Raum der Freiheit: Reflexionen über Idee und Wirklichkeit [1. Aufl.] 9783839411438

Politische Freiheit beinhaltet mehr als Befreiung von Unfreiheit. Diesem Grundgedanken folgend erörtern die Beiträge in

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German Pages 448 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I
Im Gespräch mit Antonia Grunenberg
Freundschaft und Freiheit
Hannah Arendt on Friendship
II
Karl Jaspers und Hans-Georg Gadamer. Ein Traditionsbruch?
Inmitten der Verwüstung. Ein Beitrag zum Technikverständnis Martin Heideggers
»Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir«. Walter Benjamins Hölderlin-Lektüre
Verdichtete Geschichtserfahrung.
Erich Auerbachs Brief vom 3.1.1937 an Walter Benjamin
Zur Aktualität von „Geschichte und Klassenbewußtsein“
Die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden, und die Unsinnigkeit, den Kampf des Guten gegen das Böse als Krieg zu führen
Kontingenz und Freiheit. Zur Subjektkonstruktion bei Sartre und Merleau-Ponty
Politische Freiheit. Über die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Politischen
Kollektivkörper und Netzwerke. Die Verkörperung imaginierter Gemeinschaften im Sport
III
Hannah Arendt’s Jewish Experience. Thinking, Acting, Judging
Überlegungen zu Pluralität und Politik nach Hannah Arendt
Diversité et pluralité. Qu’est qu’une pluralité spécifiquement humaine ?
Unbearable life and Narrative Reconciliation. Public Space as Metaphorical Natality in Hannah Arendt
Two Views of the Public and its Citizens. Combining Arendt and Rawls
Was heißt Menschenwürde?
Der Sinn von Politischer Bildung ist Freiheit. Politikdidaktische Annäherungen an Hannah Arendt
Ein Bild von den Flüchtlingen. Erfahrung, Sichtbarkeit, Einbildungskraft
IV
Die nationalen Erinnerungsgemeinschaften und die Frage nach dem geschichtlichen Bewusstsein Europas
Zur Wiederkehr des Mythischen
Kapitalismus und Demokratie als widersprüchliche Momente der bürgerlichen Gesellschaft. Reminiszenzen aus gegebenem Anlass
Claus Offes »Strukturprobleme« revisited. Fragen an Global Governance und transnationale Zivilgesellschaft
Normative und empirische Demokratietheorie. Ein Vergleich der Stärken und Schwächen am Beispiel Rousseaus und Schumpeters
ANHANG
Auswahlbibliographie Antonia Grunenberg
Zusammengestellt von Christine Harckensee Autorinnen und Autoren
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Raum der Freiheit: Reflexionen über Idee und Wirklichkeit [1. Aufl.]
 9783839411438

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Waltraud Meints, Michael Daxner, Gerhard Kraiker (Hg.) Raum der Freiheit

2009-06-17 12-27-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ea213135073014|(S.

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2009-06-17 12-27-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ea213135073014|(S.

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Waltraud Meints, Michael Daxner, Gerhard Kraiker (Hg.) in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V. und der Heinrich Böll Stiftung Bremen

Raum der Freiheit Reflexionen über Idee und Wirklichkeit Festschrift für Antonia Grunenberg

2009-06-17 12-27-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ea213135073014|(S.

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) T00_03 titel - 1143.p 213135073102

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Imke Voigtländer und Leiv Eirik Voigtländer, Oldenburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1143-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-06-17 12-27-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ea213135073014|(S.

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Inhalt

Einleitung

9

I Im Gespräch mit Antonia Grunenberg THOMAS KLEINSPEHN

15

Freundschaft und Freiheit CHRISTINA THÜRMER-ROHR

33

Hannah Arendt on Friendship IDITH ZERTAL

57

II Karl Jaspers und Hans-Georg Gadamer. Ein Traditionsbruch? REINHARD SCHULZ

71

Inmitten der Verwüstung. Ein Beitrag zum Technikverständnis Martin Heideggers OLE SCHULZ

83

»Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir«. Walter Benjamins Hölderlin-Lektüre JOHANN KREUZER

99

Verdichtete Geschichtserfahrung. Erich Auerbachs Brief vom 3.1.1937 an Walter Benjamin MARTIN VIALON

123

Zur Aktualität von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ ULRICH RUSCHIG Die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden, und die Unsinnigkeit, den Kampf des Guten gegen das Böse als Krieg zu führen MICHAEL DAXNER Kontingenz und Freiheit. Zur Subjektkonstruktion bei Sartre und Merleau-Ponty RAINER FABIAN Politische Freiheit. Über die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Politischen WALTRAUD MEINTS Kollektivkörper und Netzwerke. Die Verkörperung imaginierter Gemeinschaften im Sport THOMAS ALKEMEYER

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III Hannah Arendt’s Jewish Experience. Thinking, Acting, Judging JEROME KOHN Überlegungen zu Pluralität und Politik nach Hannah Arendt STEFAN AHRENS

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Diversité et pluralité. Qu’est qu’une pluralité spécifiquement humaine ? MARTINE LEIBOVICI UND ETIENNE TASSIN

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Unbearable life and Narrative Reconciliation. Public Space as Metaphorical Natality in Hannah Arendt BETHANIA ASSY

291

Two Views of the Public and its Citizens. Combining Arendt and Rawls HORST MEWES Was heißt Menschenwürde? OLIVER BRUNS

311

323

Der Sinn von Politischer Bildung ist Freiheit. Politikdidaktische Annäherungen an Hannah Arendt DIRK LANGE UND SVEN RÖSSLER

341

Ein Bild von den Flüchtlingen. Erfahrung, Sichtbarkeit, Einbildungskraft WOLFGANG HEUER

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IV Die nationalen Erinnerungsgemeinschaften und die Frage nach dem geschichtlichen Bewusstsein Europas BERND FAULENBACH Zur Wiederkehr des Mythischen KURT LENK Kapitalismus und Demokratie als widersprüchliche Momente der bürgerlichen Gesellschaft. Reminiszenzen aus gegebenem Anlass GERHARD KRAIKER Claus Offes »Strukturprobleme« revisited. Fragen an Global Governance und transnationale Zivilgesellschaft LEIV EIRIK VOIGTLÄNDER Normative und empirische Demokratietheorie. Ein Vergleich der Stärken und Schwächen am Beispiel Rousseaus und Schumpeters MARIA KREINER

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385

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ANHANG Auswahlbibliographie Antonia Grunenberg Zusammengestellt von Christine Harckensee

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Autorinnen und Autoren

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Einleitung

Politische Freiheit ist mehr als Befreiung aus Unfreiheit. Antonia Grunenberg, der die hier versammelten Beiträge von Kollegen, politischen Weggefährten und Freunden gewidmet sind, hat dazu beigetragen, dem Begriff der politischen Freiheit in der Theorie und Öffentlichkeit zentrale Bedeutung zu verschaffen. Politische Freiheit versteht sie als Verfassung im doppelten Sinne: als politische Verfassung, verkörpert in den Institutionen, und als lebendiges Gemeinwesen des öffentlichen Austauschs, in das die Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Antonia Grunenberg hat mit diesem Thema in vielfältigen Konstellationen kontroverse Debatten initiiert. Besonders gilt das für ihre Bücher Antifaschismus – ein deutscher Mythos (1993) und Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart (2001). Antonia Grunenberg sucht nicht die Auseinandersetzung mit „Repräsentanten“ bestimmter Ideen, sondern sie arbeitet sich ab an dem, was wirksam ist, ohne hinreichend aufgeklärt zu sein. An Heidegger interessiert sie nicht das, was jeder weiß, dass er eine Beziehung zu Hannah Arendt hatte und dass er zeitweise ein Nazi war. Was sie aufarbeitet, ist seine Position in einer Zeit, da er – wie viele andere – gegen das Ungenügen an Historismus und Positivismus anwütet: Das machte ihn für Arendt nachhaltig interessant, und Antonia Grunenberg bringt die beiden auf neue Art zusammen. Sie begreift Denker in ihrer Zeit und macht sie über ihr Unabgegoltenes zu unseren Zeitgenossen: Hannah Arendt, Georg Lukács, Walter Benjamin, Rosa Luxemburg. Das wird nie rein biographisch und nie reduziert auf den nachgetragenen kulturkritischen Beobachterstandpunkt. Die Denkgeschichte wird auf die Gesellschaft zurückgebunden, der sie entstammt, und damit löst Antonia Grunenberg die Differenz zwischen politischer Wirklichkeit und konstruierter Realität wieder auf: Im Vordergrund steht ihre Überlegung, dass das „Sich-aufeinanderBeziehen“ der Bürger nicht auf wirtschaftliche und soziale Interessen reduziert werden darf, und dass öffentliche Debatten eine politische Kultur beför-

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RAUM DER FREIHEIT

dern, die die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten als Bereicherung wahrnimmt und damit politische Freiheit zu realisieren hilft. Und wie kommt die Freiheit aus der Werkstatt des denkenden Menschen in die Öffentlichkeit zwischen akademischer Expertenkultur und Politik? Antonia Grunenberg hatte einen verschlungenen und komplizierten Weg hinter sich, bevor sie Ende der neunziger Jahre Professorin für politische Ideengeschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg wurde. In diesen Weg sind die Tätigkeiten der öffentlichen Intellektuellen und der Kritikerin ebenso eingeschrieben wie die der Forscherin. Sie hat sich immer exponiert und Freundschaften aufs Spiel gesetzt, sie war im Widerspruch so präsent wie in der Ermutigung. Es ist nicht schwer, hierin auch den Widerschein von Hannah Arendt zu erkennen, und doch wäre es unrecht, Antonia Grunenberg auf diese Verwandtschaft zu reduzieren. Seit mehr als zehn Jahren lehrt und forscht Antonia Grunenberg an der Universität Oldenburg, hier hat sie das Hannah Arendt-Zentrum aufgebaut, und hier ist sie den Studierenden und Kollegen eine starke und aufmerksame Partnerin gewesen. Ihre Arbeit hat sich nicht im Herstellen akademischer Rohkost erschöpft, sondern war immer auch politisches aufklärendes Handeln am Geist, dessen Bewegung sie so sehr interessiert. In diesem Band kommen Autoren zu Wort, die zu unterschiedlichen Zeiten und auf verschiedene Weise im Kontakt mit Antonia Grunenberg stehen, und von denen wir wissen, dass sie sich in wissenschaftlichen wie in politischen Tätigkeiten ihr verbunden fühlen. In den Beiträgen werden die Voraussetzungen, Implikationen und Gefährdungen politischer Freiheit erörtert – quer durch geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Themenkomplexe wie die Beziehung zwischen Freiheit und Freundschaft, das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie sowie Zugehörigkeit, Subjektkonstruktion und Machtverhältnisse kommen ebenso zur Sprache wie das Verhältnis von nationalen Erinnerungsgemeinschaften und die Frage nach dem geschichtlichen Bewusstsein Europas, die in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, Georg Lukács, Walter Benjamin, Jean-Paul Sartre, Maurice MerleauPonty, Karl Jaspers und natürlich Hannah Arendt erörtert werden.1 Was im Namen der Freiheit geschieht und wo sie hinter der Wirklichkeit zurücktreten muss, um unsere Realitätskonstruktionen nicht zu stören, hat uns zu interessieren: intellektuell, streitbar und korrekturbereit. Die Freiheit als Motiv zur Politik ist ja kein geringer Anlass darüber nachzudenken, warum Menschenrechte, warum die Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen, immer erst auf die freie Organisation der Menschen angewiesen ist, bevor sie diese strukturiert. Die Idee der Freiheit ist auch ein probates Mittel gegen die fatigue de démocratie, an der viele unserer akademischen und politischen Gegenüber la1 10

S. dazu das Interview mit Antonia Grunenberg in diesem Band.

EINLEITUNG

borieren. Antonia Grunenberg atmet diese Herausforderung jenseits bürokratischer Zäsuren im Lebenslauf einer Professorin: Sie ist mittendrin im Sinn der Politik, in der Freiheit. Wir geben dazu ein Buch heraus, aus gutem Brauch und als sichtbare Ehrung. Wir meinen damit auch ein Zeichen zu setzen, wie in schwieriger Zeit das unaufdringliche Pathos im Werk von Antonia Grunenberg in die Zukunft weist. Ohne vielfältige Unterstützung hätte der Band nicht erscheinen können. Wir danken vor allem dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e. V. mit Sitz in Bremen, ebenso dem Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg für die finanziellen Zuschüsse. Am Zustandekommen dieses Buches haben neben den Herausgebern vor allem Oliver Bruns, Frank Büchel, Niklas Geiger, Christine Harckensee, Moritz Rinn, Sven Rößler und Ole Schulz mitgewirkt. Aber ohne die geistesgegenwärtige, unbürokratische Unterstützung und den Einsatz von Imke Voigtländer und Leiv Eirik Voigtländer wäre diese Festschrift nicht möglich gewesen. Ihnen gilt unser ganz besonderer Dank. Mai 2009

Waltraud Meints, Michael Daxner, Gerhard Kraiker

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I

Im Gespräch mit Antonia Grunenberg ∗ THOMAS KLEINSPEHN Thomas Kleinspehn: Frau Grunenberg, Sie gehören ja zu einer Spezies von Menschen, die in Deutschland dabei sind, so hat man zumindest den Eindruck, abzusterben, nämlich die Intellektuellen: Ein Wort, das man beinahe schon als Schimpfwort begreifen könnte in Deutschland. Warum ist das eigentlich so schwierig und wie geht es Ihnen damit? Antonia Grunenberg: Also, ich kann zunächst dieser Diagnose nicht zustimmen. Ich weiß sehr wohl aus Erfahrung, unter anderem auch an der Universität, dass der Druck auf solche Leute, die öffentlich und an den Universitäten denken und das Denken lehren, ungeheuer hoch ist und dass er noch wächst im Interesse einer vermeintlichen, sage ich, Anwendbarkeit von Hypothesen auf Praxis. Das ist ja die Konstellation. Ich bin auf der anderen Seite aber auch nicht der Meinung, dass die Intellektuellen, z. B. im 20. Jahrhundert, sich jetzt als eine besondere Spezies herausgebildet hätten, die der Nation etwas Besonderes immer zu sagen hätten. Dazu ist die Geschichte der Intellektuellen im 20. Jahrhundert zu problematisch und dazu haben sie, auf gut Deutsch, zu viel Mist gebaut. T. K.: Ja, aber man könnte doch, wenn man es mit den USA oder mit Frankreich vor allem auch vergleicht, stark eine Debatte beobachten, die es bei uns eigentlich kaum noch gibt oder nur noch sehr versteckt. A. G.: Es gibt sie versteckt, verdeckt, es gibt sie immer wieder, aber es gibt sie nicht als diesen konstanten Strom wie in Frankreich etwa. Frankreich hat ja eine große auch rhetorische Tradition und selbst wenn die Intellektuellen dort nicht immer zum Guten gedient haben, so ist doch dies Tradition, dass *

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Gespräch, das am 3. Mai 2009 im Nordwestradio gesendet wurde. Für den Abdruck wurde es verschriftlicht und anschließend von den Herausgebern geringfügig redaktionell überarbeitet. 15

THOMAS KLEINSPEHN

man denen, die das Wort gebrauchen, eine gewisse Achtung entgegenbringt. Das ist einfach da seit der Frühmoderne, während es bei uns immer wieder solche Wellen auch der Verachtung des Intellektuellen gibt. T. K.: Aber vielleicht schauen wir einmal genauer da hin, wie sozusagen Ihr Weg dazu gekommen ist, dass Sie jetzt doch in den letzten zwanzig Jahren sich immer wieder sehr engagiert auch zu vielen politischen Fragen und gesellschaftsrelevanten Fragen geäußert haben. Wie würden Sie denn Ihren eigenen Weg zur politischen Intellektuellen skizzieren? Wie kann man das beschreiben? Ich hab` nur so relativ nüchterne Daten gefunden, dass Sie Philosophie, Soziologie und Germanistik in Tübingen, in Frankfurt und in Berlin studiert haben in einer Zeit, wo ich denke: Da ist auch bald ein bisschen der Höhepunkt der Studentenbewegung. Sie sind dann in Bremen gewesen und jetzt schließlich in Oldenburg in den letzten zehn Jahren. Das ist aber ja nur ein äußerer Rahmen. Was hat Sie bewegt – auch zu dieser sehr politischen Seite? A. G.: Als ich von zu Hause wegging, war mir eines klar: Ich wollte es wissen. Ich wollte etwas erfahren. Ich konnte das nicht so besonders beschreiben, was das denn sein sollte. Aber ich hatte eine große Neugier, und ich wusste, dass die im Bereich der Gesellschaftstheorie und der Philosophie liegt. Hinzu kam eine Motivation, das hätte mich aber genau so gut zu etwas anderem motivieren können… ich wollte zum Beispiel auf keinen Fall Lehrerin werden. Was bin ich geworden? Lehrerin! Natürlich nicht nur, aber… Auf der anderen Seite kommt dann natürlich auch hinzu, welchen Leuten man begegnet. Das prägt einen. T. K.: Und wem sind Sie besonders begegnet? A. G.: Ich kann eine Reihe von Leuten nennen. Dazu gehört der alte Ernst Bloch. Ich bin nach Tübingen gekommen, als er gerade zwei Jahre da war. Dazu gehören Theodor W. Adorno. Dazu gehört Jürgen Habermas, Oskar Negt und dazu gehört Jacob Taubes. Und die haben mich, jeder in seiner Weise – Margaretha von Brentano gehört da übrigens auch dazu – ein Stück weit begleitet, zeitweise auch beeinflusst. Aber ich hab’ das Glück gehabt, dass ich mich nie zufrieden geben wollte mit der Position einer Schülerin. Von daher hab’ ich mich dann auch immer wieder gelöst. Und ich merke jetzt in meinem neuen Projekt, auf das wir sicher am Schluss noch mal kommen, dass ich wieder zurückkehre – auch zu Fragestellungen, die mich mit bestimmten Leuten, unter anderem eben mit Bloch und jetzt Georg Lukács, verbinden. Also einerseits – kurze Antwort auf Ihre Frage – einerseits war eine Motivation da,

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IM GESPRÄCH MIT ANTONIA GRUNENBERG

aber die war völlig offen und hätte mich auch ins Filmgeschäft führen können. Und auf der anderen Seite standen Leute am Weg, denen ich zugehörte. T. K.: Aber Sie sagen, nicht unbedingt als Schülerin, sondern, so verstehe ich das jedenfalls erstmal, als Jemand auf Augenhöhe, also relativ schnell auch mit eigenen Fragen. Ist es so gewesen oder verstehe ich das falsch? A. G.: Sie verstehen das völlig richtig. Für mich war die Schule ein einziges Zuchthaus. Ich borge dieses Wort von Ernst Bloch. Aber als er das seinerzeit in Tübingen aussprach, war das für mich wie ein Akt der Befreiung. Und damit war ich sozusagen frei für die Welt. Ich hab’ in der Schule sehr gelitten und von daher konnte sich meine Motivation auch nicht besonders spezifisch ausprägen. T. K.: Und Sie haben ja jetzt im Grunde mit den Namen, die Sie genannt haben, eigentlich auch schon die Stationen noch mal, mit einem anderen Namen sozusagen, belegt und mit Inhalten. Aber das endet ja erstmal dann, mit dem ersten Abschnitt in Berlin, wenn ich das richtig sehe. Da haben Sie promoviert. A. G.: In Berlin habe ich promoviert. T. K.: Auch bei Taubes? A. G.: Ja. T. K.: Was war denn da das Thema? Ist das sozusagen was, was diese drei Orte zusammenfasst oder hat das eher was mit Taubes zu tun? A. G.: Taubes war die Arbeit zu wenig philosophisch. Es war eine sozialphilosophische Arbeit, die eigentlich aus meiner Zeit davor hervorging, also aus der Tübinger und der Frankfurter Zeit, nämlich eine Arbeit über die Sozialphilosophie im frühen 20. Jahrhundert am Beispiel eines bedeutenden und umstrittenen Philosophen, nämlich Georg Lukács. Und Taubes hätte, glaube ich, lieber eine Arbeit über Hegel und die damals gängige Kojève-Interpretation gehabt oder eine Arbeit über die jüdische Geistesgeschichte, was ich damals, obwohl Georg Lukács dazugehörte, eher weniger beachtet habe. T. K.: Aber was hat Sie an Lukács gereizt? Das war ja schon jemand, der nicht zum Mainstream der Marxistischen Diskussion gehört hat, sondern eben auch ein Stück, ich will nicht sagen Außenseiter, aber doch jemand, der ja das

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THOMAS KLEINSPEHN

von der anderen Seite und in manchen Punkten weniger dogmatisch gesehen hat. A. G.: Ja, ich komme jetzt erst – beim erneuten Lesen – darauf, klarer zu erkennen, was mich damals so beeindruckt hat. Nicht nur ich, sondern ganze Gruppen von Leuten um mich herum haben damals „Geschichte und Klassenbewusstsein“ gelesen, das Hauptwerk des frühen Lukács, in dem er eine Art Geschichtsphilosophie revolutionären Handelns ausbreitet. Einige hat das sehr beeindruckt und andere lasen das eher kritisch. Man muss das in dem Kontext sehen, dass diese Generation, zu der ich gehöre, sich unter diesem ganzen Nazi- und postnazistischen Müll ihre Vergangenheit, ihre geistige Vergangenheit, ihre intellektuelle Vergangenheit, überhaupt erst wieder freischaufeln wollte. So würde ich das heute einordnen. Und so würde ich auch diese überstarke Identifizierung mit den Intellektuellen der Weimarer Republik, die von uns ausging, den Nachgeborenen, interpretieren. Und damit natürlich, sag’ ich auch, dass das eine Einstellung war, die historisiert werden muss, die in den historischen Kontext gestellt werden muss und damit sind wir bei der Studentenbewegung. Denn das war ganz eindeutig diese ganze Lektüre dieser Weimarer Intellektuellen, auch das Ausspielen der frühen Texte von Horkheimer gegen die späten, der frühen Texte von Adorno, der frühen Texte von Benjamin gegen die späten Texte. Das diente alles dazu, eine Art Anschluss zu finden an diese revolutionäre, die Welt neu erfindende, den Menschen neu erfindende Bewegung zu Anfang des Jahrhunderts. Die Gewalttätigkeit, die in diesem Projekt des Neumachens steckt, ist nicht allen und auch mir am Anfang nicht klar gewesen. Diese Fragestellung der Neuerfindung des Menschen, der Neukonstituierung von Gesellschaft, hat auf uns eine große Faszination ausgeübt. T. K.: Aber ich glaube, das mit dem Gewalttätigen müssen Sie noch ein bisschen erklären. Das ist mir jetzt nicht sofort eingängig, warum dieser Rückgriff auf die frühen Schriften von Lukács, Adorno, Bloch, Horkheimer, warum das für Sie was Gewalttätiges hat oder habe ich das jetzt missverstanden? A. G.: Ich hab’s wahrscheinlich nicht klar genug gesagt. Die Schriften selber greifen eher ganz indirekt ein, in diesem revolutionären Aufbruch verborgenes, gewalttätiges Element auf. Ich denke schon, dass man heute, wenn man auf diese Faszination des Revolutionären und der tabula rasa blickt, von der aus man dann neu anfangen kann, dass man da diesen Aspekt der inhärenten Gewalttätigkeit auch im Denken mit berücksichtigen muss. Nicht im Sinne von moralischem Verurteilen, von `Um Gottes willen, was für böse Menschen waren das damals`. Sondern einfach in der Kontextualisierung dessen, was damals passiert ist und in der Suche nach auch mentalitätsgeschichtlichen, 18

IM GESPRÄCH MIT ANTONIA GRUNENBERG

geistesgeschichtlichen Hintergründen und Ursprüngen für – lassen Sie es mich mal moralisch oder moralisierend sagen – das Versagen der Intelligenz vor dem Nationalsozialismus. Dazu gehört diese gewaltige Selbstermächtigung des Denkens am Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir können alles anders machen. Und die, die es uns vormachen, die sind da drüben in der Sowjetunion, die dies uns vormachen, waren unsere Brüder in der französischen Revolution, wir machen das auch. T. K.: Aber gleichzeitig haben Sie ja mit dem Thema erst angefangen, das Sie gesagt haben, es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich und jetzt verstehe ich Sie so, dass Sie sagen, es gehört eigentlich beides zusammen. Man kann den Nationalsozialismus ohne – ja, die Zwanziger, Dreißiger Jahre eigentlich nicht wirklich verstehen und indem Sie darauf zurückgreifen, kommt es da zusammen. A. G.: Ja, das würde ich schon so sagen. Nur mit – T. K.: Das ist ja die größere Gewalttätigkeit eigentlich. A. G.: Nur mit der Differenz, dass – was ist die größere Gewalttätigkeit? T. K.: Ja, der Einstieg des Zweiten Weltkriegs ist natürlich eine Form von – A. G.: Ja. T. K.: – Gewalt, die man jetzt nicht einfach überspielen kann. A. G.: Nein, das fängt ja schon viel früher an. Sie müssen in die Dreißiger Jahre in die Sowjetunion gehen. Das ist ja die andere Seite des Horizonts. Ich nähere mich diesem Komplex immer etwas bedenklich, weil ich nicht die Auffassung unterstütze, die linear vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in das Jahr 1933 in Deutschland führt, weil ich glaube, dass man damit eine ganze Generation von Intellektuellen im Nachhinein entmündigt und ihnen die Verantwortung abspricht. Es gab sehr wohl auch Kreuzungen, wo die Wahl bestand, so oder so zu handeln und es gab auch damals schon eine Verantwortung dafür, was man tut. Also, ich sehe das Tableau in der Weimarer Republik viel offener, aber ich sehe auch, dass wir unter der Bürde leben, dass wir Diejenigen sind, die nach dem Holocaust geboren sind. Das ist unser Dilemma. T. K.: Und das war eigentlich auch für Sie die Frage, die Sie beschäftigt hat, mit der Wende und dem Ende der DDR und dem Ende dessen, was man Ostblock oder kommunistischer Machtblock oder wie auch immer nennen will. 19

THOMAS KLEINSPEHN

Auch da ist ja im Grunde, was Sie ja zunächst einmal kritisiert haben, die Frage des Antifaschismus, also sozusagen als Anti-Haltung. A. G.: Ich muss dazu sagen, das ist ein polemischer Essay zur Diskussion und dazu hat er auch geführt, bis hin zu doch ziemlich unflätigen Angriffen, aber das muss man mittragen, und es sollte vor allen Dingen dazu dienen, die Debatte zu öffnen und zu sagen, welche geistigen Potentiale steckten da drin und welche vielleicht unfreiwillige Verdeckung von gedanklichen Abgründen sind da drin verborgen? Das war mein Motiv und ich hab’ sozusagen die andere Seite dieses wunderbaren Mythos, dass die Deutschen, die nun keine republikanische Tradition haben und nur eine ganz schwache demokratische Tradition, dass sie wenigstens diese antifaschistische hätten und das fand ich etwas verquer. T. K.: Ich würde uns gerne eine kleine Gedenkpause gönnen. Sie haben sich ja, wie das zu dieser Sendung gehört, drei Musikstücke ausgesucht. Das erste ist von Johann Sebastian Bach, das Eingangsstück aus den GoldbergVariationen und ich hab’ die frühe Fassung mit Glenn Gould ausgewählt. A. G.: Sehr schön. [Musik] T. K.: Zu Gast in der Gesprächszeit im Nordwestradio ist heute Antonia Grunenberg. Frau Grunenberg, was fasziniert Sie an Bach, an diesem Stück vielleicht besonders? A. G.: Das ist erstens ein Stück, das mich seit Jahrzehnten begleitet und das ich immer wieder neu höre. Ich vermute, das geht nicht nur mir so. Und zum zweiten ist es verführerisch, gerade diesem Stück – aber es gibt natürlich auch andere, wie die Kunst der Fuge zum Beispiel – eine Art Parallelität zu dem abzugewinnen, was im Denken vor sich geht. Im Denken, was ja immer ein Denken mit sich selbst ist und in gewisser Weise selbst, wenn es schweigend stattfindet, ein Sprechen mit sich selbst. Und dieses Aufeinander bezogen sein der Rede und der Gegenrede, des Themas und des basso continuo, was sich dann aus der Rolle des Continuo löst und in das Dialogprinzip einmündet, das finde ich an Bach eben so reizvoll. T. K.: Das hat ja vielleicht auch was mit Hannah Arendt zu tun, der Autorin, mit der Sie sich schon besonders lange beschäftigen und die eine große Rolle in Ihrer Arbeit spielt. Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, sich so intensiv mit Hannah Arendt zu beschäftigen? 20

IM GESPRÄCH MIT ANTONIA GRUNENBERG

A. G.: Dafür gibt es – wie fast immer – mehrere Beweggründe. Der eine, den ich erst jetzt eigentlich sehe, ist, dass ich mich durch mein ganzes intellektuelles Leben hindurch eigentlich mit der Freischaufelung des deutschen Erbes beschäftigt habe. Und dazu gehört natürlich auch Hannah Arendt. Das zweite ist: Die Frau war als Denkerin immer eine Unbekannte, die im Hintergrund stand, während meines Studiums, auch während langer Jahre danach. Man wusste, dass es sie gab – ich teilte den Vorbehalt gegen das große Totalitarismus-Buch, weil auch ich der Meinung war, dass man weder strukturell noch historisch noch sonst irgendwie die totalitäre Geschichte der Sowjetunion mit der von Nazi-Deutschland und Westeuropa in irgendeine Beziehung setzen dürfe. Und ich hatte ein Radio-Interview mit ihr gehört, aber den großen – wie soll ich sagen – den großen Pusch in Richtung darauf, dass jetzt ihre Zeit gekommen ist, posthum noch einmal ihre Zeit gekommen ist, den habe ich mit 1989 empfunden und mit – oder es ist mir bewusst geworden – und mit dem nun auch offiziell für jedermann sichtbar, hörbar, fühlbar, dem Abdanken eines gewissen verknöcherten Marxismus, den wir ja in der DDR vor Augen und Ohren hatten und der ja da eine Form angenommen hat, wo es nicht mehr ums Denken, sondern nur noch ums Dogma geht, ums starke Dogma. T. K.: Kommt da in gewisser Weise das zusammen, worüber wir vor der Musik gesprochen haben, nämlich sozusagen das Stück, das unabhängige Denken, was Sie ja auch bei Lukács gesucht haben, was Sie ja auch vielleicht bei Bloch und Taubes gesucht haben und hier jetzt noch mal sehr viel politischer, vielleicht noch zugespitzt? Oder ist da noch eher ein Weg raus aus diesem Denken für Sie? A. G.: Also Arendt ist ein anderes Kaliber. Und zwar deshalb, weil sie mit der Erfahrung des Holocaust im Rücken geschrieben hat. Und die anderen haben mit dem Optimismus der Aufbruchsgeneration vor und noch ein bisschen nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Aber es gibt ein – wenn man so will – analytisches Prinzip, das haargenau auf diese Zeit um 1989 herum passte und das war, dass sie ihr Denken an die Ereignisse dieser Zeit bindet und auf diese Ereignisse antwortet. Das heißt, es ist nicht nur eine Theorie des Typus ‚nun denken wir uns mal ein theoretisches System aus’, sondern sie arbeitet mit Brüchen, sie arbeitet, wenn man so will, lassen Sie mich diese Metapher mal gebrauchen, sie arbeitet in diesem Hotel Abgrund, an dem die sich alle befunden haben, und arbeitet mit dem Gesicht zum Abgrund. Und hat gleichzeitig einen unglaublichen Mut, das Wort ‚Neubeginn’ in den Mund zu nehmen und zu versuchen, mühsam kategorienweise diesen Neubeginn vorzubereiten. Und das ist eine ganz große Leistung, die sich natürlich wahrzunehmen anbot in 1989.

