Fortbestehen oder Fortwirken gesamtdeutscher Staatlichkeit und mit den Verantwortlichkeiten und Prärogativen der Vier Mächte. Beides schließt aber die Völkerrechtssubjektivität der Bundesrepublik und der DDR nicht aus. Das Völkerrecht kennt in zunehmendem Maße Rechtssubjekte, die nicht über die volle Staatlichkeit und Souveränität und über eine unbegrenzte internationale Handlungsfähigkeit verfügen17 • Es läßt sich mit vertretbaren Gründen annehmen, daß zwischen der Bundesrepublik und der DDR aus der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirkende staatsrechtliche Verbindungen neben den völkerrechtlichen bestehen, und sicher unterliegen zudem beide deutsche Staaten besonderen internationalen Bin15 Vgl. Wilfried Schaumann, Stichwort "Anerkennung", in: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 1960, S. 47 ff. 18 Vgl. zur Interpretation der Regierungserklärung von 1969 Karl Doehring / Georg Ress, Die parlamentarische Zustimmungsbedürftigkeit von Verträgen zwischen der BRD und der DDR, 2. Aufl. 1972, S. 10 ff. und S. 20 Anm.20. 17 Vgl. Jochen Abr. Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968.



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dungen. Aber das ändert nichts daran, daß auch die DDR heute ein Völkerrechtssubjekt ist, wenn auch mit besonderen Beschränkungen ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit (ebenso wie die Bundesrepublik). Nach völkerrechtlichen Maßstäben hat die Bundesrepublik unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß sie die Völkerrechtssubjektivität der DDR zu respektieren gedenkt. Wenn man das nicht als (möglicherweise eingeschränkte) völkerrechtliche Anerkennung qualifiziert, umgeht man den Ausdruck aus politischen Gründen, ohne an der Sache viel zu ändern. Wenn aber die - eingeschränkte - Völkerrechtssubjektivität der DDR zu bejahen ist und auch von der Bundesrepublik "anerkannt" ist, wirken weitere Aussagen des Bundesverfassungsgerichts problematisch. Einmal erscheint der Versuch, dem Grundvertrag einen Doppelcharakter zu attestieren, weder überzeugend noch nötig. Die Formel des Bundesverfassungsgerichts, der Vertrag sei "seiner Art nach ein völkerrechtlicher Vertrag, seinem spezifischen Inhalt nach ein Vertrag, der vor allem inter se-Beziehungen regelt"18, läßt mehr im Dunkeln, als daß sie die Rechtslage erhellt. Es heißt weiter in der Entscheidung, daß es sich bei der Grenze zwischen den beiden Staaten "um eine staatsrechtliche Grenze handelt ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik verlaufen"19; damit wird die völkerrechtliche Lage, die auch in den Verträgen von Moskau und Warschau ihren Niederschlag gefunden hat, verkannt. Es handelt sich zumindest auch um eine Grenze zwischen zwei Völkerrechtssubjekten, und das ist im Verhältnis der Bundesländer zueinander nicht der Fall. Schließlich hat der zweifelhafte Ausgangspunkt wohl mit zu der Aussage des Bundesverfassungsgerichts geführt, daß der Handel zwischen den beiden Staaten "im Zuge der Fortentwicklung kein Außenhandel werden [darf]; d. h. es darf in diesem Bereich keine Zollgrenze vereinbart werden"20. Wenn aber eine völkerrechtlich relevante Grenze zwischen den beiden Staaten besteht, ist immerhin zu fragen, ob die Verfassung es auf Dauer verbie18 S. 24. Es ist u. a. zu fragen, ob nicht auch sogenannte inter se-Beziehungen (besondere) völkerrechtliche Beziehungen sind oder sein können. Vgl. hierzu auch Simma, (Anm. 3), S. 8 ff., dem ich jedoch insoweit nicht zu folgen vermag, als er (bei nicht hinreichender Berücksichtigung der dem Vertrag vorausgehenden und ihn begleitenden rechtlichen Bindungen auf Grund der besonderen Lage Deutschlands) den Grundvertrag als Vereinbarung zwischen voll souveränen Staaten qualifiziert. 19 Es ist nicht leicht auszumachen, was das BVerfG genau unter einer staatsrechtlichen Grenze versteht, vgl. die eigenartige Formulierung (S. 26): "... staatsrechtliche Grenzen und hier wiederum solche, die den Gesamtstaat einschließen, und solche, die innerhalb eines Gesamtstaates Gliedstaaten ... voneinander trennen". Anscheinend handelt es sich im ersten Fall um eine sowohl staatsrechtliche als auch völkerrechtliche Grenze, im zweiten Fall nur um eine staatsrechtliche Grenze. 20 S.33.

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tet, einschlägige Konsequenzen für den Handel aus der völkerrechtlichen Situation zu ziehen21 ; doch das ist eine Frage des Verfassungsund weniger des Völkerrechts. Zusammenfassend muß man m. E. sagen, daß das Völkerrechtssubjekt DDR auch von der Bundesrepublik der Sache nach völkerrechtlich anerkannt worden ist, aber mit den Beschränkungen, die sich aus etwa fortbestehenden staatsrechtlichen Bindungen und aus der völkerrechtlichen Hypothek, die auf Gesamtdeutschland und seinen Teilen lastet, ergeben. Dieser Befund ist m. E. durchaus verfassungsgemäß. Es wäre zudem um die viel beschworene Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eigenartig bestellt, wenn die Bundesorgane gehindert wären, bestehende völkerrechtliche Situationen anzuerkennen.

V. Bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages wird das mögliche Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Betrachtung besonders sichtbar. Für die Auslegung auf völkerrechtlicher Ebene hat sich ein gewisser Kanon von Auslegungsregeln herausgebildet, die in den Artikeln 31 und 32 der Wiener Vertragsrechts-Konvention von 196922 einen Niederschlag gefunden haben. Dabei ist bemerkenswert und zugleich selbstverständlich, daß rein innerstaatliche Vorgänge keine völkerrechtlich relevanten Auslegungsfaktoren sind. Für die Auslegung kommen grundsätzlich nur Anhaltspunkte in Betracht, die einen Rückschluß auf den Willen beider (oder aller) Vertragspartner zulassen. Das gilt auch dann, wenn eine einseitige Stellungnahme dem Partner im Zusammenhang mit dem Vertragsschluß mitgeteilt worden ist, denn sie muß von ihm "as an instrument related to the treaty" akzeptiert worden sein (Art. 31 Abs. 2 [b]). Subsidiär können bei unklarem Wortlaut die Umstände des Vertragsschlusses berücksichtigt werden (Art. 32). Die dem Vertragsschluß folgende Praxis kommt nur dann als Faktor für die Auslegung eines Vertrages in Betracht, wenn ihr "the agreement of the parties regarding its interpretation" entnommen werden kann (Art. 31 Abs. 3 [b]). Diese und die übrigen in der Wiener Konvention enthaltenen Regeln sind zwar noch nicht als Vertragsrecht in Kraft, geben aber nach verbreiteter Auffassung im wesentlichen das geltende Völkergewohnheitsrecht wieder; das bestätigt u. a. die internationale Rechtsprechung. Daß einseitige nationale Vorgänge für die völkerrechtliche Auslegung nicht 21 Vgl. allgemein zu den Problemen, die aus der vom Bundesverfassungsgericht dekretierten Bindung an alle (!) Gründe seines Urteils folgen, insbes. Wilke u. Koch, (Anm. 3) sowie Hoffmann-Riem, (Anm. 3). 22 Abgedruckt in ZaöRV Bd. 29 (1969), S. 711 ff.

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maßgeblich sind, ist im Grunde selbstverständlich. In jedem Rechtssystem können Verträge, die auf der Ebene der Gleichordnung der Partner geschlossen werden, nicht von einer Partei verbindlich ausgelegt werden. Das gilt für die Vorgänge, die dem Vertragsschluß vorausgehen, es gilt erst recht für die Zeit nach dem Inkrafttreten eines Vertrages. Das Bundesverfassungsgericht hat diese völkerrechtlichen Prinzipien nicht zutreffend herangezogen. Es hat zunächst den Grundvertrag rein nach Verfassungsrecht interpretiert und nur am Schluß der Entscheidung einen Blick auf das Völkerrecht geworfen; dabei hat das Gericht ausgeführt23 : "Die Deutsche Demokratische Republik hatte vor Inkrafttreten des Vertrags (20. Juli 1973) volle Kenntnis von dem beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren, von der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, von der Bindung der Bundesregierung und aller Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden des Bundes und der Länder an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, kannte die rechtlichen Darlegungen der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren, die in der Substanz mit der durch dieses Urteil verbindlich gewordenen Rechtsauffassung nicht in Widerspruch stehen, und den vollen, im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Text des Vertragsgesetzes einschließlich des schon bei der Paraphierung des Vertrags angekündigten Briefes zur deutschen Einheit und war von der Bundesregierung - ohne daß ihr von der anderen Seite widersprochen wurde immer wieder darauf hingewiesen worden, daß sie den Vertrag nur abschließen könne so, wie er mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Diese Umstände sind geeignet auch in der völkerrechtlichen Auseinandersetzung, insbesondere auch gegenüber dem Vertragspartner dem Vertrag die Auslegung zu geben, die nach dem Grundgesetz erforderlich ist. Das steht im Einklang mit einem Satz des allgemeinen Völkerrechts, der in der Staatenpraxis Bedeutung hat, wenn es darum geht, ob ausnahmsweise ein Vertragsteil sich dem anderen gegenüber darauf berufen kann, dieser hätte erkennen können und müssen, daß dem Vertrag in einer bestimmten Auslegung das innerstaatliche Verfassungsrecht entgegensteht." Diese Ausführungen halten einer völkerrechtlichen Prüfung kaum stand24 • Die Anhängigkeit eines verfassungsrechtlichen Verfahrens zur Zeit des Vertragsschlusses ist kein relevanter Auslegungsfaktor, noch weniger ist es der spätere Spruch eines Verfassungsgerichts. Nur eine unmißverständliche, vor Vertragsabschluß abgegebene und vom Ver23

S.36.

Übrigens dürfte die Auffassung der DDR zur deutschen Frage allen aufmerksamen Zeitgenossen und erst recht der Bundesregierung zur Zeit des Vertragsschlusses nicht unbekannt gewesen sein. Könnte nicht die DDR ihrerseits nach der Logik des BVerfG ihren Standpunkt als für die Interpretation maßgeblich bezeichnen? Die Frage zeigt, daß die einseitige Interpretation in eine Sackgasse führt. - Wieweit eine genaue Prüfung einzelner Vertragsklauseln ergibt, daß insoweit ein offener Dissens vorliegt und eine rechtliche Bindung daher zweifelhaft ist, kann hier nicht untersucht werden. U

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tragspartner akzeptierte Erklärung, den Vertrag nur in einer bestimmten Auslegung schließen zu wollen, ist völkerrechtlich maßgeblich. Allenfalls könnte ein ausdrücklicher Vorbehalt eines Partners, den Vertrag nur gemäß der - noch ausstehenden - Interpretation seines Verfassungsgerichts schließen zu wollen, Auswirkungen haben. Wieweit der Brief zur Deutschen Einheit nach den völkerrechtlichen Auslegungsregeln für die Interpretation des Grundvertrages von Bedeutung sein kann, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn jedenfalls enthält er längst nicht dieselben Aussagen und Deutungen, die das Bundesverfassungsgericht nach Vertragsschluß hervorgebracht hat. Der letzte Satz in dem zuvor zitierten Exzerpt legt die Annahme nahe, daß das Bundesverfassungsgericht zwei Dinge miteinander verbindet, die auseinandergehalten werden müssen. Bei der Vertrags auslegung spielt das Verfassungsrecht eines Staates grundsätzlich keine Rolle. Ganz getrennt davon wird seit langem darüber diskutiert, ob und wann Verfassungsverletzungen beim Vertragsschluß die völkerrechtliche Gültigkeit eines Vertrages beeinflussen25 • Im Anschluß an diese Diskussion sieht Art. 46 der Wiener Vertragsrechts-Konvention bei "manifester" Verletzung interner Rechtsvorschriften von fundamentaler Bedeutung die Ungültigkeit eines Vertrages vor. Und zwar muß es sich um "internal law regarding competence to conc1ude treaties" handeln. Es ist sehr zweifelhaft, ob diese Regel überhaupt eingreift, wenn ein Staatsorgan zur völkerrechtlichen Vertretung des Staates befugt ist und nur der Vertragsinhalt die Verfassung verletzt; die traditionelle Auffassung verneint das. In jedem Fall führt eine manifeste Verfassungsverletzung im Sinn der Vorschrift zur Unwirksamkeit des Vertrages, nicht aber zur Auslegung gemäß dem Verfassungsrecht eines Partners. Auch das ist durchaus verständlich, denn die Ungültigkeit eines Vertrages bewirkt, daß keiner der Partner Rechte und Pflichten erwirbt, bei der "verfassungskonformen Auslegung" soll dagegen die Interpretation des Vertrags durch den einen Partner auch für den anderen verbindlich sein. Hierfür bietet das Völkerrecht keine Hilfe, und die gegenteiligen Ausführungen des Verfassungsgerichts sind nicht zutreffend. Schließlich entfernt sich das Bundesverfassungsgericht von allen völkerrechtlichen Maximen für die Vertragsauslegung, wenn es erklärt26 : 25 Vgl. hierzu die umfassenden Untersuchungen von Wilhelm Karl Geck, Die völkerrechtlichen Wirkungen verfassungswidriger Verträge, 1963, und Luzius Wildhaber, Treaty-Making Power and Constitution, 1971. Vgl. auch Simma, (Anm. 3), S. 18 ff. 28

S.35.

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"Schließlich muß klar sein, daß mit dem Vertrag schlechthin unvereinbar ist die gegenwärtige Praxis an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, also Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl. Insoweit gibt der Vertrag eine zusätzliche Rechtsgrundlage dafür ab, daß die Bundesregierung in Wahrnehmung ihrer grundgesetzlichen Pflicht alles ihr Mögliche tut, um diese unmenschlichen Verhältnisse zu ändern und abzubauen." Wenn ein Vertragspartner (wie hier die DDR) seit langem ein bestimmtes Verhalten praktiziert und wenn weder im Vertragstext noch sonst klare Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß dieser Partner sich zur Änderung seines Verhaltens verpflichtet, kann nach allen anerkannten völkerrechtlichen Auslegungsmaximen ein Vertrag nicht dahin interpretiert werden, daß derselbe Partner sich doch zur Aufgabe seiner bisherigen Praxis verpflichte. Man kann darüber rechten, ob das Völkergewohnheitsrecht die Praxis an der Grenze der DDR sanktioniert oder toleriert, und sicher verdient das humanitäre Anliegen des Bundesverfassungsgerichts und aller anderen Bundesorgane, die überwindung unmenschlicher Zustände zu erreichen, jede Unterstützung. Nur läßt sich der Grundvertrag nicht so interpretieren, wie es das Gericht in diesem Zusammenhang getan hat27 •

VI. Zu Fragen der Staatsangehörigkeit hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil weitaus vorsichtiger und, wie ich meine, auch zutreffender geäußert als zu einigen anderen Problemen. Immerhin gibt es auch in diesem Zusammenhang völkerrechtliche Aspekte, die kurz zu beleuchten sind. Es heißt in der Entscheidung u. a. 28 : "Der Status der Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, der die in diesem Grundgesetz statuierte deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, darf durch keine Maßnahme, die der Bundesrepublik Deutschland zuzurechnen ist, gemindert oder verkürzt werden. Das folgt aus der mit dem Status des Staatsangehörigen verbundenen Schutzpflicht des Heimatstaates. Dazu gehört insbesondere, daß ein Deutscher, wann immer er in den Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik gelangt, - solange er nicht darauf verzichtet einen Anspruch darauf hat, nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland vor deren Gerichten sein Recht zu suchen ... Müßte der Vertrag dahin verstanden werden, daß die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht mehr als Deutsche im Sinne des Art. 16 und des Art. 116 Abs. 1 GG behandelt werden dürften, so stünde er eindeutig im Widerspruch zum Grundgesetz. Der Vertrag bedarf daher, um 27 Im übrigen: Woher nimmt das BVerfG die Kompetenz, bestimmte Verhaltensweisen des Vertragspartners als vertragswidrig zu kennzeichnen? 28

S. 30 f.

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verfassungskonform zu sein, der Auslegung, daß die Deutsche Demokratische Republik auch in dieser Beziehung nach dem Inkrafttreten des Vertrags für die Bundesrepublik nicht Ausland geworden ist. Der Vertrag bedarf weiter der Auslegung, daß - unbeschadet jeder Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts in der Deutschen Demokratischen Republik - die Bundesrepublik Deutschland jeden Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der in den Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung gerät, gemäß Art. 116 Abs. 1 und 16 GG als Deutschen wie jeden Bürger der Bundesrepublik behandelt. Er genießt deshalb, soweit er in den Geltungsbereich des Grundgesetzes gerät, auch den vollen Schutz der Gerichte der Bundesrepublik und alle Garantien der Grundrechte des Grundgesetzes, einschließlich des Grundrechts aus Art. 14 GG. Jede Verkürzung des verfassungsrechtlichen Schutzes, den das Grundgesetz gewährt, durch den Vertrag oder eine Vereinbarung zur Ausfüllung des Vertrags, wäre grundgesetzwidrig." Diese Passagen dürften dahin auszulegen sein, daß die Bürger der DDR - soweit sie "Deutsche" im Sinne des Grundgesetzes (Art. 116 Abs. 1) sind - auch in Zukunft von unserer Rechtsordnung her als Deutsche anzusehen sind und daß dieser Status immer dann seine volle Wirkung entfaltet, wenn der Betreffende in den Geltungsbereich des Grundgesetzes gelangt. Diese Rechtsauffassung dürfe trotz aller dagegen von östlicher Seite vorgebrachten Angriffe 29 völkerrechtsgemäß sein, sie ist zudem durch die dem Grundvertrag beigefügten Erklärungen zu Protokoll abgesichert. Wie andere Beispiele aus der internationalen Praxis - insbesondere, aber nicht nur im Verhältnis der Glieder des Commonwealth zueinander - zeigen, wird es keineswegs als Verstoß gegen das Völkerrecht angesehen, wenn ein Staat den Bewohnern eines anderen Gebietes einen gesicherten, den Bewohnern des eigenen Gebietes angenäherten Rechtsstatus einräumt. Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Nicht ganz einfach zu deuten ist schließlich eine weitere Aussage des Bundesverfassungsgerich ts 30 : "Aus der dargelegten besonderen Natur des Vertrags folgt, daß der Vertrag auch nicht unvereinbar ist mit der nach dem Grundgesetz der Bundesregierung aufgegebenen Pflicht, allen Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG Schutz und Fürsorge angedeihen zu lassen. Sie ist nach wie vor befugt, innerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes, durch alle ihre diplomatischen Vertretungen und in allen internationalen Gremien, deren Mitglied sie ist, ihre Stimme zu erheben, ihren Einfluß geltend zu machen und einzutreten für die Interessen der deutschen Nation, zum Schutz der Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG und Hilfe zu leisten auch jedem Einzelnen von ihnen, der sich an eine Dienststelle der Bundesrepublik Deutschland wendet mit der Bitte um wirksame Unterstützung in der Verteidigung seiner Rechte, 29 Vgl. etwa GeThaTd Riege, Völkerrechtliche Beziehungen und Staatsbürgerschaft, Deutsche Außenpolitik 1974, S. 382 ff. 30

S. 31 f.

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insbesondere seiner Grundrechte. Hier gibt es für die Bundesrepublik Deutschland auch künftig keinen rechtlichen Unterschied zwischen den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und ,den anderen Deutschen'." Gemeint ist wohl im wesentlichen - aber nicht nur - der Schutz von Deutschen gegenüber dritten Staaten. Das Gericht betont hier wie auch im oben zuvor gebrachten Zitat, wo von "Verzichten" die Rede ist - die individuelle Willensrichtung. Während es nach allgemeinem Völkerrecht zweifelhaft ist, ob ein Einzelner wirksam auf den diplomatischen Schutz seines Heimatstaates verzichten kann, wird hier vom Bundesverfassungsgericht m. E. zu Recht der besonderen deutschen Situation Rechnung getragen. Bürgern der DDR, die den Schutz der Bundesrepublik nicht in Anspruch nehmen wollen, soll dieser Schutz nicht aufgedrängt werden. Bei ihnen ist wohl auch das "genuine link" zur Bundesrepublik nicht vorhanden, das seit der Nottebohm-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs von einer gewichtigen Strömung im Völkerrecht zur Schutz ausübung gefordert wird. Es geht heute wohl letztlich nur noch um die Frage, ob die Bundesrepublik sich für diejenigen Bürger der DDR, die dies ausdrücklich wünschen, in Drittstaaten einsetzen kann und muß. Das Bundesverfassungsgericht bejaht eine verfassungsrechtliche Pflicht hierzu 31 • Ob dem eine völkerrechtliche Befugnis zur Seite steht, ist nicht leicht zu beantworten. Immerhin läßt sich mit guten Gründen die Ansicht vertreten, daß die Bundesrepublik völkerrechtlich zur Ausübung des diplomatischen Schutzes berechtigt ist, falls die DDR-Bewohner sie darum ersuchen. Schon lange vor Abschluß des Grundvertrages haben bekanntlich u. a. die Vereinigten Staaten es abgelehnt, die Bundesrepublik generell als völkerrechtlich legitimierten Vertreter von Interessen anzuerkennen, die ihren Sitz in der DDR haben. Damit dürfte jedoch nicht ausgeschlossen sein, daß die Bundesrepublik sich international derjenigen Deutschen annimmt, die um diesen Schutz nachsuchen; und nur hierzu dürfte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts die Bundesrepublik verpflichtet sein.

VII. Alles in allem hinterläßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts unter völkerrechtlichen Aspekten einen zwiespältigen Eindruck. Einzelne Aussagen geben die völkerrechtliche Lage kaum zutreffend wieder, andere sind zumindest problematisch. Die introvertierte verfassungsrechtliche Betrachtung hat das höchste deutsche Gericht zu Feststellungen geführt, die in der internationalen Gemeinschaft auf wenig Zustimmung stoßen werden. Unter anderem ist mit wenig Verständnis 31

Vgl. auch die Erwähnung einer "Schutzpflicht des Heimatstaates" auf

S.30.

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zu rechnen, wenn trotz des Grundvertrages und der einverständlichen Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen32 das Vorliegen einer völkerrechtlichen Anerkennung in Abrede gestellt wird. Verfassungsrechtlich wirft das Urteil die schwierige Frage auf, ob nicht die Interpretation des Grundgesetzes sich innerhalb gewisser Grenzen wandeln kann oder muß, wenn die internationale Ordnung und die völkerrechtlichen Gegebenheiten sich ändern. Konkret: Wenn die internationale Entwicklung aus der DDR ein Völkerrechtssubjekt hat werden lassen, muß wohl die Interpretation des Grundgesetzes dem in gewissen Grenzen Rechnung tragen, und es sollte nicht dahin ausgelegt werden, daß es die völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesrepublik in der oben umschriebenen Begrenzung ausschließt. Mir scheint, daß die Aussagen des Grundgesetzes zur Wiedervereinigung und zur gesamtdeutschen Frage nicht gegenstandslos geworden sind, wohl aber einer veränderten Interpretation bedürften, die die internationale Entwicklung in ihre überlegungen einbezieht.

32 Dazu Georg Ress, Einige völkerrechtliche und staatsrechtliche Konsequenzen der Mitgliedschaft von BRD und DDR in den Vereinten NationeD und ihren Sonderorganisationen, Det" Staat 11 (1972), S. 27 ff., 34 ff.

Die Bindungswirkung von Akten der auswärtigen Gewalt insbesondere von rechtsfeststellenden Akten Von Jochen Abr. Frowein

I. Die Besonderheiten der auswärtigen Gewalt bezüglich der Bindung anderer Staatsorgane an ihre Akte Eberhard Menzel, dem diese Zeilen gewidmet sind, hat die auswärtige Gewalt als Fremdkörper in dem innerstaatlich ausgerichteten Dreigewalten-System bezeichnet, die geradezu eine mystische Sonderstellung einnehme 1• Es mag als eine Bestätigung dieser Rolle erscheinen, wenn hier untersucht werden soll, ob den Akten, die der auswärtigen Gewalt zuzuordnen sind, eine besondere Bindungswirkung zukommen könnte. Wenn von Akten der auswärtigen Gewalt die Rede ist, so schließt das nach der allgemeinen Begriffsbestimmung sowohl Gesetzgebung als Exekutivtätigkeit ein2 • Das unterscheidende Kriterium ist die Zuordnung der Staatsakte zum internationalen Verkehr der Staaten, wobei sowohl die nach außen gerichteten Akte als auch die ihnen vorhergehende innerstaatliche Willensbildung zur auswärtigen Gewalt gerechnet werden 3 • Sowohl der Vertragsabschluß durch Austausch der Ratifikationsurkunden als auch die vorherige Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften sind insofern Akte der auswärtigen Gewalt. Menzel hat sehr zutreffend das Ringen zwischen einer exekutivfreundlichen und einer legislativfreundlichen Auffassung bei der Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes über die Zuständigkeit für die auswärtige Gewalt diagnostiziert4 • Für den hier zu erörternden Themenkreis ist nicht das Spannungsverhältnis zwischen Exekutive und Legislative, das im Rahmen der auswärtigen Gewalt über eine lange Tradition verfügt5 , von Bedeutung. Ebensowenig soll das andere bekannte Spannungsverhältnis von Bund 1 E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12 (1954), S. 179, 186. 2 Maunz bei Maunz / Dürig / Herzog, Art. 32, Rdnr. 1. 3 Ebd., Rdnr. 3 und 4. 4 Menzel (Anm. 1), S. 187. 5 Vgl. für die dramatische Entwicklung zu der entsprechenden Frage hinsichtlich der Zuständigkeiten zum Einsatz von Truppen in den Vereinigten Staaten International Legal Materials 12 (1973), S. 1521 ff.

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und Einzelstaaten in einer bundesstaatlichen Organisation erneut untersucht werden6 • Vielmehr soll den Besonderheiten nachgespürt werden, die sich daraus ergeben, daß Akte der auswärtigen Gewalt von zwei Rechtsordnungen bestimmt werden, der des Völkerrechts und der des Verfassungsrechts. Das Völkerrecht regelt Voraussetzungen und Folgen der völkerrechtlichen Wirkung dieser Akte, etwa eines Vertragsschlusses oder einer Kündigung. Das Verfassungsrecht bestimmt Zuständigkeit und Wirkung der Akte für den inneren Bereich des Staates. Beide Rechtsordnungen können aufeinander verweisen und die Wirksamkeit in der einen Ordnung von der in der anderen abhängig machen 7 • Da die Verfassungsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland der auswärtigen Gewalt rechtliche Schranken setzt, ist es möglich, daß die völkerrechtliche und die verfassungsrechtliche Lage auseinanderfallen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Rücksichtnahme auf eine schon anhängige verfassungsrechtliche Prüfung im Rahmen des Verfahrens der völkerrechtlichen Vertragsratifikation gefordert8 • Damit kann die angedeutete Gefahr aber nur teilweise gebannt werden, weil die Verfassungsbeschwerde und die konkrete Normenkontrolle auch später zu einer Prüfung des Vertragsgesetzes führen können 9 • Hier soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Akten der auswärtigen Gewalt, die völkerrechtlich eine bestimmte Wirkung haben, aufgrund dieser völkerrechtlichen Wirkung rechtliche Bedeutung auch im inners~aatlichen Recht zukommen kann, selbst wenn ihnen verfassungsrechtliche Mängel anhaften sollten. Außerdem soll erörtert werden, welches die Folgen völkerrechtlicher Mängel von Akten der auswärtigen Gewalt im innerstaatlichen Recht sind. Schließlich wird die Frage gestellt, ob Akte der auswärtigen Gewalt, mit denen die Bundesrepublik eine bestimmte Völkerrechtslage feststellt, Bindungswirkungen im innerstaatlichen Recht entfalten. Auf diese Weise können vielleicht Beziehungen zwischen Völkerrecht und Landesrecht beleuchtet werden, die bisher der Aufmerksamkeit weitgehend entgangen zu sein scheinen. Die starke Konzentration auf die Problematik von Transformation oder Vollzug völkerrechtlicher Verträge hat zur KonS Dazu D. Blumenwitz, Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge, 1972. 7 Das geschieht etwa, wenn Staaten völkerrechtlich wirksam abgeschlossenen Verträgen ipso jure auch im innerstaatlichen Bereich Vorrang vor allen Rechtsnormen einräumen. 8 BVerfGE 36, I, 14 f. Grundvertrag. g Vgl. die aufgrund einer Vorlage des Bundesfinanzhofs ergangene Nichtigerklärung bestimmter Vorschriften des Gesetzes, das dem deutsch-schweizerischen Zusatzprotokoll zum Doppelbesteuerungsabkommen die Zustimmung erteilte, BVerfGE 30, 272 ff.

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sequenz gehabt, daß daneben bestehende Wirkungen des Völkerrechts im Landesrecht eher unberücksichtigt geblieben sind10. Die Fragestellung hat eine deutliche Nähe zu der vor allem aus dem Recht der Vereinigten Staaten und Großbritanniens bekannten Auslegung des Gewaltenteilungsprinzips, wonach die Haltung der Exekutive in völkerrechtlichen Fragen innerstaatlich in weitem Umfang für andere Staatsorgane einschließlich der Gerichte bindend istl l . Es ist allgemeine Auffassung, daß das deutsche Recht einen Grundsatz dieser Art nicht kenntl 2 • Vielmehr hat der deutsche Richter Fragen des Völkerrechts grundsätzlich ebenso unabhängig wie andere Rechtsfragen zu entscheiden. Damit ist aber die Möglichkeit einer Tatbestandswirkung von Akten der auswärtigen Gewalt aufgrund ihrer völkerrechtlichen Bedeutung keineswegs ausgeschlossen. Um die komplizierten Beziehungen zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht deutlich zu machen, die bei unserem Thema eine Rolle spielen, soll mit der Verfassungswidrigkeit von Akten der auswärtigen Gewalt begonnen werden, die als Extremfall besonders anschaulich ist.

11. Die innerstaatliche Wirkung verfassungswidriger Akte der auswärtigen Gewalt Wenn das Bundesverfassungsgericht nach dem Inkrafttreten eines völkerrechtlichen Vertrages das nach Art. 59 Abs. 2 GG ergangene Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag für verfassungswidrig und nichtig erklärtl3 , so entsteht ein Konflikt zwischen der völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik und der Verfassungsrechtslage 14 • Wegen der umfassenden Bindungswirkung von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 BVerfGG ist eine Beachtung der für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen im innerstaatlichen Bereich nicht mehr möglich. Es entsteht die verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Vertragsbruch, die nur durch eine Verfassungsänderung ab10 Vgl. aber W. M. BoZewski, Zur Bindung deutscher Gerichte an Äußerungen und Maßnahmen ihrer Regierung auf völkerrechtlicher Ebene, Diss. Marburg 1971. 11 Nachweise etwa bei I. Brownlie, Principles of Public International Law, 2. Aufl., 1973, S. 44 ff. Vgl. auch W. Wengler, Völkerrecht, Bd. 1, 1964, S. 814ff. 12 Zu der Problematik: H. StolZ, Völkerrechtliche Vorfragen bei der Anwendung ausländischen Rechts, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 4, 1962, S. 131 ff.; H. MosZer, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe 32/33, 1957. 13 Einziges Beispiel bisher BVerfGE 30,272 ff. 14 BVerfGE 35, 257, 261.

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gewendet werden könnte 15 • Die anerkannte Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes kann nichts daran ändern, daß in diesen Fällen das Verfassungsrecht sich intern gegenüber dem Völkerrecht durchsetzt. Das ist die Folge der klaren Begrenzung der auswärtigen Gewalt durch die rechtsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes16 • Wenn Gerichte oder Behörden nach einem derartigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts Vorschriften des deutschen Rechts anzuwenden haben, die das Bestehen eines Vertrages voraussetzen, so haben sie zu beachten, daß der Vertrag innerstaatlich nicht durchgeführt werden kann, obwohl er völkerrechtlich in Kraft bleibt. Wenn etwa die Finanzbehörden gemäß § 34 c Abs. 2 EStG mit Einkünften aus einem ausländischen Staat befaßt sind, mit dem zwar ein Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen worden ist, das aber vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde, so können sie dieses Abkommen nicht berücksichtigen. Zwar verweist die Bestimmung ebenso wie eine Vielzahl anderer Vorschriften des deutschen Rechts17 ihrem Wortlaut nach nur auf die völkerrechtliche Lage, das Bestehen des Abkommens, an der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts ändern kann. Dennoch erscheint es eindeutig, daß in diesen Fällen vom Gesetzgeber nur eine völkerrechtliche Bindung gemeint ist, die auch innerstaatlich durchgeführt werden kann. Ist das wegen Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes nicht der Fall, so kann für die Anwendung dieser Bestimmungen des deutschen Rechts nicht von dem "Bestehen" eines Abkommens ausgegangen werden. Schwieriger als bei dieser durch Auslegung zu ermittelnden Folge einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 für nichtig erklärt, stellt sich die Rechtslage dann dar, wenn aufgrund des völkerrechtlichen Vertrages bestimmte Vollzugsakte gesetzt worden sind, etwa Bestrafungen aufgrund von Truppenstationierungsverträgen. Soweit sie von deutschen Staatsorganen ergangen sind, kann § 79 BVerfGG für die Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden. Aber auch wenn ausländische Organe nach dem Vertrag berechtigt sind, bestimmte Hoheitsakte mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland vorzunehmen, entspricht es dem Sinn des § 79, diese in den Grenzen dieser Vorschrift aufrecht zu erhalten, soweit sie unanfechtbar geworden sind, und damit ihre Wirkung auch im deutschen Recht weiter anzuerkennen. Für die Zukunft ist das dagegen aus den oben dargelegten Gründen nicht möglich. BVerfGE 35, 257, 261. BVerfGE 36, 1, 14. 17 Vgl. etwa § 49 Abs. 1 Nr. 3 Ausländergesetz, § 12 Abs. 1 S. 2 Gewerbeordnung. 15

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Besonders schwierig würde die verfassungsrechtliche Lage dann, wenn der Beitritt zu einer internationalen Organisation völkerrechtlich wirksam vollzogen worden wäre und das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz zu dem Beitrittsvertrag später für nichtig erklären sollte18• Hier müßte - dem Sinn des § 79 entsprechend - auch im deutschen Recht beachtet werden, daß die Bundesrepublik Mitglied der Organisation geworden ist, Beiträge an sie abführen muß, ihren Organen bestimmte Vorrechte gewähren muß und ähnliches mehr. Eine ordnungsgemäße Abwicklung der Mitgliedschaft müßte ermöglicht werden. Das Bundesverfassungsgericht könnte dabei - seiner Praxis in anderen Fällen entsprechend - von einer Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes absehen und lediglich feststellen, daß die Bundesrepublik verpflichtet ist, entweder ihre Verfassung zu ändern oder die Mitgliedschaft zu beenden10 • Man wird den ausdrücklichen Hinweis auf die Möglichkeit zur Verfassungsänderung im Verfahren über die einstweilige Anordnung zum Grundvertrag wohl dahin verstehen können, daß das Gericht den Organen der Bundesrepublik bei besonders bedeutsamen Verträgen diese Möglichkeit belassen würde20 • Eine Korrektur durch Verfassungsänderung nach Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes erschiene demgegenüber jedenfalls problematisch21 • Ähnliche Fragen wie bei der späteren Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes zum Gründungsvertrag einer internationalen Organisation können entstehen, wenn durch das Inkrafttreten des Vertrages die völkerrechtliche Lage in einer Weise beeinflußt worden ist, die nicht mehr korrigiert werden kann. Wenn in dem Vertrag ein wirksamer Verzicht ausgesprochen, eine Grenze anerkannt oder ein früherer Vertrag zwischen beiden Parteien für nichtig erklärt worden ist, so bleibt die geschaffene völkerrechtliche Lage maßgebend, wenn der Vertrag völkerrechtlich gültig zustandegekommen ist 22 • Es ist zu fragen, 18 Die Frage ist im Zusammenhang mit der Verfassungsmäßigkeit des Beitrittes zu den Europäischen Gemeinschaften gelegentlich aufgeworfen worden, vgl. G. Gorny, Verbindlichkeit der Bundesgrundrechte bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch deutsche Staatsorgane, 1969, S. 155 f.; dazu J. A. Frowein, Der Staat 12 (1973), S. 559, 561. 19 Die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit wird jetzt auch in § 31 Abs. 2 BVerfGG als möglich anerkannt. 20 BVerfGE 35, 257, 261. 21 Obwohl § 31 BVerfGG den verfassungsändernden Gesetzgeber wohl nicht binden würde, erschiene eine rückwirkende Verfassungsänderung mindestens problematisch. 22 Der in den Verfassungsbeschwerden gegen die Ostverträge teilweise gestellte Antrag, die Übergabe der Ratifikationsurkunde durch den Bundespräsidenten für nichtig zu erklären, ist schon deswegen unzulässig, weil dieser Akt allein völkerrechtliche Wirkungen hat, die vom Bundesverfassungsgericht nicht für nichtig erklärt werden können.

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ob die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland dennoch gehindert wären, von der geänderten Völkerrechtslage auszugehen. Während bei einem Vertrag, der laufend zu erfüllende Verpflichtungen festlegt, eine Anpassung an die Verfassungsrechtslage durch einen Abänderungsvertrag erfolgen könnte, ist das hier nicht möglich. Die eingetretene völkerrechtliche Wirkung könnte auch zwischen den Parteien dann nicht beseitigt werden, wenn sie sich der Parteidisposition entzieht. Die Anerkennung eines Staates oder einer Grenze kann nicht durch Vertrag aufgehoben werden 23 • In derartigen Fällen können trotz Verfassungswidrigkeit des Vertragsgesetzes völkerrechtliche Wirkungen des Vertrages für die deutschen Staatsorgane bedeutsam sein. Das gilt vor allem, wenn bei der Anwendung allgemeiner Regeln des Völkerrechts etwa das Territorium des anderen Staates festgestellt werden muß. Hier enthält Art. 25 GG die Anweisung, für die Anwendung der Normen über den Schutz des staatlichen Territoriums von der völkerrechtlich wirksam anerkannten Grenze auszugehen. Bisher wurde nur die Lage erörtert, die bei Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes zu völkerrechtlichen Verträgen eintritt. Ebenso können aber verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einseitigen Akten der auswärtigen Gewalt bestehen24 • Hier gibt es nach innerstaatlichem Recht kein Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts. Jedes Staatsorgan muß daher in eigener Zuständigkeit prüfen, ob dem Akt der auswärtigen Gewalt Bedeutung zukommt. Mehrfach ist die Frage aufgeworfen worden, ob einseitige völkerrechtserhebliche Akte auch zur Zuständigkeit der Bundesregierung gehören oder nur gemäß Art. 59 Abs. 1 GG vom Bundespräsidenten und aufgrund seiner Delegation vorgenommen werden können. So gibt es die Auffassung, daß von der Bundesregierung abgegebene Anerkennungserklärungen bedenklich seien25 • Auch für die Proklamation vom 20.1.1964 über den Festlandsockel, die die Bundesregierung ohne erkennbare Delegation durch den Bundespräsidenten erlassen hat, ist eine Unzuständigkeit der Bundesregierung mindestens für möglich gehalten worden26 • Menzel hat den Verstoß als nicht so stark bezeichnet, daß man von seiner Nichtigkeit sprechen könne, mindestens aber eine Heilung durch 23 H. D. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S.24. 24 Vgl. BVerfGE 36, I, 18 für die Verfassungswidrigkeit des Verzichts auf bestimmte Rechtspositionen, der auch einseitig erfolgen könnte. n v. Mangoldt! Klein, Art. 59 IrI 3 e, S. 1132. 28 E. Menzel, Der Festlandsockel der Bundesrepublik Deutschland und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 20. Februar 1969, Jahrbuch für internationales Recht 14 (1969), S. 13, 33 ff., 36; J. A. Frowein, Verfassungsrechtliche Probleme um den deutschen Festlandsockel, ZaöRV 25 (1965), S. I, 2f.

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das spätere Gesetz über den Festlandsockel angenommen27 • Der Verfasser dieses Beitrages hat es für entscheidend gehalten, daß eine völkerrechtliche Unwirksamkeit der Proklamation ausscheide 28 • Nimmt man einmal an, daß die Bundesregierung für die Proklamation unzuständig gewesen ist, so bedürfen die Folgen in unserem Zusammenhang der Erörterung. Hier muß zunächst bestimmt werden, welchem Recht die Regelung über die Folgen zu entnehmen ist, dem Völkerrecht oder dem Verfassungsrecht. Rechtliche Wirkungen sollte die Proklamation im zwischenstaatlichen Verhältnis entfalten. Sie richtete sich an andere Staaten mit dem Ziel, die Inanspruchnahme des Festlandsockels durch die Bundesrepublik bekannt zu machen und die Staaten zu einer Beachtung der daraus folgenden Rechte zu veranlassen. Sie war daher ein Akt der auswärtigen Gewalt im zwischenstaatlichen Verkehr2D • Daraus folgt, daß für ihre Wirksamkeit nach außen allein das Völkerrecht maßgebend ist. Ebenso wie beim Vertragsschluß wird eine völkerrechtliche Bedeutung verfassungsrechtlicher Mängel des einseitigen Aktes nur in den seltenen Fällen völliger Evidenz in Frage kommen30 • Daraus folgt, daß eine Veränderung der völkerrechtlichen Lage durch den von einem innerstaatlich unzuständigen Organ erlassenen Akt eintreten kann. In diesen Fällen haben Staatsorgane und Gerichte die völkerrechtliche Tatbestandswirkung dieser Akte zu beachten, wenn sie vom innerstaatlichen Recht auf das Völkerrecht verwiesen werden. Im Gegensatz zu den bisher erörterten Beziehungen zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht bei einseitigen Akten der auswärtigen Gewalt hat die Wirkung der Kündigung eines Vertrages mehr Aufmerksamkeit gefunden31 • Es besteht heute Einigkeit darüber, daß die Kündigung auch im innerstaatlichen Recht zu beachten ist, wobei lediglich die Konstruktion Schwierigkeiten aufwirft, wenn eine extreme Auffassung der Transformationslehre vorherrscht32 • Für uns ist von Bedeutung, daß die Beachtlichkeit der Kündigung wiederum von ihrer Menzet (Anm. 26), S. 36 f. Ebd. (Anm. 26), S. 2 f. 29 Frowein (Anm. 26), S. 2; Menzel (Anm. 26), S. 36, Anm. 39 meint, die Erklärung sei nicht nur an fremde Staaten gerichtet, betrachtet sie aber auch als Akt der auswärtigen Gewalt (S. 34). 30 Vgl. Art. 46 der Wiener Vertragsrechtskonvention. 31 H. Moster, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe 32/33, 1957, S. 22 ff.; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 43, 1965, S. 95 ff. 32 Boehmer, a.a.O.; dazu vor allem K. J. Parts eh, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 6, 1964, S. 134 ff. 27

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völkerrechtlichen Wirksamkeit abhängen muß. Selbst wenn man mit einer gelegentlich erörterten Meinung die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften gemäß Art. 59 Abs. 2 GG für die Kündigung verfassungsrechtlich als notwendig ansähe 33 , müßte der innerstaatliche Richter bei einer völkerrechtlich wirksamen Kündigung auch ohne diese Zustimmung deren Folgen anerkennen. Die Tatbestandswirkung der Kündigung erstreckt sich darauf, daß der Vertrag völkerrechtlich außer Kraft tritt. Zum Abschluß dieses Abschnittes sei noch die Frage gestellt, inwieweit in den genannten Fällen etwaige völkerrechtliche Mängel des Aktes der auswärtigen Gewalt innerstaatlich beachtlich wären. Unbedenklich ist das immer dann der Fall, wenn der Mangel auch völkerrechtlich zur Nichtigkeit führt, der Akt also völkerrechtlich keinerlei Wirkungen entfaltet34 • Gibt dagegen der Mangel nur ein Recht, sich auf ihn in einem Anfechtungsverfahren zu berufen, so kommt es bei der Untersuchung einer möglichen Tatbestandswirkung darauf an, ob der dazu berechtigte Staat sich auf den Mangel berufen hat. Geht man davon aus, daß ein Zuständigkeitsmangel bei der Festlandsockelproklamation dann auch völkerrechtlich beachtlich gewesen wäre, wenn er als offenkundig bezeichnet werden könnte 35 , so müßte bei Vorliegen dieser Voraussetzung untersucht werden, welches die Folgen wären. Ebenso wie im Vertragsrecht hat bei einer einseitigen Erklärung nur der Staat ein Recht zur Berufung auf den Mangel, dessen Zuständigkeitsregeln verletzt worden sind36 • Daraus folgt, daß die Bundesrepublik Deutschland sich auf den Zuständigkeitsmangel hätte berufen müssen, um völkerrechtlich die Unwirksamkeit des Aktes herbeizuführen. Da sie das nicht getan hat, konnte an der völkerrechtlichen Beachtlichkeit selbst bei Annahme eines offenkundigen Zuständigkeitsmangels kein Zweifel sein37 • Daraus ergab sich nach unseren überlegungen auch die innerstaatliche Tatbestandswirkung des Aktes der auswärtigen Gewalt. Es zeigt sich damit, daß verfassungswidrige Akte der auswärtigen Gewalt in vielfacher Weise Wirkungen im innerstaatlichen Bereich haben können. Vor allem erscheint die Tatbestandswirkung solcher Akte aufgrund ihrer völkerrechlichen Bedeutung wesentlich. Im fol33 Siehe H.- W. Bayer, Die Aufhebung völkerrechtlicher Verträge im deutschen parlamentarischen Regierungssystem, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 48, 1969, vor allem S. 187 ff. 34 Ebenso Mosler (Anm. 31), S. 38 f., bei völkerrechtlich "unwirksamen" Akten. 35 Vgl. oben S. 130. 38 Das folgt schon aus der Formulierung von Art. 46 der Vertragsrechtskonvention. Das Verfahren der Berufung ist im Art. 65 ff. geregelt. 37 So schon Frowein (Arun. 26), S. 2 f.; ähnlich Menzel (Anm. 26), S. 36 f.

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genden wird zu fragen sein, inwieweit Akten der auswärtigen Gewalt, die eine Rechtslage feststellen, eine derartige Wirkung zukommt.

111. Die Wirkung von feststellenden Akten der auswärtigen Gewalt Die deutsche Rechtsordnung kennt keine besondere Zuständigkeit der Exekutive, völkerrechtliche Fragen mit bindender Wirkung für die Gerichte zu beantworten38 • Wäre das der Fall, so könnte man von einer umfassenden Feststellungswirkung dieser Erklärungen der Exekutive gegenüber Gerichten und anderen Behörden sprechen. Da das ausscheidet, ist hier der Frage nachzugehen, ob sich in bestimmtem Umfang aus der Rechtsnatur des Völkerrechts und der Ermächtigung der Organe der auswärtigen Gewalt, im Völkerrechtsverkehr tätig zu werden, eine derartige Wirkung ergeben kann. Die Völkerrechtsordnung ist in hohem Maße unvollkommen, weil es ihr an zentralen Durchsetzungsinstanzen und Möglichkeiten jederzeitiger gerichtlicher Klärung fehlt. Um so bedeutender sind Feststellung, Anwendung und Durchsetzung des Völkerrechts im einseitigen und gemeinsamen Verhalten der Staaten. Insbesondere die stillschweigende oder ausdrückliche Einigung ist das in der Praxis wohl wichtigste Mittel der Rechtsfeststellung39 • Ausdrücklich erfolgt die Einigung im Vertrag oder in einer gemeinsamen Feststellungserklärung, die meist vertraglichen Charakter haben wird. Stillschweigend kann sie sich aus jedem Verhalten ergeben, das die Staaten völkerrechtlich hindert, später einseitig von einer anderen Rechtslage auszugehen, insbesondere aufgrund des estoppel-Prinzips40. Rechtsfeststellungen dieser Art sind von besonderer Bedeutung zur Klärung umstrittener Territorialverhältnisse. Der Verzicht auf bisher geltendgemachte Ansprüche und die damit einhergehende Anerkennung der von der anderen Partei vertretenen Rechtsauffassung 41 , die Verpflichtung, keine Einwände mehr zu erheben42 , aber auch die ausdrückliche Feststellung, daß eine bisher umstrittene Grenze die StaatsVgl. oben S. 127. Eingehend dazu WengleT, Völkerrecht Bd. I, 1964, S. 686 ff. 40 WengleT, S. 681; zu diesem Prinzip allgemein J. P. MülleT, Vertrauensschutz im Völkerrecht, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 56,1971. 41 So der Vertrag der USA mit Kolumbien vom 8.9. 1972, mit dem die USA auf alle Ansprüche bezüglich dreier Gruppen von Felsenriffen verzichten; Department of State Bulletin 57 (1972), S. 387; AJIL 67 (1973), S. 118 f. 42 So die Notenwechsel der Bundesrepublik und Großbritanniens mit Island von 1961 bezüglich der isländischen Fischereizone; UNTS 409, S. 47, Bundesanzeiger Nr. 172/61 (Bundesrepublik); UNTS 397, S. 276 (Großbritannien). 38

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grenze ist 43 , gehören zu den Möglichkeiten, die die Völkerrechtspraxis benutzt. Auf der Grundlage des Urteils des IGH haben die Bundesrepublik, Dänemark und die Niederlande in der Nordsee ihren Festlandsockel gegeneinander abgegrenzt44 • Sie haben damit nach der Auffassung des Gerichtshofs nicht etwa den Festlandsockel konstitutiv untereinander verteilt, sondern eine Einigung darüber getroffen, welcher Anteil jedem Staat nach geltendem Völkerrecht zusteht45 • Auch dieser Vertrag ist daher vor allem Mittel der Rechtsfeststellung. Die Wirkung derartiger Feststellungen ist zu erörtern. WengIer hat die Verfassungswidrigkeit des Warschauer Vertrages angenommen, weil ein unzulässiger Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit bei der Rechtsfindung darin liege, daß durch das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag eine bestimmte Auffassung über die Zugehörigkeit der Oder-Neiße-Gebiete dem Richter bindend vorgeschrieben werden solle46 • Das sei nach deutschem Verfassungsrecht unmöglich. Die Gerichte seien für die Entscheidung dieser Frage auf die Anwendung von Völkerrecht verwiesen und es gehöre allein zu ihrer Aufgabe, im Einzelfall festzustellen, welches die völkerrechtliche Lage sei47 • WengIer beschränkt seine These konsequenterweise auf "Feststellungsakte" in den Fällen, in denen die Bundesrepublik nicht verfügungsbefugt über das fragliche Gebiet ist. Wenn sie völkerrechtlich zuständig ist, den Territorialstatus des Gebiets zu verändern, so will auch er eine Wirkung der auf dieser Grundlage völkerrechtlich wirksam getroffenen Akte für den Richter nicht in Abrede stellen48 • Die außerordentlich bedeutsame These, die WengIer entwickelt hat, bedarf einer genaueren Diskussion unter Einbeziehung von Art. 25 GG sowie der Bestimmungen über die auswärtige Gewalt in Art. 32 und 59 GG. Wenn sie richtig ist, können völkerrechtlich zulässige und dem Charakter des Völkerrechts als einer unvollkommenen Koordinationsrechtsordnung sogar ganz besonders entsprechende und für seinen Vollzug notwendige Akte der Feststellung zwar von dem für die auswärtige Gewalt zuständigen Organ der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen werden. Sie wirken auch im Außenverhältnis gegenüber 48 So der Warschauer Vertrag vom 7.12.1970 zwischen der Bundesrepublik und Polen (BGBl. 1972 II S. 362). 44 Verträge BGBl. 1972 II, S. 881 ff.; Urteil des IGH, ICJ Reports 1969, S. 1- 54. 45 ICJ Reports 1969, S. 21 f. 48 W. Wengler, Die Vereinbarkeit der Zustimmungsgesetze zu den Ostverträgen mit dem Grundgesetz, ein Gutachten zur Vorlage beim Bundesverfassungsgericht, 1973, S. 34 H., 44. 47 Ebd., S. 38. 48 Ebd., S. 38 f.

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anderen Völkerrechtssubjekten. Sie spielen aber für deutsche Gerichte keine Rolle, die allein aufgrund eigener Feststellungen entscheiden, was dem Völkerrecht im Einzelfall entspricht, ob also die Feststellung richtig oder falsch war. Wenn Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts auch aufgrund des deutschen Verfassungsrechts für die Staatsorgane der Bundesrepublik für maßgebend erklärt, so verweist diese Bestimmung damit auch auf die Struktur des Völkerrechts49 • Das bedeutet, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt hat, daß die allgemeinen Regeln durch Verträge im Einzelfall ersetzt werden können, soweit das völkerrechtlich zulässig ist. Die Bundesrepublik kann Partner solcher Verträge werden und die Bindung der deutschen Gerichte an die Zustimmungsgesetze zu ihnen wird nicht durch Art. 25 GG aufgehoben, da die allgemeine Regel insoweit zulässigerweise durch den Vertrag verdrängt worden ist50 • Die Entscheidung betrifft eine angeblich bestehende allgemeine Regel des Völkerrechts, Ausländer nicht zur Deckung von Kriegsfolgelasten heranzuziehen, die durch einen deutsch-schweizerischen Vertrag jedenfalls im Verhältnis der Parteien zueinander ausgeschlossen werden durfte, wenn sie überhaupt anerkannt sein sollte, was dahingestellt bleiben konnte 51 • Das Bundesverfassungsgericht betont ausdrücklich, daß die völkerrechtlich zulässige Abmachung, die den allgemeinen Völkerrechtsregeln nicht voll entspricht, durch Gesetz die Kraft innerstaatlichen deutschen Rechts ererlange52 • Die Gesetzeswirkung ist aber nicht entscheidend. Unmittelbar vorher legt das Gericht unter Berufung auf Mosler dar, daß Art. 25 GG den allgemeinen Regeln des Völkerrechts die deutsche Rechtsordnung nur im Bestand ihrer jeweiligen völkerrechtlichen Geltung öffne. Dieser Bestand bemesse sich auch danach, inwieweit die allgemeinen Regeln im Verhältnis zu einzelnen Staaten durch vertragliche Regelungen verdrängt worden seien. Nimmt man das ernst, so kann es nur heißen, daß schon die völkerrechtlich verbindliche Ersetzung der allgemeinen Regel durch eine Sondervereinbarung bilateraler Art genügt, ohne daß die Frage, ob es hierzu einer gesetzlichen Zustimmung gemäß Art. 59 Abs. 2 GG bedarf, das Ergebnis beeinflussen kann. Es wäre in der Tat unverständlich, wenn die Derogierung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts durch ein Regierungsabkommen, das völkerrechtlich verbindlich ist, ohne eines Zustimmungsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zu bedürfen, innerstaatlich nicht beachtet 49 50

51 52

BVerfGE 18, 441, 448 ii. Ebd.; vgl. Wengler, Völkerrecht Bd. 1, 1964, S. 483 Anm. 2. Ebd., S. 449. Ebd., S. 448.

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werden sollte. Wenn etwa ein deutsches Gericht zu prüfen hätte, ob die Enteignung in einem ausländischen Staat völkerrechtsgemäß ist oder nicht, so könnte es bei dieser Feststellung eine von der Bundesrepublik mit diesem Staat völkerrechtlich verbindlich getroffene Vereinbarung über die Voraussetzungen der Enteignung, die enger ist als die Regeln des allgemeinen Völkerrechts, auch dann beachten, wenn diese als Regierungsabkommen ergangen wäre, was dann möglich ist, wenn sie insoweit nur den anderen Staat verpflichtet. Das zeigt, daß die Akte der auswärtigen Gewalt jedenfalls dann für die Gerichte und andere Staatsorgane bindend sind, wenn sie völkerrechtlich zulässigerweise besondere Vereinbarungen an die Stelle der allgemeinen Regeln des Völkerrechts setzen. Damit ist freilich das zur Diskussion stehende Problem noch nicht gelöst. Hier geht es nicht um die Ersetzung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts durch eine Vereinbarung, sondern darum, daß eine Feststellung über die Völkerrechtslage getroffen wird. Wie bereits ausgeführt wurde, entspricht diese Art der Feststellung der Rechtslage durch ausdrückliche oder stillschweigende Einigung der unvollkommenen Struktur des Völkerrechts als einer Koordinationsrechtsordnung 53 • Wenn das Grundgesetz die Organe der auswärtigen Gewalt ermächtigt, in den völkerrechtlichen Beziehungen für die Bundesrepublik zu handeln, so muß darin auch die Ermächtigung gesehen werden, derartige im Völkerrechtsverkehr übliche und notwendige Feststellungen zu treffen. Sie binden die Bundesrepublik völkerrechtlich. Wenn es den Gerichten der Bundesrepublik möglich wäre, dennoch von einer anderen Rechtslage auszugehen, so könnten damit erhebliche Schwierigkeiten für die auswärtigen Beziehungen aufgeworfen werden. Es wäre denkbar, daß ein Gericht unter Berufung darauf, daß die von den Organen der auswärtigen Gewalt getroffenen Feststellungen unrichtig seien, etwa nur eine geringere Breite des Küstenmeeres oder der Fischereizone eines anderen Staates annähme, als die Bundesrepublik anerkannt hätte. Damit wäre die Funktion der Klärung streitiger Rechtsfragen, die ausdrückliche oder stillschweigende Feststellungserklärungen im Völkerrecht haben, nicht zu erreichen. Es würde über die Inkorporation der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in Art. 25 im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Gerichte zu deren Feststellung ein Ergebnis erreicht, das dem Charakter des Völkerrechts als einer Koordinationsrechtsordnung mit dezentralen Entscheidungsmechanismen absolut unangemessen wäre. überdies würde die Kompetenz zur effektiven Pflege der auswärtigen Beziehungen stark beeinträchtigt. Eine auf der Stellung der Staaten als Rechtsfeststellungsorganen beruhende Auslegung des Art. 25 GG kann nur dazu führen, bei einem 53

Vgl. oben S. 133.

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Verweis des nationalen Rechts auf die völkerrechtliche Lage die völkerrechtlich bindende Feststellung der zuständigen Organe der Bundesrepublik ebenso für maßgebend zu halten, wie sie ein internationales Gericht im Verhältnis der Bundesrepublik zu diesem Staat zu beachten hätte. Die deutschen Gerichte wären sonst gegenüber völkerrechtlich wirksamen Feststellungsakten der Bundesregierung unabhängiger als internationale Gerichte. Daß die deutsche Rechtsprechung, freilich ohne nähere Erörterung der Problematik, von der Maßgeblichkeit derartiger Rechtsfeststellungen ausgeht, hat sich deutlich in Zusammenhang mit den Wiederanwendungserklärungen für Vorkriegsverträge gezeigt54 • Die Einigung über die Wiederanwendung des suspendierten Vertrages ist hier beachtet worden, obwohl eine parlamentarische Zustimmung nicht erfolgte55 • Bleckmann hat zutreffend den Grund hierfür in einer Bindung des Richters an rechtsfeststellende Vereinbarungen gesehen, auch wenn sie nach ihrer Natur keiner Zustimmung in Gesetzesform bedürfen58 • Ist eine solche Zustimmung notwendig und erteilt, so ergreift die förmliche Gesetzesbindung auch die Feststellung. Insofern steht mit dem Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes zum Warschauer Vertrag für alle deutschen Behörden und Gerichte fest, daß die Oder-NeißeLinie die Staatsgrenze Polens ist und die Gebiete östlich davon polnisches Territorium sind57 • Richtigerweise macht es aber keinen Unterschied, ob es sich um eine Feststellung in Gesetzesform handelt, oder ob die Organe der auswärtigen Gewalt durch sonstige Feststellungsakte zulässigerweise eine Bindung der Bundesrepublik herbeiführen. Nach dem Notenwechsel mit Island im Jahre 1961, in dem die Bundesrepublik erklärte, sie werde nicht länger Einwände gegen die Erstrekkung der isländischen Fischereizone auf 12 Seemeilen erheben, stand nach dieser Auffassung für alle deutschen Gerichte und Behörden fest, daß sie von einer derartigen Breite der Fischereizone auszugehen haben58 • In der Literatur wird zum Teil auch anerkannt, daß völkerrechtliche Feststellungsakte die hier dargelegten Wirkungen haben können, 54 A. Bleckmann, Die Wiederanwendung deutscher Vorkriegsverträge, ZaöRV 33 (1973), S. 607 ff. 55 Ebd., S. 629 ff. 58 Ebd., S. 632 ff., 634. 57 Vgl. J. A. Frowein, Die Grenzbestimmungen der Ostverträge, in: Ostverträge - Berlin-Status - Münchener Abkommen - Beziehungen zwischen der BRD und der DDR, Veröffentlichungen des Instituts für internationales Recht an der Universität Kiel, 1971, S. 27 ff., 30 f. 58 Notenwechsel vgl. oben Anm. 42; Bolewski (Anm. 10), S. 86 ff. zitiert weitere frühere Fälle, vgl. auch S. 146 ff., 180 ff.

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wenn auch die Behandlung bisher mehr zufällig und sporadisch ist68 • Wenn sich insofern die Thesen von Wengier unter Berücksichtigung der Struktur des Völkerrechts und der verfassungsrechtlichen Ermächtigung der Organe der auswärtigen Gewalt, dieser Struktur entsprechend im internationalen Verkehr aufzutreten, als nicht haltbar erweisen, so bedürfen doch die von ihm geäußerten oder angedeuteten Bedenken noch weiterer Berücksichtigung. Es erscheint deutlich, daß er die Gefahr einer Manipulation der Gerichte sieht, wenn "die politischen Organe den Wandel ihrer jeweiligen Ansichten über eine konkrete völkerrechtliche Rechtsanwendungsfrage jeweils durch Gesetz den Gerichten oktroyieren, soweit ihnen die Befugnis fehlt, auf die festzustellende Rechtsfrage gestaltend einzuwirken"60. Die Ausführungen erwecken den Eindruck, als werde es bei Bindung an Feststellungsakte möglich, gewissermaßen je nach Bedarf die Positionen zu wechseln. Gerade das macht aber die Wirkung der Feststellung im Völkerrecht unmöglich, die nicht mehr einseitig rückgängig gemacht werden kann, weil die anderen Staaten auf die ausdrückliche oder stillschweigende Feststellungserklärung vertrauen können. Auch erscheint es mit unserem Ergebnis durchaus vereinbar, wenn in Mißbrauchsfällen der Feststellung keine Wirkung beigemessen wird. Hier hätten die Organe der auswärtigen Gewalt ihr Ermessen überschritten und damit verfassungswidrig in den Bereich der dritten Gewalt eingegriffen. Obwohl die Folge der Nichtbeachtung der Feststellungswirkung dann wieder das Auseinanderfallen der völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Lage wäre, so müßte das wie beim verfassungswidrigen Vertrag hingenommen werden81 • Es erscheint aber unzulässig, von diesem möglichen Mißbrauchsfall aus die gesamte Problematik zu beurteilen. Bei Wengier dürfte auch die Sorge eine Rolle spielen, daß das Völkerrecht als objektive Rechtsordnung entwertet wird, wenn es nicht Aufgabe der Gerichte ist, die jeweilige Rechtslage so objektiv wie möglich festzustellen. Obwohl die Stärkung der Völkerrechtsordnung jede Unterstützung verdient, fragt sich doch, ob die Auffassung von Wengier sie erreichen könnte. Solange die Völkerrechtsordnung nicht in stärkerem Umfang als heute über zentrale Durchsetzungsmechanismen und eine umfassend zuständige Gerichtsbarkeit verfügt, wird es sich nicht vermeiden lassen, daß in streitigen Situationen Klärungen häufig nur "relativ", im Verhältnis bestimmter Staaten zueinander 59 Vgl. S. Weiß, Auswärtige Gewalt und Gewaltenteilung, 1971, S. 91 f., Anm. 127 - 130, S. 115, wo er von "normativer Rückwirkung" einseitiger völkerrechtlicher Akte der Regierung spricht. Siehe auch BZeckmann, oben Anm. 54; Treviranus (Anm. 23), S. 24 ff., 30 ff.; BoZewski Anm. 10). 80 Ebd. (Anm. 46), S. 40. 61 Dazu oben S. 127 f.

Die Bindungswirkung von Akten der auswärtigen Gewalt

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erfolgen. Gerade für streitige Territorialverhältnisse geht eine Phase "relativer" Klärung durch die Anerkennung seitens einiger, aber nicht aller Staaten häufig der umfassenden Anerkennung und damit Klärung voraus62 • In der Phase, in der nur einzelne Staaten die behauptete Territorialveränderung anerkennen, würde es der objektiven Geltung des Völkerrechts keineswegs nützen, wenn die Gerichte der Bundesrepublik eine derartige Frage im Gegensatz zu der von ihr im zwischenstaatlichen Verhältnis bindend eingenommenen Haltung entscheiden könnten. Hierdurch könnte im Gegenteil die völkerrechtliche Klärung eher erschwert werden. Völkerrechtlich sind es ja nicht die Entscheidungen der Gerichte der Einzelstaaten, die in derartigen Fällen zu einer Beilegung von Streitigkeiten führen. Vielmehr sind das Entscheidungen internationaler Gerichte oder, was in der Praxis viel häufiger ist, die Einigung der interessierten Staaten. Wie stark das Völkerrecht derartige Klärungen im bilateralen Verhältnis berücksichtigt, zeigte jüngst wieder der isländische Fischereistreit. Der Internationale Gerichtshof konnte sich in seiner Mehrheit nicht entschließen, die Ausdehnung der isländischen Fischereizone auf 50 sm als Verstoß gegen objektives Völkerrecht zu bezeichnen. Er stellte vielmehr fest, daß die Ausdehnung der Bundesrepublik und Großbritannien nicht entgegengehalten werden könne, ihnen gegenüber also relativ unwirksam sei, weil sie ihre Rechte aus Verträgen mißachte 63 • Von dieser Lage des Völkerrechts, die derartige relative Klärungen erfordert, muß auch Notiz genommen werden, wenn es darum geht, die interne Bedeutung völkerrechtlich und verfassungs rechtlich wirksamer Feststellungsakte der Organe der auswärtigen Gewalt nach deutschem Recht zu bestimmen. Aus den Darlegungen zur Wirkung von feststellenden Akten der auswärtigen Gewalt folgt, daß völkerrechtlich und verfassungsrechtlich wirksame Erklärungen der Organe der Bundesrepublik Deutschland gegenüber fremden Staaten von den deutschen Behörden und Gerichten zu beachten sind. Das folgt daraus, daß in diesen Fällen das Ergebnis der Anwendung allgemeiner Regeln des Völkerrechts in einem konkreten Fall völkerrechtlich bindend festgestellt worden ist. Die Anweisung der deutschen Gerichte zur Beachtung von Völkerrecht, die sich aus Art. 25 GG im Zusammenhang mit Art. 92 GG ergibt, bezieht sich in diesen Fällen auch auf die völkerrechtlich zulässige Klärung von Streitfragen durch die Feststellung.

62 J. Brownlie, Principles of Public International Law, 2. Aufl. 1973, S. 166 f., zu "Relative Title", vgl. besonders unter (3). 63 ICJ Reports 1974, S. 3, 175.

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Jochen Abr. Frowein IV. Ausblick

Die hier entwickelten besonderen Wirkungen von Akten der auswärtigen Gewalt werden Kritik hervorrufen. Es wird die Befürchtung laut werden, daß sie den Organen der auswärtigen Gewalt, vor allem der Bundesregierung, zu weitreichende Möglichkeiten zur Durchsetzung und unter Umständen auch zur Ausnutzung ihrer Position geben. Es erscheint darum wichtig, noch einmal die Grenzen zu betonen. Eine völkerrechtlich unwirksame Feststellung oder ein sonstiger Akt sind auch innerstaatlich nicht zu beachten. Verstöße gegen Verfassungsrecht können ebenfalls zur Nichtigkeit und damit zur Unbeachtlichkeit führen. Das sollte allerdings nur angenommen werden, wo die verfassungsrechtliche Lage keine andere Antwort zuläßt, insbesondere dort, wo ein Zustimmungsgesetz zu einem Vertrag mit demselben Inhalt für verfassungswidrig und nichtig erklärt werden müßte. Wo dagegen die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt im zwischenstaatlichen Verkehr völkerrechtliche Streitfragen durch Feststellungserklärungen beilegt, würde es der völkerrechtsfreundlichen Haltung des Grundgesetzes nicht entsprechen, wenn diese völkerrechtlich zulässige Form der Streitbeilegung nicht auch innerstaatlich beachtlich wäre. In den Fällen, in denen nur so Erklärungen ergehen, wird häufig die völkerrechtliche Lage derartig schwer einer objektiven umfassenden Beurteilung zugänglich sein, daß innerstaatliche Gerichte, denen es nicht möglich ist, beide Parteien des Streites anzuhören, kaum angemessene Lösungen finden können. Menzel hat in seinem Völkerrechtslehrbuch darauf hingewiesen, daß sich ein sachlicher Zwiespalt in den Auffassungen zwischen der Exekutive und den Gerichten zu völkerrechtlichen Fragen auf die Dauer nicht werde aufrecht erhalten lassen64 • Die Möglichkeit, ihn für bestimmte Fälle zu überbrücken, war das Ziel dieses Beitrages.

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Menzel, Völkerrecht, 1962, S. 100.

Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung Von Walter Rudolf 1.

Kulturelle auswärtige Beziehungen als planmäßig eingesetzte unmittelbare oder mittelbare Instrumente staatlicher Außenpolitik hat als erster Staat Frankreich seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts betrieben. Zwar bestanden schon seit dem Mittelalter kulturelle Beziehungen über die Staatsgrenzen hinaus, wobei einmal die Auslandsschulen zu nennen wären 1, zum anderen vor allem aber Wissenschaft und Universität nach Idee, Anspruch und meist auch in der Wirklichkeit auf internationalen Austausch angelegt waren. Auch finanzierte Preußen schon seit 1833 ein archäologisches Institut in Rom2 • Als Mittel der Außenpolitik des Staates gewannen die auswärtigen Kulturbeziehungen erst in den letzten 90 Jahren an Bedeutung. Neben Frankreich traten vor allem Italien und das Deutsche Reich hervor, die sich die Betreuung ihrer Auswanderer nach Übersee angelegen sein ließen, indem sie dafür sorgten, daß die kulturelle Verbindung ihrer ehemaligen Bürger zu ihrem ursprünglichen Heimatland gepflegt wurde. Ein Beispiel solcher Volkstumspolitik sind die Gründungen deutscher Auslandsschulen, die in manchen Staaten sogar die erziehungspolitische Entwicklung beeinflußten3 • Sieht man von den Auslandsschulen ab, gewann das staatliche Engagement zu Gunsten der Auslandsdeutschen vor allem nach dem ersten Weltkrieg an Bedeu1 Die St. Petri-Schule in Kopenhagen feierte 1975 ihr 400-jähriges Jubiläum. Die bis 1939 bestehende Domschule in Reval wurde bereits 1319 nachgewiesen. 2 Das Deutsche Archäologis'che Institut geht auf eine private Gründung 1829 in der preußischen Gesandtschaft in Rom zurück. Ab 1837 hat es seinen Sitz in BerUn. Seit 1833 gewährte Preußen Zuschüsse und 1859 übernahm es die gesamten Kosten. 1874 wurde es in ein Reichs-Institut umgewandelt. Auswärtige Abteilungen bestehen außer in Rom in Athen (seit 1874), Istanbul und Kairo (seit 1929), Madrid (seit 1943), Baghdad (seit 1956) und Teheran (seit 1961). 3 Nach einer geheimen Denkschrift des Auswärtigen Amtes über das deutsche Auslandsschulwesen von 1914 bestanden im November 1912 über 900 Auslandsschulen, davon fast 600 in Brasilien. Allein in den USA besuchten 350 000 Kinder deuts'che Schulen. Die deutsche Schule in Bukarest hatte 3958 Schüler!