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THOMAS KLEINSPEHN

T. K.: Aber ich versuche immer noch ein bisschen die Brücke zwischen Hannah Arendt und Antonia Grunenberg zu finden. Wenn ich mir vorstelle, dass Sie sich jetzt, wenn ich mal grob rechne, zwanzig Jahre lang so intensiv mit dieser einen Autorin beschäftigen, ich unterstelle natürlich, wie mit vielen anderen auch, aber sie steht doch sehr im Mittelpunkt und die Frage ist immer noch für mich: Was fasziniert Sie so an ihr? Oder ist das sozusagen Ihre Begleiterin, mit der Sie imaginär sich ständig auseinandersetzen und einen eigenen Weg finden? Oder versuchen Sie sozusagen, das noch hoch zu holen, was vielleicht von Hannah Arendt verloren geht und wert wäre, in der Gegenwart aufrecht erhalten zu bleiben? A. G.: Diese Geschichte mit dem Verlorengehen, da sind wir gleich bei der Edition, aber vielleicht kann man diese Frage etwas später noch mal aufbringen – also, was hat mich daran fasziniert? Das ist die andere Art des Denkens, das ist die Gebundenheit an die Welt, in der das Denken stattfindet und nicht das Sichloslösen von der Welt. Es ist natürlich auch der Umstand, dass das eine Frau war und eine von ganz wenigen im Zwanzigsten Jahrhundert, von den anderen reden wir gar nicht. Also, dass das eine Frau war, die mit viel Mut – und zwar Mut zu handeln und Mut zu denken, sich quasi in die Öffentlichkeit geworfen hat und mehrfach geschlachtet worden ist, symbolisch gesagt. Und die eine Analyse, zum Beispiel der Ursprünge und Hintergründe für das Aufkommen der totalen Herrschaft in Europa, geliefert hat, die ich einzigartig finde, obwohl alle ihre Kollegen, die mit ihr und nach ihr und vor ihr ausgewandert sind und vertrieben wurden von hier, Ähnliches gemacht haben. Die haben sich ja alle in den Vierziger Jahren mit dem Faschismus, dem Nationalsozialismus, der totalitären Herrschaft beschäftigt. Aber sie hat die Analyse münden lassen in die Fragestellung: Was geschieht nach diesem Ende der Tradition, das diese totale Herrschaft darstellt? Wie sind überhaupt die Bedingungen für einen Neuanfang? Und das finde ich eine faszinierende Fragestellung. Denn, wie wir alle wissen, ist es realgeschichtlich ja so gelaufen, dass wir trotz der Anerkennung eines gewissen Bruchs in unserer Tradition dennoch fortgefahren sind, als wenn es diesen Bruch nicht gegeben hätte. Also, das Wiederaufleben der Moralphilosophie nach dem Zweiten Weltkrieg. Und wir haben versucht, wie man das auch mit den materiellen Trümmern tat, so auch mit den geistigen, das wieder aufzubauen. Und Arendt schlägt eben einen anderen Weg ein und endet in einer Theorie des politischen Raumes, in dessen Zentrum steht, dass die permanente andauernde Regeneration des öffentlichen Raumes eine zentrale Vorbedingung für das erfolgreiche Wirken von Demokratien ist.

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IM GESPRÄCH MIT ANTONIA GRUNENBERG

T. K.: Können Sie das noch ein bisschen erläutern? Das scheint mir sehr zentral zu sein – auch für Ihr Verständnis von Hannah Arendt: Was heißt das, Regeneration des öffentlichen Raumes? A. G.: Ja, das ist gar nicht so einfach zu erklären, weil das ja alles Begriffe sind, die längst anders besetzt sind. Also die Grundthese heißt: Ein politisches Gemeinwesen lebt von den Erneuerungskräften, die es in sich hat. Wenn wir in die amerikanische Revolution gehen, um ein Beispiel zu suchen, dann waren die sogenannten Gründungsväter immer darauf bedacht, dass die Bindung dessen, was die in Washington machten und was die an der Spitze jedes Staates machten, an das einzelne Dorf, an die einzelne Wählergemeinschaft, nicht verloren ginge. Und für Arendt ist dieser Gründungakt, dass Menschen sich entschließen, eine politische Gemeinschaft zu bilden, die Quelle der Erneuerung. Nun ist natürlich zu fragen, wie kann diese denn vor allen Dingen in der Moderne, wo erstens alles immer mehr verrechtlicht wird und zweitens die Vervielfachung der institutionellen Verankerung von Demokratien auch aus guten Gründen, aber auch aus weniger guten Gründen, eher diese Erneuerungskräfte überdeckt, wie kann so ein Impuls überhaupt wieder aufgenommen werden? Dafür gibt es keine Theorie in dem Sinne, man nehme folgende Zutaten und dann kann man regenerieren, weil es auch einen Moment des Zufälligen hat. Aber wir waren sicher – Sie und ich – in der glücklichen Lage, dass wir zum Beispiel seit den Achtziger Jahren in Mittel- und Osteuropa diese Regenerationsbewegung miterleben konnten. In manchen Ländern war sie nicht stark genug. Manche kämpfen heute noch immer damit, dass es gelingt und ob es gelingt. Aber dieser geschichtliche Moment, in dem das Handeln von Menschen und der Wille und die Absicht, ein demokratisches Gemeinwesen zu gründen, mit der Gunst der Stunde zusammenkommt, das ist der Ort, an dem dann die Regeneration entsteht. Das heißt, es ist keine Theorie für den Alltag. Aber noch mal gesagt, eine jegliche Demokratie – und sie hat ja den republikanischen Typus, der ganz stark an das Handeln, Zusammenhandeln der Bürger, gebunden ist – ist geneigt, sich im Alltag der Institutionalisierung und Bürokratisierung zu verlieren, und es gilt, die Momente wahrzunehmen, in denen dieses Zusammenhandeln der Bürger, also etwa auch in Momenten der Gefahr, also der Gefahr einer Überhandnahme des Rechtsradikalismus, der Gefahr eines Putsches oder etwas Ähnlichem, in dem Moment muss die Demokratie diese Regenerationskräfte aufbringen. Und wenn sie das nicht tut, wie in der Weimarer Republik, dann sieht’s schlecht aus. T. K.: Und das heißt also, Regeneration würde dann vor allen Dingen bedeuten, eine Bewegung von unten, und nicht eine Beschlussebene auf parlamentarischer oder Verwaltungsebene. Und das ist der entscheidende Unterschied.

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A. G.: Ja, das ist der entscheidende Unterschied, dass in solchen Momenten sich Bürger aufeinander beziehen. Das ist keine harmonische Theorie, oder Theorie des ‚lasst uns doch alle zusammen kommen‫ދ‬. Da sind Konflikte inbegriffen, aber die entscheidende Bedeutung liegt auf dem Zusammen für Etwas, was außerhalb ist – in der Antike das summum bonum oder das Dritte, auf das man sich bezieht – und um das wir jetzt in der Moderne immer herumkreisen, weil wir den lieben Gott etwas weiter gerückt haben. T. K.: Sie sprechen im Zusammenhang mit Hannah Arendt immer wieder davon – und Sie haben es vorhin auch noch mal gesagt – dass Sie das jüdische Erbe von ihr ein Stück retten wollen oder insgesamt retten wollen. Was bedeutet das eigentlich für Sie? Ist das für Sie auch ein biographischer Hintergrund oder haben Sie da einen anderen Zugang? A. G.: Das ist, glaube ich, ziemlich komplex. Es gibt diesen biographischen Hintergrund – ich hab’s ja vorhin angedeutet – dass wir uns in meiner Generation auf wenig Vorbilder beziehen konnten. Und es bot sich einfach an, an die Generation unserer Lehrer, die diese Zeit noch erlebt hatten oder deren Lehrer, anzuknüpfen. An was sollte man sonst anknüpfen? Nur wenn ich sage, jüdisches Erbe, dann muss ich gleich dazwischen fahren und sagen, das Wort Erbe, das suggeriert eine Kontinuität und eine Tradition und ein Erbe, was man antreten kann. Mir wird – je tiefer ich da einsteige, ich hab’ das ja auch in diesem Buch über die Schuld angedeutet – immer deutlicher, was eigentlich alles verloren gegangen ist – unwiederbringlich. Welcher Reichtum – sagen wir von 1900 bis Ende der Zwanziger Jahre – welcher ungeheure Reichtum übereinander lag: sich Aufeinanderbeziehen von jüdischem Messianismus, politischer Theorie, geistesgeschichtlichem Denken, kulturellem Denken, Anthroposophie, Theosophie, also, es war alles da und alle haben sich auf alles bezogen. Und da ist eben ganz viel weggebrochen, was nicht mehr einholbar ist, aber man kann die Spuren sichern und das ist das, was ich tue. Weil ich der Meinung bin, dass da auch Reichtümer und Ansätze verborgen sind, auf die man sich unter Umständen doch mehr beziehen kann. T. K.: Das ist vielleicht ein schöner Übergang zu dem, was wir jetzt im dritten Teil unseres Gespräches besprechen würden, nämlich Ihre Arbeit am Hannah Arendt-Zentrum in Oldenburg. Wir hören aber erst noch mal ein zweites Musikstück, das Sie sich ausgesucht haben, diesmal von Schostakowitsch. Es ist die „Jazz-Suite Nr. 1“. [Musik]

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T. K.: In der Gesprächszeit im Nordwestradio ist heute zu Gast Professorin Antonia Grunenberg, Leiterin des Hannah Arendt-Zentrums an der Universität Oldenburg und dort Professorin für Politikwissenschaft. Aber bevor wir jetzt zu Hannah Arendt und dem Zentrum kommen, würde ich Sie doch noch mal ganz gerne fragen, was Sie mit dieser Musik von Schostakowitsch, die wir gerade gehört haben, verbinden. A. G.: Was wir gerade gehört haben, war natürlich ein Gassenhauer, der vielfach abgenudelt ist, aber er gehört zu meiner relativ neuen SchostakowitschRezeption dazu. Ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten, auch deshalb, weil ich wenig wusste davon, welche Kämpfe der eigentlich mit sich ausgefochten hat in der Zeit von Stalins Herrschaft und habe mir nach und nach über seine Streichquartette seine Musik erobert. Ich höre mir auch seine Symphonie in den großen Sälen an und finde, dass an seinem Musikerschicksal sehr deutlich wird, in welche existentiellen Konflikte jemand kommt, der ein Vollblutnicht nur Musiker sondern musikalischer Denker ist, der sich dann in einer politischen Ordnung wiederfindet, die ihm diese Eigenwertigkeit der Musik eigentlich wegnehmen will. T. K.: Und da gäbe es ja durchaus auch wieder Parallelen zu den Autoren, über die wir jetzt gesprochen haben und speziell auch zu Hannah Arendt. Man könnte durchaus sozusagen von dem Grundmuster, von der Grundform des Herangehens sprechen, auch wenn es hier einmal um Philosophie und politische Theorie geht und zum anderen um Musik. Es ist aber durchaus was Ähnliches. Wahrscheinlich würde man in der Kunst auch was Paralleles finden. A. G.: Ja. Davon gehe ich aus. Ich gehe auch nicht davon aus, dass politisches Denken oder Theorie, Musik und Kunst getrennte Ebenen der Kultur sind. Das kann man auch seit Ende des 19. Jahrhunderts sehr schön beobachten an diesen Denkern, die dann so bis Ende der sechziger Jahre wirken, wie sehr das ineinander wirkt; in Blochs erstem Buch legt er eine Art musikalisches Programm vor. Bloch war ein – wenn man so will, ein musikalischer Denker. Sie können Hannah Arendt nicht verstehen, wenn Sie nicht auch ihre Rezeption der Dichtkunst mit hinzunehmen. Und das Prinzip des Erzählens. Sie analysiert ja nicht. Das ist ja keine technische Wissenschaft im Sinne unserer heutigen Sozialwissenschaft. Das ist ja ein Erzählen im antiken Sinne, in dem Sinn von ‚Ich gebe etwas weiter. Ich erzähle, wie es war’. Und da alle anderen auch erzählen, wie es war, ist da irgendwo die Wahrheit darin, die ich nicht habe, aber die irgendwo dazwischen mit überliefert wird. Das ist ja das Prinzip.

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T. K.: Aber mit dieser kleinen Spitze zur heutigen Sozialwissenschaft sind wir im Grunde mitten in dem Thema des Hannah-Arendt-Zentrums, das Sie gegründet haben an der Universität Oldenburg in einer Zeit, in der die Universität ja noch relativ stolz darauf war, Carl von Ossietzky Universität zu heißen und damit auch was signalisiert hat. Das Ossietzky-Erbe, Tucholsky und einige andere. Und da haben Sie sich mit diesem Hannah-ArendtZentrum eingeordnet. Da möchte ich Sie zunächst einmal fragen: Was findet man da, wenn da hin kommt zu Ihnen in das Zentrum? A. G.: Man geht zunächst auf die Web-Site, die nicht immer gut gepflegt ist, aber immer besser wird, und orientiert sich und liest dort, dass der Kern des Zentrums das Archiv ist. Und in diesem Archiv befindet sich eine vollständige Kopie des gesamten Nachlasses von Arendt, der in der Library of Congress aufbewahrt wird. T. K.: In Washington. A. G.: In Washington, ja. Das war damals eine Wahnsinnsaktion. Für drei Monate bin ich mit einer Mitarbeiterin nach Washington geflogen und wir haben das mit Hilfe örtlicher Arbeitsinitiativen kopiert – etwa 96.000 Blatt – und haben das hierher gebracht. Der Sinn des Herbringens hatte, neben dem symbolischen Akt, dass der Nachlass einer deutschen Denkerin, die vertrieben worden ist, auch in Deutschland präsent sein muss, auch einen ganz praktischer Hintergrund: Es bestand damals schon der Plan, eine kritische Edition zu machen. Und jetzt komme ich auf einen Gedanken, den Sie schon einmal geäußert haben, zurück: eine kritische Edition zu machen, weil die Texte dieses Schreibens und dieses Darlegens von historischen Zusammenhängen natürlich verschwinden, auch die ganzen Referenzsysteme, mit denen so eine Autorin arbeitet. Die sind ja ungeheuer eng und manchmal auch schlampig belegt und so weiter und so fort. Also, da muss man ein paar Hilfsmittel haben, um überhaupt zu verstehen, wie sie etwas meint, denn, wenn da steht ‚Bürger‘, dann heißt das nicht, dass das der Bürger ist, den wir so in unserem Alltagsverstand gebrauchen, da sind bestimmte Konnotationen damit verbunden. Oder wenn sie sagt ‚Freiheit‘, dann muss man wissen, – dass sie sich stark auf Kant stützt und auf Montesquieu. Dazu soll eben diese kritische Edition dienen, – in einem bescheidenen, die Leser und Leserinnen befähigenden Umfang und nicht in einem Totschlag-Umfang –, diesen Kontext zu geben, um diese Texte zu verstehen. T. K.: Aber wenn wir uns so in den letzten 10 Jahren immer mal wieder getroffen haben und darüber gesprochen haben, habe ich immer wieder gehört,

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dass es da sehr große Wellenbewegungen gibt bei der Vorbereitung und dass Sie auch sehr viele Hindernisse haben. A. G.: Ja. T. K.: Wie ist denn der Stand jetzt oder wie hat sich das denn entwickelt? A. G.: Der Stand jetzt ist sehr gut, aber anders als gedacht. Wir haben angefangen mit dem Projekt einer kritischen Ausgabe des veröffentlichten Werks und sind jetzt dabei, in Kooperation mit noch zwei anderen Institutionen, einen Förderungsantrag zu stellen für den Nachlass, also für die unpublizierten – und unpubliziert heißt, von der Autorin nicht publizierten Schriften – und das geht von einem Jugendtext, der an Martin Heidegger gerichtet ist, bis hin eben zu Begleitschriften zu ihren großen Büchern, zu Vorträgen, zu Vorlesungen, zu Notizbüchern etc. T. K.: Und dafür gibt es schon einen Verlag? A. G.: Dafür gibt es einen Verlag. Soll ich den jetzt nennen? T. K.: Können Sie! A. G.: Dafür gibt es einen angesehenen Verlag. Ich denke, dass der GruyterVerlag dafür die richtige Adresse ist. T. K.: Das heißt, es bündelt sich jetzt doch mehr, als es vielleicht vor ein, zwei Jahren noch klang? A. G.: Ja. Das ist wahr. Aber es bündelt sich nur deshalb, weil wir uns jetzt noch Kooperationspartner gesucht haben. Unser Antrag auf Förderung wird unterstützt und mitgetragen von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und von zwei Personen am Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität. Und wir hoffen, dass wir in dieser Konstellation das Kind geschaukelt kriegen. T. K.: Aber bei diesen Gesprächen, die ich eben angedeutet habe, kam auch immer wieder die Frage auf: Ist Hannah Arendt für Studenten heute eigentlich noch vermittelbar, ist sie aktuell? Oder retten Sie jetzt sozusagen vergangenes Erbe und dann es ist auch vorbei? A. G.: Bevor der Bachelor kam, habe ich einige Seminare gegeben mit einzelnen Texten von Arendt und habe die Erfahrung gemacht, dass es ein Kal27

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varienberg ist für die Studenten, dass es also ungeheuer mühsam ist, dass sie z. T. ganz wütend und ärgerlich werden, weil das nicht so – wie wir das als Wissenschaftler gewohnt sind – abgeleitet ist, systematisch von A bis Z und logisch noch dazu usw., sondern weil sie eben diesen erzählenden Gestus hat und ich habe die Erfahrung gemacht, dass es bei denen, die irgendein Interesse schon gefasst haben am politischen Denken, wie ein Türöffner wirkt, ein Türöffner zu einer anderen Welt. Und diese beiden Erfahrungen, die haben mich eigentlich begleitet. Hannah Arendt im Bachelor-Studium, so wie es heute konstruiert ist, zu machen, ist Schwachsinn. Das würde ich auch keinem empfehlen. Ich mache es auch selbst nicht. T. K.: Aber Sie haben immer noch die Hoffnung, dass es trotzdem Nischen und Ecken gibt, wo man es machen kann. Wo Studenten zu finden sind, die das als Türöffner… A. G.: Es wird dann interessant, wenn genügend Grundlagen vorhanden sind, um diesen Ansatz überhaupt verstehen zu können. Es gibt ja Hunderte von Veröffentlichungen darüber, wo man den Eindruck hat, die Leute haben nicht kapiert, um was es da geht. Es wird nur dann Erfolg haben, wenn ein gewisses Interesse an einem Bereich vorhanden ist, der über die Welt der Universität und der akademischen Theorie hinaus geht, nämlich in die Welt des öffentlichen und des politischen Denkens. Nicht nur des politikwissenschaftlichen Denkens, sondern des politischen Denkens. Wenn das vorhanden ist und wenn sozusagen kein Block aufgebaut wird gegen die Hypothese, dass es eine gewisse Beziehung gibt zwischen dem Denken einer Zeit und den Ereignissen einer Zeit und dass es da Referenzen gibt, wenn auch keine einseitigen, dann denke ich, kann das eine große Rolle spielen und dann kann sich das Interesse entzünden. Wer beispielsweise über Kants Rechtskonstruktion und dessen Bindung mit dem Freiheits- und Vernunftbegriff schreibt oder denkt oder seine Examensarbeit macht, der braucht nur drei Schritte zu machen und er ist in der Arendt’schen Welt der Beziehung auf Kant und des Versuchs, das weiter zu entwickeln. T. K.: Aber mir scheint das manchmal geradezu absurd zu sein bei einer Autorin, die eben gerade das, was Sie Referenzen nennen, also die Beziehung zwischen Theorie und Leben und Konflikte, im Leben so stark herstellt, dass sie gerade im Bachelor, der ja eigentlich auch antritt, diese Referenz herzustellen, dass die gerade da keinen Ort haben sollte? A. G.: Das finde ich eine wunderbare Frage, aber Arendt hat dort den Ort nicht, weil das natürlich die heutige sozialwissenschaftliche Theorie ist, dezidiert anti-historisch, und das ist altes Zeug für die. Natürlich gibt es immer 28

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Solche und Solche und an anderen Universitäten sieht es noch anders aus. Es gibt auch diejenigen, die Theorie nicht nur als Ideengeschichte betreiben. Aber wenn ich Oldenburg ansehe, würde ich das so sagen. Und wenn ich das richtig verstanden habe, steht ja auch infrage, ob überhaupt im BachelorStudium große Quellenlektüre – und ich würde die Arendt’schen Texte als Quellen sui generis bezeichnen – gemacht wird oder ob es nicht funktionaler ist, die Studenten zunächst so zu präparieren, dass sie Überblickswissen gewinnen – und zu den Überblicken gehört die Arendt ganz bestimmt nicht. T. K.: Wie geht denn Ihre Arbeit jetzt weiter? Im Augenblick steht ja so eine Umstrukturierung im Zentrum an, wenn ich das richtig verstehe und Sie werden in absehbarer Zeit auch ihre Lehraufgaben an der Universität aufgeben. A. G.: Ja, Umstrukturierung insofern, als wir an einer Zusammenfassung und Neustrukturierung der Archive basteln, die Oldenburg hat. Dazu gehört Tucholsky, Ossietzky, dazu gehört Hannah Arendt, dazu wird der Neuerwerb der Jaspers-Bibliothek gehören, dazu wird eine Sammlung zu Adorno und auch zu Habermas gehören. Das macht Sinn, dass man das bündelt, vor allen Dingen in Zeiten, die doch eher unter anderen Auspizien stehen, als denen einer lebendigen Aneignung vergangener Theorien. Und das Zweite ist, dass das Zentrum viel besser aufgehoben ist an einem philosophischen Institut als an dem sozialwissenschaftlichen Institut. Ein solches Institut oder Zentrum muss im Kontext dessen, was man früher die geisteswissenschaftliche Fakultät nannte, sein. T. K.: Ich wollte mit meiner Frage auch ein bisschen wissen, was Sie weiter vorhaben in den nächsten Jahren. A. G.: Ich bin involviert, und zwar heftig, in die Edition. Das ist ja kein Hemd, das man einfach so auszieht. Wir sind im Moment dabei, das Netz, dessen Kern in unserer Oldenburger Arbeitsgruppe besteht, auszubauen und auch auswärtige Editorinnen und Editoren noch dazu zu gewinnen und einen amerikanischen Mitherausgeber und französische und italienische Mitherausgeber, also: Das soll eine Ausgabe werden, deren ganze Konstruktion auch dem, was diese Arendt war, ein bisschen gerecht wird. Und sie war ja nun wirklich eine Weltbürgerin. T. K.: Wir hören zum Schluss noch ein Stück von Miles Davis, „Concierto de Aranjuez“. Das gibt es auch in anderen Fassungen. Sie haben aber speziell Miles Davis ausgesucht. Warum?

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A. G.: Weil ich eine Beziehung zu Miles Davis habe und die hat angefangen, als ich meinen ersten Film-Noir gesehen habe. Für mich war der Jazz ein wichtiger und ist ein wichtiger Begleiter meines Lebens. Neben meiner Liebe zur Musik des 18. und des 19. und 20. Jahrhunderts, also der E-Musik, ist der Jazz für mich also eine Welt. T. K.: Auch schon seit den fünfziger/sechziger Jahren. A. G.: Na, also, so früh habe ich nicht begonnen. Aber seit den sechziger Jahren. Ja. Als man diese ersten französischen Filme sah. T. K.: Ich wollte Sie gerne noch fragen, was Ihre künftigen Projekte sein werden. A. G.: Neben der Edition wird das ein Projekt sein, in dem ich schon tief drin bin, nämlich eine neue Biographie über Walter Benjamin. Dieses Projekt macht mir eine große Freude, weil ich sie anlege, die Biographie, eher in diesem amerikanischen Sinne einer intellectual biography und ich stelle diesen Mann, der sehr herausgehoben worden ist aus seiner Zeit, zurück in seine Zeit und in seine Netzwerke unter der Fragestellung einmal natürlich – das ist der biographische Zugang, mein biographischer Zugang selber – was, um Himmels willen, interessiert uns so sehr, dass das jetzt vierzig Jahre andauert, diese Benjamin-Faszination? Und zum zweiten möchte ich offenlegen, welchen Zugang – und er hat einen sehr spezifischen – welchen Zugang zur Welt er sich eigentlich erschlossen hat, dieser zurückgezogene, versponnen wirkende Mann, der sich den Dingen immer von der Seite oder von hinten oder von unmöglichen Blickwinkeln aus näherte. Aber das Wichtige, was dieses Projekt unterscheidet von anderen Biographien: Ich trage nicht alles zusammen, was dieser Mann jemals in seinem Leben gesagt und gedacht hat und wo er alles war, sondern ich setze ihn in seine Zeit, ich setze ihn in das Ensemble seiner Freunde und Feinde und versuche, herauszuschälen, welche roten Fäden, die sich durchziehen, unterbrochen werden, wieder aufgenommen werden, sich durch sein reichhaltiges, vielfältiges Werk ziehen. T. K.: Gibt es da eigentlich auch Fäden zu Hannah Arendt? A. G.: Es gibt persönliche Fäden, weil sie ja eine Zeitlang mit Benjamins Cousin Günther Stern, der sich später Günter Anders nannte, verheiratet war. Aber wichtiger noch als dieses Verwandtschaftsverhältnis ist, dass sie sich in Paris sehr nahe gekommen sind und wohl auch sehr intensiv miteinander diskutiert haben. Es gibt einen wunderbaren Essay von ihr, dem man nicht in al-

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lem zustimmen muss, aber der eine solche Tiefe der Durchleuchtung dieses merkwürdigen Mannes hat, dass man sehr viel daraus entnehmen kann. T. K.: Okay, das wäre die Ergänzung. Dann käme Miles Davis. Danke

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Freundschaft und Freiheit CHRISTINA THÜRMER-ROHR In der Literatur zur Freundschaft finden sich schönste Beschreibungen der Zwischenmenschlichkeit neben ausgemachtem Kitsch. Die Rede ist von höchsten Tugenden, von nicht endender Sympathie, Harmonie und Garantie1, und die bis heute bemühte Aussage des Aristoteles, Freundschaft sei eine Seele in zwei Körpern, hat die Erwartungen durch die Jahrhunderte immer wieder hochgetrieben. Die Hymnen auf die Freundschaft besingen das höchste Gut, das das Leben zu bieten hat. Aber zugleich sind sie häufig im Ton einer Grabrede gehalten, in der Feierlichkeit eines Nachrufs2, so als gäbe es das, was man besingt, nicht mehr, oder als hätte es das nie gegeben, nur als Wunsch, Suggestion oder Idee. Die Frage nach der Freundschaft jedenfalls führt auf ein widersprüchliches Feld – Juwelen des Humanismus neben repetierten Betulichkeiten, für heutige Ohren ein Wechselbad aus Realität und Illusion, aus Staunen und ein bisschen Neid, verbunden mit dem Eindruck, dass der Stoff mehr das jeweils Ideale oder Fehlende spiegelt als die Freundschaften selbst. Euphorien, Geheimnis, Spott und Abgesänge sind so alt wie die abendländische Kultur, ausgedrückt z. B. in dem berühmten, dem sterbenden Aristoteles zugeschriebenen vieldeutigen Satz: „O meine Freunde, es gibt keinen Freund“. Und Nietzsche fragte, ob wohl die guten Freunde immer noch unsre Freunde wären, wenn sie uns genau kennen würden3. „Ja, es gibt Freunde, aber der Irrtum, die Täuschung über dich führte sie dir zu“4. In seinem verrückten Gedicht „Unter Freunden“ trieb er die Skepsis auf die Spitze, indem er sogar auf das verzichtete, was meist als Ferment jeder Freundschaft gilt, nämlich das Gespräch. Das beste sei, miteinander zu schweigen oder, noch besser, miteinander zu la1 2 3 4

Zum Beispiel. Baird, D. (2005): Tausend Wege zur Freundschaft, München. Derrida, J. (2000): Politik der Freundschaft, Frankfurt/M., S. 139. Nietzsche, F. (1921): Menschliches Allzumenschliches I. Werke. Klassiker Ausgabe Bd. 3, Stuttgart, Aph. 352, S. 284. Nietzsche F. (1921) a. a. O., Aph. 376, S. 296 f. 33

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chen: „[…] Macht ich’s gut, so woll’n wir schweigen / Macht ich’s schlimm, so woll’n wir lachen / Und es immer schlimmer machen / Schlimmer machen, schlimmer lachen / bis wir in die Grube steigen / Freunde! Ja, so soll’s geschehn? / Amen! Und auf Wiedersehn“5. Gegenüber den großen Freundschaftsschwärmereien jedenfalls bleibt heute eine Distanz, mit der man reinigende Worte begrüsst, z. B. die Aufforderung, Freundschaft „wieder zu einem beunruhigenden Thema“ zu machen und „Unordnung in die Symmetrien gedachter Anziehungsordnungen“ zu bringen6

I. Hannah Arendt verwies in ihren „Gedanken zu Lessing“ auf eine Verwandtschaft zwischen antiken und modernen Freundschaftsvorstellungen, eine Verwandtschaft, die sie darin sah, „dass das Humane nicht schwärmerisch auftritt, sondern nüchtern und kühl; dass die Menschlichkeit sich nicht in der Brüderlichkeit erweist, sondern in der Freundschaft; dass die Freundschaft nicht intim persönlich ist, sondern politische Ansprüche stellt und auf die Welt bezogen bleibt “7. Für Lessing, den Arendt zum – allerdings ziemlich einsamen – modernen Protagonisten ihrer Beschreibung macht, war Freundschaft wichtiger als die Liebe. Und die Griechen haben gemeint, dass ein menschliches Leben nichts weniger entbehren könne als Freunde, dass ein Leben ohne Freunde nicht eigentlich lebenswert sei8, dass ausserdem erst das andauernde Gespräch die Bürger zu einem Gemeinwesen vereinigen könne9 und deswegen der Staat als erstes die Freundschaft seiner Bürger schützen müsse10. Der eigentlich politische Akt bestand darin, den politischen Körper durch Freundschaft zusammenzuhalten und soviel Freundschaft wie möglich zu stiften11. Im antiken Patriarchat gehörte Freundschaft bekanntlich zur exklusiven Erfahrung weniger Männer: der freien Männer, die die Familie jederzeit verlassen und jederzeit zu ihr zurückkommen konnten12, sich also bewegen und befreunden konnten, wie es ihnen beliebte.

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Nietzsche F. (1921) a. a. O., S. 417 f. Bovenschen, S. (2007): Freundschaft und idiosynkratische Befremdungen. In: Überempfindlichkeit – Spielformen der Idiosynkrasie, Frankfurt/M., S. 133. 7 Arendt, H. (1989): Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Menschen in finsteren Zeiten, München, S. 42. 8 Ebd., S. 40. 9 Ebd., S. 41. 10 Montaigne, M. (1885): Essays. Von der Freundschaft, Zürich, S. 219. 11 Derrida, J. (2000) a. a. O., S. 27. 12 Arendt, H. (1993): Was ist Politik?, München, S. 44. 34

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

Der Zusammenhang von Freundschaft und Freiheit ergab sich aus der Unterscheidung des Privaten und Eigenen vom Öffentlichen und Gemeinsamen, zweier Seinsordnungen13, die durch klare Grenzpfähle voneinander getrennt und voreinander geschützt waren. Den Griechen erschien der private Raum im Wortsinn „idiotisch“14, als „deprived life“, als Zustand der Beraubung15, weil die unabweisbaren Notwendigkeiten biologischer Lebenssicherung Freiheit nicht zulassen16. Freiheit war keine psychologische und keine moralische Kategorie, keine Frage des Vermögens und Willens der Menschen, sondern kennzeichnete spezifische objektive Bedingungen: die freie Geburt im Unterschied zur Sklaverei, die Abwesenheit von Gewaltherrschaft und die Lebensweise einer Gesellschaftsschicht, die sich von Naturzwängen und vom Diktat lebenserhaltender Arbeit unabhängig machen konnte. Reiz und Glück idealer Freundschaften bestand darin, sich frei bewegen und frei wählen zu können und nicht durch Blutsbande und familiale Sorgen und Pflichten gebunden zu sein. Freundschaft bedurfte der Freiheit, und Freiheit bedurfte des Freundes als des Gleichberechtigten. Freundschaft gehörte zur nicht verwandtschaftlichen, nicht biologisch und nicht reproduktionsbedingten Seite des Zusammenleben und damit in den öffentlichen Raum, den Raum, in dem Andere präsent sind, den Raum des Redens und Überzeugens, des Hörens und Gehörtwerdens, des Wettstreits und Vergleichens. Erst die gleichberechtigten Freundschaften machten möglich, sich verschiedenen Sichten auszusetzen17, den eigenen Verstand auch an den Verstand anderer zu binden und zu einem erweiterten Denken zu kommen, das Eigennutz und Eigeninteresse überschreitet18. Hannah Arendt sah in der antiken Trennung des Privaten vom Öffentlichen einen Glücksfall der Geschichte19 und ein historisches Beispiel von großer Anregungskraft für die Orientierung eines neuen politischen Denkens. Denn mit dieser Trennung erhielt „der politisch-öffentliche Raum […] eine ungleich größere Dignität und für das Leben der Menschen höhere Relevanz […] als zu irgendeiner späteren Zeit“20. Die unterschiedlichen Seinsordnungen des Privaten und des Öffentlichen begründeten verschiedene Sinngebungen, Verbindlichkeiten und Verpflichtungen der Zwischenmenschlichkeit, somit auch die Unterscheidung von natürlichen und selbstentschiedenen Bündnissen, von Verwandtschaft und Freundschaft. 13 14 15 16 17 18

Arendt, H. (1992): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, S. 28. Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 52. Arendt, H. (1992) a. a. O., S. 39. Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 39; Arendt, H. (1992) a. a. O., S. 34. Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 52. Arendt, H. (2003): Denktagebuch, Bd. 1, München, S. 570, 601; Arendt, H. (2003): Über das Böse, München, S. 141. 19 Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 42. 20 Arendt, H. (1994): Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München, S. 282. 35

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Diese Unterscheidung hat in der jüdisch-christlichen Geschichte kaum Tradition. In seiner biblischen Herkunft taucht der Freund bekanntlich im Bild des Bruders auf. Ein Christ hat Brüder, nicht Freunde. Die christliche Nächstenliebe soll und muss keine Wahl treffen. Freunde aber sind gewählt, und Freundschaft ist wählerisch. Das Bild des Bruders blieb in die aufklärerische Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit eingeprägt. Und mit dem „wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“ behält der Begriff des Politischen die Rückbindung des Staates an natürliche Einheiten wie Familie, Stamm, Art, Verwandtsein, Gleichsein. Die Bruder- und Brüderlichkeitsmetapher verweist auf die Bindungsmächte von Geburt, Blut, Abstammung, Volk, auf natürliche und fraglose Zusammengehörigkeit, ein gegebenes Wir. Brüder haben den gleichen Ursprung, entstammen ein und derselben „artgleichen“ Gemeinschaft jenseits eigener Entscheidung und Wahl. Wenn man politische Körper im Bild familialer Brüderlichkeit versteht und auf dieses aufbaut, „ist die ursprüngliche Verschiedenheit ebenso wirksam ausgelöscht wie die essentielle Gleichheit aller Menschen […] zerstört ist. Der Ruin der Politik nach beiden Seiten entsteht aus der Entwicklung politischer Körper aus der Familie“21. Auch wenn die Brüder kein Faktum, sondern ein Phantom waren – das Trugbild tat seiner Wirkmächtigkeit keinen Abbruch. Die Verwandtschaftsvorstellung wirkt wie ein Schlagbaum, der die Grenze markiert zwischen denen, die dazu gehören und denen, die nicht oder nicht mehr dazu gehören. Für Abweichler, Ausbrecher und Fremde ist kein Platz, kein Platz für einen Zustand, in dem man ohne Angst verschieden sein kann22. Die Antwort auf die Erfahrung des Nicht-Identischen heisst Ausschließung und Segregation, und diese verwies schon im vornationalsozialistischen modernen Antisemitismus auf eine Niederlage der bürgerlichen Gesellschaft und auf Grenzen der Aufklärung23. Lessing war eine Ausnahme. An ihr zeigt Arendt den Zusammenhang von Freundschaft und Menschlichkeit, Freundschaft und Freiheit, Freundschaft und Zuwendung zur Welt. Lessing wollte „vieler Menschen Freund, aber keines Menschen Bruder sein“24. Seine Größe, schreibt Arendt, lag darin, dass er die Freundschaft sogar über die Wahrheit stellte. Wenn wir die eine Wahrheit besäßen, könnten wir nicht frei sein25, bräuchten wir kein Gespräch und keine Freunde. Es gibt keinen höheren Wert, kein Absolutes und keinen Glauben, dem die Freundschaft zu opfern sei. Mit dem Gedanken, dass Menschlichkeit

21 Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 10. 22 Adorno, T. W. (1964): Minima moralia, Frankfurt/M., S. 130 f. 23 Vgl. Claussen, D. (1994): Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt/M. 24 Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 47. 25 Ebd., S. 43. 36

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

sich in der Freundschaft und nicht in der Brüderlichkeit erweist 26, hat Lessing allerdings keine besondere Sympathie geerntet. Die deutsche Öffentlichkeit war auf ihn nicht vorbereitet, hat ihn nie geehrt27 und spiegelte ihr Unverständnis in Rezensionen wie der des protestantischen Theologen Johann David Michaelis: In Lessings Lustspiel „Die Juden“ z. B., das einen edlen Juden zum Helden hat, werde das Vergnügen des Publikums beeinträchtigt und „unterbrochen“, weil allzu unwahrscheinlich sei, dass es solche guten Juden überhaupt gäbe28. Arendt verwirft die Metapher der Brüderlichkeit mit Hinweis auf die Geschichte des modernen Antisemitismus. Die jüdische Emanzipation im 19. Jahrhundert war eine Geschichte der Assimilation, eines kurzen trügerischen Verwandtschaftsangebots von Seiten der Mehrheitsgesellschaft, das die Katastrophe eines ins Politische getragenen Brüderlichkeitsprinzips vorgeführt hat. Demnach war der rassistische Antisemitismus eine Antwort auf die Verkehrung politischer Gleichstellung in gesellschaftliche Homogenität, auf das abstrakte Versprechen, Unterschiede zugunsten universaler Gleichartigkeit zu verabschieden statt zugunsten der Gleichberechtigung der Verschiedenen zu wahren. Mit dieser verschwommenen Gleichartigkeitszusage konnten Juden nicht gleichzeitig Staatsbürger sein und Juden bleiben. Mit ihrem asymmetrischen Assimilationsgeschenk wollte die Mehrheitsgesellschaft sich einen kulturellen Zuwachs einverleiben und sollte die Minderheit sich radikal verändern und von ihren Traditionen trennen. Die Gleichheitsaufforderung wurde zur Gleichheitsdrohung. Unter der Prämisse eines brüderlich-naturalistischen Denkmodells macht die misslingende Homogenisierung erst recht allergisch gegenüber allen verbleibenden Differenzen und verschärft das Stigma des Andersseins. Dass die Assimilierten nicht identisch wurden, schien erst recht ihre Zugehörigkeit zu einer anderen „Familie“, Spezies, Rasse zu beweisen. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft lehnte die Familiensymbiose ab, ließ die kurze Liebesgeschichte unerwidert und die Juden im Niemandsland29. Unter der Bedingung der Verfolgung hat sich erwiesen, dass Menschlichkeit sich nicht durch Verwandtschaftsversicherungen unter Beweis stellt, sondern nur durch gleiche Rechte und Anerkennung der Verschiedenen, nur in bewusster Freundschaft: „Im Sinne einer Menschlichkeit, welche die Wirklichkeit nicht wie den Boden unter den Füßen verloren hat, nämlich einer Menschlichkeit inmitten der Wirklichkeit der Verfolgung, hätten (die Deutschen) schon sagen

26 Ebd., S. 42. 27 Ebd., S. 19. 28 Michaelis, J. D. (2002): Rezension über Lessings Juden. In: Lessing, G. E.: Die Juden (Materialien), Stuttgart, S. 55. 29 Bauman, Z. (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg, S. 134 ff. 37

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müssen: ein Deutscher und ein Jude, und Freunde“30. Das hätte den Assimilationsverrat offenlegen und die politische Relevanz von Freundschaft vor Augen führen können. Und das wäre eine andere Geschichte gewesen.31 Die familiale, fraternalistische und androzentrische Vorstellung des Politischen, wie sie der Bruder bzw. die Gestalt des Freundes in den Zügen des Bruders signalisiert und in der revolutionären Forderung nach „Brüderlichkeit“ wiederkehrte, bleibt nicht nur wegen des Ausschlusses der „Schwestern“ skandalös. Brüder, dieses gleichartige und gleichgeschlechtliche Doppel, sind nicht unbedingt auch Freunde. In ihr Verhältnis war Feindschaft von vornherein implantiert. Die Geschichte der abendländischen Kultur beginnt mit den feindlichen Brüdern, dem Brudermord. Eine solche Großzügigkeit gegenüber der Feindschaft besitzt das Wort Freund nicht, es integriert Feindschaft in keine ihrer Varianten. Freunde können nicht zugleich Feinde sein. Nicht die Brüderlichkeit, sondern die Freundschaft steht für die Unvereinbarkeit von Freiheit und Gewalt. Eine Politik der Freundschaft wäre geeignet gewesen, sich gegen die Meinung zu wenden, die sich im nachaufklärerischen 19. Jahrhunderts auszubreiten begann, dass Emanzipation und uneingeschränkte Gleichberechtigung der Verschiedenen weder möglich noch wünschenswert sei. Ein Freundschaftsgedanke, der sich aus der Liaison mit der Brüderlichkeits- und Identitätstäuschung zu lösen versteht, öffnet eine Freiheitsvorstellung, die auch dem Missverständnis begegnen kann, individuelle Freiheit führe zur Atomisierung oder sei Privatfreiheit – meine Freiheit, mein Besitz, meine persönliche Freizügigkeit, meine ungehinderte Lebensgestaltung, mein individueller Weg, meine Souveränität, meine Freiheit von Politik. In Arendts politischem Denken können Menschen nur in Bezug aufeinander frei sein, ist Freiheit nur erfahrbar im Verkehr mit anderen und ist es die Freundschaft, die dem Misstrauen gegenüber dem Freiheitsgebrauch des Einzelnen die Freiheit der Anderen und damit die Pluralität entgegensetzt. Die „Nüchternheit“ dieses Denkens kommt daher, dass Arendt die Pluralität als Tatsache behandelt, nicht als Angelegenheit des Wollens, Sollens oder Wünschens, nicht als moralisches Postulat. Als solche Tatsache ist die Pluralität Grundlage für eine Freiheit, die ihren Ort da hat, wo die Verschiedenen zusammenkommen, im politisch garantierten Öffentlichen und nicht in naturgegebenen Allianzen. Das Politische hat nicht die Funktion, eine Freiheit zu gewährleisten, die ein ungestörtes privates Leben sichert, denn Freiheit erweist sich erst im Verkehr mit den Vielen und Verschiedenen und schließt de30 Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 39 f. 31 Thürmer-Rohr, C. (2001): Anfreundung mit der Welt – Jenseits des Brüderlichkeitsprinzips. In: Kahlert, Heike; Lenz, Claudia (Hg.): Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein/Taunus, S. 136-166. 38

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ren Freiheit ein. Das Handeln und Anfangen32 ist damit nicht souverän, es bleibt durch die Freiheit Anderer bestimmt und gebunden und findet seine Begrenzung da, wo es deren Freiheit einschränkt33. Für Arendt ist Pluralität, auf der jeglicher Bezug zur Wirklichkeit gründet, die anthropologische Bedingung unserer Existenz als Nichtidentische. Wie das Politische darauf angewiesen ist, Pluralität erfahrbar und wirksam zu machen, sind wir angewiesen aufeinander als Andere34. Aus dieser ursprünglichen Bedürftigkeit35 folgt das Interesse an der Mitexistenz und der Beheimatung der Verschiedenen, ebenso die Fähigkeit, Sichtweisen nachvollziehen zu können, die nicht dem Eigensinn entstammen und nicht die eigenen sind. Die Anwesenheit Andersdenkender und Andersmeinender ist so auch nicht etwas, was man ertragen und tolerieren muss – eine Toleranz, die z. B. Pascal Bruckner hinsichtlich der osteuropäischen Öffnung nach 1989 bitter beklagte36 –, sondern die Gesellschaft benötigt und braucht sie37 um der wirklichen Welt willen. Wenn Arendt die Freundschaft nicht als familienanloge, sondern als weltbezogene Seite der Zwischenmenschlichkeit versteht und damit Handeln und Anfangen zu deren Möglichkeit macht, trägt sie der Tatsache Rechnung, dass eine für menschliche Bedürfnisse geeignete Welt38 den Dialog der Verschiedenen braucht. Freundschaft bewährt sich in der Differenz. Die Gestalt des Bruders zu entmaskulinisieren und zu denaturalisieren, nimmt dem Bild seine Autorität und Glaubwürdigkeit. Eine solche Demontage, schreibt Derrida, müsste auch „die demokratische Verbrüderung affizieren, sie müsste alles erschüttern, was an der Demokratie weiterhin diese natürliche Brüderlichkeit voraussetzt“39. Erst in der Freundschaft kann sich die Parteinahme für eine Freiheit beweisen, die zugleich Parteinahme für die Welt ist, insofern sie der Verschiedenen bedarf und ihnen zugleich ihren Weg lässt. Freundschaft im Öffentlichen zu verorten, ist keine definitorische Willkür, sondern gibt der Pluralität ihre Chance in einem Feld, in dem Menschen einander frei wählen und das, was daraus entsteht, selbst erhalten oder verspielen können.

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Arendt, H. (1994): Freiheit und Politik. In: Arendt, H., a. a. O., S. 201, 210 f. Mill, J. S. (1974): Über die Freiheit, Stuttgart, S. 77 ff. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 37f., 70 f. Ebd., S. 218. Bruckner, P. (1991): Die demokratische Melancholie, Hamburg, S. 174. Grunenberg, A. (2006): Hannah Arendt und Martin Heidegger – Geschichte einer Liebe, München, S. 361. 38 Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 25. 39 Derrida, J. (2000) a. a. O., S. 219. 39

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II. Der folgende Sprung ins Empirische zeigt, dass Freundschaften heute dabei sind, zu einem pragmatischen Mittel der Lebensbewältigung zu werden. Mit dem modernen Funktionsverlust der Familie verändern sich die an Freundschaften gestellten Erwartungen und wächst zuglech deren Bedeutung für das alltägliche Leben. Wer Freunde hat, ist lebenstüchtig. Freundschaften werden zum Familiensubstitut, sofern die Familie fehlt, oder zu deren Gegenstück, sofern die Familie individuelle Freiheit beschneidet. Die Unterscheidung zwischen Liebe, Ehe, Freundschaft wird fließend, privates und öffentliches Leben verwischen sich. Grundsätzliche Abgrenzungen zwischen Freundschaft und Familie scheinen eher fremd, die Unterscheidbarkeit abstrakt, auch der symbolische Sinn der Unterscheidung und ihre politische Dimension kaum einsichtig. Universalisierungen des Freundschaftsbegriffs verlieren ihren Sinn. Freundschaften sollen praktikabel und nützlich sein. In Freundschaftsbrevieren und Sprichwortsammlungen bleiben alte Idealisierungen zwar nachzulesen, aber Äußerungen wie die Montaignes, dass eine ideale Freundschaft wohl nicht öfter als ein mal in drei Jahrhunderten zustande komme40, wirken wie Stimmen aus einer sehr fernen Zeit. Weniger fremd ist, dass man mit dem Verlust der Freiheit zahlt, solange man sich auf geschlossene Gruppen und starke Bindungen einlässt41. Dabei sind Widersprüche zwischen divergenten Freiheitsansprüchen gefürchtet, und wichtiger als alle Gefühligkeiten ist das Sicherheitsinteresse und die Furcht vor Kündigung. Das Thema „Freundschaft“ ist von den Sozialwissenschaften lange vernachlässigt worden, jetzt wird es neu entdeckt42. Das hat handfeste Gründe. Die Freiheit der Wahl von Freunden steht heute prinzipiell allen offen, und Bewegungsfreiheit kommt aus ohne familiale Rückendeckung und sicheres Rückzugsgebiet. Die westliche Zivilisation erlaubt eine früher ungeahnte Freizügigkeit, Freiwilligkeit und Überregionalität sozialer Kontakte, und zugleich bröckelt die unbefristete Verlässlichkeit und hermetische Einheit traditioneller Familienburgen. Zwischenmenschliche Bande sind angenehm locker, aber auch beängstigend unzuverlässig geworden43. Der gegenwärtige Stand der Moderne – Postmoderne, zweite Moderne, „flüchtige Moderne“44 – 40 Montaigne, M. (1885): Von der Freundschaft. In: Montaigne, M.: Essays, a. a. O., S. 221. 41 Sofsky, W. (2007): Das Prinzip Freiheit. In: Ackermann, U.: Welche Freiheit. Plädoyers für eine offene Gesellschaft, Berlin, S. 53. 42 Siehe z. B. Nötzoldt-Linden, U. (1994): Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie, Opladen; Bude, H. (2008): Die Aktualität der Freundschaft. In: Mittelweg 36, 17. Jg., Juni/Juli. 43 Bauman, Z. (2008): Flüchtige Zeiten – Leben in der Ungewissheit, Hamburg, S. 40. 44 Bauman, Z. (2003): Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 40

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hat den Individuen eine Explosion von Wahlmöglichkeiten gebracht, eine Individualisierung von Lebensformen mit allen ihren Kehrseiten, ihren Freisetzungen, Grenzsprengungen, Überraschungen, Verunsicherungen, Vereinsamungen, eine Freiheit, „die frösteln macht oder aufatmen läßt“45. Betont man das Aufatmen, den Freiheitsgewinn, dann sind heutige Freundschaften Ausdruck der Emanzipation von der Familie. Freundschaften sucht man in Gegenseitigkeit aus, und sie sind trennbar, man kann sie aufkündigen, falls sie sich nicht bewähren. Diese Freiheit, verstanden als individuelle Wahl und individuelle Kündbarkeit und als Erfahrung, Urheber der eigenen Handlungen sein46, macht Freundschaften zum Gegenwort der A-modernität des Familienprinzips, dessen Logik der Abstammung Familie zum Schicksal macht, dem niemand entkommen kann. Auch falls man einzelne Familienangehörige nachträglich „wählt“, so als seien sie Freunde, bleiben Familien unwiderruflich Familien – für manche ein Segen, für andere ein Fluch. Freundschaften dagegen sind selbst entschieden, werden selbst erhalten oder aufgelöst. Sie sind durch kein Erbe, keine vorgegebenen Verhaltensstandards, keinen Vertrag, keine geregelten und verbindlichen Formen gesichert. Man muss sie immer neu aushandeln, bestätigen oder verwerfen. Betont man das Frösteln, den Bindungsverlust, dann sind Freundschaften heute Ersatz für die Familie. Der Wärmeverlust, den die Ausweitung individueller Freiheiten mit sich bringt, macht Freundschaften zur notdürftigen Familienvariante. Sie sollen dann das leisten, was Familien i. A. nicht mehr leisten und Aufgaben übernehmen, die früher private Versorgungspflichten waren. Damit werden Freundschaften zum Hilfsprogramm und Notnagel, mit dem Defizite ausgeglichen werden sollen, die unzuverlässige oder unbefriedigende Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Töchtern, Söhnen, Enkeln an den Tag legen. Freundschaften ersetzen oder ersparen eine allzu große Familiennähe, aber zugleich werden auf sie familienähnliche Erwartungen an Stabilität, Verlässlichkeit, Schutz und Fürsorglichkeit übertragen. Als Familienersatz müssen sie alltags- und alterstauglich sein, zwar zwanglos, aber nicht flüchtig, zwar gewählt, aber verlässlich, wenns ernst wird. Der Soziologe Heinz Bude hält heutige Freundschaften für das prototypische Phänomen einer Gesellschaft, die sich auch durch die Drohung der Kündbarkeit von Beziehungen zu zivilisieren verspricht47. So gesehen stehen sie weiter im Zeichen des Erbes der aufklärerischen Entdeckung, dass die scheinbar festverbürgten und „in der Tradition ‚begründeten‘ Normen des 45 Wellmer, A. (1986): Ethik und Dialog – Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt/M., S. 7. 46 Siehe Nida-Rümelin, J. (2005): Über menschliche Freiheit, Stuttgart; Honderich, T. (1995): Wie frei sind wir?, Stuttgart; Pauen, M.; Roth, G. (2008): Freiheit, Schuld und Verantwortung, Frankfurt/M. 47 Bude, H. (2008) a. a. O., S. 9. 41

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richtigen Lebens kein mögliches Fundament haben außer im Willen der Menschen“48. Diesem Willen, der sich für frei erklärt hat, sind auch die Freundschaften anheim gestellt, bereichert und dynamisiert, bedroht und gefährdet durch freie Wahl und deren Widerruf. Ihren Anspruch auf einzigartige „eigene Schöpfung“49 bekommen Freundschaften gerade durch ihre Nicht-Natur und ihre Nicht-Sicherheit. „Our friends are free; free to come and free to go“50. Freundschaften lassen sich ein auf die Abwesenheit von Zwang, auf eine Situation der Offenheit und Störanfälligkeit, auf eigene Veränderungspotentiale, Unvorhersehbarkeiten und Widersprüche wie die zwischen Freiheitsbedürfnissen der Einen und Schutzbedürfnissen der Anderen. Die Emanzipationsbewegungen der 60er / 70er Jahre haben besonders in der „Generation 50 plus“51 im westlichen Deutschland Spuren hinterlassen. Für viele dieser während des Nationalsozialismus bzw. in der Nachkriegszeit geborenen sog. zweiten Generation war das Wort Selbstbestimmung zu einem neuentdeckten, lebensverändernden Wert geworden. Viele waren besonders empfänglich für Freiheitsgedanken, die z. B. von Sartres existentialistischer Philosophie ausgingen: „Ich bin dazu verurteilt, frei zu sein“, „Ich bin meine Freiheit“, „Wir haben die Wahl“52. Die Vorstellung, sich frei von Herkunft und frei von Lebensumständen definieren und selbst „erschaffen“ zu können und für diesen Selbst-Entwurf die volle Verantwortung zu übernehmen, Urheber/innen der eigenen Handlungen und Regisseur/innen der eigenen Biografie zu sein, war Herausforderung und Erlösung für eine Generation, die sich mit der totalitären Last und Schuld ihrer Eltern herumschlug. Das Freisein von Bindungskräften der Verwandtschaft, von Erblinien und Wurzeln, versprach einen Weg, anders denken, sein und leben zu können, sich – auch durch die Wahl der Freundschaften – abzusetzen und neu zu entscheiden, sich den Gesetzen der biologischen Reproduktion nicht unterwerfen zu müssen, die Entbindung von den sog. Ursprüngen sogar als eine Voraussetzung erfolgreicher Sozialisierung zu verstehen, wie der Psychoanalyse zu entnehmen war. Dabei konnten jene unpraktischen Abstraktionen wie Würde, Unabhän-

48 Wellmer, A. (1986) a. a. O., S. 7. 49 Montaigne, M. (1885) a. a. O., S. 222. 50 Schobin, J. (2008): Sechs Farben und drei Rotationsachsen – Versuch über Verpflichtungen in Freundschaften. In: Mittelweg 36, 17. Jg., Juni/Juli, S. 41. 51 Die bisher bundesweit größte Online-Befragung der Altersgruppe 50-70, Universität Osnabrück, hat ergeben, dass diese Generation mehrheitlich linksliberale Positionen vertritt, vorwiegend ohne festen familiären Rückhalt und in guten Partnerbeziehungen lebt. Berliner Zeitung, 10. Oktober 2008, S. 5. 52 Sartre, J.-P. (1952): Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg, S. 560. 42