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tung, als infolge der Gebietsabtretungen Deutschlands und Österreichs wie überhaupt der neuen Grenzen die Zahl der sich zur deutschen Kultur und Sprache bekennenden Menschen im Ausland emporschnellte. Nach dem zweiten Weltkrieg gewann auswärtige Kulturpolitik als Teil der Außenpolitik immer mehr an Bedeutung, während daneben eine internationale Institutionalisierung von Kulturpolitik einsetzte, die mondial ihren Ausdruck in der UNESCO fand. Nahezu alle größeren und mittleren Staaten begannen, auswärtige Kulturpolitik durch ihre Auslandsvertretungen zu betreiben, bei denen Kulturreferenten diese "dritte Säule" der Außenpolitik verwalteten'. Von den großen Staaten des Westens bauten die USA, Großbritannien, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien und neuerdings auch Japan systematisch vom auswärtigen Dienst ganz oder teilweise getrennte auswärtige Kulturverwaltungen auf. Mit der Dekolonisierung entfiel für einige dieser Staaten endgültig die Möglichkeit, die heimische nationale Kultur im Wege des Oktroi exportieren zu können, wie es zum Beispiel Großbritannien in Indien noch im 19. Jahrhundert betreiben konnte". Auch die Sowjetunion errichtete Kulturinstitute im Ausland. Andere kommunistische Staaten folgten diesem Beispiel, so unter anderen die DDR mit der Bildung von Zweigstellen des Herder-Instituts in Leipzig. Auch kleinere Staaten haben die Bedeutung der auswärtigen Kulturpolitik erkannt, wie das Beispiel der Schweiz zeigt, wo eine 1972 eingesetzte Koordinierungskommission für die Präsenz der Schweiz im Ausland im Dezember 1974 einen Bericht über eine Gesamtkonzeption vorgelegt und im April 1975 der Bundesrat an die Bundesversammlung eine Botschaft über die Koordination auf diesem Gebiet mit einem Gesetzentwurf über die Einsetzung einer Koordinationskommission unterbreitet hat6 • In den Niederlanden wird an einer Neukonzeption gearbeitet7. Eine aus den diplomatischen und konsularischen Vertretungen organisatorisch mehr oder weniger ausgegliederte auswärtige Kulturverwal4 "Dritte Säule" neben der klassischen Außenpolitik und der Außenwirtschaftspolitik. Vgl. etwa die Ansprache des damaligen Außenministers Brandt anläßlich der 15. Generalkonferenz der UNESCO am 6. November 1968, Jahresbericht 1968 der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, S. 10 ff. 6 Man denke etwa an die britischen Universitätsgründungen 1857 in Bombay, Calcutta und Madras. e Bericht der Koordinierungskommission für die Präsenz der Schweiz im Ausland vom 11. Dezember 1974 und Botschaft des Bundesrats an die Bundesversammlung über die Koordination auf dem Gebiet der Präsenz der Schweiz im Ausland vom 9. April 1975. 7 Im Februar 1974 wurde ein Interims-Bericht der Kommission für auswärtige kulturelle Beziehungen des Raad voor de Kunst veröffentlicht, der allerdings auf Kritik stieß. Am 17. Oktober 1974 wurde dem Minister für Kultur, Freizeitgestaltung und Sozialarbeit ein wesentlich geänderter Bericht vorgelegt.

Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung

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tung unterhalten freilich nur einige Staaten. Abgesehen von Differenzierungen und N uancierungen im einzelnen lassen sich drei verschiedene Organisations formen einer solchen auswärtigen Kulturverwaltung nachweisen: 1. Träger der auswärtigen Kulturverwaltung ist der Staat selbst. Die Verwaltung obliegt dem Außenministerium oder einer diesem nachgeordneten Behörde, ein System, mit dem Frankreich große und die USA geringere kulturpolitische Erfolge erzielt habenS. 2. Die auswärtige Kulturverwaltung obliegt einer vom Staat finanzierten, im übrigen aber unabhängigen öffentlichrechtlichen Einrichtung, wie zum Beispiel in Großbritannien dem British Council oder in Japan der Japan Foundation, deren Leitung mit dem Außenministerium insofern verzahnt ist, als sie in den Händen von ehemaligen oder beurlaubten Diplomaten liegt. 3. Die auswärtige Kulturverwaltung wird von einer oder mehreren staatlich finanzierten, privatrechtlich organisierten Mittlerorganisationen auf Weisung oder im Benehmen mit dem Außenministerium betrieben. Nach dieser Organisationsform ist die auswärtige Kulturverwaltung der Bundesrepublik Deutschland strukturiert.

11. Das Gesamtfeld der Verwaltung auswärtiger Kulturbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch seine Vielfalt aus. Die Zahl der Mittlerorganisationen auf diesem Gebiet, die Zuwendungsempfänger der öffentlichen Hand sind, ist ebenso beachtlich, wie es die Leistungen von Bund, Ländern und Gemeinden sind, die für auswärtige Kulturarbeit aufgewendet werden. Sie dürften den Betrag von 2 Milliarden DM jährlich überschreiten, wobei der nur schwer zu ermittelnde Anteil der Länder dem des Bundes kaum nachstehen dürfte'. S In den USA wird eine organisatorische Umstrukturierung angestrebt. Die Stanton-Commission hat am 10. März 1975 ihren Bericht dem Präsidenten vorgelegt. Danach soll die USIA aufgelöst und eine neue Information and Cultural Affairs Agency (I CA) geschaffen werden, die einen ähnlichen selbständigen Status haben soll wie die Agency for International Development. Ihr Direktor soll dem Außenminister unmittelbar zugeordnet sein. 9 Eine funktionale Haushaltsübersicht über die Aufwendungen der Länder für auswärtige Kulturbeziehungen ist nicht vorhanden und dürfte nur unter großem Verwaltungsaufwand zu erstellen sein. Letzteres gilt in noch stärkerem Maße für die Gemeinden und Gemeindeverbände. Als einziges Bundesland hat Bayern auf Anregung der Enquete-Kommission Auswärtige Kulturpolitik des Deutschen Bundestages versucht, seinen finanziellen Beitrag zu Maßnahmen, welche die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland berühren, zu ermitteln. Danach kommt man für das Jahr 1974 auf einen Betrag in Höhe von rund 150 Millionen DM.

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Der Bund wendet für auswärtige Kulturbeziehungen nach den Haushaltsansätzen von 1974 1058,7 Millionen DM auf. Von dieser "Kulturmilliarde" entfallen auf das Auswärtige Amt 498,2 Millionen DM und auf das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit vor allem für die verschiedenen Arten der Bildungshilfe 306,6 Millionen DM, wobei dahingestellt bleiben kann, ob Bildungshilfe als Hilfe zur Selbsthilfe vornehmlich unter außenpolitischen Gesichtspunkten zu sehen ist, da sie jedenfalls funktional auch kulturelle Außenpolitik darstellt lO • Im Etat des Auswärtigen Amtes sind die größten Posten der "Kulturfonds" in Höhe von 261,2 Millionen DM und der "Schulfonds" von 136 Millionen DM. Den Mittlerorganisationen werden allein knapp 78,7 Millionen DM für Verwaltungsausgaben zur Verfügung gestellt. Größte Zuwendungsempfänger aus dem Kulturfonds sind das Goethe-Institut zur Pflege der deutschen Sprache und Kultur im Ausland e. V., der Deutsche Akademische Austauschdienst e. V. (DAAD), Inter-Nationes e. V. und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Das Goethe-Institut erhielt zum Beispiel 1973 Zuschüsse vom Auswärtigen Amt in Höhe von über 75 Millionen DM, sowie geringe weitere Mittel vom Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit für Nachbetreuungen und vom Bundesminister für Arbeit für die Inlandsinstitutel l . Der DAAD erhält auf Grund seiner breitgefächerten Aufgaben sogar Mittel von fünf verschiedenen Bundesressorts in Höhe von über 63 Millionen DM. Dazu kommen weitere Mittel der Länder und Gemeinden, internationaler Organisationen und von Stiftungen und Verbänden von mehr als 4 Millionen DM12. Die wichtigsten Zuwendungsempfänger des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die sich auch mit Angelegenheiten kultureller Außenpolitik zu befassen haben, sind die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung (DSE), der Deutsche Entwicklungsdienst und die Carl-Duisberg-Gesellschaft. Nach ihrer Rechtsform sind die Leistungsträger auswärtiger Kulturverwaltung recht unterschiedlich organisiert. Kennzeichnend ist die privatrechtliche Rechtsform. Goethe-Institut, DAAD, Inter-Nationes und Carl-Duisberg-Gesellschaft sind eingetragene Vereine, Alexander-vonHumboldt-Stiftung und DSE sind Stiftungen des Privatrechts und der Deutsche Entwicklungsdienst ist sogar eine gemeinnützige GmbH. Allein das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart ist als Anstalt des öffentlichen Rechts des Landes Baden-Württemberg organisiert. 10 Insgesamt betrugen die im Haushalt 1974 angesetzten Mittel für außenkulturpolitisch relevante Entwicklungshilfe über 307 Millionen DM. 11 Jahrbuch 1973 Goethe-Institut München, S. 100. 12 DAAD, Jahresbericht 1973, S. 9, 33 ff.

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Die innere Organisation der Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung ist durch die Rechtsform bestimmt. Bei den eingetragenen Vereinen ist gemäß § 26 BGB ein Vorstand zu bilden, der durch Beschluß der Mitgliederversammlung bestellt wird und den Verein nach außen vertritt. Die Mitgliedschaft im Verein ist zeitlich nicht begrenzt. Mitglieder sind zum Beispiel beim Goethe-Institut bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft sowie Arbeitnehmervertreter, während ordentliche Mitglieder des DAAD Hochschulen und Studentenschaften sind, zu denen über 200 außerordentliche Mitglieder hinzukommen. Für die laufenden Geschäfte ist nach den jeweiligen Vereinssatzungen ein vom Vorstand eingesetzter Generalsekretär zuständig, wobei sich der Vorstand mehr oder weniger stark an der Geschäftsführung unmittelbar beteiligt. Bei den Stiftungen sind nach den Stiftungsgesetzen der betreffenden Länder Organe zu bilden, wobei die Gestaltungsmöglichkeiten im Gegensatz zum Vereinsrecht sehr groß sind. Die innere Organisation der GmbH ist demgegenüber gesetzlich genau fixiert. Über einen eigenen Apparat im Ausland verfügt das Goethe-Institut mit 112 Zweigstellen in 61 Ländern. Die Zweigstellen bieten in ihrem Kulturprogramm kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen und Ausstellungen an und veranstalten Sprachkurse13 • Daneben gibt es allerdings noch vom Auswärtigen Amt unmittelbar verwaltete Kulturzentren im Ausland, die durch vom Goethe-Institut bereitgestelltes Personal betreut werden14 • Der DAAD unterhält 5 Auslandszweigstellen und 2 Koordinierungsstellen. Sie befassen sich nicht nur mit der Vorbereitung und Abwicklung der akademischen Austauschprogramme, sondern fördern generell die Kontakte und den Informationsaustausch im Hochschul- und Wissenschaftsbereich. Dabei nehmen sie auch die Interessen der Westdeutschen Rektorenkonferenz, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Alexandervon-Humboldt-Stiftung wahr. Schließlich hat auch der Deutsche Entwicklungsdienst ständige Regionalbeauftragte in das Ausland entsandt. II!. Die Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung nehmen als solche öffentliche Aufgaben wahr15 , ohne daß damit freilich etwas Jahrbuch 1973 Goethe-Institut München, S. 30 ff. Vgl. Bericht 1973 der Abteilung für auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes, S. 32. 15 Zur öffentlichen Aufgabe vgl. etwa Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff (1969), S. 117 ff., 123 ff.; Häberle, Öffentliches Interesse als Juristisches Problem (1970), S. 211 ff. 13

14

10 Festschrift Menzel

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über ihre Zuordnung zur staatlichen Verwaltung ausgesagt wäre; denn auch die privatwirtschaftlich organisierte Presse erfüllt eine öffentliche Aufgabe16, ebenso wie etwa die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln eine öffentliche Aufgabe darstellt17. Entscheidend ist vielmehr, daß diese Mittlerorganisationen Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, die auch von der staatlichen Verwaltung erfüllt werden können oder erfüllt werden. Dies gilt insbesondere für die Verwaltungstätigkeiten im Ausland. Die vom Goethe-Institut betriebenen Zweigstellen unterscheiden sich in ihren Aufgaben nicht wesentlich von den Kulturund Informationszentren, die vom Auswärtigen Amt selbst verwaltet werden. Auch die Aufgaben des Kulturreferenten einer Auslandsvertretung und des Zweigstellenleiters des Goethe-Instituts können zum Teil recht ähnlich sein. Deshalb wurde auch vorgeschlagen, daß Aufgaben des Kulturreferenten in kleineren Ländern von Dozenten des Goethe-Instituts übernommen werden können18. Ebenso nehmen die Auslandszweigstellen des DAAD Funktionen wahr, die dort, wo keine solche Zweigstellen bestehen, von den Auslandsvertretungen selbst erledigt werden müssen, wie zum Beispiel die Auswahl von Stipendiaten. Nach der üblichen, allerdings umstrittenen verwaltungsrechtlichen Terminologie handelt es sich bei den Mittlerorganisationen hinsichtlich der meisten aus öffentlichen Mitteln finanzierten Aufgaben um "Beliehene"19. Die Frage, ob es sich um staatliche Aufgaben handelt - wobei dahingestellt bleiben kann, ob der Aufgabenbereich des Staates notwendig offen ist20 - , welche die Mittlerorganisationen wahrnehmen, ist jedenfalls für die aus öffentlichen Haushalten finanzierten Funktionen weitgehend zu bejahen. Würden diese Aufgaben nicht von Mittlerorganisationen wahrgenommen, müßte die staatliche Verwaltung sie selbst erfüllen, oder sie blieben zum entscheidenden Teile unerfüllt. Das gilt vor allem für die Auslandstätigkeit. Deutscher Sprachunterricht kann zwar auch von privaten Sprachinstituten im Ausland angeboten werden, und selbst Deutschlandkunde ließe sich noch auf diese Weise vermitteln, sofern überhaupt Privaten das Betreiben von Sprachinstituten vom ausländischen Staat gestattet wird. Auch die Organisa18

§ 3 aller Landespressegesetze.

17 § 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Apothekenwesen vom 20. August 1960

(BGBl. I, S. 697). Vgl. auch BVerfGE 17, 232, 239 f. 18 Vgl. den Zwischenbericht der Enquete-Kommission Auswärtige Kulturpolitik vom 22. September 1972, BT Drucks. VI/3825, S. 17. 19 Das Institut der Beleihung hat in der deutschen Verwaltungsrechtslehre bis heute keine scharfen Konturen erhalten. Ossenbiihl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1971), S. 140. 20 Zur staatlichen Aufgabe vgl. etwa Badura, Das Verwaltungsmonopol (1963), S. 313 ff.; Ossenbiihl, a.a.O., S. 153 f., mit umfassenden Schrifttumsangaben.

Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung

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tion von Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungen läßt sich privatwirtschaftlich ohne Einschaltung staatlicher oder staatlich finanzierter Institutionen bewerkstelligen und wird auch in den westlichen Industriestaaten in dieser Weise durchgeführt. In den Staaten des Ostblocks und den meisten Entwicklungsländern ist aber schon insoweit regelmäßig die Mitwirkung der Auslandsvertretungen oder der Zweigstellen des Goethe-Instituts notwendig. Die eigentlichen kulturpoZitischen Verwaltungsaufgaben können jedoch nicht von Privaten erledigt werden; jedenfalls fehlt den Privaten dem auswärtigen Staat gegenüber die Legitimation, als Träger deutscher außenpolitischer Interessen zu fungieren und diese zu artikulieren. Das entscheidende Problem ist, wie weit der Staat durch die "Beleihung" der Mittlerorganisationen deren Handlungsspielraum eingrenzen darf und soll. Sind dabei auch grundrechtlich geschützte Positionen der Mittlerorganisationen zu beachten? Daß auch den privatrechtlich organisierten Mittlerorganisationen das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Artikel 2 Abs. 1 GG gewährleistet ist, muß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bejaht werden21 ; denn ein rechtsfähiger Verein kann Träger dieses Grundrechts sein22 • Auch könnten die Grundrechte des Artikel 5 Abs. 1 und Abs. 3 GG zu beachten sein, nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß das Grundrecht der Pressefreiheit gemäß Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht auf natürliche Personen beschränkt ist23 • Die bei der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private akute dreifache Relevanz der Grundrechte als Abwehrmittel gegen lästige Verwaltungshilfen, als Anspruchsgrundlagen auf Übertragung von staatlichen Verwaltungsaufgaben an Private und als Abschirmrechte gegen die Entziehung einmal übertragener Verwaltungsagenden24 dürfte bei den Mittlerorganisationen allenfalls hinsichtlich des letzten Punktes praktisch bedeutsam werden, falls etwa staatliche Mittel nicht mehr gewährt werden und damit eine Aufgabe von der Mittlerorganisation nicht mehr erfüllt werden kann. Das Grundrecht auf Handlungsfreiheit spielt im übrigen hinsichtlich der Übertragung von Aufgaben an Mittlerorganisationen keine Rolle; denn gegenüber dem Staat, der die Aufgabe einvernehmlich mit der Mittlerorganisation dieser überträgt, ist insoweit eine Berufung auf Grundrechte nicht möglich, da bei Wahrnehmung staatlicher Aufgaben Grundrechtsschutz gemäß Artikel 2 Abs. 1 GG nicht gewährt werden kann. 21 22

23 24

10'

BVerfGE 23, 12, 30. BVerfGE 10, 221, 225. BVerfGE 21, 271, 277 f. Ossenbühl, a.a.O., S. 175 ff.

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Fraglich ist allerdings, ob für Artikel 5 Abs. 1 und Abs. 3 GG etwas anderes gilt. Angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsfähigkeit von juristischen Personen des öffentlichen Rechts in den Fällen der Rundfunkfreiheit zu Gunsten von Rundfunkanstalten 25 und der Freiheit von Forschung und Wissenschaft zu Gunsten von Universitäten und Fakultäten26 liegt der Gedanke nahe, daß auch Mittlerorganisationen, die auf dem Gebiete der kulturellen Außenpolitik tätig sind, hinsichtlich der Grundrechte des Artikels 5 GG grundrechtsfähig sein müßten. Für die Grundrechtsfähigkeit insoweit spricht die Ausgliederung aus der staatlichen Verwaltung, die bei "beliehenen" Privatrechtssubjekten noch stärker ist als bei Anstalten des öffentlichen Rechts. Dagegen spricht freilich, daß die Tätigkeit der Mittlerorganisationen mit der der Rundfunkanstalten und Hochschulen nicht zu vergleichen ist. Die Mittlerorganisationen sind, soweit sie im Rahmen der kulturellen Außenpolitik tätig sind, Mitträger der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland. Sie nehmen also eine staatliche Aufgabe par excellence wahr. Die Grundrechte auf Meinungsfreiheit und auf Kunstfreiheit stehen ihnen also insoweit nicht zu, als sie im staatlichen Auftrag tätig werden, d. h. auswärtige Verwaltung darstellen. Der Vergleich mit den Rundfunkanstalten, deren Auslandsdienst ebenfalls als grundrechtsgeschützt angesehen wird 27 , geht fehl, weil es sich bei den Aufgaben der Mittlerorganisationen um auswärtige Kulturverwaltung, nicht aber um die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit und Kunst selbst handelt. Es gibt nicht nur kein Privateigentum an Staatsfunktionen28 , sondern überhaupt keine Grundrechte dar an. Hinsichtlich der Mitarbeiter der Mittlerorganisationen taucht dann auch das Problem einer "inneren Kunstfreiheit" nicht auf. Die Mitarbeiter sind Bedienstete der "beliehenen" Mittlerorganisation, nicht grundrechtsberechtigte Künstler. Ebensowenig wie sich der Kulturdezernent einer Stadtverwaltung oder der Kulturreferent einer Botschaft als Beamter auf Artikel 5 Abs. 1 oder Abs. 3 GG berufen kann, ebenso wenig können es die Mitarbeiter der Mittlerorganisationen wegen ihrer Einbindung in den Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik. Mag auch kein Grundrechtsschutz bestehen, so ist doch eine "Autonomie" der Mittlerorganisationen zu begrüßen. Sie gewährleistet Lebendigkeit, Modernität und Kreativität der Kulturarbeit, wie sie von einer staatlichen Behörde, die sehr viel stärker vor allem zu außenpolitischen BVerfGE 31, 314, 321 f. BVerfGE 15, 256, 261 f. 27 Ossenbi1.hl, Rundfunkfreiheit und Finanzautonomie des Deutschlandfunks (1969), S. 7 ff. 28 Rupp, Privateigentum an Staatsfunktionen? (1963), S. 21 ff. 25

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Rücksichtnahmen verpflichtet ist, nicht in gleicher Weise geleistet werden könnte. Der Vorteil der "Autonomie" hat sich nicht nur dort gezeigt, wo, wie im Falle der arabischen Staaten, die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden, die kulturellen über die Zweigstellen des Goethe-Instituts aber fortgesetzt werden konnten, sondern auch dort, wo, wie in Indien, staatliche Kulturinstitute nicht mehr zugelassen wurden29• Es kommt hinzu, daß die Bundesrepublik Deutschland als freie und offene Demokratie auch dem Ausland gegenüber ihr Selbstverständnis deutlicher zum Ausdruck bringt, wenn sie die Zweigstellen des Goethe-Instituts und des DAAD von staatlicher Reglementierung weitgehend ausnimmt. Das schließt freilich nicht aus, daß Ingerrenzrechte des Auswärtigen Amts gegenüber den Mittlerorganisationen, insbesondere auch der Auslandsvertretungen gegenüber den Zweigstellen der Mittlerorganisationen, vereinbart und, falls notwendig, auch ausgeübt werden. Abgesehen von der Kontrolle über die den Mittlerorganisationen gewährten Steuermittel hat der Staat und haben die Mittlerorganisationen selbst dafür zu sorgen, daß sie sich nicht in die innenpolitischen Angelegenheiten fremder Staaten einmischen, daß parteipolitische Polemik nicht ins Ausland getragen wird und daß nicht Agitation gegen Drittländer im Ausland stattfindet. Ein Eingriff des Staates ist bei Verletzung dieser Grundsätze immer zulässig, ohne daß hier eine Zensur ausgeübt wird. Im übrigen soll rechtzeitig bei Bekanntwerden solcher Fälle eingegriffen werden, da nachträgliche Reaktionen des Staates dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland leicht schaden können. Der Streit um die Ausstellung des Graphikers Steack in London hat die Problematik einer Harmonisierung von Freiheit des Künstlers, "Autonomie" der Mittlerorganisation und staatlichen Ingerrenzrechten deutlich aufgezeigt30• Als Grundsatz steht fest: Wo außenpolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen, hat die "Autonomie" der Mittlerorganisationen zurückzutreten. 29 Im Jahre 1970 verfügte die indische Regierung die Schließung der ausländis'chen Kulturinstitute, soweit sie sich nicht in Delhi oder am Ort einer konsularischen Vertretung befanden. Von dieser Maßnahme waren vor allem amerikanische Kulturinstitute betroffen, während die regierungsunabhängigen Zweigstellen des British Council und des Goethe-Instituts nach längeren Verhandlungen von der Schließung ausgenommen wurden. Die MaxMueller-Bhavans in Bangalore, Hyderabad, Poona und Rourkela brauchten deshalb nicht geschlossen zu werden. 30 Zum Falle "Steack" vgl. z. B. Michaelis, Hoch die Kunst! Doch Bilder ab?, Die Zeit vom 31. Januar 1975; Rether, Wie sowas läuft läuft sowas so, Frankfurter Rundschau vom 11. Januar 1975; Glozer, Tendenzwende oder Re'chtsruck?, Süddeutsche Zeitung vom 14. Januar 1975; Zimmer,. Wie liberal wollen wir sein?, Die Zeit vom 24. Januar 1975; Bucerius, Darf man das?, Die Zeit vom 24. Januar 1975; Jacobs, "Affäre Steack" zwischen der Kunst und der Politik, Westfälische Rundschau vom 12. März 1975; vor allem: Arnold, Steack, Rote Rübe und die auswärtige Kulturpolitik, F AZ vom 11. März 1975.

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IV. Angesichts der Wahrnehmung außenpolitischer Aufgaben durch die Mittlerorganisationen ist deren Rechts- und Organisationsform von entscheidender Bedeutung. Der jetzige Zustand ist insoweit nicht immer befriedigend.

Öffentlichrechtliche Organisationsformen (Körperschaften, Anstalten, Stiftungen) bieten Vor- und Nachteile. Der wesentliche Vorteil einer öffentlichrechtlichen Organisationsform besteht darin, daß die Bediensteten der Mittlerorganisationen Beamte sein können. Dadurch könnte die Mobilität innerhalb einer Mittlerorganisation und zwischen den Mittlerorganisationen gesteigert werden. Bei Bestehen eines dienstlichen Bedürfnisses können Beamte auch gegen ihren Willen versetzt werden31 • Sie dürfen auch bei dienstlichem Bedürfnis vorübergehend an eine andere öffentlichrechtlich organisierte Mittlerorganisation abgeordnet werden, zu einem anderen Dienstherrn gegen ihren Willen allerdings nur bis zu einem Jahr 32 • Dienstherreneigenschaft braucht den Mittlerorganisationen nicht verliehen zu werden. Gleichwohl überwiegen die Nachteile einer öffentlichen Organisationsform deren Vorteile. Trotz der Begrenzung der Verwaltungskompetenz des Bundes auf den auswärtigen Dienst gemäß Artikel 87 Abs. 1 GG läßt sich zwar auch im Hinblick auf Artikel 32 Abs. 1 GG eine Bundeskompetenz für öffentlichrechtlich organisierte Mittlerorganisationen rechtfertigen, doch setzt das eine weite Auslegung des Begriffs des auswärtigen Dienstes voraus. Im übrigen würde Artikel 87 Abs. 3 Satz 1 GG für den Bund eine Kompetenz einräumen können. Anstalten öffentlichen Rechts der Länder zu schaffen, dürfte demgegenüber kaum im Interesse des Bundes liegen. Das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart als Anstalt baden-württembergischen Rechts ist eine Ausnahme, die das Gesamtbild nicht stört. Weitere Anstalten in die legislatorische Disposition von Ländern zu geben, empfiehlt sich nicht, auch wenn durch Verwaltungs abkommen mit dem Bund die nähere Ausgestaltung vereinbart würde. Unzweckmäßig wären auch Anstalten auf Grund von Bund-Länder-Abkommen, die weder im Bundes- noch im Landesrecht wurzelten. Zum anderen ist die öffentlichrechtliche Organisationsform gerade wegen der Notwendigkeit eines Gesetzes zu schwerfällig. Dies gilt bereits für die Errichtung der Anstalt. Bei jeder Anpassung an veränderte Umstände müßte der Gesetzgebungsapparat in Gang gesetzt werden, was eine rasche Anpassung von vornherein unmöglich machen würde. Experimente, mögen sie noch so behutsam sein, wären jedenfalls erheblich erschwert. 31 32

§ 26 BBG. § 27 BBG.

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Bei privatrechtlicher Organisationsform bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Für alle privatrechtlich organisierten Mittlerorganisationen bleibt die Frage der Mobilität der Mitarbeiter insbesondere bei Anwendung des BAT bis zu einem gewissen Grade unbefriedigend. Die Stiftung des Privatrechts hat sich bei denjenigen Organisationen voll bewährt, die ihre Aufgaben mit dem Stiftungsvermögen bewältigen können, wie zum Beispiel die Volkswagen-Stiftung oder die ThyssenStiftung und die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung, die überwiegend mit staatlichen Zuschüssen arbeiten und insoweit atypische Stiftungen sind. Hat sich diese Rechtsform bewährt, sollte nicht an ihr gerüttelt werden. Der Vorteil einer Stiftung gegenüber einem eingetragenen Verein liegt darin, daß die Willensbildung nicht von Mitgliedern abhängig ist. Ihr Nachteil besteht in der Rechtsaufsicht, die nicht beim Bund, sondern bei Behörden der Länder liegt. Zwar hat die nordrhein-westfälische Rechtsaufsicht über die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die des Berliner Justizsenators über die DSE bisher keine Schwierigkeiten bereitet, doch fragt es sich, ob der Bund als die für die auswärtigen Kulturbeziehungen zuständige Körperschaft ein Interesse daran haben kann, die Mittlerorganisationen sämtlich der Stiftungsaufsicht von Landesbehörden zu unterstellen, das heißt zum Beispiel das Goethe-Institut der einer bayerischen Behörde oder den DAAD oder Inter-Nationes der einer nordrhein-westfälischen. Besser als eine Stiftung erscheint die gemeinnützige GmbH, wie sie zum Beispiel der DED darstellt. Die Anteile könnten etwa vom Bund und (einem, einigen oder allen) Ländern gehalten werden. Auch bestünde die Möglichkeit, in begrenztem Maße für die auswärtige Kulturpolitik wichtige private Organisationen zu beteiligen. Die eigentliche Schwierigkeit dürfte in der Umwandlung der bestehenden Organisationen in Gesellschaften mit beschränkter Haftung liegen. Es kommt hinzu, daß die GmbH ursprünglich als Rechtsform einer Handelsgesellschaft konzipiert war und für andere als wirtschaftliche Unternehmen atypisch sein würde. Beim Deutschen Entwicklungsdienst ist der wirtschaftliche Aspekt immerhin noch rudimentär vorhanden. Als Regelorganisationsform empfiehlt sich die GmbH aber kaum. Die beste Lösung stellt trotz der bisher zum Teil schlechten Erfahrungen immer noch der eingetragene Verein dar. Entscheidend kommt es aber darauf an, die Auswahl der Mitglieder so zu gestalten, daß die Mittlerorganisation den ihr vom Bund erteilten Auftrag möglichst effizient und reibungslos erfüllen kann. Die Auswahl der Mitglieder ist deshalb entscheidend, da sie alle in der Mitgliederversammlung vertreten sind und diese nach Vereinsrecht das bestimmende Organ des Vereins ist. Die Neugestaltung der Mitgliederauswahl ist nach geltendem Vereinsrecht durchaus möglich.

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Mitglieder des Vereins sollten nicht, wie teilweise bisher, Persönlichkeiten sein, die nur sich selbst verantwortlich sind. Diese Unabhängigkeit der Mitglieder ist zwar prinzipiell zu begrüßen, sie ist aber insofern problematisch, als ein Wechsel der Mitglieder nicht stattfindet und eine Petrifizierung in der entscheidenden Mitgliederversammlung, welche die übrigen Organe bestellt, eintreten kann. Nur juristische Personen in den Verein aufzunehmen, empfiehlt sich ebenfalls nicht. Außer dem Bund wären noch 6 weitere Mitglieder notwendig, um die Mindestmitgliedszahl des § 56 BGB zu erreichen, wenngleich es sich insoweit nur um eine Sollvorschrift handelt, die bezüglich der Eintragung in das Vereinsregister normiert wurde. Eine Schrumpfung der Mitglieder bis auf den Bund allein ist ebenfalls nicht zu empfehlen. Einmal ist die Vereinsform für einen "Ein-Mann-Verein" nicht vorgesehen; zum anderen würde dadurch die Möglichkeit verbaut, Persönlichkeiten des kulturellen Lebens als Mitglieder zu kooptieren. Erwünscht ist nicht nur die Mitwirkung solcher Persönlichkeiten in anderen Organen oder Gremien des Vereins, sondern deren volle Mitgliedschaft. Gerade dem Ausland gegenüber sollte nicht auf die Mitgliedschaft von Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft verzichtet werden. Zu empfehlen ist, die Mitgliedschaft im Verein zunächst an Funktionen in der Verwaltung und eventuell der Legislative zu knüpfen. Mitglied des Vereins sollte in jedem Falle der Leiter der Abteilung für auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Amts sein. Je nach den Aufgaben der Mittlerorganisation sind auch Beamte anderer Ressorts für die Dauer ihres Amts als Mitglieder zu bestellen. Für Inter-Nationes müßte zum Beispiel der Leiter der Auslandsabteilung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung zum Mitglied berufen werden. Auch die Länder könnten je nach den Aufgaben der Mittlerorganisation durch Beamte oder eventuell durch Minister als Mitglieder vertreten sein. Darüber hinaus sollten weitere Mitglieder durch die Mitglieder kraft Funktion für eine begrenzte Dauer kooptiert werden. Die kooptierten Mitglieder sind nach Vereins recht den Mitgliedern kraft Amts gleichzustellen. Sie müssen daher auch an der Kooptation späterer Mitglieder beteiligt sein. Die Dauer der Mitgliedschaft kooptierter Mitglieder sollte begrenzt sein auf 3 bis 4 Jahre bei der Möglichkeit einmaliger Wiederwahl. Dabei sollte so verfahren werden, daß spätestens alle zwei Jahre ein teilweiser Wechsel stattfindet, um die Kontinuität zu wahren. Alle übrigen Organe des Vereins sind entsprechend den jeweiligen Aufgaben der Mittlerorganisation zu strukturieren. Grundlegende Veränderungen gegenüber dem bestehenden Zustand sind insoweit nicht notwendig, wenn erst die Mitgliedschaft neu gestaltet ist. Für alle

Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturverwaltung

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Organe gilt, daß grundsätzlich nur solche Personen zu berufen sind, die eine aktive und sachkundige Mitarbeit gewährleisten. Eine angemessene Beteiligung von Mitarbeitern der Mittlerorganisationen im Vorstand sollte durch die Vereinssatzung geregelt werden. Die Geschäftsführung hat entsprechend den Richtlinienentscheidungen der Mitgliederversammlung und des Vorstandes zu handeln und sollte nicht durch dauernde Einzelanweisungen zu einer administrativen Hilfsstelle denaturiert werden. Die Mittlerorganisationen sollten schließlich so strukturiert sein, daß sie bei Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Pluralität koordinationsund kooperationsfähig sind. Dabei ist nicht nur die Koordination durch den Bund, insbesondere das Auswärtige Amt gemeint, sondern auch die Selbstkoordination wichtig, wie sie zum Beispiel derzeit in der Vereinigung für internationale Zusammenarbeit (VIZ) erfolgt, der die wichtigsten Mittlerorganisationen angehören. Erstrebenswert ist auch eine gewisse personelle Durchlässigkeit zwischen den großen Mittlerorganisationens3 •

33 So auch der Zwischenbericht der Enquete-Kommission Auswärtige Kulturpolitik, a.a.O., S. 16.

Die Partei im sowjetischen Staats- und Völkerrecht Von Boris Meissner

I. Das sowjetische Modell eines Einparteistaates Im 20. Jahrhundert hat die Zahl der Staaten eine gewaltige Ausweitung erfahren. Im Verlauf dieses Prozesses, der entscheidend durch die Folgen der beiden Weltkriege bestimmt worden ist, haben sich auch wesentliche qualitative Veränderungen in der Staatengesellschaft vollzogen. Sie haben die traditionelle Einteilung der Staatsformen, die teils auf Aristoteles, teils auf Machiavelli zurückgeht, hinfällig werden lassen. Nicht die äußere Staatsform und damit die Gegenüberstellung von Monarchien und Republiken, die nur in Einzelfällen wichtig sein kann, sondern die innere Staatsform und das mit ihr verbundene Herrschaftssystem bilden heute das entscheidende Kriterium, um die einzelnen Staatstypen voneinander abzugrenzen. Es lassen sich dabei zwei Grundtypen des modernen Staates unterscheiden. Dem einen Staatstypus liegt die Herrschaft einer größeren oder kleineren Gruppe oder eines einzelnen Mannes zugrunde. Der andere Staatstypus ist durch die maßgebende Beteiligung des ganzen Volkes, d. h. der Gesellschaft in politischer Funktion, an der Herrschaft gekennzeichnet. Der Autokratie steht die konstitutionelle Demokratie gegenüber!, wobei beide Grundtypen verschiedene Erscheinungsformen und Übergänge aufweisen können. In dem einen Falle handelt es sich oft um einen Einparteistaat auf diktatorischer Grundlage, der auf einer permanenten Ausübung der Herrschaft durch die dazu allein berechtigte Partei beruht. Im zweiten Fall haben wir es meist mit einem Parteienstaat auf demokratischer Grundlage zu tun, der von einer Herrschaft auf Zeit ausgeht, die in bestimmten Abständen einen Machtwechsel zwischen den Parteien erlaubt. In einem Mehrparteiensystem sehen sich die einzelnen miteinander konkurrierenden Parteien als Repräsentanten bestimmter Teile des Volkes an. In einem Einparteisystem erhebt die herrschende Partei den Anspruch, das gesamte Volk allein zu verkörpern und damit in Vertretung der Gesellschaft dem Staat übergeordnet 1

Vgl. K. Loewenstein. Verfassungslehre, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 26 ff.

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Boris Meissner

zu sein. Im Grunde genommen widerspricht dieser Anspruch dem Wesen einer Partei. Diese mag der entscheidende Träger der staatlichen Hoheitsgewalt sein. Sie kann aber niemals als Teil das Ganze ersetzen2 • Einparteistaaten unterscheiden sich durch ihre ideologischen Grundlagen und die von ihnen verfolgte politische Zielsetzung. Dem kommunistischen Staatensystem, durch das ein Drittel der Erdbevölkerung erfaßt wird, gehören durchweg Einparteistaaten an, die auf der marxistisch-leninistischen Ideologie beruhen. Die Klassifizierung als Einparteistaat gilt auch für Volksdemokratien, in denen neben der herrschenden kommunistischen Partei noch Gefolgsparteien im Rahmen von Volks- oder Nationalfronten bestehen. Das besondere Kennzeichen der sozialistischen Staaten kommunistischen Typs ist darin zu sehen, daß sie - von bestimmten Eigenheiten abgesehen - nach dem Vorbild des Sowjetstaates aufgebaut sind. Sie gehen von einem bestimmten Verhältnis von Partei, Staat und gesellschaftlichen Organisationen sowie einer dualistischen Herrschaftsstruktur aus. Der Aufbau der Partei folgt dabei den Grundsätzen, wie sie von Lenin und Stalin entwickelt worden sind und die trotz aller inzwischen stattgefundenen Veränderungen ihre Gültigkeit nicht eingebüßthaben. Die Entwicklung seit der Entstehung des kommunistischen Staatensystems hat allerdings gezeigt, daß es verschiedene Erscheinungsformen des Einparteistaats geben kann. Neben einem totalitären kann ein freierer autoritärer und ein konstitutioneller Einparteistaat unterschieden werden. Das wesentliche Kriterium bei dieser Unterscheidung ist in dem Grad der Beschränkung der Einparteiherrschaft und ihrer Bindung an das Recht zu sehen. Das sowjetische Modell eines Einparteistaats zeichnet sich durch den unbeschränkten Charakter der Einparteiherrschaft aus. Beim Sowjetstaat überwiegen daher noch heute die totalitären Merkmale, die sich im vollen Umfange unter dem Stalinismus herausgebildet haben. Unter den Einwirkungen des Reformkommunismus, der sich vorläufig nur in Jugoslawien durchgesetzt hat, macht sich im kommunistischen Staatensystem allmählich eine Tendenz bemerkbar, die vom orthodox-kommunistischen Modell des Einparteistaats wegführt und stärker pluralistische Züge aufweist3 • Vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 185 ff. Vgl. B. Meissner, Moskauer Orthodoxie und Reformkommunismus, in: A. Domes (Hrsg.): Reformen und Dogmen in Osteuropa. Köln 1971. S. 25 ff. 2

3

Die Partei im sowjetischen Staats- und Völkerrecht

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Eine Eigenart des sowjetischen Modells eines Einparteistaats ist darin zu sehen, daß die Partei aufgrund der dualistischen Herrschaftsstruktur sowohl auf der innerstaatlichen, als auch zwischenstaatlichen Ebene als eine eigenständige Kraft in Erscheinung tritt. Der Kommunistischen Partei der Sowjetunion fällt damit nicht nur im sowjetischen Staatsrecht, sondern auch in den völkerrechtlichen Beziehungen des Sowjetstaates eine besondere Rolle zu. Auf die politische und rechtliche Bedeutung dieser beiden Aspekte wird im folgenden gesondert einzugehen sein.

11. Die Stellung der Partei im sowjetischen Staatsrecht Eine nähere Betrachtung des politischen Systems der Sowjetunion läßt deutlich erkennen, daß die KPdSU eine absolute Herrschaft und nicht nur - wie es die Ideologie behauptet - eine Hegemonie, d. h. Führung ausübt. Diese absolute Herrschaft der Partei hat mit der Zeit auch im sowjetischen Staatsrecht ihren Niederschlag gefunden. Damit stellt sich die Frage, wie die beherrschende Stellung der Partei rechtlich zu qualifizieren ist. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist die normative Verfassung der Sowjetunion anzusehen, wobei auf dem Hintergrund der politischen Gesamtverfassung zwischen der formellen Rechtsverfassung, d. h. der geschriebenen Staatsverfassung, und der materiellen Rechtsverfassung zu unterscheiden ist. Dieser dreigliedrige Verfassungsbegriff, der in seinen Ansätzen auf die Staatslehre von Hermann Heller zurückgeht, hat den Vorteil, daß er es ermöglicht, den rechtlichen und politisch-soziologischen Bereich deutlich voneinander abzugrenzen und die "dialektische Beziehung" zwischen Verfassungsform und Verfassungswirklichkeit klar zu erkennen4 • Die materielle Rechtsverfassung ist dabei als die Gesamtheit der obersten Rechtsnormen anzusehen, die das Grundgefüge eines Staates bestimmen. Soweit die formelle Rechtsverfassung materielles Verfassungsrecht enthält, stellt dieses nur einen Ausschnitt der gesamten materiellen Rechtsverfassung dar. Auch in der sowjetischen Staatsrechtslehre überwiegt heute die Auffassung, daß das sowjetische Staatsrecht im engeren Sinn sich nicht, wie es Vysinskij und I. P. Trajnin seinerzeit behauptet haben, nur auf das formelle Verfassungsrecht beschränkt. 4 Der dreigliedrige Verfassungsbegriff ist vom Verfasser bereits 1947 bei der Analyse der Sowjetverfassung angewandt worden. Vgl. B. Dennewitz / B. Meissner, Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. I, Hamburg 1947,

S. 171 f.

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Boris Meissner

Als materielles Verfassungsrecht außerhalb der formellen Rechtsverfassung sind dabei alle diejenigen Rechtsnormen anzusehen, die ergänzende Regelungen für die verfassungsmäßigen Staatsorgane oder Satzungsbestimmungen von Institutionen, die im Grundgesetz als integrale Bestandteile der rechtlichen Grundordnung des Staates bezeichnet werden, enthalten. Letzteres gilt vor allem für die Kommunistische Partei der Sowjetunion, auf die in der geltenden Bundesverfassung der UdSSR von 1936 zweimal eingegangen wird. Diese Einbeziehung der KPdSU in das sowjetische Staatsrecht ist dabei als Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses anzusehen, der mit der Machtergreifung der bolschewistischen Partei in der Oktoberrevolution einsetzte. Die Hegemonie und nicht die Alleinherrschaft der bolschewistischen Partei bildete für Lenin zunächst die entscheidende Voraussetzung für die von ihm angestrebte proletarisch-sozialistische Demokratie. Der bolschewistische Einparteistaat, der nach der Auseinandertreibung der Konstitutierenden Versammlung und nach dem Putsch der linken Sozialrevolutionäre 1918 zustande kam, ergab sich aus einer bestimmten machtpolitischen Konstellation, die in der ursprünglichen Planung nicht vorgesehen war. Seine endgültige Gestalt sollte er am Ausgang des Bürgerkrieges annehmen. Die innere Logik dieser Entwicklung lag in den autoritären Zügen der von Lenin in seinen Schriften "Was tun?" (1902) und "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" (1904) entwickelten Parteilehre5 begründet, die zwangsläufig zu der von ihm selbst ursprünglich abgelehnten Minderheitsdiktatur im Staate führen mußte. Gemäß dieser Lehre war nur eine auserwählte Elite von meist intellektuellen Berufsrevolutionären allein in der Lage, in einem tieferen Sinne zu verstehen, was das eigeitliche Wohl des Proletariats und damit des Volkes bildete. Die proletarische Demokratie gründete sich, wie Lenin auf dem 11. Kominternkongreß 1920 ausführte, auf der Diktatur dieser "klassenbewußten Minderheit", da sie allein imstande sei, die "werktätigen Volksrnassen zu führen". Lenin gab damit zu, was Rosa Luxemburg bereits 1918 erkannt hatte, nämlich daß es sich bei der angeblichen "Diktatur des Proletariats" in Wirklichkeit um eine Parteidiktatur über das Proletariat handelte. Die herrschende Stellung der Partei wurde bis 1936 in den Sowjetverfassungen, die dem Grundgesetz der RSFSR vom 10. Juli 1918 nachgebildet worden waren, verschwiegen. "Wir werden von einer Partei 6 Vgl. R. Maurach / B. Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, Stuttgart 1969, S. 28 ff.

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regiert ... , von der unsere Verfassung schweigt, die aber nichtsdestoweniger das rechtliche und tatsächliche Wesen dieser Verfassung ausmacht", schrieb schon 1922 der sowjetische Staatsrechtler Gurvic 8 • Erst in der, unter maßgeblicher Beteiligung Stalins zustande gekommenen, zweiten Bundesverfassung der UdSSR vom 5. Dezember 1936 ist die für die politische und rechtliche Ordnung des Sowjetstaates entscheidende Tatsache der Einparteiherrschaft eindeutig zum Ausdruck gebracht worden. In dem Artikel 126 heißt es: Die aktivsten und zielbewußtesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse und anderen Schichten der Werktätigen vereinigen sich in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die der Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf für die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems ist und den führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl wie der staatlichen darstellt. Im Artikel 126 wird der KPdSU ein unumschränktes Machtmonopol und damit eine dominierende verfassungsrechtliche Stellung zugestanden. Sie wird damit ausdrücklich als die Staatspartei anerkannt und als eine selbständige Herrschaftsinstitution in das weitere staatliche Organisationsgefüge einbezogen. Ihr Statut, deren Gestaltung ihrem freien Ermessen überlassen bleibt, bildet nicht die Satzung eines in der Verfassungsurkunde besonders herausgehobenen Personalverbandes, wie im Fall der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, sondern eine wesentliche Ergänzung der normativen Verfassung. Auf Grund der sowjetischen Verfassungswirklichkeit stellt das Parteistatut der KPdSU, das mit Recht als "Parteiverfassung" bezeichnet worden ist, sogar das Kernstück der materiellen Rechtsverfassung dar 7 • Enthält doch das Parteistatut Regelungen, die nicht nur den entscheidenden Anteil der Parteiorgane an der Staatswillensbildung, sondern auch ihre Weisungsbefugnis gegenüber den Staatsorganen im engeren Sinn aufzeigen. Daneben weist das Parteistatut Regelungen auf, die in der Satzung einer beliebigen Partei enthalten sein könnten, und somit keinen eigentlichen verfassungsrechtlichen Charakter aufweisen. Trotzdem ist das Parteistatut in seiner Gesamtheit ebenso als Teil der materiellen Rechtsverfassung anzusehen wie etwa das innere Verbandsrecht der internationalen Organisationen dem Völkerrecht zugerechnet wird, obgleich es Bestimmungen enthält, die nicht völkerrechtlicher Natur sind8 • • Zitiert nach Dennewitz / Meissner, Bd. I, S. 126. Der sowjetische Jurist Raevic erklärte: "In der wirklichen russischen Verfassung bildet die Kommunistische Partei den bedeutendsten Bestandteil." Vlast' Sovetov (Sowjetmacht), 1923, Nr. 10, S. 27. 7 Vgl. G. Brunner, Das Parteistatut der KPdSU 1903 - 1961, Köln 1965. 8 Vgl. E. Menzel, Völkerrecht, München - Berlin 1962, S. 2.

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Die gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen, die um die Partei als juristischen und nicht nur politischen "Kern der Macht" gruppiert sind, werden im sowjetischen staatsrechtlichen Schrifttum als "Transmissionen" oder "Hebel" bezeichnet. Die gesellschaftlichen Organisationen stellen teils soziale Großorganisationen (z. B. Gewerkschaften), teils Interessenverbände (z. B. Schriftstellerverband) dar. Die Aufgabe der "Massenorganisationen" ist es, den Willen der Partei auf die einzelnen Teile der Bevölkerung zu übertragen, die gesellschaftliche Integration herbeizuführen und zugleich die Vorstellung zu erwecken, als ob die Partei vom Vertrauen der Massen getragen sei. Die "Interessenverbände" ermöglichen es der Partei, ihren Einfluß auf bestimmte Interessengruppen geltend zu machen. Die staatlichen Organisationen sind ebenfalls als Instrumente einer mittelbaren Herrschaft durch die Partei gedacht. Es handelt sich hierbei vor allem um die Staats- und Wirtschaftsverwaltung, die Polizei und die Armee. Den Sowjets fällt bei dieser Einteilung eine Doppelfunktion zu. Während die Sowjetlegislative, die durch die großen Vertretungskörperschaften auf allen Verwaltungsstufen gebildet wird, im Grunde genommen eine gesellschaftliche "Massenorganisation" darstellt, bildet die Sowjetexekutive eine staatliche "Herrschaftsinstitution". Dieses vielgestaltige System der permanenten Parteidiktatur wurde bisher von der sowjetischen Staatsrechtslehre als "Mechanismus der Diktatur des Proletariats" bezeichnet und mit der gesamtstaatlichen Organisation gleichgesetzt. Seit dem Parteiprogramm der KPdSU von 1961 wird behauptet, daß in der Sowjetunion die "Diktatur des Proletariats" nach innen durch den "Staat des gesamten Volkes" ersetzt worden ist. Daher ist jetzt nur vom "Mechanismus der sozialistischen Demokratie" die Rede, obgleich sich an der Einparteidiktatur ebenso wenig geändert hat wie in jenen Volksdemokratien, in denen die Bezeichnung "Mechanismus der Diktatur des Proletariats" weiter gültig ist. An dieser Bezeichnung wird auch unter den Nachfolgern Chruscevs festgehalten, nachdem eine Modifizierung der Volksstaatslehre erfolgt ist. Heute wird der "Staat des gesamten Volkes" als eine höhere Entwicklungsstufe der "Diktatur des Proletariats" angesehen 9 • Von der gesamtstaatlichen Organisation, der außer den Sowjets, d. h. der Räteorganisation, und der Parteiorganisation auch alle Massenorganisationen angehören, wird neuerdings von mehreren sowjetischen Staatsrechtlern der Staatsapparat im weiteren Sinn unterschieden10 • Vgl. Maurach / Meissner, S. 20. Vgl. A. I. Lukjanow / B. M. Lasarew, Der Sowjetstaat und die gesell"chaftlichen Organisationen, BerUn (Ost) 1963, S. 79 ff. 9

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Unter ihm verstehen sie die Gesamtheit der Institutionen, die Staatsfunktionen ausüben würden. Dies gilt neben der Sowjetexekutive, d. h. dem Staatsapparat im engeren Sinn, vor allem für die Parteiexekutive, den Parteiapparatl l • In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, daß sich die Partei ebenso wie der Staat im engeren Sinn von den übrigen gesellschaftlichen Organisationen hauptsächlich dadurch unterscheidet, daß sie eine "politische Organisation" darstellt. Wesentlich ist, daß durch diese besondere Hervorhebung des Parteiapparats im Rahmen eines Staatsapparats im weiteren Sinn, den Parteiorganen staatsrechtlich die gleiche Stellung wie den normalen Staatsorganen eingeräumt wird. Daß die Parteiorgane als Staatsorgane im weiteren Sinn anzusehen sind, wird in der Verfassungspraxis, insbesondere bei der Ausübung der Staatsfunktionen sehr deutlich. In der sowjetischen Staatsrechtslehre wird zwischen den formellen und inhaltlichen Funktionen des Staates unterschieden. Eine Untersuchung des Verhältnisses Partei und Staat unter rechtlichen Gesichtspunkten hat von den Rechtsfunktionen des Sowjetstaats auszugehen, da die Zahl der inhaltlichen Funktionen, wie die Entwicklung von Stalin bis Chruscev gezeigt hat, von dem jeweiligen Machthaber beliebig erweitert werden kann. Bei der Feststellung der formellen Funktionen pflegt die sowjetische Staatsrechtslehre von den in der formellen Staatsverfassung behandelten Organgruppen auszugehen und von ihnen auf die Rechtsfunktionen des Sowjetstaates zu schließen. Bei einer solchen Methode läßt sich eine willkürliche Aufzählung von solchen Organgruppen nicht ausschließen. So zählen einige sowjetische Autoren auch die Sowjetarmee und den sowjetischen Staatssicherheitsdienst als solche Organgruppen auf, die zweifellos Bestandteil der Exekutive sind. Eine klare Begrenzung läßt sich nur erreichen, wenn man von fest umrissenen Aufgaben des Staates ausgeht, die auf Grundkategorien rationaler Erkenntnis beruhen12 • Nachdem die einzelnen Rechtsfunktionen auf diesem Wege festgelegt sind, ist es möglich, auch den organisatorischen Träger der jeweiligen Funktionen näher zu bestimmen. Der Funktionsdreiheit im gewaltenteilenden Rechtsstaat: Rechtsetzung, Vollziehung, Rechtsprechung entspricht daher auch das System der drei Organgruppen: Legislative, Exekutive, Justiz. Innerhalb der Exekutive wird die Regierung als politische Gewalt gegenüber der Verwaltung im engeren Sinn unterschieden. Mit der Teilfunktion der Regierung ist die Richtlinien- und Organisationsgewalt eng verbunden. Ebenda,S.241. Vgl. M. Imboden, Montesquieu und die Lehre von der Gewaltentrennung, Berlin (West) 1959, S. 11 ff. 11

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11 Festschrift Menzel

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Beim Sowjetstaat, der auf dem Prinzip der Gewaltenvereinigung beruht, wird die Unterscheidung von formellen Funktionen mit dem Bedürfnis der Arbeitsteilung begründet. Aufgrund der Verfassungswirklichkeit, die sich in dem materiellen Verfassungsrecht widerspiegelt, lassen sich dabei noch zwei weitere Rechtsfunktionen unterscheiden, die sich infolge der besonderen Wesenszüge des Sowjetsystems als zwei besondere Gewalten herausgebildet haben: Planung und Kontrolle. Spezielle Plan- und Kontrollinstitutionen sind ihre organisatorischen Träger. Es sind also insgesamt fünf Rechtsfunktionen: Planung, Rechtsetzung, Vollziehung (Regierung, Verwaltung), Rechtsprechung, Kontrolle, von denen wir auszugehen haben, um das rechtliche Verhältnis von Partei und Staat näher zu untersuchen13 • Der Anteil der Parteiorgane an der Ausübung dieser staatlichen Funktionen überwiegt vor allem bei der Regierung, der Planung und der Kontrolle, d. h. jenen Rechtsfunktionen, die in einer unmittelbaren Beziehung zur diktatorischen Herrschaftsstruktur stehen. Auch an der Rechtsetzung ist die KPdSU teilweise unmittelbar beteiligt. Auf dem Gebiete der Verwaltung macht sich das Weisungsrecht der Partei vor allem auf den höheren Verwaltungsstufen bemerkbar. Auf den unteren Verwaltungsstufen ist nach Aufhebung der Parteireform Chruscevs nach seinem Sturz, die klare Abgrenzung zwischen dem Partei- und Staatsapparat wiederhergestellt worden. In der Rechtsprechung wirkt sich der Einfluß der Partei nur mittelbar aus. Für die Beurteilung des staatsrechtlichen Charakters der KPdSU ist die permanente Ausübung der vom Standpunkt der politischen Gesamtverfassung wichtigsten Staatsfunktionen durch die zuständigen Parteiorgane von größter Bedeutung. Dies ist vor allem bei der Ausübung der Regierungsgewalt, die als die eigentliche "politische Gewalt" (Smend) anzusehen ist, der Fall. Als Regierung pflegt man denjenigen Teil der Exekutive zu bezeichnen, in dem es um die schöpferische Entscheidung, die politische Initiative und die zusammenfassende Leitung des Staatsganzen sowie die dirigierende Kontrolle der ausführenden Tätigkeiten geht14 • Die so beschriebene Regierungsfunktion, als Teilfunktion der Vollziehung, kommt in der Sowjetunion in ihrem Kern überhaupt keinem Staatsorgan zu. Es sind in erster Linie die zentralen Parteiorgane, welche die Regierungsfunktion ausüben. 13 Vgl. B. Meissner, Die Rechtsstellung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Jb. für Ostrecht, II/2 1961, S. 15 ff.; K. Westen, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Sowjetstaat, Köln 1968, S. 121 ff. 14 Vgl. U. Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: Festschrift Smend, Göttingen 1952, S. 278.

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Mit der Regierungsfunktion ist die Richtliniengewalt und die Organisationsgewalt eng verknüpft. Bezeichnenderweise ist in Art. 68 der Unionsverfassung bei der Behandlung der Kompetenzen des Ministerrates der UdSSR von der Festlegung der Grundsätze der Politik durch die de-jure-Regierung keine Rede. Diese Aufgabe wird auch beim Obersten Sowjet der UdSSR und seinem Präsidium nicht besonders hervorgehoben. Gemäß Art. 33 Abs. c der geltenden Parteisatzung und damit aufgrund materiellen Verfassungsrechts ist es der Parteikongreß der KPdSU, der die Generallinie der Partei in den Fragen der Innenund Außenpolitik, die für die Staatsorgane verbindlich ist, festlegt und die wichtigsten Fragen des "kommunistischen Aufbaus" prüft und entscheidet. Die nähere Bestimmung und gegebenenfalls Abänderung der Generallinie erfolgt durch Beschlüsse bzw. Verordnungen des Zentralkomitees der KPdSU. Die Regierungsentscheidungen und die konkreten Richtlinien zur Verwirklichung der Generallinie erfolgen durch die Vollzugsorgane des Zentralkomitees. Alle wichtigen Grundentscheidungen fallen in der Sowjetunion in einer Kommandozentrale, die vor allem durch die beiden wichtigsten Führungsgremien der KPdSU, das Politbüro und das Sekretariat, gebildet wird. Daneben ist das Präsidium des Ministerrats der UdSSR in einigen Entwicklungsphasen stärker, in anderen schwächer an diesen Entscheidungen beteiligt worden. Es stellt seiner Zusammensetzung nach in erster Linie ein Wirtschaftskabinett dar. Bereits Lenin hatte 1920 darauf hingewiesen, daß vom Politbüro alle Fragen der Außen- und Innenpolitik entschieden würden15 • Diese Feststellung trifft seit der Wiederherstellung des kollektiven Führungsprinzips in weitgehendem Maße auch für das heutige Politbüro zu. Es ist nicht nur aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse, sondern auch des Verfassungsgewohnheitsrechts als die de-facto-Regierung der Sowjetunion anzusehen. Die Vorbereitung, Weiterleitung und Kontrolle dieser Entscheidungen liegt beim ZK-Sekretariat mit dem Generalsekretär an der Spitze, dem ein umfangreicher Verwaltungsapparat zur Seite steht. Die Beschlüsse der Vollzugsorgane des Zentralkomitees der KPdSU sind für die Tätigkeit der obersten Exekutivorgane des Staates (Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, Ministerrat der UdSSR) rechtlich und nicht nur politisch verbindlich. Die sowjetische Staatsrechtslehre begründet diese Verbindlichkeit mit dem auf Lenin zurückgehenden Grundsatz der unbedingten Unterordnung des Staatsapparates unter die Politik der Partei. 15

Vgl. W. 1. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin (Ost) 1953, S. 648.

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Lukjanow und Lasarew erklären16 : "Die Unterordnung des Apparates unter die Politik der Partei drückt sich in erster Linie darin aus, daß keine einzige wichtige politische und organisatorische Frage von den Staatsorganen ohne richtunggebende Hinweise der Kommunistischen Partei gelöst wird." Jampolskaja weist auf die Unterordnung der de-jure-Sowjetregierung unter die Parteispitze mit den Worten hin17 : "Der Ministerrat der UdSSR führt seine gesamte Tätigkeit unter der unmittelbaren Leitung des ZK der KPdSU aus." Was die mit der Regierungsfunktion verbundene Organisationsgewalt betrifft, so bezieht sie sich einerseits auf den institutionellen Bereich, d. h. auf die ämter- und behördenmäßige Gestalt des Staates, andererseits auf den personellen Bereich. Die Organisationsgewalt steht unbegrenzt nur der Führungsspitze der Partei zu. Von den obersten Exekutivorganen des Staates kann sie nur insoweit wahrgenommen werden, wie sie nicht von den Vollzugsorganen des Zentralkomitees der KPdSU in Anspruch genommen wird. Der Parteispitze fällt aufgrund der Organisationsgewalt auch das Recht zu, eine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem Staat im engeren Sinn und den gesellschaftlichen Organisationen durchzuführen. Lukjanow und Lasarew schreiben18 : "Unter Berücksichtigung der konkreten historischen Bedingungen regelt die Partei die Tätigkeitssphären der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen und legt auf diese Weise die Methoden fest, mit denen die vor dem Lande stehenden Aufgaben des kommunistischen Aufbaus verwirklicht werden." Sie fügen hinzu: "Die richtige Abgrenzung der Funktionen der verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen, die unter der Leitung der KPdSU verwirklicht wird, gibt dieser zugleich die Möglichkeit, ihre leitende Rolle stärker zum Ausdruck zu bringen." Im institutionellen Bereich erfolgt die Ausübung der Organisationsgewalt durch die Partei mittels organisatorischer Normen oder direk1G

Lukjanow I Lasarew, S. 243.

C. A. JampoLskaja, Organy sovetskogo gosudarstvennogo upravlenija v sovremennyj period (Die Organe der sowjetischen Staatsverwaltung in der gegenwärtigen Periode), Moskau 1964, S. 169. 17

18

Lukjanow I Lasarew, S. 253.

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ter Dienstanweisungen, welche die organisatorische Struktur der Staatsorgane und StaatsdienststeIlen betreffen19 . Im personellen Bereich wirkt sich die Organisationsgewalt im Parteimonopol des alleinigen Vorschlags für die politischen Wahlkörperschaften und durch Ämterbesetzung im Zuge von Parteiverfügungen auf der Grundlage des "Nomenklatur-Systems" aus20 • Auch wenn die Besetzung wichtiger Herrschaftspositionen nicht unmittelbar durch die Kaderverwaltung der KPdSU - zur Zeit ZK-Abteilung für Partei-Organisations-Arbeit - erfolgt, ist aufgrund des "Nomenklatursystems" die Kontrolle der Partei über die Personalentscheidungen im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich gewährleistet. Die im "Nomenklatur-System" institutionalisierte Parteipatronage stellt einen wichtigen Bestandteil des zentralistisch-bürokratischen Herrschaftssystems dar. Sie trägt wesentlich dazu bei, die totalitären Wesenszüge des sowjetischen Modells eines Einparteistaats zu verstärken. Die Mitwirkung der Partei an der Ausübung der Rechtsfunktionen des Gesamtstaates läßt deutlich das übergewicht der Partei gegenüber dem Staat im engeren Sinn im Rahmen der materiellen Rechtsverfas~ sung der UdSSR erkennen. In einem Leitartikel des Organs des Rechtsinstituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ist dieser Tatbestand mit folgenden Worten deutlich zum Ausdruck gebracht worden!1: "Die Kommunistische Partei ist die einzige Partei in unserem Lande. Sie ist gleichzeitig die regierende und uneingeschränkt herrschende Partei ... Die Partei ... koordiniert die Arbeit der Machtorgane, des Gerichts und der Verwaltung, lenkt ihre Tätigkeit, steht dank ihrer großen Autorität und ihrer außerordentlich reichen Arbeitserfahrung an der Spitze aller staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen und verwirklicht hart und unnachgiebig ihre Generallinie." Wenn die zuständigen Staatsorgane die früher erwähnten fünf Rechtsfunktionen ausüben, tun sie dies aufgrund festumrissener ParVgl. Meissner, Rechtsstellung der KPdSU, S. 20 f. Vgl. B. Lewytzkyj, Die Nomenklatur. Ein wichtiges Instrument sowjetischer Kaderpolitik, Osteuropa, 11. Jg., 1964, S. 409 ff. 21 Pod rukovodstom Kommunisticeskoj partii za dal'nejsee ukreplenie sovetskogo socialisticeskogo gosudarstva (Unter Führung der Kommunistischen Partei für die weitere Festigung des sozialistischen Sowjetstaates) Sovetskoe gosudarstvo i pravo, Sowjetstaat und Recht, abgekürzt: SGP 1957, Nr. 8, S. 6. 19

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teidirektiven. Auf die rechtliche Bedeutung der Parteidirektiven22 ist noch kürzlich von Guliev und Siglik unter Bezugnahme auf die verfassungsrechtliche Festlegung der führenden Rolle der Partei im Art. 126 der Unionsverfassung hingewiesen worden23 • Wenn Guliev und Siglik gleichzeitig feststellen, daß die Partei unmittelbar keine Rechtsnormen setzt, so trifft dies nicht zu. Erstens beteiligt sich die Partei an der Rechtsetzung im Rahmen der Gemeinsamen Rechtsverordnungen des Zentralkomitees der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR. Zweitens gibt es Fälle, wo die Partei unmittelbar Recht gesetzt hat, wie z. B. bei der Annahme des Siebenjahrplans durch den XXI. Parteikongreß der KPdSU im Januar 1959, der niemals in ein staatliches Plangesetz transformiert worden ist. Wenn der Parteiapparat als Bestandteil des weiteren Staatsapparats angesehen wird, wie dies Lukjanow und Lasarew tun, dann bilden die Parteiorgane, soweit sie an der Ausübung der Rechtsfunktionen des Staates beteiligt sind, Staatsorgane im weiteren Sinn. In jedem Falle sind Parteiorgane bei der permanenten Ausübung einer bestimmten Staatsfunktion, z. B. der Regierungsgewalt, als solche Staatsorgane anzusehen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Partei nicht nur den politischen, sondern auch juristischen Kern der gesamtstaatlichen Organisation bildet, die auf sowjetischer Seite als "politische Organisation der Gesellschaft" bezeichnet wird. Partei und Sowjets üben die einheitliche Staatsgewalt gemeinsam aus, wobei die Fülle der Entscheidungsgewalt den Führungsgremien der Partei und nicht den obersten Staatsorganen zufällt. Unter diesen Führungsgremien, die auch als Staatsorgane im weiteren Sinn tätig sind, kommt die zentrale Bedeutung dem Politbüro zu. Das Politbüro ist aufgrund der materiellen Rechtsverfassung als der oberste Träger der Kompetenzgewalt und damit auch als der eigentliche Verfassungsgesetzgeber anzusehen. Das Gremium der Vollmitglieder des Politbüros, das als "Führerkollektiv" das Prinzip der "kollektiven Leitung" verkörpert, ist dabei als der eigentliche Träger der Souveränität im Staate anzusehen. Im sowjetischen staatsrechtlichen Schrifttum wird immer wieder die Notwendigkeit betont, die führende Rolle der Partei weiter zu stärken. Die bisherigen Äußerungen lassen erwarten, daß die staatsrechtliche 22 23

Vgl. Meissner, Rechtsstellung der KPdSU, S. 26 f. V. E. Guliev / A. I. Siglik, Partija i gosudarstvo v sisteme socialisti-

ceskoj demokratii (Die Partei und der Staat im System der sozialistischen Demokratie), SGP, 1975, Nr. 4, S. 17.

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Stellung der Partei im Rahmen der in Vorbereitung befindlichen neuen Bundesverfassung der UdSSR noch weiter gefestigt und ausgebaut werden soll24. 111. Die Stellung der Partei im sowjetischen Völkerrecht Auch bei der Ausübung der Auswärtigen Gewalt der Sowjetunion läßt sich das Übergewicht der Partei über den Staat im engeren Sinn feststellen. Dies gilt nicht nur für die außenpolitischen Grundentscheidungen, sondern auch für die Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen im Rahmen des kommunistischen Staatensystems, das von sowjetischer Seite teils als "sozialistische Gemeinschaft", teils als "sozialistisches Weltsystem" bezeichnet wird. Die rechtliche Qualifizierung der KPdSU und ihrer leitenden Organe ist daher im völkerrechtlichen Bereich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Erstens ist sie für die Frage wichtig, inwieweit die Beteiligung von Parteiorganen an der Ausübung der Auswärtigen Gewalt und an Handlungen im Ausland dem Sowjetstaat zuzurechnen ist. Ebenso wichtig erscheint zweitens die Beurteilung des völkerrechtlichen Gehalts der interparteilichen Beziehungen im kommunistischen Staatensystem und des Rechtscharakters des Sowjetblocks. Durch die permanente Ausübung der Regierungsfunktion durch die KPdSU werden auch die Grundentscheidungen im außenpolitischen Bereich erfaßt. Innerhalb des Politbüros, das für diese Grundentscheidungen in erster Linie zuständig ist, übt Breznev als Generalsekretär den größten Einfluß auf die Gestaltung der sowjetischen Außenpolitik aus. Von anderen Angehörigen des "Führerkollektivs" werden nur Teilbereiche der Außenpolitik wahrgenommen, wobei Kosygin als Ministerpräsident vor allem für den außenwirtschaftlichen Bereich zuständig ist. Seit dem April 1973 ist mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko der erste Karrierediplomat im Politbüro vertreten. Damit hat er, ebenso wie früher Molotov, die Möglichkeit, unmittelbar an den Grundentscheidungen mitzuwirken. Neben dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, das von Gromyko geleitet wird, sind das Ministerium für Außenhandel der UdSSR und das Staatskomitee für die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Ausland für die Regelung der auswärtigen Beziehungen %4 Vgl. B. Meissner, Die Verfassungsentwicklung der Sowjetunion seit dem Tode Stalins, Jb. des öffentlichen Rechts N. F., Bd. 22, 1973, S. 196, 200.