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

gigkeit, Selbstbestimmung, Selbstachtung u. U. der Überlebenslogik geradezu widersprechen53. Diese Freiheit hat ihre Kehrseite. Das viele Umziehen als Beweis, nicht gefangen zu sein54, schwindende familiale Bodenhaftung und unsichere Kontaktnetze können „ungemütlich“ werden55. Das Versprechen, dass Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können, dass ihnen damit auch die Entscheidung überlassen ist, an was und an wen sie sich binden und von was und von wem sie sich trennen wollen, das Ideal der Autonomie mit all seinen Nebenfolgen machen auch Angst. Außerdem sind nach Meinung einiger Kritikerinnen die Begriffe der liberalen Aufklärung – Autonomie, Selbstbestimmung, Recht auf ein eigenes Dasein – den Bedürfnissen vieler Frauen abträglich, weil der Bindungswert von Familie, Gemeinschaft und Fürsorge herabgewürdigt werde56. In heutige Freundschaften jedenfalls zieht der Widerspruch ein zwischen Selbstbestimmung und Angewiesenheit auf Andere, zwischen Eigensinn und Sicherheit. Sicherheit aber ist nur auf Kosten der Freiheit zu haben, Freiheit nur auf Kosten der Sicherheit. Und mit dem Versuch, diese beiden hohen Werten auszuballancieren, übernehmen Freundschaften heute eine Hypothek, die nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen der Freundschaft eher klein hält. Das Freundschaftsmerkmal der Freiheit, das immer Riskante ihres Gewinns, schrumpft auf die Entscheidung, wer die erwarteten Stabilitätsgarantien erbringen könnte – eine Konvention, die gerade das ausschließt, was den Freiheitscharakter der Freundschaft ausmacht: ihre Sprengkraft, das Unbekannte, die Inspiration und Irritation, die Selbstveränderung und -erweiterung, auch das potentielle Scheitern. Das Gewicht des Sicherheitsaspekts steht im Zusammenhang mit Veränderungen des Versorgungssystems in modernen Gesellschaften – Familienerosion, Alterung der Bevölkerung, Krise des Wohlfahrtstaates. Die demografische Entwicklung hat zur Folge, dass Freundschaften heute eine praktische, vielleicht ernüchternde Funktion bekommen und zur Frage der Überlebenskunst werden. Weil in absehbarer Zeit die Sorge um den älteren Teil der Bevölkerung kaum noch von den Jüngeren übernommen werden kann, liegt es nahe, dass in Zukunft die „aktiven Alten“ füreinander sorgen müssen. „Wer sich zukünftig für sein Alter absichern möchte, wird sich vermutlich an seine Altersgenossen halten. Es ist nicht nur eine These, dass Freundschaft […] von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung werden wird, es ist schon eine Empfehlung und auch eine Drohung an die Jungen von heute: Sucht euch gute Freun53 Sabuschko, O. (2007): Variationen auf ein Thema. In: Ackermann, U. (Hg.) a. a. O., S. 222. 54 Klüger, R. (2008): Unterwegs verloren, Wien, S. 113. 55 Bauman, Z. (2003) a. a. O., S. 213. 56 Nussbaum, M. C. (2002): Die feministische Kritik des Liberalismus. In: Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, Stuttgart. 43

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de und pflegt eure Freundschaftsbeziehungen, sonst wird es karg und einsam in eurem Alter werden“57. Nicht zufällig wird damit das Thema Freundschaft zunehmend zur Sache der Frauen, die zu jung fürs institutionelle Obdach, aber zu alt für die Unabhängigkeit des Alleinlebens sind58. Wenn Familienangehörige nicht zur Verfügung stehen oder das Alleinleben die Stimulationskraft aus zukunftsgerichteten früheren Jahre verliert, bietet Freundschaft sich „als ein Weg selbstbestimmter Abhängigkeit an, um gemeinsam die Illusion der Autarkie aufzugeben“59. Freundschaft steht hier für eine Art Kompromiss, für das Versprechen gegenseitiger Unterstützung, ohne das Ideal der Selbstbestimmung vollends zu opfern. Weil ein „autarkes“ Leben mit dem Älterwerden zur Belastung werden kann, soll wenigstens die freie Wahl derjenigen erhalten bleiben, mit denen man die antizipierte unvermeidbare Abhängigkeit teilen will. Freundschaft verspricht einen dritten Weg, der die unakzeptable Alternative – Familie oder Wohlfahrtsstaat, Regression oder Vereinsamung – hinter sich lässt60. Untersuchungen „nicht-konventioneller“ und als besonders individualisiert geltender Lebensformen61 zeigen, dass Kinderlose, Alleinlebende, Geschiedene mit oder ohne neuen Partnern, Hetero- und Homosexuelle, WGBewohner etc. ihre Situation einerseits als hoch krisenhaft erleben, andererseits aber erfolgreich Wege der „Wundheilung“ und „Selbstreparatur“ suchen, mit denen sie für sich selbst zu sorgen beginnen – vor allem mit Hilfe der Aufwertung von Freundschaften. Diese Praktiken der Selbstfürsorge werden als „antiheteronormative Praktiken“ interpretiert, die gewollt oder ungewollt die eiserne Norm des heterosexuellen Lebensmodells in Frage stellen und als Indiz dafür gelten, dass das Regime der Heteronormativität dabei ist, seine Überzeugungskraft zu verlieren62. Familienverlust und Individualisierung sind offensichtlich nicht nur die großen Leidverursacher, sondern produzieren auch neue Formen sozialen Lebens und relativieren alte Normen und unpraktikable Konventionen.

57 Schobin, J. (2006): Freundschaft und Fürsorge. Hamburger Institut für Sozialforschung, http://www.his-online.de. 58 Bude, H. (2008) a. a. O., S. 7. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 8. 61 Roseneil, S. (2008): Neue Freundschaftspraktiken – Fürsorge und Sorge um sich im Zeitalter der Individualisierung. In: Mittelweg 36, 17. Jg., S. 55-70. Die Untersuchung aus Großbritanien basiert auf 75 narrativen Interviews mit Personen verschiedener sozialer und ethnischer Herkunft zwischen 25 und 60 Jahren. 62 Ebd., S. 67. 44

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Die Durchforstung aktueller Freundschaftsratgeber63 unter der Frage, welche Freundschaftsmoral oder Freundschaftsnormen sie spiegeln, ergibt eine heterogene Ratgeberlandschaft mit einer Vielfalt sich widersprechender Aussagen. Zum Beispiel sagen die einen, man muss zu Freunden unbedingt ehrlich sein, die anderen, man muss die Ehrlichkeit sorgsamst dosieren; die einen favorisieren unbeschränkte Kritikerlaubnis, die anderen hochgradige Kritikzurückhaltung etc. Es findet sich keine spezifische „Freundschafts-Tugend“, keine Freundschaftsnorm, keine eindeutige Freundschaftsdefinition, es wimmelt von verschiedensten Motiven, Empfindlichkeiten, Toleranzschwellen, von kontroversen Nähe- und Distanzansprüchen. Erwartungsgemäß sind Freundschaften inkonsistente multiple Gebilde und so verschieden wie die beteiligten Personen. So ergeben sich lediglich einige eher lapidare Merkmale, wenn man fragt, was Freundschaften auseinander bringt: Freundschaften werden aufgekündigt, wenn die Gegenseitigkeit verletzt wird, sie brauchen Komplementarität, ein Gleichgewicht der Erwartungen und Befriedungen, der Aufmerksamkeit, der investierten Zeit, eine ergänzende Arbeitsteilung. Einseitigkeit, Nachlässigkeit, Verrat, Vertrauensmissbrauch, Indiskretion sind die großen Sünden, die eine Freundschaft zerstören. Weiterhin werden Freundschaften aufgekündigt, wenn sie zu wenig alltagsförmig sind. Sie müssen mit wiederholbaren Tätigkeiten gefüllt sein, brauchen eine Ordnung der Wiederkehr, verlässliche Rituale und eingespielte Gewohnheiten, die den Alltag stabilisieren – ins Kino gehen, einkaufen, telefonieren, mailen, verreisen etc. Wenn die Alltagstauglichkeit schwindet, wird die Freundschaft unbrauchbar. Schließlich enden Freundschaften auch einfach durch Abnutzung, ohne dass jemand sich freundschaftswidrig verhalten hat. Freundschaften haben ein Verfallsdatum, oft sind sie Beziehungen auf Zeit und nur für eine begrenzte Lebensspanne geeignet. Die Menschen und ihre Interessen verändern sich und mit ihnen die Freundschaften64. Freundschaften sind keine Eintagsphänomene, und es gibt keine Freundschaft auf den ersten Blick. Weil es sich um Prozesse in der Zeit handelt, gehören zur langen Freundschaft gemeinsame Erinnerungen, auch eine gewisse Vergangenheitstreue, mit der die geteilten Erfahrungen zum Bindeglied werden. Kontinuität und Verfallszeit hängen damit auch vom Verhältnis zur eigenen Biografie ab, von der Qualität, die man diesem Erinnerungsstoff zubilligt. Wer wenig stimulierende Vergangenheitsbezüge besitzt, z. B. die eigene Kin63 Schobin, J. (2008): Sechs Farben und drei Rotationsachsen – Versuch über Verpflichtungen in Freundschaften. In: Mittelweg 36, 17. Jg., S. 17-41. Die Studie untersucht das Material von insgesamt 21 Freundschaftsratgebern (199093/2002-06) – Geschichten über Freundschaften und Ratschläge an die Leser, wie sie sie erhalten können – unter der Frage, was Freundschaften aufrecht erhält, was sie zerstört, wie Verbindlichkeiten entstehen. 64 Ebd., S. 36 f. 45

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derzeit nur ungern erinnert, wird Freunde aussortieren, die vor allem aus diesem Erinnerungsreservoir schöpfen. Einem solchen Kontinuitäts- und Identitätsbewusstsein, das die frühere mit der heutigen Person in Übereinstimmung sieht oder bringt, steht ein Freiheitsideal entgegen, mit dem man sich an Vergangenheiten nicht binden will, sie nicht konservieren und sich von ihnen nicht determinieren lassen, ihnen also keine Macht über die Gegenwart gestatten will. Zur Freiheit gehört auch, alte Erfahrungen abzulegen, Überwundenes abzustoßen, überhaupt leichter zu vergessen, neu anzufangen, sich zu verändern und sich damit auch von alten Lebensabschnitten und Wegbegleitern immer wieder zu entfernen. Denn diese können zu Identitätsgefängnissen werden, gegen die der Freiheitswille rebelliert. Die Widersprüche zwischen Freundschaft und Freiheit sind beunruhigend. Man muss einsehen, dass der Reiz exzessiver individueller Freiheit für viele ein zeitbegrenzter Reiz und nichts fürs ganze lange Leben ist. Die Erfahrung der Verletzlichkeit eigener Erfahrungen und die Tatsache, dass Freiheit mit Risiken, Brüchen, Abschieden, Neuanfängen und Einsamkeiten korrespondiert, verträgt sich außerdem schlecht mit den Bedürfnissen freigesetzter und Schutz suchender Individuen. Und schließlich kann Freiheit ihre imaginative Kraft verlieren, wenn das Projekt der Emanzipation erfüllt zu sein scheint und den Individuen fast alle erdenklichen persönlichen Freizügigkeiten gewährt sind. Jedenfalls wird die Freiheitsmüdigkeit, die uns heute attestiert wird65, auch zur Freundschaftsmüdigkeit, sofern man von Freundschaften mehr will als bloße wellness, mehr als ein Instrument der self-care und der hinlänglich effektiven Altersvorsorge. Das wäre ein Substanzverlust, mit dem lang ersehnte Möglichkeiten der Freiheit zur Selbstbehauptungsfähigkeit individualisierter Menschen schrumpfen66.

III. Freundschaften, die auf kalkuliertem Nutzen beruhen, zählten zwar immer schon zu ihren – wenn auch „minderen“ – Varianten. Es gibt kein Recht, sie zu desavouieren, und ob in solchen Nutzfreundschaften tatsächlich jeder durch jeden vertretbar ist, der den gleichen Zweck mindestens ebenso gut erfüllt, scheint mir fraglich. Dennoch muss man sich hüten, solche Zweckbeziehungen einfach als einzig geltendes empirisches Faktum hinzunehmen. Die Empirie zeigt nicht nur Trends, sondern schafft auch Trends. Empirische Wissenschaften führen vor, was sie mit ihren jeweiligen Methoden finden, und

65 Ackermann, U. (2008): Eros der Freiheit – Plädoyer für eine radikale Aufklärung. Stuttgart, S. 7. Ackermann, U. (2007) a. a. O. 66 Bauman, Z. (2003) a. a. O., S. 46. 46

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das Gefundene nennen sie Realität. Die Diskrepanz zwischen Empirie und Idee ist dann lediglich dazu angetan, die Letztere ins Reich der Unmöglichkeit zu verweisen. Der Vormacht des Beweisbaren wird kein spekulatives Denken mehr entgegengesetzt, das die Schwächung der Freiheitsidee bewusst machen kann. Allerdings ist die aktuelle Neigung, Freiheit mit ihrem neoliberalen Missbrauch gleichzusetzen, dazu angetan, jedes Erinnern an die Verbindung von Freundschaft und Freiheit zum heiklen oder blassen Gedanken zu machen. Der zweifelhafte Gebrauch, den die bürgerliche Gesellschaft von ihren Errungenschaften gemacht hat, hat die oppositionelle Linke und andere radikaldemokratische Bewegungen dazu geführt, die Werte der Freiheit zu relativieren oder aufzugeben67. Mit dieser Verurteilung verschwand, wie Camus sagte, eine gewisse Hoffnung aus der Welt und für „den freien Menschen“ begann die Einsamkeit68. Wenn der Wert politischer Freiheit seinen Glanz verliert, wird auch die Freiheit individueller Wahl beliebig und der „Stolz“ auf die Urheberschaft unwesentlich. Wenn das Schicksal der Freiheit zugleich das Schicksal der Freundschaft ist, wird die Disqualifizierung der Freiheit auch zur Disqualifizierung einer Freundschaft, die sich mit der Feststellung des Vorhandenen nicht zufrieden gibt. Ein Nachdenken über Freundschaft muss darauf aus sein, Gedanken zurückzurufen, die den Sinn der menschlichen Freiheit und übersehene, vergessene oder für unglaubwürdig gehaltene Möglichkeiten eines anderen Zusammenlebens freilegen69. Was so inspirierend wie rätselhaft bleibt, sind die Freundschaften, die aus reinen Nutzinteressen und „Daseinsmotiven“ unbegreiflich und individualdiagnostisch unzugänglich bleiben. Sie sind „empirisch nicht vorhanden“70. So ist auch die alte Frage, ob „der Freund“71 der Gleiche oder der Andere ist, 67 Grunenberg, A. (1993): Antifaschismus – ein deutscher Mythos, Reinbek bei Hamburg, S. 101, 104, 161. 68 Camus, A. (1975): Verteidigung der Freiheit. Politische Essays, Reinbek bei Hamburg, S. 49 f. 69 Bauman, Z. (2003) a. a. O., S. 252. 70 Jaspers, K. (1973): Philosophie II, Berlin; Heidelberg; New York, S. 65. 71 Diese Maskulinisierung ist unvermeidlich und spiegelt die Tatsache, dass Frauen in allen historischen Entwürfen zur Freundschaft nicht vorkommen. Der Freundschaftsbegriff kam aus ohne Freundinnen. Im Grimmschen Wörterbuch ist zu lesen, das Wort „Freundinnen“ sei undeutsch. Und in politischen Theorien des 20. Jahrhunderts: „Männer, Männer und nichts als Männer seit Jahrhunderten“ […] „Nicht einmal eine Luftspiegelung. Nichts“ (Derrida J. (2000) a. a. O., S. 216). Diese Abwesenheit der Frauen wirft einen ständigen Schatten auf das Thema – sowohl auf die Überlieferungen konkreter Freundschaften als auch auf die Theorie des Politischen, die den Freundschaftsbegriff zu Grunde legte. Zwar dokumentiert bekanntlich die umfangreiche Briefliteratur bes. aus dem 18. und 19. Jahrhundert, dass zwischen Männern und Frauen wie unter Frauen intensive und langfristige Freundschaften gab (z. B. Humboldt, W. v. (1924): Briefe an eine Freundin, hg. v. Leitzmann, A., Leipzig. Humboldts Briefe gelten als Schätze des deutschen Humanismus, die Briefe von Charlotte Diede sind nicht 47

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empirisch schlechthin unbeantwortbar. Sie ist außerdem müßig, wenn man davon ausgeht, dass jeder von jedem anderen verschieden ist und auch in noch so edler Freundschaft nicht homogenisierbar wird. Ebenso müßig ist es, die fluoreszierenden Freundschaftsmerkmale hierarchisieren zu wollen, dieses Nebeneinander von Sympathie, Idiosynkrasie, Übereinstimmung, Befremden, Verstehen, Distanz, Anknüpfung, Brückenschlag – die alte Frage also, ob der Freund Gleichgesinnter, Vertrauter, Mentor, Begleiter, Spiegel, Doppelgänger, alter Ego, Mitdenker, Idealbild, Vorbild, Widerhall ist oder In-FrageSteller, Rivale, Replik, Stachel, Herausforderung, Provokation. Man kann Freundschaft nicht definieren, „im Versuch ihrer Vereindeutigung droht sie sich zu verflüchtigen“72. Man könnte Freundschaft als eine Situation der Freiheit und Gleichheit „im Urzustand“ bezeichnen – als einen Möglichkeitsraum, mit dem man etwas anfangen kann, was nicht absehbar und nicht fabrizierbar ist. Hannah Arendt behandelt die Freundschaft wie das Handeln, indem sie sie von allen zweckgebundenen Herstellungsabsichten abgrenzt. Will man Freundschaft formen wie ein Produkt, dann müsste man auch den in jeder Herstellung anfallenden Abfall in Kauf nehmen, und unter diesem Zweckdiktat könnten auch Freunde zu Ausschuss werden. „Wenn einer erst einmal beschlossen hat: Wo gehobelt wird, da fallen Späne, ist er nicht mehr erreichbar für seine Freunde, denn er hat bereits entschieden, keine mehr zu haben, er hat sie bereits alle geopfert. Lauter Späne.“73. Freundschaften sind frei, weil sie keine anderen Gründe und Zwecke, „kein Geschäft noch Anliegen“ haben als die Freundschaft selbst74. Der Andere bleibt prinzipiell unberührbar von zwischenmenschlichen Zugriffen und Einwirkungsinteressen. Der Freund als der Andere, sagt Derrida, ist der, „dem ich seine Bewegungsfreiheit lasse, der ausser Reichweite meines Willens oder meines Wunsches, jenseits meiner Intention bleiben muss“75. Um den Anderen so unbeschadet zu lassen, braucht Freundschaft eine Distanz, die den Anderen vor Vermischungsabsichten, Veränderungswünschen und Idiosynkrasieanfechtungen schützt. Und so weiß

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erhalten). Aber auch diese Briefe fanden sich jenseits politischer Theorie, abgespalten vom Prozess der Moderne. Die Abwesenheit der Frauen ist bekanntlich Stoff jahrzehntelanger Patriarchats- und Androzentrismuskritik gewesen, und sie verursacht bleibenden Ärger und eine andauernde Distanz gegenüber einer Freundschaftsideologie, die in heroischer Männerpose und der Feierlichkeit des Heldengedenkens daherkommt. Zum Skandal dieser Auslassung fällt einem nicht viel Neues ein. Dieser Text verzichtet deswegen auf die erneute Anklage, ebenso darauf, das Phänomen erneut zu gendern – d. h. von vornherein nach dem Geschlecht zu kategorisieren. Bovenschen, S. (2007) a. a. O., S. 137. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 11. Montaigne, M. (1885) a. a. O., S. 221 f., 224. Derrida, J. (2000) a. a. O., S. 235.

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

man nicht, was nach den sich öffnenden Türen geschieht. Was jetzt anfangen könnte, ist die Selbstaufhebung der Beschränktheit des einzelnen, die Grenzsetzungen durch die Freiheit des anderen, das Wagnis von Enttäuschungen, der notwendige Abstand, die eigene Verantwortung für das, was man tut – eine Bewegung in kühler Luft. Montaigne stellte die von ihm anfangs hochgelobte Verschmelzung mit seinem Freund, die „Nahtlosigkeit“ zwischen beiden, mit seiner berühmten Formulierung wieder in Frage: „Wenn man in mich dringt, zu sagen, warum ich ihn liebte, so fühle ich, dass sich dies nicht aussprechen lässt, ich antworte denn: weil er er war, weil ich ich war“76. Er ließ den Gedanken unkommentiert. Diese Figur des einen und des anderen autonomen Selbst kehrt in Jaspers’ Begriff der existentiellen Kommunikation wieder. Gemeint ist, dass der Andere „mir nicht zum Bild wird, er ganz er selbst, und ich ich selbst bleibe, keiner sich in den Anderen verwandelt, und doch jeder weiß, dass er darin eigentlich zu sich kommt“77. Jaspers verstand dieses Zu-sich-selbst-kommen als gegenseitige Schöpfung, die das isolierte Ichsein aufhebt78 – ein Prozess, der sich nur mit dem Anderen vollziehen kann. „Ich kann nicht ich selbst werden, wenn nicht der Andere er selbst sein will; ich kann nicht frei sein, wenn nicht der Andere frei ist, […] den Sinn der Kommunkation erreiche ich nicht durch mein eigenes Tun allein […] Wird der Andere in seinem Tun nicht eigenständig er selbst, so auch ich nicht“79. Dieser Prozess beginnt mit dem Ungenügen am üblichen Umgang und mit der Erfahrung, dass ich es „immer auch an mir (habe) fehlen lassen“80 – ein Sprung ins „Wirklichwerden“, der nicht Harmonie, sondern – im Sprachduktus der Zeit – auch Kampf bedeutet: „Kampf des einzelnen um Existenz, welcher ein Kampf um die eigene und andere Existenz in einem ist“, Kampf um „restlose Offenheit, um die Ausschaltung jeder Macht und Überlegenheit […] In diesem Kampf wagen beide rückhaltlos sich zu zeigen und infragestellen zu lassen“81. „Das Finden des Freundes […] ist selbst in der möglichen Existenz begründet“82, deswegen bin ich an meine Wahl gebunden, sie ist nicht rückgängig zu machen und nicht wieder aufzugeben83, sie ist Ausdruck meiner Freiheit und diese Freiheit das, was ich bin. Sie zu erhellen ist für Jaspers „philosophische Aufgabe“84. Für Arendt wird diese Erhellung zur Aufgabe des politischen Denkens. Sie integriert die Freundschaft und mit dieser das Gespräch in ihre politische 76 77 78 79 80 81 82 83 84

Montaigne, M. (1885) a. a. O., S. 225. Jaspers, K. (1973) a. a. O., S. 109. Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Ebd., S. 59. Ebd., S. 65. Ebd., S. 59. Ebd., S. 175-200. Ebd., S. 51. 49

CHRISTINA THÜRMER-ROHR

Theorie. Der Zusammenhang von Freundschaft und Sprechen und damit die Bedeutung des Gesprächs, erschließt sich erst im Kontext eines politischen Denkens, das nicht den Menschen als „mehr oder minder geglückte Wiederholung desselben“85 zum Maßstab nimmt, sondern von der Pluralität als Grundbedingung des Politischen ausgeht86. Auch das Gespräch basiert auf Gemeinsamkeiten „in einem absoluten Chaos […] der Differenzen“87, wobei sich in jeder Gemeinsamkeit „die Unzulänglichkeit der Logik in der Form einer Pluralität von Meinungen, die zwingend nicht unter einen Hut gebracht werden können“, herausstellt88. Der Pluralität im Medium des Gesprächs entspricht eine dialogische Bereitschaft, in der sich die Entscheidung kundtut, miteinander zu leben: „‚philanthropia‘, eine ‚Liebe zu den Menschen‘, die sich daran erweist, dass man bereit ist, die Welt mit ihnen zu teilen“89. In Arendts Werk finden sich drei dialogische Felder, die auf ein Leben im Modus des Miteinandersprechens verweisen: auf die Möglichkeit der Verständigung, die Möglichkeit des Weltbezugs und die Möglichkeit des Denkens90. Aus der Einzigartigkeit jedes einzelnen, dem Nichtidentischsein mit anderen, folgt, dass Menschen sich verständigen und voneinander wissen müssen91. Im Dialog realisiert sich das Leben als inter-esse: unter Menschen sein, zwischen Menschen sein, mit Menschen zu tun haben92: Wir verlassen die Anonymität, unterscheiden uns aktiv voneinander, bringen uns als Personen zum Vorschein, exponieren uns, geben Aufschluss über uns93. Wir nehmen das Risiko auf uns, auch künftig mit Anderen zu existieren und die Folgen des eigenen Handelns zu verantworten. Es ist der Verzicht „auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist“94. Im Miteinandersprechen und -handeln werden die Anderen gegenwärtig, kann der egozentrisch beschränkte eigene Horizont sich erweitern und können andere Standpunkte zum Bestandteil des eigenen Bewusstseins 85 86 87 88 89 90

91 92 93 94 50

Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 11. Ebd., S. 9 f. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 16; Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 10. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 116. Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 41. Vgl. Thürmer-Rohr, C. (2002): ‚Jede Sache hat soviel Seiten als Menschen an ihr beteiligt sind‘ – Zur Bedeutung des Dialogs im politischen Denken Hannah Arendts. In: Conradi, E.; Plonz, S. (Hg.): Tätiges Leben – Pluralität und Arbeit im politischen Denken Hannah Arendts, Bochum, S. 45-66. Thürmer-Rohr, C. (Sept. 2002): Die Stummheit der Gewalt und die Zerstörung des Dialogs. In: UTOPIEkreativ, Nr. 143, S. 773-780. Thürmer-Rohr, C. (1999): Neugier und Askese – Vom Siechtum des dialogischen Prinzips. In: Greven, T.; Jarasch, O. (Hg.): Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen, Frankfurt/M., S. 61-74. Arendt, H. (1992) a. a. O., S. 164. Ebd., S. 15 Ebd., S. 169. Ebd., S. 169 ff.

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

werden. Erst mit der Anwesenheit der Anderen und der Bereitschaft, sich zu verständigen, wird die Welt zu einer gemeinsamen und gemeinsam zu verantwortenden Welt. Über den Dialog baut sich erst die Welt und Welterfahrung auf, eine Welt, die „nur in dem Maße verständlich [wird], als Viele miteinander über sie reden und ihre Meinungen, ihre Perspektiven miteinander und gegeneinander austauschen […] In-einer-wirklichen-Welt-leben und Mit-Anderen-über-siereden sind im Grund ein und dasselbe“95. Jede Sache hat so viele Seiten, wie Menschen an ihr beteiligt sind96, und Wirklichkeit kann nur erfasst werden im andauernden Gespräch, das die vielfältigen Sichten zum Vorschein bringt97. Die Liebe zur Welt zeigt sich in der Verantwortlichkeit für die von Verschiedenen bewohnte Welt, die dazu da ist, ihnen Heimat zu geben. In der Sorge um eine gefährdete Welt98 erweisen Menschen sich als weltbegabt, indem sie zum Ausdruck bringen, dass die Welt sie etwas angeht. Und indem Menschen über die Dinge der Welt sprechen, werden diese nicht „einfach“, sondern vielfach, und am Ende steht nicht das eindeutige und richtige Ergebnis, sondern die Erkenntnis, dass man, um vorwärtszukommen, immer wieder von vorn anfangen muss. Der Dialog ist auf die Stimulierung des Denkens gerichtet und nicht darauf, gültige Problemlösungen zu bieten99. Menschen haben nicht nur mit anderen Umgang, sondern auch mit sich selbst. Diese Verkehrsform heißt Denken100, ein Vermögen, das beweist, dass auch das Ich nicht als Singular existiert101, sich auch nicht unbedingt im Einklang mit sich erfährt102. Denken ist ein Zwiegespräch103, ein stummer Dialog, in dem man andere Perspektiven in Betracht zieht, die Vorstellung des nicht mit-mir-gleichen aktiviert104 und auf sich selbst zurückwirkt105. Denken, das

95 96 97 98 99 100 101 102

103 104 105

Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 51 ff. Ebd., S. 60 ff. Arendt, H. (1992) a. a. O., S. 173. Hannah Arendt: Vorlesungsnotiz, zit. nach: Breier, K.-H. (1992): Hannah Arendt, Hamburg, S. 45. Ludz, U., In: Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 166. Arendt, H. (1979): Vom Leben des Geistes I. Das Denken, München, S. 184. Ebd., S. 182. Ebd., S. 180. Arendt bezieht sich kritisch auf die Aussage von Sokrates im Dialog mit Kallikles: „‚Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir widersprechen sollte‘. Worauf Kallikles sich zu der Bemerkung veranlaßt sieht, […] es wäre besser für (Sokrates) […], wenn er der Philosophie Lebewohl sagte. Und damit hat er gar nicht so unrecht.“ Ebd., S. 122 f. Arendt, H. (1986): Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft, München, S. 728. Arendt, H. (1979) a. a. O., S. 80. 51

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„Durchsprechen einer Sache mit sich selbst, ist „von vornherein als Dialogisch-mit-sich-selbst-sein auf Andere bezogen“106. Wer denkt, ist immer noch In-der-Welt, in Gesellschaft mit sich selbst und Anderen. Man redet mit sich als einem inneren Gegenüber, dem einzigen, mit dem man zusammenleben muss, so lange man lebt. Man kann ihm nicht entkommen, es sei denn, man hört auf zu denken. Er sollte ein Freund sein, sagt Arendt, denn ein wirkliches Zwiegespräch kann es nur zwischen Freunden geben. „Nur weil ich mit Anderen sprechen kann, kann ich auch mit mir sprechen, d. h. denken […] Der Freund ist nicht ein ‚anderes Selbst‘, sondern das Selbst ist ein anderer Freund“107. Ich muss mit mir selbst leben können, und so ist es gut, mit diesem Gefährten, „der einen erwartet, wenn man nach Hause kommt“108, in Frieden zu leben – aber nicht in Einheit. Als Stimme des Gewissens ist er kritischer Begleiter, dem Rechenschaft zu geben ist, dauernder Fragesteller, Widerpart, Zeuge, Fluchtverhinderer, ein Hindernis beim ständigen Weiter-so. Auch ein begleitender Gedanke wird zum Freund. „Zitate sind Freunde“ schrieb Arendt in ihr Denktagebuch – wie Derrida vom „Fortleben des Freundes im Zitat“ sprach, in welchem Anwesenheit und Abwesenheit, Leben und Tod sich ineinander verkehren109. Diese verschiedenen Dialogfelder sind auch verschiedene Freundschaftsfelder. Damit öffnet sich ein Raum, der die Vorstellungen über Freundschaft erweitert und „den Unterschied zwischen dem Nutzen und dem Sinn einer Sache“ klären kann110. Arendts Freundschaftsmetaphorik enthält keine freundschaftstherapeutischen Anleitungen. „Gespräch“ ist weder Konversation noch akademische Diskussion, auch nicht nur eine persönliche Angelegenheit zwischen Ich und Du, die eingemauertes Potential freilegen kann, sondern ist wesentlich Interesse an einem gemeinsamen Dritten111, Sprechen über potentiell alles. Es ist Ausdruck eines politischen Denkens, mit dem sich im Freundschaftsbegriff wie in einem Brennglas versammelt, was die Kohäsionskraft dieses Denkens ausmacht: die Offenheit zur Welt und das grundsätzliche Vertrauen in die Zwischenmenschlichkeit, „das Vertrauen in das Menschliche al-

106 Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 283. 107 Arendt, H. (2003): Denktagebuch, Bd. 2, München, S. 688 (s. a. S. 695). Siehe auch Derrida, J. (2000) a. a. O., S. 22.: „[…] ich lebe, […] indem ich durch den Mund meiner Freunde zu mir spreche“ 108 Arendt, H. (1979) a. a. O., S. 190. 109 Derrida, J. (2000) a. a. O., S. 20. Siehe auch Sloterdijk, P. (1999): Regeln für den Menschenpark – Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M., S. 7: Man kann Bücher als „dickere Briefe an Freunde“ verstehen, als freundschaftsstiftende Handlungen, Kettenbriefe durch die Generationen, mit denen aufgeschriebene Gedanken die Fähigkeit beweisen, sich durch den Text Freunde zu machen. 110 Arendt, H. (1992) a. a. O., S. 140. 111 Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 42. 52

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

ler Menschen. Anders könnte man es nicht“112. Die Kopplung der Freiheitsidee mit der Freundschaft macht das “eigentlich menschliche, weil freie = freiwillige Zusammenleben“ zum Miteinandersprechen113 als einem mit Anderen über etwas sprechen114, das beiden gemeinsam ist. Wie das Handeln bleibt es sich der Pluralität bewusst und wird damit niemals ein eindeutiges Produkt von mir selbst115. „Das Ziel ist frei“116. Das sah John Stuart Mill anders. Für ihn, den Apostel der Freiheit, blieb bei deren Verteidigung und ganz im utilitaristischen Fortschrittsvertrauen des 19. Jahrhunderts das Nützlichkeitsprinzip die „letzte Berufungsinstanz“117. Die Diskussion, eine freie, gleichberechtigte Erörterung, sollte der Überzeugung, der Überredung, der unabhängigen und nicht durch Täuschung erlangten Zustimmung dienen. Die „Nützlichkeit“ der Freiheit sah Mill „in den ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelnden Wesens“ begründet118. Er sprach von den „heilsamen Dauereffekten der Freiheit“119, heilsam, weil nur die freie Exposition verschiedener Meinungen zur „Korrektur eigener Missgriffe“120, zur Verbesserung eigener Erkenntnisse, zur Weitung des Geistes, zur Ausbildung von Verstand und Urteilsfähigkeit führe121. Weil wir unvollkommen sind und die eine Wahrheit nicht kennen, kann nur die Wahrnehmung der Vielfalt von Individualitäten und Lebensformen und nur das Anhören anderer, immer bestreitbarer, immer erörterungsfähiger und – bedürftiger Denkweisen zur Annäherung an eine „bessere Wahrheit“ führen122. Ohne den Gedanken der Freundschaft wird hier das Gespräch zur Bildungsveranstaltung und das Reden mit Anderen zu einem Übungsfeld123, um die geistigen und moralischen Kräfte durch Gebrauch stark zu machen124. Freiheit ist ein Mittel, um den eingewohnten Engherzigkeiten und Verkrüppelungen und der Tyrannei der Gewohnheit zu entkommen: Mittel auf dem Weg zur Vervollkommnung der Menschheit125. Von solchen aufklärerischen Vervollkommnungsabsichten ist bei Arendt nicht die Rede. Wenn sie das Sprechen mit Anderen in einer Terminologie der 112 Arendt, H. (1996): Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: Ich will verstehen – Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München, S. 70. 113 Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 392. 114 Ebd., S. 340. 115 Ebd., S. 283. 116 Ebd., S. 642. 117 Mill, J. S. (1974): Über die Freiheit, a. a. O., S. 18. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 21. 120 Ebd., S. 30. 121 Ebd., S. 47 ff. 122 Ebd., S. 32 f. 123 Montaigne, M. (1885) a. a. O., S. 229. 124 Mill, J. S. (1974) a. a. O., S. 81. 125 Ebd., S. 97. 53

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Freundschaft behandelt und der Mittel-Zweck-Logik entzieht, wird das Gespräch zu einem Ort der „Menschlichkeit“. Wenn Freisein und Menschsein, Handeln und Freisein, Sprechen und Handeln zusammenfallen126, wohnt die Freiheit dem Gespräch selbst inne. Und damit haben wir, sagt Arendt, allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass wir die Wahrheit nicht kennen, denn würden wir sie kennen, käme der unerschöpfliche Reichtum des menschlichen Gesprächs unweigerlich zum Stillstand127. Weder die Wahrheit macht uns frei noch ihr Nicht-Besitz noch das diskursive Streben nach ihr, sondern Wahrheit kann es nur geben, „wo sie durch das Sprechen vermenschlicht wird“128. Gespräche der Freundschaft werden damit unübersichtlich, unwägbar, unplanbar und zur einzigartigen Chance. Der ungarische Komponist György Kurtag, auch ein Meister der Freundschaft, der immer wieder Zeitgenossen oder längst Verstorbenen seine Stücke als Geschenke, Hommagen, in memoriam gewidmet hat, schrieb in seinem Nachruf auf György Ligeti: „Er fragte mich, was ich gerade machte […] er fragte und ich antwortete […] er bohrte tiefer und tiefer […] immer neue Ideen, Anregungen, Zweifel, Fragen […] Er zwang mich zu genauerem Nachdenken, zum Nachforschen und führte mich durch seine inquisitorische Neugierde in neue, für mich unerwartete Zusammenhänge“129. Man kann solche Freundschaftszeichen als Momente unendlicher Möglichkeiten und unerwarteter Mischungen beschreiben130, als Glückslinien, Verlebendigung, Bewegung, Entzündung, Anregung, Ansteckung, Infektion, Bündnis, Konspiration, Komplizenschaft einschließlich aller „idiosynkratischen Turbulenzen“131. Das Selbst-Bleiben des Anderen ist hier kein moralisches Postulat, zu dem man sich gegenseitig auffordern muss, sondern Werk des Eros132, auf das sich die „Bedürftigkeit des Einen für den Anderen“133 gründet. „Das wahrhaft menschliche Gespräch“ sagt Arendt „unterscheidet sich von der bloßen Diskussion dadurch, dass es von der Freude an dem anderen und dem, was er sagt, ganz durchdrungen ist“134. Wenn solche Freundschaften „Fügung des Himmels“135 oder „Sternenfreundschaften“136 genannt worden sind, dann verweisen diese Verlagerungen ins Überirdische

126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 54

Arendt, H.: Revolution und Freiheit. In: Arendt, H. (1994) a. a. O., S. 229. Arendt, H.: Wahrheit und Politik. In: Arendt, H. (1994) a. a. O., S. 333. Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 48. Kurtag, G. (2007): Kylwyria – KálváriaAppendix. Über György Ligeti. In: Neue Zürcher Zeitung, 4./5.August. Bovenschen, S. (2007) a. a. O., S. 119-148. Ebd., S. 130. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 203. Ebd., S. 158. Arendt, H. (1989) a. a. O., S. 31. Montaigne, M. (1885) a. a. O., S. 225. Nietzsche, F. (1921): Die fröhliche Wissenschaft, Klass. Ausgabe, Bd. 5, Stuttgart, Aph. 279, S. 212.

FREUNDSCHAFT UND FREIHEIT

nicht nur auf die Unerklärbarkeit, sondern auch auf die Unbedingtheit dieser Erfahrungen. Durch alltägliche „irdische“ Querelen sind sie nicht zerstörbar.

55

Hannah Arendt on Friendship* IDITH ZERTAL Let me start my essay on Hannah Arendt’s concept of friendship, by using her own words upon the death of her good friend, the political philosopher, Waldemar Gurian. I just changed the subject’s gender. Here it is: “She was a woman of many friends and a friend to all of them, women and men, […], people in many countries and from practically all walks of life. Friendship was what made her at home in this world and she felt at home wherever her friends were, regardless of country, language or social background.”1 Another passage in her eulogy of Gurian reads: “Faithfulness to his friends, to everybody he had ever known, to everything he had ever liked, became so much the dominant note on which his life was tuned that one is tempted to say that the crime most alien to him was the crime of oblivion, perhaps one of the cardinal crimes in human relationships.”2 These beautiful words indeed thrust us into the heart of the matter: being and feeling at home in the world through friendship, or friendships in plural, and through love as well, though in a different manner, a world into which we all arrive as complete strangers, as she would say repeatedly in so many variations. One cannot but reflect on how uncanny was the prevailing, vulgarized image of that woman, who stood in the midst of such furious controversies and who had been deemed – mainly by those who have never read her philosophical-political books and essays and had been nourished exclusively by those popular images – as a coldhearted, malicious person, compared with the reality which emerges in such force from her life story, her intellectual work, and the web of relationships she has woven, as a woman of great passions and loyalties. I would suggest that this vulgar image which had stubbornly clung

* 1 2

A sketch, based on a lecture delivered at the University of Girona, Spain, December 2008. My thanks to Jerome Kohn for his reading and his comments. Arendt, H. (1983): Men in Dark Times, New York, p. 251. Ibid., p. 254 57

IDITH ZERTAL

to her name, might have perhaps been, partially at least, her own doing, consequence of the shield she had wrapped herself up with in order to conceal her vulnerability and sense of precariousness, as a German Jewess in the dark times of the first half of the 20th century; as an uprooted, a stateless and a refugee for a considerable part of her life; and as a woman, as such, and also as a much too bright a female in a profession which until quite recently was the guarded, exclusive domain of men. Friendship, communication, and conversation were central themes in Arendt’s life and work, as they have been for her teacher and friend Karl Jaspers. Their own unique, life-long friendship, and the erudite and compassionate conversation they entertained with each other for decades, in writing and in oral, is an exemplary homage to each one of them and to the very idea of friendship. In their later years both acknowledged their precious, ongoing dialogue, the influence each had on the other’s life and works, and yet none had ever been tempted or coerced to sacrifice one’s independence of thought and critical stance within that dialogue. In the words of Jaspers, friendship was “utter openness, with exclusion of all force and superiority, with the self-being of the other as well as my own, a struggle in which both sides dare, without reserve, to lay themselves open and to let themselves be called into question... a struggle of existential communication, which always is the secret of two.”3 Thus, by means of the enduring, sustaining dialogue she held with Jaspers since she completed her dissertation, together with the inner strength and security she gained through the love and friendship she experienced with her husband whom she met and married in Paris, while both were living on the edge as refugees, and with the publication, in 1951, of The Origins of Totalitarianism, her master work written in a foreign language in a foreign land, she seems to have gradually found her place in this world. How else can one understand the unique passage about the unsurpassable grace of love and friendship that one finds already in that constitutive book, which she dedicated to her husband: “All that is mysteriously given to us by birth and which includes the shape of our bodies and the talents of our minds, can be adequately dealt with only by the unpredictable hazards of friendship and sympathy, or by the great and incalculable grace of love, which says with Augustine, ‘Volo ut sis (I want you to be),’ without being able to give any particular reason for such supreme and unsurpassable affirmation.”4 Yet at the same time she kept her distance, and retained her constantly dual existence, in and out, involved and reluctant, solidaire and solitaire. In 1954 she writes: “Ich lieb die Erde/ so wie auf der Reise/ den fremden Ort/

3 4 58

Jaspers, K. (1970): Philosophy, vol. 2, Chicago, p. 60-61. Arendt, H. (1979): The Origins of Totalitarianism, New York, p. 301.

HANNAH ARENDT ON FRIENDSHIP

und anders nicht (I love the earth/ as a traveller loves/ a foreign place,/ and otherwise not).”5 From the existential stance according to which human beings, as creatures not at home in the world and forever struggling to transcend this alienation through love, friendship and action in the world, the world as a space in which human beings live together, things become public and politics can originate, Arendt would slowly come to terms with this earthly place, even in face of the “speechless horror at what man may do and what the world may become”, and with her own uniqueness in it. On 6 August 1955, she wrote to Jaspers informing him of her trip to Europe and her wish to visit him in Basel. “Yes, I would like to bring the wide world to you this time. I have begun so late, really only in recent years, to truly love the world, that I shall be able to do that now. Out of gratitude I want to call my book on political theories ‘Amor Mundi’.”6 It is not as if she became reconciled to the world in the sense that she was no longer horrified by evil deeds; but love and friendship, and loyalty and laughter, made the passage in the world an easier, more homely experience. And in searching for the meaning of deeds, as her biographer Elisabeth Young-Bruehl noted, she realized that humans win all that is possible for them as they look upon past evils – through thinking and judging, and speaking and telling about them. “All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them,” Arendt would quote a beloved author, Isak Dinesen. 7 She dealt with the concepts of Amor Mundi, love of the world, of neighborly love, and of friendship already in her dissertation written under the supervision of Karl Jaspers and completed when she was only twenty two years old. Love of the world as seen from the point of view of mortal man, is a wrong and mundane love that clings to the world and at the same time makes man as an earthy being. And since only love can constitute a world as man’s home, the question is, would it not be better to love the world in cupiditas, namely in sin, and be at home in the world, than not to love it at all? The concept of neighborly love, however, love of the human kind, love in the present tense, was presented in her book on Augustine as the most fundamental, the one toward which the other forms of love, caritas and cupiditas, charity and lust, were in fact oriented. In the last part of the book; “Social Life”, while saying that at the end there are but two loves: love of the world and love of God, Arendt deals with the dialectic relation between love of the world and love of God, writing that “though freedom of choice recalls the individual from the world and severs his essential social ties with human kind, the equality of all people (by the fact of being born and having a finite, limited life 5 6 7

Quoted in the Introduction by Jerome Kohn. In: Arendt, H. (1994): Essays in Understanding. 1930-1954, ed. by Kohn, J., New York, p. xxviii. Arendt, H.; Jaspers, K. (1993): Correspondence. 1926-1969, New York, p. 264. Arendt, H. (1983) op. cit., p. 104. 59

IDITH ZERTAL

span on earth), [this equality] once posited cannot be cancelled out. In this process equality receives a new meaning – love of neighbor. Yet the new meaning denotes a change in the coexistence of people in their community, from being inevitable and matter of course [namely a given], to being freely chosen and replete of obligations.”8 In her dissertation, but more so in her next work dedicated to the life, times and loves of Rahel Varnhagen, the German Jewess who lived and wrote at the end of the 18th century and the first decades of the 19th century, Arendt transcends and goes beyond her previous notions of love and devotes herself to the complex relation between Eros and Amor Mundi, erotic love of person and love of the world, which denotes the being in and of the world, the action in it and the transforming it into a home. The themes of her later, major work thus begin to take shape. Love for Arendt was worldless, out of the world, when two human beings create their own space, “within four walls,” and need this ultimate privacy and intimacy, with no world between them, until a third, that is a child, comes in. In her Denktagebuch, (Book of Thought) she would scribble in January 1954, that Eros and philosophy are similar, “go together,” because both need this state of worldlessness, of being apart, out of the world, to conduct their dialogues, for lovers “the dialogue of love,” and for philosophers, being with “their own selves” and having the Socratic “dialogue of thought” between one and oneself, me and myself.9 Friendship, on the other hand, was an experience lived in the world, about the world, and acting in and upon it, thus profoundly affecting it. Friendship for Arendt was about plurality, diversity, and distinctions, and the in-between which is the world, which are being kept and respected in friendship, since the world can form only in the interspaces between human beings in all their variety. And it was also about thinking and sustaining a dialogue between independent, free thinkers. Here is what she writes about the 18th century German playwright and essayist Ephraim Gotthold Lessing, another model of thinking independently (his famous Selbstdenken), of freedom, courage and, yes, again, friendship: By his taking sides for the world’s sake... “The fermenta cognitionis which Lessing scattered into the world were not intended to communicate conclusions (or truths), but to stimulate others to independent thought, and this for no other purpose than to bring about a discourse between thinkers.” And she adds: “Lessing’s thought is not the (Platonic) silent dialogue between me and myself but an anticipated dialogue with others.”10 Yet even this Platonic inner dialogue, which is the act of thinking, requires friend8

Arendt, H. (1996): Love and Saint Augustine, Chicago; London, p. 102, A:033353. 9 Arendt, H. (2005): Journal de pensée. 1950-1973, vol. 1, January 1954, no. 25, Paris, p. 502. 10 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 10. 60

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ship. “Existentially speaking,” she wrote in another essay (On Civil Disobedience), “this dialogue, like all dialogues, requires that the partners be friends. The validity of the Socratic propositions depends upon the kind of man who utters them and the kind of man to whom they are addressed.”11 The leitmotif which runs through Lessing’s most famous play, Nathan the Wise, based on the person of Lessing’s best friend Moses Mendelsohn, is the appeal: “Be my friend.” Unlike Rousseau, who considered fraternité as the fulfillment of humanity, Lessing, wrote Arendt, considered friendship – which is as selective as compassion is egalitarian – to be the central phenomenon in which alone true humanity can prove itself.12 The ancients, said Arendt, thought friends indispensable to human life, and that life without friends was not really worth living. Friendship for them had a crucial political dimension as well. When Aristotle said that friendship among citizens is one of the fundamental requirements for the well-being of the world, he spoke mainly of discourse, since for the Greeks the essence of friendship consisted of discourse. Only the constant interchange of talk united citizens in and created a polis. In discourse the political importance of friendship, and the humanness peculiar to it, were made manifest. This converse, be it a pleasure among friends, is concerned with the common world, which remains “inhuman” in a very literal sense unless it is constantly talked about by human beings. “For the world is not humane just because it is made by human beings, and it does not become humane just because the human voice sounds in it, but only when it has become the object of discourse.”13 We humanize what is going on in the world, Arendt said, and in ourselves only by speaking of it, and in the course of speaking of it we learn to be human. The Greeks, she said, called this humanness, which is achieved in the discourse of friendship philanthropia, ‘love of man’, since it manifests itself in a readiness to share the world with other men. Lessing would even have preferred a friendship between two human beings to any absolute truth, doctrine, or religion. His total lack of “objectivity, or his always vigilant partiality had nothing to do with subjectivity,” because it was always framed, as Arendt said, not in terms of the self but in terms of the relationship of men to their world, in terms of their positions and opinions. “Any doctrine that in principle barred the possibility between two human beings would have been rejected by his untrammelled and unerring conscience. He would instantly have taken the human side.”14 He who was polemical to the point of contentiousness, could no more endure loneliness than the excessive closeness of brotherliness 11 Arendt, H. (1972): Civil Disobedience. In: Arendt, H.: Crises of the Republic, New York, p. 63. 12 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 12. 13 Ibid., p. 24. 14 Ibid., p. 25-29. 61

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[which occurs in dark times, among persecuted people] that obliterates all distinctions. He was never eager really to fall out with someone he entered into a dispute with; he was concerned solely with humanizing the world by incessant and continual discourse about its affairs and the things in it. As Arendt said, “He wanted to be the friend of many men, but no man’s brother.”15 While always keeping her distinctness and distance Arendt had a special way with her friends, both the dead and the living, and she made them wonderfully alive and humane by telling their stories, and telling her own story through theirs. She wrote and spoke generously about them, and under her pen even the dead became graphically vibrant. She did so not just because she considered them her friends, but she believed that their Existenz and their work were humanly crucial and should be told, and because they had something important, urgent to say through their life stories. Life experiences and life stories were, as a general rule, the spring of her thought. “Any thought process,” she said in 1964, “is not possible without personal experience.” Her own life story could as well be found in the life stories of others that she wrote, and they all served her thinking activity, her being in the world, and making her a place in it. Indeed, much of her philosophical and historical deliberation is anchored in the lives and experiences of other people, in which she always saw some kind of reflection of her own. Biographies or biographical sketches, or examples, such as those of Franz Kafka, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, Isak Dinesen, Rosa Luxemburg, Ephraim Gotthold Lessing, Marcel Proust, and their stories, their lifestories (“because a life that could not be put in a form of a story, that could not be told, was not a life,” she said) served her in her theorizing about life, love, friendship, the world, and politics. She identified life with thinking and love and friendship. “The idea of a passionate thinking,” she would write later in life, “in which thinking and aliveness become one[…] This passionate thinking, which rises out of the simple fact of being-born-in-the-world… can no more have a final goal[…] than can life itself.”16 In her second book, on Rahel Varnhagen, the German Jewish woman whom she considered “my closest friend, though she has been dead for some hundred years,” (she also thought of Augustine as “an old friend”), one can find a mesmerizing sentence on the close bond between love, life, friendship and storytelling. She writes there about another woman of that generation, Dorothea Schlegel, the youngest daughter of Moses Mendelssohn, and wife of the poet, critic and scholar Friedrich Schlegel. Dorothea Schlegel “encountered life just once, when she met Schlegel and he loved her. But she at once 15 Ibid., p. 30. 16 Arendt, H. (1978): Heidegger at Eighty. In: Murray, M. (Ed.): Heidegger and Modern Philosophy, New Haven; Arendt, H.: letter to Heidegger, 22. April 1928. 62

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abandoned life again by immortalizing this one moment. There was nothing in her to narrate, because it had no story, because it stubbornly took its stand upon the experience of a single, swiftly-passing moment. She simply threw her life away upon a moment.”17 Arendt was attracted to Rahel Varnhagen, not only because of her brilliant intelligence, her merciless capacity for reflection and self reflection, but even more so because of her formidable talent for making friends and for falling in love, being frustrated in and by them, and then starting all over again. Her lamenting, constantly broken heart was for Arendt the highest confirmation of a meaningful existence. “The heart is a curious organ,” she was to note in her Denktagebuch, in January 1954. “Only when it is broken, it beats in its proper rhythm; when it is not broken it is petrified. The stone falling off somebody’s heart is almost always the one into which the heart will in a way transform itself.”18 Love and friendship became for Arendt the pillars of her life and thought, changing in nuances, developing, forever deepening in their meanings. I would say that her profound existential precariousness was, in the first place, at the basis of many of the life-long friendships that she cultivated so diligently in order to make herself and others feel at home in an alien world. It surely served as the bridge that connected her, at least in the beginning, to Walter Benjamin, and related him to her as well. Both were too much geniuses for an ordinary, secure life in the times of nobodies in which they happened to live. It was Adorno who said that “The perfidious reproach of being ‘too intelligent’ haunted him [Benjamin] all his life”; both were persecuted Jewish fugitives in a darkening world; both were deeply wounded from family misfortunes and scarred from the malheurs of failed loves; and both were survivors when they met in Paris, in 1933, with no firm ground under their feet. Her essay on Benjamin, written in the late 1960s while she was preparing an English edition of a collection of his essays, is not only a hymn to friendship and to a defunct beloved friend; it is a remarkable display of generosity itself, and an utter acknowledgment of Benjamin’s uniqueness (‘schlechthin unvergleichlich’; absolutely incomparable, said Hugo von Hofmannsthal when he read Benjamin’s essay on Goethe) in everything he did, said, or wrote, and in the way he behaved, positioned himself and moved in and about the world. The tone of the text is special as well, loaded with a deep sense of tragedy and pending doom, and yet at the same time permeated with an oblique humour, the kind that comes out of despair, and irony or self-irony. But more than anything, her text is suffused with infinite tenderness, mother-

17 Arendt, H. (1974): Rahel Varnhagen: The Life of a Jewish Woman, New York, p. 108. 18 Arendt, H. (2005): op. cit., p. 506. 63

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like, for this schlemiel who, like all the schlemiels she knew either personally or through their life-stories, was especially close to her heart and whom she attempted, alas in vain, by posthumously writing about him to undo what was done, and to retroactively redeem this destiny of the lost prodigious son. The double tone is set at the outset. Success and fame, basically bourgeois, arriviste, and quite repugnant values came, unfortunately, only posthumously. And his death, would say Bertolt Brecht, “was the first real loss Hitler had caused to German literature.”19 He put an end to his life on his way to America where he did not want to go, and to where nothing really drew him, “where, as he used to say, people would probably find no other use for him than to cart him up and down the country to exhibit him as the ‘last European’.”20 And Arendt writes, that “the immediate occasion for Benjamin’s suicide was an uncommon stroke of bad luck,”21 because “only on that particular day was the catastrophe possible.”22 Without going into the details of the calculations she and others were haunted by for long – of what could or should have happened had he passed the French-Spanish border not on September 26, 1940, but on any other day – misfortune, as Arendt said, trying to really believe in her own words, lurked wherever he went. For his was the inextricable net woven of merit, great gifts, clumsiness and misfortune.23 Quoting Benjamin citing what Jacques Riviere said about Marcel Proust, that “he died of the same inexperience that permitted him to write his works. He died of ignorance[…] because he did not know how to make a fire or open a window,” Arendt added that in this quotation on Proust “he [Benjamin] was of course also speaking about himself.”24 “His clumsiness,” wrote Arendt, “invariably guided him to the very centre of misfortune, or wherever something of the sort might lurk.”25 Multiple had been the examples. And “whenever he tried to adjust and be co-operative so as to get some firm ground under his feet somehow, things were sure to go wrong.”26 The city of Paris was a great friend to Benjamin as well, as it has been to Arendt, and it gave him much solace. The streets of Paris, he wrote, were “almost more homelike”27 than those of Berlin, his birthplace. Thus the trip from Berlin to Paris was tantamount to a trip in time – not from one country to another, but from the twentieth century back to the nineteenth, “his” cen19 20 21 22 23 24 25 26 27 64

Arendt, H. (1983) op. cit., p. 154. Ibid., p. 170. Ibid. Ibid., p. 170. Ibid., p. 159. Ibid. Ibid. Ibid., p. 162. Benjamin, W. (1966a): Briefe I, 2 vols., Frankfurt/M., p. 56; Arendt, H. (1983) op. cit., p. 172.

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tury. This city, writes Arendt, from her own experience as well, offered itself “with unparalleled naturalness […] to all homeless people as a second home ever since the middle of the last [nineteenth] century. Neither the pronounced xenophobia of its inhabitants nor the sophisticated harassment by the local police has ever been able to change this.”28 The city compensated for all the hardships, the hatred, the lack of recognition. Its boulevards are formed by houses which, said Benjamin, “do not seem made to be lived in, but are like stone sets for people to walk between.”29 And the city offered shelter and warmth, as if from all the hazards that lurked outside. “It is the uniform facades, lining the streets like inside walls that make one feel more physically sheltered in this city than in any other. The arcades [that are inside and outside at the same time and thus represent Paris’s true nature in quintessential form] which connect the great boulevards and offer protection from inclement weather exerted such an enormous fascination over Benjamin.”30 In Paris, Arendt continued, “a stranger feels at home because he can inhabit the city the way he lives in his own four walls. And just as one inhabits an apartment, and makes it comfortable, by living in it instead of just using it for sleeping, eating, and working, so one inhabits a city by strolling through it without aim or purpose, with one’s stay secured by the countless cafés which line the streets and past which the life of the city, the flow of pedestrians, moves along.”31 As surprising as it might sound, Bertolt Brecht was another source of warmth and bliss for Benjamin, and their friendship was, according to Arendt, “the second and incomparably more important stroke of good fortune in Benjamin’s life.”32 At some point in the 1920s, when Benjamin started seriously to study Kafka he discovered in Brecht, so says Arendt, “the poet who was most at home in this century.”33 To Adorno and Gershom Scholem who blamed Brecht for Benjamin’s undialectic usage of Marxian categories, “Benjamin, usually quite inclined to compromises albeit mostly unnecessary ones,” said Arendt, “knew and maintained that his friendship with Brecht constituted an absolute limit not only to docility but even to diplomacy, for ‘my agreeing with Brecht’s production is one of the most important and most strategic points in my entire position.’”34 In permanent financial troubles because he lacked steady, decently remunerating work, Benjamin found help in friends, among them Hannah Arendt

28 29 30 31 32 33 34

Ibid. Benjamin, W. (1966a) op. cit., p. 56; Arendt, H. (1983) op. cit., p. 173. Ibid., p. 173-174. Ibid., p. 174. Ibid., p. 167. Ibid., p. 200. Benjamin, W. (1966b): Briefe II, 2 vols., Frankfurt/M., p. 594; Arendt, H. (1983) op. cit., p. 168. 65

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who, together with Gershom Scholem, not only admired and loved him, but also shared constant concern for his well-being and the possibility of pursuing his writing. He once thought to transform his obsession for books into a living through buying “an interest in a secondhand bookstore.”35 This was “the only gainful employment that Benjamin ever considered. Nothing came of it, of course.” Benjamin himself explained why, in his very own way. “There are places in which I can earn a minimum and places in which I can live on a minimum, but there is no place where I can do both.”36 Kafka, who was much on Benjamin’s mind, and a kind of model of failure for him, could not have said it better. Arendt thought that “undoubtedly Benjamin had […] his own work in mind when he wrote that ‘an understanding of [Kafka’s] production involves, among other things, the simple recognition that he was a failure’”37 and“‘One is tempted to say: once he [Kafka] was certain of eventual failure, everything worked out for him en route as in a dream’.”38 Arendt adds: “What Benjamin said of Kafka with such unique aptness applies to himself as well.” Or: “He did not need to read Kafka to think like Kafka.”39 As long as he lived one might have described him in Primo Levi’s words as “the drowned and the saved.” Or, as Arendt wrote, again with strikingly tender observation: “His gestures and the way he held his head when listening and talking; the way he moved; his manners, but especially his style of speaking, down to his choice of words and the shape of his syntax; finally, his downright idiosyncratic tastes – all this seemed so old-fashioned, as though he had drifted out of the nineteenth century into the twentieth the way one is driven onto the coast of a strange land.”40 Images of strangeness and estrangement, darkness and uncanniness (unheimlichkeit), total collapse, utter break of continuity, or of tradition for that matter, are abundant in his texts and inform them, as well as Arendt’s, when writing on him, and on their common times. In a letter to Gershom Scholem that Arendt quotes in her essay, Benjamin wrote in April 1931, in his twisted, oblique way: “Like one who keeps afloat on a shipwreck by climbing to the top of a mast that is already crumbling. But from there he has a chance to give a signal leading to his rescue.”41 Was he capable, with “his innate nobility,” such are Arendt’s words, to call for help? Was he at all rescuable? Did he want to be rescued? Arendt does not tell all, even if she admits that “with a precision suggesting a

35 36 37 38 39 40 41 66

Benjamin, W. (1966a) op. cit., p. 292; Arendt, H. (1983) op. cit., p. 178. Benjamin, W. (1966b) op. cit., p. 563. Ibid., p. 614; Arendt, H. (1983) op. cit., p. 169-170. Benjamin, W. (1966b) op. cit., p. 764; Arendt, H. (1983) op. cit., p. 170. Ibid., p. 170. Ibid., p. 172. Ibid., p. 172.