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auf der staatlichen Ebene zuständig. Auf der parteilichen Ebene fällt diese Aufgabe dem Auslandsapparat der KPdSU zu, dem nach der Auflösung der Komintern und des Kominform eine noch größere Bedeutung zukommt als früher. Seinen Kern bilden die internationalen Abteilungen des Zentralkomitees. Die "Abteilung für die Verbindung zu den Kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder" befaßt sich mit den Beziehungen zu den herrschenden, die "Internationale Abteilung" zu den nicht an der Macht befindlichen Kommunistischen Parteien. Eine weitere Abteilung ist den außenwirtschaftlichen Beziehungen unter Parteigesichtspunkten gewidmet. Eine besondere "Abteilung für Auslandskader" behandelt die Personalfragen von Angehörigen des Auswärtigen Dienstes und anderen im Ausland tätigen sowjetischen Funktionären. Dem für den Auslandsapparat zuständigen ZK-Sekretär - bisher Suslov - kommt ebenfalls ein wesentlicher Einfluß auf die doppeIgleisige sowjetische Außenpolitik zu. Die außenpolitischen Grundentscheidungen, die vom Politbüro zum Teil unter Beteiligung des Präsidiums des Ministerrats der UdSSR getroffen werden, haben oft völkerrechtliche Auswirkungen, vollziehen sich aber im staatsrechtlichen Bereich. Von völkerrechtlicher Bedeutung ist dagegen die Beteiligung an der außenpolitischen Repräsentation durch den höchsten Parteifunktionär und seine Beteiligung an der Ausübung der vertragschließenden Gewalt. Bereits Chruscev als dem Ersten Parteisekretär sind bei seinen offiziellen Besuchsreisen im Ausland teilweise die Ehren eines Staatsoberhauptes erwiesen worden, obgleich sie nur dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR zustanden. Das gleiche ist bei mehreren Auslandsreisen Breznevs als Generalsekretär der Fall gewesen. Dabei war Chruscev zugleich Ministerpräsident der UdSSR, was Breznev nicht ist. Auch bei Verhandlungen mit ausländischen Regierungsdelegationen wird Breznev als Generalsekretär, entgegen dem sonst üblichen diplomatischen Protokoll, vor dem nominellen Staatsoberhaupt und dem Ministerpräsidenten aufgeführt. Die jüngste Entwicklung hat gezeigt, daß auch die vertragschließende Gewalt vom Generalsekretär der KPdSU beansprucht wird, obwohl er keines der höchsten Staatsämter im Sinne der formellen Rechtsverfassung bekleidet. So sind die amerikanisch-sowjetischen Abkommen vom 26. Mai 1972, 21. und 22. Juni 1973 sowie 29. Juni und 3. Juli 1974 von Breznev für die UdSSR ausdrücklich in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der KPdSU unterzeichnet worden 25 • 25

Vgl. Pravda vom 28. 5. 1972, 22. und 23. 6. 1973, 30.6. und 5. 7. 1974.

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Den ersten Präzedenzfall bildete das Treffen von Bundeskanzler Brandt mit Breznev im Herbst 1971 auf der Krim. Damals legte die sowjetische Seite besonderen Wert darauf, daß das Schlußkommunique vom 18. September 1971 26 von Breznev als Generalsekretär der KPdSU und nicht als Mitglied des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR unterschrieben wurde. Dagegen unterzeichnete Breznev das Abkommen für wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland am 19. Mai 197327 im Namen der Sowjetregierung, aber ohne Nennung seines Parteiamts, obwohl er dem Ministerrat der UdSSR nicht angehört28 • Die völkerrechtliche Bewertung dieser Vorgänge, die im Einklang mit der Herrschaftsstruktur eines Einparteistaats sowjetischen Modells stehen, bereitet keine besonderen Schwierigkeiten. Das allgemeine Völkerrecht verweist bei der Feststellung der jeweiligen Staatsorgane auf das innerstaatliche Recht. Steht die geschriebene Staatsverfassung in einem deutlichen Widerspruch zur regelmäßig wirksamen rechtlichen Grundordnung, so gelten gemäß dem Prinzip der Effektivität die Bestimmungen der Letzteren 29 • Infolgedessen ist von Verdroß die Frage der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Sowjetstaates für die Handlungen der Partei zu einem Zeitpunkt bejaht worden, wo diese in der formellen Rechtsverfassung der UdSSR noch gar nicht erwähnt wurdeso. Die gleiche Auffassung ist von Zellweger vertreten worden, der sich mit der völkerrechtlichen Stellung der Staatspartei im Einparteistaat näher befaßt hatSt • Es besteht aufgrund der materiellen Rechtsverfassung der UdSSR kein Zweifel, daß die Abkommen, die auf sowjetischer Seite von Breznev als Generalsekretär der KPdSU unterzeichnet wurden, für den Sowjetstaat in staats- und völkerrechtlicheer Hinsicht verbindlich sind. Der Abschluß dieser internationalen Verträge ist ein besonders gutes Beispiel dafür, daß Parteiorgane, die permanent bestimmte Staatsfunktionen ausüben, als Staatsorgane im weiteren Sinn anzuVgl. Pravda vom 19. 9. 1971. Vgl. Pravda vom 20. 5. 1973. 28 Dagegen ist das deutsch-sowjetische Regierungsabkommen über die weitere Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vom 30. Oktober 1974 von Breznev im Namen der UdSSR unterzeichnet worden. 29 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, 2. Aufl., Wien 1950, S. 287; A. Ross, Lehrbuch des Völkerrechts, Stuttgart - Köln 1951, S. 238 ff. 30 Vgl. A. Verdross, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Sowjetunion für die Handlungen der russischen kommunistischen Partei und der 3. Internationale, Ztschr. für öff. Recht, 2. Jg., 1930, S. 577 ff. 31 Vgl. E. Zellweger, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Staates für die Presse, Zürich 1949. 28

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sehen sind. Handlungen, die von ihnen gegenüber einem anderen Staat begangen oder durch Vermittlung von Privaten gesetzt werden, sind dem Sowjetstaat ebenso zuzurechnen, wie wenn sie von Staatsorganen im engeren Sinn herrühren würden. Daraus ergibt sich für den völkerrechtlichen Bereich die Schlußfolgerung, daß der Sowjetstaat für diese Handlungen, die sich auf den Abschluß von Verträgen nicht zu beschränken brauchen, im vollen Umfange haftet. Entsprechend dem innerstaatlichen dualistischen Aufbau sind bei kommunistischen Einparteistaaten Beziehungen auf der staatlichen und parteilichen Ebene zu unterscheiden. Die KPdSU weist ein Zwiegesicht auf. Sie tritt daher bei der Ausübung der Auswärtigen Gewalt auf beiden Ebenen in Erscheinung. Auf der einen Seite ist sie eine Staatspartei und damit im staatlichen Bereich tätig, auf der anderen Seite bildet sie eines der beiden Zentren der kommunistischen Weltbewegung. Die interparteilichen Beziehungen beschränken sich infolgedessen nicht auf das kommunistische Staatensystem, sondern umfassen auch die Beziehungen zu den nicht an der Macht befindlichen kommunistischen Parteien in der übrigen Welt. Die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten beruhen nach sowjetischer Auffassung auf dem Prinzip des "sozialistischen Internationalismus". Diesem liegt das Prinzip des "proletarischen Internationalismus" zugrunde, das für die interparteilichen Beziehungen innerhalb und außerhalb des kommunistischen Staatensystems verbindlich ist. Von sowjetischer Seite wird behauptet, daß die Beziehungen innerhalb der "sozialistischen Gemeinschaft" durch ein "sozialistisches Völkerrecht" geregelt werden, dem die Grundsätze des proletarisch-sozialistischen Internationalismus zugrunde liegen32 • Das "sozialistische Völkerrecht" wird dabei als das antizipierte allgemeine Völkerrecht der Zukunft und nicht nur als ein regionales Völkerrechtssystem angesehen. Unabhängig davon, wie dieser Anspruch zu beurteilen ist, dürfte feststehen, daß völkerrechtliche Bedeutung nur solchen interparteilichen Beziehungen zukommen kann, die zwischen den jeweiligen Staatsparteien bestehen. Von Breznev sind "die aktiven Verbindungen zwischen den regierenden kommunistischen Parteien" als "der Kern, die zementierende Grundlage der Entwicklung für die allseitige Zusammenarbeit der 32 Vgl. B. Meissner, Die sowjetische Konzeption des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" und das "sozialistische Völkerrecht", Recht in Ost und West, 19. Jg., 1975, S. 1 ff.

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sozialistischen Staaten" bezeichnet worden33 . Von sowjetischer Seite wird betont, daß diesen aktiven Verbindungen der Staatsparteien "eine große Bedeutung bei der Festigung und Entwicklung des ganzen Systems der intersozialistischen Beziehungen" zukommen würde. "Die Besprechungen, Konferenzen und kollektiven Entscheidungen der brüderlichen Kommunistischen Parteien lenken und koordinieren das gesamte vielseitige und verzweigte Netz der zwischenstaatlichen Beziehungen der sozialistischen Länder und gewährleisten sein Funktionieren als einheitliches Ganzes aufgrund der Prinzipien des MarxismusLeninismus und des proletarischen Internationalismus34 ." Von Sursalov ist unter Bezugnahme auf eine Äußerung Chruscevs 1962 die Auffassung vertreten worden, daß es sich bei dieser führenden Rolle des kommunistischen Parteienkollektivs um ein völkerrechtliches Prinzip handeln würde. Er schreibt35 : "Ein Prinzip der völkerrechtlichen Beziehungen der sozialistischen Länder ist nach unserer Ansicht die führende und richtungsweisende RoHe der

Kommunistischen und Arbeiterparteien bei der Vervollkommnung und Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen neuen Typs."

An anderer Stelle bezeichnet Sursalov "die führende und richtungweisende Rolle" der Kommunistischen Parteien konsequent als das "wichtigste Prinzip der gegenseitigen Beziehungen zwischen sozialistischen Ländern"36. Daß innerhalb des Parteienkollektivs der KPdSU die dominierende Rolle zukommt und daß das Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" nichts anderes darstellt als die ideologische Umschreibung der sowjetischen Hegemonie ist bei der militärischen Intervention der Sowjetunion und ihrer Gefolgsstaaten in der Tschechoslowakei im August 1968 sehr deutlich geworden. In Verbindung mit der Rechtfertigung dieser Intervention durch die "Breshnew-Doktrin"37, die von einer beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten aus33

Vgl. L. I. Breshnew, Auf dem Wege Lenins, Bd. 2, Berlin (Ost) 1971,

S.393.

M M. D. Jakovlev Red.), Vnesnaja politika Sovetskogo Sojuza. Aktual'nye problemy 1967 - 1970 (Die Außenpolitik der Sowjetunion. Aktuelle Probleme 1967 - 1970), Moskau 1970, S. 88. 35 V. M. Sursalov, Mezdunarodno-pravovye principy sotrudnicestva socialisticeskich gosudarstv (Die völkerrechtlichen Prinzipien der Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten), SGP, 1962, Nr. 7, S. 100. 36 Vgl. V. M. Sursalov (Red.), Mezdunarodno-pravovye formy sotrudnicestva socialisticeskich gosudarstv (Die völkerrechtlichen Formen der Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten), Moskau 1962, S. 29. 37 Vgl. B. Meissner, Die "Breshnew-Doktrin". Das Prinzip des "proletariscll.-sozialistische Internationalismus" und die Theorie von den "verschiedeenen Wegen zum Sozialismus", Köln 1969.

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geht, ist in der sowjetischen Völkerrechtslehre ein neuer Grundsatz des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" festgestellt worden. Es handelt sich um das Prinzip "der Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Länder"38, das sowohl den "Schutz der sozialistischen Errungenschaften" wie die Sicherung der "führenden Rolle der Partei" umfaßt. Unter Zugrundelegung des hegemonischen Internationalismus-Begriffs werden von sowjetischen Völkerrechtlern neuerdings die Erklärungen der multilateralen kommunistischen Konferenzen sowie die Erklärungen und Kommuniques bilateraler Verhandlungen von Partei und Partei-Regierungs-Delegationen als "neue Quellen" der sozialistischen völkerrechtlichen Prinzipien und Normen bezeichnet39 . Sie gehen damit weiter als Sursalov, der zwar betont, daß diese "politischen Dokumente faktisch die Vertrags- und sonstigen Beziehungen der sozialistischen Staaten bestimmen", sie aber nicht als "Völkerrechtsquellen im formalen Sinn" ansieht40 • Auf der anderen Seite scheuen sich auch seine Kollegen, die notwendige Schlußfolgerung aus ihrer These, die sich natürlich nur auf das "sozialistische Völkerrecht" bezieht, zu ziehen. Sie erklären vielmehr in einem Widerspruch zu ihrer eigenen Aussage, daß es sich bei diesen Dokumenten nicht um "juristische internationale Verträge" handeln würde. Diese Feststellung erscheint bei Parteienvereinbarungen, die von Parteiorganen geschlossen werden, die Staatsorgane im weiteren Sinne bilden, fraglich. Sie trifft sicher zu, wenn es sich um Konferenzbeschlüsse oder Verhandlungsergebnisse handelt, an denen nichtregierende kommunistische Parteien beteiligt waren. Daher hat Zellweger mit Recht festgestellt, daß die Deklaration der kommunistischen Weltkonferenz von 1957, die von zwölf herrschenden kommunistischen Parteien unterzeichnet worden ist, einen völkerrechtlichen Charakter besitzt und für die entsprechenden sozialistischen Staaten verbindlich sein würde 41 • 38 Vgl. Mezdunarodnye pravo v otnosenijach mezdu socialisticeskimi gosudarstvami (Das Völkerrecht in den Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten), Kurs mezdunarodnogo prava (Lehrgang des Völkerrechts), Bd. H, Moskau 1973, S. 30 ff. Vgl. hierzu auch: Aktuelle Probleme der tschechoslowakischen sozialistischen Wissenschaft über Staat und Recht im Lichte des XIV. Kongresses der KPC und des XXIV. Kongresses der KPdSU, Pravnik, 1972, Nr. 1 - 2, S. 78 ff. (tschech.). 38 Vgl. F. I. Kozevnikov (Red.), Kurs mezdunarodnogo prava (Lehrgang des Völkerrechts), 3. Aufl., Moskau 1972, S. 56 f.; G. I. Tunkin (Red.), Mezdunarodnoe pravo (Völkerrecht), Moskau 1974, S. 96 f. 40 Vgl. Surfalov, S. 35. 41 Vgl. die Wiedergabe des Referats von E. Zellweger über das "internationale Parteirecht im Ostblock" auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Fulda 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, S. 839

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Das gleiche dürfte für die Beschlüsse von intersozialistischen Parteienkonferenzen gelten, vor allem, wenn es sich um Konferenzen der Partei- und Regierungschefs handelt, die seit 1958 meist den Tagungen der Warschauer Paktorganisation oder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe vorauszugehen pflegen. Sie werden als "Empfehlungen" oder "Hinweise" bezeichnet. Soweit es sich um "einstimmig gebilligte Parteidirektiven" handelt, sieht Genovski sie gleichsam als "kollektive Parteidirektiven" an42 • Er ist der Auffassung, daß sie politischer Natur seien. Die spezifische Qualität von Rechtsnormen würden sie erst erhalten, nachdem sie vom Rat für Wirtschaftshilfe und den Staatsorganen der zuständigen Länder "sanktioniert" worden sind. Die Praxis steht teilweise im Widerspruch zu dieser Auffassung. Wenn die Parteidirektiven im innerstaatlichen Bereich normativen Charakter besitzen, ist auch nicht recht einzusehen, warum den "kollektiven Parteidirektiven" diese Eigenschaft ganz abgehen sollte. Der Unterschied ist lediglich in der rechtlichen Grundlage der jeweiligen Weisung und in dem Kreis der Adressaten zu sehen. In dem einen Fall bildet die Entscheidung des zuständigen Parteiorgans, im zweiten Fall die Vereinbarung mehrerer Parteien die Grundlage der Parteidirektive. In dem einen Fall ist sie aufgrund des im innerstaatlichen Bereich geltenden "demokratischen Zentralismus" auch für die Minderheit in der Partei, welche die Entschließung abgelehnt hat, verbindlich. Im anderen Falle sind aufgrund des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" nur diejenigen Staatsorgane verpflichtet, die dem Beschluß der intersozialistischen Parteienkonferenz zugestimmt haben. In dem einen Fall ist die Weisung an die zuständigen Staatsorgane gerichtet, die sie in Einparteistaaten sowjetischen Typs bedingungslos ausführen müssen. Im zweiten Fall richtet sie sich meist nicht an die einzelnen Staaten, sondern an die zuständigen Organe der multilateralen Organisationen. Die Vertreter der einzelnen Staaten in diesen Organen sind zwar verpflichtet, diese Direktiven auszuführen. Sie werden es aber nur tun, wenn sie von ihrer Partei keine entgegengesetzten Direktiven erhalten. Im Konfliktfall geht die Direktive der eigenen Partei der "kollektiven Parteidirektive" vor. Als Beispiel sei an das Verhalten Rumäniens erinnert, das auf der 6. Sitzung des Exekutivkomitees des RGW im Mai 1963 die Durchführung der von der intersozialistischen Parteienkonferenz im Juni 1962 gebilligten "Grundprinzipien der internationalen sozialistischen 42 Vgl. M. Genovski, Politiceska i pravna charakteristika na suveta sa ikonomiceska vsaimopomost (Politis'che und juristische Wesenszüge des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe), Sofia 1959.

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Arbeitsteilung" verweigerte 4s • Die Rebellion Rumäniens zeigt, daß der weitere Fortgang der osteuropäischen Integration entscheidend davon abhängt, inwieweit es der KPdSU, die nach Auffassung der DDRJuristen Kemper und Kirsten "den höchsten Beitrag für die Formulierung des Bewußtseins der gesellschaftlichen Entwicklung im Rahmen der Mitgliedstaaten des RGW ... leisten kann und leistet" in Ausübung der "internationalen Diktatur" gelingt, eine einheitliche Willensbildung auf der Parteiebene nicht nur zustande zu bringen, sondern sie auch zu verwir klichen44 • Der Beschluß der Juni-Konferenz von 1962 und ein programmatischer Artikel von Chruszev im September-Heft der Zeitschrift "Probleme des Friedens und des Sozialismus", in dem aufgrund des Kommuniques vom 7. Juni 1962 von "in die Praxis eingegangenen periodischen Konsultationen" die Rede war, deuteten auf die sowjetische Absicht einer weiteren organisatorischen Verfestigung der gemeinsamen Parteienkonferenzen hin 45 • Infolge des Auftriebs, den die zentrifugalen Kräfte im kommunistischen Herrschaftsbereich aufgrund des Konflikts zwischen Peking und Moskau und der reformkommunistischen Vorstellungen erlangt haben, ist es vorläufig dazu nicht gekommen. Auf der anderen Seite ist es nicht zu übersehen, daß sich die Integrationsbestrebungen seit der Intervention in der Tschechoslowakei wesentlich verstärkt haben. In diesem Zusammenhang kommt dem "Komplexprogramm für die weitere Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliederländer des RGW" vom Juli 1971 eine besondere Bedeutung zu. Außerdem ist interessant festzustellen, daß in einer Reihe von neuen bilateralen Bündnisverträgen die Entwicklung von Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Organisationen der jeweiligen Staaten besonders vorgesehen ist46 • Damit ist den zweiseitigen Parteivereinbarungen eine zusätzliche völkerrechtliche Grundlage gegeben worden. Von Loeber sind die intersozialistischen Parteienkonferenzen als ein "außerordentliches Organ" des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe charakterisiert worden 47 • Uschakow bezeichnet sie "als gewohnheits43 Vgl. J. Hacker / A. Uschakow (Hrsg.), Die Integration Osteuropas 1961 bis 1965, Köln 1966, S. 108 f. 44 M. Kemper / J. Kirsten, Rechtsfragen der neuen Etappe internationaler ökonomischer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, Staat und Recht, 11. Jg., 1962, S. 2177. 45 Vgl. A. Uschakow, Der Ostmarkt im Comecon, Baden-Baden 1972, S. 32. 48 Vgl. B. Meissner, Die bilateralen Bündnisverträge der osteuropäischen Länder, Außenpolitik, 18. Jg., 1967, S. 590 f. 47 Vgl. D. A. Loeber, Vereinheitlichung des Warenlieferungsrechts im Außenhandel der Comecon-Länder, Osteuropa-Recht, 6. Jg., 1960, S. 37.

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rechtlich entstandenes Organ des RGW"48. Mit demselben Recht ließe sich das gleiche auch in Verbindung mit der Warschauer Paktorganisation sagen. Wie weit die Befugnisse dieses wichtigen Gremiums gehen, ist daraus zu ersehen, daß sowohl die Entschließung über die Errichtung der Berliner Mauer vom 5. August 1961, als auch der Beschluß über die Aufnahme der Volksrepublik Mongolei in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe vom 7. Juli 1962 von ihm gefaßt worden sind. Es dürfte daher richtiger sein, die Konferenzen der Ersten Parteisekretäre sowie der Partei- und Regierungschefs aufgrund ihrer Stellung im Gesamtsystem völkerrechtlich zu beurteilen. Wir sahen, daß von sowjetischer Seite das Prinzip des "proletarischsozialistischen Internationalismus", das als ein Strukturprinzip der "sozialistischen Gemeinschaft" besonders hervorgehoben wird, im hegemonischen Sinne ausgelegt wird. Die Hegemonie ist ihrer dynamischen Grundtendenz nach ein politischer Ordnungsbegriff49, der sich aber zu einem Rechtsbegriff verdichten kann, wenn sich der Hegemon irgendwie gearteter rechtlicher Einrichtungen bedient, um seine Führung völkerrechtlich zu legalisieren. Dies ist bei der sowjetischen Hegemonialmacht der Fall. Die Grundsätze des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" bilden den weit gezogenen Rahmen, der durch ein vielgestaltiges Paktsystem, das bilaterale und multilaterale Züge aufweist, ausgefüllt wird. Unter den multilateralen Verträgen kommt dem Warschauer Pakt und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe die größte Bedeutung zu. Der auf diese Weise vertraglich eng miteinander verbundene Teil des kommunistischen Staatensystems, der den Führungsanspruch Moskaus anerkennt, stellt einen Zusammenschluß in organisatorischen Formen dar, der es aufgrund des erreichten Integrationsgrades gestattet, von einer hegemonischen Staatenverbindung zu sprechen. In völkerrechtlicher Hinsicht stellt diese Staatenverbindung nur eine Vorstufe zum Staatenbunde dar. Trotzdem tritt sie in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht als eine Einheit in Erscheinung. Daher dürfte es genauer sein, in den Konferenzen der Ersten Parteisekretäre oder der Partei- und Regierungschefs eine spezielle Einrichtung des engeren sowjetischen Hegemonialverbandes zu sehen. Daher kommt den Beschlüssen der Parteienkonferenzen auf höchster Ebene für die Staaten, die dem sowjetischen Hegemonialverband angehören, eine rechtliche und nicht nur politische Bedeutung zu. Bei den KonfeVgl. Uschakow, S. 32. Zum Begriff und der Problematik der Hegemonie vgl. H. TTiepel, Die Hegemonie. Neudruck, Aalen 1961. 48

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ren zen der Partei- und Regierungschefs ergibt sich diese völkerrechtliche Verbindlichkeit sowieso aus der Beteiligung der Vorsitzenden der jeweiligen Ministerräte und damit der de-jure-Regierungen. Ebenso wie die multilateralen können auch die bilateralen Parteivereinbarungen 50 partikulär-völkerrechtlichen Charakter besitzen, d. h. für die betroffenen sozialistischen Staaten rechtlich verbindlich sein, wenn sie von Parteiorganen abgeschlossen werden, die für einen bestimmten Bereich der Staatstätigkeit zuständig sind. In jedem Fall werden Vereinbarungen der Ersten Sekretäre, die sich auf staatliche Angelegenheiten beziehen, den von ihnen repräsentierten Staaten ebenso zuzurechnen sein, wie die Verträge und Abkommen, die vom Generalsekretär der KPdSU für die Sowjetunion mit Staats- und Regierungschefs außerhalb des sowjetischen Hegemonialverbandes abgeschlossen worden sind.

50 An Beispielen von Parteivereinbarungen vgl. B. MeissneT, Die interparteilichen Beziehungen im Ostblock und das Prinzip des "proletarischsozialistischen Internationalismus", Internationales Recht und Diplomatie,

6. Jg., 1961, S. 151 ff.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen in völkerrechtlichen Verträgen deutscher Staaten in Vergangenheit und Gegenwart Von Hellmuth Hecker Die einzelnen Staaten des Deutschen Bundes, des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches haben untereinander und auch mit ausländischen Staaten in den letzten 200 Jahren eine Fülle von Abmachungen über Probleme des Staatsangehörigkeitsrechts getroffen, denen gegenüber die entsprechenden Verträge des Deutschen Reiches, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erheblich zurücktreten. Die Aufgabe der vorliegenden Studie ist es zu zeigen, welche Fragenkomplexe dabei überhaupt regelungsbedürftig erschienen und welche Lösungsmöglichkeiten jeweils gewählt wurden. Nur auf diese Weise läßt sich dann erkennen, ob eine einheitliche oder überwiegende Übung bestand, was Voraussetzung für die weitere - hier nicht erörterte Frage nach einer deutschen Gewohnheitsrechtsbildung wäre. Als Abgrenzung des Begriffes "deutscher Staat" wurde grundsätzlich der Gebietsstand des Deutschen Bundes am 1. 1. 1866 gewählt, und zwar rückwärts unbeschränkt, vorwärts dann unter Ausgliederung der 1866 ausgeschiedenen drei Staaten Österreich, Liechtenstein und Luxemburg. Aus Raumgründen mußte bei einigen Fragenkomplexen auf Ausführung aller parallelen Regelungen verzichtet werden. Aus dem gleichen Grunde wurde davon abgesehen, die Fundstellen der Verträge anzugeben; es kann dabei für alle Verträge mit heute außerdeutschen Staaten auf ein ausführliches Registerwerk verwiesen werden!, zu welchem eine Fortsetzung für die innerdeutschen Regelungen im Manuskript bereits vorliegt. A. Gebietswechse12

Bei Gebietsabtretungen galt in Europa ursprünglich die Bevölkerung als Zubehör des Gebietes, und daher trat ein automatischer Wechsel 1

Hecker, Die StA-regelungen in Europa, Hamburg 1974 (Werkhefte 25).

12 Festschrift Menzel

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Hellmuth Hecker

der Staatsangehörigkeit (StA) jedenfalls aller im abgetretenen Gebiet wohnhaften Personen ein. Nur selten wurde auch nur erwähnt, daß die Bevölkerung durch den Hoheitswechsel auch die StA wechselte (§ 1 Vertrag Frankreichs m. d. Republik Mühlhausen v. 18. 1. 1798; § 2 des Vertrages Waldeck-Preußen v. 29. 3. 1928; Art. 33 Vertrag DänemarkOldenburg v. 14.2. 1842). Dieser Grundsatz des automatischen StA-wechsels wurde durch eine Ausnahme bestätigt, indem den Bewohnern ein Optionsrecht gewährt wurde. Dies wurde ursprünglich durch Auswanderung ausgeübt, wodurch die ursprüngliche StA beibehalten (seltener zurückerlangt) wurde. Erst später, insbesondere im 20. Jh. wurden Option und Abwanderung getrennt. I. Abwanderungsfristen

Die älteren deutschen Verträge enthielten Regelungen über die Fristen, innerhalb welcher die Option durch Abwanderung auszuüben war. Diese variierten zwischen 10 Jahren und einem Jahr: 10 Jahre 6 Jahre

5 Jahre 4 Jahre 3 Jahre

2 Jahre

österr.-bayer. Grenzvertrag v. 2. 12. 1851 (Art. 7) Österr.-französ. Friedensvertrag v. 14. 10. 1809 (Art. 10) Preußisch-französ. Friedensvertrag v. 30.5.1814 (Art. 17) Preußisch-russ. Vertrag über Polen v. 3. 5. 1815 (Art. 4) Österr.-russ. Vertrag über Polen v. 3.5.1815 (Art. 6) Multilateraler Friedensvertrag mit Frankreich v. 20.11. 1815 (Art. 7) = österr.-bayerischer Grenzvertrag v. 14.4. 1816 (Art. 15) Preußisch-österr.-dänischer Friedensvertrag v. 30. 10. 1864 (Art. 19) österr.-preuß. Friedensvertrag über Schlesien v. 28.7.1742 (Art. 3) = Preuß.-niederl. Grenzvertrag v. 26. 6. 1816 (Art. 37) Vorläufiger österr.-französ. Friedensvertrag v. 18.4. 1797 (Art. 6 Z. 2) = Endgültiger österr.-französ. Friedensvertrag v. 17.10.1797 (Art. 9) Württemb.-badische Grenzverträge v. 2. 10. 1810 (Art. 11) u. 28.6. 1843 (Art. 14) Preußisch-österr. Friede v. 15.2.1763 (Art. 10 nur für Glatz)

I Vgl. zu diesem Kapitel: H.-A. Schmidt, StA-wechsel bei Staatenzukzessionen, München 1966 (Diss. Kiel 1966), dort Deutschland, S. 12 - 32: Dort sind nur wenige der deutschen Verträge erwähnt. Ferner K. M. Meesen, Die Option der StA, Berlin 1966 (Schriften zum Öffentl. Recht Bd. 38) und H. JeHinek, Der automatische Verlust der StA durch völkerrechtl. Vorgänge, Berlin 1951 (Beiträge zum ausl. öffentl. Recht u. VR H. 27). über die Gebietsabtretungsverträge Österreichs siehe Swieceny, Das Heimatrecht, Wien 1861, S. 95 - 183.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen 1 Jahr

unbefristet

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österr.-franz.-(sardin.) Friedensverträge v. 10.11.1859 (beide Art. 12). Für außerhalb Österreichs Wohnende war die Frist 2 Jahre Preußisch-bayer. FV v. 22.8. 1866 (Protokoll Ziff. 3) Deutsch-franz. Vertrag v. 2.2.1912 betr. StA in Äquatorialafrika, nur für Eingeborene (dann Wiedererwerb) österr.-poln. Handelsvertrag v. 16. 3. 1775 (Art. 1 - 4), und österr.-sächs. Grenzvertrag v. 5. 3. 1848 (Art. 13)

II. Optionserklärung und -frist Eine Trennung von Optionserklärung und eventueller Abwanderungspflicht findet sich in der Regel erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. Zum ersten Mal taucht dies schon einmal im FV v. Campoformio (Österreich-Frankreich) v. 17.10.1797 (Art. 9) auf: Hier mußte die Abwanderungserklärung (d. h. die Option) bereits in drei Monaten erfolgen, für Abwanderung und Güterverkauf aber wurden 3 Jahre Zeit gewährt. Der nächste Vertrag war der deutsch-französische FV v. 10.5.1871 (Art. 2): Die aus Elsaß-Lothringen Stammenden und dort Wohnhaften konnten nach vorangehender Optionserklärung bis 1. 10. 1872 nach Frankreich abwandern, ohne Grundbesitz veräußern zu müssen. Die Frist wurde für diejenigen, die aus Elsaß-Lothringen stammten, aber in übersee wohnten, bis 1. 10. 1873 verlängert (Vertrag v. 11. 12. 1871, Art. 1). Nach Art. 12 II des deutsch-britischen Vertrages v. 1. 7. 1890 konnten aus Helgoland Stammende durch Erklärung bis 1. 1. 1892 die britische StA wählen, d. h. wiedererwerben. Die meisten Optionsvorschriften enthielt der Versailler Vertrag: dort war die Optionsfrist 2 Jahre (Art. 37, 85, 91, 106, 113). Die Optierenden mußten dann innerhalb einer weiteren Frist von einem Jahr abwandern. Nach der Anlage zu Art. 54 VV gab es einen Optionsanspruch für Frankreich innerhalb eines Jahres. Nach Art. 8 - 9 der Memelkonvention v. 8.5.1924, die gemäß Art. 99 VV von Deutschland anerkannt wurde, bestand die Optionsfrist für Litauen 6, für Deutschland 18 Monate (bei Beamten wiederum 6 Monate). Die für Deutschland Optierenden mußten innerhalb von 2 Jahren ab Option ins Reich abwandern. Nach preußisch-waldeckischem Abtretungsvertrag über Pyrmont v. 29.11. 1921 (Art. 2) und thüringisch-sächsischem Gebietsaustauschvertrag v. 7.12.1927 (Art. 3) bestand im Land, dessen StA sie verlieren, für die Betroffenen ein Anspruch auf Wiederaufnahme (Re-option). Nachdem Ziff. 7 des Münchner Abkommens v. 29.9.1938 ein Optionsrecht in 6 Monaten vorgesehen hatte, bestand nach dem deutsch12'

180

Hellmuth Hecker

tschechischen Vertrag v. 20. 11. 1938 für tschechische StA'e nichtdeutscher Volkszugehörigkeit bis 29. 3.1939 ein Re-Optionsrecht, ebenso umgekehrt für deutsche Volkszugehörige, die tschechoslowakische StA'e blieben, ein Optionsrecht für Deutschland. Minderjährige konnten mit 18 Jahren die Option zurücknehmen. Nach Art. 2 des deutsch-litauischen Vertrages v. 8.7.1939 konnten litauische StA'e litauischer Volkszugehörigkeit bis 31. 12. 1939 für Litauen reoptieren, wobei sie einen Anspruch darauf hatten. Nach Art. 3 des deutsch-slowakischen StA-Vertrages v. 27.12.1939 mußte in 6 Monaten die deutsche oder slowakische StA geltend gemacht werden, widrigenfalls die nach Art. 1 - 2 erworbene StA verlorenging und die Betreffenden staatenlos wurden. Eine Nachfrist bis 14.11. 1941 wurde durch Vertrag v. 14. 1. 1941 gesetzt (Art. 2 - 3). Nach Art. 5 der ersten Anlage zum deutsch-französischen Saarvertrag v. 27.11. 1956 konnten Personen deutscher Staatsangehörigkeit, die am 1. 1. 1957 die saarländische StA besaßen, innerhalb von 2 Jahren die deutsche StA aufgeben, falls sie dadurch nicht staatenlos wurden (Negative Option).

III. Abwanderung und Vermögensverkauf als Optionsjolge In den älteren Verträgen, die nur eine Option durch Abwanderung kannten, mußten die Betreffenden ihr Vermögen verkaufen und durften den Erlös abgabenfrei in den Staat überführen, der das Gebiet abgetreten hatte. Dies war auch noch im VV die Regel. Im deutsch-dänischen Vertrag v. 10.4.1922 hieß es, die Option gelte als nicht erfolgt, wenn der Optant nicht innerhalb des folgenden Jahres in den anderen Staat abgewandert sei. Manchmal wurde eine Auswanderungsfreiheit für jedes Land gestattet (FV mit Frankreich v. 20.11. 1815; deutsch-belg. Schlußprotokoll v. 11. 9. 1922 i. V. m. belgischem Gesetz v. 15.9.1919). Später kam es öfter vor, daß keine Pflicht zum Verkauf des Grundbesitzes und zur Vermögensausfuhr mehr auferlegt wurde (österr.bayer. Vertrag v. 2.12. 1851; österr.-franz. FV v. 10. 11. 1859; deutschfranz. FV v. 10.5.1871; Art. 37 IV Versailler Vertrag; Art. 9 der Memelkonvention). Noch später wurde auch auf eine Abwanderung verzichtet: die Abwanderungspflicht war durch ein reines Options recht ersetzt (WaldeckPreußen v. 29.11. 1921; deutsch-polnisches Oberschlesienabkommen v. 1922, § 32; Thüringen-Sachsen v. 7.12.1927; deutsch-tschechischer Vertrag v. 20. 11. 1938, § 12; deutsch-belgischer Vertrag v. 24. 9.1956).

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

181

IV. Abgrenzung derjenigen, die automatisch die StA wechseln Die Notwendigkeit, den Kreis derjenigen, die durch den Gebietswechsel automatisch die StA wechselten, abzugrenzen, ergab sich bald und führte zu immer detaillierteren Lösungen, so daß der Grundsatz des automatischen StA-wechsels überhaupt angezweifelt wurde. Die deutschen Verträge sehen vor: 10. 9. 1739

4. 8. 1791

17.10.1806

14. 2.1842

9. 7.1868

10. 5. 1871

2. 2.1912

28. 6.1919

3

Österreichisch-türkischer Friedensvertrag (Art. 8): Untertanen aus Serbien und dem Banat, die während des Krieges nach Österreich oder der Türkei kamen, gelten nun als dortige Einwohner. Österr.-türk. Friedensvertrag (Art. 8) - Untertanen, die vor oder während des Krieges in das Gebiet des anderen Staates kamen, gelten als dortige Staatsangehörige und dürfen vom bisherigen Staat nicht mehr beansprucht werden. Württembergisch-badischer Grenzvertrag (Art. 9): Personen aus den abgetretenen Gebieten, die im Heeer des bisherigen Fürsten dienen, sollen an den Staat abgegeben werden, in dem ihr Heimatort jetzt liegt. Dänisch-oldenburgischer Gebietstausch (Art. 26): Im Abtretungsgebiet Wohnende erwerben ohne Untersuchung des Heimatrechts automatisch die neue StA mit der offziellen Gebietsübergabe am 1. 1. 1843. Schwebende Verfahren über das Heimatrecht sollen noch dort entschieden werden, wo sie anhängig waren. Gebietstauschvertrag Preußens mit Sachsen-Altenburg (Art. 4): Alle im Abtretungsgebiet Heimatberechtigten wechseln die StA. Wer kein Untertan des Vertragsstaates ist, aber auf Antrag der anderen Regierung zu übernehmen wäre, ist ebenfalls aufzunehmen oder zu übernehmen. Deutsch-französischer FV: Aus dem Optionsrecht der in Elsaß-Lothringen geborenen \lnd noch Wohnenden zugunsten Frankreichs (Art. 2) ergab sich ihr automatischer StA-wechsel. Nach der Armin-Depesche v. 1. 9. 1872 erwarben auch die in Elsaß-Lothringen Wohnenden, die nicht dort geboren waren, automatisch die deutsche StA3. Deutsch-französischer Vertrag über StA in Äquatorialafrika: Ein automatischer StA-wechsel trat für "gebietszugehörige Eingeborene" der abgetretenen Gebiete ein, dagegen behielten Europäer und nicht-gebietszugehörige Untertanen die deutsche bzw. französische StA. Versailler Vertrag: Bei Wohnsitz im abgetretenen Gebiet bei Inkrafttreten des Vertrages bzw. bei Gebietswechsel trat für deutsche StA'e ein automatischer StA-wechsel ein (Art. 36, 84, 91, 105, 112; Art. 99 i. V. m. Art. 8 Memelkonvention). Detaillierte Sonderregeln brachte die Anlage zu Art. 54 VV (dazu deutsch-franz. Notenwechsel v. 8.3.1939) sowie die entsprechenden bilateralen Verträge Deutschlands mit den Nach-

Französischer Text: Schmidt, S. 14.

182

Hellmuth Hecker

14. 2.1920

29.11.1921

7.12.1927

20.11.1938

8. 7.1939

14. 1. 1941

barstaaten, die aus Raumgründen hier nicht einzeln erörtert werden können. Eine Sperrung des StA-erwerbs wurde öfter für Personen gemacht, die erst später zugezogen waren, hier mußte ein Antrag gestellt werden, dessen Ablehnung Ermessensentscheidung war. Termine des Zuzugs waren: 1. 1. 1908 (Polen); 1. 8. 1914 (Eupen-Malmedy); 1. 10. 1918 (Nordschleswig). Keine solchen Termine gab es für die Tschechoslowakei, Danzig und Meme!. Vertrag zwischen Bayern und Coburg-Gotha über die Abtretung Coburgs (Art. 3): Diejenigen Coburg-Gothaer, die in ganz Bayern oder im Coburger Gebiet wohnen sowie solche, die im Abtretungsgebiet eingebürgert sind, ohne dort jetzt zu wohnen, werden Bayern. Vertrag zwischen Preußen und Waldeck über Abtretung v. Pyrmont (Art. 2): Waldecker, die bei der Abtretung in Pyrmont wohnten oder sich dauernd dort aufhielten, werden Preußen. Vertrag zwischen Thüringen und Sachsen (Art. 3): Wer im jeweils abgetretenen Gebiet wohnte oder sich aufhielt oder wer dort geboren war, aber im Erwerbstaat wohnte, wechselte die StA. Deutschland-CSR (Art. 1): StA'e der CSR erwerben die deutsche StA, wenn sie im Sudetenland am 10. 10. 1938 wohnten und dort vor dem 1. 1. 1938 geboren waren, sowie deren Frauen und Kinder. Deutsche Volkszugehörige, die am 10.10. 1938 außerhalb der CSR wohnten, erwerben die deutsche StA, wenn sie am 10.10.1938 Heimatrecht im Sudetenland hatten. Deutschland-Litauen (Art. 1): Wer am 30.7.1924 deutscher StA'er im Memelgebiet gewesen war oder durch Option für Litauen die deutsche StA verloren hatte oder wer als deutscher Volkszugehöriger durch Option Litauer wurde, erwarb am 22. 2. 1939 automatisch die deutsche StA. Deutschland-Slowakei (Art. 1): Slowakische Volkszugehörige, die bis 14.3.1939 tschechoslowakische StA'e waren und nicht gemäß dem Vertrag v. 27. 12. 1939 in 6 Monaten für Deutschland optiert hatten, erwarben automatisch die slowakische StA, sofern sie diese nach slowakischem Recht schon besessen, aber durch den Vertrag v. 27. 12. 1939 wieder verloren hatten und deutsche StA'e geworden waren.

v.

Besonderheiten

1. Die Deutschen in Südwestafrika, die ihre deutsche StA nach dem VV

behalten hatten, wurden von Südafrika automatisch kollektiv eingebürgert, erhielten jedoch ein Ausschlagungsrecht. Deutschland riet ihnen, davon keinen Gebrauch zu machen und sicherte zu, daß weder durch die automatische Einbürgerung noch durch Nichtgebrauchmachen vom Ausschlagsrecht ein Verlust der deutschen StA

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

183

nach § 25 RuStAG einträte (Deutsch-südafrikanischer Vertrag v. 23. 10. 1923)4. 2. Optanten für Deutschland, die nach Deutschland abwandern mußten, durften bis 1930 nur jährlich 21 Tage im Jahr Polen besuchen (Art. 12 Vertrag Deutschland-Polen v. 30.8.1924). 3. Vom Wehrdienst befreit waren alle von Helgoland Stammenden und deren vor 1. 7. 1890 geborenen Kinder (Art. 12 III deutsch-britischer Vertrag v. 1. 7. 1890). Ebenso waren alle deutschen StA'en in SWAfrika wehrfrei (deutsch-südafrikanischer Vertrag v. 23.10.1923). 4. Schon vor Ablauf der Optionsfrist endete das Optionsrecht durch Optionsverzicht (Art. 4 Vertrag Deutschland-Danzig v. 8.11. 1920). 5. Wer vor 1922 aus Nordschleswig bzw. Oberschlesien nach Deutschland abgewandert war, galt durch konkuldente Handlung als Optant für Deutschland (Art. 1 deutsch-dänischer Vertrag v. 10.4.1922; entspr. Art. 17 deutsch-polnischer Vertrag v. 30. 8. 1924).

6. Alle vor dem Gebietsübergang in Oberschlesien Geborenen, deren Zugehörigkeit nicht festzustellen ist, gelten als StA'e des Geburtsortes (§ 28 Oberschlesienvertrag v. 15. 5. 1922). Alle in Elsaß-Lothringen unehelich Geborenen und alle Personen, deren StA unbekannt ist, erwerben die französische StA (§ 1 Z. 3 Anlage zu Art. 54 VV).

VI. Beibehaltung der bisherigen StA Das Gegenteil eines automatischen StA-wechsels findet sich sehr selten, nämlich ausdrückliche Beibehaltung der bisherigen StA und nur eventuell ein Anspruch, durch Option die StA des Erwerbstaates erwerben zu können. Dies findet sich in 5 Fällen kleinerer Gebiete: 1. So blieben die Bewohner des an Preußen abgetretenen kleinen Jadegebietes Oldenburger und konnten in einem Jahr für Preußen optieren (Vertrag v. 20.7.1853, Art. 8)5.

2. Ebenfalls hatten die Bewohner des zwischen Sachsen-Meiningen und Sachsen-Weimar ausgetauschten Gebietes einen Anspruch, durch Option kostenlos die StA des Erwerbstaates zu erwerben (Vertrag v. 8. 1. 1912, Art. 6). 3. Nach Art. 5 des deutsch-tschechoslowakischen Grenzvertrages v. 31. 1. 1930 trat beim Gebietstausch (2 tschechische und 2 preußische Gehöfte) kein Wechsel der bisherigen StA ein. 4 5

Vgl. Crusen / Maas / Siedler, Das Recht der StA, Berlin 1940, S. 998 - 1002. Näheres s. Schmidt, S. 15.

184

Hellmuth Hecker

4. Nach Art. 3 des deutsch-belgischen Grenzvertrages v. 24.9.1956 6 behielten die Deutschen mit Wohnsitz am 28.8.1958 im an Belgien abgetretenen Gebiet ihre deutsche StA und konnten innerhalb von 2 Jahren für Belgien optieren, womit die deutsche StA automatisch verlorenging. Weitere Voraussetzungen der Option, wie im unten folgenden Vertrag, wurden nicht gemacht. Dafür hieß es noch: Auch wer nicht für Belgien optierte, konnte dort wohnen bleiben und seinen Besitz behalten, hatte indes das Recht, innerhalb von 2 Jahren nach Deutschland abzuwandern. Diese Regelung betraf etwa 60 Personen. 5. Nach Art. 11 des deutsch-niederländischen Grenzvertrages v. 8.4. 19607 behielten die Deutschen mit Wohnsitz im abgetretenen Gebiet am 30.6. 1959 und 1. 8. 1963 ihre deutsche StA, konnten aber innerhalb von 2 Jahren unter Verzicht auf die deutsche StA für die niederländische StA optieren, falls sie über 18 Jahre waren und bei der Option noch in den Niederlanden wohnten. Die Option erstreckte sich auf Kinder unter 18 und, falls die Ehefrau einwilligte, auf diese. Diese ganz umständliche Regelung betraf aber nur 23 Personen.

VII. Wohnsitz-Bestimmung Bei den StA-Vorschriften anläßlich eines Gebietswechsels wurde immer wieder die Frage des Wohnsitzes problematisch, da hiervon der StA-wechsel abhing. Bei mehreren Wohnsitzen mußte eine Entscheidung für einen von ihnen gefunden werden. Hierbei gab es keinen allgemeinen Grundsatz, sondern es kommen alle Variationsmöglichkeiten vor: 1. Bei Wohnsitzen in mehreren Staaten wurde autoritativ entschieden, daß der Wohnsitz in einem Staat unberücksichtigt bleibt. So galt der deutsche Wohnsitz nicht nach Vertrag mit Dänemark vom 10.4. 1922 (Art. 1) und nach Vertrag mit Danzig vom 8.11. 1920. Jedoch wurde zu letzterem Vertrag durch Zusatzprotokoll v. 17.12.1921 vereinbart, daß kein Doppelwohnsitz vorliegt, wenn bei mehreren Niederlassungen nur an einer der Schwerpunkt ist, womit die autoritative Entscheidung des Vertrages durch das unter Nr. 3 zu erörternde Schwerpunktprinzip ersetzt wurde. 2. Bei einem einzigen Vertrag, in § 11 des deutsch-tschechoslowakischen StA-Vertrages v. 20.11. 1938, wurde bei mehreren Wohnsitzen eine freie Wahl für einen vorgesehen: es war der Ort maßgebend, den der Betreffende als "Wohnsitz" bezeichnete. Eine Frist war nicht 8 7

Näheres s. Makarov, Deutsches StAR, Frankfurt/Main 1971, S. 577 - 581. Näheres s. Makarov, S. 588 - 593.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

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vorgesehen. Die Behörde, bei der die Erklärung abzugeben war, sowie die Möglichkeit einer stillschweigenden Wahl wurde in den deutschen Ausführungsvorschriften v. 25. 5. 1939 geregelt (Nr. 8). 3. Gegenüber den extrem subjektiven Lösungen zu 1 (Diktat) und 2 (Freiheit) ist die Mittellösung einer Anknüpfung an objektiven Kriterien die am meisten verbreitete. Es wurde bei mehreren Wohnsitzen an den überwiegenden angeknüpft, an den sachlichen Schwerpunkt oder an den zeitlichen Schwerpunkt (z. B. 5 Monate Sommerwohnsitz auf dem Lande, 7 Monate Stadtwohnsitz). Entscheidend war der Ort der Haupttätigkeit (Art. 5, Vertrag mit der Slowakei v. 27.12.1939), der Ort "mit dem Schwerpunkt der persönlichen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse" (§ 2 Vertrag mit Belgien v. 11. 9. 1922; § 29 des Oberschlesienabkommens v. 15.5.1922; Art. 1 Vertrag mit der CSR v. 29. 6. 1920). War ein solcher Schwerpunkt nicht feststellbar, dann galt wieder die subjektive Wahl, die innerhalb v. 6 Monaten schriftlich gegenüber bestimmten Behörden abzugeben war und damit den Inhalt einer StA-Option hatte (Art. 1 111 Vertrag v. 29.6.1920 mit der CSR; § 29 v. 15. 5. 1922). § 29 des Oberschlesienabkommens bestimmte dazu noch hilfsweise, daß nach 6 Monaten, wenn keine Erklärung abgegeben wurde, derjenige Wohnsitz nicht berücksichtigt wurde, welcher einen Erwerb der polnischen StA zur Folge hatte.

B. Umsiedlungen8 1. Der erste deutsche Vertrag, der eine Art Umsiedlung vorsah, war der Zusatzvertrag mit der Ukraine v. 9.2.1918. Dort war in Art. 18 vorgesehen, daß Angehörige eines Teils, die aus dem anderen stammen (d. h. wohl insb. Volksdeutsche der Ukraine) innerhalb von 10 Jahren zurückkehren können. Ein Verlust der bisherigen StA soll nur auf Antrag eintreten. Die gleiche Vorschrift enthielt Art. 21 des entsprechenden Zusatzvertrages Deutschlands mit der RSFSR v. 3. 3. 1918. 2. Der StA-Vertrag mit der CSR v. 20.11. 1938 sah in § 2 folgendes vor: beide Regierungen konnten verlangen, daß bestimmte Personen ohne Volkszugehörigkeit zum anderen Staat das Gebiet des einen Staates innerhalb 3 Monaten verließen. Sie mußten vom anderen Staat übernommen werden. Die die CSR Verlassenden 8 Vgl. die Texte in: Hecker, Die Umsiedlungsverträge des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges, Hamburg 1971 (Werkhefte 17).

186

Hellmuth Hecker

verloren damit ihre tschechoslowakische StA. Jedoch war am 4.3. 1939 vereinbart worden, daß § 2 vorläufig nicht anwendbar sein sollte. 3./4. Die Umsiedlungsverträge wegen der Baltendeutschen mit Estland v. 15. 10. 1939 (Art. 1) und Lettland v. 30. 10. 1939 (Art. 1 - 5) bestimmten: Die Umsiedler wurden aus ihrer bisherigen StA entlassen, waren dann staatenlos und wurden von Deutschland im Wege individueller Verleihung eingebürgert. Der Umsiedlungsantrag wurde von der deutschen Gesandtschaft mit einem Vermerk versehen, daß Deutschland gewillt sei, die Betreffenden einzubürgern (Art. 1 Vertrag mit Estland). Im Vertrag mit Lettland hieß es, Deutschland verpflichte sich zur Einbürgerung (Art. 1). Wenn ein Ehegatte Baltendeutscher war und der andere Lette, der aber auch einen Umsiedlungsantrag stellte, dann wurde er von Lettland ebenfalls als Umsiedler anerkannt (Zusatzprotokoll, § 2). 5. Der Abwanderer-Vertrag mit Ungarn v. 29.5. 1940 enthält keine direkte StABestimmung: In Art. VI heißt es, daß deutsche und tschechische Volkszugehörige in dem von Ungarn annektierten Gebiet der CSR, die bis 1939 tschechoslowakische StA'e waren und nicht die ungarische StA erwarben, aber nach Deutschland oder dem Protektorat abwanderten oder abzuwandern beabsichtigten, innerhalb von 3 Monaten die wirtschaftlichen Vergünstigungen des Vertrages genossen. Ferner war in Ziff. III des Protokolls über die Rechtsstellung der deutschen Volksgruppe in Ungarn v. 30.8.1940 vorgesehen, daß Volksdeutsche aus dem ehemals rumänischen Gebiet innerhalb von 2 Jahren nach Deutschland umgesiedelt werden konnten, unter Mitnahme ihres Vermögens. über die StA war nichts geregelt, Einzelheiten der Umsiedlung sollten vielmehr zwischen beiden Regierungen festgesetzt werden. 6. Im Umsiedlungsvertrag mit Rumänien über die Volksdeutschen in der Südbukowina und der Dobrudscha v. 22.10.1940 hieß es in Punkt 1 des Zusatzprotokolls, daß die Umsiedler im vereinfachten Verfahren aus der rumänischen StA entlassen werden sollten (zu Art. 2 § 5). Ein Ergänzungsvertrag v. 27./30.5. 1941 erweiterte den Kreis der Umsiedlungsberechtigten auf aus Bessarabien und der Nordbukowina stammende Volksdeutsche, auch wenn sie nur früher die rumänische StA besessen hatten. Bei Staatenlosen entfalle die Entlassung aus der rumänischen StA. Bestimmte Reichsdeutsche wurden auch zur Umsiedlung zugelassen.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

187

7. In Ziff. 2 des Umsiedlungsvertrages mit Bulgarien v. 22.1. 1943 hieß es, die betreffenden Volksdeutschen verlören mit dem endgültigen Grenzübertritt die bulgarische StA, falls sie diese besaßen. 8. In Art. 4 des Umsiedlungsabkommens mit Kroatien v. 30.9. 1942 hieß es, die betreffenden Volksdeutschen verlören bei endgültigem Verlassen Kroatiens ihre kroatische StA. Die deutsche StA würde nach näheren Bestimmungen erworben werden können. Ferner konnten nach Vertrag v. 11. 8. 1943 kroatische Volkszugehörige aus den von Deutschland annektierten Gebieten Sloweniens nach Kroatien umsiedeln und verloren die deutsche Schutzangehörigkeit oder StA beim Verlassen des Reichsgebiets. Die kroatische StA würde nach näheren Bestimmungen erworben werden können. 9. Nach einem Umsiedlungsvertrag mit Italien v. 31. 8. 1941 betreffend die Volksdeutschen der Provinz Laibach hieß es, die Betreffenden könnten frei ins Reich abwandern, um dort die deutsche StA zu erwerben; sie verlören die italienische StA mit der endgültigen Abwanderung (Art. 1). Die Umsiedlungsoption des Familienhauptes galt auch für Angehörige. 10. Die Umsiedlung der Südtiroler 9 nach Deutschland ist nicht in einem Umsiedlungsvertrag geregelt, sondern in zahlreichen Verwaltungsabmachungen von 1939 bis 1941. Diejenigen, die für Deutschland optierten, mußten die Entlassung aus der italienischen StA samt Abwanderung nach Deutschland und dortige Einbürgerung beantragen. Mit der Einbürgerung verloren sie die italienische StA. Problematisch waren nur die Fälle, in denen bereits auf italienischem Boden eine deutsche Einbürgerungsurkunde ausgestellt wurde, dann aber eine Abwanderung unterblieb: auch bei ihnen ist ein Erwerb der deutschen StA aber trotz § 8 RuStAG anzunehmen. 11. Die weiteren deutschen Umsiedlungsverträge, nämlich 4 Verträge mit der SU, enthalten keinerlei Regelung der StA; die Umsiedler wurden von Deutschland eingebürgert und von der SU damit stillschweigend als ausgeschieden betrachtet.

9 Näheres hierzu s. Doerner / Hecker, Das StAR Italiens, Frankfurt/Main 1967, S. 71 - 96 (SGS Bd. 27).

188

Hellmuth Hecker C. Doppelstaater

I. Multilaterale Abkommen zur Verringerung der Doppelstaatigkeit lO

Schon die Haager StA-Konferenz v. 1930 empfiehlt in ihrem Schlußprotokoll, daß die Staaten für Doppelstaater den Verzicht auf die StA des Nichtwohnsitzes erleichtern (Empfehlung Nr. 4) und daß eine Einbürgerung den Verlust der bisherigen StA nachsichziehe (Empfehlung Nr. 5). Demgemäß kam es zu einer UN-Konvention über die Verminderung der Staatenlosigkeit v. 30.8. 1961, die seit 13. 12. 1975 in Kraft ist. Ferner kam es am 6.5.1963 zu einer Europakonvention zum gleichen Thema, der 4 der 5 Partner des UN-Abkommens auch beitraten. Diesem Abkommen, und nur diesem, ist auch Deutschland beigetretenl l • Es bestimmt: 1. Freiwilliger Erwerb einer zweiten StA einer Vertragspartei führt zum Verlust der bisherigen StA; Beibehaltung der bisherigen StA ist zu versagen. Das gilt bei Minderjährigen nur, wenn deren Heimatrecht dann einen StA-verlust vorsah. Nur Ledige und nicht verheiratet gewesene Minderjährige verlieren ihre StA, wenn die Eltern eingebürgert werden; der Verlust kann dabei von der Zustimmung des anderen Elternteils zum Erwerb der neuen StA abhängig gemacht und Wiedererwerb kann erleichtert werden (Art. 1).

2. Doppelstaater können auf eine StA nur verzichten, wenn der betreffende Staat zustimmt. Die Zustimmung darf Volljährigen, die 10 Jahre im Ausland wohnten und jetzt im Staat der zweiten StA wohnen, nicht versagt werden. Das gleiche gilt für Minderjährige dann, falls deren Heimatrecht einen Verzicht vorsieht (Art. 2).

11. Doppelstaater und ius soli

1. Da in vielen Staaten, insb. Südamerikas, ius soli galt, so daß dort geborene Kinder von Deutschen Doppelstaater wurden, kam es vor dem Ersten Weltkrieg zu 5 Verträgen Deutschlands mit lateinamerikanischen Staaten, und zwar mit 4 der damaligen 5 zentralamerikanischen Staaten (ausgenommen EI Salvador) sowie mit Bolivien. Diese Verträge 12 waren wie folgt in Kraft: 10 Texte und Material: Hecker, Mehrseitige Verträge zum StAR, Frankfurt/Main 1970 (SGS Bd. 30). 11 Dazu Makarov: Die Behandlung staatsangehörigkeitsrechtlicher Fragen im Europarat, in: ZaöRV 1973, S. 108 - 124. 12 Näheres: emsen / Maas / Siedler, S. 718 -719.

Die Regelung von staatsangehörigkeitsfragen 1. 2. 3. 4. 5.

Art. Art. Art. Art. Art.

189

11: Costa Rica vom 18. 5. 1875: in Kraft 21. 11. 1876 - 30. 11. 1897 10: Guatemala vom 20. 9. 1887: in Kraft 26. 6. 1888 - 15. 3. 1915 10: Honduras vom 12.12.1887: in Kraft 2. 7.1888 -19. 6.1918 10: Nicaragua vom 4.2.1896: in Kraft 7. 4.1897 - 13. 12. 1941 6 -7: Bolivien vom 22. 7.1908: in Kraft 25. 10.1910 -13. 4.1917

Das Grundprinzip der ersten 4 Verträge war: die in jenen Ländern geborenen ehelichen Söhne von Deutschen erwarben ausnahmsweise nur die deutsche StA (ius sanguinis), aber nicht die dortige StA kraft ius soli. Durch Notenwechsel von 1928 hat Guatemala anerkannt, daß der in Art. 10 gleichlautende Begriff "hijos" (Kinder o. Söhne) auch die Töchter (hijas) umfaßt. Dies alles gilt aber nach den drei mittleren Verträgen nur für die erste Generation: die 2. im Lande geborene Generation erwarb nicht mehr die deutsche StA, sondern nur die dortige StA (ius soli): Hier verzichtet Deutschland zur Beseitigung der Doppelstaatlichkeit auf seine StA. Die Söhne mußten ein Jahr nach Volljährigkeit, also zwischen 21 und 22 Jahren, nachweisen, daß sie Wehrdienstvorschriften erfüllten. Taten sie es nicht, so konnten sie von dem dortigen Staat als seine Bürger beansprucht werden. Guatemala erkannte 1928 an, daß während des Ersten Weltkrieges ein solcher Nachweis nicht nötig war, so daß kein StA-wechsel eintrat. Der Vertrag mit Costa Rica hatte die Besonderheit, daß der Sohn zwischen 21 und 22 direkt für die StA seines Geburtslandes optieren konnte, womit er seit Geburt als dortiger StA'er galt (ex tune). Ferner kannte dieser Vertrag keine Beschränkung nur auf die erste Generation. Der Vertrag mit Bolivien bestimmte: Die in Bolivien geborenen Kinder Deutscher wurden Doppelstaater, konnten aber innerhalb eines Jahres nach Volljährigkeit für eine der beiden StA'en optieren (ex nune). Bis zur Volljährigkeit sollten die Söhne nicht wehrpflichtig sein. Ein Notenwechsel v. 8.5.1935 regelte Näheres über die Option. 2. über das ius soli, das oft zu Doppelstaatigkeit führt, wurde in den Wiener Protokollen für Diplomaten (18.4.1961) bzw. Konsuln (24.4. 1963) bestimmt, daß bei ihnen kein Erwerb kraft ius soli eintritt; das galt auch für Familienangehörige und das gesamte Personal. Deutschland ist Partner beider Protokolle, und zwar des Diplomaten-Protokolls ab 11. 12. 1964, des anderen ab 7. 10. 1971.

III. Doppelstaaterverträge der DDR Wie zahlreiche Ostblockstaaten untereinander bilaterale Verträge zur Verminderung der Doppelstaatigkeit geschlossen haben, so auch die DDR. Sie schloß 4 solcher Verträge, und zwar:

Hellmuth Hecker

190 1) 2) 3) 4)

11. 4. 1969, Sowjetunion, i. K. ab 13 .2. 1970 17.12.1969, Ungarn, i. K. ab 8.7.1970 1. 10. 1971, Bulgarien, i. K. ab 11. 5. 1972 10. 10. 1973, Tschechoslowakei, i. K. ab 31. 3. 1974

Alle Verträge sehen ein Wahlrecht der betreffenden Doppelstaater vor. Wer von dem einjährigen Wahlrecht keinen Gebrauch machte, behält nur die StA des Ortes, an dem er bis Ablauf dieser Frist wohnte. Personen, die in dritten Staaten wohnen, behalten nur die StA des Staates, in dem sie vor der Ausreise wohnten. Auf nähere Einzelheiten 13 einzugehen, verbietet sich aus Raumgründen.

IV. Wehrdienst v. Doppelstaatern14 1. Ein Vertrag zwischen Baden und Württemberg v. 5.12.1860 bestimmte: Mitglieder des ehemaligen reichs ritterlichen Adels, die 1803 durch Souveränitätsunterwerfung (Mediatisierung) Doppelstaater wurden, weil sie Grundbesitz in Baden und Württemberg hatten, brauchten nur in einem Staat Wehrdienst zu leisten, und zwar entschied der Ort, an welchem am 1. Juli des Jahres, in dem das 20. Lebensjahr vollendet war, Wohnsitz bestand. Hilfsweise galt Wohnsitz des Vaters, der Mutter oder derer letzter Wohnsitz in beiden Staaten für die Zuteilung der Wehrpflicht. Die doppelte StA wurde durch den Wehrdienst nicht beseitigt, weil Baden in dem von ihm übernommenen Code Civil (Art. 21) bestimmte, daß nur ungenehmigter Auslandskriegsdienst zum StA-Verlust führte: die Genehmigung lag hier in dem Vertrag v. 1810. Das gleiche galt für Württemberg (§ 34 der Verfassung v. 1819).

2. Im deutsch-amerikanischen Handelsvertrag v. 8.12.1923 war bestimmt: Beim Krieg Deutschlands oder der USA mit einem Drittstaat können beide Vertragspartner Angehörige des anderen Staates, die auf ihrem Gebiet wohnen und dort StA-erwerb beantragten (Einbürgerungsaspiranten) einziehen, falls diese nicht 60 Tage nach Kriegsbeginn abwandern. - Nur indirekt werden StA-fragen von anderen Handelsverträgen betroffen, die eine Befreiung von der Wehrpflicht im Aufenthaltsland vorsahen: Doppelstaater waren danach in Deutschland nicht wehrpflichtig (Beispiel: Art. 4 des deutsch-schwedischen Handelsvertrages v. 2. 5. 1911). 3. Eine Militärkonvention Preußens mit Mecklenburg-Schwerin v. 19.12.1872 bestimmte: Die StA der in Mecklenburg garnisonieren13 Geilke, Das StAR der SU, Frankfurt/Main 1964, S. 194 -199 (SGS Bd. 25); Gelberg, in: Polish YBIL 1966/7, S. 86 -110. 14 Dazu: Schätzel, Wehrpflicht und StA, in: Festschrift Kraus, 1954, S. 179189.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

191

den Militärbeamten richtet sich nach dem Bundes-StAG v. 1870, insb. nach § 9 (StA-erwerb eines Ausländers durch Staatsdienst, sofern nicht ein Vorbehalt in der Bestallung ausgedrückt ist). Entsprechendes galt für Mecklenburger, die außerhalb Mecklenburgs angestellt wurden (Art. 8). Die gleiche Konvention wurde am 23.12. 1872 mit Mecklenburg-Strelitz geschlossen. 4. Durch deutsch-dänischen Notenwechsel v. 28. 10. 1926 wurden deutsche StA'e in Dänemark, die nicht die volle dänische StA, sondern nur ein beschränktes Indigenat besaßen, vom Wehrdienst befreit. Diese Regelung hängt noch mit den StA-fragen nach 1864 und 1920 zusammen. 5. Während Deutschland das Haager Militärprotokoll über Wehrdienst v. Doppelstaatern v. 12.4.1930 zwar unterzeichnete, aber nie ratifizierte, trat die Bundesrepublik Deutschland der Europarats-Konvention15 v. 6. 5. 1963 (i. K. f. Dtschld. ab 18. 12. 69) bei, welche in Art. 5 - 6 ähnliche Vorschriften über die Wehrpflicht von Doppelstaatern enthält. Der Grundsatz beider Abkommen ist, daß Doppelstaater nur in dem Staat ihres Wohnsitzes dienen müssen. Während aber das Haager Abkommen eine Aberkennung der StA wegen Wehrpflicht im anderen Staat vorsah (Art. 1), heißt es in Art. 6 (6) der Europarat-Konvention, daß durch den Wehrdienst StA-fragen nicht berührt würden.

v.

Doppelstaater und Dienst in der Waffen-SS

Die Frage, ob fremde StA'e, die in der deutschen Waffen-SS dienten, einen StA-wechsel erlitten, wurde nur in Verträgen mit 2 Staaten, nämlich Rumänien und Ungarn, geregelt, und zwar nur für Volksdeutsche: Der Vertrag über den Dienst rumänischer Volksdeutscher in der Waffen-SS v. 12.5.1943 bestimmte sehr einfach, daß diese ihre rumänische StA behielten (Art. 2)16. Die Regelung mit Ungarn 17 war dagegen ungleich komplizierter: Der erste Vertrag v. 24.2.1942 bestimmte, die Betreffenden sollten nach der Musterung die Entlassung aus der ungarischen StA bean15 s. o. Anm. 11; ferner Knuth, Die Wehrpflicht von Doppelstaatern nach dem europäischen übereinkommen v. 6.5.1963, in: Bundeswehrverwaltung

1967, 5.178 - 180.

Über dies Abkommen: Hecker, in: Varia iuris publici, Bd. 31, S. 265 ff. Die Darstellung v. 1965 in SGS Bd. 22, S. 65 - 69 konnte das hier aufgeführte Material noch nicht voll benutzen, das in Dokumente der Vertreibung, Bd. 5 (Jugoslawien) veröffentlicht wurde. 10

17

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tragen (Art. 3). Mit dem Eintritt in die Waffen-SS erwarben sie die deutsche StA (Art. 5, d), womit nach dem ungarischen StAG die ungarische StA auf jeden Fall automatisch verlorenging. Ein Notenwechsel dazu v. 3.12.1942 klärte, daß später für untauglich Befundenen von Ungarn die Rückbürgerung verweigert wurde. Ein zweiter Notenwechsel v. 1. 3. 1943 entschied, daß Frau und minderjährige Kinder des Freiwilligen trotz dessen Erwerb der deutschen StA die ungarische StA behielten. Der zweite Vertrag v. 22.5. 1943 faßte das wie folgt: Die Freiwilligen erwarben die deutsche StA und verloren die ungarische bei Verladung nach Deutschland. Die StA ihrer Angehörigen wurde bis Kriegsende zurückgestellt, d. h. sie blieben Ungarn (Art. 5). Der dritte Vertrag v. 14.4.1944 brachte einen Wendepunkt: Die Freiwilligen behielten, obwohl sie durch den Eintritt in die Waffen-SS die deutsche StA erwarben, die ungarische und dies galt rückwirkend auch für alle bisherigen Freiwilligen (Art. 12). Sie wurden also sämtlich Doppelstaater, ein Verlust der ungarischen StA trat nicht ein, auch nicht bei inzwischen Verstorbenen. Ein vierter Vertrag betraf weibliche SS-Helferinnen (1. 6. 1944). Darin wurde festgelegt, daß sie überhaupt keinen StA-wechsel erlitten: sie behielten die ungarische und erwarben nicht die deutsche (Art. 10 I). Die Verträge spiegeln also alle Möglichkeiten: nur deutsche StA (Vertrag 1 - 2), Doppelstaater (Vertrag 3), Beibehaltung der ungarischen StA (Vertrag 4).

VI. Doppelstaater wegen Grundbesitz, insb. in Polen 18 1. In einem Handelsvertrag Österreichs mit Polen v. 16.3. 1775 wurde

erstmals das Problem der Personen mit doppelter StA behandelt, die Grundbesitz in beiden Staaten hatten, insb. Adlige. Nach Art. 2 hieß es, daß sie frei wählen können, wo sie leben wollen. Über StAVerlust durch die Wahl wurde nichts gesagt.

2. Im Sistower Frieden Österreichs mit der Türkei v. 4. 8. 1791 wurde schon schärfer vorgesehen, daß solche Doppelstaater einen einzigen Wohnsitz wählen müssen und den Grundbesitz im anderen Staat zu verkaufen haben (Art. 8). Damit wurde ein StA-Verlust impliziert. 3. Durch den Preßburger Vertrag v. 26. 1. 1797 zwischen Preußen und Rußland über die 3. Teilung Polens, welchem der Deutsche Kaiser (Österreich) gemäß Art. 15 beitrat, wurde bestimmt, daß Personen, die wegen Grundbesitzes in mehreren Staaten sog. sujets mixtes 18

Vgl. Swieceny (s. o. Anm. 2), insb. S. 97 und 146.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

193

sind, innerhalb von 5 Jahren für eine einzige StA optieren mußten, und zwar unwiderruflich (Art. 11). Gleichzeitig mußten sie ihre Güter in den anderen Staaten verkaufen (Art. 12). Diese harten Vorschriften wurden nach übereinkunft der drei Partner 1801 aufgehoben: damit war also die Doppelstaatigkeit anerkannt. 4. Auf Grund der Wiener Kongreßakte wurden am 3.5.1815 zwei Verträge über Polen geschlossen: Ein österreichisch-russischer Freundschaftsvertrag und ein preußisch-russischer Vertrag, dem Österreich beitrat. Beide Verträge enthielten übereinstimmende Vorschriften für Doppelstaater (Art. 10 ff. des 1. Vertrages = Art. 8 ff. des 2.): Doppelstaatigkeit wurde in Zukunft nur hinsichtlich des Eigentums anerkannt (Art. 10). Innerhalb eines Jahres mußten diese Doppelstaater für Wohnsitz in einem Staat optieren, womit die andere StA erlosch (Art. 11). Wer keine solche schriftliche Optionserklärung abgab, wurde so angesehen, als habe er stillschweigend für den Staat seines letzten Wohnsitzes optiert (Art. 13). Innerhalb von 8 Jahren konnte eventuell noch einmal die StA gewechselt werden, wenn der Staat, den er neu wählte, dem zustimmte (Art. 14). Ein Verkauf des Besitzes war nicht mehr nötig (Art. 15). D. Abgrenzungen von Staats- und Familienzugehörigkeit Hierbei geht es um die Frage, wer im Verhältnis zu einem anderen Staat durch Geburt oder familienrechtliche Vorgänge eine bestimmte StA besitzt, weil sich daran insb. auch die Armenfürsorge knüpfte. I. Die deutschen Vbernahme-Verträge 1816 -1850 Die meisten StA-Verträge deutscher Staaten untereinander betreffen die übernahme Ausgewiesener. Um die übernahmepflicht zu klären, mußte genau abgegrenzt werden, welche Personen in einem solch nahen Verhältnis zu dem Staate standen (Geburt dort, Abstammung, früherer StA-Besitz), daß eine übernahme, und d. h. oft Versorgung, Pflicht war. Da es sich bei solchen Ausgewiesenen vorwiegend um Vagabunden handelte, finden sich in den Registern der Gesetzesblätter der deutschen Staaten die älteren vertraglichen Regelungen der StA unter dem Stichwort "Vagabunden". Der erste derartige Vertrag über das sog. Schubwesen mit StA-Bestimmungen wurde von den 3 größten süddeutschen Staaten (Baden, Württemberg, Bayern) am 7.3.1816 geschlossen, dem Hessen-Darmstadt, Hohenzollern-Sigmaringen, Frankfurt, Nassau und Waldeck bis 1822 beitraten, so daß dies der erste multilaterale Vertrag dieser Art wurde. Ihm folgten zahllose weitere bilaterale Verträge, die teils übernahme älterer Verträge, teils Ergänzungen und Auslegun13 Festschrift Menzel

194

Hellmuth Hecker

gen, teils Neufassungen darstellten. Die meisten solcher Verträge schloß Preußen (den ersten am 9. 5. 1918 mit Bayern), nämlich mit 24 deutschen Staaten, ausgenommen die 4 Freien Städte, die 4 Grenzländer (Holstein, Lauenburg, Luxemburg, Liechtenstein), 3 süddeutsche Staaten (beide Hohenzollern, Baden) sowie Hessen-Homburg und Schwarzburg-Rudolstadt. Des weiteren schlossen fast alle Staaten des Deutschen Bundes untereinander solche Verträge, so daß ein derart unübersichtliches Netz entstand, daß der Ruf nach einem multilateralen Vertrag schon ab 1819 immer wieder ertönte. Der letzte derartige bilaterale Vertrag wurde noch am 31. 12.1850 zwischen Preußen und Sachsen geschlossen.