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sleepwalker, he stumbled into catastrophe after catastrophe.”42 Yet she does not mention all the evidence that predestined what occurred on September 26, 1940. We don’t learn of the devastating impact that the suicide of his best friend from their university days, at the outbreak of World War I, had on Benjamin. She skips his own failed attempt to finish his days already in 1930. And she does not disclose what Benjamin told her, during their last meeting, about the large doses of morphine he was carrying with him, when both were fleeing not only the Nazis but also their collaborators, the French authorities, en route via Spain and Portugal to America. In a last Benjaminian coup, the place of burial, the site of Benjamin’s last rest, was never found, although Henny Gurland who together with Benjamin had taken the rescue road from Cerbere on the French side of the border to Portbou, on the Spanish, paid the town to have Benjamin buried in the cemetery. When several months later (January 1941) Arendt passed through Portbou, she went to the beautiful little cemetery hanging on the cliff, but found no trace of Benjamin’s grave. “It was not to be found,” she wrote to Scholem. “His name was not written anywhere.” The Cemetery, overlooking the dark blue magnificent waters, is “one of the most fantastic and beautiful spots I have seen in my life,” she said. The spectacular setting, the disappearance of the still unrecognized genius, together with his ultimate, never to be seen again manuscript, in the thin blue skies, and the purloined grave, all make the perfect material out of which grow myths and legends.

42 Ibid., p. 159. 67

II

Karl Jaspers und Hans-Georg Gadamer. Ein Traditionsbruch? 1 REINHARD SCHULZ

I.

Gadamers Erinnerungen an den Vorgänger

1990 sind die von dem Kollegen Rudolf zur Lippe initiierten Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ins Leben gerufen worden und werden mit einem seit 1997 veränderten Konzept, das als wesentliches neues Element die Verleihung des Karl Jaspers Förderpreises vorsieht, zunächst mit Unterstützung der Stiftung Niedersachsen und seit 2004 mit der Oldenburgischen Landesbank, einmal jährlich weiter fortgesetzt. Am 18. September 1990 hat Hans-Georg Gadamer als einer der ersten Gäste der Vorlesungsreihe den Vortrag „Kunst und Kosmologie“2 gehalten. Er nahm diese Einladung zum Anlass, sich zu Beginn seines Vortrages ausführlich über Karl Jaspers zu äußern, dessen Nachfolger auf dem Heidelberger Lehrstuhl er 1949 geworden ist.3 Als junger Student in Marburg, „einem Ort, an dem der Apriorismus des Neukantianismus hochstilisiert einherging“4, habe ihm ein Studienfreund von Karl Jaspers, „dem neu aufgehen-

1

2 3

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Überarbeitete Fassung des unveröffentlichten Vortrages: „Eine eigene Schönheit des Weges“ anlässlich einer öffentlichen Tagung „Begegnungen mit Karl Jaspers“ an der Gutenberg Universität Mainz, 7.-9. Juni 2006. In: Gadamer, H.-G. (2000): Hermeneutische Entwürfe: Vorträge und Aufsätze, Tübingen, S. 181-191. Die Bemerkungen über Jaspers hat Gadamer in seinen selbst veröffentlichen Beitrag „Kunst und Kosmologie“ nicht übernommen, sie sind aber in den gleichnamigen Beitrag anlässlich der am 18. September 1990 in Oldenburg gehaltenen Vorlesung mit abgedruckt worden. In: Gadamer, H-G. (2008): Kunst und Kosmologie. In: Reinhard Schulz (Hg.): Zukunft ermöglichen. Denkanstöße aus fünfzehn Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Zu Ehren des Initiators Rudolf zur Lippe, Würzburg, S. 159-172. Ebd., S. 159. 71

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den Stern in Heidelberg“5, berichtet, der „ein Meister im Leiten eines philosophischen Seminars“6 gewesen sei. Heidegger habe später diesbezüglich in einer Briefwendung von einer „eigenen Schönheit des Weges“7 bei dem anfangs mit ihm eng befreundeten Jaspers gesprochen. Laut Gadamer könne man Jaspers nicht im gewöhnlichen Sinne zu den Philosophieprofessoren zählen, da er ja Arzt und Psychiater gewesen sei und er, Gadamer, habe erst Jahrzehnte später die Ehre gehabt „eines Tages in Basel das Ehrendiplom eines Dr. phil. „nachzuliefern“.8 Gadamer beschreibt dann die Situation, in der Karl Jaspers „als eine eigenständige Figur ganz besonderer Art“9 in Deutschland aufgetreten sei. Von den philosophischen Kollegen in Heidelberg als Psychopathologe zur philosophischen Habilitation zugelassen, habe er dort mit einem Neukantianer wie Heinrich Rickert „ein höchst seltsames Gespann abgegeben“.10 Gewöhnt an den dramatischen Vorlesungsstil von Martin Heidegger („der auf dem Katheder plötzlich wie ein Verwandelter war und […] eine bannende Wirkung ausübte“11) beschreibt Gadamer seinen ersten Besuch einer Heidelberger Vorlesung von Karl Jaspers in der Erinnerung eines Neunzigjährigen wie folgt: „Karl Jaspers dagegen [i. U. zu Heidegger] saß behaglich auf seinem Sessel, schaute gelegentlich ein bisschen über seine Brille hinweg, was ja alle Leute machen müssen, wenn sie gleichzeitig in die Ferne und in die Nähe sehen wollen, und plauderte auf eine geistreiche Weise, gewiss, es kamen geschliffene Sätze vor, und ich sah sofort: das ist ein ganz anderer menschlicher Stil des Philosophierens. Hier ist jemand, der eigentlich seine Meditationen vorträgt, die aus einem bestimmten persönlichen Erfahrungsleben aufsteigen. […] Später erschien dann sein Hauptwerk [gemeint ist die Philosophie12], und das war für uns eine große Sache, weil wir sofort das Gefühl hatten, hier ist einer neben Heidegger, der für uns auch schon ein reines Menetekel war, der durch seine Eigenart und Kraft des Denkens wirklich eine eigene Schönheit des Weges gegangen war. Er hatte inzwischen eine Prosa entwickelt, die als solche einen sehr hohen Kunstwert hat. Der Jaspersche Stil fiel durch das Weglassen von Artikeln zu den Begriffen, von denen er redete, auf, sozusagen, um abzuschwören, dass seine Worte Begriffsgebrauch sind.“13

5 6 7 8 9 10 11 12

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 160. Ebd. Ebd. Jaspers, K. (1932): Philosophie, 3 Bde., Berlin, 4. unveränderte Aufl. Berlin; Heidelberg; New York 1973 – 5. Aufl. München; Zürich 1991 als Taschenbuch. 13 Ebd. 72

KARL JASPERS UND HANS-GEORG GADAMER

Gadamer wirft dann die Frage auf, worin Jaspers’ eigene Philosophie bestanden habe und bestimmt Jaspers dann als den eigentlichen Kantianer in der Zeit des Neukantianismus,14 da seine Philosophie sich analog den drei kantischen Kritiken unterteilen lasse in erstens die „wissenschaftliche Weltorientierung“, zweitens die von Kierkegaard und Buber beeinflusste „Existenzerhellung“ und drittens in die „Metaphysik“ in „einen ganz weiten unakademischen Sinn […], für all das, was es jenseits dieser beiden Bereiche von Weltorientierung und Existenzerhellung gibt.“15 Da mit dieser Metaphysik auch das Chiffren-Lesen und damit auch die Kunst gemeint sei, suche „Jaspers also in klarer Entsprechung zu der kantischen Lehre von der postulatorischen Metaphysik, auf dem Boden der Freiheitsüberzeugung und unseres modernen kritischen Denkens so etwas wie Metaphysik zu erneuern, […] hier in Jaspers war eine Persönlichkeit, die in eigentümlicher Weise Traditionsgut auf lebendigste Art neu umgesetzt hat – und zwar in eine fast lyrische Melodie der philosophischen Sprache.“16 Auch heute seien wir keineswegs weiter, lernten aber zu betonen, die Wissenschaft nicht unkritisch ohne neue Verantwortlichkeit zu übernehmen und genau hierin liege der Sinn der Existenzerhellung, mit der Jaspers das Erbe von Kant aufgenommen habe. Wie sind diese in der Milde des Alters eines 90-jährigen Gadamer gemachten Oldenburger Bemerkungen über seinen Heidelberger Vorgänger Jaspers nun aber zu bewerten? Mir scheint, auf die Spitze getrieben, sowohl eine äußerst positive wie negative Einschätzung möglich zu sein. Positiv: Karl Jaspers war gemeinsam mit Martin Heidegger der bedeutendste deutsche Philosoph des 20. Jahrhunderts. Negativ: Karl Jaspers hat nichts über Kant hinausgehendes zur Schulphilosophie beigetragen und wird uns vor allem als glänzender Stilist („Schönheit des Weges“) in Erinnerung bleiben. Will man im Schwanken zwischen diesen beiden gegensätzlichen Auffassungen weiterkommen, kann sowohl ein Blick in die Gesammelten Werke Gadamers wie auch in eine Biographie Jean Grondins über Hans-Georg Gadamer hilfreich sein. Im zehnten und letzten Band der Gesammelten Werke von Gadamer findet man im Kapitel V. „Philosophische Begegnungen“ neben Porträts über Paul Natorp, Max Scheler, Rudolf Bultmann, Hans Lipps, Paul Friedländer, Erich Frank, Gerhard Krüger, Karl Löwith, Thrasyboulos Georgiades, Fritz Kaufmann, Emilio Betti und Bruno Snell den umfangreichsten Beitrag über

14 „[Daß Karl Jaspers der wahre Kantianer unter den Neukantianern war, hat Erich Frank betont, dessen Weiterdenken (vgl. ‚Philosophische Erkenntnis und religiöse Wahrheit‘) ich 1950 in der ‚Theologischen Rundschau‘ N.F. 18 (1950), S. 260-266 diskutiert habe.]“ Fußnote in: Gadamer, H.-G. (1987): Kant und die Gottesfrage. In: Gadamer, H.-G.: Gesammelte Werke 4, Neuere Philosophie II, Tübingen, S. 359. 15 Gadamer, H.-G. (2008) a. a. O., S. 162. 16 Ebd. 73

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Karl Jaspers.17 Hier wird der Eindruck über Jaspers, den Gadamer 1990 in Oldenburg erweckt hatte, bestätigt und weiter begründet. Karl Jaspers wird als bedeutendster Existenzphilosoph neben Heidegger (denn Sein und Zeit habe eine größere Öffentlichkeit als Existenzphilosophie aufgefasst), Moralist, philosophischer Schriftsteller, letzter Polyhistor nach dem Vorbild Max Webers, Wiederholer Kants, interkultureller Philosoph, der die Grenzen der abendländischen Tradition sprenge und ein mit einer eigenen Gabe ausgestatteter „physiognomischer Denker“ vorgestellt, der „nicht aus den Worten, sondern aus den Zügen zu lesen versteht“ und dabei im „Vollzug universaler Vernünftigkeit“ einer „inneren Gewißheit“ folgend „dennoch etwas Richterliches für sich in Anspruch nimmt“.18 Gadamer stellt Jaspers in eine in Deutschland fehlende Tradition der großen französischen Moralisten am Beispiel von Montaigne und La Rochefoucauld und gibt zu bedenken, dass Schopenhauer und Nietzsche als deutsche Bewunderer dieser beiden Außenseiter der philosophischen Schultradition geblieben seien. Unausgesprochen würde diese Diagnose für Jaspers dann wohl auch gelten, und ich möchte als Beleg dafür, dass Gadamer in Jaspers in erster Linie einen großen Moralisten und einen glänzenden Stilisten gesehen hat, die folgende Textstelle zitieren: „Nordische Nüchternheit paart sich […] mit fast feierlichem Pathos. Ein jeder einzelne Satz von Jaspers klingt nun auf eine unnachahmliche Weise persönlich und sachlich zugleich. Wie aus tausend Facetten sich das funkelnde Feuer eines edlen Steines verstrahlt, leuchtet auch aus den Sätzen von Jaspers’ ‚Philosophie‘ die feinkörnige Helligkeit von Erfahrung, Einsicht und existenzieller Bewegung. Es ist ein Stil der Umschreibungen. Ohne starren Formalismus werden doch jeweils Extreme formuliert, um das mittlere Wahre sichtbar zu machen. Sich fortspinnendes Denken sucht alle dogmatischen Gehäuse zu durchbrechen und im sanften Wellenschlag der Reflexion die Weite des offenen Horizontes zu gewinnen. […] Das große philosophische Hauptwerk von Karl Jaspers wiederholt die Grundlinien der philosophischen Systematik Kants, […]“.19

Wenn man die hier aufscheinende Wortlust Gadamers, um das Philosophieren von Jaspers zu beschreiben, zu Grunde legt und Gadamers eigenen ähnlich gearteten Stil berücksichtigt, dann scheint es mir so zu sein, dass Gadamer selber sich systematisch an Martin Heidegger und Gerhard Krüger (von dem noch zu reden sein wird) und stilistisch an Jaspers orientiert haben könnte. Dies wird auch dadurch deutlich, dass von einer Ausnahme einmal abgesehen, Karl Jaspers in Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode keine Rolle

17 Gadamer, H.-G. (1986-95): Gesammelte Werke 10, Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995, S. 392-400. 18 Ebd., S. 399. 19 Ebd., S. 396 f. 74

KARL JASPERS UND HANS-GEORG GADAMER

spielt. Diese Ausnahme betrifft den Begriff der „Situation“, der sowohl in der Existenzphilosophie von Jaspers wie auch der Hermeneutik Gadamers einen ganz zentralen Stellenwert einnimmt. Die berühmte Stelle über die „Situation“ in Wahrheit und Methode20 ist mit dieser Fußnote versehen worden: „Der Begriff der Situation ist vor allem von K. Jaspers (Die geistige Situation der Zeit) und Erich Rothacker in seiner Struktur aufgehellt worden.“ – und im Text heißt es: „Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation. Die Gewinnung des Bewußtseins einer Situation ist aber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit. Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. […] Geschichtlich sein heißt, nie im Sichwissen Aufgehen.“21

Es ist unschwer zu erkennen, dass Gadamer hier direkt an Jaspers’ Begriff der „Existenzerhellung“ anknüpft, ohne dass dem eine breitere systematische Erörterung folgt, sondern eine dialektische Umkehr von der Subjektivität zur Substanzialiät, bezogen auf Hegels Phänomenologie des Geistes, die systematische Begründung für die Struktur des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins liefern soll. Die philosophietheoretische Bedeutung von Jaspers für seinen Nachfolger Gadamer in Heidelberg kann aufgrund dieser Beobachtung nahezu vernachlässigt werden, die persönliche dagegen nicht. Ich möchte daher im Folgenden auf das persönliche Verhältnis der beiden zu sprechen kommen, wie es in Hans Georg Gadamer. Eine Biographie von Jean Grondin ausführlich rekonstruiert worden ist.

II.

Heidelberger Querelen

Während die Jaspers-Nachfolge in der „Makroperspektive der Philosophiegeschichte“ wie der „organische Übergang von der Existenzphilosophie zur Hermeneutik“22 erscheine, sei es tatsächlich so gewesen, dass sich Jaspers Gerhard Krüger als seinen Nachfolger gewünscht und auch diesbezüglich beim Ministerium interveniert habe. Nach Krügers Ablehnung der Berufung

20 Gadamer, H.-G. (1986a): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: Gadamer, H.-G.: Gesammelte Werke 1, Hermeneutik I, S. 307. 21 Ebd. 22 Grondin, J. (1999): Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen, S. 310. 75

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erhielt Gadamer am 28. April 1949 den Ruf nach Heidelberg, den er am 2. September des gleichen Jahres annahm. Grondin beschreibt das Verhältnis von Gadamer und Jaspers als ein „delikates“23 und führt dafür eine ganze Reihe von Gründen an, bei der eine anfängliche „größte Achtung und Verehrung“ von Seiten Gadamers für seinen Vorgänger mit einer Verletzung Gadamers nach Antritt seiner Professur in Heidelberg endete, die Grondin vor allem an einem Zitat vom 28.1.1952, in dem Jaspers 1951 Löwith als seinem Nachfolger in Heidelberg gratuliert habe, festmacht: „Ich darf Sie doch als meinen Nachfolger betrachten, da Gadamer auf Grund der Liste für die Nachfolge Hoffmanns berufen worden ist, an der ich selbst noch mitgearbeitet habe.“24

Etwa gleichzeitig wurde anlässlich einer öffentlichen Festschrift zu Jaspers’ siebzigsten Geburtstag ausgerechnet sein Nachfolger Gadamer nicht um einen Beitrag gebeten, obwohl das 1943 zu Jaspers’ sechzigsten Geburtstag noch anders gewesen war und Gadamer, verbunden mit den Risiken der Nazizeit, einen Beitrag zu dieser geheimen Festschrift geliefert hatte, der zu Lebzeiten Jaspers’ unveröffentlicht geblieben ist und unter dem Titel „Kant und die Gottesfrage“25 erst 1987 erschienen ist. Während der Nazizeit hatte Gadamer Jaspers mit Briefen und Besuchen in Heidelberg die Treue gehalten und Grondin zählt zwischen 1934 und 1943 sieben Briefe Gadamers im Jaspersnachlass, während es im Heideggernachlass zwischen 1929 und 1944 nur einen gegeben habe, „in dem Gadamer seine Bestürzung über Heideggers demütigenden Volkssturmeinsatz ausdrückt“26. Da Jaspers Gadamer 1936 sein Nietzschebuch widmete, scheinen die Jahre vor Gadamers Berufung nach Heidelberg von gegenseitiger Sympathie gekennzeichnet gewesen zu sein. Grondin verstärkt den Eindruck, dass die Jaspers-Schüler nicht unwesentlich zur Verstimmung zwischen Jaspers und Gadamer beigetragen haben, die mit der Lehrstuhl-Nachfolge in Heidelberg nicht einverstanden waren. Grondin charakterisiert die neue Situation in Heidelberg wie folgt: „Während der Moralist Jaspers zu allen Fragen pointiert Stellungnahmen abgab, antwortete der Sokratiker Gadamer oft ungeniert: ‚Das weiß ich nicht.‘“27 Eines der banalsten Gerüchte war es, dass Gadamer die ganze Philosophie in Philosophiegeschichte auflöse. Als Zeugin wird hierfür keine Geringere als Hanna Arendt 23 Ebd., S. 311. 24 Ebd., Fußnote Nr. 52 zitiert aus einem Brief von Karl Löwith an Gadamer von 1953. 25 Gadamer, H.-G. (1984): Kant und die Gottesfrage. In: Gadamer, H.-G.: Gesammelte Werke 4, S. 349-360. 26 Grondin, J. (1999) a.a.O., S. 238, Fußnote 26. 27 Ebd., S. 311 f. In der ergänzenden Fußnote 53 wird hierfür Reinhart Koselleck als Zeuge angeführt. 76

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mit den Worten zitiert: „Pseudo-Geistigkeit von Heidelberg“, und „schwachsinnige Professoren“ erklärten, dass Metaphysik völlig überflüssig sei.28 „Ein weit schlimmeres war aber, daß Gadamer angeblich die ehemaligen Studenten von Jaspers in Promotions- und Habilitationsfragen zurücksetze, weil sie JaspersSchüler waren. Diese Klage, die Jaspers von einem seiner in Heidelberg verbliebenen Schüler hörte, mußte ihn in Harnisch bringen.“29

Den zentralen Vorwurf bzgl. einer Moralistik auf Seiten von Jaspers und demgegenüber einer sokratischen Denkweise bei Gadamer korrespondiert in bemerkenswerter Weise eine Selbstbeschreibung von Gadamer i. U. zu Gerhard Krüger aus alten Marburger Zeiten: „Unter den Marburger Studenten hieß es damals von Krüger und mir: Bei Krüger lernt man, wie alles richtig ist, bei Gadamer, wie wenig man weiß, was richtig ist.“30

Was von Gadamer 1990 in Oldenburg als „Nachlieferung“ des Ehrendiploms in Philosophie an den Arzt und Psychiater Karl Jaspers in Basel rückblickend so harmlos beschrieben wurde, wird bei Grondin als Skandal rekonstruiert, der das „Faß zum Überlaufen“31 gebracht habe und der an dem beiderseitigen „frostigen Verhältnis“ nichts mehr habe ändern können. Danach soll Gadamer mit seinem Freund Hans Schäfer in dessen Eigenschaft als Dekan am 28. Februar 1953 anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Jaspers zur Überreichung der Heidelberger Ehrendoktorurkunde nach Basel gefahren sein, da Jaspers krankheitsbedingt für eine Verleihung vor Ort nicht reisefähig gewesen sei. Bei dieser Gelegenheit sei es bei der Verabschiedung in Basel zu zwei getrennten Vier-Augen-Gesprächen von Jaspers mit Schäfer und Jaspers mit Gadamer gekommen, welches anschließend von einem Heidelberger JaspersSchüler als ein Rauswurf Gadamers von Seiten Jaspers’ kolportiert worden sei. Der Brief, mit dem Gadamer auf den Dankesbrief von Jaspers für die Ehrenpromotion am 15. März 1953 reagierte, ist bei Grondin ausführlich zitiert. Gadamer versucht in diesem Brief, sowohl mit der angeführten Verleumdung bzgl. dieser Ehrenpromotion, der angeblichen Benachteiligung des wissenschaftlichen Jaspers-Nachwuchses durch ihn, Gadamer, wie auch den aufge28 Vgl. ebd., S. 312, Brief an Heinrich Blücher vom 18. Juli 1952, zitiert in Fußnote 54. 29 Ebd. mit der ergänzenden Fußnote 55: „Die üble Unterstellung würde Jaspers in einem Brief an Hannah Arendt vom 31.1.1956 erneuern: ‚Wenn ich recht erinnere, habe ich Ihnen einmal erzählt, dass er [ein Jaspers-Schüler] in Deutschland bei der Forschungsgemeinschaft und bei Gadamer (Habilitation) keinen Erfolg hatte (vermutlich, weil er mein ‚Schüler‘ ist – er ist aber völlig selbständig).‘“ 30 Gadamer, H.-G. (1986-95) a. a. O., S. 415. 31 Grondin, J. (1999): a. a. O., S. 312. 77

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kommenen Zweifeln an der Harmonie ihres Verhältnisses mit den Worten aufzuräumen: „Ich weiß nicht, was alles da störend eingewirkt hat, aber das Glück, an der Stätte Ihres alten Wirkens zu leben und tätig zu sein, erführe eine schmerzliche Trübung, wenn in Ihnen Zweifel entstanden wären, ob ich mich als Ihr Nachfolger richtig verhalte.“32

Lässt sich das bis hierhin Gesagte aus der Perspektive von Gadamer beurteilte Verhältnis von ihm zu Jaspers heute rückblickend als ein Traditionsbruch – etwa zwischen Existenzphilosophie und Hermeneutik – beurteilen? Ich vermute, dass Gadamer dem Moralisten Karl Jaspers lebenslang große Bewunderung gezollt hat, sich aber philosophisch im Rahmen seines hermeneutischen Ansatzes mehr an Heidegger (Verstehen und Sprache) und Gerhard Krüger (religiöse Voraussetzungen des griechischen Philosophierens) orientiert hat, während er sich von Jaspers philosophisch abgrenzte: „Jaspers formulierte den Vernunftcharakter dieses Wissens [die Entscheidung, die Wahl oder wie immer dies Moment aller Urteilskraft benannt werden mag] durch den Begriff der Existenzerhellung, die in den Grenzsituationen einsetzt, an denen die Wissenschaft als das zwingende Wissen den Menschen allein läßt. Das war noch immer von dem Begriff des Wissens der Wissenschaft her beschrieben, und insofern war Heidegger radikaler, als er den Begriff der Grenzsituation zum Ansatzpunkt einer ontologischen Wendung nahm. Gegen den der Wissenschaft zugrunde liegenden Seinsbegriff des Vorhandenen bestimmte er geradezu von dem der praktischtechnischen Weltbewältigung eigenen Begriff des Zuhandenen und des Sich-aufetwas-Verstehens aus die Seinsstruktur des menschlichen Daseins als ‚Seinsverständnis’, d. h. aber durch die eigentliche Helligkeit der Vernunft.“33

III. Traditionsbruch gestern und heute Weiterhin scheint mir aus heutiger Sicht der von Heidelberger Zeitgenossen kritisch beäugte Wechsel des philosophischen Stils von Jaspers zu Gadamer einen Traditionsbruch in der Philosophie selbst vorzubereiten, der eine Vorahnung für die uns heute geläufige Trennung zwischen einer methodengeprägten analytischen Philosophie und einer historisch geprägten hermeneutischen Philosophie aufkommen lässt. Jaspers’ Existenzphilosophie wäre dann einer der letzten großen Gesamtentwürfe des 20. Jahrhunderts (vielleicht auch 32 Ebd., S. 313. 33 Gadamer, H.-G. (1986b): Hermeneutik (1969). In: Gadamer, H.-G.: Gesammelte Werke 2, Hermeneutik II, Anhänge, Tübingen, S. 427 f. 78

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noch A. N. Whitehead in England) gewesen, die dieser Trennung noch vorauslagen. Ebenso repräsentierte Jaspers in seiner Zeit die Rolle des öffentlichen Intellektuellen (in der Rolle des „Moralisten“ bzw. „physiognomischen Denkers“ laut Gadamer) in so einzigartiger Weise, wie ihn gegenwärtig vielleicht noch Jürgen Habermas in Deutschland (auf Zeit) verkörpern kann. Die Aufmerksamkeit für Intellektuelle dieses Zuschnitts droht unter den Rahmenbedingungen einer immer weiter um sich greifenden „Weltverwaltung“ (G. Krüger, 1958) und globalen Technisierung aus ganz verschiedenen Gründen aus dem gesellschaftlichen Leben zu verschwinden, weil ihre Wirksamkeit nicht zuletzt davon abhängt, dass die Politik philosophisch und die Philosophie politisch zu werden beanspruchen, was jedoch immer weniger gegeben zu sein scheint. Die Entfaltung des existenzphilosophischen und politischen Denkstils von Karl Jaspers ist so gesehen nicht nur von der Gestalt seiner Persönlichkeit oder der seines Werkes abhängig sondern auch von der Resonanz und dem Medium (Stimmung, Öffentlichkeit, Nation, Gesellschaft, Politik etc. kurzum Die geistige Situation der Zeit34), in dem sich dieses Philosophieren einst entfalten konnte und heute immer mehr Gefahr läuft, nicht mehr gehört zu werden bzw. nicht mehr gehört werden zu können und damit zunehmend nur noch „historisch“ zu erscheinen. Aufgrund von Gadamers erklärter Nähe zu seinem Lehrer Martin Heidegger und seinem ambivalenten Verhältnis zu seinem Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl, Karl Jaspers, verdient daher im Spannungsfeld von Philosophie und Politik die „existenzphilosophische Denkfigur des Traditionsbruchs“35 besondere Beachtung. Hiermit ist vor allem jener Bruch gemeint, den die anfangs befreundeten und in einem engen Kontakt stehenden Philosophen Karl Jaspers und Martin Heidegger in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Philosophie des Abendlandes seit den Griechen vollziehen und einen Neubeginn des Denkens einleiten wollten. Durch Heideggers Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus ist es anders gekommen und das gemeinsame Projekt wurde im Spannungsfeld von Philosophie und Politik zunehmend zu einem gegensätzlichen Streitpunkt. Antonia Grunenberg unterzieht die von Heidegger nach 1945 „mitunter ungewollt ins Lächerliche abgleitend[e] […] Grundstellung“36 einer schonungslosen Kritik und präpariert demgegenüber Jaspers Wende zur Politik umso deutlicher heraus:

34 Jaspers, K. (1933): Die geistige Situation der Zeit, 5. bearb. Aufl., Berlin 35 Grunenberg, A. (2007a): Hannah, Arendt, Martin Heidegger und Karl Jaspers. Denken im Schatten des Traditionsbruchs. In: Arendt, H.: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 16, Berlin, S. 101-119. 36 Ebd., S. 105. 79

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„Während Heidegger auf den Platonischen Dualismus zwischen den wirklichen Ideen und der scheinbaren Wirklichkeit verweist, aus dem man sich ‚herausdrehen‘ müsse, drängt Jaspers auf ein inhaltliches, das Persönliche einschließendes öffentliches Streitgespräch. […] Diesen Appell an die Verantwortung des Denkenden als Bürger greift Heidegger nicht auf.“37

Hierbei ist es zeitlebens geblieben und die anhaltenden Erwartungen von Jaspers, dass Heidegger einlenken und sich zu seiner politischen Schuld bekennen würde, blieben unerfüllt. Jaspers wurden diese enttäuschenden Erfahrungen mit seinem einstigen philosophischen Weggefährten zum Anlass, spätestens 1958 nach der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, immer mehr zum „politischen Schriftsteller“ zu werden und zentrale philosophische Begriffe und Kategorien politisch zu überdenken und zu erweitern. Dies betrifft vor allem die „Kommunikation“, die für Jaspers immer wichtiger und zum Grundbegriff seiner „Weltphilosophie“ wurde. „Dieser Weg stand Heidegger nicht offen, denn Kommunikation und Öffentlichkeit waren zugleich das Reich des ‚Man‘, in dem die wichtigen Fragen verdunkelt wurden. Für Jaspers firmierte Kommunikation unter dem Rubrum der ‚Helligkeit‘. Gegensätzlicher kann man sich die Herangehensweise der beiden Existenzphilosophen an das, was auf dem Spiele stand, nicht vorstellen.“38

Zurück zu Gadamer, der einerseits unter dem Eindruck seines scheinbar übermächtigen Lehrers Heidegger und andererseits des politischen „Moralisten“ Jaspers stand. Wie ließe sich abschließend im Hinblick auf die existenzphilosophische Kategorie des Traditionsbruchs das Verhältnis von Gadamer und Jaspers beschreiben? Gadamer bringt – wie zitiert – die bei Jaspers für die öffentliche Kommunikation ins Spiel gebrachte „Helligkeit“ mit dem Vernunftgebraucht eines angemessenen „Seinsverständnisses“ bei Heidegger in Verbindung und unterstellt Jaspers gleichzeitig einen latenten Positivismus, weil bei ihm die ontologische Wende gegen die neuzeitliche Wissenschaft ausgeblieben sei. Ein und dieselbe Metapher erhält also zwei gegensätzliche Bedeutungen. Was im Hinblick auf die Bestimmung des Verhältnisses von Jaspers und Heidegger in der politischen Interpretation von Grunenberg für den einen hell und für den anderen dunkel erscheint, gilt für Gadamers philosophische Interpretation genau umgekehrt. Heidegger zieht in völliger Ignoranz gegenüber dem Politischen den Traditionsbruch in Gestalt eines ursprünglichen Seins(an)denkens gegen das technische (Un-)Wesen der abendländischen Metaphysik durch – und Gadamer pflichtet dem bei. Jaspers müht sich demgegenüber zeitlebens ab, philosophisches Denken in politisches 37 Ebd., S. 106. 38 Ebd., S. 110. 80

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Handeln zu überführen, um einen Traditionsbruch zwischen philosophischer und politischer Aufklärung zu vermeiden. Möchte man daher aus heutiger Perspektive das zu Beginn dieses Beitrages von Heidegger geäußerte und von Gadamer übernommene Lob über Jaspers („eigene Schönheit des Weges“) mit den tatsächlichen politischen Geschehnissen und den daraus resultierenden hier beschriebenen Verirrungen und Kränkungen aller Beteiligten in Verbindung bringen, um es dann auf die Frage nach einem Traditionsbruch zu beziehen, bleiben m. E. nur zwei Möglichkeiten. Entweder man hält sich an eine enge von Hannah Arendt vorgezeichnete und auch für Jaspers maßgebliche politische Verwendung dieses Begriffs39 oder man nimmt eine interne Differenzierung vor, die zwischen einem philosophischen, politischen und kulturellen Traditionsbruch zu unterscheiden versucht. Unternimmt man Letzteres, ergeben sich für Gadamers Einschätzung seines Vorgängers Karl Jaspers ganz unterschiedliche Perspektiven. Denn die theoretische Marginalisierung des philosophischen Autodidakten Jaspers, dem Gadamer i. U. zu seinem Lehrer Heidegger nicht sehr viel abgewinnen konnte, steht die Bewunderung für die Kompensation eines kulturellen Mangels (gemäß dem Vorbild der in Deutschland fehlenden Tradition der französischen Moralisten) und der große politische Respekt gegenüber seinem Vorgänger, gerade auch im Hinblick auf die Verfehlungen Heideggers gegenüber. Anhand der in diesem Beitrag herangezogenen Quellen wird eine lebenslange Ambivalenz im Verhältnis der beiden spürbar, die in einem eigenartigen Gegensatz zu der Verwandtschaft der kommunikativen Struktur von Jaspers’ Existenzphilosophie und der dialogischen Struktur von Gadamers Hermeneutik steht. Ich schließe daher mit einem Zitat von Gadamer, das vermutlich auch von Jaspers hätte unterschrieben werden können: „Indessen scheint mir, daß zwischen Tradition und Vernunft kein unbedingter Gegensatz besteht. […] Selbst wo das Leben sich sturmgleich verändert, wie in revolutionären Zeiten, bewahrt sich im vermeintlichen Wandel aller Dinge weit mehr vom Alten, als irgendeiner weiß, und schließt sich mit dem Neuen zu neuer Geltung zusammen. Jedenfalls ist Bewahrung nicht minder ein Verhalten aus Freiheit, wie Umsturz und Neuerung es sind.“40

39 „Der Traditionsbruch, um den Arendt in ihren Nachkriegsschriften kreist, besteht darin, dass ‚nach Auschwitz alles möglich ist‘: es ist nicht das Denken, dass diesen Bruch vollzieht, sondern die politische Tat. Danach sind die Muster von Tradition auch im Handeln nicht mehr gültig; dieser Erfahrung entgegen hält Arendt das Experiment des gemeinsamen politischen Handelns in der Pluralität.“ Zepp, M.; Rosenmüller, S. (2007b): Einleitung in: Arendt, H.: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität?, S. 16. 40 Gadamer, H.-G. (1986a): a. a. o., S. 286. 81

Inmitten der Verwüstung. Ein Beitrag zum Technikverständnis Martin Heideggers OLE SCHULZ „Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon.“ Hölderlin

Der vorliegende Aufsatz ist darum bemüht, Heideggers Denkweg folgend, einen Zugang zu dem naturwissenschaftlich-technischen Weltalter zu öffnen, welches zu der Gefahr für die Menschheit im Ganzen geworden ist. Die Suprematiestellung der Technik kommt bereits dadurch zum Ausdruck, dass die uns geläufige Rede von einem technischen Zeitalter dieses unter der Botmäßigkeit eines epochalen Phänomens vermutet, welches „nicht an einer der partikularen geschichtlichen Epochen der vergangenen Jahrtausende gemessen werden kann“1. Die Mannigfaltigkeit der Versuche bezeugt seit längerem die Schwierigkeit, eine hochtechnisierte Gegenwart, deren Reichweite wir erst allmählich zu ahnen beginnen, denkend zu durchdringen. Gadamer spricht davon, dass „die Welt heute ihrer eigenen technischen Perfektion“ nicht gewachsen sei.2 Innerhalb einer anthropologischen Sichtweise bekundet dann auch Gehlen lakonisch ein Versagen „unserer philosophischen Begriffe im allgemeinen“ und dies freilich gegenüber „den Gegebenheiten der Gegenwart“.3 Beinahe folgerichtig vollzieht dieser dementsprechend eine Kehrtwende hin zu einer so genannten empirischen Philosophie beziehungsweise

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Vgl. Jaspers, K. (1971): Die geistige Situation der Zeit (1931), 5. Aufl., Berlin, S. 23. Vgl. Gadamer, H.-G. (1977): Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/M., S. 14. Vgl. Gehlen, A. (2007): Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt/M., S. 5. 83

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anthropobiologischen Kultursoziologie.4 Günther Anders drückt den hier genannten „Sachverhalt“ ebenfalls in aller Schärfe aus, wenn er schreibt, die „Freiheit der Verfügung über Technik“ sei „reine Illusion“.5 Die angeführten Zitate verweisen auf die Grunderfahrung einer Erschütterung, einen Verlust an Selbst- und Weltvertrauen, welchen Hans Sedlmayr in folgenden Worten unmissverständlich zum Ausdruck bringt: „Es ist bis heute nicht gelungen, die […] Lage zu bewältigen, weder im Geistigen noch im Praktischen.“6 Diese Äußerung liegt nun mehr als fünf Dezennien zurück. Die Notwendigkeit, sich der offensichtlichen Not der jetzigen Situation zuzuwenden, gerade um die Möglichkeit einer Wende aus ihr zu eröffnen, spricht Jaspers bereits 1931 in den mahnenden Worten aus, dass die Gegenwart, „würde ihr niemand genug tun können, zur armseligsten Zeit des versagenden Menschen“ werde.7 Die zunehmende Überzeugung, dass dem Menschen überhaupt ein Weg aus der technisch-wissenschaftlichen Welt versagt bleibt, versteht Heidegger als ein „Nachhängen“ (!) der Meinung, „die technische Welt sei von einer Art, die einen Absprung aus ihr schlechthin verwehre“.8 Fraglos ist nicht nur das europäisch-abendländische Denken heute einer wissenschaftlich-technischen Perspektive unterworfen. Ebenso gewiss werden dementsprechend keine Mühen gescheut, „die heutige Situation zu analysieren, um die folgende planen zu können“.9 Konvergiert aber diese vorherrschende Auffassung, dass der so genannte gegenwärtige Weltzustand sich letztlich doch nur unter Zuhilfenahme eines diagnostischen Rüstzeugs meistern lasse, nicht auf eine signifikante Weise mit jenen im Technischen verfangenen Herstellungssehnsüchten eines „animal rationale“? Inwiefern? Insofern, dass gerade aus der in einen technischen Rationalismus gekehrten allmächtigen Vernunft auch die optimistische „Bereitschaft für Zielsetzungen, Planungen und ‚Neuorganisationen‘“ erwächst.10 „Das Meistern-wollen“, so Heidegger, „wird um so dringlicher, je

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An dieser Stelle ist Gehlens Hinweis bemerkenswert, dass „die eigentlich wohl zuständige Philosophie kaum ohne Hilfe der Soziologie und Sozialpsychologie“ den „Realitätszweifel von objektiver Bedeutsamkeit“ interpretieren könne, welchen Gehlen als das Signum eines naturwissenschaftlich-technischen Weltalters verstanden wissen möchte. Vgl. Gehlen, A. (2007) a. a. O., S. 57. 5 Vgl. Anders, G. (1983): Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 6. Aufl., München, S. 99. 6 Sedlmayr, H. (1955): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg, S. 7. 7 Vgl. Jaspers, K. (1971) a. a. O., S. 23. 8 Vgl. Heidegger, M. (1978): Identität und Differenz, 6. Aufl., Pfullingen, S. 29. 9 Vgl. Heidegger, M. (2005a): Grundsätze des Denkens. Freiburger Vorträge 1957. In: Heidegger, M: Bremer und Freiburger Vorträge, 2. Aufl., Frankfurt/M., S. 99. 10 Vgl. Gehlen, A. (2007) a. a. O., S. 84-85. 84

INMITTEN DER VERWÜSTUNG

mehr die Technik der Herrschaft des Menschen zu entgleiten droht.“11 Damit wird jedoch nicht etwa das noch immer waltende Bestreben, „sich zum […] Herrn und Meister des Weltprozesses“12 aufzuwerfen, bestätigt. Dieses verbleibt lediglich in einer anthropozentrischen Tatkräftigkeit sowie der angstvoll begleiteten Ahnung, der Menschheit im Ganzen werde der Prozess gemacht. Das „Meistern-wollen“ selbst wird von Heidegger explizit als eine Sackgasse aufgewiesen. In dem posthum veröffentlichten SPIEGEL-Gespräch gibt dieser dann auch zu bedenken, die Technik sei „in ihrem Wesen […] etwas, was der Mensch von sich aus nicht bewältigt“.13 Demnach wird – in aller gebotenen Vorläufigkeit gesprochen – sowohl das gegenüber einem vulgarisierten Fortschrittsoptimismus abschätzige Räsonieren, das „nur in […] Niedergängen und Niederungen herumwühlt“14 wie auch die Vorstellung, das Unheil steuern zu können, als eine eskapistische Grundtendenz des modernen Menschen desavouiert. Präziser: Heidegger betont eine gegenwärtig um sich greifende „Flucht vor […] dem Denken“15 und dies heißt, der nötige Schritt zu einer Besinnung auf das Wesen der Technik, welches „ganz und gar nichts Technisches [ist]“16, bleibt aus. Gerade die derzeitig geläufigen instrumentalanthropologischen Bestimmungen der Technik, denen die Auslegung des Menschen als „animal rationale“ zugrunde liegt, zielen nach Heidegger am Wesentlichen vorbei. In ihnen wird dagegen die Dichotomie der SubjektObjekt-Beziehung wirksam gehalten, welche in verhängnisvoller Weise „das neuzeitliche Verhältnis des Menschen zur Welt bestimmt, und d. h. die moderne Technik ermöglicht“.17 Es gilt, in die Nähe des hier Angesprochenen zu gelangen und einen ersten Einblick in Heideggers Bemühung zu gewinnen, die neuzeitlich-dualistische Grundstellung des Daseins zur Welt aus der Frage nach der Wahrheit des Seins zu erläutern. Rilke verkündet zu Anbeginn der Duineser Elegien, „daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt“.18 Offenkundig geht aus dem Vers hervor, dem Menschentum werde eine weltliche Heimstätte verweigert,

11 Vgl. Heidegger, M. (1994a): Die Frage nach der Technik. In: Heidegger M.: Vorträge und Aufsätze, 7. Aufl., Stuttgart, S. 11. 12 Vgl. Jünger, F. G. (1993): Die Perfektion der Technik, 7. Aufl., Frankfurt/M., S. 41. 13 Vgl. Heidegger, M. (1988): Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger. In: Neske. G.; Kettering, E. (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen, S. 97. 14 Vgl. Heidegger, M. (1971): Was heisst Denken?, 3. Aufl., Tübingen, S. 11. 15 Vgl. Heidegger, M. (2004): Gelassenheit, 13. Aufl., Stuttgart, S. 13. 16 Vgl. Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 9. 17 Vgl. Heidegger, M. (2006): Der Satz vom Grund, 9. Aufl., Stuttgart, S. 148. 18 Vgl. Rilke, R. M. (1996): Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, Frankfurt/M., S. 11. 85

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insofern dieses sich an einen verstiegenen Welterklärungseifer verklammert. Demnach wird schon in Rilkes Dichtung erahnt, dass in einem hemmungslosen Drang, die Welt in ein Forschungsfeld wissenschaftlichen Vorstellens zu verwandeln, eine wesentliche Verfehlung der menschlichen Grundsituation waltet. Dem wissenschaftlichen Erkennen im Zuge der Neuzeit, welches schließlich als der privilegierte, gesicherte Zugang zur so genannten Wirklichkeit behauptet wird, entspricht eine wachsende Unsicherheit des menschlichen Daseins. Es ist nun wichtig, den geschichtlichen Grundcharakter der szientifisch-neuzeitlichen Metaphysik und ihres Geltungsaprioris in den Blick zu nehmen. Heidegger zeigt ausdrücklich den eindimensionalen Wirklichkeitsbezug einer wissenschaftlichen Erforschung des Seienden im Hinblick auf die im cartesianischen Denken herausgebildete Subjektontologie auf. In „Die Zeit des Weltbildes“ heißt es: „Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst dann, und nur dann, wenn die Wahrheit zur Gewißheit des Vorstellens sich gewandelt hat. Erstmals wird das Seiende als Gegenständlichkeit des Vorstellens und die Wahrheit als Gewißheit des Vorstellens in der Metaphysik des Descartes bestimmt.“19 Die Gesamtheit aller neuzeitlich wissenschaftlich-epistemischen Vollzüge ist demnach in der vorausgesetzten Konstellation der Subjektivität als „weltlose[r] res cogitans“20 und einer objektivierbaren menschenleeren „res extensa“ verwurzelt. Dies besagt, die weltlichen Dinge werden dem wissenschaftlich abgestützten Verfügungsbereich einer Ichbetonten Grundstellung überantwortet. Auf dem Boden einer ausgedehnten Gegenstandswelt, worauf „sich der heutige Mensch gleichsam ohne Aufenthalt“21 forschend einrichtet, stehen alle Weltdinge fortan dem sub-jectum, im Sinne einer allem Seienden zugrunde gelegten Bezugsmitte, griffbereit entgegen. In diesem weltabgewandten Solipsismus verfängt sich der neuzeitliche Mensch, liefert sich an seine eigene Subjektität aus und bleibt in die Vorstellung vernarrt, die Welt über den Zugriff auf das Seiende wieder einzuholen, indem er sie nach allen Richtungen deutet. Der vermeintlich szientistischen Aufgeklärtheit ist der geschichtlich ereignete Grundzug ihrer kognitivoperativen Weltbemächtigung allerdings verdunkelt. Aber wie ist es um diesen bestellt? Jenseits der Gewohnheit eines historischen Vorstellens wird von Heidegger das „Unwesen des Subjektivismus“22 nicht anthropologisch als die Ermöglichung objektivierender Tendenzen im neuzeitlichen Bezugsrahmen eines begründenden Vorstellens ausgelegt. Der Vorgang, dass „das Sein in der 19 Heidegger, M. (1972a): Die Zeit des Weltbildes. In: Heidegger, M.: Holzwege, 5. Aufl., Frankfurt/M., S. 80. 20 Vgl. Heidegger, M. (2001): Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen, S. 211. 21 Vgl. Heidegger, M. (1995a): Der Lehrer trifft den Türmer an der Tür zum Turmaufgang. In: Heidegger, M.: Feldweg-Gespräche (1944/45), Frankfurt/M., S. 194. 22 Vgl. Heidegger, M. (1972a) a. a. O., S. 85. 86

INMITTEN DER VERWÜSTUNG

Gegenständigkeit der Gegenstände erscheint“23, wird selbst im Sinne eines dem Menschen übereigneten seinsgeschichtlichen Ereignisses gedacht. Dies muss zunächst befremdlich klingen. Der Versuch Heideggers, die abendländische Geschichte aus dem Ereignis des Seins selbst her zu denken, drängt in jeglicher Hinsicht alle anbequemten Vorstellungen ab, aus denen heraus ihr ein prozessualer Charakter zugesprochen und der Mensch als ihr Zurechnungssubjekt konstruiert wird. Der um eine Entwindung aus den geläufigen Voraussetzungen eines neuzeitlichen Historismus bemühte Denkansatz Heideggers stellt sich in der Schrift Der Satz vom Grund wie folgt dar: „Seinsgeschichte ist das Geschick des Seins, das sich uns zuschickt, indem es sein Wesen entzieht.“24 Was aber ist das Sein, welches innerhalb des Geltungsbereiches einer verstandesmäßigen Gegenstandskonstitution in der Verborgenheit seines Zuspruches ruht? Heidegger antwortet: „Es ‚ist‘ Es selbst.“25 So bahnt Heidegger in vielfältigen Variationen einen Weg, diesen „einen einzigen Gedanken“26 zur Sprache zu bringen. Innerhalb des vorliegenden Aufsatzes kann dies freilich nicht eigens erörtert werden. Es ist jedoch nötig, darauf zu achten, dass die Ansetzung der Seinsfrage nicht auf eine Fortführung der ontologischen Blickrichtung abzielt.27 Das Sein ist in keinerlei Weise einer Verfügbarkeit oder definitiven Kennzeichnung seitens des Menschen anheim gestellt, sondern „nie endgültig sagbar“.28 Irrig wäre es allerdings anzunehmen, die Frage nach dem Sein entspringe erstmals dem Denken Heideggers; ist doch sie die ausgezeichnete Leitfrage, welche das okzidentale metaphysische Philosophieren schon je beflügelt hat. Die Fragerichtung nach der Seinsart des Seienden, des Seienden als solchen, bricht bei Aristoteles, anschließend an die platonische Kennzeichnung des Seins des Seienden als ȚįȑĮ, im Hinblick auf das Wesensganze des Seienden auf. Das philosophische Denken der Metaphysik findet daher in der Weite der Seiendheit statt. Fragend nach dem Aufenthaltsbereich, worin das menschliche Dasein eine Heimat findet, vermag es vordergründig gegenüber den Einzelwissenschaften und deren verengten Blick auf einen bestimmten Bezirk der Dinge, die Welt in ihrer Offenbarkeit selbst in die Nähe des Menschen zu bringen; gerade indem es nach dem Seienden fragt, insofern es seiend ist. Aristoteles’ „Metaphysik“ wird dementsprechend von der ontologischen Ausrichtung auf das òȞ Ș òȞ gehalten. Die 23 Vgl. Heidegger, M. (2006) a. a. O., S. 99. 24 Ebd., S. 108. 25 Heidegger, M. (1976a): Brief über den Humanismus. In: Wehmarken, Frankfurt/M., S. 334. 26 Vgl. Heidegger, M. (1961): Nietzsche. Erster Band, 4. Aufl., Pfullingen, S. 475. 27 „Das Denken, das nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her und auf dieses hin bestimmt, ist weder Ethik noch Ontologie.“ Vgl. Heidegger, M. (1976a) a. a. O., S. 357. 28 Vgl. Heidegger, M. (2003): Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 3. Aufl., Frankfurt/M., S. 460. 87

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Suche nach den Anfangs- und Ursachegründen des Seienden im Ganzen ist innerhalb der aristotelischen Ontologie begleitet von der die Untersuchung leitenden „Betrachtung der Wahrheit“: ’Ǿ ʌİȡȚ IJȘȢ ĮȜȘșİȓĮȢ șİȦȡȓĮ.29 Volkmann-Schluck spricht diesen Bezug in aller Bündigkeit aus: „Das Wesensganze des Seienden ist daher das unverwechselbare, unverlegbare, unverstellbare, unentgehbare Anwesende, darum die Unverborgenheit selbst, die Wahrheit.“30 Die Übersetzung der ’ǹȜȒșİȚĮ als Unverborgenheit ist Heidegger entlehnt, welcher betont, dass innerhalb der abendländischen Philosophietradition „die ’ǹȜȒșİȚĮ, die Unverborgenheit“31 und folglich auch „die Anwesenheit als solche und mit ihr erst recht die sie gewährende Lichtung unbeachtet bleiben“32. Wir sind nun angehalten, darüber Klarheit zu gewinnen, dass Heidegger in der gesamten Geschichte der abendländischen Metaphysik – bis hin zu Nietzsche und Marx – das ontologische Primat einer Orientierung an der Seinsart des Seienden erblickt. Dadurch gelangt weder das Sein als solches, noch der Unterschied von Sein und Seiendem (in dem Vokabular von Sein und Zeit noch als „ontologische Differenz“ bezeichnet), vor allem jedoch nicht die „Wahrheit des Seins“ in die Frage.33 Diese zu denken, versucht Heidegger aus einer ursprünglicheren Aneignung der griechischen ’ǹȜȒșİȚĮ, jener von ihm aufgezeigten Unverborgenheit und Offenheit des Seins, welche alles Seiende erst ins Heitere der Erscheinung trägt. Das Anwesen des Seienden ist demnach überhaupt erst aus der lichtenden Entbergung des Seins her zugänglich. Nur aufgrund des in die Rätselhaftigkeit seines Wesens sich zurückziehenden unverfügbaren Ereignisses, dass Seiendes je schon dem Menschen auf eine bestimmte Art und Weise offenbar ist, besteht der Grund und Boden für ein propositionales Denken, dieses in die Enge des wissenschaftlichen Gehäuses einzuzwängen. Walter Biemel erläutert zu Recht, dass die „Schwierigkeiten, auf die wir hier stoßen […] nicht in der schwer verständlichen Sprache Heideggers [liegen], sondern darin, daß Heidegger in einen Bereich vorstößt, der unvertraut ist“.34 Gerade wir Heutigen schrecken vor der Abgründigkeit solcher Äußerungen wie denen Heideggers zurück, die es nicht zulassen, auf dem vertrauten Wege einer subjektiven Vorstellungskraft erfasst zu werden; ja, sogar jenseits der uns einverleibten Begriffe eines philosophi29 Vgl. Aristoteles (1982): Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A)-VI (E). Griechisch-Deutsch, hg. von Seidl, H, 2. Aufl., Hamburg, S. 70 (Met. II A. 10. 993 a, Zeile 30). 30 Volkmann-Schluck, K.-H. (1981): Einführung in das philosophische Denken, 3. Aufl., Frankfurt/M., S. 33. 31 Vgl. Heidegger, M. (1988a): Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In: Heidegger, M.: Zur Sache des Denkens, 3. Aufl., Tübingen, S. 76. 32 Vgl. Ebd., S. 78. 33 Vgl. Heidegger, M. (1976a) a. a. O., S. 322. 34 Vgl. Biemel, W. (1973): Martin Heidegger. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg, S. 75. 88

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schen Grundvokabulars ansässig sind, welche einem Worte Nietzsches zufolge, „nach langem Gebrauch […] fest, kanonisch und verbindlich dünken“35. Der unvertraute Bereich, in welchen Heidegger vordringt, ist „nicht irgend ein tief versteckter Hintersinn, sondern etwas Naheliegendes: Das Nächstliegende, was wir, weil es nur dieses ist, darum ständig schon übergangen haben“.36 Vielleicht darf sogar nach den bisherigen Ausführungen von der Übernähe der „Lichtung des Seins“ gesprochen werden, worin die Offenbarkeit des Seienden sich ereignet und ein weltlicher Aufenthalt dem menschlichen Dasein gewährt wird, denn „‚Welt‘ ist die Lichtung des Seins“37. In dem Bremer Vortrag „Das Ding“ betont Heidegger: „Vorstellen kann der Mensch, gleichviel in welcher Weise, nur solches, was erst zuvor von sich her sich gelichtet und in seinem dabei mitgebrachten Licht sich ihm gezeigt hat.“38 Achten wir sorgfältig auf diesen Gedanken, so fällt auf, dass er innerhalb des zur Selbstverständlichkeit gewordenen polarisierenden Subjekt-Objekt-Denkens nur schwerlich nachzusagen ist. Wohlgemerkt: Heidegger bricht mit der üblichen Denkgrammatik und weist in einen Bereich, in dem eine jähe Wandlung des Denkens sich zu ereignen vermag, „was einem Wesenswandel des Menschen aus dem ‚vernünftigen Tier‘ (animal rationale) in das Da-sein gleichkommt“.39 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Der Versuch, die prädikative Denkart als Inbegriff der neuzeitlichen »Herrschaft« des erkennenden Individuums und dessen Realitätskonstruktionen in den Bereich einer vorgängigen weltlichen Dimension zurückzuführen, bedarf einer näheren Erläuterung. Wie bereits erwähnt, steht das vor-stellende Denken unter dem Anspruch einer Objektivation der Dinge. Doch vergegenständlichen kann der Mensch, so Heidegger, gleichsam nur Jenes, was sich ihm bereits – ohne künstliche Verstandestätigkeit – in der Gegenständigkeit zeigt. Heideggers Denken geht es nunmehr um „das Offenbare, das uns vor einer Vergegenständlichung zum Erfahrungsgegenstand begegnet“.40 Auch hier gilt es, genau zu lesen. Es heißt: Das Offenbare begegnet uns. Die Dinge stellen sich dem Dasein in ihrer Unverborgenheit vor. In dieses unverfügbare Ereignis, der Lichtung des Seins, worin alles Seiende ohne menschliches Zutun zur Erscheinung kommt, ist der Mensch einbehalten in der Weise des In-der-Welt35 Vgl. Nietzsche, F. (1982): Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden. Dritter Band, hg. v. Schlechta, K., München; Wien, S. 314. 36 Vgl. Heidegger, M. (1972b): Nietzsches Wort „Gott ist tot“. In: Heidegger, M.: Holzwege, 5. Aufl., Franfurt/M., S. 245-246. 37 Vgl. Heidegger, M. (1976a) a. a. O., S. 350. 38 Heidegger, M. (2005b): Das Ding. In: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, 2. Aufl. Frankfurt/M., S. 9. 39 Vgl. Heidegger, M. (2003) a. a. O., S. 3. 40 Vgl. Heidegger, M. (1984): Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Frankfurt/M., S. 144. 89