11. Besonderheiten Aus der Fülle der eben genannten Verträge, auf deren Einzelheiten hier nicht eingegangen werden kann, ragen drei Komplexe heraus, die Besonderheiten regeln, weil sie nicht primär die Ausgewiesenen betreffen: 1. Am 23.8.1808 schloß Baden einen Vertrag mit 11 Schweizer Kantonen (6 weitere traten bis 1821 bei) über wechselseitige Heiraten. Badischen StA'en wurde die Eheschließung in der Schweiz nur erlaubt, wenn sie dort einen Heimatschein vorlegten, daß sie auch nach der Eheschließung samt Familie von Baden wieder aufgenommen würden. Das heißt, die Schweizer Frau erwarb durch die Ehe automatisch die badische StA, ohne daß es einer Einbürgerung bedurfte. Der Heimatschein mit obiger Erklärung war sozusagen die vorgezogene Einbürgerungsurkunde der künftigen Ehefrau, somit auch der ehelichen Kinder, ungeachtet deren Geburt im Ausland sowie der Eheschließung im Ausland. Entsprechendes galt umgekehrt für die Schweiz. Wenn trotzdem ohne solchen Heimatschein eine kirchliche Ehe geschlossen wurde, so hatte der jeweilige Staat die Pflicht, die Betreffenden bei sich zu dulden und zu unterstützen und durfte sie nicht ausweisen. Ein Vertrag des Deutschen Reiches mit der Schweiz v. 4.6.1886 beinhaltete den Verzicht auf Beibringung solcher Trauerlaubnisscheine (Art. 1): bei Mischehen war nicht mehr der Nachweis nötig, daß die StA auf Frau und Kinder übertragen wurde und daß diese dann eventuell aufgenommen würden. 2. Vertrag Oldenburg-Lübeck v. 25./26.8. 1835 über StA im Verhältnis zum Fürstentum Lübeck (außer Kraft 1860 durch den Gothaer Vertrag). Durch Geburt erwarben Kinder die StA des Vaters (uneheliche die der Mutter). Kinder, die von unbekannten und staatenlosen Eltern geboren oder (wenn dies zweifelhaft) getauft wurden, gelten als StA'e des betreffenden Staates (§ 1).

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

195

Die Ehefrau erwarb stets die StA des Mannes und behielt auch diejenige StA des Mannes, die dieser bei Scheidung oder Nichtigerklärung der Ehe hatte (§ 2). Bei StA-änderungen folgen eheliche, adoptierte und legitimierte Kinder dem Vater, uneheliche der Mutter auch dann, wenn diese heiratete (mit 5 Ausnahmen) (§ 3). Für Eheschließung war im anderen Staat Einwilligung der eignen Behörde nötig. Bei Zuwiderhandeln konnte der Heimatstaat frei entscheiden, ob er den Betreffenden und seine Angehörigen noch als StA'e oder als ausgebürgert betrachten wollte (§ 7). 3. In einigen Militärkartellverträgen der Rheinbundstaaten v. 1812 findet sich in § 1 folgende Klausel: Ein Deserteur gilt als Untertan des Staates, in dem er geboren oder größtenteils erzogen oder aufgenommen wurde (Verträge Würzburgs mit Baden, Frankfurt, Bayern, Sachsen-Coburg u. Sachsen-Hildburghausen).

IH. Der Gothaer Vertrag t9 Nachdem der letzte der bisherigen bilateralen Verträge am 31. 12. 1850 geschlossen wurde, kam es in Gotha am 15.7.1851 zum Vertrag wegen gegenseitiger Verpflichtung zur Übernahme der Auszuweisenden, kurz Gothaer Vertrag genannt. Diesem multilateralen Vertrag (in Kraft 1.1.1852), der zum ersten Mal Grundzüge eines deutschen Indigenats enthielt, traten bis 1860 alle Staaten des deutschen Bundes bei, ausgenommen nur vier Grenzländer, und zwar 2 Staaten, die bald darauf 1866 aus dem Gebilde "Deutschland" ausschieden (Österreich, Liechtenstein), und 2 Staaten, die bald in Preußen aufgingen (Holstein 1866, Lauenburg 1876). Auch Luxemburg trat (ohne das 1839 zum Deutschen Bund gekommene Limburg) bei. Zu dem Vertrag (samt Schlußprotokoll) ergingen dann noch 3 Zusatzprotokolle: 25.7.1854; 15.1.1855 (dies von Bayern nicht angenommen) mit Änderungen v. 11. 4.1859 und 6.3.1860; 29.7.1858 (letzteres ohne StAB). Nach § 13 II des Vertrages traten alle früheren Regelungen der Vertragspartner außer Kraft (die Österreichs und Holsteins blieben also bestehen). Die Grundsätze des Gothaer Vertrages sind: § 1 Übernommen wurden außer eignen StA'en auch alle früheren StA'en, die

nicht die StA des anderen Staates erworben hatten.

§ 2 Wer nie die StA eines Vertragsstaates besaß, muß dort übernommen

werden, wo er ab 21. Jahr fünf Jahre gewohnt oder geheiratet und dort mindestens 6 Wochen eine gemeinsame Wohnung gehabt hat oder wo er geboren ist. Geburt galt nur subsidiär. Bei Zusammentreffen der ersten beiden Fälle galt der neuere.

19 A. Müller, Die übereinkunft der deutschen Bundesstaaten v. 15.7.1851, 2. Aufl., Stuttgart 1863.

13·

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§ 3 Ehefrauen folgen den Vorschriften für den Mann nach § 1 - 2, für Witwen

gilt das Verhältnis des Mannes bei seinem Tode, für Geschiedene das bei der Scheidung. .

Eheliche und legitimierte Kinder folgen bis zum 21. Jahr dem Vater (dazu Näheres in Ziff. 3 des Protokolls v. 1854). § 5 Uneheliche Kinder folgen dem Untertanen-Verhältnis der Mutter zur Zeit der Geburt. Gehörte die Mutter damals keinem Vertrags staat an, so gilt § 2. § 6 Liegt keiner der Fälle des § 2 vor, so muß der Staat, in welchem der "Heimatlose" (so ausdrücklich!) sich aufhält, ihn behalten. Frauen und Kinder unter 16 (auch uneheliche) sollen aber nicht vom Ehemann bzw. Eltern getrennt werden (dazu Ziff. 4 des Protokolls v. 1854). Der Zusatz v. 1855 bestimmte ferner, daß Kinder 1. Grades (auch uneheliche) auch dann übernommen werden müssen, wenn sie nie die elterliche StA besaßen, es sei denn, sie erwarben die StA eines Vertragsstaates. § 4

Die übrigen Vorschriften (§ 7 - 15) betreffen Verfahrensfragen. Der Vertrag trat durch das Bundesgesetz über den Unterstützungswohnsitz v. 6.6.1870 außer Kraft, welches die StA-fragen beiseite ließ und nur noch die Fürsorgelasten regelte. Da dies Gesetz aber in Bayern und Elsaß-Lothringen nicht eingeführt wurde, galt der Vertrag für diese Gebiete weiter, ebenso für den Vertragspartner Luxemburg, das 1866 aus "Deutschland" ausschied20 • Besonderheiten galten für Holstein: -

Nach einem Vertrag Holsteins mit Meck:lenburg-Schwerin v. 1816 erwarben die beiderseitigen Untertanen durch volle 3 Jahre Wohnen im angeren Staat die dortige StA, so daß sie dort zu versorgen waren. Nach einem Vertrag Holsteins mit Oldenburg für das Fst. Lübeck: v. 1837 wurde das Heimatrecht erst nach 6jährigem Wohnsitz erworben. Ein Zusatzvertrag v. 1863 bestimmte, daß dies nicht für Gesinde ohne eigenen Haushalt gelte.

-

Ein dritter Vertrag Holsteins (samt Lauenburg) mit Hamburg und mit Lübeck: v. 1853 bestimmte: Hatte eine Frau aus Holstein uneheliche Kinder auf hamburgischem oder lübschem Gebiet geboren, so erwarben sie Heimatrecht in dem Ort, an welchem die Mutter bei der Geburt Heimatrecht hatte, nicht dagegen am Geburtsort. Bei Dienstboten und sonst vorübergehend in Hamburg und Lübeck Wohnhaften galt ihr dortiger Wohnsitz nicht als Domizil (Heimatrechtsort). Entsprechendes galt umgekehrt für Hamburgerinnen und Lübeckerinnen in Holstein.

20 Vgl. Cahn, Das Reichsgesetz über den Erwerb und den Verlust der StA v. 1. 6. 1870, Berlin 1889, S. 217.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

197

Diese Verträge Holsteins mit seinen 4 Nachbarstaaten blieben auch nach Abschluß des Gothaer Vertrages in Kraft, da Holstein diesem nie beitrat. Nach der Angliederung von Schleswig-Holstein an Preußen 1866 wandte dieses den Gothaer Vertrag für die neuen Provinzen rückwirkend an, jedoch nicht für Lauenburg.

IV. Verträge des Deutschen Reiches vor 1914 Später schloß das Deutsche Reich mit seinen Nachbarstaaten entsprechende Vereinbarungen über die Übernahme von StA'en (außer mit Luxemburg, für das ja der Gothaer Vertrag weiter galt). Diese regelten auch die Übernahme früherer StA'en, die inzwischen durch 10 Jahre Wohnsitz, Einbürgerung usw. die StA verloren hatten. Es gab dabei 3 Regelungen: 1. Ebenso wie im Gothaer Vertrag wurden nur die StA'en nicht wieder übernommen, die inzwischen die StA des Vertragspartners erworben hatten. Erwerb einer dritten StA war unschädlich. Das galt im Verhältnis zu Italien (Art. 4 v. 8. 8. 1873), Dänemark (Art. 4 v. 11. 12. 1873) und Österreich (4./26.7.1875, ebenso vorher in Verträgen Österreichs mit Preußen v. 1864 und mit Württemberg v. 16. 12. 1870/3.7.1871). 2. In allen übrigen Verträgen wurde eine Wiederaufnahme nur für jetzt staatenlose frühere StA'e gewährt, also für Personen, die inzwischen keinerlei StA mehr besaßen (Württemberg-Schweiz v. 18.3.1869, Art. 5; Deutschland-Schweiz v. 27.4.1886, Art. 7 = 13.11. 1909, Art. 7; Deutschland-Belgien v. 7.7.1877, Art. 4; Deutschland-Niederlande v. 29.10.1906, Art. 6; Deutschland-Ruß~ land v. 10.2.1894, Art. 1 I; im Verhältnis zu Frankreich wurde das gleiche informell vereinbart21 •

3. Besonderheiten kannte Art. 7 des Vertrages mit der Schweiz v. 1909: Erstreckung der Übernahme auch auf die Ehefrau und Kinder, selbst wenn sie nie StA'e des übernehmenden Staats gewesen waren. Das Gegenteil besagte der Vertrag mit Rußland, der sich nicht auf Abkömmlinge erstreckte, die die von den Eltern verlorene StA nie besessen hatten (Art. 1 Ir). Ferner regelte der Vertrag mit Dänemark (Art. 5) noch die Lage derjenigen Optionsberechtigten nach Art. 19 des FV v. 1864, die nicht optiert hatten: sie waren von dem Staat aufzunehmen, in dem sie am 16.11. 1864 wohnten, bzw. bei Wohnsitz außerhalb Dänemarks und Schleswig-Holsteins von dem Staat, in welchem sie vor dem 16.11. 1864 zuletzt wohnten. 21

Cahn, S. 244/5.

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Ein Vertrag Bayerns mit Frankreich v. 1868 bestimmte ausdrücklich, daß nur Personen zu übernehmen seien, die die StA besaßen; der Vertrag galt also nicht für frühere StA'e.

v.

Multilaterale Konventionen

Die Bundesrepublik Deutschland ist ab 8.5.1974 und die Deutsche Demokratische Republik ab 27.3.1974 Partner der UN-Konvention über die StA der Ehefrau v. 29.1. (20. 2.) 1957. Diese Konvention bestätigt materiell das Recht, das in der Bundesrepublik Deutschland schon innerstaatlich galt22 • Der UN-Konvention v. 16. 12. 1966 über zivile und politische Rechte sind Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik 1973 bzw. 1974 beigetreten, jedoch ist sie noch nicht in Kraft. In Art. 24 III ist eine StAB enthalten: Jedes Kind hat das Recht, eine StA zu erwerben. Das kann nur bedeuten, es hat einen Einbürgerungsanspruch im Geburtsland, falls es staatenlos ist. Die CIEC-Konv. Nr. 13 v. 13.9.1973 über Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit23 ist von Deutschland nicht ratifiziert und überhaupt noch nicht in Kraft: Darin folgt ein Kind der StA der Mutter, wenn es sonst staatenlos wäre. E. Einbürgerung I. Einbürgerung und vorangehende Entlassung aus der bisherigen StA

1. Die beiden größten Staaten des Deutschen Bundes, nämlich Preußen und Österreich, schlossen untereinander sowie mit vier anderen deutschen Staaten Vereinbarungen (Notenwechsel), wonach eine Einbürgerung jeweils nur nach Entlassung aus der bisherigen StA erfolgen sollte. Diese Verträge sind: 1. Preußen-österreich/Ungarn, 1864. Diese Vereinbarung wurde am 14. 6. 1877 für das ganze Deutsche Reich abgeschlossen, während diejenige v. 1864 im Verhältnis zu Ungarn nur für Preußen weitergalt. 1903 trat die Vereinbarung v. 1977 außer Kraft24 • 2. Preußen-Württemberg, 14.10.1868 3. Preußen-Bayern, 20. 9. 1869 4. Österreich-Hessen (Darmstadt), 1854 5. Österreich-Oldenburg, 1858 22 Vgl. Gundrums, Das Übereinkommen über die StA verheirateter Frauen hat keine Auswirkungen auf das deutsche StAR, in: StAZ 1974, S. 304 - 305. 23 Text: StAZ 1974, S. 100. 24 Das sagt in einem Satz MBliV 1903, S. 214.

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6. Oldenburg-Lübeck, § 1 II des StA-Vertrages v. 25./26.8.1835 (mit detaillierten Vorschriften). Innerstaatlich hatte Preußen bereits durch Runderlaß v. 9.3.1852 bestimmt, daß Angehörige deutscher Staaten erst nach Entlassung aus ihrer StA eingebürgert werden dürften. Durch die Verträge Preußens mit Württemberg und Bayern wurde von diesen Staaten Gegenseitigkeit erreicht und durch den Vertrag mit Österreich von 1864 wurde Gegenseitigkeit auch für die 4 nicht zum Gebiet des Deutschen Bundes gehörigen K. u. K.-Länder (Ungarn, Kroatien, Slavonien, Siebenbürgen) vereinbart. Eine Entlassung aus der bisherigen StA wurde, außer von Preußen, erst später innerstaatlich von zwei deutschen Ländern gefordert: Württemberg: Erlaß v. 31. 1. 1881, I Ziff. 4 Lübeck: VO v. 30. 11. 1870, § 3 (Dispens war möglich) 2. Außer der oben erwähnten Übereinkunft zwischen dem Deutschen Reich und Österreich, die 1877 - 1903 galt und die nur eine Fortsetzung aus der Zeit des Deutschen Bundes war, gab es mit ausländischen Staaten folgende 4 Regelungen: a) Deutschland-Persien (Iran)

Im Handelsvertrag v. 11. 6.1873 war in Art. 17 geregelt, daß eine Einbürgerung von Angehörigen des anderen Staates nur mit dessen Einwilligung erfolgen sollte. Ein Verlust der persischen StA trat dabei durch Einbürgerung in Deutschland nicht ein. Eine gleiche Vorschrift wurde dann in Ziff. 2 des Schlußprotokolls zum Niederlassungsvertrag mit Persien v. 17.2.1929 (in Kraft 11. 1. 1931) aufgenommen. Niemand durfte danach ohne Zustimmung der anderen Regierung eingebürgert werden. Der Vertrag ist für die Bundesrepublik Deutschland weiter anwendbar (BGBl. 1955 II S. 829). Bei der Einbürgerung von Persern in der Bundesrepublik sind dadurch große Schwierigkeiten entstanden, weil der Iran oft auf Anfragen überhaupt nicht antwortete und durch dies Schweigen eine Einbürgerung blockierte oder hohe Ablösungen forderte. Daher wurde neuerdings für Härtefälle vereinbart, daß 3 Monate Schweigen als Zustimmung des Iran zur Einbürgerung in Deutschland gelten sollte25 • b) Deutschland-Marokko Nach Art. 15 der Madrider Konvention über Marokko v. 3.7.1880, der auch Deutschland beitrat, war bestimmt: Ein Marokkaner, der 25 Dies geht aus dem Urteil des OVG Hamburg v. 22. 12. 1972 hervor (abgedruckt VRü 1975, S. 79). Ein Urteil des VG Frankfurt v. 23. 4. 1968 (DVBl. 1968, S. 472) hatte eine Einbürgerung auch ohne iranische Änderung für gültig erklärt, jedoch hob der VGH Hessen dies Urteil am 23. 3. 1971 auf.

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im Ausland ohne marokkanische Zustimmung eingebürgert wurde, verlor damit seine StA. Kehrte er nach Marokko zurück, so mußte er sich entscheiden, wieder die marokkanische StA zu erwerben oder als Ausländer das Land zu verlassen. Der Vertrag ist durch Art. 141 I des Versailler Vertrages f. Deutschland aufgehoben. c) Deutschland-Türkei Weil das türkische StAG v. 1869 in Art. 5 eine Einbürgerung im Ausland ohne Einwilligung der Türkei und ohne StA-entlassung nicht anerkannte, bestimmte Deutschland durch RE v. 11. 7. 188426 , daß kein Türke in Deutschland ohne solche Entlassung eingebürgert werden dürfte. Einen Niederschlag in einem völkerrechtlichen Vertrag fand diese Regelung nicht, praktisch hatte sie aber eine entsprechende Wirkung.

d) Deutschland-CSR

In dem StA-Vertrag v. 29.6.1920 war in Art. 13 bestimmt, daß eine Einbürgerung erst nach StA-entlassung erfolgen solle und daß bei Verlegung des Wohnsitzes in den anderen Staat ein Anspruch auf diese Entlassung bestand. Dieser Artikel wurde von Deutschland gekündigt und trat am 1. 10. 1936 außer Kraft. II. Bankcroft-Verträge 27

Nach dem amerikanischen Gesandten in Berlin, George Bancroft, wurden die von ihm mit dem Norddeutschen Bund und dann den 4 süddeutschen Staaten abgeschlossenen Einbürgerungsverträge als Bancroftverträge bezeichnet. Diese 5 Verträge stimmen im Wesentlichen überein: 1) 2) 3) 4) 5)

Norddeutscher Bund Bayern Baden Württemberg Hessen-Darmstadt

22. 2. 26. 5. 19. 7. 22.7. 1. 8.

1868 1868 1868 1868 1868

(i. K. 9. 5.1868) (i. K. 18. 9. 1868) (i. K. 7.12. 1869) (i. K. 17. 8.1869) (i. K. 23. 7.1869)

Zu den Verträgen mit Bayern, Württemberg und Hessen erging noch je ein Protokoll. Die 5 Verträge traten mit dem Kriegseintritt Amerikas am 6.7.1917 außer Kraft und wurden auch später nicht wieder in Kraft gesetzt. Entsprechende Verträge (Bancroftverträge i. w. S.) schlossen die

Cahn, S. 380. Dazu Hecker / Kraku, Die völkerrechtlichen Verträge der Vereinigten Staaten von Amerika über Fragen der StA einschließlich Einbürgerung und Wehrpflicht, in: VRü 1971, S. 69 - 104, insb. S. 72 - 75 m. w. Literaturangaben auf S. 73 Anm. 10. 28 27

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201

USA später mit zahlreichen europäischen und lateinamerikanischen Staaten ab, von denen viele noch heute gelten. Ein solcher Vertrag mit Österreich v. 20.9.1870 ist hier nicht mit zu behandeln, da Österreich seit 1866 nicht mehr zu Deutschland gehörte. Die Verträge regeln praktisch nur einseitige Verhältnisse, nämlich die StA Deutscher, die in den USA eingebürgert werden und die eventuell nach Deutschland zurückkehren. Der übereinstimmende Inhalt bestand in folgendem: 1. Ein Deutscher, der in die USA auswanderte und dort eingebürgert wurde, wurde nach 5jährigem ununterbrochenem Aufenthalt in den USA - gleich ob vor oder nach der Einbürgerung (so die Protokolle) - von den deutschen Staaten als amerikanischer StA anerkannt. Die Verträge schwiegen aber völlig darüber, ob damit die deutsche StA verlorenging oder ob Doppelstaatigkeit eintrat. Dies richtete sich allein nach dem uneinheitlichen Recht der deutschen Staaten. Erst als der norddeutsche Bund im StAG v. 1870, das 1871 Reichsrecht wurde, den Tatbestand des StA-Verlustes durch 5jährigen Auslandsaufenthalt schuf (§ 21 IU), war diese Frage geklärt: Nach 5 Jahren war jedenfalls die Doppelstaatigkeit beendet.

2. Die Rückwanderung eines in Amerika eingebürgerten Deutschen in sein jeweiliges Herkunftsland (nicht in einen anderen deutschen Staat), ohne die Absicht, nach den USA zurückzukehren, galt als Verzicht auf die amerikanische StA, wobei die Nichtrückkehrabsicht nach 2 Jahren widerlegbar vermutet wurde. Ein Deutscher, der nach 5jährigem Wohnsitz in den USA seine deutsche StA verloren hatte, wurde also 2 Jahre nach seiner Rückkehr in seinen deutschen Heimatstaat staatenlos, ohne einen Anspruch auf Wiedererwerb zu haben. Der Vertrag mit Baden wich hiervon ab: nur wenn der Rückkehrer seine alte StA auf Antrag wieder erwirbt und außerdem auf seine amerikanische StA verzichtet, geht die amerikanische StA verloren. Ein moderner Fall der Anwendung der Bancroftverträge ist der Fall Flegenheimer28 aus dem Jahr 1958: Dieser, ein Badener, ging 1866 nach Amerika, wo er 1873 eingebürgert wurde. 1874 l,jbersiedelte er nach Württemberg und wurde hier 1894 eingebürgert. Er verlor seine badische StA, weil er 5 Jahre in den USA gelebt hatte. Er verlor seine amerikanische StA, weil er über 5 Jahre in Württemberg gelebt hatte und dort eingebürgert wurde aufgrund des Vertrages mit Württemberg; der Vertrag mit Baden, der keinen automatischen Verlust kannte, war nicht anwendbar, da er nicht nach Baden zurückkehrte. 28

AJIL 1959, S. 944 - 958.

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Hellmuth Hecker

III. Austausch von Einbürgerungsmitteilungen

Der erste Staat, mit welchem Deutschland Einbürgerungsmitteilungen auszutauschen begann, waren die Niederlande. Gemäß zwei unveröffentlichen Erlassen v. 20.8.1909 und 7.12.1913 war über jede Einbürgerung eines Niederländers in Deutschland dem Auswärtigen Amt zu berichten, das dann die Niederlande benachrichtigte. Erst durch preußische RE v. 5.10.1927 wurde diese Tatsache bekanntgegeben, indem eine Neufassung des Vordrucks vorgenommen und gleichzeitig mitgeteilt wurde, daß die Niederlande sich zur Gegenseitigkeit verpflichtet hätten. Die zugrundeliegende Abmachung wurde indes nie veröffentlicht. Auf Grund dieser Abmachung mit den Niederlanden wurden dann unter Verwendung der Vordrucke für die Niederlande entsprechende gegenseitige Abmachungen (ebenfalls unveröffentlicht) mit zwei überseeischen Staaten getroffen, nämlich mit Mexico (preuß. RE 13.6.1928) und Kanada (RE v. 16.5.1934). In letzterem Fall ging die Anregung von Kanada aus2U • 1936 begann das Reich dann, mit einigen europäischen Staaten durch Notenwechsel die eigentlichen Abkommen über den Austausch von Einbürgerungsmitteilungen zu schließen, die als Beweismittel für den Verlust der deutschen StA wegen Einbürgerung im Ausland sehr nützlich sind. Der erste Staat, mit dem ein solches Abkommen geschlossen wurde, war Luxemburg (17.4./25. 5. 1936). Auf Wunsch der Bundesrepublik wurde dann 1951 durch Notenwechsel mit Luxemburg dieser Austausch wieder aufgenommen und 1953 auch auf Berlin sowie 1954 auf Statusdeutsche nach Art. 116 II GG erstreckt. Entsprechende Verträge des Deutschen Reiches erfolgten mit Rumänien (3. 12. 1937), Italien (10.12.1938), Ungarn (27.1.1939) und Dänemark (16. 9. 1939). In den Verträgen mit Dänemark, Italien und Rumänien war die Einziehung und übersendung der bisherigen Personalausweise (Pässe, Heimatscheine usw.) vorgesehen. Im Vertrag mit Ungarn ist davon nichts erwähnt; es wurde vielmehr formlos vereinbart, von der nachträglichen Einziehung abzusehen sowie übersandte ungarische Personaldokumente nicht. mehr mit dem deutschen Stempel "ungültig" zu versehen. Im Vertrag mit Italien wurde hervorgehoben, daß durch den Vertrag das innerstaatliche Recht beider Staaten über Verlust und Wiedererwerb der StA nicht berührt werde. Der Vertrag mit Italien wurde durch Notenwechsel v. 3.12.1954/11. 7. 1956 rückwirkend wieder in Kraft gesetzt. Z9 Die 3 preußischen Erlasse sind abgedruckt: MBliV 1927, S. 980; 1928, S. 627; 1934, S. 733.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

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Der Vertrag mit Dänemark wurde auf Wunsch der BRD durch Notenwechsel v. 1956 wieder für anwendbar erklärt, und zwar - wie bei Luxemburg - unter Einschluß von Berlin und von Statusdeutschen. Dann wurde durch Notenwechsel v. 2.110. 11. 1960 eine neue ausführliche Vereinbarung geschlossen, die wieder eine Einziehung und übersendung der bisherigen StA-papiere vorsieht. Zwischen 1951 und 1962 schloß die BRD dann Abkommen über Austausch von Einbürgerungsmitteilungen mit 13 Staaten, überwiegend überseeischen (10), und zwar 19. 9. 1950/13. 3. 1951 5. 9. 1951/18. 1. 1952 29. 5. 1952/13. 6. 1952 14. 5. 1953/19. 8. 1953 5. 9. 1953/ 8. 10. 1953 18. 12. 1953 4. 3. 1954/ 1. 6. 1954 21. 4.1954/17. 5.1954 20. 12. 1956 8. 7.1958/21. 7.1958 6. 10. 1958/10. 10. 1958 29. 1. 1960/ 9. 2. 1960 13. 9. 1962 -

Australien Niederlande Kanada Pakistan Malaya Jugoslawien Irak Japan Peru Ekuador Österreich Panama Chile

Aus Raumgründen kann auf nähere Einzelheiten und Unterschiede der Abkommen hier nicht eingegangen werden.

Besondere Abmachungen erfolgten mit 3 Staaten: 30.7.126.9.1953 Griechenland: nur über Austausch ungültig gewordener StA-

um 1960 Südafrika: um 1971 Österreich:

Urkunden. stillschweigendes Einvernehmen mit Südafrika über Austausch von Einbürgerungsmitteilungen. stillschweigendes Einvernehmen mit Österreich über Austausch von Einbürgerungen gemäß § 6 11 RuStAG30.

IV. Verschiedenes Einzelne Fragen aus dem Gebiet des Einbürgerungsrechts finden sich in verschiedenen Verträgen verstreut: 1. Nach § 1 II eines ausführlichen StA-vertrages zwischen Oldenburg und Lübeck v. 25.126.8.1835 galt als Einbürgerung im anderen

30 Die vorstehend genannten Abmachungen sind meist in der StAZ abgedruckt, jedoch nicht als Vertragstext, sondern nur als Inhaltsangabe in Form von Bekanntmachungen im GMBl. und (ab 1956) BAnz. Nur ein einziges Abkommen ist in die UNTS Bd. 437, S. 21 aufgenommen (das mit Dänemark v. 1960).

Hellmuth Hecker

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Staat: Anstellung im öffentlichen Dienst (außer ledigen Soldaten und Unteroffizieren), Erteilung des Stadtbürgerrechts in Lübeck oder Eutin, obrigkeitliche Bewilligung häuslicher Niederlassung. Die Entlassung aus der bisherigen StA konnte nur wegen nicht erfüllter Wehrpflicht verweigert werden. Als stillschweigend eingebürgert galt, wer drei Jahre ununterbrochen im anderen Staate wohnte (dazu einige Einschränkungen), sofern nicht die frühere StA vorbehalten wurde. 2. In Art. 12 11 des deutsch-französischen FV v. 1871 hieß es, daß die für eine Einbürgerung notwendige Wohnfrist nicht durch Kriegsabwesenheit unterbrochen gilt. 3. In einem Vertrag Preußens (Deutschlands) mit Dänemark v. 11. 1. 1907 wurde bestimmt: In Preußen wohnende, vor 1898 außerhalb Dänemarks geborene und daher staatenlose Kinder eines Vaters, der nach Art. 19 des FV v. 1864 für Dänemark optierte, haben einen Einbürgerungsanspruch in Preußen, falls sie die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen. Dies gilt auch für ihre Abkömmlinge. Personen, die davon keinen Gebrauch machen oder die wegen Fehlens der allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen abgelehnt werden, wird Dänemark auf Verlangen Preußens bei sich aufnehmen. 4. Hier sei auch auf einen Vertrag der Freien Stadt Danzig mit Polen v. 9.11. 1920 hingewiesen, nach dessen Art. 34 die Einbürgerungsbedingungen mit Polen durch Abkommen geregelt werden sollten. Dies geschah durch Teil 1 des Vertrages Danzig-Polen v. 24.10. 1921 (Art. 1 - 13). 5. In Art. 4 des deutsch-ägyptischen Niederlassungsvertrages v. 16.6. 19253 1, der zwar nicht in Kraft trat, aber z. T. angewendet wurde 32 , hieß es zur deutschen Konsulargerichtsbarkeit, daß diese sich über deutsche StA'e erstrecke, die deutscher Herkunft seien oder denen die deutsche StA kraft Gesetzes verliehen sei. In Ziff. 4 der Zusatzbestimmungen wurde einschränkend vereinbart, daß darunter nicht Bewohner künftiger deutscher Kolonien in Übersee fallen, die die deutsche StA erhalten. 6. Eine Einbürgerungsbestimmung findet sich in Art. 5 der Allg. Konvention des Saarland es mit Frankreich v. 3. 3. 1950: "Für die Zuerkennung der saarländischen StA ist ausschließlich die Regierung des Saarlandes zuständig. Im Ausnahmefall der Einbürgerung wegen außergewöhnlicher Dienste gemäß Art. 9 11 4 des 31 32

RT-Protoko111924: Bd. 403, Nr. 1197. Vgl. RGBl. 1925 II, S. 735.

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

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Gesetzes v. 15.7.1948 über die saarländische StA in der Neufassung des Gesetzes v. 25.6.1949 erfolgt jedoch die Zuerkennung der saarländischen StA im Einvernehmen mit dem Vertreter Frankreichs im Saarland, um den Niederlassungsbedingungen der saarländischen StA'en in Frankreich Rechnung zu tragen." 7. Nach dem deutsch-französischen Saar-Vertrag v. 27.10.1956, Anlage 1 Art. 5 II konnte jemand, der die saarländische, aber nicht die deutsche StA besaß, die Einbürgerung in Deutschland beantragen und er durfte nicht wegen seiner politischen Haltung zur Saarfrage abgelehnt werden 33 • 8. In Art. 34 der Genfer Flüchtlingskonvention v. 28.7.1951 (i. K. f. Deutschland am 22.4.1954) heißt es, daß die Vertragspartner Flüchtlingen im Sinne des Abkommens eine erleichterte Einbürgerung zusichern, ohne jedoch einen Einbürgerungsanspruch zu gewähren. Durch Protokoll v. 31. 1. 1967 (i. K. f. Deutschland am 5. 11. 1969) wurde der Kreis der Personen erweitert.

F. StA von Beamten

I. Gerichtsbeamte 1. Die Oberappelationsgerichtsordnung (OAGO) v. 21. 10.1824 für die Freien Städte Bremen, Frankfurt, Hamburg und Lübeck bestimmte in § 14 (entsprechend die vorläufige OAGO v. 7. 7. 1820 in § 6 VI): "Präsidenten und Räte erhalten mit Ableistung des Eides der Treue für sich, ihre Ehefrauen und ihre alsdann noch unter ihrer väterlichen Gewalt stehenden Kinder das Bürgerrecht in allen vier Städten unentgeltlich. Jedoch haben die Söhne derselben, wenn sie volljährig geworden und aus der väterlichen Gewalt treten, zu wählen, ob und in welcher der Städte sie Bürger sein wollen und ist durch diese Wahl ihr Bürgerrecht in den anderen 3 Städten aufgehoben. ce Nachdem Frankfurt 1866 seine Staatlichkeit verloren hatte, bestand das OAG in Lübeck nur noch zwischen den 3 Hansestädten. Nach Einführung des Gerichtsverfassungsgesetzes des Reiches ersetzten sie das OAG durch ein Hanseatisches OLG, das nun in die Mitte zwischen Lübeck und Bremen nach Hamburg verlegt wurde. Der Vertrag darüber v. 30. 6. 1878 besagte in Art. 19: "Mit ihrer Anstellung erwerben die Mitglieder des OLG die StA in den 3 Städten, soweit sie solche nicht schon besitzen, für sich, ihre Frauen und ihre zur Zeit ihrer Anstellung minderjährigen Kinder, sowie das Bürgerrecht in Hamburg. Die Gerichtsbeamten, welche seither nicht die hamburgische StA oder das Hamburger Bürgerrecht besaßen, erhalten dieselben mit ihrer Anstellung. Die Mitglieder und Beamten des OLG sind in Hamburg steuerpflichtig. ce 33

Vgl. Makarov, Dt. StAR, S. 582 - 587.

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Diese Vorschrift entspricht dem Hamburger StAG v. 7.11. 1864, wonach die hamburgische StA durch unbefristete Anstellung im Staate erworben wurde (§ 2, lit. e). Der Vertrag v. 1878 wurde durch einen zweiten vom 22.5.1908 ersetzt. In § 7 hieß es, daß die Mitglieder des OLG durch die Ernennung das Hamburger Bürgerrecht erwerben. Das gleiche galt für den Oberstaatsanwalt (§ 30 III). Das nichtrichterliche Personal wurde, wie Hamburger Beamte, zum Erwerb der hamburgischen StA verpflichtet (§ 23, diese Bestimmung aufgehoben durch Vertrag v. 25.6. 1920). Ein dritter Vertrag über das Hanseatische OLG v. 16.4.1929 enthielt keine StAB mehr. 2. In der OAG-ordnung der Thüringischen Staaten v. 8. 10. 1816 war die StA noch nicht geregelt. Dies geschah erst 1839 in einem Vertrag der Signaturmächte über "Die Heimatverhältnisse des Personals des OAG" zu Jena, der besonders komplizierte StA-Regelungen, besonders für die Angehörigen des Gerichtspersonals, enthielt. Sachsen-Weimar-Eisenach, in dessen Gebiet das OAG Jena lag, schloß am 23.3.1850 einen Sondervertrag mit den am OAG bisher nicht beteiligten Fürstentümern Schwarzburg-Rudolfstadt und Schwarzburg-Sondershausen, der in Teil A (OAG) in Art. 15 und in Teil B (gemeinsame Kreisgerichte) in § 11 eine StAB enthielt. Die Gerichtsmitglieder behielten ihre bisherige StA und erhielten nur einen Einbürgerungsanspruch in Sachsen-Weimar-Eisenach. Der Verlusttatbestand in § 18 Z. 3 des StAG v. Schwarzburg-Rudolfstadt v. 3.4. 1846 war damit ausgeschlossen. Durch zwei Verträge v. 19.2. 1872 wurde das OAG aufgehoben bzw. ein thüringisches OLG in Jena errichtet. Schwarzburg-Sondershausen blieb dem Vertrag fern. Der 2. Vertrag bestimmte in § 18 I, daß sämtliche Beamte des OLG durch ihre Anstellung sämtliche StA'en der Vertragsstaaten erhielten. Sie wurden also Siebenstaater - eine einmalige Häufung. Am 15.12.1910 schlossen Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolfstadt und Schwarzburg-Sondershausen (Sachsen-Coburg-Gotha trat durch Vertrag v. 1. 4. 1912 bei) einen Vertrag über ein gemeinsames OVG in Jena; nach Art. 8 galten die ständigen Richter dort als in allen Vertragsstaaten staatsangehörig. Nachdem die 8 thüringischen Staaten sich 1920 zu einem Land Thüringen zusammengeschlossen hatten, entfielen die StA-Vorschriften über das OLG und OVG in Jena. Thüringen schloß dann am 19./26.11. 1931 (in Kraft am 1. 4.1932) einen Staatsvertrag mit Preußen über eine Gerichtsgemeinschaft, dessen § 13 I eine Doppelstaatigkeit der Beamten vorsah. Vorher war in Art. 8 eines Vertra-

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ges v. 15.120.6.1921 zwischen Preußen und Thüringen vereinbart worden, daß thüringische Beamte beim LG Erfurt und OLG Naumburg (für thüringische Gebietsteile) preußische Beamte werden und von Thüringen eine Entlassungsurkunde erhalten konnten. 11. Bahnbeamte

Nach § 24 und 26 des preußischen StAG v. 31. 12. 1842 war der Eintritt eines Preußen in fremde Staatsdienste erst nach Entlassung aus der preußischen StA gestattet und sonst strafbar. Diese Vorschrift machte es erforderlich, in den sehr zahlreichen, 1842 noch gar nicht abzusehenden Eisenbahnverträgen Preußens eine Bestimmung aufzunehmen, daß der Eintritt preußischer Beamte in fremden Staatsdienst ausnahmsweise ohne Entlassung aus der StA möglich sei, so daß kein Verlust der preußischen StA eintritt. Da ferner manche deutsche Staaten einen Erwerb der StA durch Eintritt in den Staatsdienst kannten, mußte auch deswegen eine StAB aufgenommen werden, um eventuell einen solchen StA-erwerb zu verhindern. In allen Verträgen, in welchen sich keine StA-Klausel findet (auch das sind viele Verträge), blieb es bei der bisherigen Rechtslage, so daß eventuell eine Doppelstaatigkeit eintrat, weil ein automatischer Verlust der preußischen StA in der Regel nicht erfolgte (erst eventuell nach Zehnjahreswohnsitz im Ausland). In über 100 Verträgen Preußens mit anderen Staaten über den Bau, den Unterhalt oder die Rechtsverhältnisse an Eisenbahnen findet sich eine Generalklausel, daß Anstellung oder Beschäftigung in fremdem Staatsdienst für keine Seite eine Veränderung der StA bewirkt. Da es sich meist darum handelte, daß Preußen eine Bahn durch das Gebiet eines anderen Staates baute, wird dementsprechend gesagt, daß preußische Untertanen ihre StA nicht wechseln. Auch andere deutsche Staaten schlossen untereinander Eisenbahnverträge mit einer solchen StAKlausel, besonders die thüringischen Staaten. Nur wenige derartige Verträge wurden zwischen einem deutschen und einem nichtdeutschen Staat abgeschlossen. So finden sich 4 Verträge Preußens mit Österreich (23.2.1861; 5.11. 1898; 20.11. 1902; 9.1. 1904) betr. grenzüberschreitende Bahnen, von denen ersterer noch zu der Zeit erfolgt, als Österreich zum Deutschen Bund gehörte. Ferner finden sich noch solche Verträge Preußens mit 3 anderen Staaten, nämlich mit Belgien (15.8.1903), den Niederlanden (23.7.1908) sowie mit Luxemburg (16. 9. 1861), das damals in Personalunion mit den Niederlanden stand und zum Deutschen Bund gehörte. Die Verträge Preußens nach Gründung des Deutschen Reiches wurden außer in der preußischen Gesetzessammlung auch im RGBl. veröffentlicht, weil Preußen seine Auswärtige Gewalt auf das Reich delegieren konnte.

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Das Deutsche Reich als solches schloß nur einen einzigen derartigen Eisenbahnvertrag mit einer StAB, nämlich am 11. 6.1872 mit Luxemburg, das damals noch in Personalunion mit den Niederlanden stand. Außer Preußen schloß auch Sachsen vier grenzüberschreitende Eisenbahnverträge mit einem ausländischen Staat, die eine StA-Klausel enthielten, nämlich mit Österreich am 5.5.1884; 27.11. 1898; 26.4.1904 und 13. 1. 1916. Nur wenige der etwa 200 Eisenbahnverträge mit einer StA-Klausel enthalten besondere Regelungen wie folgende: 1. Einige Verträge enthalten auch etwas über die StA von Personen, die nicht zu den Vertragspartnern gehören. So sagt ein Vertrag Preußens mit Mecklenburg-Schwerin v. 20.5. 1865 (Art. 6 II und Art. 24), daß kein StA-wechsel für Angehörige Preußens, Mecklenburg-Schwerins und Mecklenburg-Strelitz einträte. Ähnlich heißt es in Verträgen Preußens mit Österreich v. 20. 11. 1902 (Art. 12) und 9.1.1904 (Art. 11), daß die StA von Deutschen (also nicht nur von Preußen) unverändert bleibe. Und entsprechend kommt in preußischen Verträgen manchmal die Klausel vor, daß die StA von NichtPreußen unverändert bleibe: 17.1.1867 mit Oldenburg (Art. 16), 15. 6. 1887 mit Württemberg (Art. 9). 2. Eine Sonder regelung enthält Art. 18 III eines Vertrages Sachsens mit dem Herzogtum Sachsen-Altenburg über die sächsisch-bayerische Bahn v. 13.3.1847: "Sind die betroffenen Angestellten keine altenburgischen StA'en, so haben sie vor ihrem Dienstantritt entweder auf gesetzlichem Wege Aufnahme in einen Gemeindeverband des Herzogtums zu erreichen oder einen, die betreffende Gemeinde sicherstellenden Heimatschein beizubringen, da man außerdem deren Aufnahme zu verweigern altenburgischerseits berechtigt ist." 3. Ein Vertrag Preußens mit Sachsen-Coburg-Gotha betr. die Gothabahn v. 11. 9.1863 hat in Art. 16 II folgende Sonderklausel: "Untertanen der einen Regierung, welche beim Betriebe in dem Gebiet der anderen Regierung angestellt werden, scheiden dadurch nicht aus dem Untertanenverband ihres Heimatlandes, wobei jedoch hinsichtlich der Herzoglich Sachsen-Coburg-Gothaischen Untertanen vorausgesetzt wird, daß ihnen auf ihr Verlangen und gegen Erfüllung der gesetzlichen Bedingungen ihr bisheriges Heimatrecht vorbehalten ist." Das bedeutet: Wenn die Coburg-Gothaer Bahnbeamten bei Anstellung in Preußen nicht ihre StA beizubehalten erklärten, verloren sie dieselbe. Diese Vorschrift zielt auf § 26 der Verfassung v. SachsenCoburg-Gotha v. 3. 5. 1852, deren Ziffer 3 lautet:

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

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"Das Heimatrecht in den Herzogtümern wird verloren: 1. 2.

3. durch den Eintritt in auswärtige Staats- und Militärdienste. Beim Eintritt in andere deutsche Staats- und Militärdienste kann jedoch das Heimatrecht durch die Staatsregierung vorbehalten werden."

111. Beamte in anderen Verträgen Ähnlich wie in den Eisenbahnverträgen wird auch in sonstigen Verkehrsverträgen hinsichtlich der StA meist gesagt, daß kein Wechsel für die betr. Beamten eintritt. Während in zahlreichen Eisenbahnverträgen eine solche Klausel enthalten ist, finden sich sehr viel weniger andere Verkehrsverträge mit solcher Regelung. 1. Zollverträge In einem allgemeinen Verkehrsvertrag Preußens, Hannovers und Kurhessens, die auch in Vertretung der übrigen Zollvereinstaaten handelten, vom 26.1. 1856 wurde in Art. 15 gesagt, daß die in Bremen stationierten Zollbeamten anderer Zollvereinstaaten nebst ihren Familienangehörigen in ihrem bisherigen Untertanenverband verbleiben und auch ihr Wohnrecht in der Heimat behalten. Im Vertrag vom 5.6.1852, mit welchem Liechtenstein (damals noch zum Deutschen Bund gehörig) dem österreich ischen Zollverband angeschlossen wurde, wurde in Art. 4 bestimmt, daß die österreichischen Zollbeamten in Liechtenstein weiterhin im Dienstverhältnis zu Österreich bleiben, wenngleich sie auch einen Treueid auf Liechtenstein zu leisten hatten und neben der österreichischen die liechtensteinische Kokarde trugen. Da Österreich keinen StA-verlust durch Anstellung im ausländischen Dienst kannte, erübrigte sich eine ausdrückliche Bestimmung über die Beibehaltung der StA. Da in Liechtenstein damals noch das österreichische ABGB v. 1811 galt, nach dessen § 29 durch Eintritt in den öffentlichen Dienst die StA erworben wurde, bestimmte der Vertrag, daß die Beamten österreichische Beamte blieben, so daß sie also nicht Doppelstaater wurden.

2. Telegrajenverträge In einem Vertrag Sachsens mit Sachsen-Altenburg wegen einer Telegrafenlinie durch letztere v. 1853 wurde in § 7 bestimmt, daß Beamte und Diener Sachsens, die in Sachsen-Altenburg als Telegrafenbedienstete beschäftigt wurden, die Aufnahme in den dortigen Staatsverband zu erwirken oder einen Heimatschein beizubringen hätten. 14 Festschrift Menzel

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In einem anderen Vertrag Sachsens über das Telegrafenwesen, diesmal mit Preußen v. 25. 1. 1867 (in Kraft: 17. 3. 1867), hieß es in Art. 6: "Den Kgl. Sächsischen Beamten, welche in den Kgl. Preußischen Telegrafendienst übertreten, bleibt überlassen, aus dem Kgl. Sächsischen Untertanenverband auszuscheiden und in den Kgl. Preußischen überzugehen; solange dies nicht geschehen ist, behalten sie ihre StA im Königreich Sachsen bei. Werden Personen angestellt, welche weder im Kgr. Sachsen noch im Kgr. Preußen staatsangehörig sind, so haben dieselben Heimatscheine beizubringen." In einer Protokoll-übereinkunft des Norddeutschen Bundes mit Sachsen-Meiningen betr. Anstellung von Telegrafenbeamten v. 21. 12. 1867 hieß es in Ziff. 4 lediglich, daß die Telegrafenbeamten Meiningens in anderen Staaten und die anderer Staaten in SachsenMeiningen ihre StA nicht verlieren würden.

3. Postverträge Am 17.8.1845 (in Kraft: 1. 4.1846) schloß Dänemark mit Oldenburg einen Vertrag über das Postwesen im Verhältnis des zu Oldenburg gehörigen Fürstentums Lübeck zu den drei EIbe-Herzogtümern. Darin war in Absatz 10 folgendes geregelt: Postbedienstete, die nicht schon Oldenburger Untertanen waren und erst durch ihre Anstellung Wohnsitz im Fürstentum Lübeck nahmen, sind, solange dies Dienstverhältnis dauert, als temporäre Oldenburger Untertanen zu betrachten. Hört die Anstellung auf und werden sie nicht nach Entlassung aus der bisherigen StA von Oldenburg eingebürgert oder sind sie nicht sonstig zu längerem Aufenthalt berechtigt, so haben sie das Fürstentum zu verlassen. Das gleiche gilt bei Tod des Postbeamten für Angehörige. In einem übereinkommen Sachsens mit Sachsen-Altenburg v. 18./ 27.4.1849 wurden die Heimatverhältnisse der sächsischen Postbeamten in Altenburg wie folgt geregelt: Die Betreffenden hatten vor Dienstantritt entweder Aufnahme in einen altenburgischen Gemeindeverband zu erwirken oder einen die beteiligte Gemeinde sicherstellenden Heimatschein beizubringen, widrigenfalls Altenburg ihnen die Aufnahme verweigern konnte.

4. Forste und Salinen In einem bayerisch-österreichischen Vertrag v. 29.3.1829 wurde über die Forste und Salinen des Grenzgebietes bestimmt: Bayern kann als Beamte in seinen Forstämtern in Österreich als Aufsicht über bayerische Saalforsten auch Österreicher anstellen und diese

Die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen

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verlieren dadurch nicht ihre StA (Art. 21). Bayerische StA'e, die über 10 Jahre lang ununterbrochen im österreichischen Gebiet tätig sind, behalten trotzdem ihre bayerische StA (Art. 22).

G. StA in Drittstaaten Verträge über StA in Drittstaaten schloß Deutschland nur betr. osteuropäische, insb. Balkanstaaten.

I. Betreffs Juden 1. In zwei Konventionen der Großmächte mit der Türkei, nämlich Art. 46 der Pariser Konvention v. 19.8.1858 und Art. 44 des Berliner Vertrages v. 13.7.1878 waren Preußen bzw. das Reich Signatar einer Bestimmung, wonach rumänischen Juden die dortige StA zuerkannt wurde. Rumänien selber war nicht Vertragspartei, es waren also echte Verträge zu Lasten eines Drittstaates. Während in diesen beiden Bestimmungen nur etwas vage von politischen bzw. BürgerRechten die Rede war, kam es in einem dritten Vertrag zu einer klaren Präzisierung: in Art. 28 des Bukarester Friedens der vier Mittelmächte mit Rumänien v. 7.5.1918 hieß es, daß staatenlose und bisher als Fremde angesehene Juden bei der Einbürgerung nicht diskriminiert werden dürften. Rumänien verpflichtete sich ferner, durch Gesetz diejenigen staatenlosen Juden als Staatsbürger anzuerkennen, die am Krieg teilnahmen oder im Inland geboren waren, dort wohnten und deren Eltern schon dort geboren waren. Der StA-erwerb sollte sich auch auf Ehefrauen, Witwen und minderjährige Kinder erstrecken. Dieser FV trat jedoch nicht mehr in Kraft.

2. Während jene 3 multilateralen Verträge Bestimmungen zugunsten der rumänischen Juden enthielten, gibt es nur einen einzigen Vertrag Deutschlands zuungunsten der StA von Juden. Es handelt sich um eine Vereinbarung v. 22. 2. 1943 mit Bulgarien über Judendeportationen, wo nach Art. 3 (c) den Juden bei Grenzübertritt die bulgarische StA aberkannt werden sollte. Es erging dazu auch ein bulgarisches Gesetz v. 2.3.1943, das aber bezeichnenderweise nie veröffentlicht wurde. II. Betreffs Option in Grenzgebieten

1. Eine Konvention der 6 europäischen Großmächte mit der Türkei v. 24.5.1881 bestimmte in Art. 13, daß Personen, die aus den von der Türkei an Griechenland abgetretenen Gebieten (Thessalien) stammten oder dort wohnten, innerhalb von 3 Jahren nach der Türkei

212

Hellmuth Hecker auswandern konnten. Es ist die übliche Optionsvorschrift durch konkludentes Handeln. Griechenland übernahm diese Bestimmung durch bilateralen Vertrag mit der Türkei v. 20. 6. 1881, wurde aber nicht Partner des multilateralen Vertrages.

2. Im FV der 4 Mittelmächte mit Rumänien v. 7.5.1918 hieß es in Art. 12 III Z. 1, daß über die StA der Bewohner der von Rumänien abgetretenen Gebiete eine Vereinbarung getroffen werden sollte, die jedenfalls ein Options- und Abzugsrecht vorsehen sollte. Der FV trat aber nicht mehr in Kraft und so kam es auch nicht zu einer solchen Vereinbarung. Wörtlich die gleiche Bestimmung enthielt Art. 10 Z. 1 des Ergänzungsvertrages von Brest-Litowsk v. 27.8.1918 zwischen Deutschland und der RFSFR hinsichtlich des Baltikums. 3. Nach dem 2. Wien er Schiedsspruch Deutschlands und Italiens erwarben alle rumänischen StA'en, die in den an Ungarn abgetretenen Gebieten Siebenbürgens wohnten, die ungarische StA. Innerhalb v. 6 Monaten konnten sie aber für Rumänien re-optieren und mußten dann innerhalb eines weiteren Jahres abwandern (Art. 3). Die Volks-Ungarn des übrigen im Vertrag v. Trianon an Rumänien abgetretenen Gebietes enthielten ein gleiches Options recht mit Abwanderungspflicht (Art. 4). III. Indigenatsabgrenzung

Wiederum ein Siebenmächtevertrag ist die umfangreiche Konvention v. 26.4. 1879, die das Autonomiestatut für die türkische Provinz Ostrumelien (später zu Bulgarien) enthält. Dort findet sich in Art. 23 eine ausführliche StA-Regelung. Das Indigenat in Ostrumelien genießen alle dort geborenen türkischen StA'en sowie alle am 1. 1. 1877 dort Wohnhaften, ferner alle türkischen StA'en, die dort hinziehen und ein Jahr dort wohnen. Ausländer können das Indigenat Ostrumeliens nicht direkt erwerben, sondern müssen erst von der Türkei eingebürgert werden. Ein Verlust der türkischen StA in Ostrumelien zieht den Verlust des dortigen Indigenats nach sich. Ein Verlust des Indigenats trat bei fremdem Wehrdienst ohne Genehmigung des Generalgouverneurs ein.

IV. Grundfragen des Völkerrechts

Von den Ursprüngen des Völkerrechts Von Hartwig Bülck "Gerade so wie Natur bin ich Geschichte." Graf York von Wartenburg* Vor dreihundert Jahren entdeckte man in der Bibel, daß es vor der Erschaffung Adams auch schon Menschen und Völker gegeben hat!. Das ist nicht lange her, da man inzwischen durch C 14 und andere analytische Methoden weiß, daß der Mensch über eine Million Jahre alt ist und unser unmittelbarer Vorfahr, der Homo sapiens, auch schon vor 30000 Jahren gelebt hat, ante Christum natum oder, wie manche bereits sagen, vor unserer Zeitrechnung. Den Ursprüngen der Menschen und Völker wird man jedoch weder allein mit Bibelexegese noch mit Systemanalyse näherkommen. Hier können nur die Natur- und Geisteswissenschaften in "wechselseitiger Erhellung" (Dilthey) helfen. Von ihnen etwas über diese Ursprünge zu erfahren, ist heute um so notwendiger, als das neue, industrielle Rechtshaus der Völker, vor allem das der europäischen, eher vom Dach her, wie es im Europarecht scheint, als auf den Fundamenten des Völkerrechts gebaut wird. I.

Diese Fundamente liegen tief. Sie reichen in die Steinzeit zurück, vielleicht schon ins ausgehende Tertiär, als der Mensch anfing, sich vom Tier zu unterscheiden. Daß er mit ihm stammesgeschichtlich zusammenhängt, kann nach der neueren Primatenforschung nicht mehr bezweifelt werden. Darwin hat doch Recht behalten2 • Die Freisetzung der Hände, der zweifüßige, aufrechte Gang, die dadurch ermöglichte Vergrößerung des Gehirns ließen den Menschen entstehen, der uns erstmals mit Schädel- und Knochenresten als Australopithecus aus der * Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul York von Wartenburg, 1877 - 1897, Halle 1923, S. 71. 1 Jsaac de la Peyreres, Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi, 1655. Im näheren H. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, 1960, S. 89 ff. 2 G. Heberer, Darwins Bild der abstammungsgeschichtlichen Herkunft des Menschen und die moderne Forschung, in: G. Heberer / F. Schwanitz (Hrsg.), Hundert Jahre Evolutionsforschung. Das wissenschaftliche Vermächtnis Charles Darwins, 1960, S. 379 ff.

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Oldoway-Schlucht in Südafrika entgegentritt. Schon diese Urmenschen, mit der die erste Phase der Menschwerdung, weit vor dem Neandertaler, abgeschiossen wurde, hatten eine Kultur, die osteodontokratische, die Knochen-Zahn-Horn-Kultur 3 • Zu ihr gehörte die Anthropophagie 4 • Unter den fossilierten Resten der Beutetiere des Menschen fanden sich Bruchstücke seiner eigenen Art. Die Schädel waren am Hinterhauptloch aufgeschlagen, um das begehrte Gehirn herauszuholen, mit einem nach der "crack and twist"-Technik5 längs gespaltenen Oberschenkelknochen, den man gleichfalls unter den Resten fand. Ähnliche Funde wurden beim Peking-Menschen (vor 300000 Jahren), beim NeandertalTyp auf Java und auch in Europa in Krapina (Jugoslawien) und in der Erteböller-Fundstätte der Mittelsteinzeit in Jütland gemacht: Schnittspuren an Menschenknochen, geöffnete Kinder- und Frauenschädel. Daß schon die frühen Menschen Menschen gejagt, getötet und verspeist haben, wird zwar vielfach, auch aus religiösen Gründen bestritten6 , muß jedoch nach dem neuesten Forschungsstand als anthropologische Tatsache hingenommen werden, wenn man nicht den wissenschaftlichen Grund unter den Füßen des Menschen verlieren wilF. Deshalb wird man auch dem Versuch nicht beipflichten können, die Anthropophagie als entartete Spätform des kultischen Kannibalismus anzusehen 8 • Man wird vielmehr umgekehrt mit Gehlen, Jettmar und anderen sagen müssen', daß der archaische Kannibalismus zum "spezifisch Menschlichen" gehört, weil der Mensch über ihn, wenn sicherlich auch nicht 3 G. Heberer, über den systematischen Ort und den physisch-psychischen Status der Australopithecinen, in: G. Heberer (Hrsg.), Menschliche Abstammungslehre, 1965, S. 310 ff. 4 R. A. Dart, Predatory transition from ape to man, Intern. Anthropological Linguistic Review, Bd. 1 (1953), S. 201 ff.; M. K. Roper, A survey of the evidence for intrahuman killing in the pleistocene, in: Current Anthropology, Bd. 10 (1969), S. 427 ff.; kritisch D. L. Wolberg, The hypothesized osteodontokreatic culture of the Australopithecinae, ebenda Bd. 11 (1970), S. 23 ff. 5 Durch Anbrechen des Schaftes und Gegeneinanderdrehen der Knochenenden, was nur mit den Händen geht, wird eine scharfe spiralige Kante mit dolchartiger Spitze erzeugt. Heberer, S. 348. ft J. Maringer, De Godsdienst der Praehistorie, 1952, dt. 1956, S. 66 ff., S. 82 ff., der die Sache Höhlenhyänen zuschiebt. 7 Über die "Intoleranz gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen" O. H. Schindewolf, Phylogenie und Anthropologie aus paläontologischer Sicht, in: H. G. Gadamer / P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 1, Biologische Anthropologie, 1970, S. 230 ff. S E. Volhard, Kannibalismus, 1939, S. 386 ff. Der kultische Kannibalismus reicht jedenfalls entgegen Volhard weit ins Paläolithikum zurück. Vgl. A. C. Blane, Some Evidence for the Ideologies of Early Man, in: Sh. L. Washburn, Social Life of Early Man, 1961, S. 119 ff., so daß man an einen übergang vom profanen Kannibalismus zum kultischen denken kann. g A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 2. Auf!. 1964, S. 204 ff.; K. Jettmar, Die anthropologische Aussage der Ethnologie, in: H. G. Gadamer / P. Vogler (Hrsg.), Bd. 4, Kulturanthropologie, 1973, S. 63 ff., 64.

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allein über ihn, Institutionen geschaffen hat, die den Menschen über das Tier erhoben und ihn eben dadurch als Menschen konstituiert haben. Das Tötungs- und Speise verbot, wohl erst im Jungpaläolithikum ausgebildet, gehört - wie wir sehen werden - zu den frühesten Leistungen seiner Rechtskultur. Was die Paläontologie, die stammesgeschichtliche Urkundenlehre des Menschen, ans Licht gebracht hat, steht im Einklang mit den Ergebnissen der Ethologie, der Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen. Diese junge Wissenschaft, der es um die Aufhebung des überholten Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaften geht, hat in zwei Forschergenerationen die Legende von der angeborenen Friedfertigkeit des Menschl'!n widerlegt. Gleich ob der Mensch ein instinktarmes Mängelwesen istl° oder ein mit zu vielen, aber labilen Instinkten ausgestattetes überschußwesenl l , seine ursprünglichen Verhaltensweisen ähneln weithin denen der Tiere, besonders der Primaten und sind unter den verschiedenen Rassen und Völkern durchaus gleichartig 12 • Tiere wie Menschen reagieren in ihrem Verhalten auf bestimmte angeborene "Auslöser", das sind Ausdrucksbewegungen und andere Signale für den innerartlichen Verkehr oder die zwischenartliehe Auseinandersetzung. Ein besonderer Schlüsselreiz ist das Fremde, das Nichtbekannte, das Unheimliche. Es ist der stärkste Ausdruck des sog. Distanzierungsverhaltens. Gegen fremde Eindringlinge verteidigen die meisten Tiere ihr Revier als ihren Lebensraum. Sie werden aggressiv bis zur Tötung des Feindes, wie man dies bei Löwen und freilebenden Schimpansen beobachtet hat, die dem Menschen stammesgeschichtlich am nächsten stehen. Jane van Lawick-Goodall, eine erfahrene Verhaltensforscherin, zählt 12 typische Situationen auf, in denen Schimpansen angreifen. Zweimal beobachtete sie, daß Männchen einer Gruppe ein revierfremdes Weibchen angriffen, wobei ein Kind des Opfers getötet und anschließend aufgefressen wurde 13 • Meistens geht es allerdings 10 A. Gehlen, Der Mensch, 9. Aufl. 1971; vgl. jetzt seinen Sonderbeitrag: Philosophische Anthropologie, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 1971, Bd. 2, S. 312 ff. 11 P. Leyhausen, Vom Ursprung des "handelnden Wesens", in: Standorte im Zeitstrom, Festschr. f. Arnold Gehlen, 1974, S. 197 ff., 214 ff. 12 Grundlegend K. LOTenz, Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, Zeitschr. f. Tierpsychologie, Bd. 5 (1943), S. 235 ff.; zum folgenden I. Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, 4. Aufl. 1974, hier zit. nach der 1. Aufl. 1967, S. 72 ff., S. 391 ff. (Humanethologie) ; S. 188 ff. auch über die stammesgeschichtliche Entwicklung und die Ontogenese der Verhaltensweisen; deTs., Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, 1973. 13 My Friends, the Wild Chimpanzees, 1967, dt.: Wilde Schimpansen. 10 Jahre Verhaltensforschung am Gombe-Strom mit 74 Aufnahmen, 1971; dies., The Behaviour of the Chimpanzee, in: G. KUTth / I. Eibl-Eibesfeldt (Hrsg.), Hominisation und Verhalten, 1975; I. Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, 1975, S. 75 ff., 85 ff. mit Hinweis auf

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unter tierischen Artgenossen unblutiger zu. Sie haben Hemmungsmechanismen ausgebildet, so daß ihre Revier-, Rang- und Rivalitätsstreitigkeiten häufig zu bloßen "Commentkämpfen" ritualisiert sind14 • Der Mensch ist von Natur und seiner phylogenetischen Anpassung her weniger gehemmt. Er kann kraft seines ausgebildeten Appetenzverhaltens, des Neugier- und Forschungstriebes gegenüber Fremdem, leichter und wirksamer töten als alle anderen Lebewesen. Denn er hat die Waffe erfunden, eines der ersten Hand-Werkzeuge, wie denn seine Hand und sein Handeln über die Kletteranpassung bis zum Präzisionsgriff im Vergleich zu allen Primaten am weitesten entwickelt sind 15 • "Die Hand ist das äußere Gehirn des Menschen", sagte Kant 16 • Die Erfindung und Handhabung der Werkzeuge und Waffen kraft seiner Intelligenz, nicht etwa die des Feuers, machte den Australopithecinen zum Menschen 17 • Weil so der Mensch von Natur ein Kulturwesen ist (Gehlen), kann er auch, anders als das Tier, Institutionen schaffen, die das Töten seiner eigenen Art unter Hemmung bringen. Das hat er bekanntlich seit langem im Kriegs- und Friedensrecht getan. Darin liegt das spezifisch Menschliche, die Bedeutung des "sogenannten" Bösen. Das Böse ist ein menschliches Reservat. Dies haben auch die christlichen Theologen, jedenfalls in ihren besseren Zeiten, deutlich gesehen. Der Teufel ist nicht der Aggressor, sondern der Betrüger und Empörer18 • G. Teleki, Predatory Behaviour of Wild Chimpanzees, 1973 und J. D. Bygott, Cannibalism among Wild Chimpanzees, in: Nature, Bd. 238 (1972), S. 410 ff. Die Schimpansen zeigen eine auffällige Vorliebe für das Gehirn ihrer Opfer. - Vgl. auch das Symposium im Britischen Museum, auf dem tierische und menschliche Aggression zusammen behandelt wurden, J. D. Carthy I F. J. Ebling (eds.), The Natural History of Aggression, 1964. 14 Eibl-Eibesfeldt, Grundriß, S. 314 ff.; W. Wickler, Stammesgeschichte und Ritualisierung. Zur Entstehung tierischer und menschlicher Verhaltensmuster, 1970. 15 über die stammesgeschichtliche Bedeutung der Waffe K. Lorenz, Das sogenannte Böse, 1963. Zur Ausbildung der Hand und des HandeIns bei Affen und Menschen vgl. Eibl-Eibesfeldt, Grundriß, S. 447. Zum Waffengebrauch bei Menschenaffen ders., Krieg und Frieden, S. 91 ff. mit Bericht über die Forschungen A. Kortlands, bes. New Perspectives on Ape and Human Evolution, 1972. Vgl. auch B. Rensch, Handgebrauch und Verständigung bei Affen und Frühmenschen, 1968. 16 Zit. R. Kobler, Der Weg des Menschen vom Links- zum Rechtshänder, 1932, Motto. 17 K. P. Oakley, On Man's Use of Fire, with Comments on Tool-Making and Hunting, in: Sh. L. Washburn, S. 176 ff., der die Ausbildung des Gehirns für die Erfindung der Werkzeuge betont. 18 Vgl. L. Berkowitz, Aggression, 1962, zit. Jettmar (Anm. 9), S. 85 und A. Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 185: "Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere zwingt, in ihm zu leben ... Der Antichrist trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellis Fresco in Orvieto. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft."

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Der Aggressionstrieb des Menschen gegenüber Fremden sitzt tief. Die Nervenphysiologie lehrt, daß er "in den tiefsten und primitivsten Zentren des Wirbeltiergehirns beheimatet ist, nämlich im Stammhirn"19. Das "Reaktionsschema fremd = Feind, bekannt = Freund"20 zeigt auch die Biogrammatik, die die biologischen Grundstrukturen des Menschlichen freilegt 21 , ähnlich wie die strukturelle Sprachtheorie (Chomsky) oder die gleichartige Anthropologie von Cl. Levi-Strauss 22 . Die Aggression als "dynamische Instinktkonzeption" lehren seit langem Sigmund Freud und Konrad Lorenz, vor allem aber lehren sie, daß man den Aggressionstrieb durch ethische und rechtliche Institutionen bändigen müsse23 • In der Industriekultur freilich, mit der der Mensch die Natur weithin beherrscht, scheint es ihm immer schwerer zu fallen, sich selbst zu beherrschen, d. h. sich und seinesgleichen durch völkerrechtliche Institutionen zu schützen. Das ist um so bedrohlicher, als von verschiedenen Seiten behauptet wird, der Aggressionstrieb sei nur etwas Erlerntes, eine erworbene (schlechte) Angewohnheit2' oder durch Frustration, besonders sexuelle, hervorgerufen, so daß man ihm durch (antiautoritäre) Erziehung beikommen könne25 • Mit dieser Kritik überhebt sich die Subjektivität und schlägt dann in das Gegenteil um, in die Objektivität sozialer Zwänge, so in der verhaltenstechnischen Milieutheorie des Psychologen G. F. Skinner, der dem Menschen, weil ihm Autonomie fehle, systemgemäßes Verhalten durch Belohnung und Strafe an- und abdressieren will. Sein Buch heißt: Jenseits von Freiheit und Würde, New York 1971, dt. 1973. Die' Ergebnisse der Paläontologie und Ethologie bestätigt die Ethnologie, die Kunde von den Naturvölkern, wie schon Herder die "Primitiven" im Unterschied zum zivilisatorischen Fortschrittsoptimismus genannt hat26 • Die Völkerkunde, eine alte erfahrensreiche Wissenschaft, 19 V. H. Mark / F. R. Erwin, Violence and the Brain, 1970; vgl. auch G. Steiner, Das Unbelehrbare im Menschen, in: Studium Generale, Bd. 15 (1962), S. 389 ff. 20 Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, S. 93. 21 L. Tiger / R. Fox, The Imperial Animal, 1971, dt. 1973. 22 Vgl. H. Göhring, Generative Grammatik und Kulturanthropologie, in: Anthropos, Bd. 62 (1967), S. 802 ff.; Cl. Levi-Strauss, Anthropologie Struc-

turale, 1958, dt. 1967. 23 K. Lorenz, Das sogenannte Böse, 1963; S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. 14, 4. Auf!. 1968, S. 471: "Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? ... Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen." U J. B. Scott, Aggression, 1960. 25 A. Montagu, Man and Aggression, 1968; A. Plack, Die Gesellschaft und das Böse, 2. Auf!. 1968. Z8 Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, 1774, Bd. I, S. 83.

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kennt seit langem den Gegensatz von fremd und vertraut. Viele Völkerschaften, besonders die einfachen Jäger- und Sammlervölker, die sogenannten Wildbeuter, Pygmäen, Buschmänner, Feuerländer und andere, die der paläolithischen Urkultur noch am meisten ähneln, kennen und anerkennen nur sich als Mensch. Ihr Name bedeutet nichts anderes als "Mensch". Fremde Menschen werden nicht bezeichnet27 • Ihre Wesenheit ist noch nicht durch einen Namen gebannt. Wo dies im Ansatz geschieht, wie bei den Guayanas in der Südsee, heißt "Kanaime" nicht nur das Fremde und Feindliche schlechthin, sondern auch das Nichtvertraute, das Unheimliche 28 • Die Melanesier hielten die ersten Weißen nicht für Menschen, sondern für göttlich gewordene Verstorbene 29 • Selbst bei entwickelten Naturvölkern ist Fremder nur ein anderes Wort für Feind30 • So ist es auch nicht richtig, wie manche Ethnologen behaupten, daß die Primitiven von Natur aus friedfertig seien und erst durch die Kultur aggressiv geworden wären 31 • Gewiß sind nur wenige Kopf- und Menschenjäger. Streit und Gewalt aber gibt es bei allen32 • 27 C. Meinhoj, Afrikanische Rechtsbräuche, 1914, S. 131 ff.; M. R. Davie, The Evolution of War, 1929, S. 234. 28 Ad. E. Jensen, Mythos und Kult bei Naturvölkern, 1951, S. 371. 29 J. Cazeneuve, La Connaissance d'Autrui dans les Soch~tes Ar-chaYques, in: Cahiers intern. de Sociologie, Bd. 25 (1958), S. 75 ff., 78. 30 A. Dorsingjang-Smets, Les Etrangers dans la Societe Primitive, in: L' Etranger, Rec. Societe Jean Bodin, T. IX, 1958, S. 59 ff. 31 Pater W. Schmidt, Lebende Völker als Reste ältester Völker und. Kulturen, in: Die Urkulturen: Älteste Jäger- und Sammlerstufe, in: Historia Mundi, Bd. I, 1952, S. 375 ff., 409 und seine (Wiener Ethnologen-)Schule. Ähnlich R. Numelin, The Beginnings of Diplomacy. A sociological Study of intertribai and international Relations, 1950, S. 65 ff. aus der finnischen Schule. Die These von der Friedfertigkeit der Jäger- und Sammlerkulturen ist inzwischen durch die Rousseau-Renaissance gängig geworden, vgl. statt vieler H. Helmuth, Zum Verhalten des Menschen: Die Aggression, in: Ztschr. f. Ethnologie, Bd. 92 (1967), S. 265 ff. und R. B. Lee / J. DeVore (eds.), Man the Hunter, 1968. 32 L. Frobenius, Weltgeschichte des Krieges, 1903; M. R. Davie, The Evolution of War. A Study of its Rule in Early Societies, 1929, S. 1 ff., 46 ff.; E. W. Mühlmann, Waffentechnik und Kriegsführung in der Entwicklung der Menschheit, in: ders., Homo Creator, 1962, S. 219 ff., 220 f. Eibl-Eibesjeldt, Krieg und Frieden, S. 149 ff. eingehend zum "Mythos von der aggressionslosen Urgesellschaft"; ders., Der vorprogrammierte Mensch, S. 111 ff. zu den Ko-Buschleuten (Kalahari) mit Filmaufnahmen, die zum Teil vom Humanethologischen Filmarchiv der Max-Planck-Gesellschaft veröffentlicht worden sind. Vgl. auch Heft 1 des Journal of Conflict Resolution, Bd. 5 (1961), das der "Anthropology of Conflict" gewidmet ist, sowie die Sonderstudien von W. T. Divale, System Populations Control in the Middle and Upper Palaeolithic: Inferences Based on Contemporary-Gatherers, in: World Archaeology, Bd. 4 (1972), S. 222 ff. und wohl auch im Zusammenhang mit der Anthropophagie A. Mohr, Häufigkeit und Lokalisation von Frakturen und Verletzungen am Skelett vor- und frühgeschichtlicher Menschengruppen, in: Ethnogr.-Archäol. Ztschr., Bd. 12 (1971), S. 139 ff.

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Zum Menschen, wie wir ihn verstehen, wird der Mensch erst über den anderen; das Eigene wird nur über das Fremde bewußt. Das hat die Kulturanthropologie herausgearbeitet33 • Sie greift in der Institutionenlehre Gehlens noch ein Stück tiefer, in die Urgeschichte zurück. über das große wehrhafte Tier, mit dem die eurasiatischen Mammutjäger im Jungpaläolithikum vor 30000 Jahren eine Jagd- und Beutegemeinschaft verband, kam der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst. Indem er sich mit den Tieren gleichsetzte, unterschied er sich auch von ihnen. Er nahm ihren Namen an, trug ihr Aussehen als eigene Maske oder stellte sonst seine Außenwelt in imitatorischen Riten und damit sich selbst dar. Der Mensch gewann und behält das Sichbewußt-Sein, das dauernde Bewußtsein seiner selbst über ein Fremdes, über seine "Entfremdung", wie es seit Hegel heißt. Diese ursprüngliche Menschwerdung darf nicht in moderner Weise subjektivistisch verstanden werden. Nicht so sehr der einzelne Mensch als vielmehr seine Gruppe kommt auf diese Weise zum Gefühl der Gemeinschaft, der Gruppeneinheit. Das ist der Sinn des Totemismus; er erzeugt die "Völker". Denn er stellt nicht nur die Ernährung über die kultische Tier- und Pflanzenhege in den Institutionen der Viehzucht und des Ackerbaus auf Dauer, sondern auch die Fortpflanzung des Menschen und die Erhaltung seiner Art in den totemistischen Blutsverbandsordnungen. Das sind Abstammungsgruppen, die entweder nach der Vaterfolge oder nach der Mutterfolge rechnen und dadurch einseitig festgelegte Blutslinien (Lineages) bilden, im schwankenden Sprachgebrauch der Ethnologen Clans genannt 34 , genauer Unilineal Descent Groups35. Sie leiten sich von einem wirklichen oder vermeintlichen Ahnherrn ab, der zumeist mit einem Totemtier gleichgesetzt wird, so daß es einen Bären-, einen Wolf-, einen Biberclan usw. gibt. Die Sippe der germanischen Stämme gehört ebenfalls hierher. Doch rechnet sie nicht einseitig in der Vater- oder Mutterlinie, sondern umfaßt alle Verwandten (omnilateral kinship group), also auch die Vettern und Basen, aber nur bis zum sechsten Grad. Dafür gebrauchte man mit der zeitgerechten Dominanz organischer Kategorien das Bild eines Sippen-Körpers. Verwandte des ersten Grades, Vater und Mutter, sind der Kopf. Die eigenen Brüder und Schwestern die Nackenverwandte, die ersten Cousins die Schultern und so fort über die Ellenbogen, das Handgelenk bis zu G. H. Mead, Mind, Self and Society, 1934, dt. 1968. über die "hopeless confusion of nomenclature" vgl. R. H. Lowie, Primitive Society, 1947, S. III und P. Bohannan, Social Anthropology, 1963, S. 42 ff. 35 G. P. Murdock, Social Structure, 1949; Cl. Levi-Strauss, Les structures tHementaires de la parente, 1949; A. Gehlen, Die Sozialstrukturen primitiver Gesellschaften, in: A. Gehlen / H. Schelsky (Hrsg.), Soziologie, 1955, S. 11 ff. eine verwirrende Wissenschaft, in der die Australier so überspezialisiert sind wie wir in der Technik. 33

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den Fingern. Die Cousins des siebten Grades rechneten nicht mehr zur Sippe, sie waren, wie man noch heute von entfernten Verwandten sagt, "Nagelbrüder"36. Auch die Sippen hatten ihr Totemtier, das in den Wappen der ehemals regierenden Geschlechter Europas nachlebt. Diese Verwandtschaftsgruppen wurden Gentes von ihrem Entdecker, Lewis H. Morgan, genannt. Gens, genos, ganas in Latein, Griechisch und Sanskrit, haben sämtlich die ursprüngliche Bedeutung von Blutsverwandtschaft. Sie enthalten dasselbe Element wie gigno, gignomai, ganamai in den nämlichen Sprachen, was erzeugen bedeutet und für jede Gens eine unmittelbare gemeinsame Abstammung der Mitglieder ausdrückt37 • Die Gentes (Clans und Sippen) sind eine elementare Rechtsinstitution mit doppelter Bedeutung. Zum einen ermöglichen sie die Exogamie, den Tausch heiratbarer Mädchen und sichern durch den Inzesttabu als seine Kehrseite den biologischen Fortbestand der Art. Zum anderen schützen sie den Menschen vor sich selber, und hier liegt der Ursprung der völkerrechtlichen Institutionen. Wenn das Totemtier nicht getötet und nicht gegessen werden darf, und wenn sich die einzelnen Mitglieder der Gens mit je demselben Totemtier gleichsetzen, dann hat dieses Tötungsverbot zugleich den Mord und das Fressen des Gemordeten in der eigenen Gruppe verhindert. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Totemismus. Mit ihm hat die Menschheit die Anthropophagie überwunden und den "Völkern" das erste Recht gegeben 38 •

H. Dem Verbot des Tötens von Menschen, um sie zu essen, folgte das Verbot des Tötens schlechthin. Damit ist die Menschheit bekanntlich noch nicht am Ende. Der Anfang liegt auch hier bei den Gentes. Sie befinden sich in einem dauernden Prozeß der Trennung und Vereinigung, den man um die Jahrhundertwende, dem naturalistischen Zeit38 P. Bohannan, S. 127 ff.; V. Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, 6. Aufl. 1961, Bd. 1, S. 218 ff. Die Sonderstellung bilateraler Zurechnung bei den Germanen und auch in Polynesien erklärt sich aus der Adelsordnung einer Erobererschicht mit gleichem Status und gleichen Privilegien der Geschlechter. Vgl. A. R. Radcliffe-Brown, Structure und Function in Primitive Society, 1952, S. 48 und Gehlen (vorige Anm.), S. 13, 21. 37 L. H. Morgan, Ancient Society, 1877, dt. 1908, S. 52 ff. Der Begründer des "Lehrbuchs der Völkerkunde", Leonhard Adam, wollte sogar durch die römische Rechtssprache die gesamte ethnologische Terminologie vereinheitlichen. Vgl. D. Ertle, Ethnologische Rechtsforschung, in: H. Trimborn (Hrsg.), Lehrbuch der Völkerkunde, 4. Aufl., 1971, S. 296 ff., 302. Das hängt mit den antiken Studien der historischen Schule zusammen, vgl. K. A. Nowotny, Die logischen Grundlagen völkerkundlicher Theorien, in: Mitt. d. Anthrop. Gesellsch. Wien, Bd. 91 (1961), S. 47 ff. Vgl. unten Abschn. UI. 38 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 204 ff.

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geist entsprechend, mit der homologen Zellteilung und -verbindung verglich s9 • Solcher Biologismus ist auch heute wieder verführerisch im Hinblick auf die Teilung und Verbindung komplizierter Faden- und Kettenmoleküle (DNS) in der modernen Human- und Populationsgenetiks9a • Für das soziale Phänomen ist aber der ethologische Boden sicherer als der biologische. Die Verhaltensforscher stellen dem eingangs erwähnten Distanzierungsverhalten, dem Trennungsbedürfnis, das Kontaktverhalten gegenüber, das bei geselligen und ungeselligen Tieren und Menschen verschieden ist, aber in allen Fällen - von Einsiedlern abgesehen - zu Gruppenbindungen führt, zu anonymen Verbänden, Elritzen-Schwärmen und Mäusegesellschaften und zu individualisierten Verbänden, in denen sich die Mitglieder kennen, Hühnerund Affenvölkern. Dabei gibt die Brutpflege den ursprünglichsten Kontakt. Sie greift am stärksten bei Mensch und Tier durch; sie ist der wirksamste "Gruppenzement"40. Dieses Pflegebedürfnis halten einige Verhaltensforscher für so wirksam, daß damit der Streit der heutigen Weltmächte überbrückt werden könnte: das hilfsbedürftige Kind als völkerverbindendes Symbol, "Saving the Children can Save US"41. Man sieht, daß die Verhaltensforscher keineswegs "biologische Aggressionstheoretiker" sind, sondern sogar in den gegenteiligen Fehler verfallen können: die Bedeutung der spezifisch menschlichen Vermittlung existenzieller Gegensätze und ihre Stabilisierung in rechtlichen Institutionen zu unterschätzen. Den internationalen Schutz des Kindes hat nicht einmal das Christuskind fertiggebracht, geschweige denn das heutige Völkerrecht42 . Distanz und Kontakt, Trennung und Vereinigung stehen bei Tier und Mensch in dauernder Wechselwirkung 43 . So berichten die Verhaltensforscher über Schimpansen, daß in ihren Gruppen die Mitglieder ständig wechselten, sich aufspaltend, andere treffend und sich mit ihnen vereinend, sich versammelnd oder sich verteilend44 . Ähnliches 39 Vgl. E. Durkheim, De la division du travail social, 1893, 2. Aufl. 1902, S. 167 ff. 39a Vgl. J. Monod, Le hasard et la necessite, 1970, dt. 1971. 40 Eibl-Eibesjeldt, Grundriß, S. 440. 41 Der Amerikaner F. Fremont-Smith auf einer Ethologen-Konferenz in der Sowjetunion, zit. Eibl-Eibesfeldt, S. 439. 42 Vgl. A. Dobler, Der völkerrechtliche Schutz des Kindes, Züricher Diss. 1959. 43 Über den Distanz- und Kontaktgruß vom Winken übers Händegeben bis zur Umarmung bei allen Völkern und Rassen eingehend Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, S. 151 ff. 44 V. Reynolds, Budongo: A Forest and its Chimpanzees, London 1965; Y. Furuya, On the Fission of Troops of Japanes Monkeys, in: Primate, Bd.l0 (1969), S. 47 ff.; Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden, S. 76 ff. betont, daß der Wechsel in den eigenen Gruppen, nicht zwischen fremden Gruppen stattfindet.

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haben die Ethnologen für die hoch archaischen Schweif- und Lagergruppen der Wildbeutervölker festgestellt. Auch diese befinden sich um die Aufzuchtfamilien als Kern in einem ständigen "Process of Fission and Fusion"45, in dem sich die festeren Totemgruppen der Gentes herausbildeten. Die Seßhaftigkeit der Ackerbauer und Viehzüchter seit dem Neolithikum vor etwa 10000 Jahren befestigte dann diese Ordnung weiter und führte besonders zu den verschachtelten Rechtsformen der Gentil- und Stammesordnung. Sie ist das rechtliche Rückgrat der Agrarkultur und bis heute weit verbreitet, besonders bei den Völkern Afrikas und Asiens 46 . Auch in Europa beschränkt sich die Geschlechterordnung nicht auf die archaischen Kulturen, sondern reicht über die antiken Hochkulturen und die christliche Ständegesellschaft des Mittelalters bis zur Schwelle der Industriekultur, in der die Gentilordnung im zwischenstaatlichen Nations- und Völkerbegriff aufgehoben worden ist. Nach dem Ethnologen Morgan war es der Soziologe Durkheim, der die Sache auf gen aue Begriffe brachte. Er nannte die Trennung und Vereinigung von Blutsverbänden Segmentation, ihre alten Teile und neuen Verbindungen Segmente. Dabei unterschied er zwei Arten von Segmentation. Die lineare, die zu verschiedenen Reihen von Gentes führt (clans, wie er sie nannte) und die fortschreitende Verschachtelung von Gentes zu Phratrien (Bruderschaften), von Phratrien zu Stämmen und von Stämmen zu Stammesbünden. Archaische Gesellschaften sind deshalb nach Durkheim "societes segmentaires a base de clans ... formees par la repetition d'agregats semblables entre eux analogues aux anneaux de l'annele", wie die Ringe des Ringelwurms 47 . Mit diesem Vergleich hob er zwei Punkte hervor. Erstens die Gleichartigkeit der segmentären Abstammungsgruppen sowohl in der linearen Serie als Gentes, wie in ihren verschachtelten Formen, und zweitens die Gegenüberstellung der segmentären Verwandtschaftsringe, ihre Reziprozität. Diesen Aufbau der Gentilordnung hat während der letzten Jahrzehnte in der Nachfolge Durkheims die englische Social Anthropology bei archaischen Gesellschaften in Afrika gründlich untersucht48 • Ihre Feldforschungen bei den Nuern und Dinkas im südlichen Sudan, bei den 45 E. R. Service, Primitive Sodal Organization, 1962, S. 59 ff.: Sodal Organization of Bands; C. M. Turnbull, Wayward Servants. The Two Worlds of the African Pygmics, 1965, S. 100 ff.: Fragmentation, Fission and Fusion. 46 Vgl. G. P. Murdock, World Ethnographie Sampie, in: American Anthropologist, Bd. 59 (1957), S. 664 ff. 47 (Anm. 39), S. 150. 48 Vgl. M. Fortes / E. E. Evans-Pritchard (eds.), African Political Systems, 1940; J. Middleton / D. Tait (eds.), Tribes without Rulers. Studies in African Segmentary Systems, 1968; Chr. Sigrist, Regulierte Anarchie, 1967. Das Interesse dieser ethnologischen Forschungsrichtung ist auf das Fehlen zentralisierter Herrschaft gerichtet, wie sie den modernen Staat kennzeichnet.

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Tivs und Tallensi in West afrika, den Konkomba in Togo und den Lugbara in Uganda geben ein sehr differenziertes Bild des Segmentary Lineage System, wie sie die Gentilordnung nennen. "Continual segmentation and complementary opposition"49 ist ihr gemeinsames Ergebnis, das Durkheims Kategorien bestätigt. Für moderne etatistische Begriffe ist dabei kein Raum. "Wir dürfen in primitiven Institutionen", wie Richard Thurnwald sagt, "niemals diese Unbedingtheit, Festigkeit und Unabänderlichkeit suchen, die uns bei dem Gedanken an eine Institution selbstverständlich erscheint"50. In dem reziproken Mit- und Gegeneinander der einfachen und verschachtelten Gentes liegt der Ursprung des völkerrechtlichen Tötungsverbots. Zwar gilt es nicht innerhalb einer Gens. Hier greift der Bann des gleichen Totems ein; Brudermord ist eine Art Selbstmord, genauer ein mystisch-magisches Unglück, das der rituellen Sühne bedarf, aber keine Vergeltung zwischen Menschen fordert 51 • Wohl aber zwischen den Gentes entwickelt sich das Tötungsverbot als rechtliches Gebot. Streit und Gewalt, gerade auch blutige, werden langsam zwischen ihnen geregelt. So wie sie heiratbare Mädchen tauschen, um sich fortzupflanzen, ebenso regeln sie die tötliche Gewalt gegeneinander, um sich nicht auszurotten. Wurde ein Gentilgenosse erschlagen, so nahm seine Gens Rache, Blutrache für ihn; sie erschlug einen Genossen der anderen Gens. Das war bewaffneter Kampf, nicht etwa zwischen Einzelnen, sondern zwischen ihren Blutsverbänden. Zunächst war er unbegrenzt, es wurde in blutigem Hin und Her wahllos getötet52 • Dann wurde die Rache auf ein erstes Gleichmaß gebracht: für einen Mann einen Mann, für eine Frau eine Frau, für einen wehrhaften Mann einen gleichstarken, für eine geburtsfähige Frau gleichfalls eine jüngere, bis das Gleichmaß gefunden war, das uns nach der Formel "Auge um Auge, Zahn um Zahn" geläufig ist, und Talion nach den XII Tafeln genannt wird: "Si quis membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto." 49

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Middleton / Tait, S. 7. R. Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologi-

schen Grundlagen, Bd. 2, 1932, S. 2. Die segmentäre Erweiterung archaischer Gesellschaften betont nach den neueren Forschungsergebnissen E. R. Service, Primitive Social Organization. An Evolutionary Perspective, 1962. Diese Perspektive ist frei von dem extremen Fortschritts-Evolutionismus des 19. Jhs. Morgans Theorie wirkt heute nur noch, freilich kräftig in der marxistischen Orthodoxie. Vgl. E. Lucas, Die Rezeption Lewis H. Morgans durch Marx und Engels, in: Saeculum, Bd. 15 (1964), S. 153 ff. Zum Entwicklungsgedanken bei Durkheim vgl. R. N. BeUah, Durkheim and History, in: American Sociological Review, Bd. 24 (1959), S. 447 ff. 61 Vgl. M. Fortes, The Dynamics of Clanship among the Tallensi, 1945, S. 270; eingehend J. Schapera, The Sin of Cain, J. of the Royal Anthrop. Inst., Bd. 85 (1955), S. 33 ff.; auch Sigrist, S. 118 ff. 52 über die Urform unbegrenzter Kettenrache vgl. R. M. Glasse, Revenge and Redress among the Huli, in: Mankind, Bd. 5 (1959), S. 277 ff. 15 Festschrift Menzel

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Ein zweites, milderndes Gleichmaß erhielt die Rache oder Blutfehde, wie sie im germanischen Recht hieß, indem für einen Getöteten ein Ausgleich in Geld und Gut angenommen wurde, also keine neue Tötung begangen, sondern das Genugtun in Blut- oder Wergeld bestand, für einen getöteten Franken z. B. 200 Kühe 53 • Im nächsten Entwicklungsschritt wurde die Fehde über zwei verfeindete Gentes hinaus auf Gruppen solcher Gentes ausgedehnt. Sie schränkte damit nicht nur Zahl und Art der Tötungen ein, sondern vergrößerte auch den Kreis der Menschen, die nicht getötet werden durften. Zwei, drei oder auch mehrere Gentes schlossen sich zu Fehdegruppen zusammen, die als Schutzgemeinschaften füreinander einstanden und als Kampfgemeinschaften gleichartigen Verbänden anderer Gentes gegenübertraten. Diese miteinander verschachtelten Gentes waren Bruderschaften. Bei den amerikanischen Ureinwohnern hatten z. B. die Mohikaner 3 Phratrien, die Wolf-, Schildkröten- und Truthahnphratrie, die aus 4 bzw. 3 Gentes bestanden54 • Noch verschachtelter wurde die Bruderschaft, wenn die Gentes in ihren Wohnbezirken miteinander verbunden waren, wie etwa bei den afrikanischen Tivs und Konkomba 55 • Bei den nordafrikanischen Berbern führte dies zu persönlich und räumlich hart gegeneinander stehenden Fehdeverbänden 56 • Auch die europäischen Ureinwohner verschachtelten ihre Gentes zu Phratrien, so die Griechen, von denen Morgan den Namen für die Bruderschaften entlehnt hat. Die athenische Phratrie z. B. bestand aus dreißig Gentes, eine Zahl, die durch Segmentation eingehalten wurde. Die Bedeutung dieser Bruderschaften zeigt Nestors Rat: "Ordne die Männer nach Stämmen und Phratrien, Agamemnon, daß die Phratrie der Phratrie beistehe, und die Stämme den Stämmen" (Ilias H, 362)57. 63 Vgl. A. R. Radcliffe-Brown (Anm. 36), S. 215 ff.; Lucy Mair, Primitive Government, 1962, S. 35 ff.; H. Planitz / K. A. Eckardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auf!. 1961, S. 62 ff. Über die Entwicklung der Rache statt zur völkerrechtlichen Fehde zur individuellen Strafe vgl. H. Trimborn, Die Privatrache und der Eingriff des Staates, in: Dt. Landesreferate zum 3. Intern. Kongreß f. Rechtsvergleichung, 1950, S. 133 ff. und neuerdings B. Rehfeldt, Die Entwicklung der Strafe, Festschr. f. Hans Carl Nipperdey, 1965, Bd. I, S. 95 ff. st Vgl. Morgan, S. 85. 55 Laura Bohannan, Political Aspects of Tiv Social Organization und D. Tait, The Territorial Patterns and Lineage System of Konkomba, in: Middleton / Tait (eds.), (Anm. 48), S. 33 ff. bzw. S. 167 ff. ss Vgl. R. Montagne, Les Berberes et le Makhzen dans le Sud du Maroc, 1930 und W. H. Lewis, Feuding and Social Change in Morocco, in: J. of Conflict Resolution, Bd. 5 (1961), S. 43 ff.: die Fehdeordnung bestand bis zur Errichtung des französischen Protektorats im Jahre 1912. Vgl. auch E. Gräf, Das Rechtswesen der heutigen Beduinen, 1952, S. 11 ff. S7 A. Andrewes, Phratries in Homer, in: Hermes, Bd. 89 (1961), S. 129 ff.; ders., PhiIochoros on Phratries, in: J. of Hellenie Studies, Bd. 81 (1961), S. 1 ff.; zur späteren Entwicklung U. Kahrstedt, Studien zum öffentl. Recht Athens, Bd. I (1934), S. 230 ff.

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Im altrömischen Recht hießen die Phratrien Kurien. Sie bestanden aus 10 Gentes und hatten Fehderecht58 • Ein durchgehender Zug gentiler Verschachtelung war die Bildung von nur zwei Phratrien, die einander als Hälften (moities) einer Doppelordnung gegenüberstanden und gleichzeitig verbunden waren. So heißt etwa bei den Winnebago-Indianern die eine Hälfte "die obere", die andere "die auf der Erde" mit alten Totemnamen von Vögeln bzw. Landtieren59 • Die Ureinwohner Neuguineas teilen sich und ihre gesamte lebende und tote Umwelt in solche Hälften ein1o • Auch in der Frühzeit der Hochkulturen erscheint die Halbierung z. B. in "Ober" und "Unter"-Ägypten mit entsprechender Symbolik61 oder in dem mythischen Zwillingspaar Romulus und Remus als Gründer Roms. Zwillinge können nach archaischer Auffassung nur von einem Geist oder Gott gezeugt sein62 • Die Jumelage deutscher und französischer Städte im Europarat ist ein ideologischer Nachkömmling solcher Gründungen. Der gealterte Stier zeugt zwar noch mit Europa die Zwillinge Minos und Rhadamantis, eine Hauptstadt bringen sie aber nicht mehr zustande. Die brüderliche Doppelung als Symbol der Gleichheit und 58 Vgl. jetzt P. De Franeisei, Primordia Civitatis, 1959, der im Unterschied zur alten romanistischen Forschung paläoethnologische Arbeiten heranzieht, bes. Pia Laviosa-Zambotti, 11 Mediterraneo, l'Europe, l'Italia durante la preistoria, 1954. Zu den Gentes und Kurien (consorterie gentilizie) vgl. S. 188 ff., 483 ff., 572 ff. Zur Ergänzung vgl. dens., La communita sociale e politica romana primitiva, in: Studia et Documenta Historiae et Juris, Bd. 22 (1956), S. 1 - 86. Francisci meint, daß die Urbevölkerung Italiens sich in einem "stato fluido" (S. 129) befunden habe, aus dem sich erst durch "Polymerisation" die späteren festen Formen herausgebildet hätten. Das entspricht der Segmentation, wie sie für archaische Gesellschaften typisch ist. Vgl. auch H. Rise, Ursprung des römisch-mittelitalischen Gentil-Namensysterns, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 2, 1972, S. 700 ff. Zur strittigen Frage nach der politischen Rolle der Gens in der Frühzeit vgl. R. Orestano, Gens, in: Novissimo Digesto Italiano, Bd. 7 (1961), S. 782 ff. Kritisch zur gentilen Bedeutung der Kurien neuestens R. E. A. Palmer, The Archaic Community of the Romans, 1970. Das ethnologische Fundament ist jedenfalls tief und breit, vgl. z. B. die Kennzeichnung der römischen Verwandtschaftsordnung mit dem nach einem Indianerstamm genannten "Omaha-Typ", F. G. Lounsbury, The Structure of the Latin Kinship System and its Relation to Roman Social Organization, in: Trudy Mezdunarodnogo Kongresa Antropologil!eskich i Etnografil!eskich nauk., 7. Moskva 1964, Bd. 4, 1967, S. 261 ff. 59 Thurnwald, 2. Bd., S. 148 ff. 80 P. Wirz, Anthropol. u. ethnolog. Ergebnisse der Central-Neu-GuineaExped. 1921 - 22, 1924. 81 Vgl. W. J. Perry, The Children of the Sun, 1923, S. 271 ff. Ähnlich auf den Gesellschaftsinseln, die geteilt werden in "Lichtland" und "Dunkelland". Vgl. E. W. Mühlmann, Staatsbildung und Amphiktyonien in Polynesien, 1938, S. 87 ff. Reiches Material bis zu den Stadt-vierteln der Neuzeit bei B. E. Siebs, Weltbild, Symbolische Zahl und Verfassung, 1969. 82 Vgl. L. F. Sternberg, Der antike Zwillingskult im Lichte der Ethnologie, in: Ztschr. f. Ethnologie, Bd. 61 (1930), S. 152 ff., 189 ff.

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Gegenseitigkeit wurzelt tief im Archaischen. Häufig bildeten die Phratrien als Fehdeverbände auch tauschfähige Heiratsgruppen, wie sie umgekehrt Kultgemeinschaften waren, die die rituellen Begräbnisse füreinander ausrichteten63 • Leben und Tod reichen sich über Liebe und Haß die Hand, ewige Vereinigung und ewige Trennung. Zwei oder mehrere Phratrien bilden ihrerseits nicht nur einen weiteren Verwandtschafts-, Sprach- und Kultverband, sondern vor allem auch eine Fehdegemeinschaft: den Stamm. Der Stamm ist der größte Rechtsverband, den die archaischen Kulturen im allgemeinen kennen64 • Er ist deshalb ein Rechtsverband, weil in ihm kleine und große Fehdegruppen Streit und Gewalt in wechselnden Gruppierungen regeln, um die durch Ordnungsbrüche gestörte Gegenseitigkeit, das Gleichgewicht zwischen ihren Gliedern wiederherzustellen. Die Durchführung der Fehde innerhalb der Stämme sichert den Stammesfrieden65 • Erst die institutionelle Regelung der Gewalt ermöglicht die Erhaltung der menschlichen Art und die Herausbildung höherer Kultur. Gewalt außerhalb des Stammes gegenüber fremden Stämmen bedeutet Krieg 66 • Er ist durch unbegrenzte Rach- und Beutegier bestimmt67 • Wenn es heißt: "Der Krieg kennt kein Gesetz", so nicht, weil er die Gegenseitigkeit nicht kennt, sondern weil er sie nicht regelt. Erst die Fehde als Streitregelung und ihre langsame Erweiterung zu größeren Rechts-, Streit- und Friedensgemeinschaften führt zur rechtlichen Regelung des Krieges, zu seiner Rechtmäßigkeit. Deshalb ist die These, in der Urkultur habe es keinen Krieg gegeben, weil dieser "a certain development of social organization" voraussetze 68 , falsch. Gerade das Gegenteil ist richtig: nicht der Krieg, sondern die Fehde erfordert ein gewisses Maß sozialer Ordnung, eben in den segmentären Fehdegruppen mit ihrer Einheit im Stamm". Hier liegen die Ursprünge des Völkerrechts und der modernen Kriegsverhütung. Daß es sich bei der Fehde um Recht handelt, wird von manchen Ethnologen bestritten; es fehle ihr an einer endgültigen Entscheidung R. H. Lowie, Social Organization, 1950, S. 238 ff. Vgl. Middleton / Tait (Anm. 48), S. 8 ff. Den territorialen Aspekt der Rechtsgemeinschaft (der in diesem Beitrag in den Hintergrund tritt) betont wie schon Murdock besonders J. Schapera, Government and Politics in TribaI Societies, 1956, S. 1 ff. 85 Fortes / Evans-Pritchard (Anm. 48), S. XVIII ff., S. 283, 278. 88 B. Malinowski, An Anthropological Analysis of War, in: L. Bramson / G. W. Goethals (eds.), War, 1964, S. 245 ff.; S. F. Nadel, The Nuba. An Anthropological Study of the Hill Tribes in Kordofan, 1947, S. 301. 87 Vgl. W. E. Mühlmann, Krieg und Frieden, 1940, S. 122 und H. H. Turney-High, Primitive War. Its Practice and Concepts, 1949. 88 L. T. Hobhouse / G. C. Wheeler / M. Ginsberg, The Material Culture and Social Institutions of the Simpler Peoples, 1915, S. 228. 89 L. Posp{§il, Anthropology of Law, 1971, S. 7 und Middleton / Tait, S. 20 ff. 83

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des Streits, der sich dadurch lange und ungelöst hinziehen könne 70 • Diese Auffassung erklärt sich aus einem verengten Rechtsbegriff, nach dem die Entscheidung das Kriterium des Rechts ist. Das ist der Rechtsbegriff des modernen Staates, wie er durch Hobbes und Austin verbreitet worden ist und den sogenannten Völkerrechtsleugnern seit 300 Jahren die Argumente für ihren Weltstaat liefert71 • Ein Stamm, auch wenn er häuptlings- und herrschaftslos (akephal) ist, bildet durchaus eine politische Rechtsgemeinschaft, eine ausgewogene, sich selbstregelnde Ordnung gentiler Segmente. Das ursprüngliche Völkerrecht ist deshalb intergentiles Recht und die Fehde eine Rechtsinstitution der "regulierten Anarchie"72. Gerade das Fehlen des "command of the sovereign" (Aus tin) hat eine Fülle von Formen hervorgebracht, die die Vergeltung des gebrochenen Rechts nicht nur zeremoniell ankündigen, sondern der Vermittlung zwischen den Streitparteien, der Wiederherstellung der gestörten Rechtsordnung und der Erneuerung des Friedens dienen. Die förmliche Fehdeerklärung, die "Absage" des mittelalterlichen Rechts, ist die Regel; hinterlistige überfälle sind die Ausnahme. Die Vermittlungs- und Schlichtungsorgane sind Zwischengänger, zumeist ältere Männer oder Schamanen, die als Botschafter durch einen rituellen Botenstab gekennzeichnet sind. Sie werden von der feindlichen Partei als unverletzlich empfangen und kehren nach verrichteter Sache schnell zurück. Auch Dritte, die nicht zu den Streitparteien gehören, werden häufig als Schlichter herangezogen. Ehe sie indes als übermächtige Dritte den Streit von sich aus durch Schiedsspruch entscheiden können, müssen die Rechtsinstitutionen späterer Kulturen erreicht sein. Frieden zwischen den Fehdegruppen kommt in vielfältigen Bräuchen zum Ausdruck; durch Heirat, Blutsbruderschaft, Geschenktausch und Versöhnungsversprechen, durch rituelle Trinkgelage 70 Vgl. E. A. Hoebel, Introduction zu R. J. Barton, The Kalingas, 1949, S. 3; Posp{§il, S. 7. Dagegen Malinowski, S. 261 und J. Schneider, Primitive Warfare, A Methodological Note, in: Bramsan I Goethals (eds.), S. 275 ff. 71 Zu diesen eingehend G. A. Walz, Wesen des Völkerrechts und Kritik

der Völkerrechtsleugner, 1930. Für Austin-Hohfeld'sche Begriffe auch in der Rechtsethnologie E. A. Hoebel, The Law of Primitive Man, 1954, dt. 1968, S. 64 ff. Der gegenläufige Unterstrom drängt jedoch wieder an die Oberfläche. Vgl. R. D. Masters, World Politics as a Primitive Political System, in: World Politics, Bd. 16 (1964), S. 595 ff. und M. Barkun, Law without Sanctions. Order in Primitive Societies and the World Community, 1968. Früh schon J. Lambert, La vengeance privee et les fondements du droit international public, 1938. Für eine klare Unterscheidung zwischen unizentrischen und multizentrischen Rechtsordnungen P. Bohannan, The Differing Realms of the Law, in: Laura Nader (ed.), The Ethnography of Law, Spec. Publ. American Anthropologist, Bd. 67 (1965), S. 33 ff. 72 Das Wort stammt von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1956, S. 678; es ist von der englischen Sozialanthropologie und dem genannten Buch von Sigrist aufgenommen worden.

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und Tanzfeste, durch Rauchen der Friedenspfeife oder Pflanzen eines jungen Baumes73 • Das intergentile Recht entwickelt sich in einem nächsten Schritt zum

intertribalen Völkerrecht. Nicht mehr die Gentes und Phratrien inner-

halb des Stammes streiten und vertragen sich, sondern es schließen sich mehrere Stämme zu Fehdegemeinschaften zusammen. In und zwischen diesen Stammesbünden werden nunmehr die Fehden ausgetragen. Anders ausgedrückt: die Rechtsgemeinschaft innerhalb eines Stammes erweitert sich zu einer Rechtsgemeinschaft zwischen den Stämmen. Sie schützt ihre segmentären Fehdegruppen untereinander und verteidigt sich gegen fremde Stämme. Die Grenze zwischen Fehde und Krieg wird also persönlich-räumlich ausgedehnt, aber nicht beseitigt, eher verfestigt. Die Stammesbünde gründen in der blutsmäßigen und sprachlichen Verwandtschaft ihrer Stämme und Phratrien. Doch werden sie gleichzeitig durch ein nicht mehr nur abstammungsmäßiges Band zusammengehalten. Gleichsam quer zu den gentilen Segmenten läuft ein anderer, mehr willentlicher Strang. Das sind die Männerbünde, Altersklassen, Kultgemeinschaften, Geheimbünde und (fiktiven) Blutsbruderschaften oder Schwurfreundschaften. Hier liegen die Ursprünge der heutigen Organisation74 • Auch archaische Institutionen sind, wie das Hauriou für die modernen gezeigt hat, ein Gewebe aus Schuß und Kette. Solche Stammesbünde waren bei den Indianern Nordamerikas weit verbreitet. Ein schon Montesquieu bekanntes Beispiel ist der Irokesenbund, den Morgan besonders studiert hat75 , wofür ihn der Senecastamm adoptiert hat, was durchaus im Sinne der Gentilordnung liegt. So soll auch der Mongolenherrscher Dschingis-Khan auf die fromme 73 Vgl. Thurnwald, Bd. 4, S. 195 ff. und die materialreichen Arbeiten von R. Numelin, The Beginnings of Diplomacy. A Sociological Study of intertribai and international relations, 1950, S. 124 ff.; ders., Intertribai Relations in Central and South Africa, 1963, S. 49 ff. Numelin unterscheidet freilich nicht zwischen Fehde und Krieg, was mit seinem anthropologischen Ansatz zusammenhängt, vgl. oben Anm. 31. 74 Gegenüber der im 19. Jh. naturalistisch betonten Verwandtschaftsentwicklung hat den nicht nur.;.natürIichen, willentlich-bündischen Zug als erster H. Schurtz, Männerbünde und Altersklassen, 1902, hervorgehoben. Das gehört jetzt zum Gemeingut der Sozialanthropologie, vgl. etwa Thurnwald, Bd. 2, S. 279 ff.; P. Bohannan, Social Anthropology, S. 143 ff. und P. Mercier, Anthropologie sociale et culturelle, in: J. Poirier (ed.), Ethnologie Gemerale, 1968, S. 881 ff., 949 ff. Für das antike Recht vgl. P. Frezza, 11 momento ,voluntaristico', e il momento "naturaIistico" nello sviluppo storico dei rapporti "internazionaIi" nel mondo antico, in: Studia et documenta historiae et juris, Bd. 32 (1966), S. 299 ff. 75 L. H. Morgan, The League of the Ho-de-no-sau-nee, or Iroquois, 1851; J. R. Swanton, Social Organization and Social Usages of the Indians of the Creek Confederacy, Ann. Rep. of the Bureau of American Ethnology, Bd. 42 (1925), S. 23 - 472.

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Bitte des Papstes, sich doch zum Christentum zu bekehren, geantwortet haben, daß er dazu bereit sei, wenn der Papst sich von ihm adoptieren lasse 76 • Solche Bünde von Stämmen bildeten besonders die Berber in Nordafrika, die mit dieser intertribaIen Ordnung das Vorbild für die Verfassung Karthagos abgegeben haben könnten77 • Die altgriechischen Bünde, die Amphiktyonien, sind seit langem bekannt, ebenso der Latinische Bund78 • Im Vorderen Orient war es der Bund der zwölf Stämme Israels, der später als Bund mit Jahwe (berith) christliche und das heißt Weltgeschichte machen sollte79 • Bis zur Herrschafts- und Rechtsbildung in den frühen Hochkulturen waren die gentilen Stämme und Stammesbünde die am weitesten entwickelte Form des Völkerrechts. Dann verliert es sich gegenüber seiner Umwelt in dem Maße der Fremdheit oder auch Feindschaft, die es mangels Gegenseitigkeit noch nicht zu weiteren Rechtsbildungen kommen läßt. Das bedeutet freilich nicht, daß die Naturvölker, die gentilen Gruppen und Bünde, als "closed systems" (Toynbee) anzusehen sind, die als gleichgewichtige Einheiten nebeneinander lagen. Sie befanden sich vielmehr in einer weiträumigen Stufung nach Bevölkerungsgröße, politischer Macht, Expansionskraft und geistigem Einfluß, die zu einem bestimmten interethnischen Gefälle führt, zu einer in sich gestaffelten Gleichgewichtsordnung, z. B. einer konstanten Staffel in Nordostasien (von oben nach unten): Chinesen, Sibirjaken, Mongolen, Mandschou Jakuten, Tungusen, Paläoasiaten (Jukagiren, Korjaken, Giljaken usw.), wobei die Jakuten von oben gedrückt wurden und den Druck nach unten weitergaben. Solche "interethnischen Systeme", die die Ethnosoziologie erst langsam zu erkennen beginnt, sind und waren über alle Kontinente verbreitet80 • 76 Vgl. E. Voegelin, The Mongol-Orders of Submission to European Powers, 1245 -1255, in: Byzantion, Bd. 9 (1941), zit. nach dems., Die neue Wissenschaft der Politik, 2. Auf!. 1965, S. 86 ff. 77 C. S. Coon, Tribes of the Rif, in: Harvard African Studies, Bd. 9 (1931), S. 1 ff.; dazu G. P. MUTdock, Political Moities, in: L. D. White (ed.), The State of the Social Sciences, 1956, S. 133 ff. 78 Eingehend jetzt J. A. LaTsen, Greek Federal States. Their Institutions and History, 1968 und A. Aföldi, Early Rome and the Latins, 1965. Vgl. auch M. Coli, Stati-cittii e unioni etniche neUe preistoria greca et italica, in: Studi de Francisci, Bd. 4, 1956, S. 505 ff. 79 M. Noth, Das System der zwölf Stämme Israels, 1930; G. F. MendenhaH, Law and Covenant in Israel and the Ancient Near East, 1955, dt. 1960. Neuestens H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 2. Aufl. 1974, S. 310 ff. 80 W. E. Mühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen, 1964, S. 58 ff. im Anschluß an den russischen Ethnologen S. M. SiTokogoTov - vgl. dessen Beitrag "Die Grundzüge der Theorie vom Ethnos", 1935, in: C. A. Schmitz (Hrsg.), Kultur, 1963, S. 254 ff.; vgl. auch W. Goldschmidt, Comparative Functionalism. An Essay in Anthropological Theory, 1966.

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Die Entwicklung in Europa führt bis zum heutigen Völkerrecht. Hier verbanden sich einzelne Germanenstämme zu "großen Stämmen" oder "Völkerschaften", wobei zwischen Philologen und Historikern manches streitig ist, aber nicht die hier interessierende Hauptsache, daß sie Fehde- und damit auch Friedensverbände waren81 • Seit Otto Brunner wissen wir sogar, daß alle kriegerischen Auseinandersetzungen in der mittelalterlichen Respublica Christiana Fehden waren 82 • Das widerspricht zwar der bisherigen Auffassung, nach der die Fehde ein bellum privatum (Grotius) oder gar ein "blutiger Sport" gewesen sei83 • Brunners These wird aber durch die hier belegte Rechtsentwicklung gestützt, wenn man den Unterschied zwischen Fehde und Krieg im Bestehen bzw. Fehlen einer grundsätzlich auf Schlichtung und Versöhnung angelegten Rechtsgemeinschaft zwischen den kämpfenden Parteien sieht84 • Dies zeigt sich für die Christenheit des Mittelalters auch darin, daß sie sich als Rechtsgemeinschaft gegenüber dem Islam durch den Heiligen Krieg unterschied, wie auch umgekehrt der Islam gegen andere Rechtsgemeinschaften keine Fehde, sondern nur Krieg (gihäd) kannte 85 • Vom Fehdecharakter des frühneuzeitlichen Krieges wird es auch erst verständlich, daß er ein bellum justurn war. Er wurde als Vergeltung für einen Rechtsbruch geführt. Sein Ausgang war das iudicium belli, das den Frieden, die vorgängige und vorausgesetzte Rechtsordnung wiederherstellte86 • Der Krieg galt nur als etwas Vorübergehendes, mit dessen Ende die nicht verlorengegangene Rechtsgemeinschaft zwischen den Völkern erneuert wurde. Das ist der Sinn des ewigen Friedens, der deshalb in den Friedensverträgen der Zeit stets an erster Stelle beschworen wird. "Pax sit Christiana universalis, perpetua, veraque et sincera amicitia ... " heißt es in Art. I des Westfälischen Friedens von 1648 und noch 200 Jahre später: "es soll fortan Friede und Freundschaft auf ewige Zeiten bestehen87 ." Diese soge81 R. Wenskues, Stammesbildung und Verfassung, 1961, S. 46ff.; E. Schwarz (Hrsg.), Zur germanischen Stammeskunde. Aufsätze zum neuen Forschungsstand, 1972 und W. Fritze, Die fränkische Schwurfreundschaft der Merowingerzeit, in: Ztschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 71 (1954), S. 74 ff., der das intertribale Völkerrecht im näheren behandelt. 82 Otto Brunner, Land und Herrschaft, 4. Auf!. 1959, S. 1 - 110. 83 A. Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts, 1960, S. 19. 84 So für das Mittelalter J. Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, 1952, S. 127 ff. Zustimmend W. Janssen, Die Anfänge des modernen Völkerrechts und der neuzeitlichen Diplomatie, 1965, S. 27 ff. 85 Am besten immer noch W. Heffening, Das islamische Fremdenrecht bis zu den islamisch-fränkischen Staatsverträgen, 1925. 88 K. G. Cram, Judicium bellL Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter, 1955. 87 Vertrag zwischen Preußen und Württemberg v. 13.8.1866, in: Corpus Pacificationum. Systematische Zusammenstellung der Texte der Friedens-

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nannte Friedensformel erscheint nicht mehr in den Friedensverträgen nach den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts. Ihr Sinn ist der industriellen Welt verlorengegangen, weil diese nicht mehr, in Deutschland schon seit 30 Jahren, zwischen Krieg und Frieden unterscheiden kann 88 • Sie kehrt damit zum HegeIschen Knecht zurück; in ihm hat das Bewußt-Sein "das absolute Flüssigwerden alles Bestehens" erfahren80 • Die Industriekultur versucht sich an einem neuen Frieden, sie will ihn herstellen, ihn organisieren und damit den Menschen wieder zum Herrn über sich selbst machen. Das wird nur gelingen, wenn sie die gentile Segmentation des Rechts mit seiner industriellen Organisation institutionell vermittelt. An praktischen Ansätzen hierzu und auch an theoretischen Einsichten fehlt es nicht. III.

Die historische Rechtsschule des 19. Jhs. hat damit schon frühzeitig begonnen. Ihr lag das historische Bewußtsein zugrunde, das Herder, Montesquieu und Vico entdeckt hatten und das die Bedingung aller Rechtsinstitutionen ist0o • Diese Rechtslehre verband die Natur mit der Geschichte zu einer Naturgeschichte des Rechts, sie lehrte die "Natur der Sache" mit einer Methode, die sie "naturhistorisch" nannte 91 • Sie trug auch im Völkerrecht Früchte, die erst gegen Ende des 19. Jhs. in Vergessenheit gerieten, als der Rechtspositivismus, die organisierte Rechtsherstellung, die Oberhand gewann. Den historischen Dogmatikern des Völkerrechts, Heffter und Kaltenborn, Maine und Phillimore, waren die naturgeschichtlichen Grundlagen des Völkerrechts durchaus gegenwärtig, die "naturwüchsigen Urrechte", das Naturvölkerrecht, wie verträge 1792 -1913, Berlin, Reichsdruckerei 1917. Dort S. 222 ff. eine Vielzahl gleichartiger Friedensformeln. 88 Vgl. J. Engel, Der Wandel in der Bedeutung des Krieges im 19. und 20. Jh., in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 19 (1968), S. 468 ff.; ders., Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, in: Th. Schieder (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 3, 1971, 369 ff.; U. Scheuner, Krieg und Bürgerkrieg in der Staatenwelt der Gegenwart, in: Festschr. f. Friedrich Berber, 1973, S. 467 ff. 89 G. F. W. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe 1932, Bd. 2, S. 156. 90 Zu Montesquieus Einfluß auf Gustav Hugos "Juristische Anthropologie", die Savigny den Weg bereitete, vgl. Th. Viehweg, Einige Bemerkungen zu Gustav Hugos Rechtsphilosophie, in: Festschr. f. Karl Engisch, 1969, S. 80 ff. 91 So Jherings Bezeichnung (und zu formaler Begriff) der historisch-systematischen Methode, mit der er seine "Naturlehre des Rechts" entwickelte. Vgl. Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1852 ff.; dazu H. Coing, Der juristische Systembegriff bei Rudolf von Jhering, in: J. Blühdorn / J. Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, S. 149 ff. und H. J. Hommes, Rudolf von Jherings naturhistorische Methode, in: F. Wieacker / Ch. Wollschläger (Hrsg.), Iherings Erbe, 1970, S. 101 ff.

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K. Th. Pütter schrieb 9!. In der damals beginnenden Entfremdung der neuen Industriekultur von der alten Agrarkultur wurden ihnen die naturalen Elemente nicht fremd 93 ; sie versuchten vielmehr, sie durch Vergleichung anderer Rechte sich noch vertrauter zu machen 94 • Die neue geschichtliche Epocheneinteilung in primitive, barbarische und zivilisierte Rechte 95 hatte ein doppeltes Gesicht. Sie drückte nicht nur den "Natural Progress of Opulence" aus 96 , sondern auch den historischen Regress in die eigenen und fremden Kulturen, um sie "aufzuheben", um in der Entwicklung ihrer Rechtsinstitutionen die Bedingungen der neuen Freiheit im kommenden Industriesystem zu erkennen 97 • Dieselbe Aufgabe ist heute wieder gestellt, nunmehr auf der festeren empirischen Grundlage, die die Natur- und Geisteswissenschaften seither gelegt haben98 • Wenn auch metaphysische Spekulationen inzwischen fragwürdig geworden sind, so bedeutet dies aber nicht, daß man die Empirie neopositivistisch verengen darf. Das Spektrum der Erfahrung ist breit. Die archaischen Formen des Völkerrechts gehören dazu. Sie sind nicht nur im interdisziplinären Ansatz erfahrbar 92 Der Inbegriff der Rechtswissenschaft, 1846, S. 26; dort S. 39 ff. eine "Allgemeine Weltrechtsgeschichte". Zu Pütter und den oben genannten Autoren vgl. H. Bülck, Die Dogmatik im Völkerrecht, Festschr. f. Rudolf von Laun (Internationales Recht und Diplomatie), 1972, S. 29 ff. 93 VgI. jüngst G. Sprenger, Burkhard Wilhelm Leist. Gedanken zu einer Theorie von den naturalen Fundamenten des Rechts, in: Festschr. f. Ulrich von Lübtow, 1970, S. 603 ff. Leist geht der "Naturalis ratio und Natur der Sache" (1860), nach, die dann Radbruch wiederentdeckte. Vgl. in diesem Sinne sein Alt-Arisches Jus Gentium, 1889. 94 VgI. Fallati, Keime des Völkerrechts bei wilden und halbwilden Stämmen, in: Ztschr. f. d. ges. Staatswissenschaft, Bd. 6 (1850), S. 151 ff.; weitere Nachweise zum "Völkerrecht fremdartiger Gesittigungen" bei R. von Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 1. Bd., 1855, S. 341 ff. Die Rechtsvergleichung setzte zeitgerecht ein: J. S. Reitemeier, Encyklopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland, 1785. Sie wurde gegen Ende des 19. Jh. von Post und Kohler auf ein damals schon umfangreiches ethnologisches Material gestützt. VgI. A. H. Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnischer Basis, 1880/81 und aus J. Kohlers großem Werk: Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, Archiv f. Rechtsund Wirtschaftsphilosophie, Bd. 1 (1907/08), S. 192 ff. 95 Für den völkerrechtlichen Höhepunkt auf der Kongo-Konferenz kennzeichnend J. Hornung, Civilises et Barbares, in: Revue de droit intern. et de legislation comparee, Bd. 17 (1885), S. 447 ff. 88 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), ed. Cannan, 1904, Neue AufI. 1964, Bd. I, S. 401 ff. U7 Das war im besonderen das Anliegen von Lorenz von Stein. Vgl. jetzt die zusammenfassende Darstellung von B. Richter, Völkerrecht, Außenpolitik und internationale Verwaltung bei Lorenz von Stein, 1973. 98 Auch die Geschichtswissenschaft sieht sich erneut vor diese Aufgabe gestellt, vgI. A. Heuss, Zum Problem einer geschichtlichen Anthropologie, in: Gadamer / Vogler (Anm. 9), S. 150 ff. Nicht anders die Philosophie: Natur und Geschichte, X. Deutscher Kongreß für Philosophie, Kiel 1972, hrsg. von

K. Hübner / A. Menne, 1973.

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(soweit Wissenschaft überhaupt reicht), sie bilden immer noch und immer wieder die Grund-Lage, die früheste Schicht des Völkerrechts, die von den späteren Schichten der antiken, monotheistischen und neuzeitlichen Rechtskultur "überbaut" worden ist und die einander "gegenleisten", um mit Nicolai Hartmann zu sprechen99 • Das Gegenleisten der Schichten ist ein zentraler Begriff, der auch für das Völkerrecht fruchtbar gemacht werden muß. Er ermöglicht erst die Verbindung von Tradition und Fortschritt und damit Kontinuität, wirft aber mit jeder Rechtsschicht von neuem das methodische Problem auf, wie ein gegenseitiges Verständnis möglich ist, oder anders ausgedrückt, wie zeitgerechte Begriffe zu bilden sind10o• Das Problem wird um so wichtiger, als die Rechtstraditionen der außereuropäischen Kulturkreise nach Geltung im bisherigen europäisch-amerikanischen Völkerrecht drängen l01 • Die Grundinstitution des archaischen Völkerrechts und jeden anderen Rechts ist die Segmentation, weil sie in stets neuen Bildungen Gegenseitigkeit stiftet: Gleiches mit Gleichem vergilt, beim Tausch freundlich, bei der Fehde feindlich 102 • Damit ist sie das von Natur Rechte, UD Vgl. N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 3. Aufl. 1964 und ders., Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl. 1962. über Hartmanns anthropologische Bedeutung vgl. W. E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 2. Aufl. 1948, S. 213 ff. und dens., Schichtgedanke und Geschichte, in: Studium Generale, Bd. 9 (1956), S. 193 ff. Eine stammesgeschichtliche Interpretation des "Schichtenbaus" gibt jetzt K. Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, 1973. 100 Für das archaische Recht vgl. die Auseinandersetzung zwischen M. Gluckmann, Concepts in the Comparative Study of Tribai Law (moderne Rechtsbegriffe) und P. Bohannan, Ethnography and Comparison in Legal Anthropology (Begriffe des jeweiligen "folk-system" mit einem NietzscheZitat: jede Kultur ist "ein aus sich selbst rollendes Rad"), beide in Laura Nader (ed.), Law and Culture in Society, 1969, S. 349 ff. bzw. 401 ff. Für das antike Völkerrecht vgl. B. Paradisi, Impostazione dogmatica e riconstruzione storica deI diritto internationale piu antico, Atti Congresso internaz. di diritto romano et di storica deI diritto, Verona 1948, Bd. 4, 1953, S. 1 ff. Grundsätzlich über das Verhalten von Zeitenabstand und Wirkungsgeschichte G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, der für eine allgemeine Hermeneutik auf Savignys juristische Auslegungslehre zurückgreift. Für den Unterschied zwischen dem "Verstehen" fremder, besonders archaischer Kulturen und der anthropologischen, also auch juristischen Kategorienforschung vgl. Gehlen, Urmensch, S. 86 ff. Die historisch-systematische Methode begegnet dem Problem durch "Aufhebung" der Begriffe, d. h. durch Vermittlung der alten und neuen Rechtsbegriffe in einem institutionell verstandenen Völkerrecht. Für die Bildung von Rechtstypen in diesem Sinne vgl. E. W. Müller, Juristische Kategorien bei Aufnahme und Kodifizierung von Eingeborenenrecht, in: Deutsche Landesreferate zum VI. Intern. Kongreß f. Rechtsvergleichung in Hamburg 1962, hrsg. von H. Dölle, 1962, S. 55 ff. 101 Vgl. Adda B. Bozemann, The Future of Law in a Multicultural World, 1971. 102 Die Terminologie von Gegenseitigkeit, Reziprozität, Vergeltung, Tausch usw. ist verwirrend; eindeutig im Sinne des Textes R. Thurnwald, Psychologie der primitiven Menschen, in: Kafka (Hrsg.), Handbuch der vergleichenden Psychologie, Bd. 1 (1922), S. 299.

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freilich einer Natur, die weder als biblische Schöpfung noch als Gegenstand analytischer Methoden zu verstehen ist. Die der Segmentation zugrundeliegende Natur ist das schlechthin Vorgegebene, das Grundverhältnis alles Da-seins, Tag und Nacht, Mann und Weib, Mutter und Kind, Liebe und Streit. Sie ist ein übergreifender, "sympathetischer Zusammenhang" von Anziehung und Abstoßung, eine "entente secrete" der Dinge und Menschen untereinander. "Dies ist das, was Kant nicht zugeben wollte, die Synthesis apriori im Anschaulichen, Empirischen ... , die ,wahrscheinlichste' Metaphysik103 .'' Wenn die Gegenseitigkeit als Wurzel des Rechts bezeichnet wird 104 , so liegt darin ihr Grund. Die archaischen Gemeinschaften und nicht nur sie stellen die Spannung Zum Tausch vgl. M. Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l'echange dans les societes archaiques, in: ders., Sociologie et Anthropologie, 1950, S. 143 ff.; dt. 1968 und B. Laum, Schenkende Wirtschaft, 1960. 103 Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 165; M. Pradines, Esprit de la Religion, 1947. Grundlegend L. Levy-Bruhl, La mentalite primitive, 1922, dt. 1927; ders., L'äme primitive, 1927, dt. 1930; sein Schlüsselbegriff ist die "participation". Ihm folgend J. Cazeneuve, La mentalite archaique, 1961. Vgl. auch E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, Das mythische Denken, 1924, Neudruck 1969. Von existenzphilosophischer Seite O. Becker, ParaExistenz, in: ders., Dasein und Dawesen, 1963, S. 67 ff. und H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, 1954, S. 26 ff., der zwischen "existenziellem Verhalten" (Dawesen) und Dasein unterscheidet; nur bei dem zweiten setzt die Subjekt-Objekt-Spaltung ein. Auch die moderne Wissenschaftstheorie, sofern sie nicht einseitig ist, erkennt diese Vorgegebenheiten an als "diskrete Ontologie" im Unterschied zur "metaphysischen (aristotelischen) Ontologie". Vgl. G. Hasenjäger, Einführung in die Grundbegriffe der modernen Logik, 1962, S. 30 ff. Aus der Fülle neuerer Feld- u. Fallstudien vgl. G. Lienhardt, Divinity and Experience. The Religion of the Dinka, 1961 und F. E. de Tejada, Bemerkungen über die Grundlagen des Banturechts, in: Archiv f. Rechts- und Sozialphil., Bd. 56 (1969), S. 503 ff. 104 Vgl. R. ThuTnwald, Gegenseitigkeit im Aufbau und Funktionieren der Gesellungen und deren Institutionen, in: ders., Grundfragen menschlicher Gesellungen, 1957; B. Malinowski, Crime and Custom in Savage Society, 1926, dt. o. J.; R. Schott, Die Funktionen des Rechts in primitiven Gesellschaften, in: Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1 (1970), S. 107 ff., 129 ff.; A. Gehlen, Moral und Hypermoral, S. 47 ff.: Instinktnahe Sozialregulation; W. E. Mühlmann, Umrisse und Probleme einer Kulturanthropologie, in: W. E. Mühlmann und E. W. Müller (Hrsg.), Kulturanthropologie, 1966, S. 15 ff., 19 ff.: Universale Konstanten. Auch in der strukturalen Anthropologie von Cl. Levi-Strauss ist die Gegenseitigkeit Prinzip. Es wird aber nicht mehr nur als dualistische Symmetrie verstanden, sondern auch als dreiteiliger asymmetrischer Zusammenhang. In Rivers habe die Ethnologie ihren Galilei gefunden, in Mauss ihren Newton, nun warte sie auf ihren Einstein, als den sich wohl Levi-Straus~ versteht (Anm. 22), S. 135 ff., 147; S. 148 ff., 180. Kritisch W. Schmied-Kowarzik, Die Grundprobleme der strukturalen Ethnologie, in: Paideuma, Bd. 14 (1968), S. 155 ff. Für die Gegenseitigkeit im Völkerrecht vgl. jetzt eingehend B. Simma, Das Reziprozitätselement im Zustande kommen völkerrechtlicher Verträge, 1972.

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ihrer Gegensätzlichkeiten auf Dauer, sie überdauern im Übergegensätzlichen105 • Das macht den Sinn segmentärer Rechtsinstitutionen. In dem vergeltenden, d. h. gebenden und nehmenden Zusammenhang, den sie auf Tausch und Fehde festlegten und fortbildeten, verstehen sich die archaischen Gesellschaften, wenn sie ihn auch noch nicht begreifen. Damit begannen die Griechen. Sie haben die gentile Rechtsordnung auf einen ersten Begriff gebracht, indem sie das Recht der Gens von dem Recht zwischen den Gentes unterschieden. Das gentile Recht hieß themis, ein sehr altes Wort, das in der sprachlichen Wurzel mit dem indischen dharman zusammenhängt. Beide bedeuten das Einrichten und das Eingerichtete zugleich, nämlich die Einrichtung, die Ordnung des Hauses und der Familie, der Gens im antiken Sinne. Themis ist die Rechtsordnung der Gens. Dort, wo es keinen genos gibt, gibt es auch keine themis, wie das Homer von den Zyklopen berichtete; sie sind rechtlos, athemisten (Odyssee 9, 106 -115). Der themis entspricht die dike für die intergentilen Einrichtungen des Stammes. Das Wort kommt vom indogermanischen deik und ist mit dis im Sanskrit und dicis causa im Lateinischen verwandt. Es bedeutet das Rechte aufzeigen, so in der !lias die Höhe des Blutgeldes für einen Totschlag (8, 497 ff.), oder wie Aischylos von der Göttin Dike sagt: "Vergeltung: also nennt mit Recht der Sterblichen Mund die Tochter des Zeus 106 ." Gleiches mit Gleichem vergelten "gemäß der Notwendigkeit" (Anaximander), gemäß der geheimen Anziehung und Abstoßung, ist die Leitidee des archaischen Völkerrechts. Diesen sympathetischen Zusammenhang legen die Vorsokratiker durchgängig zugrunde 107 • Im Fragment des Anaxi105 Vgl. H. J. Kanitz, Das übergegensätzliche gezeigt am Kontinuitätsprinzip bei Leibniz, 1951. Zu den verschiedenen philosophischen Ursprungsund Kontinuitätsbegriffen vgl. G. Scholtz, Der Sprung, Archiv f. Begriffsgeschichte, Bd. 11 (1967), S. 206 ff. lOB Aischylos, Choephoren, in: U. Wilamowitz-Möllendorff, Griechische Tragödien, Bd. 1, S. 949 ff.; reiche Nachweise zur Vergeltung nach archaischer Auffassung bei H. Kelsen, Vergeltung und Kausalität, 1941. Den Unterschied zwischen themis und dike betont E. Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-europeennes, Bd. 2, 1969, S. 99 ff. unter Hinweis auf G. Glotz, La solidarite de la famille dans le droit criminel grec, 1904; "on doit y insister, car les dictionnaires ne tiennent aucun compte de cette distinction" (S. 103). Bei R. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes, 1907 wird der Unterschied nicht deutlich, ebenso nicht bei E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken, Bd. 1, 1950, S. 22 ff., der aber als einen Wesenszug der Dike hervorhebt, daß sie kämpfen muß (S. 44 ff.). 107 Zu Homer und Hesiod vgl. A. Verdross, Die Erfahrungsgrundlagen der archaischen Rechtsphilosophie des Abendlandes, in: Festschrift f. Frede Castberg, 1963, S. 207 ff. Zu Anaximander, Empedokles (Liebe und Hass) und Heraklit (Streit und Versöhnung) E. Wolf, S. 218 ff. Aufschlußreich L. Gernet, Anthropologie de la grece antique, 1968, S. 175 ff.: Droit et predroit en Grece ancienne. Vgl. auch W. Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, 1951, S. 154 ff., 155: "Vorgeschichte der Naturrechtslehre" - Themis

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mander, "dem ältesten Spruch des abendländischen Denkens", übersetzt Heidegger108 chreon nicht wie üblich mit Notwendigkeit im Sinne unentrinnbaren Müssens, sondern mit Brauch, brauchen, weil das Wort auch Hand, be-handeln, in die Hand geben und nehmen bedeutet. Das schlägt die Verbindung zum Hand-gebrauch und Hand-werkzeug, zur rechten Hand und dem Vorrang von rechts (droit, directus) vor links109 • In diesem Sinne ist das archaische Völkerrecht Naturrecht und nicht mit dem späteren Naturrecht der griechisch-römischen Hochkultur zu verwechseln. Diesem liegt ein anderer Begriff der Natur zugrunde. Es ist die physis, die allen, auch fremden Völkern gleiche Natur, die deshalb gleiches Recht schafft; sie soll die Rechtsgemeinschaft der Hellenen auf die Barbaren erweiternllO • Dazu hat nicht nur das frühe Interesse der Griechen an der Ethnologie beigetragen111, sondern auch die Entwicklung der urrechtlichen themis (thesmos) zum nomos als gesetztem Recht, womit physis und nomos in einen Gegensatz gebracht wurden112 • Die Ursprünge liegen in der frühen griechischen Naturphilosophie, die den sympathetischen Vergeltungszusammenhang im Zuge der fortschreitenden Agrarkultur in einen kausalen Wirkungsund Handlungszusammenhang umdeutete 113, den dann Aristoteles als und Dike - "das Naturrecht in seiner Urgestalt, weil hier Natur und Recht in ursprünglicher, noch ungeschiedener Gemeinschaft, in Urgemeinschaft also, vor uns stehen" unter Berufung auf J. Bachofen, Mutterrecht, 1861, S. 37 ff. Gegen das übliche Mißverständnis Bachofens vgI. J. Dörmann, War Johann Jakob Bachofen Evolutionist?, in: Anthropos, Bd. 60 (1965), s. 1 ff. 108 M. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: ders., Holzwege, 1963, S. 296 ff., S. 337 ff. lOg VgI. R. Hertz, The Pre-Eminence of the Right Hand. A Study on Religious Polarity, in: der3., Death and the Right Hand, 1960, S. 89 ff. Kritisch zur Verschiedenwertigkeit Vilmar Fritsch, Links und Rechts in Wissenschaft und Leben, 1964; dort S. 108 auch zum rechtshändigen Waffengebrauch, die linke Herzseite wird durch ein Schild geschützt. In der Antike wird die Händigkeit stets im Zusammenhang mit dem Waffengebrauch erwähnt. Der Gnadenstoß wurde mit der linken Hand gegeben; es bliebe festzustellen, ob beides heute noch üblich ist. 110 VgI. W. Jones, The Law and legal Theory of the Greeks, 1956, S. 37 ff. und 309 ff. Zur Kontinuität jüngst H. E. Troje, Europa und Griechisches Recht, 1971. 111 K. Trüdinger, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie, Diss. Basel 1918. 112 F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jh., Diss. Basel 1945, Neudruck 1972. 113 E. Benveniste, Noms d'agent et noms d'action en indo-europeennes, 1948, und H. Kelsen, Vergeltung und Kausalität, 1941; vgI. auch seine Reine Rechtslehre, 2. AufI. 1960, S. 79 ff., 86 ff., die streng positivistisch, statt den sympathetis'chen Zusammenhang zugrundezulegen, die synthetische Zurechnung axiomatisiert. Das ist der Begriff organisierter Rechtsherstellung, der nur die jüngste Schicht der industriellen Rechtskultur erfaßt. Zur Wissenschaft, insofern sie die Verlagerungen und Umkonstruktionen des Handelns nachzeichnet, vgI. Pradines (Anm. 103), S. 59 ff. und Gehlen, Urmensch, S. 166.

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"praxis" begriff und in seiner Ethik als praktische Philosophie entwickelte. In ihr wurde das Vergelten des Gleichen mit Gleichem zur ausgleichenden Gerechtigkeit, zu einem Maß für das Recht; es ist der Maßstab der segmentären Gleichheit, die Tausch- und Fehdegerechtigkeit. Diese zwei übereinander geschichteten Arten von Naturrecht sind zu unterscheiden l1 4, wobei das ursprünglich Rechte, das von Natur Rechte, dem antiken Naturrecht vorangeht und auch dem späteren Natur- und Völkerrecht zugrunde liegt. Man kann es nicht um seinen Inhalt und sollte es nicht um seinen Namen bringen. Die bis zum Rechtspositivismus geläufige sprachliche Verbindung von Jus Naturae et Gentium hat sehr tiefe Fundamente.

114 Vgl. N. Hartmann, Die Anfänge des Schichtungsgedankens in der alten Philosophie, Abh. d. preußischen Akademie d. Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. 3, 1943.

The Problem of International Constitutional Law in International Judicial Perspective By Georg Schwarzenberger Even if international institutions prior to the post-Napoleonic period are excluded, the history of international institutions has long passed its first centenary, and that of post-1945 international institutions has entered its fourth decade. Thus it may weH be asked whether the Law of International Institutions has reached an inner unity comparable to that of municipal constitutionallaw, and whether the branch of International Law, termed the Law of InternationalInstitutions over thirty years ago, should be more aptly described as International Constitutional Law. I. The Notion of International Constitutional Law In a legal system such as the English Common Law, the chief distinction is between customary law as interpreted and applied by Courts and statutory law. The distinction between Constitutional Law and other branches of English Law is of political and didactic rather than legal significance. In legal systems in which constitutions such as those of the United States of America and most other countries are superior to ordinary law, the distinction between constitutional law and other branches of the law is of major legal relevance: constitutional law is peremptory. It overrides any law incompatible with it and cannot be modified by agreement between individual parties. It is jus co gens, as distinct from jus dispositiv um. It is the legal apex of the de facto order which constitutes the foundation of any legal system.

1. International Constitutional,Law International customary law has no rules of jus cogens and the general principles of law recognised by civilised nations are products of a merely subsidiary law-creating process. The general principles of law are subject to derogation by rules of international treaty and customary law. This means that international jus cogens of any description is necessarily of a consensual character. 16 Festschrift Menzel

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Every one of the multitude of international institutions is free to create its own jus cogens and assimilate it to constitutional law as understood in municipal law. Yet, in principle, this peremptory law applies only in the relations between the members of any of these institutions. Thus, at first sight, it is more likely that if there is any international constitutional law, this is not one coherent body of constitutional law but a multitude of competing and fragmentary sets of international constitutionallaw, comparable to constitutionallaws of the hundred and fifty or more sovereign States. Even so, the possibility exists of aglobaI constitutional law on the international level. The United Nations, like the League of Nations before it, aspires to universality and has attained near-universality. It claims to be an international legal order. If both claims could be substantiated, and this legal order were overriding in relation to competing international orders of a more limited geographical character, it would be accurate, in every respect, to term United Nations law International Constitutional Law and, correspondingly, rename the Law of InternationalInstitutions.

11. International Constitutional Law in International Judicial Practice In dealing with problems of the Law of InternationalInstitutions, the Permanent Court of International Justice and International Court of Justice have avoided using the term international constitutional law or related terms. Such terms have, however, found their way into Individual Opinions of members of the International Court of Justice.

1. Public Law In his Separate Opinion in the Convention of 1902 on the Guardianship of Infants case (1958) between the Netherlands and Sweden, Judge Sir Percy Spender defined public law in a manner applicable to any country with a written constitution: "A law which by its terms applies to nationals and foreigners alike within the territorial limits of aState, and which is made obligatory upon all persons and upon all instrumentalities called upon to enforce it. It includes rules of constitutionallaw, of procedure and administrative law 1." What is missing in this descriptive definition is a clear elaboration of the test which distinguishes this public law from private law. In this respect, it would be hard to improve on the distinction made in Justinian's Digest: Public law cannot be abrogated by private contract 1

I. C. J. Reports 1958, pp. 126 - 127.

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(privatorum conventio juri publico non derogat), that is, it is jus co gens, as distinct from jus dispositivum 2 • 2. Public Policy In his Separate Opinion in the Guardianship of Infants case (1958), Judge Sir Herseh Lauterpaeht described two meanings of public policy, as employed in Common Law countries, or ordre public in Continental legal systems: "The notion of ordre public is generally used in two meanings: It is either applied as referring to specific spheres of law, sueh as territorial laws, criminal laws, police laws, laws relating to national welfare, health and security and the like ... Secondly, it is resorted to as embracing, more generally, fundamental national conceptions of law, decency and morality 3." What Judge Sir Herseh Lauterpaeht describes under two heads are the contents of national jus cogens. It is the nucleus of law, whieh incorporates a modicum of rules of community morality and serves as the yardstick by reference to whieh, from the point of view of the public interest, the legal validity of private transactions is decided.

3. International Constitutional Law If international judges employ the term international constitutional law, do they understand by it something comparable to publie law, publie policy, ordre publie or jus cogens in national law? In eaeh case, it is necesarry to bear in mind the context in whieh the term is used.

In his Dissenting Opinion in the International Status of South West Afriea case (1950), Judge de Visseher referred to the United Nations Charter as a treaty of a "constitutional eharacter"'. Yet, he did so merely to emphasise the advisability of interpreting the Charter in a manner whieh would be as appropriate in the case of any other international treaty, that is, treaty clauses must be interpreted as a whole and so as to give, if at all possible, practical effect to all of the clauses of the treaty 5. In his Separate Opinion in the Voting Proeedure Case (1955), Judge Sir Herseh Lauterpaeht may have intended to go further: "A proper interpretation of a constitutional instrument must take into account D. 2,14,38. See also D. 50, 17, 45, Para. 1. 1. C. J. Reports 1958, p. 90. , 1bid. 1950, p. 187. 5 In his S. O. in the Certain Expenses of the United Nations case (1962), Judge Sir Percy Spender used the term "constitutionality" to denote compatibility with the U. N. Charter of action taken by the General Assembly or Security Council (1. C. J. Reports 1962, p. 197). 2

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not only the formal letter of the original instrument, but also its operation in actual practice and in the light of the revealed tendencies in the life of the Organisation6 ." It may be that all that is meant by this formulation is that what matters is not only the original intention of the contracting parties in any case, it is self-understood that it is not only the formal letter of the original instrument - but also the subsequent practice of the institution, whieh the members accept as law or in whieh they acquiesce. On this assumption, the interpretation of sueh a "constitutional" instrument does not differ from that of any other consensual engagement. If, however, the "revealed tendencies in the life of the Organisation" mean anything more, they look suspiciously like the reinterpretation of the purposes of an international institution in the light of subjective evaluations of trends whieh may be "revealed" only to some, but not to others.

Other pass ag es in the same Separate Opinion in the Voting Procedure case contain references to the United Nations "constitutional Charter"7, and a "constitutional amendment as distinguished from legislative action" by whieh alone the Articles of a "basic instrument of a corporate political body" - also termed "paramount and overriding" - such as the Charter of the United Nations may be modified8 • Considering the ease with whieh Judge Sir Herseh Lauterpaeht reinterpreted in the same Opinion a key Article of another "constitutional" Covenant9 , the "paramount and overriding" eharacter of sueh a "basic" instrument appears less awe-inspiring than might, otherwise, be the case. Even within these confines, the term "constitutional" can be employed for more ambitious ends. Judge Sir Herseh Lauterpaeht demonstrated in the same Opinion that this terminology facilitates the introduction of the analogy of constitutional conventions10 • It also prepares the ground for the dream notion of neo-naturalism in contemporary internationallaw: the concept of international public policy or ordre public. This duly emerged a year later as a judicially relevant consideration in his Separate Opinion in the case on Admissibility of Hearings of Petitioners by the Committee on South West Africa (1956)11. In substance, this notion is identical with the concept of the highest or Ibid. 1955, p. 106. Ibid., p. 112. 8 Ibid., p. 109. See also ibid., pp. 91 - 93 and 107. 9 I. C. J. Reports 1955, p. 99 et seq. 10 Ibid., p. 105. 11 I. C. J. Reports 1956, p. 57. 6

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"general" international interest but the attractiveness of the public policy and ordre public terminology lies in its more technical garb. At least in relation to national public policy, Judge Sir Hersch Lauterpacht admitted in his subsequent Separate Opinion in the Guardianship of Infants case (1958) between the Netherlands and Sweden, that "the notion of ordre public - like that of public policy - is variable, indefinite and occasionally productive of arbitrariness and abuse. It has been compared in this respect, not without some justification, to the vagueness of the law of nature"12. It required the purge of the International Court of Justice by the political organs of the United Nations in the wake of the Court's 1966 Judgment in the South West Africa Cases 13 to prove the potentialities of the international public policy approach.

In Judge Ammoun's Separate Opinion in the Namibia (South West Africa) case (1971), this mode of reasoning is more sharply expressed than in the Court's Advisory Opinion: "When the General Assembly, representing the international community on ce the League had ceased to do so, decided the revocation of that Mandate, with effect erga omnes in view of the Mandate's objective institutional character, that revocation was also binding on the extremely small number of States which had opposed it or, by expressing doubts and reservations, withheld their approval. For how could South Africa's Mandate with its organs and structures, having lapsed for the quasi-unanimity of States14 , survive in the eyes of some others? An institution is a creature of reason which either exists or does not; it cannot at one and the same time be and not be. That would be no less curious than if aState admitted by majority vote to the United Nations should be a member for so me but not for others lS ." The Court was less forthcoming in laying bare the major assumptions of its own Opinion. Yet, it reached substantially the same conclusion. The termination of the Mandate for South West Africa and the declaration of the illegality of South Africa's continued presence in South West Africa "are opposable to all States in the sense of barring erga omnes the legality of a situation which is maintained in violation of international law. In particular, no State which enters into relations with South Africa concerning Namibia may expect the United Nations I. C. J. Reports 1958, p. 94. See, further, the writer's International Law as Applied by International Courts and Tribunals, Vol. 111 (1976), especially Chapters 15, 21 and 28. 14 The original French text is clearer: "pour la majorite quasi unanime des Etats" (I. C. J. Reports 1971, p. 73). 15 Ibid., p. 73. 12

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or its members to reeognise the validity or effeets of such relationship, or of the eonsequenees thereof"16. The Court's Advisory Opinion and Judge Ammoun's Separate Opinion suffer from a double flaw. They ignore the impossibility under existing international law for any international institution to ereate automatie obligations for non-member States. Beyond this, they would like us to forget that there is only one way in which, under international customary law, relative reeognition of any situation ean be transformed into absolute reeognition. This is through a proeess of eonsolidation from non-universal to universal reeognition. Only when this proeess has been eompleted does any alleged breach of international law which, before, may have been a breach inter partes, beeome automatieally opposable to third parties who have not previously ereated estoppels against themselves in other ways. The Court's uneasiness over its reasoning beeomes evident from the illustration it thought neeessary to provide, that is, that no State should expeet the United Nations or its members to reeognise arrangements made between such aState and South Afriea17. If a member State of the United Nations enters into new arrangements with South Afriea regarding Namibia, it aets eontrary to the lex societatis of the United Nations. Similarly, a non-member State which itself has been reeognised only on the assumption of treating the law of the United Nations as part of general international law, is preeluded from eontesting this law on the ground of estoppel.

Yet, if a non-member State such as Switzerland, which has existed prior to the United Nations as a generally reeognised subjeet of international law, should make an arrangement with South Afriea of the type envisaged in the Court's Advisory Opinion, it remains a free agent. The United Nations and its members ean then please themselves whether they desire to reeognise the arrangement. 111. Judicial Tests of International Constitutional Law By 1971, the International Court of Justiee had reached a point which differed only in degree from the "new" international law propounded in the series of Separate and Dissenting Opinions by Judge Alvarez. In his Dissenting Opinion in the ease of Reservations to the Genocide Convention (1951), Judge Alvarez distinguished four categories of international eonventions from others: 18 17

Ibid., p. 56. See also ibid., p. 58. Ibid., p. 56.

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1. "Those which seek to develop world international organisation or to establish regional organisations, such as the European Organisation which is of such great present-day interest"; 2. "those which seek to determine the territorial status of certain States; such conventions have existed in Europe since the beginning of the nineteenth century and have constituted what may be called ,European public law'''; 3. "conventions which seek to establish new and important principles of internationallaw" ; 4. "conventions seeking to regulate matters of a social or humanitarian interest with a view to improving the position of individualsI8 ."

In the view of Judge Alvarez, these conventions differ essentially from other multilateral conventions. They are, "in asense, the Constitution of international society, the new international constitutional law"19. How is this new international constitutional law to be distinguished from the rest of multilateral treaty law? Judge Alvarez offers five criteria: 1. These conventions have a "universal character". Judge Alvarez includes in his first category of constitutional conventions those seeking to establish regional organisations. Thus, he uses the term universal character in a highly relative sense. Yet, in this way, Judge Alvarez may have wished to distinguish between international organisations which, in fact and law, aim at the inclusion of all States in a particular region - provided that such an area can be satisfactorily defined - and contrast such regional organisations with sectional organisations in a particular region. 2. These conventions are "not established for the benefit of private interests but for that of the general interest". This distinction is a reminder of that between private and public law, familiar to Roman law and legal systems derived from it. Again, by "private" interests, Judge Alvarez does not me an those of individuals or companies but the sectional interests of particular States or groups of States, as distinct from those of the world at large. At this point, it be comes crucial to be clear about the kind of world Judge Alvarez has in mind. Is it the actual international society of the post-1945 era, the international community envisaged in the Preamble of the Charter of the United Nations or the hybrid of power politics in 18 tU

I. C. J. Reports 1951, p. 51. Ibid., p. 51 (emphasis in original).

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disguise that, more often than not, characterises the reality of the United Nations? 3. These conventions "impose obligations upon States without granting them rights, and in this respect are unlike ordinary multilateral conventions which confer rights as weIl as obligations upon their parties". A mere glance at the Genocide Convention of December 9, 1948, the reservations to which were the issue at stake in the 1951 Advisory Opinion, proves that this distinction is more relative than Judge Alvarez appears to assurne. The Convention grants few direct rights to any of the Contracting Parties. Yet, every one of the duties, however limited, it imposes on the parties gives to each of the other Contracting Parties the right to insist on the compliance of any other party with these duties. In this as in any other case, it is impossible to limit the exercise of sovereignty without transferring such rights to some beneficiary. 4. Judge Alvarez stresses that these conventions are not merely formulated under the auspices of the United Nations but are discussed at length in the General Assembly by all States which have the opportunity to comment upon them as they see fit, and the General Assembly can modify the conventions up to the last moment. It is a matter of evaluation what significance is to be attached to these prelegislative proceedings. It may be conceded that the form of enactment outlined by Judge Alvarez facilitates achievement of consensus on the general interest the contemplated convention is intended to serve. In any case, in the practice of the United Nations "all States" does not necessarily include all States actually composing international society. Moreover, "the last moment", as understood by Judge Alvarez, is hardly the last moment. While, after this stage, potential contracting parties may not be able to modify the text of such conventions, they may limit their own obligations by far-reaching reservations. Judge Alvarez considers such reservations inadmissible; yet they are permitted by the International Court of Justice and United Nations practice.

5. The majority character of the "decisions" - actuaIly, recommendations - of the General Assembly under this head completes, at least for Judge Alvarez, the picture of the exercise by the General Assembly of its prelegislative functions in the interest of world society at large20 • A more relevant test than those adduced by Judge Alvarez is that mentioned by the International Court of Justice in the same Advisory 20

Ibid., p. 51.

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Opinion on Reservations to the Genocide Convention. It is contained in a quotation from comments by the Secretary-General of the Uni ted Nations on the draft Genocide Convention. There the Genocide Convention is classified as a type of convention "which does not deal with the private interests of aState, but with the preservation of an element of international order"21. Every legal system rests on a de facto order or quasi-order sustaining it. If this order or quasi-order is incorporated into the law, it embodies the fundamental political decisions on which the legal system concerned is based. Whether these rules are termed constitutional law, public policy or ordre public matters little. What does matter is that these rules are public law in the strict sense, that is, they cannot be modified by inter se agreements between individual parties. So long as the order or quasi-order behind the legal system lasts, they are jus cogens. In the international sphere, jus cogens is entirely a matter of consensual engagements but, on such a consensual basis, any amount of international jus co gens may be created. Thus, for instance, the seven Principles formulated in Article 2 of the United Nations Charter may be viewed as the consensual jus cogens of the United Nations. A major uncertainty that surrounds this type of consensual jus cogens of a weak international confederation is its precarious character. Compared with supranational organisations, the inbuilt weaknesses of confederate international institutions make it, prima jacie, more appropriate to describe their orders as quasi-orders and, correspondingly, their public law as quasi-constitutional law, rather than constitutionallaw in the meaning of municipallaw.

u Ibid., p. 22.

Solidarität unter den Nationen als Grundsatz in der gegenwärtigen internationalen Gemeinschaft Von Ulrich Scheuner I. Strukturfragen der Staatengemeinschaft Im letzten Menschenalter hat die Gemeinschaft der Völker tiefe Veränderungen erfahren, die sie in wachsendem Maße von dem Bilde der internationalen Staatengemeinschaft entfernt, wie sie das 19. Jahrhundert kannte und wie sie noch in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hineinreichte. Aus dem geschlossenen Kreise "zivilisierter Nationen", den ein Umkreis abhängiger Gebiete und anderer nicht zu voller Mitgliedschaft berufener Länder umgab ist eine die ganze Erde umfassende Gemeinschaft unabhängiger Staaten erwachsen, an der alle Teile der Welt in der Form selbständiger Nationen zu gleichem Recht teilhaben und die frühere Abhängigkeit nahezu verschwunden ist. Diese Entwicklung schließt damit das Ende der kolonialen Herrschaft ein, kraft deren für Jahrhunderte die europäisch-westliche Staatengruppe ihre Vormacht und ihr Recht auf weite Teile der Welt erstreckt hatte. In dieser erweiterten Völkergesellschaft erheben sich zugleich neue Fragen. Die Vorherrschaft der westlichen Länder ist in ihrer alten Form beendet. Auch die anderen Kontinente, wenn sie sich auch in die überlieferte rechtliche Ordnung einfügen, bringen ihre Vorstellungen und Interessen ein und wirken dadurch auf Umgestaltungen hin. Die traditionelle Rechtsordnung sieht sich zugleich aber auch von anderer Seite, aus dem Kreise der kommunistischen Staatenwelt, in Frage gestellt. Der Unterschied der Grundkonzeption zwischen diesem Lager und der westlichen Welt hat zwar nicht zu einer Spaltung der internationalen rechtlichen Ordnung geführt, aber es treten doch deutlich unterschiedliche Auffassungen hervor, deren Spannung zu den überlieferten Ansichten der Begriff der Koexistenz umschreibt1 • Die abweichenden Auffassungen, die in der herkömmlichen rechtlichen Denkweise und in der sozialistischen Auffassung in grundlegenden Punkten indes auch Übereinstimmungen aufweisen, haben in der neueren 1 In diesem Begriff verkörpert sich die Unterscheidung der internationalen Beziehungen der sozialistischen Länder unter sich zu denen, die zwischen ihnen und den nichtsozialistischen Ländern bestehen. Vgl. H. Kröger (Hrsg.), Völkerrecht Teil I, (Ost)Berlin 1973, S. 31 ff., 37 ff.

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Rechtsentwicklung ihren Ausdruck teilweise in dem Bemühen gefunden, gemeinsame Grundprinzipien der internationalen Gemeinschaft neu zu formulieren und zu ergänzen. Dafür bildet ein besonders deutliches Beispiel die "Deklaration über Grundätze des internationalen Rechts über freundschaftliche Beziehungen und Kooperationen zwischen den Staaten gemäß der Charta der Vereinten Nationen" die nach langer Beratung als eine Art Neuformung der Grundsätze der Staatengemeinschaft von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als Resolution verabschiedet wurde 2 , und die seither immer wieder in weiteren Entschließungen dieser Versammlung als grundlegendes Zeugnis in Bezug genommen wird. Im letzten Jahrzehnt tritt aber neben diesem Gegensatz der Anschauungen der westlichen und der kommunistischen Sphäre eine andere Strömung immer stärker hervor, die auf eine Fortentwicklung der internationalen Ordnung in bestimmter Richtung hindrängt. Mit der Unabhängigkeit der ehemals kolonialen Gebiete ist eine rasch an Zahl wachsende Gruppe von Staaten entstanden, für die nicht wie im West-Ost-Gegensatz die Verschiedenheit des inneren politisch-sozialen Systems, sondern die Differenz in der sozialen Lage der Bevölkerung, der Unterschied von Industriestaat und Entwicklungsland, im Vordergrund steht. Diese Staatengruppe, der sich auch lateinamerikanische Länder angeschlossen haben, verfolgt vor allem das Ziel einer wirtschaftlichen Weiterentwicklung und strebt auf wirtschaftlichem Felde eine neue Gestaltung der internationalen Austauschbeziehungen an. Schon seit dem Ende des ersten Weltkrieges hatte sich über das ältere Netz bilateraler Handelsverträge hinaus ein Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts, gestützt auf multilaterale Abkommen und auf die Aktivität internationaler Organisationen, herausgebildet, der eine engere Kooperation der Staaten bezwecktes. Dieses Wirtschaftsrecht zielte auf eine nähere Zusammenarbeit auf dem Gebiet des freien Güteraustausches, der Währung und der Bedingungen des internationalen Handels ab, wobei der Gedanke eines freien Marktes zu Grunde gelegt wurde. Die universale Staatenorganisation ebenso wie die Sonderorganisationen sollten der Herstellung einheitlicher Grundsätze eines freien Austausches von Gütern und Kapital in der internationalen Ge2 Res. 2625 (XXV) v. 24. 10. 1970. Text in GAOR XXV Supp. 28, S. 121. über sie J. A. Frowein, Europa-Archiv 28 (1973), S. 70 ff., B. Graf zu Dohna, Die Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Berlin 1973. 3 Die Grundsätze dieses Wirtschaftsrechts finden sich namentlich in dem Abkommen des GATT und der internationalen Währungskonvention sowie verwandten Konventionen der ersten Nachkriegszeit. Vgl. hierzu Gg. Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, London 1962, S. 210 H. (International Economic Law) und Gg. Erler, Grundprobleme des internationalen Wirtschaftsrechts, Göttingen 1956, S. 97 ff.

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selllschaft sich annehmen. Die von den Entwicklungsländern verfolgte Richtung weicht von dieser Grundtendenz ab. Ihr kommt es zwar auch auf Förderung des Warenverkehrs und eine internationale Zusammenarbeit an, aber sie möchten in sie Züge einer planmäßigen Unterstützung und Förderung der weniger entwickelten Länder, ein Streben nach einem gewissen Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Lage einfügen. In diese Richtung bewegten sich die Bemühungen der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), die für eine Förderung der Entwicklungsländer in ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den Industriestaaten eintritt'. In den letzten Jahren hat sich innerhalb der Generalversammlung der Vereinten Nationen, auf Grund des steten Anwachsens der Mitgliederzahl, eine Staatengruppe (die sog. Gruppe der 77) gebildet, die in umfassender Weise die Bestrebungen der Entwicklungsländer auf präferentielle Behandlung, auf Stabilisierung der Rohstoffpreise und auf Förderung der schwächeren Partner im internationalen Handel zum Ausdruck bringt. In der von der Generalversammlung am 12.12.1974 angenommenen "Charter of Economic Rights and Duties of States", der freilich die wichtigsten Industrieländer ihre Zustimmung versagten, werden die Forderungen dieser Staatengruppe, die in der 29. Generalversammlung ihre Mehrheitsstellung in vielfacher Hinsicht ohne Rücksicht auf die größeren Mächte zur Geltung brachte, auf Preisfixierung für Rohstoffe, Präferenzen für Entwicklungsländer im Export, auf "structural changes" in der Wirtschaftsordnung umfassend niedergelegtS . Die zuerst in der Betonung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit aller Länder und ihrer freien Verfügung über ihre wirtschaftlichen Reichtümer begonnene Linie der Darlegung einer von den Interessen der Entwicklungsländer getragenen internationalen wirtschaftlichen Ordnung6 erreichte in dieser Erklärung ihren vorläufigen Höhepunkt. Hinter dieser, wie noch zu zeigen sein wird, nicht widerspruchsfreien Konzeption einer neuen internationalen Gesellschaft, in der den Industriestaaten bestimmte Pflichten zur Unterstützung und Begünstigung der wirtschaftlich schwächeren Nationen auferlegt werden, steht bei tieferem Zusehen eine weitreichende Umgestaltung der internationalen Ordnung. Es tritt hier der Gedanke der social security des wirt, Die Konferenz 1964 setzte eine ständige Organisation der Fortführung in Genf ein, die weitere Konferenzen abhielt. Vgl. Res. 1955 (XIX) vom 30.11. 1964 und L. M. Goodrich, The United Nations in aChanging World, New York 1974, S. 211. 5 Res. 3286 (XXIX), abgedruckt in Int. Legal Materials (ILM) 14 (1975), S. 251 ff. Hierzu I. Seidl-Hohenveldern, Recht der Int. Wirtschaft 21 (1975), S. 237 ff. S Vgl. neben den frühen Resolutionen 523 (VI) v. 12. 1. 1952 und 626 (VII) v. 21. 12. 1952 die grundlegende Resolution 1803 (XVII) v. 14. 12. 1962 über die "Sovereignity over National Resources".

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schaftlichen Ausgleichs zwischen den Staaten hervor, der in gewissem Umfang die Vorstellungen der sozialen Gerechtigkeit, die im Innern der Staaten im Zeitalter des modernen Wohlfahrtsstaates maßgebend geworden sind, auf die internationale Ebene überträgt. Auch in den einzelnen Staaten hat es einer langen Entwicklung und mancher revolutionären Umwälzung bedurft, bis sich hier eine Vorstellung des Gemeinwohls durchsetzte, die nicht auf der erhaltenden Trennung der Schichten, sondern auf einem sozialen Ausgleich die Verwirklichung der Gerechtigkeit gründete. In der älteren Struktur der internationalen Gemeinschaft beschränkte sich die Kooperation der Staaten auf eine Erleichterung des Güteraustausches und des Personenverkehrs, ohne daß die Idee einer strukturellen Veränderung, einer Unterstützung der schwächeren Glieder der Staatengemeinschaft hervortrat. Noch die Charter der Vereinten Nationen enthält in Art. 1 Ziff. 3 keine über allgemeine Zusammenarbeit hinausgehende Zielsetzung. Wir stehen hier also vor einer neuen, freilich in der Entwicklungspolitik der UN sich seit langem ankündigenden, Vorstellung internationaler Gerechtigkeit, die auf bewußte Förderung der wirtschaftlich schwachen Glieder der Staatengesellschaft abstellt. Im Grunde wird damit in die internationale Ordnung ein Gedanke der Solidarität der Nationen, der gegenseitigen Rücksicht und sogar der Verpflichtung zur Hilfe und Förderung eingeführt, der dem "klassischen" Völkerrecht des 19. Jahrhunderts durchaus fremd war, das auf dem Nebeneinander souveräner politischer Einheiten beruhte, die nur im Ausmaß vertraglich übernommener Bindung einander verpflichtet waren. Sir Gerald Fitzmaurice hat in seinem Überblick über Grundlinien der heutigen Entwicklung des Völkerrechts7 auf das Fehlen einer solchen international solidarity hingewiesen. An diesem Punkt stellt sich in der Tat ein weitreichendes Problem. Kann in einer immer stärker auf wirtschaftliche Interdependenz angewiesenen menschlichen Gesellschaft, in einer Welt, in der das wirtschaftliche Geschehen aller Völker miteinander verknüpft erscheint, in der Frage der Bevölkerungsvermehrung, der Wanderungen, des Schutzes der natürlichen Reichtümer der Erde immer dringlicher werden, die bisherige Abschließung der Staaten gegeneinander in ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit fortbestehen? Sollte zwischen den Nationen nicht ein Band der Solidarität angenommen werden, das sie über die formale Kooperation hinaus zu einem Eintreten füreinander, zu einer gemeinsamen Bemühung um Steuerung und Gestaltung der 7 Evolution et perspectives du droit international, Jubiliäumsband des Institut de Droit International 1873 - 1973, Basel 1973, S. 259. Siehe auch Charles de Vischer, Theories et Realites en Droit International Public, 3. Ed. Paris 1960, S. 117: "Les solidarites nationales ont eu raison des tensions interieures, meme les plus profondes, celles entre classes sociales par exemple. La communaute internationale ne beneficie pas de ce facteur decisif de cohesion sociale."

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künftigen globalen wirtschaftlichen Entwicklung und in diesem Rahmen auch zur Stützung schwächerer Glieder zusammenführte? In der Entwicklungspolitik der letzten zwei Jahrzehnte und in der hier vorgenommenen Unterstützung der wirtschaftlich weniger entwickelten Gebiete klingen, wenn auch nur in Ansätzen und nicht ohne Einseitigkeit und Widersprüche, solche Ideen an. Sie sind, wie wir sehen werden, noch nicht zu Normen des internationalen Rechts erwachsen, stellen höchstens politische Prinzipien von richtunggebender Art dar. Aber es werden in dieser Hinsicht Strukturprobleme der Staatengemeinschaft sichtbar, die einer vertiefenden Betrachtung bedürfen. Jenseits der Gegensätze, die sich zeitweise zwischen den großen Industriemächten und der Mehrheit der Generalversammlung auftun, handelt es sich hier um Grundfragen für den künftigen Weg der internationalen Gemeinschaft. In der hier vorgelegten Skizze können dazu nur erst einführende Gedanken vorgelegt werden. Vor allem erscheint es aber auch wichtig, aufzuzeigen, daß solche Gedanken stärkerer gegenseitiger Verbundenheit der Völker nicht erst in der Gegenwart im Blickfeld der Völkerordnung auftauchen. Die Staatenwelt hat immer, seit ihren Anfängen, auf bestimmten gemeinsamen Grundsätzen der Zusammenarbeit und der Solidarität beruht, meist freilich mehr nach außen als nach innen gewandt. Erst im 19. Jahrhundert hat diese gemeinsame Grundlage zurücktreten lassen. Er erscheint daher angebracht, zunächst in einem geschichtlichen Ausblick, der sich notwendig auf die Verfolgung dieses einen Gesichtspunkts der Solidarität und gegenseitigen Verbindung beschränken muß, zu zeigen, daß eine Aufnahme der Idee der Solidarität unter den Nationen, einer Verbindlichkeit zu gemeinsamem Handeln, in der Überlieferung des Völkerrechts stärkere Wurzeln besitzt, als es die Ausbildung eines Leitbildes der Gesellschaft unabhängiger Staaten das 19. Jahrhundert, das auch noch in der Charter der UN als "sovereign equality" fortwirkt, erkennen läßt. Es wird dann auch deutlicher werden, daß auch ohne daß der utopische Gedanke eines Weltregiments verfolgt wird, die durch die internationale Verflechtung der Gegenwart immer stärker geforderte Verdichtung der internationalen Gemeinschaft in ihren funktionellen Bezügen und in ihrer Fähigkeit, gemeinsame Fragen der gesamten Menschheit vordenkend in organisierter und rationaler Form anzufassen, nach neuen Grundprinzipien der internationalen Zusammenarbeit ruft8 • Wenn sich zahlreiche wesentliche Probleme der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung der Welt nicht anders als durch gemeinsame Anstrengung lösen lassen, so wird auch von dieser Seite her die Anerkennung einer, 8 Zu diesen Grundfragen der Weltordnung, die sich aus den heutigen sozialen Gegebenheiten ableiten, siehe Gg. Schwarzenberger, Civitas Maxima, Tübingen 1973, S. 37 ff.

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gewiß gegenseitigen und ausgewogenen, Solidarität unter den Völkern gestützt. 11. Die mittelalterliche Christenheit: Friede nach innen, Geschlossenheit nach außen

Daß die Grundlagen des völkerrechtlichen Rechtssystems in der Zeit des Mittelalters - einmal abgesehen von den Wurzeln in der antiken Welt - gelegt wurden, hat längst Anerkennung gefunden'. In dieser Zeit bildete freilich die christliche Gemeinschaft eine räumlich begrenzte, nach außen abgeschlossene Einheit, zusammengefaßt durch das Band der Unterordnung unter Kaiser und Papst und die Einheit des Glaubens. Daraus ergab sich für sie ein Gefühl der Verbundenheit nach innen und der Abgrenzung nach außen gegenüber den umgebenden nichtchristlichen Völkern. Die Verbundenheit reichte freilich nicht viel über das Grundgebot friedlichen Zusammenlebens hinaus. Friede erschien als die normale Lage, als der gebotene Zustand zwischen christlichen Herrschern. Ihn zu erhalten, ihn nach Ausbruch von Feindseligkeiten wiederherzustrellen, war eine Grundaufgabe der päpstlichen Gewalt, die darum auch regelmäßig durch Legaten oder beauftragte Bischöfe an Friedensverhandlungen als Mediator teilnahm 10 • In den Friedensverträgen finden wir daher im Mittelalter stets das Unheil des Krieges und das hohe Gut des Friedens betontl l , und der Friede wird als rechte Versöhnung, als Bündnis der Parteien bezeichnet. Wo vom Frieden die Rede ist, wird er auch mit verstärkenden Zusätzen als "firma, stabilis atque perpetua, non ex ore tantum sed in corde, pure non ficte, sincere non simulate" geschlossen bezeichnet12 • 9 Der Umstand, daß der Einheitsgedanke des MA noch keine volle Selbständigkeit der Teile zuließ, ist hierbei nicht entscheidend. Die Epoche kannte nicht nur Vertragsbeziehungen zwischen den einzelnen Territorien, sie billigte ihnen seit dem 13. Jahrhundert auch reale Selbständigkeit als "civitat es superiorem non recognescentes" zu. Zum ma. jus gentium siehe W. Preiser, in: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, 2. Aufl. Berlin 1962, Bd. !II, S. 686 -703; A. Truyol y Serra, Die Entstehung der Weltstaatengesellschaft unserer Zeit, München 1963, S. 29 ff.; W. Janssen, Die Anfänge des modernen Völkerrechts und der neuzeitlichen Diplomatie, Stuttgart 1965, S. 13 ff., 37 ff.; E. Reibstein, Völkerrecht, Bd. I, München 1962, S. 149 ff. 10 Vgl. hierzu G. Dickinson, The Congress of Arras 1435, Oxford 1955, S. 78 ff. n Vgl. den Frieden zu Lodi zwischen Venedig und dem Herzog F. Sforza von Mailand: "Cum dulce sit verbum pacis et res in se ipse salutaris ... " (Dumont, Corps Universei Diplomatique du Droit des Gens, Amsterdam 1726 ff., Bd. !II 1, S. 202). An der gleichen Stelle wird sogar vor dem "humani generis Inimicus", dem bösen Feinde, gewarnt, der stets darauf sinne, discordia et scandala auszusäen. 12 Friede zu Thorn zwischen dem Deutschen Orden und dem polnischen König vom 19. 10. 1466 (Dumont !II 1, S. 348). Ähnliche Wendungen noch im

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Im Ausgang des 15. Jahrhunderts stellt sich auch der Gedanke ein, daß die territoriale Lage einer bestimmten Region durch den Frieden gesichert werden solle13 , und im 16. Jahrhundert wird daraus der Begriff der "pax universalis"14 und die Pflicht der Paciscenten zum Wohle der Christenheit zu handeln, wird hervorgehoben15 . Gewiß handelte es sich hier um formelhafte Wendungen, aber in ihnen spiegelt sich doch die Vorstellung, daß zwischen christlichen Völkern "pax et amicitia" das rechte Verhältnis darstellten16. Am Ausgang des 15. Jahrhunderts zeigten sich in den italienischen Staaten die ersten Ansätze eines größeren Strukturgedankens in der Gestalt der Gleichgewichtsvorstellung. Gegen Venedig, dessen Vordringen die anderen besorgte, richtete sich wachsende Kritik17, die schließlich in der Liga von Cambrai, die der Papst, der Kaiser und der französische König 1508 schlossen, einen markanten Ausdruck fand, dessen moralisches Pathos freilich dieser kurzdauernden politischen Allianz kaum angemessen erscheint. Das Bündnis sollte der Bewahrung der Respublica Christiana vor den Einfällen gelten, die die Venetianer in fremdes Gebiet gemacht hätten "perinde ac si in communem omnium perniciem conspirassent tyrannice occupando et usurpando"18. Aus der begrenzten italienischen Sphäre ging dann der Gedanke an eine ausFrieden von Cateau-Cambresis zwischen Spanien und Frankreich vom 3. 4. 1559 (Dumont V 1, S. 34). 13 Darin liegt die grundlegende Bedeutung des Friedens von Lodi, dem die anderen Hauptrnächte Italiens beitraten, so daß er "ad conservationem et defensionem Statuum ipsarum partium" in Italien eingegangen wurde. Eine spätere Verlängerung zwischen Mailand und Florenz v. 17.1.1467 spricht geradezu von der "Italica Pax" (Dumont III 1, S. 384). 14 So das Bündnis zwischen Franz I. v. Frankreich, Papst Leo X und anderen ital. Fürsten vom 13.10.1515 (Dumont IV 1, S. 214); Bündnis zwischen Kaiser Karl V. und Clemens VII v. 29. 6. 1529 (Dumont IV 2, S. 4); Friede von Utrecht zwischen England und Frankreich vom 31. 3. 1713 (Schmauss, Corpus Juris Gentium Academicum, Leipzig 1730, Bd. 11, S. 1313). 15 Friede von Cateau-Cambresis (Anm. 12): "bien de la Chrestiente." 16 Der Vertrag zwischen Florenz und Mailand vom 17.1.1467 (Anm. 12) wandte den für den inneren Zustand eines Staates üblichen Ausdruck "quies et tranquillitas" für Italien an. Auf das Gebot der Nächstenliebe unter den Völkern selbst gegenüber Heiden wies schon zur Zeit des Konstanzer Konzils der Rektor der Universität Krakau, Paulus Vladimiri, in seinen im Streit mit dem Deutschen Orden verfertigten Schriften hin; vgl. Stanislav F. Beleh, Paulus Vladimiri and his Doctrine concerning International Politics, Leiden 1956, Bd. 11, S. 821: Tractatus de potestate Papae et Imperatoris respectu Infidelium (1415 quaestio 4.), wo V. auf das Gebot der dilectio proximi verweist, um zu begründen, daß auch gegen infideles nur ex justa causa Krieg geführt werden dürfe. 17 Zu dieser Agitation gegen die übermacht (dominatio) Venedigs und seines Streben nach der "monarchia Ytaliae" siehe N. Rubinstein, in: J. R. HaIe (Ed.), Renaissance Venice, London 1973, S. 201 ff. 18 Liga von Cambrai vom 10. 12. 1508 (Dumont Bd. IV 1, S. 114). 17 Festschrift Menzel

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geglichene Staatenordnung 1U in die europäische Ebene über, um hier den Boden zu bereiten für den Kampf gegen jede Macht, die die "monarchie universelle" erstrebte. Diese These diente der Krone Frankreichs in ihrem Kampf gegen die Stellung des Hauses Habsburg; umgekehrt bildete sich später im Ringen gegen die Vormacht Ludwigs XIV. die Lehre vom europäischen Gleichgewicht erst voll aus 20 • So mechanisch und unsicher dieser Grundsatz des Gleichgewichts erscheint, der noch die Zeit des Wiener Kongresses beherrscht, in ihm trat doch ein Strukturprinzip der internationalen Gemeinschaft zu Tage, das ein Element der Solidarität aller gegen die übermacht eines Staates enthielt, freilich begrenzt auf die politisch-militärische Sphäre und ohne Auswirkung auf soziale Fragen. Der Gedanke des Friedens unter den Völkern erstreckte sich im späteren Mittelalter auch über den Bereich der Christenheit hinaus auf das Verhältnis zu den nicht-christlichen Ländern. Hier standen sich freilich zwei Richtungen gegenüber. Die ältere und strengere, universalistisch ausgerichtet, u. a. vertreten durch Heinrich von Segusia (t 1271) und später auch von Aegidius Romanus (t 1316), sprach den Heiden die Fähigkeit, echte Herrschaft oder auch wahres Eigentum zu besitzen ab, unterwarf sie der als universal angesehenen Herrschaft des Papstes und hielt den Kampf gegen sie vom Grunde her als gerechtfertigt21 • Sie kannte Duldung nur für die in christlichen Staaten lebenden und ihnen unterworfenen Nichtchristen (Juden und Sarazenen). Demgegenüber setzte sich aber eine andere Auffassung, vor allem in der Zeit des Konstanzer Konzils, durch, die von Wilhelm von Ockham22 und von dem Pariser Theologen Gerson23 vertreten wurde. Sie 18 Zum Aufkommen der Theorie des Gleichgewichts im spätmittelalterlichen Italien und seiner Ausdehnung auf Europa siehe E. Reibstein, Völkerrecht Bd. I, Freiburg 1957, S. 456 ff. 20 Eine rechtlich anerkannte Form erhielt das Prinzip des Gleichgewichts erstmals im Frieden von Utrecht zwischen England und Frankreich vom 13.7.1713 Art. 26, der die Vereinigung der Kronen Frankreichs und Spaniens ausschließt, und im gleichzeitigen Frieden zwischen England und Spanien, dessen Art. 2 das "justum aequilibrium" ausdrücklich nennt. (Dumont Bd. VIII 1, S. 339, 394.) Vgl. Reibstein S. 472 f. 21 Vgl. zu dieser Lehre Joseph Hö!!ner, Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, 2. Aufl. Trier 1969, S. 67 ff. Zu der älteren ebenfalls differenzierten Auffassung der Zeit der Kreuzzüge siehe Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Neudr. Darmstadt 1963, S. 86 ff. 22 w. v. Ockham, Octo quaestiones super potestatem Summi Pontificis (1326), bei Goldast, Monarchia Romani Imperii, Frankfurt 1614, Neudruck Graz 1960, Bd. 111, S. 325 (Cap. X quaestio 1): "Est observandum quod secundum ipsos ante adventum Christi et post apud infideles fuit verum dominium temporalium rerum et vera ac legitima et ordinata potestas, et gladii materialis vera iurisdictio temporalis ... " Z8 De ecclesiastica et politica potestate bei Goldast Bd. 111, S. 399: Ablehnung des Krieges gegen die Heiden.

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bestritt eine universale Gewalt des Kaisers über die heidnischen Völker, kannte auch nur eine begrenzte jurisdiktionelle Rolle des Papstes in dieser Hinsicht, und billigte den Nichtchristen nicht nur ein wahres Eigentum, sondern auch die Fähigkeit zu echter politischer Ordnung zu. Für den Krieg gegen sie forderte diese Richtung, die in den Auseinandersetzungen des Deutschen Ordens mit der polnischen Krone Paulus Vladimiri nachdrücklich vertrat, besondere gerechte Ursachen. Die Duldung (tolerantia) erstreckte sich nicht nur auf die unter christlichen Herrschern lebenden nichtchristlichen Gruppen2" sondern allgemein vertrat Vladimiri gegenüber den Heiden die Geltung des christlichen Gedankens des Friedens und der dilectio proximi25 • Gegen Heiden, die sich friedlich verhielten, sei Krieg nur aus gerechtem Grunde statthaft26 , ihr Land dürfe nicht okkupiert werden27 • Diese Auffassungen gehen schon weitgehend in die Richtung, die später von Fr. de Vitoria in seinen "Relectiones de Indis" eingeschlagen wurde, der eine Gemeinschaft aller Völker annahm, weder Papst noch Kaiser eine universale Herrschaft zuerkannte und den Heiden Eigentum und politische Herrschaft zusprach28• Die Auffassung, die einen friedlichen Verkehr mit nichtchristlichen Ländern als Ausfluß der alle Völker umfassenden Gemeinschaft und des allgemeinen Gebotes der Freundschaft zum Nächsten ansah, befand sich im Grunde auch in Übereinstimmung mit der Realität der Zeit. Während des ganzen Mittelalters bestanden stetige vertragliche Beziehungen zu nichtchristlichen Staaten. Das galt für die iberische Halbinsel, aber auch italienische Stadtstaaten traten seit dem 12. Jahrhundert mit del'l. nordafrikanschen Ländern und islamischen Herrsern des Nahen Ostens in immer wieder erneuerte vertragliche Beziehungen, die ihren Handel und ihre Handelsniederlassungen schützten29 • Auch im Zeitalter der Entdeckungen standen anfangs Verträge 24 BeIch, Vladimiri (Anm. 15), S. 797: Traetatus de potestate Papae et Imperatoris respectu Infidelium (1415) quaest. 1 und 2. VgI. Höffner) (Anm. 22), S. 51 ff., 99 ff. 26 Vladimiri, dort II quaest. 4: dilectio proximi (BeIch, S. 821). Siehe dazu Beleh, S. 492 ff., 520. Moreau-Reibel, Reeueil du Cours de l'Academie du Droit International a la Haye (RdC) Bd. 77 (1956 II), S. 531 f. 26 Zulässig ist der Kampf gegen die Heiden zur Wiedereroberung verlorenen Gebietes: Vladimiri, dort II quaest. 6. Siehe dazu BeIch, S. 457 ff. 27 Vladimiri, Tractatus "Opinio Hostiensis" (1415), Consideratio 50 (Beleh, S. 882). Ferner dazu Beleh, S. 420. 28 Francisco de Vitoria, Relectio de Indis (Ed. L. Perefia und J. M. Perez Prendes (Corpus Hispaniorum de Pace Bd. V), Madrid 1967, Relectio I, 2 2 und 4 und zum Eigentum I, 1 Nr. 15 - 16. 29 VgI. Mario Giuliano, La Cooperazione Internazionale in materia eeonomica, Bd. I, Mailand 1965, S. 77 ff.; Ch. G. Alexandrowicz, The EuropeanAfrican Confrontation, Leiden 1973, S. 19 f., 129 ff.; TTUyol y Serra, RdC 1965 (III), S. 108 f.

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mit den einheimischen Herrschern im Vordergrund. Portugal schloß Vereinbarungen mit den arabischen Gebieten am Indischen Ozean30 und später trafen die Niederländer mit den Herrschern Südindiens und Indonesiens Abkommen, auf die sie sich dann in der Folge gegen England und die von diesem geforderte Handelsfreiheit beriefen, weil sie ihnen eine monopolistische Stellung gewährten31 . Diese Grundlagen der Stellung der Kolonialmächte erschienen ihnen wichtiger als die Ableitung von Hoheitsrechten aus päpstlichen Akten der Zuweisung32 . In der Richtung dieser Anschauungen lag es bereits, wenn der spanische Theologe Fr. de Vitoria in seinen Vorlesungen über Indien (1539) von einer alle Völker umspannenden, "naturalis societas et communicatio" ausging, in der ein gemeinsames ius gentium Geltung besaß33. Auch er bezeichnete die Spanier als "proximi barbarorum" im Sinne des Gebots des Evangeliums vom "diligere proximum"34. Daraus ergab sich für Vitoria die Ablehnung des Glaubenskrieges als rechter Titel der Eroberung. Er öffnete allerdings den Spaniern das Tor zur Besitznahme durch das Argument, ihnen stehe der freie Zugang und die freie Niederlassung im fremden Gebiet nach dem ius gentium zu, ebenso wie der freie Handel. Würden diese Rechte ihnen streitig gemacht, so könnte die Abwehr gegen solche Verhinderung zur Besitznahme führen 35 • Vitoria bestand aber darauf, daß auch bei Erlangung der Herrschaft der christliche Herrscher aus dem Gebot der caritas verpflichtet sei, seine Macht zum Wohl der Heiden, nicht nur zum Gewinn der Spanier auszuüben36 • Hier klang ein Gedanke an, der aus der Stellung der Hei30 Ch. G. Alexandrowicz, An Introduction to the History of the Law of Nations in the East Indies, Oxford 1967, S. 29 f.; ders., Confrontation (Anm. 29), S. 14 ff.; G. Fahl, Die Geschichte der Freiheit der Meere in der Staatenpraxis 1493 - 1648 (Beiträge zum ausI. öffentl. Recht u. Völkerrecht 51), Köln 1969, S. 40 ff. Diese Verträge zeigten schon bald übergänge zur Abhängigkeit asiatischer Staaten, die Vasallen oder Lehnsleute wurden. 31 VgI. Fahl (Anm. 30), S: 108 ff., und die Memoranden der Niederlande in ihren Kolonialverhandlungen mit England 1613 und 1615, bei G. N. Clark u. Jonkheer van Eysinga, The Conferences between England and the Netherlands 1613 and 1615 (BibI. Visseriana Bd. 15), Leiden 1940, S. 59, 125, 181, 203 f. Im Memorandum v. 13. 5. 1613, an dem Grotius maßgebend mitwirkte, wird ausgeführt (S. 125): "Nituntur Tuae Maj. subditi libertate juris gentium, nos venditione iam facta et foederum sanctimonia." VgI. auch G. N. Clark, Conferences Part II (BibI. Visseriana Bd. 17), 1951, s. 70 ff., und Alexandrowicz, Introduction (Anm. 30), S. 58/59. 32 Zur rechtlichen Bedeutung der päpstlichen Bullen für Portugal und Spanien (Sicherung der Rechtstitel, Ausschluß anderer) siehe Fahl (Anm. 30), S. 18 ff. 33 De Indis I, 3, 1. 34 De Indis I, 3, 1- 2 und 1,3,17. 35 De Indis I, 3., 1 - 2 und 5 - 6, 8. 36 De Indis I, 3. 17. Herrschaft "illa limitatione, ut fiat propter bonum et ad utilitatem illorum, et non tantum ad quaestum hispanorum". Es ist gewiß unverkennbar, daß Vitoria mit der Gestattung der Abwehr gegen Behin-

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den als Nächste (proximi) eine Verantwortung für ihren Schutz und für ihre eigene Entwicklung ableitete. Man mag hier einen Vergleich ziehen zu der im späteren 19. Jahrhundert aufkommenden Idee der Treuhandschaft, der für die Gestaltung der Mandate des Völkerbundes grundlegend wurde. Die Anschauungen jener Denker, die sich auf die menschliche Gemeinschaft aller Völker, auf das eigene Recht nichtchristlicher Bevölkerungen, auf das unter ihnen allen geltende Gebot der Rücksicht (caritas) und des Friedens richteten, haben sich freilich im Lauf der geschichtlichen Ereignisse nur in begrenztem Maße durchsetzen können. Die spanische Regierung hat in den überseeischen Gebieten Recht und Maß zu erhalten gesucht, mit beschränktem Erfolge 37 • Schon die zeitgenössische Diskussion sah in Spanien ein Wieder aufleben der älteren Vorstellungen von der Unfähigkeit der Heiden zu Eigentum und wahrer Ordnung und von der Rechtfertigung des Glaubenskrieges38, und seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts überwog, namentlich bei den nördlichen Nationen, England, Frankreich, den Niederlanden, die Verweisung auf den einfachen Titel der Eroberung. Es kann hier nicht auf Einzelheiten der Geschichte der europäischen Besitzergreifung in anderen Erdteilen eingegangen werden, die im einzelnen noch genauerer völkerrechtlicher Untersuchungen bedarf. In vielen Fällen diente der Vertrag der europäischen Ausbreitung als Grundlage, der Bündnis, aber auch Vasallität oder Abhängigkeit der einheimischen Herrscher begründete, aus dem sich aber nicht selten später unter Verlust der Rechtsstellung eines Partners die Unterordnung unter die fremde rechtliche Gewalt und die volle Inbesitznahme ergab 39 • Die Ausdehnung des europäischen Völkerrechts vollzog sich mithin in der Epoche des 16.derung von Zugang und Handel sowie Glaubensverkündigung in indirekter Form auch eine Rechtfertigung für die spanische Besitzergreifung lieferte und daß er an der aristotelischen Vorstellung der zum Sklaven Geborenen festhielt (I, 1, 1 und I, 3, 17). Aber er lehnte die einfache Eroberung ab und suchte die Herrschaftsübung durch Pflichten zur Achtung der bestehenden Lebensformen zu begrenzen. Zur Diskussion um Vitorias Bedeutung siehe Janssen (Anm. 9), S. 57 ff. 37 Vgl. Höffner (Anm. 22), S. 383 ff. 38 Vgl. Höffner (Anm. 22), S. 216 ff., über Martin de la Paz und Juan Lopez de Palacios Rubios. Der Letztere war der Verfasser einer in Amerika verwendeten Proklamation über Besitzergreifung, die ganz auf die universalistische Konzeption einer allgemeinen Verfügung des Papstes aufbaute. Siehe Reibstein (Anm. 18), S. 277 f. 39 Über diese Rolle der Verträge mit einheimischen Gewalten siehe Alexandrowicz, Introduction (Anm. 30), S. 179 ff., und ders., Confrontation (Anm. 29), S. 29 ff., 110 ff., insbesondere über die Rolle, die vertragliche Abmachungen im übergang zu direkter Herrschaft in Afrika im 19. Jahrhundert spielten. Siehe auch über Samoa als "foreign state" die Stellungnahme der Berater des Foreign Office von 1882 bei Lord McNair, International Law Opinions, Cambridge 1956, Bd. I, S. 66.

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19. Jahrhunderts weithin in der Form, daß außereuropäische Gebiete nach vorübergehender Anerkennung vertraglicher Beziehungen in eine koloniale Abhängigkeit eintraten und damit indirekt von den Regeln des in Europa ausgebildeten Rechts erfaßt wurden. Das führte zu einer Struktur der internationalen Gemeinschaft, die nicht auf der Gleichheit der Völker und Staaten beruhte, und sich damit von jenen Vorstellungen entfernte, von denen die frühen Autoren des ius gentium ausgegangen waren. Erst durch die Verselbständigung Nord- und Südamerikas setzte eine neue Entwicklung ein, die auch außereuropäische Gebiete gleichberechtigt in den Kreis der internationalen Staatenwelt aufnahm. Gegenüber dieser tatsächlichen Entwicklung blieb es bemerkenswert, daß die Lehre des Naturrechts die älteren Vorstellungen einer weltumfassenden menschlichen Gesellschaft festhielt und weiter entwickelte.

III. Die Gemeinschaft der Völker und ihr Zusammenwirken in der Lehre des Naturrechts Von der Auseinandersetzung mit der die Christenheit umgebenden Welt empfing im 15. und 16. Jahrhundert die internationale Ordnung, die sich in Europa herausbildete, in einem entscheidenden Zeitpunkt ihrer Fortbildung wesentliche Impulse. Die Anschauungen jener Autoren, die sich in jener Zeit zu den Grundlagen der internationalen Beziehungen äußerten, haben die zwischenstaatliche Ordnung wesentlich beeinflußt, auch wenn sie in der Folge nicht in allen Zügen von der Staatenpraxis aufgenommen wurden. Der entscheidende Zug dieser Anschauungen war die Sprengung des älteren, aus der Antike überkommenen Bildes des christlichen Kreises als eines geschlossenen, von feindlichen Völkern (Barbaren) umgebenen Bereiches, der unter einheitlicher weltlicher und geistlicher Führung stand. An seine Stelle trat die Vorstellung einer alle Völker der Erde umschließenden, durch das gemeinsame Recht des ius gentium gestaltete Gemeinschaft. Nur im Gegensatz zu kriegerisch andrängenden nichtchristlichen Völkern, in erster Linie den Türken gegenüber, blieb der Gedanke einer gemeinschaftlichen Haltung lebendig, die zu gemeinsamer Abwehr des "nefarius Turca" die christlichen Mächte zusammenführen sollte 40 • Die 40 Oft wurde in Friedensschlüssen und Bündnissen die Notwendigkeit des Zusammenstehens gegen die türkische Gefahr hervorgehoben: vgl. Allianzvertrag zwischen Venedig und Ungarn v. 12. 9. 1463 (Dumont !II 1, S. 290); Bündnis zwischen Kaiser Friedrich III und dem Könige von Ungarn u. Böhmen 1491 (zum Beistand gegen die "nefaria gens Turcorum", Dumont Bd. Irr 2, S. 264); Liga zwischen Franz I und Papst Leo X in Viterbo v. 13. 10. 1515: Friede, damit gemeinsamer Kampf gegen die Türken (Dumont IV 1, S. 214); Bündnis Heinrichs VIII. von England mit Franz I. v. 2. 10. 1518 (Dumont IV 1,

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Idee einer allgemeinen Gemeinschaft aller Völker wurde in der Lehre des 16. Jahrhunderts, u. a. von Gentilis41 und Fr. Suarez42 , weiter entfaltet und blieb auch in der Epoche des Naturrechts erhalten. Damit blieb dieser Zeit, ungeachtet der sich vollziehenden kolonialen Expansien, doch der Blick auf die gesamte menschliche Gemeinschaft und die zwischen den Völkern bestehende Rücksicht bewahrt, auch wenn diese Gedanken nicht weiter ausgebaut wurden. Das geschah erst im 18. Jahrhundert.

In einem engeren Bereich fand die Gemeinschaft der Völker einen besonderen Ausdruck. Aus ihr entsprang der Grundsatz von der Freiheit des Handels unter den Nationen (ius commercii). Zuerst von Vitoria im Blick auf den Zugang zur neuen Welt entwickelt, dann von den nördlichen Seemächten in ihrem Kampfe gegen das iberische Monopol des überseeischen Handels aufgenommen, fand dies Recht zum freien Handel, das zugleich auch die Idee der Freiheit der Meere stützte, auch in der naturrechtlichen Periode Anerkennung. Christian Wolff nahm eine natürliche (d. h. nicht rechtliche) Verpflichtung zum gegenseitigen Handel unter den Völkern an, die er aus dem Bedürfnis gegenseitiger Ergänzung durch im Inland fehlende Güter begründete. Er betonte dabei die notwendige Ergänzung. "Was ein Volk dazu beitragen kann, daß ein anderes reichlich mit den Notwendigkeiten, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens versorgt wird, ist es verpflichtet beizutragen, und jedes Volk hat das Recht, Güter, die es braucht, von anderen Völkern, die deren nicht bedürfen, zu angemessenem Preise zu erwerben 43 ." Er gestand aber jedem Volk das Recht zu, über die Zulassung des Handels nach seinem Urteil zu befinden. Von Wolff übernahm Emeric de Vattel diesen Gedanken der gegenseitigen Ergänzung der Völker und des Austausches der Güter. Auch er forderte Freiheit des Handels und gestand jedem Volke die natürliche Freiheit zu, mit anderen, die dazu bereit sind, Handel zu treiben. Die Handelsfreiheit zählte er zum gemeinen Recht der Nationen. Auch Vattel billigte aber einem Volke das Recht zu, nachteilige Handelsbeziehungen abzulehS. 266); Friede zu Madrid zwischen Karl V. und Franz I. Art. 26: beide Fürsten wollen den Frieden zur Abwehr der Türken (Dumont IV 1, S. 399); Liga zwischen Spanien, Venedig u. d. Papst v. 8. 12. 1570 (Dumont V 1, S. 202). 41 Zu Gentilis siehe G. H. J. van der Molen, Alberieo Gentili, 2. Auf!. Leiden 1968, S. 242. 42 Fr. Suarez, Tractatus de Legibus ac Deo Legislatore 1612 (Ed. J. Brown Seott, The Classies of International Law No. 20), Oxford 1944, Lib. 2 cap. 19. S. lehrte die "aliqua unitas generis humani" trotz seiner Teilung in verschiedene Völker und Reiche, die von dem "naturale praeeeptum mutui amoris et miserieordiae quod ad omnes extenditur, etiam extraneos", durchwaltet wird (S. 190/91). 43 Jus Gentium Methodo Scientifiea Pertraetatum 1764 (Ed. O. Nippold, The r.lassics of International Law Bd. 13), Oxford 1934, §§ 187, 188, S. 67 f.

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nen44 • In dem Werk dieser Autoren wurde die Handelsfreiheit somit zum Ausdruck einer moralischen Verpflichtung der Völker, sich dem gegenseitigen Austausch zur Ergänzung ihrer Bedürfnisse an Gütern zu öffnen. Damit war aus allgemeinen Erwägungen der Verbundenheit der Nationen eine naturrechtlich begründete Pflicht zu gegenseitiger Unterstützung, zur Hilfe gegen den Nächsten hergeleitet. Man darf daher in dieser Auffassung bereits einen Anklang an einen weiteren allgemeinen Gedanken, den der Solidarität der Nationen erblicken, auf den wir noch zurückkommen werden. Im 19. Jahrhundert hielt die Lehre den Grundsatz des freien Handels fest. Sie verstand ihn nun vor allem als Pflicht jedes Staates, sich dem freien Verkehr mit anderen Staaten zu öffnen und sich nicht ganz vom Austausch abzuschließen, wie dies damals noch zeitweise die ostasiatischen Länder versuchten. Doch wurde nun die Souveränität des einzelnen Staates, diesen Verkehr abzulehnen oder den Handel mit seinen Kolonien sich vorzubehalten, stärker betont und ebenso die Ablehnung unvorteilhafter Handelsbeziehungen zuerkannt45 • Am Ende des 19. Jahrhunderts trat indes das ganze Rechtsinstitut, dessen Grundlage in naturrechtlichen Vorstellungen einer Gemeinsamkeit der Völker lag, in der ganz positiv-rechtlich orientierten Lehre zurück. Oppenheim erklärte, ein solches Recht bestehe nicht. Es sei lediglich ein Zeichen der Zugehörigkeit eines Staates zum Kreis der zivilisierten Nationen, daß er sich dem Verkehr öffne. Das beruhe aber nicht auf rechtlicher Bindung 4G • Die Entwicklung der Staatengemeinschaft vom 16. bis 19. Jahrhundert kann hier nur in Hinsicht auf ihre innere Struktur behandelt werden. Sie formte sich in diesem Zeitraum aus einer Gemeinschaft christlicher Staaten mit Elementen innerer Verbundenheit um in einen Kreis unabhängiger Staaten, die durch das Bund der Zugehörigkeit zum "europäischen Völkerrecht" verbunden waren 47 • Dennoch blieb der am Droit des Gens, Leiden 1758, Buch 2, §§ 24, 25. Zum Recht der Handelsfreiheit siehe J. L. Klüber, Europäisches Völkerrecht, Stuttgart 1821, S. 118; J. C. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staaten, Nördlingen 1868, S. 25 (Ablehnung völliger Abschließung einzelner Staaten u. Hinweis auf die Öffnung der chinesischen u. japanischen Häfen); Ch. Calvo, Le droit international theorique et pratique, Paris 1896, Bd. 3 § 1303, S. 159 f.: der Austausch unter den Völkern ist "patrimoine commun de l'humanite", das Recht zum Handel ist naturrechtlich begründet; J. Rivier, Principes du Droit des Gens, Paris 1896, Bd. 1, S. 262. Die beiden letzteren sprechen sich gegen zwangsweise Öffnung von Häfen aus. 48 International Law, 1. Aufl. London 1905, S. 191 f. Als bloß tatsächliche Notwendigkeit des internationalen Lebens bezeichnet die Freiheit des Handels BonfUs, Manuel de droit international public, Paris 1912, S. 282. 44

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Anfang des 16. Jahrhunderts gewonnene Gedanke einer alle Menschen umfassenden Gesellschaft in der Lehre des Naturrechts lebendig. Dabei rückte die Frage der überseeischen Ausdehnung mehr an den Rand. Die Staatenpraxis hatte, soweit die hier entbrennenden Streitigkeiten unter den europäischen Mächten in Betracht kamen, dieses politische Feld in Verträgen mehrfach als Vorgänge "beyond the line" von den europäischen Problemen abgesondert48 • Die Ausdehnung unter den Titel der Entdeckung und Eroberung (Okkupation) fand nun allgemeine Anerkennung. Die innere Ordnung der europäischen Gemeinschaft war nach der Auflösung der mittelalterlichen Einheit lockerer gestaltet, auf das Nebeneinander souveräner Staaten gegründet, die sich schärfer in Territorium und Jurisdiktion voneinander absonderten. In ihrem Verhältnis bot das Prinzip des Gleichgewichts49 nur eine lose, rechtlich nicht verfestigte Richtlinie. Darüber hinaus zeigte die Praxis keine nähere Verbundenheit der Staaten; sie folgte dem Eigeninteresse des einzelnen Landes. Demgegenüber erhielt sich in der vom Naturrecht geprägten Lehre der weitere Ausblick der älteren überlieferung auf die ganze Welt und das Bestreben, die Glieder der Staatengemeinschaft zum Zusammenwirken zu verpflichten. Die Aufklärung verstärkte den Zug zu umfassender Betrachtung der ganzen Menschheit und so entwickelten sich im 18. Jahrhundert neue und bedeutsame Vorstellungen einer Verbundenheit innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Sie erhielten eine systematische Ausformung vor allem durch Christian Wolff. Sein Blick beschränkte sich nicht auf Europa, sondern schloß die ganze Menschheit ein, die er in dem Bilde der Civitas Maxima als gegliederte Einheit ansah 50 • Von diesem Ausgangspunkt wurde auch die Frage der Kolonien erfaßt, deren Behandlung wohl überwiegend vom Blick auf Nordamerika geprägt wurde. Wo Völker ohne festen Wohnsitz in größeren Räumen schweiften, anerkannte Wolff ihnen Eigentum nur zu an dem Boden, den sie individuell oder kollektiv in Benutzung genom47 Zum Wandel von der christlichen Einheit zum europäischen Staatensystem Truyol y Serra, RdC 1965 HI, S. 100 ff.; Janssen (Anm. 9), S. 78 f.; meine Darlegung "Die großen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung", Festgabe f. M. Braubach, Münster 1964, S. 232 ff. 48 über die AUllklammerung der überseeischen Gebiete "beyond the line" in manchen europäischen Friedensverträgen, so daß Kämpfe dort nicht auf die europäischen Beziehungen zurückwirken sollten, siehe Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 54 ff.; Truyol y SerTa (Anm. 9), S. 52 ff.; B. V. A. Röling, International Law in an Expanded World, Amsterdam 1960, S. 23 f. 49 Das Gleichgewichtsprinzip findet einen rechtlichen Ausdruck zuletzt im 1. Pariser Frieden v. 30. 5. 1814 (Präambel); vgl. K. Strupp, Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts, Gotha 1911, Bd. 1, S. 118. 50 WoZft (Anm. 43), §§ 7, 8, 10.

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men hatten. Der unberührte Rest des Landes sollte dagegen der Okkupation offenstehen51 • Ist die Anerkennung des natürlichen Rechts fremder Völker auf ihr Land in dieser älteren Zeit stets, wie bei Vitoria, ein Zeichen für die Konzeption einer umfassenden menschlichen Gemeinschaft, so entwickelte sie sich in der Vorstellung von Wolff weiter zur Forderung des Zusammenwirkens und der Solidarität der Völker. In Anlehnung an die allgemeine Anschauung des Naturrechts von den Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, das hier neben Pflichten gegen sich selbst die Pflichten gegen den Nächsten entfaltete52 , sprach Wolff von der charitas Gentium, der Pflicht eines Volkes, das Wohl anderer Nationen zu befördern53 • Daraus leitete er eine Naturalpflicht (d. h. eine moralische, nicht rechtliche Pflicht) für ein Volk ab, zur Erhaltung und Fortentwicklung (perfectio) eines anderen beizutragen, und legt das ganz besonders den "Gentes doctae et cultae" gegenüber den "Gentes barbarae et incultae" aufS'. Hier klang in noch zeitgebundener Form der Gedanke einer Hilfe der führenden Staaten für die noch weniger entwickelten Völker an. Wolff faßte auch die wirtschaftliche Verknüpfung der Staaten ins Auge, wenn er den Völkern aufgab, Güter und Kenntnisse den anderen Nationen für ihren Bedarf und ihren Lebenskomfort mitzuteilen55 • Das gleiche Bild einer auf dem Gedanken der Solidarität der Nationen gegründeten internationalen Gesellschaft zeichnete auch Vattel. Die Nationen sind von Natur aus verbunden, die menschliche Gemeinschaft zu pflegen und sich Unterstützung, die "offices de l'Humanite" zu gewähren, die die Gemeinschaft fordert. Das bedeutete Beistand zur Erhaltung der Existenz und eines angenehmen Lebens56 • Im Vergleich mit der Lage des Einzelmenschen betonte Vattel auch die Interdependenz der Völker, die über die Pflichten einer Nation gegen sich selbst hinaus den gegenseitigen Beistand erheischt, soweit nicht die eigene Existenz gefährdet wird. Als Beispiel nannte Vattel neben der Hilfe gegen einen Angriff die Lieferung von Lebensmitteln im Falle einer Hungersnot und wies auf die wohl erstmals nach dem Erdbeben in Lissabon erfolgte inter51 Wolft, §§ 309 - 311. Die Okkupation bewohnter Gebiete untersagt Wolff ausdrücklich: "Terras ineognitas a Gente habitatas oceupare externis Gentibus non lieet." 52 Grundlegend hierfür Putendorft. De Officio hominis et civis, 1673, eap. 5,6. 53 Wolft, §§ 162, 163: "Genti unicuique eonstans et perpetua esse debet voluntas felicitatem aliarum Gentium promovendi ..." S4 §§ 167, 168: "Quidquid Gens doeta et eulta eonferre potest ut barbarae ae ineultae fiant doetae atque eultiores, id faeere debet." 55 §§ 168 - 170. 56 Vattel, Droit des Gens, 1758, Lib. II eap. 1, §§ 2, 3: "Un Etat doit atout autre Etat ee qu'il se doit a soi-meme, autant que eette autre a un veritable besoin de son seeours et qu'il peut le lui aecorder sans negliger ses devoirs envers soi-meme."

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nationale Hilfsaktion hin 57 • Auch hei ihm wurde die von den entwickelten Staaten (nations savantes) geforderte Ausbildungshilfe ausdrücklich erwähnt58• Man darf diese von der Lehre entwickelten Gedanken einer auf gegenseitige Ergänzung abgestellten Solidarität der Nationen nicht überschätzen, man muß aber auch ihre weitreichende auf die Zukunft weisende Bedeutung würdigen. Wolff und Vattel sprachen nicht von . rechtlichen, sondern von moralischen ("natürlichen") Pflichten, und Vattel selbst ließ am Ende seiner Darlegung die Note der positiven Utopie durchblicken, die hier entworfen wurde59 • Die Staatenpraxis hat diese Ideen kaum aufgenommen, die nun zur Herrschaft gelangende positive Völkerrechtslehre, die das Naturrecht ablehnte, sah hier nur "abstrakte Spekulationen"oo. Doch wurde die Vorstellung allgemeiner, die ganze Menschheit verbindender Grundsätze noch einmal auch in der politischen Praxis von der französischen Nationalversammlung in ihrer Erklärung vom 22. 5. 1790 über die Rechte der Völker aufgenommen, freilich weniger im Geiste der Zusammenarbeit - es wurde nur betont, daß jeder Staat sich so verhalten solle, wie er wünsche behandelt zu werden - als in der Betonung der nationalen Souveränität nach innen und außen61 • Die alsbald folgende Umkehr dieser schönen Sätze in einen als kriegerische "Befreiung" verkleideten nationalen Imperialismus diskreditierte diese Deklaration rasch° 2 • Dennoch, blickt man von den Fragen der Gegenwart auf diese Ausführungen der Naturrechtslehre zurück, so wird man in ihnen ungeachtet ihrer nationalistischen Einkleidung doch die Konzeption einer Völkerordnung vorbezeichnet finden, in der es nicht nur um die Unabhängigkeit der Staa57 58 59

Vattel, Lib. II, §§ 4, 5. Lib. II, §§ 6, 7. Lib. II, § 15. Warum, so ruft der Verf. hier aus, ist diese Idee einer zu

ihrem Glück zusammenwirkenden Welt nur "un beau songe"? Auf die Fundierung dieser Ideen in der allgemeinen Lehre des Naturrechts von den Rechten und Pflichten der Menschen, denen die Staaten gleichgesetzt werden, weist Reibstein (Anm. 18), Bd. 1, S. 503 ff., 584 ff. hin. Das allgemeine Verbot der Schädigung anderer nimmt auch auf DaTies, Institutiones iurisprudentiae universalis, 3. Aufl. Jena 1748, §§ 947, 949. 80 So GeoTg FTiedTich v. MaTtens, Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht, Göttingen 1796, S. 9. Ähnlich spricht J. J. MoseT, Versuch des Neuesten Europäischen Völker-Rechts, Teil I, Frankfurt 1777, S. 17 von einem "philosophischen Völkerrecht". 61 Siehe hierzu R. Redslob, Völkerrechtliche Ideen der Französischen Revolution, Festgabe f. O. Mayer, Tübingen 1916, S. 281 ff.; W. MaTtens, Völkerrechtsvorstellungen der Frz. Revolution, in: Der staat 3 (1964), S. 295 ff.; P. Bastid, RdC 72 (1948), I, S. 181 ff.; meine Darlegung in: Th. Schieder (Hrsg.), Staatengründungen und Nationalprinzip, München 1974, S. 19 f. 62 Vgl. das Vorwort zu G. F. v. MaTtens (Anm. 60), S. VIII ff., und R. SchnuT, Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg, in: Der Staat 2 (1963), S. 309 ff.

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ten, sondern auch um die gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit der Nationen und um ihre Pflicht geht, daraus Folgerungen für den Güteraustausch, wirtschaftlichen Beistand und wissenschaftliche und technische Ausbildungshilfe zu ziehen.

IV. Der Kreis der zivilisierten Nationen im 19. Jahrhundert Hatte das 18. Jahrhundert jedenfalls innerhalb der Völkerrechtslehre ein starkes Bewußtsein der gegenseitigen Zusammengehörigkeit und der weltweiten menschlichen Gemeinsamkeit hervorgerufen, so ging das 19. Jahrhundert andere Wege. Zwei Umstände trugen dazu bei, das Zurücktreten gemeinsamer Grundlagen und die Isolierung des einzelnen Staates zu befördern. Einmal gewann im Völkerrecht nun - gewiß in den westlichen Ländern nicht vollständig - eine Richtung der positiven Rechtsbetrachtung, die allein auf Verträge und Staatenpraxis abgestellt war, die Vorhand. Zum anderen aber wurde jetzt die Souveränität der Staaten in Theorie und Realität voll ausgebaut und zur Basis des internationalen Rechts erhoben. Damit traten alle nicht positiv belegbaren Grundsätze gegenseitigen Verhaltens in den Beziehungen der Staaten zurück oder wurden in den Bereich nur politischer Maximen verwiesen. Zugleich verengte sich der Kreis der Staaten, die am Völkerrecht teilnahmen, auf das europäische Staatensystem, das sich nur um die in Nord- und Südamerika selbständig gewordenen Nationen erweiterte. Die schärfere Abgrenzung fand das 19. Jahrhundert im Begriff der Zivilisation, die die Länder anderer Erdteile aus diesem engeren Kreise der "zivilisierten Nationen" ausschloß63. So kam es, daß die Türkei, mit der die europäischen Mächte seit dem 16. Jahrhundert in Vertragsbeziehungen gestanden hatten, im Pariser Frieden von 1856 (Art. 7) feierlich zu den Vorteilen des europäischen öffentlichen Rechts "zugelassen" wurde 6 4, und daß die Länder des Maghreb, mit denen ausgedehnte Vertragsbeziehungen bestanden hatten, nicht mehr als gleichwertige Partner erschienen6s • Die Völkerrechtsgemeinschaft kehrte damit zum Bilde des geschlossenen Kreises zurück, der von einem Kreise nicht zugehöriger Staatenbildungen umgeben war. Erst nach dem zweiten Weltkrieg verschwand der Begriff des 63 Zum Durchdringen des Begriffs des zivilisierten Staates, und seine inhaltliche Festlegung auf Staaten, in denen die liberale europäische Rechtsordnung von Freiheit und Eigentum galt, siehe D. Schindler, Schweiz. Jahrb. f. intern. Recht 13 (1956), S. 79 ff.; Röling (Anm. 49), S. 26 ff.; Schwarzenberger, Current Legal Problems 8 (1955), S. 212 ff.; ders., The Frontiers of International Law, London 1962, S. 73 ff.; W. Jenks, The Common Law of Mankind, London 1958, S. 69 ff.; Truyol y Serra, RdC 1965 Irr, S. 152 ff. 64 Zur Stellung der Türkei siehe D. Schindler (Anm. 63), S. 86. 85 Alexandrowicz (Anm. 29), S. 6 f., 146 f.; J. M. Mössner, Die Völkerrechtspersönlichkeit und die Völkerrechtspraxis der Barbareskenstaaten, Köln 1968.

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zivilisierten Staates als rechtliche Abgrenzung in einer nun universal verstandenen Völkerwelt66 • Innerhalb dieses Kreises wurde die Unabhängigkeit jedes Staates nachdrücklich betont und die Einwirkung auf andere Staaten theoretisch als Intervention verworfen, wenn sie auch tatsächlich zur Erhaltung der allgemeinen Regeln der Völkerordnung oftmals eingesetzt wurde. Auch blieb für eine Solidarität der Nationen untereinander bei der Isolierung der Staaten und der strikten Betonung ihres Eigeninteresses kein Raum. Nur ausnahmsweise wurde sie, wie in dem von England inspirierten Kampfe gegen die Sklaverei, angerufen. Für die wirtschaftliche Beziehung der Staaten untereinander, auch zur überseeischen Welt setzte sich in der Epoche des Liberalismus die Auffassung durch, daß sie mit einem freien Handel und der Öffnung der Märkte am besten und zugleich ausreichend geordnet sei. An einen Schutz wirtschaftlich schwächerer Länder, deren Entwicklung der privaten Initiative überlassen blieb, wurde noch nicht gedacht 67 • Nur an einem wichtigen Punkte setzte am Ende des Jahrhunderts eine neue Entwicklung ein. Im Zusammenhang mit der Hervorhebung der Zivilisation für das Völkerrecht begann man, die Legitimation kolonialer Herrschaft in ihrer zivilisatorischen Aufgabe gegenüber den beherrschten Bevölkerungen zu suchen, indem man von der Verantwortung der europäischen Staaten sprach68 • Hier trat wiederum, freilich nur in Gestalt eines politischen Prinzips, der Gedanke der Verantwortung für andere Völker in Erscheinung. In der Ära des Völkerbundes wurde dieser Grundsatz in Art. 22 des Paktes in der Formel des "sacred trust" aufgenommen und wurde zur Grundlage der Verträge mit den Mandatsmächten. Er gewann damit freilich nur in dem Umfang rechtliche Bedeutung, wie er den einzelnen Staaten gegenüber vertraglich gesichert war und stieg nicht zu einem allgemeinen Rechtssatz auf69 • In ihren Bemühungen um die wirtschaftliche Ordnung blieb die Liga im wesentlichen im Bereich der liberalen Theorie des Welthandels; sie suchte durch Konferenzen {1927, Röling (Anm. 49), S. 33 f. Siehe hierzu Gg. ErZer, Grundprobleme des internationalen Wirtschaftsrechts, Göttingen 1956, S. 64 ff.; Schwarzenberger, Frontiers (Anm. 63), S. 218 f. In den Kolonien ging es vor allem um ihre Öffnung für andere 68

67

Mächte ("offene Tür"). 68 Zur Idee der europäischen Verantwortung in beherrschten Gebieten siehe H. S. Johnson, SeIf-Determination within the Community of Nations, Leiden 1967, S. 27 f.; R. v. AZbertini, Dekolonisation, Köln u. Opladen 1966, S. 48 ff.; W. Jenks (Anm. 63), S. 232 f. 89 Zu den Grenzen, innerhalb deren das Prinzip des sacred trust in den Mandatsverträgen rechtliche Verbindlichkeit gewonnen hat, siehe ICJ South West Africa Cases, Reports 1966, S. 26, 29, 34 - 35, und ferner ICJ Namibia Case, Reports 1971, S. 28, 31.

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1933) Hemmnisse des freien Handels zu beheben, Zölle zu senken, die Meistbegünstigung und den freien Zugang zum Handel der Mandatsgebiete zu sichern. Die Versuche, nach Ausbruch der Weltkrise, eine solidarische Haltung der Staaten zu erreichen, scheiterten7o • Im Ganzen blieb, anders als im Bereich der Friedenssicherung, im wirtschaftlichen Felde, der Gedanke eines solidarischen Zusammenwirkens der Nationen unentwickelt.

v. Eine globale solidarische Zusammenarbeit als Grundlage der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Die innere Struktur der Staatenordnung hat in dem Menschenalter seit dem zweiten Weltkriege grundlegende Wandlungen erfahren. Sie betreffen vor allem zwei miteinander zusammenhängende Vorgänge. Der eine von ihnen wird durch die Veränderung dargestellt, die mit der Beseitigung der kolonialen Abhängigkeit weiter Teile der Erde eine - von Resten kolonialer Situationen abgesehen - die ganze Welt umfassende Gesellschaft unabhängiger und gleicher Staaten geschaffen hat. Damit ist die ältere Anschauung wieder aufgenommen, die bereits in früheren Epochen auf der Einheit der menschlichen Gesellschaft bestanden hatte, und es ist die im Laufe des 19. Jahrhunderts hervorgetretene Rückkehr zu einer Tendenz der Begrenzung der Völkerordnung auf einen engeren Kreis ausgewählter Staaten - abgegrenzt durch den europäischen Raum oder durch das Merkmal der Zivilisation - endgültig aufgegeben. Im Zusammenhang mit der großen Erweiterung des Kreises der selbständigen Staaten - die Zahl der Mitglieder der Vereinten Nationen stieg von ursprünglich 51 bis 1975 auf 138 - hat sich aber auch eine neue Konzeption ihrer inneren Beziehungen gebildet. Die Staatenwelt umfaßt heute Länder sehr verschiedener wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und im Blick hierauf hat in der internationalen Politik der Gedanke einer Unterstützung der wirtschaftlich schwächeren Länder und einer Verantwortung der Gesamtheit für den Fortschritt der menschlichen Lebensverhältnisse Einzug gehalten. An die Stelle des Nebeneinanders unabhängiger Staaten, das dem Souveränitätsdenken des 19. Jahrhunderts entspricht, ergibt sich ein Verlangen nach Zusammenarbeit. Dieses greift nicht nur, wie das seit der Zeit des Völkerbundes der Fall ist, Platz in der Gestalt eines solidarischen Zusammenstehens gegenüber Störungen des Friedens, sondern sie richtet sich auch auf solidarisches Handeln in den Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens der Völ7Q Vgl. F. P. WalteT, A History of the League of Nations, 2. Auf!. Oxford 1960, S. 423 ff.

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kern. Das geht auch über das solidarische Verhalten einzelner unter sich stärker verbundener Staatengruppen - wie der kommunistischen Staaten oder der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft - hinaus und läßt in der heutigen Staatenwelt die Vorstellung einer allgemeinen Verbundenheit der Völker entstehen, die in ihrer wachsenden Interdependenz, aber nicht weniger in dem Gedanken eines Ausgleichs zur Milderung der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede unter ihnen wurzelt. Dieser Wandel in der Ausdehnung der Staatengemeinschaft hat sich allerdings erst im Laufe des letzten Menschenalters vollzogen. In der Charter der Vereinten Nationen war die Dekolonisation noch nicht festgelegt; sie hat sich, nach Anfängen in Indien und Indonesien erst seit dem Ende der 50er Jahre in einem Jahrzehnt in rascher Folge durchgesetzt72 • Auch die Zuwendung der Vereinten Nationen zur Unterstützung der Entwicklungsländer findet in der Charter zwar in der Präambel und in Art. 55 Ansätze 73 , ist aber in der Hauptsache auch das Ergebnis einer selbständig eingetretenen Entwicklung. Eine Reihe von Resolutionen der Generalversammlung haben der Gedanken einer Förderung der Entwicklungsländer herausgestellt74 und die Einsetzung besonderer internationaler Organisationen hat diese Idee dann institutionell unterbaut76 • Der Schwerpunkt der Entwicklungshilfe lag übrigens stets in den bilateralen Beiträgen, die die großen Industriemächte in diesem Rahmen freiwillig geleistet haben.

71

Zur internationalen Solidarität im Vergleich mit der nationalen siehe

eh. de Vischer, Theories et realites de droit international public, 3. Aufl. Paris 1960, S. 117 ff.

72 Die Charter ging noch vom Treuhandsystem aus. Die Welle der Unabhängigkeit setzte in Afrika mit Tunis (1956) und Ghana (1957) ein. Die grundlegende Entschließung der Vereinten Nationen über die Gewährung der Unabhängigkeit GA Res. 1514 (XV), v. 14. 12. 1960 steht in der Mitte des Vorgangs. Die Vereinten Nationen übernahmen erst mit der Einsetzung des Ausschusses der 24 durch GA Res. 1654 (XVI) v. 27.11. 1961 eine eigene aktive Rolle. 73 Die Präambel fordert Kooperation zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Probleme; Art. 55 nennt unter den Aufgaben des Wirtschafts- und Sozialrates die Förderung eines höheren Lebensstandards und der Bedingungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. 74 Vgl. über technical assistance GA Res. 200 (111) v. 4.12.1948 und die allgemeinen Entschließungen GA Res. 522 und 523 (VI) 1951 und 1515 (XV) 1960. Einen weiteren Rahmen setzten die Programme der beiden Development Decades (GA Res. 1710 [XVI] v. 19.12.1961 und 2626 [XXV] v. 24.10.1970), die eine Strategie der Entwicklung aufstellten, für die sie die Hilfe der Mitgliedstaaten - mit begrenztem Erfolge - zu gewinnen suchten. Vgl. hierzu Goodrich / Hambro / Simons, Charter of the Uno Nations, 3. Aufl. New York 1969, S. 375 f.; L. M. Goodrich, Un.Nations (Anm. 4), S. 223 ff.; Michel Virally, L'Organisation Mondiale, Paris 1972, S. 309 ff. 75 Siehe über diese Einrichtungen Goodrich / Hambro / Simons, S. 375 f.

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Das Entstehen einer solchen Politik der Entwicklung trägt in die internationalen Beziehungen einen neuen Zug sozialer Verantwortung hinein. Sie überschreitet damit wiederum den Bereich wirtschaftlicher Grundvorstellungen, auf denen die Epoche des 19. Jahrhunderts, die Zeit zwischen den Weltkriegen und noch die erste Periode der Entwicklung nach 1945 unter amerikanischer Führung beruhte. Jener bisherigen Vorstellung kam es in erster Linie auf die Wiederherstellung eines freien Welthandels an, mit offenen Märkten, einem geregelten internationalen Währungssystem, und der Aufstellung allgemeiner Regeln für den internationalen Handelsverkehr76 • Ohne diese Grundlage eines freien Austausches aufzugeben, von der sich nur die Staatshandelsländer des kommunistischen Lagers größtenteils fernhalten, trägt die Philosophie der Entwicklung in die internationale Wirtschaftsordnung einen Zug des Wohlfahrtsdenkens hinein, der, so könnte man sagen, aus der inneren Situation der Industrieländer entnommen ist77 • In der Zusammenarbeit der Nationen für die Förderung ihrer wirtschaftlich schwächeren Glieder kommt eine neue Anschauung vom Verhältnis der Völker zum Ausdruck. Ihre Unabhängigkeit wird nicht berührt, aber sie werden untereinander in eine gewisse solidarische Verpflichtung genommen. Es erscheint als Aufgabe der Gesamtheit der Staaten, aber auch als Verantwortung der führenden Industriernächte, um den Ausgleich des wirtschaftlichen und technischen Rückstandes der Entwicklungsländer bemüht zu sein, dafür auch Leistungen und Opfer zu erbringen. Die Nationen werden nicht mehr in Isolierung gesehen und der wirtschaftliche Ausgleich wird nicht mehr allein dem freien Handel und der privaten Investition überlassen, so wichtig beide nach wie vor bleiben. Gewiß wird dabei jedem einzelnen Staat die Bestimmung über sein soziales und politisches System überlassen, aber er wird in das größere Bestreben, die soziale Entwicklung der Menschheit zu fördern, eingeordnet. Eine Solidarität der Nationen beginnt sich abzuzeichnen, die nicht nur der Gesamtheit und internationalen Organisationen Verantwortungen auferlegt, sondern Verantwortung und Pflichten für die einzelnen Staaten begründet. Grundlage dieser Auffassung ist die Einsicht in die zunehmende Interdependenz der Staaten in ihrer wirtschaftlichen Existenz, der Beschaffung und Nutzung der Rohstoffe, der Verwendung technischer Kenntnisse und Fähigkeiten, der wirtschaftlichen Arbeitsteilung. Mit der sozialen Komponente geht aber zugleich die Erkenntnis her, daß angesichts des klaffenden Unter78 Auf diese, besonders im GATT verkörperte Seite der Entwicklung kann hier nicht näher eingegangen werden. Siehe zum amerikanischen WirtsChaftsprogramm der Jahre nach 1945 Erler (Anm. 67), S. 97 ff. 77 Auf die Bedeutung eines auf den einzelnen Menschen ausgerichteten Wohlfahrtsdenkens für die internationale Politik weist hin W. Friedmann, The Chan ging Structure of International Law, London 1964, S. 40 ff.

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schiedes der Lebensverhältnisse zwischen den industrialisierten, reichen Nationen und der Lage eines großen Teiles der Menschheit ein Bestreben nach Veränderung, ein Bemühen um Ausgleich, ein notwendiges Element des Friedens darstellF8. Die Ausbildung einer Struktur der Völkerordnung, in der Grundsätze der gegenseitigen Hilfe und Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet eine wesentliche Rolle spielen, steht freilich erst in den Anfängen. Sie ist zunächst mehr praktisch angefaßt und vorangetrieben worden, als in ihrem ganzen Ausmaß bereits durchdacht. Jene ältere Auffassung, der wir in der Naturrechtslehre begegnet sind, kann hier gewiß nur wenig mit ihren sehr allgemeinen Prinzipien helfen, aber sie hatte doch jedenfalls eines klar erfaßt, daß solidarisches Zusammenwirken ein gegenseitiges Verhältnis der Rechte und Pflichten darstellen muß. Solidarität bedeutet Verantwortung und Pflicht für alle Glieder der internationalen Gemeinschaft. Die Lösung kann nicht in einseitigen Forderungen der einen Seite liegen. Das Problem, das sich hier stellt, ist weder durch einseitig gewährte bloße Hilfe zu lösen, noch kann es ohne die Bereitschaft aller Nationen, auch ihrerseits Verantwortungen und Pflichten zu übernehmen, bewältigt werden. Das gilt, wenn man an die Gewinnung und Verteilung der Rohstoffe denkt, die auf deren Austausch das internationale Wirtschaftsleben beruht, es bestätigt sich, wenn man an den Schutz der Reichtümer der Erde und die Erhaltung menschlicher Lebensbedingungen in der Umwelt denkt, die ohne allseitiges Zusammenwirken nicht gesichert werden können, es läßt sich aber ebenso von der schweren Problematik der Bevölkerungsentwicklung sagen, deren ungeregelter Gang in manchen Ländern immer wieder alle Bemühungen um Hebung des Lebensstandards zunichte macht. Die jüngste Auseinandersetzung um die Gewinnung, Verteilung und Preis bildung des für die Energieversorgung der Völker notwendigen Öls hat deutlich gemacht, daß einseitiges Handeln schwere Schädigungen der gesamten Weltwirtschaft herbeiführen kann und letztlich auch den Interessen derjenigen Nationen zuwiderläuft, die auf diese Weise ihren Vorteil zu wahren suchen. Es wird in Zukunft notwendig sein, über die heutigen Grundlagen der Entwicklungspolitik hinauszugehen und die Entwicklung der wirtschaftlich schwächeren Länder in einen umfassenderen Zusammenhang zu stellen. Das setzt freilich voraus, daß in gegenseitigem Bemühen die Grundlagen einer auf wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründeten internationalen Wirtschaftsordnung gelegt werden können. Der größere Teil des Weges zu einem solchen Ziele steht also noch bevor. 78 Zu den Pflichten im Bereich der Entwicklung siehe Virally (Anm. 74),

S. 317 ff.

t8 }'estschrlft Menzel

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Für eine Beurteilung der gegenwärtigen Lage ist es wichtig, die Frage zu stellen, inwieweit die neuen Vorstellungen bereits eine rechtliche Verkörperung in der internationalen Ordnung gefunden haben. Die Untersuchung zeigt, daß es sich bisher nur um die Ausbildung von politischen Grundsätzen der Entwicklungspolitik handelt. Auch wenn in Erklärungen und Resolutionen oftmals von Pflichten gesprochen wird, so können nur politische Pflichten gemeint sein, die auf diesen Grundsätzen beruhen. Die Industriestaaten, die für die Entwicklungsländer Leistungen erbringen, tun dies auf der Grundlage der Freiwilligkeit. Nur soweit sie bestimmte bindende Zusagen gegeben haben oder Verträge eingegangen sind, kann von rechtlicher Bindung die Rede sein. Dasselbe gilt für die Leistungen, die im multilateralen Zusammenhang der Vereinten Nationen erbracht werden. Noch sind also die Grundsätze einer solidarischen Zusammenarbeit nicht zu rechtlicher Bindekraft erwachsen, so weithin sie auch als politische Richtlinien der Entwicklungspolitik Verwendung finden mögen7D • Der Gedanke einer solidarischen Zusammenarbeit der Staatenwelt in der Richtung auf eine Förderung ihrer schwächeren Glieder und der Erzielung eines stärkeren wirtschaftlichen Ausgleichs stellt also in der gegenwärtigen internationalen Ordnung nur ein politisches Prinzip darso, das noch keine verbindliche rechtliche Festlegung erhalten hat. Weder sind im Rahmen der Entwicklungspolitik allgemeine vertragliche Bindungen eingegangen worden, die über spezielle Verpflichtungen innerhalb bestimmter Einrichtungen hinausführen, noch kann davon gesprochen werden, daß sich hier bereits eine Rechtsbildung vollzogen hätte. Was zu beobachten ist, ist eine langsame Änderung des Bewußtseins, die die alte Vorstellung der Abgeschlossenheit der Staaten überwindet und die Verantwortung ins Licht rückt, die alle Nationen für die Sicherung der menschlichen Zukunft tragen, eine Verantwortung, die nicht mehr im Rahmen einer isolierenden Idee nationaler Souveränität getragen werden kann. Zur Stärkung dieser notwendigen Entwicklung wird es aber nicht nur notwendig sein, daß die industrialisierten Staaten sich weiterhin zur Mitwirkung bereit finden und Vorstellungen des wirtschaftlichen Wachstums und der eigenen Wohlfahrt mit den Bedürfnissen der gesamten Welt in Einklang bringen, 7g Den nur politischen Charakter betont auch ViralZy (Anm. 74), S. 319: "Jusqu'a present, les pays industrialises ont refuse d'admettre le principe d'une teIle responsabilite, sur la base d'elements objectifs, dont elle decoulerait sans manifestation de volonte de leur part. Aleurs yeux, la solidarite internationale, qu'ils ne nient pas, ne saurait faire naitre qu'un devoir moral, tout au plus, dont il appartient a chacun de decider quand et comment il s'y soumettra. " 80 Zur internationalen Solidarität siehe auch W. Jenks, Law, Freedom and Welfare, London 1963, S. 90.

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auch die Entwicklungsländer werden erkennen müssen, daß ihnen die Solidarität, die sie von anderen erwarten, ebenfalls Pflichten und Bindungen auferlegt. In den letzten Jahren haben sich in ihren Reihen Strömungen gezeigt, die isolierende Tendenzen aufweisen und das Zusammenwirken nicht erleichtern. Es ist verständlich, daß die Entwicklungsländer bestrebt sind, sich untereinander zu organisieren und ihre Wünsche in bestimmter Richtung (Präferenzen, Preisrelation zwischen Industriewaren und Rohstoffen usw.) zur Geltung zu bringen. Diese Bestrebungen werden aber neuerdings durch wachsende Einseitigkeit gekennzeichnet, die nur das eigene Interesse berückichtigt, und in der Aufstellung von Forderungen die Beachtung der solidarischen Gegenseitigkeit und der internationalen Zusammenarbeit vermissen läßt. Diese Neigung fand bereits einen ersten Ausdruck in der Resolution der Generalversammlung über die Souveränität über die Naturschätze81 • Wenn hier das Recht jedes Volkes, zur Verfügung über seine natürlichen Rohstoffe verkündet wurde, so wird dies Verfügungsrecht Anerkennung finden können. Allein, es muß darauf hingewiesen werden, wie es auch bereits die Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts betont hatte, daß Rohstoffe auch für die Existenz und das Wohlergehen anderer Völker wesentlich sind, daß ihr Austausch für die internationale Gemeinschaft notwendig erscheint, und ihre Verwendung und Verteilung daher nicht, wie die Erklärung behauptet, allein an den nationalen Zielen eines Landes sich orientieren kann. Zu den natürlichen Reichtümern wird man übrigens auch die von einzelnen Nationen erarbeiteten wissenschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zählen dürfen. Wenn deren Mitteilung im allgemeinen Interesse gefordert wird, so wird auch die Verwendung von Rohstoffen nicht allein nationalen Gesichtspunkten unterstellt werden können. Hier zeigt sich, daß starke Betonung einzelstaatlicher Souveränität und internationale Solidarität gegeneinander abgewogen werden müssen. In der gleichen Erklärung wird auch das Problem der Nationalisierung fremder, der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen dienender Unternehmen aufgegriffen. Die Nationalisierung solcher Anlagen wird als Vorgang des nationalen Interesses anerkannt, aber noch eine Pflicht zur Entschädigung vorgesehen82 • Auch sieht die Resolution noch frei vereinbarte Investierungsverträge als verbindlich an. Die Aussagen über Nationali81 GA Res. 1803 (XVII) v. 14. 12. 1962. Als spätere Bestätigung siehe GA Res. 3016 (XXVII) v. 18. 12. 1972. 8! Die Resolution stellte in gewissem Umfang einen Kompromiß dar, der aber die Gegensätze nicht zu lösen vermochte. Vgl. zu diesem Konflikt w. Friedmann, Changing Structure (Anm. 77), S. 54, 226. Eine gründliche Darlegung des Standpunktes der Entwicklungsländer zu dieser Frage bei E. N. MonreaZ, Nationalizacion y recuperacion de recursos naturales ante la ley internacional, Mexico 1974, S. 67 ff.

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sierung, die zur Kritik in den investierenden Staaten Anlaß gaben, ließen deutlich den tiefen Gegensatz der Interessen erkennen, der auch in der Folge bestehen geblieben ist. Er stellt ein zentrales Beispiel für die Hindernisse dar, die einem allgemeinen Konsens über die Grundsätze im Felde der Entwicklungspolitik noch entgegenstehen. Man kann das Verlangen mancher Länder begreifen, eine Kontrolle über fremde Anlagen zu gewinnen, die einen beherrschenden Einfluß in ihrer Wirtschaft ausüben. Aber eine auf Nationalisation gerichtete Zielsetzung ohne zureichende Entschädigung muß zu einer Hemmung der internationalen Zusammenarbeit führen. Auch hier steht eine überbetonung nationaler Souveränität der Fortbildung der übernationalen Zusammenarbeit im Wege. In neueren Jahren haben die Entwicklungsländer das Stimmgewicht ihrer Mehrheit in den internationalen Organisationen, vor allem in der Generalversammlung der Vereinten Nationen83 , für die Vertretung ihrer Ziele nutzbar zu machen gesucht. Diese Richtung zeigte sich bereits in der Richtung, die die 1954 gegründete United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) nahm. Sie gab den Forderungen der Dritten Welt Ausdruck, ohne aber die nötige Mitarbeit der Industrieländer in ausreichendem Maße gewinnen zu können&4. Im Jahre 1974 hat dieses Bestreben einen weiteren markanten Ausdruck in der Ausarbeitung einer "Charter of Economic Rights and Duties of States" gefunden. Vorbereitet durch Resolutionen der 6. Sondertagung der Generalversammlung vom 9.4. bis 2.5.197485 wurde dieser Katalog wirtschaftlicher Forderungen von der 29. Generalversammlung am 10. 12. 1974 angenommen86 • Freilich gaben die wichtigsten westlichen Mächte, die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, ebenso wie sie dies bereits gegenüber den Resolutionen vom Mai 1974 getan hatten87 , ihre Vorbehalte zu wichtigen Punkten in ausdrücklichen Darlegungen kund und enthielten sich der Stimme88 • So beruht auch diese Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten nicht auf einem allge83 Die Bildung dieser neuen Mehrheit hat schon früh Röling (Anm. 49), S. 83, hervorgehoben. 84 Begründung der UNCTAD durch GA Res. 1955 (XIX) v. 30.12.1964, vgl. zu ihr Goodrich, Uno Nations (Anm. 44), S. 211 ff., und kritisch zum Einfluß der UN und ihrer Organisationen auf die intern. Wirtschaftsordnung Susan Strange, in: K. J. Twitchett (Hrsg.), The Evolving United Nations, London 1971, S. 113 ff. 85 Res. 3201 (S. VI) und 3202 (S. VI) V. 1. 5. 1974. Siehe GAOR VI Special Session Suppl. 1 (A/9559) = I. L. M. 1974, S. 715 ff. ss GA Res. 3281 (XXIX) V. 10. 12. 1974 = I. L. M. 1975, S. 251 ff. 87 Vgl. die erläuternden negativen Voten 1. L. M. 1974, S. 744 ff. 88 Das Stimmenverhältnis zur Res. 3281 war für einzelne Artikel unterschiedlich. Siehe Seidl-Hohenveldern, Recht der Int. Wirtschaft 1975, S. 237.

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meinem Konsens, sondern bringt im wesentlichen Forderungen der Entwicklungsländer zum Ausdruck, die sich auf Gewährung von Zollpräferenzen, Abschluß von Rohstoffabkommen zur Stabilisierung der Preise, Zugang zu technischen Kenntnissen und sonstige Vorteile beziehen, das souveräne Recht der Verfügung über Rohstoffe erneut bekräftigen und in diesem Zusammenhang die Nationalisierung und das Maß einer zu zahlenden Entschädigung für sie ganz in die Verfügung des einzelnen Staates stellen (Art. 1). Ohne daß hier auf diese bedeutsame Deklaration näher eingegangen werden kann, kann festgestellt werden, daß in ihr die Linie einer solidarischen Zusammenarbeit verfehlt wird, sowohl durch die immer wieder erfolgende Inanspruchnahme von wirtschaftlichen Vorteilen nur für die Entwicklungsländer wie durch die mangelnde Rücksicht auf den auch für diese geltenden übergreifenden Gesichtspunkte internationaler Zusammenarbeit. Die neueste Entwicklung gibt also leider keine große Hoffnung, daß die Idee der Solidarität der Nationen in der Gegenwart schon festen Boden gewonnen hat. Angesichts der deutlich zum Ausdruck gekommenen Widersprüche gegen neuere Erklärungen durch die Gruppe der westlichen Staaten werden auch die Bestrebungen ohne Wirkung bleiben, für Erklärungen wie die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten über ihre Bedeutung als politische Empfehlung der Generalversammlung hinaus eine rechtliche Verbindlichkeit zu behaupten oder zu gewinnen 89 • Die solidarische Zusammenarbeit wird in der internationalen Ordnung ohne eine Bereitschaft zur Gegenseitigkeit und zur Gewinnung eines allgemeinen Konsenses nicht zur Verwirklichung zu bringen sein.

89 Auf die mangelnde rechtliche Verbindlichkeit der Resolutionen der Generalversammlung und den notwendigen Prozeß einer ihnen erst folgenden möglichen Rechtsbildung weist hin Sir Gerald Fitzmaurice (Anm. 7), S. 269 ff.

Innovation and Diffusion in the Worldsystem By Bart Landheer The human mind is selective in building up the images and forms of thinking with which it operates and which it applies to the situations with which it has to cope. While this selectivity as such might not be questioned, it is a more controversial subject in which way it is structured and how it emphasizes and neglects certain aspects of reality. In the case of the actor within a national system, it is easily observable that, particularly in a competitive society, there is a tendency to magnify one's status in order to find a following and to assert one's position. The constant changes which are typical of adynamie society make it necessary to project one's position "ahead of reality" in order to maintain a given position, and this process of maintenance in a dynamic situation leads to projections of roles in a situation which is built more upon expectations than upon reality. This phenomenon has been quite pronounced in the contemporary industrial system, which operates with expansionistic images, horizontal as weIl as vertical, which are based upon a set of expectations, a projection of the future which sacrifices to some extent the present to the future. This mechanism makes it necessary to create the impression that the future is known although it does not take any very deep philosophie reflection to arrive at the concIusion that knowledge of the future not only presupposes complete knowledge but, in addition, it would make life quite unlivable by making it into a predetermined mechanical process. The roots of this way of thinking re ach far into the past of Western thought aIthough the heritage of rationalism and the theory of evolution are most cIearly discernible. In essence, these mo des of thought are based upon an image of Man which prevails in certain segments of Western and of worldsociety but which are often "exterior" to other segments of the national or world population, which undergo these modes of thought as a form of power in which their own role is largely a passive one.

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In terms of the worldpopulation, the groups which undergo these forms of thought as a manifestation of power have shown both the re action of imitation and of resistance. Both attitudes could be described as diffusion-processes of a power-monopoly, while the monopoly itself - whether it be political or economic - has to strive itself also for diffusion because power without a projection of diffusion is not creditable. Power, to be creditable, has to be presented as being aimed at the interests of those who undergo it. History has never or, at least, very rarely, shown the projection of power as power because the negative intent would reduce its lifechance to a negligible point. Our social life is a process which shows frequent innovations in all realms of life, and these innovations are indeed the essen ce of social evolution. Each innovation, however, creates a monopoly which undergoes a process of diffusion until it disappears in a life-pattern which combines and stabilizes a number of attitudes, images and forms of thought. This pattern may maintain itself for a long period until a new challenge manifests ist unadequacy so that new attitudes become mandatory. Although these processes of innovation and diffusion occur in all social systems, they differ considerably in relation to the system in which they operate and in relation to the situations in which they prove effective. In this article the functions of innovation and diffusion in national systems and in the worldsystem will be compared as this distinction is of considerable impact on the emergence of a more humanized worldsociety. I. Evolution and innovation It is one of the amazing and alarming aspects of modern society that innovation is considered as positive as such, without relating it to its motivation, nor to its structural consequences. The dynamic society as we know it today, has elevated innovation to the rank of a basic value.

Nevertheless, the concept of innovation is only meaningful in relation to a social system so that its role in a national, regional or worldsystem cannot be considered in a general abstract fashion, but only in relation to the system in question. Within a national system innovation can obviously be related to the interacting variables of the system, like government, economy, science, education etc. Within the modern nation-state system innovation is

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generally given a value that expresses its "weight" in relation to "progress" . Progress in modern society is measured in terms of national product and in relation to the organisation of the nation-state in a more or less democratic form. Democracy is deemed to give stability to the nation-state system, and its universal application is considered to be essential to the emergence of a functioning worldsystem. As this image of political stability is linked to the image of an expanding economy, there is an inbuilt tension for which modern society has no definite control-mechanism as the expanding economy is still deemed to lead to social harmony by means of universal needfulfilment. Although this image is clearly utopian, it has not led to a philosophy which seeks to reconcile stability and dynamism in an acceptable formula. In terms of the concepts of this essay, it could be said that our political thinking projects astate of diffusion while our economic thinking operates in terms of financial, industrial and technical monopolies. The diffusion in one respect is offset by power-building in the economic realm. This dilemma seems insoluble because the economic dynamism is given constant stimulus by population increases. It is doubtful whether these population increases should be regarded as "volitional", particularly because it is a frequent assumption that if they were volitional they would not occur. This leads to the conclusion that the dynamism of the world economic system cannot be considered as volitional but more as a nature-given fact over which there is no control of political or economic decisionmakers, at least not with the means which they have at their disposal in our contemporary social systems. Interpreted in this way, the economic dynamism is a feature of contemporary society which will not be altered unless there is a basic change in the social systems which determine the structure of the worldsystem. The process of diffusion, as it takes place in the world economy, runs behind the dynamism of the worldsystem as such.

,'1oJ>,"'.

This would lead to the idea that the dynamism of the Western world which has put its mark on the worldsystem, is not quite fitted to the

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worldsystem as such but has been the pattern of behavior, of the modes of thought of apart of the world, which disposed over more room for expansion than the present worldsystem allows. In other words, the degree of dynamism and innovation is at present so high that the worldsystem cannot re ach astate of reasonable stability. As the present state of affairs is not a volitional one, we must face the question whp.ther we have the means at our disposal to control a situation, or gain control over it, which is largely "natural" or the result of a process which presents itself as mechanical. If we regard the increase in worldpopulation and its rising expectations as the ultimate cause of this dynamism, it seems clear enough that we cannot alter the cause. The attempted remedy has been to master the consequences but the reductions in worldpopulation have been aimed at the affluent population of an industrial society rather than at the poor population of the worldsystem. There has been question of a pseudo-process of diffusion rather than areal one, and this state of affairs divides the world in spite of an apparent increase in political stability which rests, however, upon a very shaky basis. If the assumption of the present approach, viz. that social evolution operates via the monopoly-diffusion mechanism, is correct, the interpretation would be that this process stagnates in the worldsystem so that the system cannot achieve any real development. The stagnation has expressed itself in the freezing of economic power-positions although the oil crisis seems to contradict this and to point towards a diffusion process that has been brought about by a situation which was partly economic and partly political.

This would indicate, however, that the diffusion-process is more a revolutionary than an evolutionary occurrence but this does not alter the fact that the industrial system as such does not correspond to the economic needs of a worldsystem. There ist no immediately evident reason that a stagnation in the industrial system would lead to the emergence of a different world economic system although this conclusion has been drawn. The basic problem remains whether the modern industrial system can scale down its activities, either voluntarily or involuntarily or whether this will lead to a breakdown rather than an adjustment of the system. The crucial point is that the modern industrial system operates basically in terms of regional societies while a world economic system would have different dimensions and different values.

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The role of political-miIitary and industrial power as it has emerged in the leading nations is not functional in terms of a worldsystem. To return again to the concepts of monopoly and diffusion, it would seem that what is needed is an accelerated process of diffusion which would alter the system as much as democracy can change an authoritarian political system. The diffusion-process has not had anough chance because the political systems adjust too much to the economy instead of reforming it in the direction of diffusion and decentralisation. It can be objected that this would mean a lowering of the standard of living in the industrialised nations but shared poverty is perhaps better than solitary wealth while the idea of "sharing" can act also as a stimulus towards social innovation.

There is, however, no .escape from the realisation that a world social system can create a world economy while the attempts in the opposite direction have led to a manifest failure and to stagnation in the worldsystem. It cannot be denied that this stagnation might be of a very long duration or might even take the form of social regression because the forces which are needed for the diffusion-process might not emerge in sufficient strength. In that case the present dominant actors in the world system might prefer stagnation in terms of maintenance of their own power to constructive change although this process would take place as a long term process as a necessary phase in social evolution.

11. Innovation and structure In the foregoing section it has been pointed out that the processes of innovation and diffusion must be seen in relation to the structure of the social system in which they occur. This raises the question how the structure of the global social system should be interpreted: as an internation-state structure, as a structure of regional societies or as a system sui generis? The answer which could be given to this query depends to a certain extent upon the discipline with which international events are approached. For the jurist the nationstate approach is the traditional and logical one; for the political scientist the powerstructure which has christallized in regional societies may be of crucial importance while the theorist of international relations may stress the evolutionary aspects of

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probable motion towards aglobaI social system which would have different characteristics from both the nationstate as weH as the regional society. The approach which seems to be the correct one is partiaHy influenced by the expectations which are almost subconsciously contained in the various theoretical approach es. The difficulty lies in the correct analysis of "reality" as in the interaction of our consciousness with reality the first factor is the most uncertain one. We have a tendency to make "reality" into what we like it to be, withough being able to analyse in how far our volition shapes our patterns of thinking. If "reality" is seen as "what exists now", we narrow perhaps the margin of error but the image of almost 4 billion people engaging in trillions of social processes, conscious as weIl as subconscious, is not entirely an encouraging one.

Perhaps some initial clarification can be derived from interpreting the global social system as a field of forces although this raises immediately the question what these forces consist of and what are to be considered as the carrier-groups. In a stage of diffusion the social network be comes increasingly complex while a structure with clearly recognizable power-monopolies is more amenable to analysis. As the worldsystem is a process, a motion, it can only move from a monopoly-structure towards diffusion, if there would be a "creative minority" in the worldsystem which would guide the tendency towards diffusion, and this process would require the support of the powercenters in order to be effective. If one looks at the efforts for political stability which are evident in the worldsystem, the conclusion could be that such a combination of forces is taking pI ace in social reality. If one realizes that political stability depends upon economic stability, the picture is much less satisfactory. It would lead to the conclusion that stagnation in terms of diffusion-resistance by the powercenters is much more likely than evolutionary processes towards a worldsystem.

The innovation-diffusion process if projected in time leads to the stagnation-evolution dichotomy. This dilemma boils down to the ques. tion how we must project the time-span needed for evolutionary processes. The contemporary social sciences are not helpful in this regard because they operate with a mechanical time-concept which reduces the factor "time" to a matter of human volition. This mechanical time is very different, however, from historical time and "social time".

Innovation and diffusion in the worldsystem

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As an analogy, one could point to the nationstate system which, in the Western world, took about four centuries to develop from an absolute to a more integrated participatory system in the form of Western democracy, although still coupled with a more authoritarian economic system. Every social system depends upon a division of sociallabor which has grown out of the field of social forces and cannot be regarded as a purely volitional structure. The constantly changing field of social forces is molded in a certain direction by the superstructure which encourages some and inhibits other trends of human behavior. If the system is too repressive it causes tensions while a permissive system tends to reduce social cohesion, and this, in turn, reduces the efficacy of the division of labor. Consequently, social systems are in constant motion to avoid both of these extremes in which the more experienced social systems succeed although the entire process is one of constant and often troublesome adjustment. The integration of a social system is a process which never reaches a satisfactory "final stage" as projected by its self-image. It moves towards and away from this final stage which functions as a postulate. For the nation state it took centuries to make these processes relatively rational although frequently interrupted or even temporarily dominated by powerpolitics. In general herefore, there is only at best a rational sector in a social system which seeks to balance it. There is, however, no rational social system as such as the underlying forces cannot be qualified as rational ones. If we apply these summary observations to the worldsystem, we first have to gain some insight into the emergence of regional societies and of a worldsystem as such. There are numerous processes which operate in these directions and which present images that place projected situations ahead of realities.

The regional societies as powerblocs and as systems of economic integration are more in the nature of the bundling and magnification of existing social forces than of the more advanced processes of social integration. Sociologically speaking, they could be said to be in an early stage of social growth, compared to the more sophisticated forms of the modern nationstate which seeks the balancing techniques needed for a fully developed social system albeit not successfully in relation to the less integrated and less controlled modern industrial system. Nevertheless, it is quite clear that since Worldwar II the regional society, in the form of power-blocs and economic power-actors, con-

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stitutes the most significant innovation in the worldsystem, more significant than international organisations in the global sense. Thus, we arrive at the assumption that regional developments correspond more to the global field of forces than immediate global organisations. This is quite self-evident if we think of the emergence as a leading worldpower of the U. S. S. R., the People's Republic of China, regional trends in Latin America, Asia and Africa while Europe also is a c1ear representative of this trend. The integration and consolidation of these regional systems and the emergence of interregional forms of communication is, however, a process which would require considerable time and which would precede the emergence of a fully integrated global system. In the political images of most nationstates, except the superstates which have ideological self-images, this state of affairs is mostly understated because it is at variance with the prestige of the nationstate. As political self-determination is not sufficient if it operates in a relationship of economic dependence, there is a natural trend in a regional direction as most nationstates have to combine with others to obtain a reasonable degree of economic self-determination. Whether this regional trend is more geographic or more functional depends upon the given situation.

In. Conclusion As social innovation in worldsociety has mostly taken place in the form of the emergence of regional systems, it is logical to assurne that the foreseeable future will bring the consolidation and integration of existing systems, the emergence of new ones, and, possibly, the disappearance or weakening of some of the existing ones. Seen in terms of direct global integration, this might be interpreted as stagnation but it can also be seen as a necessary stage of global development as the immediate transition from a nationstate towards an integrated worldsystem has proved to be impossible or, at least, there have been no c1early discernible trends in this direction. The processes of diffusion of power would predominantly take place within regional systems as can be observed at present but the overwhelming difficulty remains that the self-projection of the powerblocs retains many elements of a worldprojection while in reality it should seek to transform itself into a regional self-image upon the basis of identity.

Innovation and diffusion in the worldsystem

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The development of the regional systems has been almost exclusively in terms of military and economic power with the neglect of a cultural identity that could form the basis of normalised interaction between regional systems. Only a normalised interaction would lead to a re duction of tensions while the efforts to reduce the outward manifestations of tensions cannot be successful. The entire process requires a shift in the image of the worldsystem which has become stymied in sterotypes which have mostly a status quo tendency. The processes of innovation and diffusion belong to the eternal mechanism of human social systems. The worldsystem needs in certain respects a consolidation of power because this is often an essential initial stage; in other respects the worldsystem needs diffusion but to believe that only one of these techniques is essential is to overlook the complexity of social systems and the mechanisms which seem to operate in them, independent of our volition.

Zum geistes geschichtlichen Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten Von Georg Picht Demokratie und Verteidigung der Menschenrechte sind für unser historisches und politisches Bewußtsein untrennbar miteinander verbunden. Wir verteidigen in den Grundrechten zugleich einen Komplex von Grundüberzeugungen, die sich in den romanisch-germanischen Nationen des christlichen Europa ausgebildet haben. Ihre theoretische Basis wird nur selten untersucht, weil politische Doktrinen, nationale Verfassungen und schließlich auch die Rechtsdogmatik diese historisch gewachsenen Normen als universale Menschenrechte interpretiert haben. So sollte ihre Unantastbarkeit gesichert werden. Nun läßt sich aber nicht übersehen, daß in die Lehre von den Menschenrechten philosophische und politische Positionen eingegangen sind, die heute nicht mehr aufrechterhalten werden können. Es besteht die Gefahr, daß durch den Ballast an Doktrinen, der hier mitgeschleppt wird, die moralischen und politischen Motive, die uns gerade in der gegenwärtigen Weltlage nötigen, für materielle Gehalte der Menschenrechtskataloge einzutreten, verfälscht und ideologischem Mißbrauch ausgesetzt werden. Die Ethik, die das Wort "Menschenrechte" für uns symbolisiert, ist mit der Lehre von den Menschenrechten nicht mehr identisch. Deswegen ist eine geistesgeschichtliche Bestandsaufnahme, die uns über die Implikationen dieser Lehre aufklärt, geboten. Die folgenden überlegungen skizzieren in knapper Form einige Perspektiven, die dabei berücksichtigt werden sollten. Die Methode, nach der hier historische und systematische Gedankengänge miteinander verknüpft werden, mag befremdlich erscheinen. Aber sie entspricht der Weise, wie im Gewebe der Geschichte selbst Zettel und Einschlag sich verflechten. Zeit- und situationsgebundene Tendenzen bedienen sich systematischer "patterns", um sich verständlich artikulieren zu können1 . Die Systematik dieser "patterns" schlägt 1 Der kulturmorphologische Begriff der "patterns of culture" wurde von Ruth Benedict eingeführt, um die Strukturen primitiver Kulturen zu bezeichnen. Ich verwende diesen Begriff in etwas gewandelter Bedeutung, um zu zeigen, daß in den hochentwickelten Kulturen Denkstrukturen, die sonst nur unter geistesgeschichtlicher Perspektive betrachtet werden, eine ähnlich das gesellschaftliche Verhalten strukturierende Funktion haben wie die "patterns of culture" von Ruth Benedict.

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später wegen ihrer immanenten Logik gleichsam hinter dem Rücken der Beteiligten wieder durch. Wenn man Bedeutung und Funktion der Menschenrechte in der Geschichte der letzten drei Jahrhunderte verstehen will, muß man sich dieses Wechselspiel zwischen historischen Tendenzen und systematischen Modellen durchsichtig machen. Die Kontinuität der europäischen Geschichte beruht auf der Konstanz von geistigen Strukturen, die nur selten in das Bewußtsein der Handelnden treten und tief unter der Oberfläche des Geschichtsprozesses verborgen bleiben. Versucht man, diese Strukturen sichtbar zu machen, so gelangt man zu einem Bild der Geschichte, das mit einer Röntgenaufnahme vergleichbar ist. Daß sich ein solches Bild mit einer Darstellung der Oberfläche nicht deckt, ja sogar gelegentlich zu ihr in Widerspruch tritt, ist der Grund, weshalb man Röntgenaufnahmen braucht.

I. Der große römische Rechtslehrer Gaius beginnt seine "Institutiones" mit folgenden Sätzen: "Alle Völker, die durch Gesetze und Sitten regiert werden, gebrauchen teils ihr eigenes, teils das gemeinsame Recht aller Menschen. Das Recht nämlich, das jedes Volk sich selbst setzt, ist ihm eigentümlich und wird bürgerliches Recht genannt; das bedeutet, daß dieses Recht ein Eigentum der Bürgerschaft ist. Das Recht aber, das die natürliche Vernunft zwischen allen Menschen gesetzt hat, wird bei allen Völkern durchgängig auf gleiche Weise gewahrt und Völkerrecht genannt; das bedeutet, daß alle Völker dieses Recht gebrauchen. Das römische Volk gebraucht also teils sein eigenes, teils das gemeinsame Recht aller Menschen" (Inst. 1,1). Hier wird das ius gentium, das Recht der Völker, nicht als ein "ius inter nationes" , sondern als "commune omnium hominum ius", als allgemeines Menschenrecht, also als ein Recht aufgefaßt, das bei allen Völkern allein deshalb gilt, weil sie Menschen sind. Die Partikular-Rechte der einzelnen Staaten sind auf dieses Fundamentalrecht gleichsam aufgelagert. Wie stark diese Denkweise sich durchgehalten hat, beweist ihre Aufnahme durch Montesquieu: "Das Gesetz, allgemein gefaßt, ist die menschliche Vernunft, insofern sie alle Völker der Erde lenkt; und die politischen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation dürfen nur die partikulären Fälle sein, auf die diese menschliche Vernunft angewendet wird" (L'esprit des lois, I, 3). Bei Gaius wie bei Montesquieu ist das gemeinsame Recht aller Menschen darin begründet, daß sie als Menschen eine gemeinsame Natur haben. Diese Natur wird definiert durch die Vernunft. Die Konzeption eines allgemeinen Menschenrechtes ist nicht auf dem Boden des römischen Rechtes gewachsen, das vom ius gentium ganz andere Vorstellungen hatte. Sie ist überhaupt nicht

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juristischer Herkunft, sondern erklärt sich aus einer Rezeption stoischer Philosophie, die seit Cicero auch das römische Rechtsdenken stark beeinflußt hat2 • Wenn die Stoiker lehren, daß der Logos das Wesen des Menschen ausmacht, haben sie etwas gänzlich anderes im Auge, als was wir heute unter "Vernunft" verstehen. Das Wort "Logos" bezeichnet primär nicht die Vernunft des Menschen; es bezeichnet vielmehr das Wesen Gottes, insofern dieses Wesen sich darin manifestiert, daß Gott als Logos die Einheit der Welt begründet. Als begründende Einheit gibt der göttliche Logos der Welt das Gesetz: er ist Nomos. Materiell zeigt sich der göttliche Logos in der Welt als jenes Urfeuer, aus dem sämtliche Elemente hervorgehen. Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos beruht darauf, daß er in seiner Seele einen Funken dieses Urfeuers trägt. Deshalb hat er in sich das Vermögen, sich mit dem göttlichen Logos zu vereinigen und das Gesetz des Kosmos zu erkennen. Das ist die stoische Umdeutung der aristotelischen Lehre, der Mensch sei das Lebewesen, das den Logos hat. Die sogenannte "Vernunft" des Menschen ist nicht seine eigene Vernunft, sondern der göttliche Logos, der sich in ihm manifestiert. Von dieser metaphysischen Lehre her ist die Grundformel der stoischen Ethik zu erklären: O/loÄoYOlJ/lEvWS "Cu q)'U(JEL ~ijv. Die Römer haben übersetzt: "secundum naturam vivere" - der Natur gemäß leben. Aber bei dieser simplifizierenden übersetzung geht der philosophische Gehalt des Gedankens verloren: 1. Das Wort O/loÄOYOlJ/lEVWS bezieht sich auf die metaphysische Lehre, daß der Logos des Menschen identisch ist (O/lo) mit dem göttlichen Logos. Darauf beruht nämlich die übereinstimmung des menschlichen Logos mit dem Logos der Natur. 2. q)'U(lLS bedeutet auf Grund dieser Lehre sowohl die Natur des Menschen wie die Natur im Ganzen; denn dies ist gerade das Wesen des Logos, daß er kraft seines göttlichen Ursprungs die Natur des Menschen mit der Natur im Ganzen in übereinstimmung hält. Beide gehorchen dem selben Nomos, der für die Vernunft des Menschen in dem Vermögen besteht, in sich selbst ihre Einheit mit dem göttlichen Logos zu begreifen.

Auf dieser Grundlage hat die Stoa eine metaphysische Rechtslehre ausgebildet, die die gesamte spätere Auffassung der sogenannten ! Der Nachweis, daß dieser Begriff des "ius gentium", der zuerst bei Cicero (De off. 3, 17, 69) auftritt, nicht aus dem aristotelischen Naturrecht übernommen ist (so M. Kaser, Das römische Privatrecht, Handbuch der Altertumswissenschaft, !II, 3, 1; S. 182), sondern stoischer Herkunft ist, gehört nicht hierher. Den Ausschlag gibt der von Gaius vorausgesetzte Begriff der "ratio".

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Menschenrechte bestimmt. Sofern der Mensch dem Logos gehorcht, ist er nach stoischer Lehre der Bürger einer civitas, die sich mit keinem irdischen Gemeinwesen gleichsetzen läßt: der civitas der Götter und Menschen (alle Götter der Volksreligionen sind nach stoischer Lehre verschiedene Erscheinungsformen des Einen Logos). Er ist kraft seiner Vernunft "Kosmopolit" (= Bürger des Universums) und hat als solcher ein ursprüngliches Bürgerrecht in einem staatsfreien Raum. Die Unterscheidung zwischen dem ius gentium, das allein auf Vernunft begründet ist, und dem ius civile der verschiedenen Völker hat also zum Hintergrund die Unterscheidung zwischen der metaphysischen civitas deo rum ac hominum und den geschichtlichen civitates. Augustin nimmt bekanntlich bei der Unterscheidung von civitas dei und civitas terrena diese stoische Lehre auf; er hat in breitem Umfang die entsprechenden Abschnitte aus Ciceros "De re publica" ausgeschrieben3 • Es entbehrt nicht der Folgerichtigkeit, daß das säkulare Denken der Neuzeit im 17. und 18. Jahrhundert die augustinische Transformation der stoischen Zwei-Reiche-Lehre wieder abstreift. Aber die Neuzeit hat keine Neubegründung der Lehre von den Menschenrechten unternommen, sondern kehrt zu der vorchristlichen Basis der stoischen Philosophie zurück. Das entspricht dem Geist der Zeit. Vom 16. bis 18. Jahrhundert hat sich, wie Dilthey gezeigt hat4 , eine Stoa-Rezeption vollzogen, die geschichtlich ebenso bedeutsam ist wie die Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß auch die Menschenrechtslehre sich der überlieferten stoischen Formeln bedient; stoische Philosophie liefert das "pattern" für die Verteidigung von alten Freiheitsrechten, die auf ganz anderem Boden erwachsen waren. Aber damit werden diese Freiheitsrechte zugleich umgedeutet; sie werden mit Hilfe stoischer Formeln universalisiert. Die für die Menschenrechte in Anspruch genommene Universalität besteht jedoch nur noch als Postulat; sie ist nicht mehr in einem metaphysischen Weltentwurf begründet. Die menschliche Vernunft wird nämlich nicht mehr als unmittelbare Manifestation jener Vernunft verstanden, die die gesamte Natur regiert. Zwar wird die "Natur" des Menschen immer noch aus seinem Vernunftvermögen abgeleitet, aber die Lehre, daß die menschliche Vernunft mit dem Grundgesetz des Kosmos identisch ist, kann nicht mehr durchgehalten werden. Die übereinstimmung der "Gesetze" der Vernunft mit den Gesetzen der übrigen Natur ist aus den Angeln gehoben. Das hat zur Folge, daß der Vernunftbegriff selbst 3

Zur augustinischen Umdeutung der stoischen Lehre vgI. Ulrich Duch-

rows Buch über die Zwei-Reiche-Lehre, "Christenheit und Weltverantwor-

tung" , Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 25, Stuttgart 1970, S. 247 ff. 4 Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, passim, WW H, Leipzig / Berlin 1940.

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unaufhaltsam seine absolute Gültigkeit verliert. Die historische Relativierung des europäischen Vernunftbegriffes erschüttert aber alle Doktrinen, die auf ihnen aufgebaut waren - einschließlich der Doktrin der Menschenrechte. H. Nachdem das Gefüge jener metaphysischen Gleichungen auseinandergebrochen ist, auf denen die stoische Menschenrechts-Lehre beruhte, mußten sich folgende Probleme ergeben: 1. Die Vernunft ist nicht mehr allgemeines Naturgesetz (obwohl Kant im Kategorischen Imperativ diesen Zusammenhang noch zu retten versuchte). Die theoretische Vernunft ist zum bloßen Vermögen des Urteilens und Schließens geworden und hat deshalb in sich keinen Gehalt, aus dem sich ein allgemeines Menschenrecht ableiten ließe; die praktische Vernunft stützt sich auf einen Freiheitsbegriff, der so manifest europäisch-christlichen Ursprunges ist5 , daß seine universale Gültigkeit sich in ein bloßes Postulat verwandelt. Damit entfällt die Möglichkeit, das ius gentium als fundamentales Menschenrecht zu interpretieren, auf das die positiven Rechtsordnungen der einzelnen Staaten nur aufgelagert sind. Im Gegenteil: Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verbreitet sich durch die wachsende Kenntnis fremder Kulturen, Religionen und Völker in Europa die Einsicht in die Relativität sämtlicher Sitten, Gebräuche, Glaubensformen, Moralen und Religionen einschließlich der europäischen Normen. Es entsteht jene "Crise de la conscience Europeenne", die Paul Hazard beschrieben hat6 • Eine nunmehr globale Empirie widerlegte die Meinung, daß in sämtlichen Völkern allein kraft der Vernunft des Menschen das gleiche Naturrecht gelten müsse. Damit löste sich die Gleichung "allgemeine Menschenrechte = Grundrechte" inhaltlich auf. Sie blieb nur noch eine abstrakte Forderung, die je nach Weltanschauung oder Tradition mit beliebigen Inhalten gefüllt werden konnte. Dabei ist daran zu erinnern, daß diese Gleichung nicht juristischer, sondern metaphysischer Herkunft ist. Die Juristen haben, soweit ich sehe, den Logos des Universums zur Interpretation der Grundrechte nie bemüht.

2. Durch eine Hintertür kommt allerdings die Metaphysik in die Begründung der Menschenrechte wieder herein. Diese Hintertür trägt die Aufschrift "Person"7. Ich zitiere Jellinek: "Die Anerkennung des 5 Vgl. meinen Aufsatz "Der Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der Philosophie der Neuzeit", in: Wahrheit - Vernunft - Verantwortung, Stuttgart 1969, S. 135 ff. S Neudruck, Paris 1961 (Fayard). 7 Die Verbindung des Begriffes "persona" mit dem Begriff "humanitas" wurde von Cicero aus der Ethik des Mittelstoikers Panaitios übernommen (vgl. meine ungedruckte Dissertation: "Die Grundlagen der Ethik des Pa-

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einzelnen als Person ist die Grundlage aller Rechtsverhältnisse. Durch diese Anerkennung wird aber der einzelne Mitglied des Volkes in dessen subjektiver Qualität ... Die Anerkennung als Person und als Staatsglied ist die Basis für alle öffentlich-rechtlichen Ansprüche, die sich demzufolge teilen in solche, die der Staat allen in seinen Bereich gelangenden Menschen gewährt, und solche, die er seinen ihm dauernd als Bürger zugehörenden vorbehält"8. Es wird also jetzt vorausgesetzt: a) sämtliche Menschen sind allein dadurch, daß sie Menschen sind, "Person"; b) sie haben als solche ein "subjektives öffentliches Recht des einzelnen", das von jeder Staatsordnung anerkannt werden muß. In dieser Theorie schlägt das stoische Schema der allen Menschen auf Grund ihrer menschlichen Natur gemeinsamen Fundamental-Rechte, denen die positiven Rechtsordnungen der einzelnen Staaten nur übergelagert sind, wieder durch. Der Begriff der "Person" setzt die neuzeitliche philosophische Lehre voraus, daß die Vernunft auf der Freiheit beruht. Der Satz, daß der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen ist, impliziert nun die Forderung, daß seine Freiheit anerkannt werden muß. Dies wird als "die Grundlage aller Rechtsverhältnisse" betrachtet und muß deshalb von sämtlichen Staaten respektiert werden. Wir befinden uns im stoischen Schema des Gaius, nur ist an die Stelle des universalen Logos das ebenfalls metaphysische Wesen der Freiheit getreten'. naitios", Freiburg 1943) und bildet seither eines der wirkungsmächtigsten Elemente der humanistischen Tradition Europas. Unabhängig davon hat die römische Rechtstheorie sich des Begriffes "persona" = "Maske" oder "Rolle" bedient, um einen Ansatz für den Begriff der "Rechtsfähigkeit" zu finden. Die unüberbrückbare Differenz dieser beiden Begriffe von "persona" zeigt sich darin, daß in der juristischen Terminologie "persona" auch bei Körperschaften und in der Behandlung von Stiftungen gebraucht wird (vgl. M. Kaser, H, S. 75 ff.). Im neuzeitlichen Begriff der "Person" werden diese beiden Bedeutungen miteinander verschmolzen und je nach der herrschenden philosophischen Richtung verschieden interpretiert. Bei JeIIinek steht im Hintergrund seines Begriffes der "Person" die Rechtsphilosophie von Kant in neukantianischer Interpretation. S Allgemeine Staatslehre, Berlin - Zürich 19663 , S. 419. g Jellinek leitet die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht aus dem Dualismus zwischen Staat und Kirche und der christlichen Lehre von der Freiheit des religiösen Gewissens ab, die dann "mit der nie ganz erloschenen altgermanischen Anschauung von der Priorität des Individualrechtes" (S. 411) verschmolzen sei. Problematisch ist an dieser These nicht nur, daß altgermanische "Freiheiten" als neuzeitliche "Individualrechte" interpretiert werden. Man hat mit guten Gründen auch kritisiert, daß nach JeIIinek die Menschenrechte ihren Ursprung in Religionsfreiheit gehabt hätten (vgl. dazu jetzt Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, Rheinbek bei Hamburg 1975, S. 151 ff.). Aber dieser Einwand scheint mir den Kern der Sache nicht zu treffen. Es geht nämlich nicht darum, welche Bedeutung der Religionsfreiheit im Grundrechtskatalog zukommt; die Frage ist vielmehr,

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3. Deduziert man die "Grundrechte" nicht systematisch aus dem Wesen des Menschen, sondern leitet man sie historisch ab, so sind sie die "Freiheiten", Privilegien oder Immunitäten, die aus vorstaatlichen Zeiten in den Verfassungsstaat hinübergerettet werden. Carl Schmitt stellt fest: "Als erste Erklärung von Grundrechten werden vielfach die Magna Charta von 1215 ... , die Habeas Corpus-Akte von 1679 ... und die Bill of Rights von 1688 ... genannt. In Wahrheit sind sie vertragliche oder gesetzliche Regelungen der Rechte englischer Barone oder Bürger, die wohl in allmählicher Entwicklung den Charakter moderner Prinzipien angenommen haben, aber nicht dem ursprünglichen Sinn von Grundrechten entsprechen. Die Geschichte der Grundrechte beginnt vielmehr erst mit den Erklärungen, welche die amerikanischen Staaten im 18. Jahrhundert bei der Begründung ihrer Unabhängigkeit von England aufgestellt haben. Hier ist wirklich - nach einem Ausspruch Rankes - der Beginn des demokratischen, genauer: des liberalen Zeitalters und des modernen bürgerlich-freiheitlichen Rechtsstaates, obwohl jene amerikanischen Erklärungen sich noch im Anschluß an die englische Tradition als "Bills of Rights" bezeichnen .... Die wesentlichen Grundrechte dieser Erklärungen sind: Freiheit, Privateigentum, Sicherheit, Widerstandsrecht, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit. Als der Zweck des Staates gilt die Sicherung dieser Rechte1o." Die Intention dieses Textes ist es, die Grundrechte durch historische Betrachtung zu relativieren. Wenn nachgewiesen wird, daß die Grundrechtskataloge inhaltlich aus den vertraglichen oder gesetzlichen Regelungen der Rechte englischer Barone und Bürger hervorgewachsen sind, so läßt sich nicht mehr der Anspruch erheben, sie seien allgemeine Menschenrechte, die kraft der vernünftigen Natur des Menschen von sämtlichen Völkern in sämtlichen Staaten respektiert werden müssen. Das gilt aber auch von den Erklärungen der amerikanischen Staaten aus dem 18. Jahrhundert, welches Verständnis des Menschen die Gesamtheit dieser Rechte begründen soll, wenn man postuliert, daß sie als allgemeine Menschenrechte gelten sollen. Mit dem Übergang von den Grundrechten einer bestimmten Verfassung zu dem Postulat der allgemeinen Menschenrechte gewinnt die Frage nach der Legitimationsgrundlage eines so universalen Postulates eine neue Funktion. Eine universale Menschenrechtsdoktrin kann nicht aus partikularen verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen abgeleitet werden. Hier sind deshalb, trotz Kriele, die Juristen genötigt, den Philosophen ein Mitspracherecht zu gewähren. Jellineks Betonung der naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte kann also nicht angefochten werden. Dann ist aber gegen Jellinek darauf hinzuweisen, daß dogmatisch der "Dualismus" zwischen Staat und Kirche seine Form durch die Zwei-Reiche-Lehre erhalten hat, und diese setzt die Stoa-Rezeption von Augustin, also das stoische "pattern" des Gaius voraus. Deshalb ist es für unsere "Röntgen-Aufnahme" erlaubt, die moderne Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht direkt mit dem stoischen Schema in Verbindung zu setzen. 10 Verfassungslehre, München! Leipzig 1928, S. 157.

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denn ihre Kataloge knüpfen an die englische Rechtstradition an. Man muß deshalb feststellen, daß es Carl Schmitt nicht gelungen ist, den Punkt des Umschlages in die bürgerlich-demokratische Ära genau zu bezeichnen. Das neue und revolutionäre Element liegt in dem nicht aus englischer Rechtstradition, sondern aus französischer Phlilosophie übernommenen Gedanken, daß die Grundrechte einer bestimmten nationalen Verfassung universale Geltung von allgemeinen Menschenrechten erlangen sollen, und daß der privilegierte Status bestimmter Stände einer bestimmten Nation auf die gesamte Menschheit ausgedehnt werden müsse. Die Grundrechte werden aus dem Rahmen der englischen Verfassung herausgelöst, verabsolutiert und in das alte stoische Schema des Gaius übertragen. So definieren sie - hier muß man Carl Schmitt zustimmen - eine bestimmte, historisch neue und noch nie verwirklichte Form des Staates: den bürgerlichen Rechtsstaat. Bürgerlich ist dieser Rechtsstaat, weil die Grundrechtskataloge, wie sich leicht zeigen läßt, die wesentlichen Forderungen der bürgerlichen Ideologie des 18. Jahrhunderts zusammenfassen. Das Wort "Ideologie" ist hier am Platz; denn auch in den Vereinigten Staaten hat sich sofort herausgestellt, daß es sich rächt, wenn man ohne Prüfung der geschichtlichen Verhältnisse und der natürlichen Bedingungen, unter denen Menschen leben, die Errungenschaften der gehobenen Stände in einem historisch einzigartigen Staatswesen als allgemeine Menschenrechte sanktioniert. Den Indianern und den Sklaven sind die "human rights" nicht zugute gekommen. Faktisch dienten sie lange Zeit hindurch der Sicherung der Privilegien der weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten. Daß man inzwischen begonnen hat sie ernstzunehmen, führt zu Konflikten, deren Lösung sich noch nicht absehen läßt. 111. Die überlegungen von I und 11 waren erforderlich, um die philosophischen und politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen der in dem Grundrechtskatalog fixierten Individualrechte sichtbar zu machen. Philosophisch beruhen die Individualrechte auf einer Anthropologie, die jeden Menschen als "Person", d. h. als ein vernünftiges und deshalb von Natur aus mit dem Anspruch auf Freiheit ausgestattetes Individuum betrachtet. Diese Idee korrespondiert der Rechtsstellung, die das Bürgertum für jeden "civis" beanspruchte. Der spezifisch bürgerliche Charakter der klassischen Grundrechte wird deutlich an der zentralen Stellung, die das Eigentum im Grundrechtskatalog einnimmt. Als "Individualrechte" maskiert, sind die Grundrechte bürgerliche Klassenrechte. Daraus erklärt sich die sich später entwickelnde Antinomie zwischen Individual- und Sozialrechten.

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Um diese Antinomie zu verstehen, müssen wir zunächst den Wandel des Rechtsverständnisses genauer betrachten, der sich im Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten vollzog, seit man sie bürgerlich als Individualrechte interpretierte. Bei Gaius bezeichnet der Begriff "commune omnium hominum ius" die Gesamtheit der Gesetze, die alle Menschen, sofern sie von ihrer Vernunft Gebrauch machen, befolgen. Der liberale Grundrechtskatalog hingegen umfaßt die Gesamtheit der Ansprüche auf Schutz der bürgerlichen Freiheiten, die von den Individuen auf Grund ihrer Qualität als Personen erhoben werden. Adressat dieser Ansprüche ist der Staat, von dem aber gleichzeitig gefordert wird, daß er die gegen ihn erhobenen Ansprüche durch seine Verfassung sanktioniert. An dem Verhältnis zum Staat wird manifest, daß die liberalen Grundrechte eine reale Funktion haben, von der in der Grundrechtslehre nicht die Rede ist. Sie garantieren nämlich jenes System von Freiheiten, das erforderlich ist, um eine Wirtschaftsordnung nach den Prinzipien der liberalen Ökonomie einrichten zu können. Diese Ökonomie lehrt, daß den Interessen Aller dann am besten gedient ist, wenn jeder Einzelne nach seinen Individualinteressen handelt. Das Gemeinwohl wird also nach dieser Theorie am meisten gefördert, wenn der Staat so wenig wie möglich reglementiert. Das führt zu einer Erweiterung und Umdeutung der Freiheit, die nach "liberaler" Rechtsauffassung durch die Menschenrechte geschützt werden soll. Die alte Verschmelzung von christlicher Gewissensfreiheit mit germanischen "Freiheiten" und römischen Bürgerrechten wird nun ergänzt durch das "freie" Spiel der Interessen in einer Ökonomie des "free enterprise". Die Umdeutung der höchsten sittlichen Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Abwehransprüche und der Gewissensfreiheit in das "Recht" auf unbeschränkte Vertretung von Eigeninteressen ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß durch die Interpretation die der Freiheitsbegriff in der ökonomischen Theorie des Liberalismus erfahren hat, auf paradoxe Weise wieder der Anschluß an das N aturrecht gefunden wurde. Die Theoretiker des Liberalismus glaubten bekanntlich, die Naturgesetze erkannt zu haben, denen die Physik der ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte gehorcht. Wenn durch die Grundrechte der staatsfreie Raum garantiert wird, in dem das freie Spiel der Interessen nicht durchkreuzt werden kann, wird jener Einklang mit der Natur wieder hergestellt, der durch die willkürlichen Satzungen des alten Feudalsystems gestört war. So kommt auf eigentümliche Weise die stoische Forderung des "secundum naturam vivere" wieder zu ihrem Recht. An die Stelle des Logos tritt die "invisible hand". Was uns als fragwürdig erscheint - die Umdeutung der metaphysischen Freiheit der Person in das freie Spiel der egoistischen

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Interessen - wird dadurch gerechtfertigt, daß der Begriff des Interesses zwischen moralischer Freiheit und Natur vermitteltl l . Solange man die Konsequenzen kapitalistischen Wirtschaftens noch nicht vor Augen hatte, war es schwer, die Teufeleien zu entdecken, die sich in dieser Zweideutigkeit verbergen. Die ökonomische Entwicklung, die durch die fortschreitende Emanzipation des Bürgertums ermöglicht und später von Adam Smith theoretisch erklärt wurde, führt im 18. Jahrhundert zu jener Dissoziation von Staat und Gesellschaft, deren erster Theoretiker Montesquieu war. Nun kämpft nicht nur das Individuum sondern die Gesellschaft um ihre Unabhängigkeit vom Staat. Sie splitterte sich freilich alsbald in eine Vielzahl miteinander streitender Klassen auf. Dieser Prozeß hat die Idee hervorgebracht, die klassischen Individualrechte durch "soziale Menschenrechte" zu ergänzen. Von einer Zweideutigkeit des Rechtsbegriffes kann nun nicht mehr die Rede sein. Die Menschenrechte sind hier unverhüllt zu rechtlich zu sanktionierenden Leistungsansprüchen gegen den Staat geworden. Sie bezeichnen die Summe jener sozialen Forderungen, die der Wohlfahrtsstaat befriedigen SOll12. Inhaltlich haben die Sozialrechte eine ethische und politische Legitimation, die mindestens ebensogut begründet ist wie die der Individualrechte. Aber problematisch ist eine Subsumption unter den Oberbegriff der "Menschenrechte". Sie läßt sich weder anthropologisch noch historisch begründen, sondern erklärt sich aus dem Bedürfnis, die neuen Rechtsansprüche mit der Dignität eines Titels zu versehen, in dem noch immer die metaphysischen und religiösen Reminiszenzen von zweitausend Jahren europäischer Geschichte lebendig sind. Die Dissoziation von Staat und Gesellschaft folgt aber wiederum dem "pattern" des alten stoischen Schemas. Der durch die Grundrechte im Namen der Person etablierte staats freie Raum wurde zunächst verstanden als der Raum der Moralität in ihrem Gegensatz zur Legalität. Das ist eine verdünnte Erinnerung an jene stoische Zwei-Reiche-Lehre, die von Anfang an der Idee eines "commune omnium hominum ius" zugrundelag. Weil die Moralität auch christlich interpretiert werden kann, stand für die Christen immer die Möglichkeit offen, in den staatsfreien Raum der Moralität Gedanken und Motive zu projizieren, die in der augustinischen Umdeutung der stoischen Zwei-Reiche-Lehre ihren Ursprung haben. Da nun aber auf Grund der ökonomischen Theorie 11 Zum Einfluß der ökonomischen Theorie des Liberalismus auf die Rechtsphilosophie von Kant vgl. meinen Aufsatz "Kants transzendentale Grundlegung des Völkerrechts", in: Aufrisse, Almanach des Ernst KlettVerlages, Stuttgart 1971, S. 223 ff. lZ Vgl. zu dieser Problematik Ernst Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses - Verhandlungen des fünfzigsten deutschen Juristentages, Hamburg 1974, II G 14 ff.

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des Liberalismus der staatsfreie Raum der moralischen Freiheit zugleich auch für das freie Spiel der ökonomischen Interessen in Anspruch genommen wurde, hatte die moralphilosophische Säkularisierung der Zwei-Reiche-Lehre zur Folge, daß hier gleichsam der Hohlraum für eine gesellschaftliche Emanzipation jenseits des Staates geschaffen wurde. Was dabei endgültig in die Brüche geht, ist der klassische Begriff der Vernunft. Die Vernunft tritt nämlich nun in drei antinomischen Gestalten auf. Sie ist: 1. Vernunft des Subjektes der Individualrechte,

2. Vernunft der "volonte generale" von Kollektiven, die sofort ihre Klassengegensätze entdecken und damit die Allgemeinheit, die der Begriff "volonte generale" beansprucht, zerstören, 3. die Raison des Staates, der jene Ansprüche, die gegen ihn erhoben werden, gleichzeitig garantieren, in Schranken halten und erfüllen soll. Da der Staat sowohl die Individuen wie die Subjekte kollektiver Ansprüche (Verbände ete. ete.) in einem staatsfreien Raum sich gegenüber hat, kann er nicht mehr als das Subjekt des Gemeinwohls handeln; denn die Subjekte der gesellschaftlichen Interessen haben sich von ihm dissoziiert. Er bildet deshalb in der industriellen Gesellschaft immer stärker seine rein instrumentalen Funktionen aus. Er verwandelt sich in einen "Staatsapparat". Das kommt den Interessen jener Kräfte entgegen, die ihn als bloßes Instrument im Klassenkampf betrachten. Die objektive Aufsplitterung der Vernunft auf miteinander im Konflikt stehende Subjekte hat unausweichliche Konsequenzen für das Verständnis der Menschenrechte. Von Gaius bis zu Montesquieu war nämlich die Gemeinsamkeit der Vernunft die Basis für die Idee eines allgemeinen Rechts der Menschen. Als Vernunftrecht umfaßt das Menschenrecht noch bei Kant die Summe jener Pflichten, die für den Menschen kraft seiner vernünftigen Natur verbindlich sind. Die Zersplitterung der Vernunft in einander widerstreitende Subjekte hat dazu geführt, daß der Staat nicht mehr im Sinn der klassischen Staatstheorie als Subjekt des Gemeinwohls auftreten kann, und daß auf der anderen Seite die Subjekte individueller oder sozialer Rechte diese Rechte nicht mehr primär als Verpflichtungen, sondern als Rechte auf . .. verstehen. Die tiefgreifende Umdeutung des Rechtsbegriffes, die sich in dem politischen oder auch demagogischen Mißbrauch von Menschenrechtsparolen besonders deutlich spiegelt, ist das Ergebnis jener großen Umwälzung aller ökonomischen, sozialen und politischen Ordnungen, die durch die technisch-industrielle Revolution verursacht wurde. Die überlie-

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GeorgPicht

ferten politischen Strukturen sind unterspült und geben den Rechtsbegriffen keinen Rückhalt mehr. Die klassische Staatsordnung ist in Auflösung geraten und läßt sich nicht restituieren, weil sie zu den ökonomischen und politischen Bedingungen der technischen Welt in unaufhebbarem Widerspruch steht. Neue Legitimationsgrundlagen des Rechtes sind noch nicht hervorgetreten. Die Faszination, die heute von der Menschenrechtslehre ausgeht, beruht darauf, daß sie das allgemein empfundene Vakuum auszufüllen scheint. Sie erlaubt, wo das Recht versagt, auf das Gebiet der Ethik auszuweichen, und wo der Ethik Gewalt geschieht, sich auf Recht zu berufen. Aber dieses Spiel des Bewußtseins ist, wie die grausamen Realitäten unserer Welt beweisen, illusionär. Versteht man die sogenannten "Menschenrechte" als Grundrechte, so stehen oder fallen sie mit der Ordnung des Staates, in dessen Verfassung sie garantiert sind. Die Unterspülung aller staatlichen OrdIlung muß dann auch die Grundrechte gefährden. Versteht man sie hingegen als über- und außerstaatliche Normen, die für die gesamte Menschheit, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Religionen, der Kulturen und der politischen Systeme gültig sein sollen, so müßte man diese universale Gültigkeit theoretisch begründen können. Das wäre nur möglich auf der Basis einer Anthropologie, die von allen Völkern der Erde akzeptiert wird. Nachdem wir gesehen haben, daß die Anthropologie, auf der die traditionelle Menschenrechtslehre beruht, sogar in ihrer europäischen Heimat unwiderruflich zerbrochen ist, kann die Utopie einer globalen Menschenrechtsordnung nur als ein leerer Wahn betrachtet werden13 • IV. Die Menschenrechte sind der Versuch, überzeugungen, die einer vorund außerrechtlichen Sphäre angehören, in die Sphäre des Rechts zu transponieren. Als "Grundrechte" beanspruchen sie eine Stellung, die vor allen übrigen Rechtssätzen einen Vorrang hat. Indem man sie zu "Menschenrechten" deklariert, behauptet man, daß sie eine absolute Gültigkeit hätten und von allen Nationen zu allen Zeiten respektiert werden müßten. Versucht man, die Denkfigur der Menschenrechte auf ihre systematische Tragweite hin zu analysieren, so muß man demnach prüfen, 1. ob und in welchen Grenzen überzeugungen, die einer religiösen

oder moralischen Sphäre angehören, in positives Recht transponiert werden können;

13 Es ist kaum nötig, ausdrücklich hervorzuheben, daß durch diesen Satz die moralische, politische und rechtliche Legitimation des pragmatischen Ringens um eine Verbesserung der Situation von Individuen oder sozialen Gruppen in verschiedenen politischen Systemen, insbesondere im Bereich der "Justizgrundrechte", nicht in Frage gestellt werden soll.

Geistesgeschichtlicher Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten

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2. mit welchem Legitimationsgrund behauptet werden kann, daß bestimmte positive Normen für die gesamte Menschheit unbedingt Gültigkeit besitzen; 3. auf welchen Prämissen die überzeugung beruht, daß absolute Normen menschlichen HandeIns und zeitlose unveränderliche Qualitäten der menschlichen Natur erkannt werden können. Zu 1: Im Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten steht eine griechische Rechtstheorie, die wir noch nicht betrachtet haben. Schon die Rechtsphilosophie des 5. Jahrhunderts v. ehr. unterschied, wie jeder Leser der "Antigone" weiß, die "ungeschriebenen" Gesetze (liyQa'eist der Richter de Castro, ICJ Reports 1974, 374, völlig zutreffend hin. 59 LeUouche (Anm. 4), 625. Wenn es aber nicht so weit hätte gehen wollen, hätte Frankreich ja zumindest gegenüber Australien eine Erklärung abgeben können, die aufgrund der eindeutigen Formulierungen dem australischen Anliegen - zumindest für die Zukunft - gerecht geworden wäre.

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Wilhelm A. Kewenig

von mißbräuchlicher Verweigerung einer Erledigungserklärung durch Australien also nicht die Rede sein kann, war der IGH nicht berechtigt, prozessual in der vorn Mehrheitsvotum eingeschlagenen Weise zu verfahren und die Frage der - nachträglichen - Erledigung zur Vor-Vorfrage zu erklären. Er hätte sich vielmehr, wie die vier Richter in ihrer gemeinsamen dissenting opinion zu Recht fordern 60, zunächst der eigentlichen Problematik seiner Zuständigkeit und den anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen zuwenden müssen. Die Argumentation des Mehrheitsvotums erscheint deshalb, soweit sie hier erörtert worden ist, weder verfahrensmäßig vertretbar noch sachlich zutreffend. 8. Die Argumentation des Mehrheitsvotums reizt zweifellos zu weiteren kritischen Anmerkungen. So wäre etwa zu überprüfen, ob das im Nuclear Tests-Case eingeschlagene Verfahren nicht doch, entgegen der Auffassung des Mehrheitsvotums, den Anspruch Australiens auf rechtliches Gehör verletzt hat61 • Es böte sich auch an, die Zuständigkeit des IGH und die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen dieses Verfahrens tatsächlich ausführlich zu erörtern62 • Angesichts des beschränkten Raumes seien jedoch nur noch wenige Gedanken zur politischen Problematik des gesamten Verfahrens angefügt. In der dissenting opinion des Richters de Castro heißt es gleich zu Beginn: "J'ai tout a fait conscience que l'on peut voir dans le vote de la majorite une marque de prudence63 ." Und der Richter Ignacio Pinto sagt in seiner separate opinion: "D'aucuns iraient meme sans doute jusqu'a critiquer energiquement les motifs invoques par la Cour a l'appui de sa decision. Tel ne peut etre mon cas car je considere que, dans une affaire aussi exceptionellement caracterisee par des considerations politico-humanitaires et en l'absence d'un droit internationale positif susceptible d'eclairer utilement la Cour, on ne saurait faire grief a la Cour d'avoir choisi, pour regler le differend, le moyen qu'elle a juge le plus adequat, eu egard aux circonstances, et de s'etre appuyees sur l'engagement pris urbis et orbi dans des declarations officielles par le president de la Republique fran!;aise qu'il n'y aura plus d'essais nucleaires en atmosphere du fait du Gouvernment fran!;ais 84 ." Schon diese beiden kurzen, in ihrer Offenheit erstaunlichen Zitate dürften mit hinreichender Deutlichkeit zeigen, welcher Art die Überlegungen waren, die man bei der Beratung des Urteils im RichterICJ Reports 1974, 324. Vgl. hierzu vor allem die joint dissenting opinion sowie das Votum des Richters Barwiek, ICJ Reports 1974, 322 bzw. 439 ff. 8! Wie dies vor allem die joint dissenting opinion, aber auch die Voten der Richter de Castro und Barwiek getan haben, vgl. ICJ Reports 1974, 326 ff., 375 ff. und 390 ff. Vgl. dazu auch Lellouche (Anm. 4), 628 ff. 8S ICJ Reports 1974, 373. 84 ICJ Reports 1974, 311. 80 61

Internationaler Gerichtshof und französische Kernwaffenversuche

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kollegium anstellte. Sie lassen sich, wohl ohne daß dem Gerichtshof Unrecht geschieht, dahin verstehen, daß eine Reihe von Richtern - aus welchen Motiven auch immer - nach einer möglichst überzeugenden Begründung dafür suchte, diesen mit allgemeinpolitischen und rechtspolitischen Untiefen überreich ausgestatteten Fall einem schnellen Ende zuführen zu können. Man kann nur bedauern, daß und in welcher Art und Weise sich diese Überlegungen im Mehrheitsvotum durchgesetzt haben. Man würde die Augen vor der Realität verschließen, wollte man nicht zugeben, daß keinem Gericht die Suche nach einem möglichst schnellen und eleganten Ende für einen aus vielerlei Gründen besonders unbequemen Prozeß fremd ist. Man wird aber mit der gleichen Freimütigkeit auch feststellen müssen, daß die meisten Gerichte bei dieser Suche erfolgreicher sind als der IGH in diesem Fall. So hätte es hier doch nahe gelegen, den Entschluß, einer Auseinandersetzung mit den eigentlichen Sachfragen auszuweichen, über die Verneinung der Zuständigkeit des IGH in die Wirklichkeit umzusetzen. Denn auch die Ausführungen derjenigen - dissentierenden - Richter, die im konkreten Fall die Zuständigkeit des Gerichtshofs bejahen, lassen doch erkennen, daß man gerade hier auch mit guten Gründen anderer Meinung sein konnte 65 • Zumindest aber hätte man erwarten können, daß der Gerichtshof sich selbst dann, wenn er mehrheitlich an dem im Urteil tatsächlich eingeschlagenen Weg festhalten wollte, die Sache nicht ganz so einfach gemacht hätte 66 • Gewichtiger aber als die Vorbehalte in Bezug auf das Verfahren und die sachliche Argumentation des Urteils im einzelnen sind die Bedenken, die gegen die Motivation der Mehrheit im IGH für den eingeschlagenen Weg anzumelden sind. Um diese Bedenken zunächst auf eine kurze Formel zu bringen: politische Überlegungen und Befürchtungen scheinen inzwischen eine derart bedeutsame Rolle in den Beratungen des Richterkollegiums zu spielen, daß übersehen wird, wie sehr die gerade durch diese politischen Überlegungen und Befürchtungen diktierte Generallinie der Rechtssprechung des IGH selbst zu einem Politikum wird, zu einem Politikum, das dem Ansehen des Gerichtshofs schweren Schaden zufügt. Die Reihe der Entscheidungen, in denen mehr oder minder deutlich politische Überlegungen eine wichtige Rolle gespielt haben, reicht von dem Urteil im Südwestafrika-Fall aus dem Jahre 1966 über das Urteil ft5

Vgl. dazu nur die kritischen Anmerkungen von Lellouche (Anm. 4),

86

In diesem Sinne sind wohl auch die kritischen Bemerkungen von

628 ff.

Wengler (Anm. 4), 1064, zu verstehen.

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im Barcelona-Traction-Fall (1970) und über den Erlaß der einstweiligen Verfügung in den Nuclear Tests-Fällen (1973) bis zu dem hier besprochenen Endurteil in der gleichen Sache. Bei der Lektüre dieser Entscheidungen hat der Leser in wechselndem Ausmaß den Eindruck, daß der Gerichtshof sich in starkem Maße von überlegungen über die möglichen Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die weitere Entwicklung des Völkerrechts, auf seine eigene Stellung und seinen Anteil in diesem Entwicklungsprozeß und auf die Entwicklungen des internationalen Systems insgesamt hat leiten lassen. Es steht außer Frage, daß jedes Gericht, insbesondere aber ein internationales Gericht, dessen Fälle stets eine starke politische Komponente aufweisen, bei der Entscheidungsfindung auch die möglichen oder gar wahrscheinlichen Folgen der Entscheidung zu berücksichtigen hat. Es kommt deshalb darauf an, die politischen Rücksichten und das Bedenken der Folgen in das richtige Verhältnis zu setzen zu der eigentlichen Aufgabe des Gerichts, nämlich der, einen ihm unterbreiteten Streitfall nach den Regeln des Völkerrechts zu entscheiden. Gerät das Verhältnis von rechtlichen und politischen überlegungen außer Kontrolle, nimmt die Politik überhand, so ist das zwangsläufige Ergebnis ein Zickzack-Kurs der Rechtsprechung, ein Wechselbad von judicial restraint und richterlichem Wagemut, das weder der einzelnen Entscheidung noch der Rechtsprechung des Gerichtshofes insgesamt auf die Dauer bekommt. Auch im vorliegenden Fall waren die politischen Perspektiven, die sich für den IGH auftaten, wenn er sich zu einer Sachentscheidung durchgerungen hätte, keineswegs besonders erfreulich. Wäre der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, Kernwaffenversuche in der Atmosphäre würden schon heute dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht widersprechen, so wäre ihm im Zweifel nicht nur aus den unterschiedlichsten Lagern der Vorwurf unzulässiger richterlicher Fortentwicklung des Völkerrechts gemacht worden, es hätte auch die akute Gefahr bestanden, daß Frankreich, vor allem aber auch andere Staaten, die nicht vertraglich durch das Teststoppabkommen gebunden sind, dem Urteil des Gerichtshofs und seinen Ergebnissen die kalte Schulter gezeigt hätten. Wäre der Gerichtshof dagegen zu dem Ergebnis gekommen, das geltende völkerrechtliche Gewohnheitsrecht verbiete Kernwaffenversuche in der Atmosphäre - noch - nicht, so hätte diese Entscheidung nicht nur ein retardierendes Element in die gegenwärtig fließende Entwicklung des Völkerrechts in diesem Bereich eingebracht, dem Gerichtshof wäre auch dann aus den unterschiedlichsten Lagern ein Vorwurf gemacht worden, diesmal der Vorwurf übermäßiger Zurückhaltung und unverständlichen Konservativismus'. Aber gerade die Tatsache, daß der Gerichtshof mit jedem Sachurteil im Zweifel vergleichbare politische Emotionen freigesetzt hätte, hätte den Gerichts-

Internationaler Gerichtshof und französische Kernwaffenversuche

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hof eigentlich auf den richtigen Weg zurückführen müssen: nämlich dahin, ohne allzu viel "ira et studio" den ihm unterbreiteten Rechtsstreit so zu entscheiden, wie es nach seiner Einsicht das geltende Völkerrecht gebietet67 • In jedem Fall aber wird man dem Gerichtshof nach Abschluß des Nuc1ear Tests-Falles nahelegen, in Zukunft allzu große Sprünge zumindest innerhalb des gleichen Verfahrens nach Möglichkeit zu vermeiden. Schon die verfahrensmäßige Behandlung des Barcelona-Traction-Falles hat insoweit mit Recht erheblichen Unmut ausgelöst6s • Ein vergleichbares Bild wiederholt sich im Nuc1ear Tests-Fall. Einerseits ist der Gerichtshof bereit, eine einstweilige Verfügung zu erlassen, obwohl der Beklagte die Zuständigkeit des Gerichtshofs mit gewichtigen, kaum mit leichter Hand beiseitezuschiebenden Argumenten bestreitet. Und das, obwohl der IGH angesichts der dezidierten Haltung des Beklagten annehmen mußte, daß die einstweilige Verfügung hicht befolgt werde. Auf der anderen Seite erklärt der Gerichtshof im gleichen Fall den Rechtsstreit für erledigt, obwohl der Kläger dies nachdrücklich und mit guten Gründen bestreitet, ohne auch nur die Frage seiner Zuständigkeit - die er Monate vorher prima facie bejahen zu können glaubte - endgültig zu klären und damit zumindest in diesem Punkte eine klare Aussage zu machen 69 • Der Internationale Gerichtshof sieht sich seit geraumer Zeit vielfältigen, zum Teil ausgesprochen ungerechtfertigten Anfechtungen ausgesetzt. Er hat außerdem, insbesondere infolge der geradezu explo67 Dies gilt um so mehr, als ja auch die außerordentliche Zurückhaltung, die der IGH in der letzten Phase des Nuclear Tests-Case bekundete, Frankreich nicht mehr davon abhalten konnte, seine Unterwerfungserklärung nach Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut zurückzuziehen und dadurch dem Ansehen des Gerichtshofes ebenso wie der Sache der internationalen Gerichtsbarkeit einen erheblichen Schaden zuzufügen. 68 Vgl. etwa Pinto, Chronique de jurisprudence de la Cour internationale de justiee, Journal du Droit International 97 (1970), 969 f.; Susman, Diplomatie Proteetion, Harvard International Law Journal 12 (1971172), 120. Susman weist mit Recht darauf hin, daß Barcelona Traetion tatsächlich schon der zweite Fall (der erste war Südwestafrika) war, in dem die durch die erste prozessuale Entscheidung geweckten Erwartungen durch die zweite Entscheidung in der gleichen Sache bitter enttäuscht wurden. Vgl. zu dem hier angesprochenen Problembereich auch Bernhardt, Homogenität, Kontinuität und Dissonanzen in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes, ZaöRVR 33 (1973), 1 ff. 6V Das wäre dringend notwendig gewesen, wenn man schon die Folgen eines Urteils mit in die Vorüberlegungen einbeziehen will; denn die sehr prompte Bereitschaft des IGH, eine einstweilige Verfügung zu erlassen, ohne die eigene Zuständigkeit allzu genau zu überprüfen, ist von vielen Staaten, die sich der Gerichtsbarkeit noch nicht unterworfen haben - und das sind mehr als 2/8 der Mitglieder der Vereinten Nationen - als eine deutliche Warnung vor einer internationalen Instanz mit einem offensiven Kompetenzverständnis interpretiert worden.

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sionsartigen Erweiterung der Völkerrechtsgemeinschaft, mit einer Fülle von Schwierigkeiten fertigzuwerden, die er selbst nicht im geringsten zu verantworten hapo. Man kann nur hoffen, daß der Gerichtshof diesen vielfältigen Schwierigkeiten und Anfechtungen durch eigenes Verschulden keine weiteren mehr hinzufügt. Das Ansehen, ja die Existenz der internationalen Gerichtsbarkeit steht auf dem Spiele.

70 Eine sehr gute übersicht über die Schwierigkeiten und die Anfechtungen, denen der IGH sich ausgesetzt sieht, gibt das Protokoll eines internationalen Symposiums des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Judicial Settlement of International Disputes, Berlin 1974, passim.

v. Konfliktverhütungsrecht und Konfliktsrecht

Gewaltverzicht als Instrument europäischer Ordnungspolitik* Von Helga Haftendorn I. Gewaltverzicht und deutsche Frage In den fünfziger Jahren war in Europa eine Situation entstanden, in der als Folge des strategischen Patts zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion eine Lösung der politischen Probleme des Kontinents durch den Einsatz militärischer Macht nicht mehr möglich war. Damit büßte auch die Drohung mit Gewalt wesentlich an Glaubwürdigkeit ein. Paradoxerweise gewann jedoch gleichzeitig die Operationalisierung eines Gewaltverzichts für die Verfolgung diverser politischer Ziele an Bedeutung. Ziel dieser Politik des Gewaltverzichts im europäischen Rahmen war es nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, die Anwendung von militärischer Gewalt oder ihre Androhung durch gegenseitige Vereinbarung oder durch gemeinsame Anrufung bestehender Rechtsnormen wie den in Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Gewaltverzicht auszuschließen. Die Konkretisierung des Gewaltverzichts durch seine Applikation auf einen konkreten Streitfall oder seine Individualisierung auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Staaten, häufig in der Form einer Nichtangriffsverpflichtung, diente der qualitativen Veränderung zwischenstaatlicher Beziehungen und der Vereinbarung eines Modus vivendi im Hinblick auf konkrete Streitfragen. Für die Bundesrepublik Deutschland war der Gewaltverzicht vorrangig ein Instrument ihrer Deutschland-Politik. In den Pariser Verträgen erklärte die Bundesregierung, sie werde ihre Politik in übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen, insbesondere Art. 2, gestalten und ihre Streitfragen mit friedlichen Mitteln unter Verzicht auf Gewalt oder Gewaltandrohung lösen. Insbesondere verpflichtete sie sich, "die Wiedervereinigung Deutschlands oder die Änderung der gegenwärtigen Grenzen der Bundesrepublik niemals mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen"1. Als Gegenleistung

* Eine ausführliche Darstellung dieser Problematik findet sich bei Helga Haftendorn, Abrüstungs- und Entspannungspolitik zwischen Sicherheitsbe-

friedigung und Friedenssicherung, Düsseldorf 1974, S. 193 - 237. 1 Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und gemeinsame Erklärung der Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreiches

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sagten die drei Westmächte der Bundesrepublik - neben einer Verpflichtung zum Gewaltverzicht auch in ihren Beziehungen zur Bundesrepublik - dieser eine Unterstützung ihrer Deutschland-Politik zu. Sie erklärten insbesondere, daß "die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschland" sowie "eine frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für Gesamtdeutschland" grundlegende Ziele ihrer Politik blieben. Die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands sollte bis zum Abschluß eines Friedensvertrages aufgeschoben werden. Darüber hinaus verpflichteten sich die Westmächte, die Sicherheit und das Wohl Berlins zu schützen. In der Folge versuchte die Regierung Adenauer den Gewaltverzicht auch nach Osten zu konkretisieren, um Zugeständnisse in der Deutschland-Frage zu erreichen. In einem Memorandum zur Frage der Wiedervereinigung bot sie im September 1956 der Sowjetunion und "anderen östlichen Nachbarländern" einen Gewaltverzicht an 2 • Auch der EdenPlan und vier Jahre später der Herter-Plan sahen einen Verzicht auf die Anwendung von Gewalt und die Verpflichtung zur friedlichen Streitschlichtung vor. Ihnen lag die Überlegung zugrunde, daß für die europäischen Staaten eine Wiedervereinigung Deutschlands annehmbarer sein könnte, wenn dieses - neben Beschränkungen militärischer Art - sich zu einer Politik des strikten Verzichts auf Anwendung oder Androhung von Gewalt verpflichten würde. Dabei wurde freilich übersehen, daß das grundlegende europäische Problem nicht die Modalitäten der Wiedervereinigung Deutschlands, sondern die machtpolitische Konkurrenz der in Europa engagierten Mächte Sowjetunion und Vereinigten Staaten war. Der daraus resultierende Interessengegensatz der europäischen Hauptrnächte ließ in den fünfziger Jahren keinen politischen Modus vivendi zu. Aus Furcht vor möglichen stabilisierenden Wirkungen lehnten die westeuropäischen Verbündeten auch einen nach Osten gerichteten Gewaltverzicht oder einen Nichtangriffspakt ab, wie er mehrfach von der Sowjetunion vorgeschlagen wurde. Ange~ sichts der unbefriedigten Forderung der Bundesrepublik nach Wiedervereinigung und Neuordnung Europas in einem Friedensvertrag gegenund der Vereinigten Staaten von Amerika, Teil V. der Schlußakte der Londoner Neunmächte-Konferenz vom 3. Oktober 1954, in: Verträge der Bundesrepublik Deutschland, Serie A, Bd. 8, S. 95 - 101. Diese Erklärungen sind Bestandteil der Pariser Verträge vom 23. 10. 1954. Die Erklärung der Bundesregierung schloß die DDR nicht ein, da sie von der Bundesrepublik damals nicht als Staat betrachtet wurde. Sie bezog sich ebenfalls nicht auf die OderNeiße-Grenze; doch hatte die Bundesregierung bereits zuvor erklärt, daß die mit ihr zusammenhängenden Probleme nicht mit Gewalt, sondern ausschließlich auf friedlichem Wege gelöst werden könnten, vgl. die Regierungserklärung von Bundeskanzler Adenauer vom 20. 10. 1953. 2 Vgl. Memorandum der Bundesregierung an die Regierung der UdSSR vom 2. 9. 1956, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, 111/2, S. 706 - 716.

Gewaltverzicht als Instrument europäischer Ordnungspolitik

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über den osteuropäischen Staaten hätte ein solcher Pakt damals eine Entspannungswirkung haben können. Während der Berlin-Verhandlungen Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre legten die Westmächte der Bundesregierung nahe, über den Gewaltverzicht von 1954 hinauszugehen. Um dann eine formelle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der Ungültigkeit des Münchner Abkommens zu vermeiden, erwog die Bundesregierung, Polen und der Tschechoslowakei, ggf. auch Ungarn, Rumänien und Bulgarien, einen Gewaltverzicht und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anzubieten. Einen entsprechenden Vorschlag machte Außenminister von Brentano während der Vorbereitungsgespräche für die Genfer Gipfelkonferenz in der westlichen Viermächte-Arbeitsgruppe. Allerdings hielt auch Bonn weiterhin an dem Standpunkt fest, daß über eine endgültige Festlegung der Grenzen erst in einem Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland entschieden werden könnte. Diese Politik scheiterte jedoch an den außenpolitischen Bedingungen und den innenpolitischen Widerständen. Die Genfer Konferenz nahm nicht den erhofften Verlauf, statt auf das Deutschland-Problem konzentrierten sich die Außenminister in ihren Gesprächen immer stärker auf die Erhaltung des Status quo in West-Berlin und gingen schließlich ohne jedes Ergebnis auseinander. In der Bundesrepublik erhob der Bund der Vertriebenen lautstarken Einspruch gegen jede vertragliche Bindung gegenüber Polen und der CSSR, in der er eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze sah. Diese Entwicklung veranlaßte die Bundesregierung dazu, den Gedanken eines Austausches von vertraglichen Gewaltverzichtserklärungen einstweilen zu den Akten zu legen. Dennoch befaßte sich die Bundesregierung im Zusammenhang mit den amerikanisch-sowjetischen Sondierungen über eine Berlin-Regelung im Herbst 1961 und Frühjahr 1962 erneut mit der Möglichkeit, zwischen NATO und Warschauer Pakt Nichtangriffs- oder Gewaltverzichtserklärungen auszutauschen. Derartige Vorschläge waren mit Berlin-Arrangements gekoppelt, die im Verlauf der Gespräche diskutiert wurden. Dabei zeigte sich sehr deutlich, daß Berlin für die Sowjetunion ein Hebel war, mit dem sie eine Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa geschaffenen Realitäten erreichen wollte. Der Nichtangriffspakt, der nach sowjetischen Vorstellungen von Maßnahmen der Rüstungsbeschränkung wie z. B. einer Reduzierung der ausländischen Truppen und einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa begleitet sein sollte, hatte dabei die Funktion eines Ersatzfriedensvertrages mit Deutschland. Die Vereinigten Staaten hatten dagegen vor allem die Sicherung Berlins im Auge. In ihren Gegen23 Festschrift Menzel

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Helga Haftendorn

vorschlägen, die im Hinblick auf Deutschland und Berlin die Bestätigung der Rechte der Vier Mächte und die Errichtung einer internationalen Kontrollbehörde für die Zugangswege nach Berlin vorsahen, erklärten sie sich zum Austausch von Nichtangriffserklärungen zwischen NATO und Warschauer Pakt bereit. Diese Erklärungen sollten sich auf alle Demarkationslinien in Europa, also auf die Oder-NeißeGrenze und die Demarkationslinie zwischen BRD und DDR ebenso wie auf die Mauer in Berlin beziehen3 • Durch eine Indiskretion hochgespielt, lösten diese amerikanischen Vorstellungen in der Bundesrepublik ernste Befürchtungen darüber aus, daß die USA die deutschlandpolitischen Interessen der Bundesrepublik zu Gunsten eines Arrangements mit der Sowjetunion zurückstellen könnten. In Bonn wurde lautstark über mangelnde Konsultationen geklagt. In Wirklichkeit waren diese Gedanken, wenn auch nicht in Form eines ausgearbeiteten Vorschlages, intensiv sowohl in der Botschaftsgruppe der Vier Mächte in Washington als auch im Ständigen NATO-Rat in Paris diskutiert worden. Die Haltung der Bundesregierung war sowohl im Hinblick auf die vorgeschlagene Zugangsbehörde als auch in der Frage von Nichtangriffserklärungen zwiespältig. Grundsätzliche Bedenken mischten sich mit Furcht vor einer Isolierung im Bündnis. Vor allem Sonderminister Krone, ein enger Vertrauter Adenauers und Vorsitzender des neugeschaffenen Bundesverteidigungsrats, fürchtete, daß die von den USA in Aussicht genommenen Gewaltverzichtserklärungen faktisch, wenn auch nicht juristisch, den Status quo in Europa bestätigen und damit eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen würden. Außenminister Schröder schätzte dagegen die Gefahren einer bündnispolitischen Isolierung der Bundesrepublik höher ein als die möglichen negativen Wirkungen derartiger Absprachen auf die deutsche Frage. Darüber hinaus sah er Vorzüge in dem vorgesehenen ständigen Vier-Mächte-Organ sowie in der Sicherung Berlins. Außenminister Schröder unterschied sich von seinen Kritikern weniger in den Zielsetzungen als in der Methode der Politik. Seine Taktik zielte darauf ab, durch grundsätzliche Zustimmung zu den amerikanischen Vorschlägen ein Mitspracherecht der Bundesrepublik bei ihrer Formulierung zu sichern, das er im Sinne ihrer Modifizierung und einer stärkeren Berücksichtigung der Interessen Bonns nutzte. Sein Vorgehen unterschied sich damit deutlich von demjenigen seines Vorgängers und des Kanzlers, die in kritischen Situationen dazu tendierten, die Alarmglocke zu läuten. 3 Die amerikanischen Vorstellungen wurden in der deutschen Öffentlichkeit durch einen Artikel des Bonner Korrespondenten der New York Times vom 14. April 1962 bekannt.

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Überblickt man die westdeutsche Argumentation zum Gewaltverzicht Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, so stand zunächst der vertragliche Aspekt, die Bindungsperspektive, im Vordergrund. Solange Bonn die Herstellung diplomatischer Beziehungen mit den osteuropäischen Staaten aus Furcht vor einer Aushöhlung seines Alleinvertretungsanspruchs ablehnte, war es auch nicht bereit, sich in anderer Weise gegenüber diesen Staaten völkerrechtlich zu binden. Diesem Akt - und nicht so sehr dem Instrument des Gewaltverzichts als solchem - wurde eine den Status quo stabilisierende und fixierende Wirkung zugeschrieben. Hinzu kam das Bemühen, eine Anerkennung oder auch nur eine internationale Aufwertung der DDR zu vermeiden. Vor allem aber implizierte ein Nichtangriffsvertrag, auf den sich die Diskussion Anfang der sechziger Jahre konzentrierte, die Vorwegnahme friedensvertraglicher Regelungen. Derartige Vereinbarungen liefen einer Politik zuwider, die auf Veränderung, zumindest aber Offenhalten des Status quo in der deutschen Frage bis zu einer späteren endgültigen Regelung, d. h. einen Friedensvertrag mit einem wiedervereinigten Deutschland, gerichtet war. Der Gewaltverzicht war dagegen Ausdruck eines Modus vivendi: Die Vertragspartner erkannten die Existenz eines ungelösten Problems an, verpflichteten sich jedoch zu einer einvernehmlichen Regelung ohne die Anwendung oder die Androhung von Gewalt.

11. Die deutsche "Friedensnote" vom 25. März 1966 1. Veränderungen der außen- und innenpolitischen Bedingungen der westdeutschen Außenpolitik Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 hatte allen Deutschen das Scheitern der bisherigen Deutschlandpolitik demonstriert. Sie mußten erkennen, daß die Einhaltung des Status quo zum vorrangigen Ziel der europäischen Hauptmächte geworden war. Der Ausgang der Kuba-Krise hatte dies erneut unterstrichen. Das strategische Patt zwischen den Supermächten und das diplomatische Patt in Bezug auf Europa hatte zu einem politischen Immobilismus geführt, der eine Ost-West-Übereinkunft auf der Grundlage der westlichen Zielvorstellungen ausschloß, zugleich die Gefahr von Zufallkriegen beinhaltete, wenn es nicht gelang, die Gefährlichkeit der militärischen Potentiale durch eine kooperative Rüstungssteuerung zu entschärfen. Dieser Einschätzung der internationalen Situation entsprangen die amerikanischen Bemühungen um eine partielle rüstungspolitische Kooperation mit der anderen Supermacht und eine Auflockerung der europäischen Situation. 23*

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Angesichts dieser Entwicklungen wuchs in der Bundesrepublik die Einsicht, daß ein Nein zur Entspannung zwischen den Großmächten zur weltpolitischen Isolierung führen würde. Vor allem die USA, aber auch Frankreich und andere westeuropäische Verbündete drängten die Bundesregierung zu eigenen ostpolitischen Initiativen. Die Diskussion über den Teststop-Vertrag4 hatte die enge Marge aufgezeigt, im Rahmen derer die Bundesrepublik vom Entspannungspfad ihres mächtigsten Verbündeten im Westen abweichen konnte. Auch in der westdeutschen Öffentlichkeit mehrten sich die Stimmen, die darauf hinwiesen, daß eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit nicht zu realisieren war und die deshalb für ein überdenken der bisherigen Positionen plädierten. Innerhalb der Bundesregierung waren es vor allem Außenminister Schröder und die FDP unter Führung des Ministers für Gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende, die entschlossen waren, den Weg einer Rezeption und Fortführung der westlichen Entspannungspolitik zu gehen, auch wenn dies eine Aufgabe der Hallstein-Doktrin und - wie damals argumentiert wurde, vorläufig - eine Hinnahme des Status quo bedeutete. Schröder konnte dabei auf Unterstützung durch die SPD rechnen, die seit langem für eine Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten eintrat, während Teile seiner eigenen Fraktion, vor allem der Fraktionsvorsitzende von Brentano und Sonderminister Krone, sowie die bayrische Schwesterpartei unter der Führung von Franz-Josef Strauss heftigen Widerstand leisteten. Die Kritiker der Schröderschen Ostpolitik sahen teils die Grundsätze der bisherigen Deutschlandpolitik, vor allem den Alleinvertretungsanspruch und die von ihm abgeleitete Hallstein-Doktrin, teils die engen Beziehungen zum Westen durch ein zunehmendes osteuropäisches Engagement gefährdet. Die Errichtung von Handelsmissionen in Warschau, Bukarest, Budapest und Sofia, die in den Jahren 1963 und 1964 realisiert wurde, brach mit dem alten Tabu, daß vertragliche Beziehungen nicht möglich seien mit Staaten, welche die DDR anerkannt hatten. Sie blieben jedoch unterhalb der Schwelle diplomatischer Beziehungen, deren überschreiten ohne eine Aufgabe oder Modifizierung der Hallstein-Doktrin einstweilen nicht möglich schien und sparten die DDR aus 5 • Gleichzeitig be4 Am 5. August 1963 hatten die USA, die Sowjetunion und Großbritannien in Moskau einen Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser unterzeichnet. Zur Diskussion über den Teststopvertrag in der Bundesrepublik vgl. H. HaftendoTn, Abrüstungs- und Entspannungspolitik ... , S. 127 ff. 5 Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion war damit begründet worden, daß es sich bei ihr um eine der vier Unterzeichner des Potsdamer Abkommens handele. Zur Diskussion darüber, ob durch die Errichtung von Handelsmissionen die Hallstein-Doktrin unterlaufen werden könnte, vgl. das Interview von Bundesaußenminister Schröder mit dpa, in:

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mühte sich die Bundesregierung, im Sinne einer "Zweizangen-Theorie"8 auch die Beziehungen zur Sowjetunion zu verbessern. Die Ankündigung des Besuchs von Ministerpräsident Chruschtschow in Bonn war ein sichtbares Zeichen erster Ergebnisse bei diesem Bemühen. Der Sturz Chruschtschows verhinderte nicht nur diesen Besuch, er unterbrach auch einstweilen die deutsch-sowjetischen Kontakte. Die neue Kremlführung brauchte Zeit, um sich innenpolitisch zu konsolidieren und ihre außenpolitische Strategie zu überdenken. 2. Die Note vom 25. März 1966

Ende 1965 mehrten sich die Anzeichen, daß die sowjetische Führung begann, ihre Außen-, speziell ihre Deutschlandpolitik, wieder zu aktivieren. Der Besuch von Staatssekretär Carstens in Moskau anläßlich der Chemieausstellung im Oktober 1965 gab beiden Regierungen die Möglichkeit herauszufinden, wie groß die Marge der Verhandlungsbereitschaft in Moskau und Bonn bemessen war. Von seinem Besuch brachte Carstens den Eindruck mit nach Hause, daß die sowjetische Regierung an einer Fortsetzung des Dialogs mit der Bundesregierung sehr interessiert war. In Bonn verstärkte sich die Ansicht, daß eine diplomatische Initiative der Bundesregierung eine sachliche Aufnahme in Moskau finden und möglicherweise zu weiteren Gesprächen über eine Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen führen würde. Das Hauptziel der Note war jedoch weniger die Einleitung von neuen Verhandlungen über die deutsche Frage, für die angesichts der gegensätzlichen Positionen von Ost und West weiterhin keine reale Basis gesehen wurde; sie war vielmehr ein Versuch, neue Töne in die Deutschlandpolitik zu bringen. Bonn war es leid, sich vom Osten ständig beschimpfen zu lassen und vom Westen immer wieder gedrängt zu werden, eigene ostpolitische Aktivitäten zu entfalten. Mehr als ihr Inhalt, waren Stil und Ton der Note bemerkenswert, die sich durch sprachliche Prägnanz und Verbindlichkeit im Ausdruck auszeichnete. Inhaltlich gliederte sich das Schriftstück, das allen Regierungen, mit denen die BRD diplomatische Beziehungen unterhielt, sowie den osteuropäischen und arabischen Staaten, aber nicht der DDR, übergeben wurde, in sechs Teile: Im ersten und zweiten Teil unterstrich die Bundesregierung ihre Friedensbereitschaft und legte ihre Bulletin, 8. 3. 1963, S. 389. Bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu

Rumänien wurde später argumentiert, die osteuropäischen Staaten seien bei ihrer Entscheidung für die Aufnahme von Beziehungen zu Ostberlin nicht frei gewesen. Die Alternative von Beziehungen zur BRD habe für sie nicht bestanden (sog. "Erbsünde-These"). 6 Vgl. Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, München 1970, S. 335.

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bekannte - Haltung zur deutschen Frage dar. Im dritten und vierten Teil wies sie die sowjetischen Vorwürfe zurück, sie betreibe eine ag~ gressive und revanchistische Politik und trat "sowohl für eine Lösung der deutschen Frage wie für eine konsequente Abrüstungspolitik ein, die zur Friedenssicherung beiträgt"7. Das Schriftstück trug deutlich Kompromißcharakter. Es sollte Ver~ handlungsbereitschaft und Flexibilität der westdeutschen Politik de~ monstrieren, während die Bundesregierung gleichzeitig an ihren grundsätzlichen Positionen in der deutschen Frage festhalten zu müssen glaubte. Dies wurde besonders deutlich durch die Tatsache dokumentiert, daß die DDR nicht zu den Empfängern der Note zählte. Gegenüber Polen hielt die Bundesregierung den Standpunkt aufrecht, daß Deutschland in den Grenzen von 1937 fortbestehe, solange nicht eine freigewählte gesamtdeutsche Regierung andere Grenzen anerkenne. Zum Münchner Abkommen von 1938 hieß es, dieses sei von Hitler zerrissen worden und habe keine territoriale Bedeutung mehr. Damit kam die Bundesregierung der tschechoslowakischen Forderung nach einer Ungültigkeitserklärung für das Münchner Abkommen einen kleinen Schritt entgegen. Ihre erklärte Bereitschaft zu einem Ausgleich mit den osteuropäischen Staaten reichte jedoch nicht aus, um die durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die lange erhobene Forderung nach Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 in den Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten aufgetürmten Hindernisse abbauen zu können. Mit Ausnahme des Angebots, mit den osteuropäischen Staaten Gewaltverzichtserklärungen auszutauschen, beschränkten sich die deutschen Vorschläge auf sicherheitspolitische Maßnahmen. Bei den Maßnahmen zur Nichtverbreitung nuklearer Waffen und zur Kontrolle spaltbaren Materials ging die Bundesregierung zunächst davon aus, daß andere Staaten die gleichen Beschränkungen auf sich nehmen sollten, wie sie es 1954 getan hatte. Durch die Hervorhebung eines Produktionsverzichts und einer Nichtweitergabe von Atomwaffen in nationale Verfügungsgewalt seitens der Nuklearmächte, versuchte sie gleichzeitig die internationale Diskussion über einen Nichtverbeitungsvertrag in ihrem Sinne zu beeinflussen. Mit dem Vorschlag eines Einfrierens bzw. einer Reduzierung der nuklearen Waffen in Europa nahm die Bundesregierung Elemente der Gomulka- und Rapacki-Pläne auf, verband sie jedoch mit der Forderung nach Fortschritten bei der Lösung der deutschen Frage. Der Vorschlag zum Austausch von Manöverbeobachtern schließlich stammte aus dem Arsenal der Genfer Abrü7 Vgl. Zirkular-Note der Bundesregierung zur Friedenspolitik vom 25.9. 1966, in: Bulletin, 26. 3.1966.

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stungsverhandlungen und war in erster Linie eine Geste guten Willens. Derartige bilaterale Abmachungen sollten die Gefahren vermeiden, welche die Bundesregierung mit Beobachtungsposten - oder Inspektionssystemen - assoziierte, in die auch die DDR einbezogen werden müßte8 • Aber auch der Gewaltverzicht wurde zum damaligen Zeitpunkt primär als Sicherheits- und Entspannungsmaßnahme gesehen. Zunächst sollte der vorhandenen oder behaupteten Furcht entgegengewirkt werden, die Bundesrepublik könnte an eine Lösung der in ihrem Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten strittigen Fragen mit Gewalt oder Androhung von Gewalt denken. Öffentlich und in verbindlicher Form sollten die offenen Probleme auf den Weg einer Regelung mit friedlichen Mitteln verwiesen werden. Angesichts des Fehlens einer realen Grundlage für eine einvernehmliche Lösung, insbesondere der deutschen Frage, kam dem Gewaltverzicht die Funktion eines Moratoriums zu, das den Konflikt entschärfen, eine spätere Verhandlungslösung jedoch nicht präjudizieren sollte. Von einem Gewaltverzicht erwartete die Bundesregierung kurzfristig vor allem eine Entspannungswirkung. Das entscheidende Element der Friedensnote war das Festhalten am Vorrang des Wiedervereinigungspostulates. Neu war, daß das Sicherheitsbedürfnis der osteuropäischen Staaten in einem offiziellen Schriftstück der Bundesrepublik explizit anerkannt und diesen über die Errichtung von Handelsmissionen hinausgehende vertragliche Abmachungen angeboten wurden. Mit dem vorgeschlagenen Gewaltverzicht sollte bekundet werden, "daß ein unerledigter Konfliktstoff vorliegt, ohne dessen Bewältigung die Friedlosigkeit fortdauert und eine Befriedigung nicht eintreten wird"9. In diesem Sinne war der Gewaltverzicht aus der Sicht der Bundesregierung ein Instrument zum Offenhalten des Status quo.

Nachdem die Viermächte-Konferenzen der fünfziger Jahre die Vergeblichkeit der Bemühungen demonstriert hatten, eine für Ost und West akzeptable Lösung der deutschen Frage zu erreichen, waren nunmehr die Bemühungen der Bundesregierung darauf gerichtet, eine vielleicht in Zukunft mögliche Regelung nicht durch "Festschreiben eines unbefriedigenden, unausgeglichenen, noch nicht befriedeten 8 Die Koppelung von rüstungspolitischen Angeboten mit deutschlandpolitischen Forderungen spiegelte das Dilemma der damaligen Bundesregierung wider, die mit der Friedensnote den widersprüchlichen Versuch unternahm, den Status quo in Europa gleichzeitig abzusichern und offenzuhalten. U Swidbert Schnippenkoetten, Gewaltdrohung und Gewaltverzicht als Probleme der internationalen Politik, in: Jahrbuch für Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 1, 1971, S. 78.

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Zustandes"lO zu präjudizieren. Die von ihr vorgeschlagenen Sicherheitsmaßnahmen waren sorgfältig so ausgewählt, daß von ihnen keine den Status quo fixierende Wirkung ausging. Dort, wo Rückwirkungen politischer Natur zu befürchten waren, bei dem Vorschlag eines Einfrierens bzw. einer Reduzierung der nuklearen Waffen in Mitteleuropa, verband sie diese Maßnahmen mit der Forderung nach gleichzeitigen Fortschritten in der deutschen Frage. Allerdings ist zu fragen, ob die von der Bundesregierung angestrebte Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten nicht auch dazu tendieren würde, den Status quo zu stabilisieren, zwar nicht juristisch, aber vielleicht um so wirksamer im politisch-psychologischen Bereich. 3. Die Entstehungsgeschichte der Note

Der Kompromißcharakter der Note hatte seinen Grund nicht nur in dem Festhalten an den bisherigen deutschlandpolitischen Positionen bei gleichzeitigem Bemühen um eine Entspannung im Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten, sondern steht auch in Verbindung mit ihrer Entstehungsgeschichte. Sie macht deutlich, daß die Note nicht ein großer Wurf, eine lange geplante Initiative der Entspannungspolitik war, sondern eine aus der Situation heraus entstandene Aktion mit dem vorrangigen Ziel der Selbstdarstellungll . Mit Blick auf die osteuropäischen Staaten ebenso wie auf den nach Initiativen der Bundesrepublik drängenden Westen wurde ihr das Anwendbare des Entspannungsinstrumentariums hinzugefügt. Die Initiative zu der Note vom März 1966 ging im wesentlichen von dem damaligen Außenminister Schröder aus. Auf der Tagung des NATO-Ministerrates im Dezember 1965 in Paris sowie bei dem Besuch von Bundeskanzler Erhard wenig später in Washington hatte sich gezeigt, daß die Verbündeten nicht mehr bereit waren, ihre Solidarität mit dem Wunsch der Bundesrepublik nach Wiederherstellung Gesamtdeutschlands zu demonstrieren und die östlichen Angriffe auf Bonn abzuwehren, wenn dieses sich nicht auch zu eigenen Entspannungsschritten aufraffte. Hinzu kam die sich intensivierende internationale Ebenda. In einer Rede am 7.6.1966 im NATO-Ministerrat nannte Außenminister Schröder folgende Motive für die Note der Bundesregierung: Sie habe es für notwendig gehalten, ,,- die Initiative zu einem Meinungsaustausch über Fragen der Abrüstung und Sicherheit zu ergreifen; - die Regierungen des Warschauer Pakts mit unserem Standpunkt in der Abrüstungs- und Sicherheitsfrage offziell bekannt zu machen; - ihnen konkrete Angebote zu machen, und - der kommunistischen Propaganda, die uns ständig als Kriegstreiber hinstellt, entgegenzutreten." In: BuHetin, 21. 6. 1966, S. 643. 10 11

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Diskussion über einen Vertrag gegen die Weiterverbreitung nuklearer Waffen. Um ihre Positionen zu wahren und um sich nicht den Vorwurf zuzuziehen, sie wolle eine internationale Entspannung verhindern, hielt es die Bundesregierung für sinnvoll, mit einer eigenen Initiative hervorzutreten. Im Auftrage von Außenminister Schröder wies Staatssekretär Carstens den Leiter des Referats II A 3, Politische und Sozialökonomische Strukturfragen des Ostens, VLR I Dr. Erwin Wickert, an, einen Entwurf anzufertigen. Darin sollten die Haltung der Bundesregierung zur deutschen Frage dargestellt, der Friedenswillen des deutschen Volkes dokumentiert und konkrete Vorschläge für eine Entspannung unterbreitet werden. Gleichzeitig erhielt der Abrüstungsbeauftragte der Bundesregierung, Botschafter Dr. Swidbert Schnippenkoetter, den Auftrag zu prüfen, welche Rüstungsbeschränkungs- oder vertrauensfördernden Sicherheitsmaßnahmen in die Note aufgenommen werden könnten. An ihrer Abfassung wirkte ferner mit das Osteuropareferat, II A 5, und zwar in enger Abstimmung mit dem Völkerrechtsreferat. Ziel der diplomatischen Initiative der Bundesregierung sollte es sein, die osteuropäischen Staaten zu einem konstruktiven Meinungsaustausch zu ermuntern. Über Ministerialdirigent Osterheld, den Leiter der Politischen Abteilung im Bundeskanzleramt, wurde die Note mit dem Bundeskanzler abgestimmt. Das Verteidigungsministerium wirkte an der Ausarbeitung nur am Rande mit; jedoch wurde das Schriftstück eingehend im Bundesverteidigungsrat beraten, der unter dem Vorsitz von Sonderminister Krone tagte. Einwände wurden hier vor allem gegen diejenigen Formulierungen erhoben, mit denen die Gesprächsbereitschaft Bonns signalisiert werden sollte, vor allem gegen die Aussage, daß das Münchener Abkommen von Hitler zerrissen worden sei und keine territoriale Bedeutung mehr habe; sowie gegen den Vorschlag einer stufenweise Reduzierung der nuklearen Waffen in Europa. Auch gibt es Hinweise darauf, daß einige Minister, vor allem Krone, die Haltung in der deutschen Frage, insbesondere die Betonung des Selbstbestimmungsrechtes, stärker herausgestellt sehen wollten. Im Kabinett wurde nur kurz über die Note beraten, und es ist nicht sicher, ob allen Ministern der volle Wortlaut vor ihrer Absendung zugänglich gemacht wurde. Jedenfalls beklagte sich Verkehrsminister Seebohm, zugleich Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, er sei nicht informiert worden. Mitte März, also nach der Fertigstellung des Textes, wurde auch der Politische Ausschuß der NATO durch Botschafter Grewe informiert. Die sehr kurzfristige Unterrichtung der Verbündeten hatte ihren

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Grund einmal darin, daß die Bundesregierung ein vorzeitiges Bekanntwerden ihrer Initiative vermeiden wollte. Zum anderen betrachtete sie ihren Inhalt nicht als konsultationsbedürftige Materie, wollte vielleicht auch eine Diskussion ihrer ostpolitischen Vorstellungen vermeiden, die in den Augen einiger Verbündeter nicht genügend Entspannungssubstanz enthielten. Zuvor hatte die Bundesregierung jedoch bereits Konsultationen mit den drei wichtigsten Verbündeten aufgenommen. Während sich die französische Regierung sehr zurückhielt übrigens später auch auf eine Beantwortung der Bonner Note verzichtete -, wurden sowohl von britischer wie von amerikanischer Seite konkrete Anregungen gemacht. Dabei ging es London vor allem darum, die Bundesregierung zu einem flexibleren Taktieren in der Frage der Oder-Neiße-Linie und des Münchner Abkommens zu veranlassen, während die USA ihre Nichtverbreitungsverhandlungen durch eigene westdeutsche Akzentsetzungen nicht gestört sehen wollte. Demgegenüber war Außenminister Schröder bemüht, eine mittlere Linie zu steuern, die den verschiedenen Bedenken durch entgegenkommendere Formulierungen Rechnung trug, aber die Substanz der Note unverändert ließ.

4. Die innenpolitische Basis der Friedensnote Die Note vom 25. März 1966 wurde von einem breiten Konsens innerhalb der Bundesrepublik getragen. In dem Bemühen um Zustimmung aller politischen Kräfte hatte die Regierung den Entwurf den Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien - Barzel (CDU/CSU), Erler (SPD) und von Kühlmann-Stumm (FDP) - mit der Bitte um Anregungen oder Korrekturen zugeleitet. Allerdings war die Frist so knapp bemessen, daß inhaltliche Änderungen weder erarbeitet noch berücksichtigt werden konnten. Der Auswärtige Ausschuß wurde in die Beratungen jedoch nicht eingeschaltet. Am 25. März 1966 unterrichtete Bundeskanzler Erhard den Bundestag in einer Regierungserklärung über den Inhalt der Note. In der Aussprache über diese Erklärung sagten Sprecher aller drei Bundestagsparteien der Bundesregierung ausdrücklich ihre Unterstützung für die mit der Friedensnote begonnene Politik zu. Es war dies die Zeit eines hohen Maßes an Gemeinsamkeit in der deutschen Frage zwischen allen politischen Kräften in der Bundesrepublik. Kritik am Vorgehen Bonns wurde lediglich von den Vertriebenenverbänden geäußert. Deutliche Unterschiede bestanden jedoch - und verstärkten sich während des Sommers - in der Beurteilung der Wirksamkeit und des Erfolges der deutschen Note, in der Einschätzung der sowjetischen Deutschlandund Europapolitik und über die weiteren Schritte auf dem mit der diplomatischen Initiative vom März beschrittenen Weg.

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Die Note der Bundesregierung fand bei ihren Empfängern eine sehr unterschiedliche Aufnahme. Die Verbündeten der Bundesrepublik mit Ausnahme Frankreichs begrüßten in offiziellen Erklärungen und in ihren Antworten die deutsche Initiative. Positiv reagierten auch eine Reihe von blockfreien Staaten, doch ist festzustellen, daß vor allem diejenigen Länder antworteten, die der Bonner Politik freundlich gegenüberstanden und dies auch in ihren Antworten zum Ausdruck bringen wollten. Besonders enttäuschend war, daß die osteuropäischen Staaten auf die in der Note enthaltenen Anregungen nicht eingegangen waren, wenn sie auch ihr Interesse an einer Verbesserung und Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik bekundeten12 • Reserviert war ebenfalls das internationale Presseecho. Es wurde zwar positiv vermerkt, daß die Bundesrepublik ihren bisherigen Immobilismus überwunden hatte, aber kritisiert, daß in der Frage der Oder-Neiße Linie erneut auf die Grenzen von 1937 verwiesen wurde und sich Bonn nicht zu einem eindeutigen nuklearen Verzicht durchgerungen habe. Der Regierung im allgemeinen mit Sympathie gegenüberstehende Blätter wie "Frankfurter Allgemeine Zeitung" stellten die kühle Aufnahme der Bonner Note heraus, bezeichneten sie als "Pflichtübung" und sprachen davon, daß das Echo auf diese diplomatische Initiative nicht überwältigend gewesen sei. "Kanzler und Außenminister werden mit weiteren Impulsen nachhelfen müssen. An Nachdruck darf es nicht fehlen, wenn der begrüßenswerte Vorstoß nicht in Deklamationen steckenbleiben, die frische Initiative nicht in Papier ersticken soll ... "13. Nicht zuletzt in Anbetracht des mageren Erfolges der Note vom März, aber auch unter dem Eindruck der durch die Aussicht auf einen Redneraustausch aktivierten deutschlandpolitischen Debatte in der Bundesrepublik, drängten auch SPD und FDP - die Oppositionspartei und der kleinere Koalitionspartner - auf eine Fortsetzung der in der Friedensnote zum Ausdruck gebrachten Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. In drei Punkten gingen sie dabei wesentlich über die in der Note vom März gemachten Anregungen hinaus: hinsichtlich der Ungültigkeit des Münchner Abkommens, in der Frage der Einbeziehung der DDR in einen Gewaltverzicht und, in vorsichtiger Form, mit dem Angebot von Zusicherungen an Polen zu Gunsten eines Respektierung der OderNeiße-Linie. Vor allem aber wünschte die SPD weitere Schritte auf dem Gebiet der Rüstungsbeschränkung und zwar unter dem zweifachen 12 Einen ausführlichen überblick über die Aufnahme der Friedensnote im Ausland gibt die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zusammengestellte Dokumentation, Texte der bisher eingegangenen Antwortnoten auf die Note der Bundesregierung vom 25. März 1966 zur deutschen Friedenspolitik, Bonn 1966. 13 J(ürgen) T(ern), Störenfried?, in: FAZ, 28. 3.1966.

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Gesichtspunkt der Allianzpolitik und der Entspannungsinitiative gegenüber Osteuropa. Die Regierung beschränkte sich weitgehend darauf, ihre Haltung erneut darzulegen, so in einem Ende April veröffentlichten Weißbuch zur Deutschland-Frage 14 und im September 1966 in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Rüstungsbegrenzung und Friedenssicherung im Bundestag. Sie war aber nicht bereit, zu diesem Zeitpunkt bereits über die in ihrer Note vom März enthaltenen Offerten hinauszugehen. Nachdem sich die Ausklammerung der DDR aus dem vorgeschlagenen Gewaltverzicht als Haupthindernis für Verhandlungen mit den osteuropäischen Staaten herausgestellt hatte, wurde auch im Regierungslager überlegt, wie die DDR in einen Gewaltverzicht einbezogen werden könnte, ohne daß sie direkt angesprochen und damit international aufgewertet werden würde. Unterdessen begannen relativ unauffällig erste deutsch-sowjetische Sondierungen über die Möglichkeit von Gewaltverzichtsgesprächen sowie Verhandlungen mit Rumänien über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen. Auch in der Einschätzung der sowjetischen Europa- und Deutschlandpolitik gab es Bewertungsunterschiede. Dabei ging es nicht so sehr um die Frage, ob Moskau eine offensive oder eine defensive Politik in Europa verfolgte, sondern vielmehr um die Marge und die Bedingungen sowjetischer Verhandlungsbereitschaft. Würde die Sowjetunion nur zu den von ihr gestellten Bedingungen - Anerkennung der Teilung Deutschlands und der europäischen Grenzen, Verzicht auf Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen, Errichtung einer Freien Stadt WestBerlin - gesprächsbereit sein, oder war es realistisch, wie führende Politiker der eDU annahmen, daß die Sowjetunion von einer Position westlicher Stärke aus oder durch wirtschaftliche und militärische Zugeständnisse zu einer Verhandlungslösung bewegt werden könnte, oder war vielmehr eine Entspannung in Europa und langfristig die Lösung der deutschen Frage nur möglich auf der Grundlage der Hinnahme des territorialen Status quo, wie viele Sozialdemokraten meinten? Bei aller Betonung des Willens zur Gemeinsamkeit offenbarte daher die Debatte über den weiteren Kurs der Ost- und Entspannungspolitik auch die gegenseitige Interessenblockade der politischen Kräfte in der Bundesrepublik. Die von Außenminister Schröder verfochtene Politik eines Einschwenkens der Bundesrepublik auf den Entspannungskurs der Verbündeten, insbesondere Washingtons, hatte sich kurzfristig als wenig erfolgreich erwiesen, da die Regierung gleichzeitig an den über14 Auswärtiges Amt (Hrsg.), Die Bemühungen der deutschen Regierung und ihrer Verbündeten um die Einheit Deutschlands 1955 -1966, Bonn 1966.

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kommenen Positionen in der deutschen Frage festhielt. Aus konservativer Sicht beinhaltete er aber bereits eine "Konsolidierung, Fixierung und Legitimierung des sowjetischen Besitzstandes in Europa"15. Starke Kräfte innerhalb der Regierung, die sich vor allem um die bayrische CSU gruppierten, betrachteten mit Mißtrauen das amerikanische Bemühen, zu einem partiellen Ausgleich mit der Sowjetunion zu gelangen. Wenn die USA nicht mehr bereit waren, den Status quo aktiv und kontinuierlich infrage zu stellen, dann mußte die Bundesrepublik alles tun, um gemeinsam mit Frankreich die Einigung Westeuropas und seine Fortentwicklung zu einer eigenständigen Größe in der internationalen Politik zu erreichen. Eine Lösung der deutschen Frage war nach ihrer Auffassung nur in einem europäischen Rahmen möglich, nur über eine stärkere nationale Aktivierung auch der osteuropäischen Staaten. Die dritte Position wurde von den Sozialdemokraten und Teilen der Freien Demokraten markiert. Sie vertraten die Meinung, daß die außenpolitische und wiedervereinigungspolitische Strategie der Bundesrepublik auf drei verschiedenen Hauptaktionsfeldern betrieben werden mußte: auf dem der Sicherheitspolitik, die zugleich Allianzpolitik und Rüstungsbeschränkungspolitik war, dem der Osteuropapolitik, die vorrangig Entspannungspolitik sein sollte; und - darin unterschied sich die SPD grundsätzlich von den anderen Gruppierungen - der Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen. Dafür hatte der SPD-Vorsitzende, Willy Brandt, auf dem Dortmunder Parteitag die Formel des "qualifizierten, geregelten und zeitlich begrenzten Nebeneinander der beiden Gebiete Deutschlands" gefunden. Verantwortliche Politiker innerhalb der SPD hatten erkannt, daß eine Isolierung der DDR deren Abhängigkeit von der Sowjetunion sowie die Konfrontation zwischen den beiden deutschen Staaten verstärken würde, aber keinerlei reale Chancen für eine Lösung der deutschen Frage bot. In der damaligen innenpolitischen Konstellation schien eine gemeinsame Aktion kaum möglich; weder hatte die Entspannungspolitik Schröders im Kabinett den notwendigen Entwicklungsspielraum, noch bot der von der CSU aufgezeigte pro-französische Kurs eine echte Alternative. Auch eine Kooperation des Schröder-Flügels innerhalb der Regierung mit der Opposition war nicht möglich, ehe nicht auch die CDU den Rubikon einer de facto-Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstandenen Realitäten überschritten hatte.

15 Baron von und zu Guttenberg am 23.9. 1966 im Deutschen Bundestag.

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111. Der deutsch-sowjetische Gewaltverzichtsdialog 1. Veränderte Konstellationen

Die Aufnahme von Gesprächen mit der Sowjetunion über einen Gewaltverzicht, die im Winter 1966/67 begannen und schließlich im Sommer 1970 zum Abschluß des Moskauer Vertrages führten, waren durch drei voneinander unabhängige Entwicklungen möglich geworden: durch Umorientierungen in der sowjetischen Politik, ein intensiviertes Entspannungsbemühen der westlichen Verbündeten und Veränderungen in der westdeutschen Innenpolitik. Die sowjetische Politik verfolgte in den sechziger Jahren vorrangig das Ziel, das amerikanische Engagement in Europa zu lockern und durch das Angebot zur Kooperation mit einem der westlichen Staaten einen Keil zwischen die anderen zu treiben. Als Mitte der sechziger Jahre die Vereinigten Staaten durch die Ausweitung des Krieges in Indochina und ihre innenpolitischen Probleme absorbiert waren, versuchte die sowjetische Führung, zunächst Paris und dann, als Antwort und Gegenoffensive auf die westdeutsche Ostpolitik, Bonn für eine partielle Zusammenarbeit zu gewinnen. Dies erklärt eine relativ konziliante sowjetische Antwort auf die deutsche Friedensnote und die betonte Bereitschaft zu einer Verbesserung der Beziehungen zur BRD. Aber auch die Bundesrepublik sah sich ihrerseits veranlaßt, ihre Ost- und Entspannungspolitik zu intensivieren, wollte sie nicht Gefahr laufen, innerhalb des westlichen Bündnisses in die Isolierung zu geraten. Die Reise de Gaulles nach Moskau im Sommer 1966, das zurückhaltende Echo des westlichen Auslandes auf die deutsche Friedensnote sowie schließlich die Reden Präsident Johnsons vom August und Oktober 1966, in welchen er Entspannung und Aussöhnung zwischen Ost und West als das große, gemeinsame Ziel des Westens proklamierte, - diese Ereignisse kündigten mit großer Deutlichkeit an, daß auch im Westen alle Signale auf Entspannung gestellt waren. Der dritte Faktor war die Bildung der Großen Koalition im Dezember 1966. Bereits in ihrem Koalitionpapier, das die Grundlage für die Regierungsverhandlungen bildete, hatte sich die SPD für einen Austausch von rechtlich bindenden Gewaltverzichtserklärungen ausgesprochen, in die auch die DDR einbezogen werden sollte t6 • Ihre Mitwirkung an der Regierungsverantwortung bedeutete daher auch, daß ihre Vorstellungen in der Ost- und Entspannungspolitik nunmehr in stärkerem Maße als bisher in die offizielle Regierungspolitik Eingang fanden. Die 15 Als Grundlage der Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer neuen Bundesregierung hatte die SPD-Bundestagsfraktion im November 1966 ein Acht-Punkte-Programm formuliert, in dem die Ziele einer von ihr mitgetragenen Regierung formuliert wurden.

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neue Bundesregierung proklamierte als wichtigstes Ziel ihrer Außenpolitik: "eine konsequente und wirksame Friedenspolitik ..., durch die politische Spannungen beseitigt und das Wettrüsten eingedämmt werden"11. Zugleich war die Regierungserklärung auch die Ankündigung einer eigenständigeren westdeutschen Politik, auf die die Sozialdemokraten seit mehreren Jahren gedrängt hatten. Sie wurde möglich mit der Aufhebung des Zielkonfliktes zwischen Bündnispolitik und Deutschlandpolitik, durch das Einschwenken der Bundesrepublik auf den Entspannungskurs ihrer Alliierten. Sie hatte noch weitere Ursachen. Die Verwicklung der Vereinigten Staaten in Vietnam und die als Folge dieses Konfliktes akzentuierten innenpolitischen Probleme gaben zu der Besorgnis Anlaß, daß die USA künftig ihr Engagement in Europa reduzieren würden. Die französische Ostpolitik, insbesondere Gedanken. einer französisch-sowjetischen Hegemonie in Europa, wie sie z. B. in einer Studie des Centre d'Etudes de Politique Etrangere zum Ausdruck kamen18, wurden als eine Gefährdung der deutschen Interessen empfunden. Hinzu kam das Gefühl, das wirtschaftliche Gewicht der Bundesrepublik ermögliche ihr auch eine gewichtigere Außenpolitik. 2. Das Konzept einer europäischen Friedensordnung Die Große Koalition war ein taktisches Bündnis der beiden großen politischen Parteien in der Bundesrepublik, um die wirtschaftliche und außenpolitische Stagnation der Regierung Erhard zu überwinden. Damit hatten sich jedoch diejenigen politischen Kräfte in Westdeutschland zu einer Regierungskoalition verbunden, die bislang von divergierenden Voraussetzungen und Zielsetzungen in der Außenpolitik, insbesondere in der Entspannungspolitik, ausgegangen waren. Es blieb abzuwarten, ob diese Verknüpfung derart unterschiedlicher Ansätze zu neuer außenpolitischer Dynamik oder - im Gegenteil - zu innenpolitischer Lähmung führen würde. Das vorrangige politische Ziel blieb für Bundeskanzler Kiesinger und die CDU/CSU die Erhaltung der westlichen Gesellschaftsform für die Bundesrepublik und der Versuch, die DDR - über eine innere Liberalisierung - daran so weit wie möglich partizipieren zu lassen. Die Methode bestand weiterhin in der Forderung nach Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes. Der Alleinver17

Vgl. die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger am 13.12.

1966 im Deutschen Bundestag.

18 Vgl. Centre d'Etudes de Politique Etrangere, Models de Securite Europeenne, in: Politique Etrangere, Nr. 611967, S. 519 - 541.

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tretungsanspruch der Bundesrepublik sollte aufrechterhalten und die Rechtspositionen in Bezug auf die deutsche Frage bis zu einer endgültigen Friedensregelung gewahrt bleiben. In der Ostpolitik zog Kiesinger im wesentlichen die von Schröder skizzierten Linien weiter. In den Prozeß der Entkrampfung und Normalisierung sollte jetzt auch die DDR einbezogen werden. Dabei wurde das Bemühen um menschliche Erleichterungen herausgestellt, gleichzeitig aber betont, daß die Regierung sich nicht zu einer Anerkennung der DDR bereitfinden werde. Der Begriff einer europäischen Friedensordnung diente als ein Rahmenkonzept, in das Ost- wie Westpolitik eingebettet wurden. Ohne Gefährdung der Sicherheit der BRD und ohne Infragestellung ihrer Westbindung sollte ein europäischer Interessenausgleich angebahnt und im Verlauf einer europäischen Wiedervereinigung auch eine Lösung für die deutsche Frage gefunden werden 19 • Welche Vorstellungen verband nun der Koalitionspartner mit dem Konzept einer europäischen Friedensordnung? In einem Aufsatz in der jugoslawischen Zeitschrift Internationale Politik schrieb der damalige -Außenminister Brandt: "Unser oberstes Ziel muß ... die Sicherung