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seins. Bereits in Sein und Zeit bezeugt Heidegger, „das Erkennen sei schon bei seiner Welt“.41 Wir können nun das neuzeitlich konditionierte Denkpostulat eines veritas est adaequatio intellectus et rei aus Heideggers Fragestellung nach dem Ereignis schärfer in den Augenschein nehmen: Die fortwährende Verstrickung in einen Erklärungsdrang blendet das un-vorstellbare Ereignis aus, dass die Welt, in die der Mensch unhintergehbar eingelassen ist, sich bereits vor einer scharfsinnigen naturwissenschaftlichen Einsicht „geklärt“ hat: „Der Gesichtskreis ist also ein Offenes, was seine Offenheit nicht davon hat, daß wir hineinsehen.“42 Dass das menschliche Dasein in zunehmendem Maße „nur das Seiende betrachtet und bearbeitet“43, bis schließlich der Planet lediglich als „eine einzige Fabrik zur Ausnutzung seiner Stoffe und Energien“44 erscheint, darin erweist sich Heidegger zufolge die zunehmende Seinsvergessenheit des technisch-naturwissenschaftlichen Zeitalters: „Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal.“45 Wie ist es dazu gekommen? Sofort, es darf gesagt werden, automatisch (terminus technicus), wird eine Begründung, eine Verursachung dieses Geschehens verlangt. Die gravierenden Folgen eines durch den zu Anbeginn der Neuzeit in die Welteroberung eingetretenen Menschentums sind vielerorts bemerkt worden. So spricht Plessner beispielsweise von einem durchbrochenen „traditionelle[n] Geschichtsraum des Abendlandes“46 und auch Jaspers wird eines „Bruches gegenüber aller bisherigen Geschichte“47 gewahr. Allein, es wird, bei aller gelungenen Weise der Betrachtung, gerade nicht vermocht, in das Unergründliche des Ereignisses zu weisen, sondern in der Zentralperspektive auf den Menschen verblieben. Heidegger gibt zu bedenken: „Das menschliche Erklärenwollen langt überhaupt nicht in das Einfache […] des Weltens hin.“48 Wir stehen vor einem Rätsel, da uns scheinbar jegliche Begründung der geschichtlichen Geschehnisse aus der Hand geschlagen wird. Die Seinsverlassenheit, wir folgen Heidegger, ist nicht als Versäumnis dem Dasein zuzurechnen, sondern das Ereignis der Unverborgenheit selbst hat sich vom Menschen „langher schon abgewendet“.49 Das Sein verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden. Wenn demnach das Er-

41 Vgl. Heidegger, M. (2001) a. a. O., S. 61. 42 Heidegger, M. (1995b): Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen. In: Heidegger, M.: Feldweg-Gespräche (1944/45), Frankfurt/M., S. 112. 43 Vgl. Heidegger, M. (1976a) a. a. O., S. 339. 44 Vgl. Jaspers, K. (1971) a. a. O., S. 22. 45 Heidegger, M. (1976a) a. a. O., S. 339. 46 Vgl. Plessner, H. (2001): Das Problem der Klassizität für unsere Zeit. In: Giammusso, S.; Lessing, H.-U. (Hg.): Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München, S. 97. 47 Vgl. Jaspers, K. (1971) a. a. O., S. 19. 48 Heidegger, M. (2005b) a. a. O., S. 19. 49 Vgl. Heidegger, M. (1971) a. a. O., S. 4. 90

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eignis, wie und worin Seiendes dem Menschen begegnet, nicht in den von der Welt abgekapselten Befugnisbereich einer isolierten menschlichen Entscheidung gelangt, tauchen alsbald folgende Fragen auf: Falls dem Menschen die alleinige Urheberschaft der geschichtlichen Vorgänge abgesprochen wird, wie ist das anfänglich bei Platon aus der Offenbarkeit des Seienden gewonnene Seinsverständnis denkbar? Wie die anthropozentrische Grundhaltung eines vergegenständlichenden Vorstellens in der Neuzeit und die somit ermöglichte technische Welt? Was nie endgültig sagbar ist, ist auch niemals beschreibbar: „Was bleibt zu sagen? Nur dies: Das Ereignis ereignet.“50 Somit ruht, fernab vorgeschobener, aus der Subjektivität des Menschen abgeleiteter transzendental-ontologischer Prämissen, der geschichtliche Wandel des Anwesens des Seins je im selben Ereignis, „das sich uns zuschickt, indem es sein Wesen entzieht“51. Der verborgene Grundzug unseres jeweilig geschichtlichen Daseins liegt im „Es gibt Sein“ oder ausführlicher: „Sein gibt Es als das Entbergen von Anwesen.“52 Freilich findet dieses Ereignis nach Heidegger nicht jenseits des Menschen statt, während zugleich jedoch die innerhalb der abendländischen Geschichte ereignete Seinsprägung nicht von einem IchBewusstsein her zu denken ist. Damit ist zunächst gesagt, „daß das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, sofern er in der Offenbarkeit des Seins steht“.53 Heidegger nach gründet „die eigentliche Gebärde des Denkens“ auf dem „Hören der Zusage“ des Seinsereignisses.54 Die cartesianisch vorformulierte Denkvoraussetzung einer Subjekt-Objekt-Dichotomie, „die eine Wendung in der Art des Philosophierens hervorgerufen hat, an deren Folgen wir heute noch leiden“55, wie Plessner zu Recht, jedoch vordergründig anmerkt, ist gerade nicht in einem anthropologischen Bezirk zu verorten. Auch hinsichtlich der Metaphysik Descartes` ist zu sagen: „Der Denker hat nur dem entsprochen, was sich ihm zusprach.“56 Damit wird endgültig das für die Neuzeit bis heute anhaltende Charakteristikum einer Entzweiung von Dasein und Welt von Heidegger aufgebrochen. Die vorstellende Denkungsart wird allererst von „dem Ereignis, daß alles Anwesende schon zum Gegenstand des

50 Vgl. Heidegger, M. (1988b): Zeit und Sein. In: Heidegger, M.: Zur Sache des Denkens, 3. Aufl., Tübingen, S. 24. 51 Vgl. Heidegger, M. (2006) a. a. O., S.108. 52 Heidegger, M. (1988b) a. a. O., S. 6. 53 Vgl. Wisser, R. (Hg.) (1970): Martin Heidegger im Gespräch, Freiburg; München, S. 69. 54 Vgl. Heidegger, M. (2003a): Unterwegs zur Sprache, 13. Aufl., Stuttgart, S. 176. 55 Vgl. Plessner, H. (2003): Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931). In: Plessner, H.: Macht und menschliche Natur. Gesammelte Schriften V, Frankfurt/M., S. 207. 56 Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 21. 91

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Vorstellens geworden [kursiv; O. S.] ist“,57 ermöglicht. Lichtenberg hat um dieses „Zuspiel“ des Denkens gewusst und es so großartig zu sagen vermocht: „Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zuviel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.“58 Halten wir die in der letzten Passage anklingende Grundstimmung einer „Offenheit für das Geheimnis“59 wach: Das in endlosen Rationalisierungsspiralen gefangene heutige Dasein vermag, so Heidegger, erst durch eine Einkehr in jene stimmungshafte Welterschlossenheit „das technisch-wissenschaftlichindustrielle Gepräge als die einzige Maßgabe für den Weltaufenthalt des Menschen“60 zu überwinden und einen möglichen Weg in ein unbefangeneres Weltverhältnis freizugeben. Die geschichtliche Grundstellung des Daseins und das somit bislang von der Subjektivität her ausgelegte Denken „zwingt“ unvermeidlich zu der Annahme, die technokratische Wirklichkeit sei „eine[r] menschliche[n] Machenschaft mit dem Charakter der Ausbeutung“61 geschuldet. Die von diesen Prämissen her gezeichnete »Erforschung« der Gegenwart verkennt nach Heidegger, „daß sich das, was den Menschen als Menschen auszeichnet, gerade aus dem bestimmt, was wir […] zu bedenken haben: der Mensch, der von Anwesenheit Angegangene“.62 Noch bleibt die Besinnung darauf aus, sodass wir uns unentwegt an den Parametern der technischen Weltzivilisation orientieren, „das Technische nur technisch, d. h. vom Menschen und seinen Maschinen her vorstellen“.63 Solange dies geschieht, solange auch „bleiben wir unfrei an die Technik gekettet, ob wir sie leidenschaftlich bejahen oder verneinen“.64 Neben einer optimistischen oder pessimistischen Haltung, die einen wesentlichen Zugang zur technischen Welt versperrt, richtet Heidegger den Blick vor allem auf jene Interpretationen, die der Technik einen neutralen Charakter zusprechen. So heißt es im Anschluss an das soeben herangezogene Wort: „Am ärgsten sind wir jedoch der Technik ausgeliefert, wenn wir sie als etwas Neutrales betrachten; denn diese Vorstellung, der man heute besonders gern huldigt, macht uns vollends blind gegen das Wesen der Technik.“65 Die landläufige Bestimmung – Heidegger nennt sie die „instrumental-anthropologische“ –, wonach die Technik innerhalb der 57 Vgl. Heidegger, M. (2003a) a. a. O., S. 132. 58 Vgl. Lichtenberg, G. C. (2003): Aphorismen und andere Sudeleien, hg. v. Joost, U., Stuttgart, S. 116. 59 Heidegger, M. (2004) a. a. O., S. 24. 60 Vgl. Heidegger, M. (1988a) a. a. O., S. 67. 61 Vgl. Heidegger, M. (2005c): Das Ge-Stell. In: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, 2. Aufl., Frankfurt/M., S. 29. 62 Vgl. Heidegger, M. (1988b) a. a. O., S.12. 63 Vgl. Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 22. 64 Vgl. Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 9. 65 Ebd. 92

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Zweck-Mittel-Relation ausgelegt wird, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nur beispielhaft einem Passus aus Jaspers Ursprung und Ziel der Geschichte entnommen werden: „Das jedenfalls ist offenbar: Technik ist nur ein Mittel, an sich weder gut noch böse. Es kommt darauf an, was der Mensch daraus macht, zu was sie ihm dient, unter welche Bedingungen er sie stellt.“66 Gewiss tritt hier eine aufrichtige Bemühung zutage, den Menschen aus dem Sog der technischen Mobilmachung zu befreien. Heidegger leugnet auch keineswegs „den Ernst der Verantwortung“, dem jene Lehren entspringen, die von der Sorge um den Menschen im Zeitalter der Technik beseelt sind.67 Allerdings vermag, ohne jeden abschätzigen Ton, Jaspers ebenfalls nicht der Vorstellung zu entgehen, die Technik, als Mittel genommen, sei etwas Seiendes und der Verfügungsgewalt des Menschen überstellt. Wir ahnen, nachdem möglicherweise ein gangbarer Weg zu Heideggers Seinsdenken erschlossen wurde, dass auch die Besinnung auf das Wesen der Technik – entgegen der Scharfsinnigkeit analytisch geprägter Denkgewohnheiten – nicht darauf abzielt, sie „geistig in die Hand [zu] bekommen“.68 Es handelt sich um ein geläufiges Denkschema, welches in den Diagnosen zur geschichtlichen Stellung des Menschen im Zeitalter der Technik obwaltet: Ausgehend davon, dass die Technik (als angewandte Naturwissenschaft oder in Verschwisterung mit Wissenschaft und Industrie)69 nun „bis in den Mittelpunkt der menschlichen Weltauslegung und damit auch seiner Selbstauffassung“70 vorgedrungen sei, wird eine rapide technische Durchformung der Wirklichkeit und ihrer Konsequenzen summarisch abgeschildert. Selten bleibt – wie Heidegger bemerkt – die Rede von der „Wucht der Organisation, Information und Automatisierung“ aus.71 Der unumstößliche Befund, dass „immer mehr Menschen den Apparat nur bedienen“72 und „die Maschinerie […] die Menschen heute [verstümmelt], selbst wenn sie sie ernährt“73 ist gewiss nicht von der Hand zu 66 Jaspers, K. (1949): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München, S. 161. 67 Vgl. Heidegger, M. (2005d): Die Gefahr. In: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, 2. Aufl., Frankfurt/M., S. 59. 68 Vgl. Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 11. 69 Vgl. beispielsweise Weippert, G. (1965): Einführung. In: Weippert, G.; Freyer, H.; Papalekas, J. C. (Hg.): Technik im technischen Zeitalter. Stellungnahmen zur geschichtlichen Situation, Düsseldorf, S. 19. Dort heißt es, vorgetragen im Stile apodiktischer Gewissheit: „Das ändert nichts an der Tatsache, daß die moderne Technik – wie oft dargestellt wurde – die neuzeitliche Naturwissenschaft zur Voraussetzung hat.“ 70 Vgl. Gehlen, A. (2007) a. a. O., S. 13. 71 Vgl. Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 24. 72 Gadamer, H.-G. (1991): Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft. In: Gadamer, H.-G.: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 3. Aufl., Frankfurt/M., S. 60. 73 Horkheimer, M.; Adorno, Th. W. (2000): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 12. Aufl., Frankfurt/M., S. 44. 93

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weisen. Und zu guter Letzt: Ist Weizsäckers Forderung, das Dasein müsse „inmitten der Planung und der Apparate lernen, Mensch zu bleiben“74, nicht dringlicher als je zuvor? Heidegger zufolge ist es jedoch erforderlich, dass wir uns von einer Vorstellungsweise lösen, nach der lediglich das Zeitalter der Apparaturen heraufbeschwört sowie die Technik vom Menschen her gedeutet wird. Heidegger kennzeichnet dagegen die jetzige Weltsituation als ein „heute planetarische[s]“ Seinsgeschick.75 Es erstaunt nicht, dass Heidegger hinsichtlich einer vom Wesen der modernen Technik durchherrschten Weltlage, in der die Anwesenheit alles Seienden lediglich auf ihre Nutzbarmachung hin erscheint, das „Geschick der Entbergung“ bedenkt, welches „das Wesen aller Geschichte [bestimmt]“76. In den Worten Otto Pöggelers gesprochen, gilt es – auch auf das Wesen der modernen Technik hin – festzuhalten: „Das ‚Wesen‘ ist dabei zu denken als jenes Ereignen, das sich im Anwesen verbirgt.“77 Unsere Verstandesprägung jedoch, „behext vom Wirklichen und seinen Wirkungen“78, ist darauf konditioniert, die Wirklichkeit einer durchgängigen Beschreibung, einer vergegenständlichten Vorführung zu unterziehen. Eine solche Herangehensweise bleibt rein äußerlich. Es gilt, der Vergeblichkeit eines „theoretischen Begrübelns“ gewahr zu werden, welches ununterbrochen darum bestrebt ist, die technokratische „Weltumfangskultur“ (Gehlen) auf ihre objektiven Gesichtspunkte hin zu ergründen. Denn nicht nur, dass der Offenbarkeit des Seienden die dem Menschen verborgene Unverborgenheit des Seins voraus liegt, sondern vor allem ist zu beachten, dass „Mensch und Sein […] einander übereignet [sind]. Sie gehören einander“79. Wir fallen folglich fortwährend unter das, was »ist«, zurück, insofern wir die vom Menschen her so genannten konstruierten technischen Denkmodelle zum Anschlag bringen und daraus die „Vernutzung aller Stoffe, eingerechnet den ‚Rohstoff‘ Mensch“80 ableiten. Heidegger unterstreicht: „Dasjenige, worin und woher Mensch und Sein in der technischen Welt einander an-gehen, spricht an in der Weise des Ge-Stells.“81 Unter Ge-Stell ist das Wesen der modernen Technik zu verstehen, welches den Menschen gegenwärtig dazu drängt, alles Seiende als berechenbaren Bestand und somit auf die Verfügbarkeit erfolgreicher Nutzung hin zu stellen. Heidegger trägt die exzessive Dynamik dieser „Gestellung“ in aller Deutlichkeit vor: „Das Wasserkraftwerk ist in den Strom ge74 Vgl. Weizsäcker, C. F. v. (1957): Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen, S. 11. 75 Vgl. Heidegger, M. (2005d) a. a. O., S. 65. 76 Vgl. Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 28. 77 Pöggeler, O. (1963): Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen, S. 250. 78 Vgl. Heidegger, M. (1995b) a. a. O., S. 129. 79 Vgl. Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 19. 80 Vgl. Heidegger, M. (1994b): Überwindung der Metaphysik. In: Heidegger, M.: Vorträge und Aufsätze, 7. Aufl., Stuttgart, S. 91. 81 Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 23. 94

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stellt. Es stellt ihn auf seinen Wasserdruck, der die Turbinen stellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschine umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom stellt, durch den die Überlandzentrale und ihr Stromnetz zur Strombeförderung gestellt sind.“82 Dieser Wesenszug des „Ge-Stells“ wird nicht nur bezogen auf die Landstriche bedacht, die (zu Rohstofflieferanten degradiert) in den Bannkreis dieses „Stellens“ eingerückt werden, sondern Heidegger sieht den Menschen selbst von diesem Angang, „das Eine Ganze des Anwesenden als Bestand zu stellen“83, betroffen. Es bedarf keiner gesteigerten Einbildungskraft, um den Gedanken nachzuvollziehen, dass beinahe an Jegliches – und somit auch an das menschliche Dasein selbst – inzwischen der Maßstab der Nützlichkeit angelegt wird. Befremdlicher ist die Bekräftigung Heideggers, das Dasein sei insgeheim und im Voraus „daraufhin angesprochen, dem genannten Anspruch zu entsprechen“.84 Wie wir erfuhren, gehört es jedoch zu der Grundeinsicht Heideggers, dass „der Mensch nicht von sich aus allein und nie durch sich über sein Wesen entscheidet, […] deshalb kann das Ge-Stell, das Wesen der Technik, nichts nur Menschliches sein“.85 Auch in der „technischen Welt“, so wird intendiert, entspricht der Mensch nur dem Zuspruch der Unverborgenheit: „Wenn also der Mensch forschend, betrachtend der Natur als einem Bezirk seines Vorstellens nachstellt, dann ist er bereits von einer Weise der Entbergung beansprucht […], bis auch der Gegenstand in das Gegenstandlose des Bestandes verschwindet.“86 Das Wesen der modernen Technik war demnach bereits innerhalb der neuzeitlichen Physik und ihres vor-stellenden Verfügungswissens über die leeren Entitäten „verborgenerweise in seinem Gang“.87 Hier nun heißt es innehalten, denn wir sind in eine Gegend vorgedrungen, worin wir uns abschließend darüber auszusprechen haben, ob Heideggers Denken uns bislang überhaupt einen Wink erteilt hat, den Sprung aus der technisch-wissenschaftlichen Rationalität vorzubereiten. Woran ist es Heidegger gelegen? „Alles liegt daran“, so Heidegger, „daß wir in dieser vom Sein selbst ereigneten, nie von uns gemachten und erdachten Lichtung inständig werden.“88 In dem Blickfeld der bisherigen Bemühungen ist immer wieder der Hinweis aufgetaucht, dass, solange keine Trennung von unseren heutigen Denk- und Aussagegewohnheiten vorgenommen wird, wir auch nicht dazu imstande sind, ei-

82 Heidegger, M. (2005c) a. a. O., S. 28. 83 Vgl. Ebd., S. 32. 84 Vgl. Heidegger, M. (1989): Überlieferte Sprache und technische Sprache, St. Gallen, S. 20. 85 Vgl. Heidegger, M. (2005c) a. a. O., S. 39. 86 Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 22. 87 Vgl. Heidegger, M. (2005c) a. a. O., S. 34. 88 Heidegger, M. (1961): Nietzsche. Zweiter Band, 4. Aufl., Pfullingen, S. 28. 95

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nen entscheidenden Schritt aus der längst als schmerzliches Verhängnis empfundenen gegenwärtigen Situation zu tätigen. Doch trotz „geradezu phänomenalen Fehleinschätzungen der Lagen und Chancen […] und zwar im Besitz eines Maximums an Informationen“89, versucht der gefährdete Mensch über das technische Auswerten der Bedrohungsszenarien eine waghalsige Rettung. Die wissenschaftlich-technischen „Heilmittel“ indes versagen, weil sie keine sind. Kurz: „Unser ganzes Dasein findet sich überall – bald spielend, bald drangvoll, bald gehetzt, bald geschoben –, herausgefordert, sich auf das Planen und Berechnen von allem zu verlegen.“90 Gesetzt, dass wir uns keinem wesentlichen Wandel – und das heißt: unserer offensichtlich eingefahrenen Selbst- und Weltdeutung – unterziehen, wird auch die Maxime, die „bestehenden Verhältnisse“ verändern zu müssen, zusehends in die Leere stoßen. Dass wir gegenwärtig hoffnungslos im Netz der technischen Zurichtungen zappeln, ist gewiss keine übertriebene Formel. Heidegger bringt uns nahe, „daß der Mensch unter einer Macht steht, die ihn herausfordert und dergegenüber er nicht mehr frei ist“.91 Es gilt demnach, der Denkerstarrung inne zu werden, die ihren Ausdruck in einer wachsenden Rat- und Hilflosigkeit findet. Ist uns eingegangen, dass die „Prägung des Seins […] sich längst ohne unser Zutun oder gar Verdienst entschieden [hat]“92, so müssen uns die augenblicklichen „Bewältigungsszenarien“ wie ein unheilvolles Unterfangen und Umherirren vorkommen. Die eigentliche Gefahr dieses Zeitalters liegt, Heidegger nachdenkend, gerade nicht in den uns bedrängenden Nöten und der Vielzahl von Bedrohungen, die vermeintlich von der Technik ausgehen und die – wenn überhaupt – zu bändigen sich das heutige Menschentum anschickt, sondern: Die Gefahr „ist das Ge-Stell […] als das Seyn“.93 Wir ergänzen: In der Verborgenheit des heutigen Weltereignisses waltet Heidegger zufolge „die höchste Gefahr“ darin, dass der Mensch, eingehaust in eine technischwissenschaftliche ratio, „sich am Unverborgenen versieht und es mißdeutet“.94 Das Dasein gerät somit durch die vergebliche „Sicherstellung“ der jetzigen Existenzweise in eine immer tiefere Verstrickung in sie. Dass aber dem menschlichen Ehrgeiz die angemaßte Herrschaft über das gegenwärtige Zeitalter entgleitet, eröffnet auch die Möglichkeit eines „anderen Anfangs“. Dies, insofern dem Menschen gewahr wird, dass gegenüber einer sich ausbreitenden Weltverweigerung, auch der aus dem selbständigen Extrem einer Subjektivität entnommene Erklärungs- und Verfügungsdrang zwangsläufig versagen muss: „Das verbergende Entbergen, das in der Welt waltet, bleibt ein abgrün89 90 91 92 93 94 96

Vgl. Gehlen, A. (2007) a. a. O., S. 69. Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 22-23. Vgl. Wisser, R. (1970) a. a. O., S. 73. Vgl. Heidegger, M. (1988b) a. a. O., S. 6. Vgl. Heidegger, M. (2005d) a. a. O., S. 62. Vgl. Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 30.

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diges Gründen, für das kein letzter Grund sichergestellt werden kann.“95 Heidegger trägt in immer wieder ansetzenden Bemühungen an uns heran, das Ereignis unverstellt zu erfahren. Was liegt in diesem Gedanken beschlossen? Ein schönes Wort Max Kommerells erinnert daran, dass „wir […] auf Ergänzung angewiesen [sind]“.96 Denn, so kann mit Heidegger erläuternd hinzugefügt werden, „so etwas wie einen Menschen, der einzig von sich aus nur Mensch ist, gibt es nicht“.97 Dies ist der wesentliche Sinngehalt eines noch immer als Zumutung verstandenen Denkens, welches an die Grenzen des Sagbaren stoßend, zu einem Sprung ansetzt. Wohin? In das „in sich offene Da […] des Da-seins“, jener Ereignisstätte, worin „die Eröffnung des Seins“ stattfindet.98 Heideggers Ansatz betrifft das entscheidende Moment, „daß das Subjektsein des Menschentums weder die einzige Möglichkeit des anfangenden Wesens [kursiv; O. S.] des geschichtlichen Menschen je gewesen, noch je sein wird“.99 Sollte Heideggers Vermutung zutreffen, dass das Dasein wesentlich in ein verborgenes weltliches Geschick gefügt ist, worüber es nicht verfügt, so ist die Not-wendigkeit eines Sprunges einsichtig; er verhieße, die Rückkehr in den Wesensraum des Daseins und damit zugleich eine rettende „Kehre“ zu vollziehen: „Denn im Er-eignis spricht die Möglichkeit an, daß es das bloße Walten des Ge-Stells in ein anfänglicheres Ereignen verwindet.“100 Wie? Indem der Mensch, die Rätselhaftigkeit dieses Zeitalters vernehmend, von der ihn ohnehin enttäuschenden Erwartungsbereitschaft weltverfügender Eingriffe ablässt und somit – in der Abkehr von der subjektivistischen Ausgangslage die Verwandlung seines Wesens vorbereitend – dem kommenden Ereignis sich anvertraut. Dieses „Weltvertrauen“ spricht Heidegger wie folgt aus: „Wenn das Ge-Stell ein Wesensgeschick des Seyns selbst ist, dann dürfen wir vermuten, daß sich das Ge-Stell als eine Wesensweise des Seyns unter anderen wandelt.“101 Damit dies gelingt, bedarf es zuvorderst eines Sprunges in das Unversicherbare. Der schrittweise von Heidegger vollzogene Weg aus dem vergegenständlichenden Begriffsdenken in das „andere Denken des Ereignisses“, ist eine Möglichkeitsbedingung dafür, dass dem Menschen ein gewandelter Weltaufenthalt gewährt wird. Heideggers Anliegen allerdings wäre gründlich missverstanden, verfielen wir dem Glauben, er habe uns einen „fertigen“ Weg weisen wollen. Otto Pöggeler macht zu Recht darauf aufmer95 96

Pöggeler, O. (1963) a. a. O., S. 252. Vgl. Kommerell, M. (1985): Gedanken über Gedichte, 4. Aufl., Frankfurt/M., S. 8. 97 Vgl. Heidegger, M. (1994a) a. a. O., S. 36. 98 Vgl. Heidegger, M. (1983): Einführung in die Metaphysik, Frankfurt/M., S. 214. 99 Vgl. Heidegger, M. (1972a) a. a. O., S. 103. 100 Vgl. Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 25. 101 Heidegger, M. (2005e): Die Kehre. In: Bremer und Freiburger Vorträge, 2. Aufl., Frankfurt/M., S. 68. 97

OLE SCHULZ

ksam, dass „[d]er Weg, den Heidegger geht“ ein Wegweiser sei, „auf den Weg, den jeder selbst gehen muß“.102 Es steht nunmehr außer Frage, dass die Technik „nicht ohne die Mithilfe des Menschenwesens in den Wandel seines Geschickes geleitet werden [kann]“.103 In der unverstellten Erfahrung des Ereignisses und somit einer „Offenheit für das Geheimnis“ gründet gleichursprünglich eine Gelassenheit bezüglich der technischen Dinge, so dass sie uns fortan nicht „ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und zuletzt veröden“.104 Heidegger hat für uns die Einsicht aufgehoben, dass wir allererst in einem Bereich, in dem alles Seiende einer begrifflichen Darstellung entzogen bleibt, wieder in ein besinnliches Denken einzukehren befähigt sind, „das dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist“105. Indem wir uns nicht länger, dem Seienden nach-stellend, die Gewissheitspostulate einer erklärenden Vorstellungsweise aneignen, besteht die Möglichkeit, dass uns unbesehen das Ereignis einer gewandelten Seinseröffnung, das heißt, ein für uns noch ungewisser Weltbezug, zuteil wird und wir daher auch die weltlichen Dinge auf eine gewandelte Weise erfahren. Daher haben wir die vorrangige Bezugsstellung des Menschen zur Welt aufzukündigen, damit die Welt sich erneut anzukündigen vermag. Der Verdienst Heideggers beruht darauf, einen Boden freigelegt zu haben, auf welchem jenseits technisch-wissenschaftlicher Beanspruchungen, der Mensch „sein Eigenstes, daß er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist“106 bewahrt. Möglicherweise diesem Rettungsversuch nachsinnend hat Volkmann-Schluck folgende Ahnung geäußert: „Es könnte sein, daß sich an der Frage, ob das Denken zur Aufnahme von Heideggers Gedanken bereit ist oder ob es sich ihnen versagt, Wesentliches entscheidet.“107 Heidegger hat die Sackgassen eines vor-stellenden Denkens vor Augen geführt und einen Weg gewiesen, der ins Offene zeigt. Ein Wort zu Anbeginn von Identität und Differenz lautet: „Beweisen läßt sich in diesem Bereich nichts, aber weisen manches.“108

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Vgl. Pöggeler, O. (1963) a. a. O., S. 11. Vgl. Heidegger: (2005e) a. a. O., S. 69. Vgl. Heidegger, M. (2004) a. a. O., S. 23. Vgl. Ebd., S. 13. Vgl. Ebd., S. 25. Volkmann-Schluck, K.-H. (1977): Die technische Welt und das Geschick. In: Martin Heidegger. Fragen an sein Werk. Ein Symposion, Stuttgart, S. 36. 108 Heidegger, M. (1978) a. a. O., S. 8. 98

»Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir«. Walter Benjamins Hölderlin-Lektüre JOHANN KREUZER

I. Der im Winter 1914/15 verfasste Aufsatz Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin hat in Walter Benjamins intellektueller Biographie wegweisende Bedeutung. So schreibt er Ende 1916 an Herbert Blumenthal, dass es das „Licht Hölderlins“ sei, das ihm seit Jahren in der „Nacht“ der eigenen Gegenwart strahle, kurz zuvor sprach er Gershom Scholem gegenüber „von der absoluten Größe des Gehalts wie alles was der späte Hölderlin schrieb […]“, im April 1930 rechnet er den Aufsatz zu den „herrlichen Grundlagen“, die er in seinem „zweiundzwanzigsten Jahr gelegt“ habe. Auch wenn er auf diesen Grundlagen „das ganze Leben nicht habe aufbauen können“, so bleibt doch als ihnen zentral zugehörig die emphatische Lektüre Hölderlins benannt.1 Sie war akzeleriert durch die Hellingrathsche Hölderlin-Ausgabe, in deren Band 4 mit den „Gedichten 1800-1806“ zum ersten Mal „Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinschen Werkes“ erschienen und in bahnbrechender Weise zum entscheiden-

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Vgl. Benjamin, W. (1995): Gesammelte Briefe, hg. v. Gödde, C.; Lonitz, H., Frankfurt/M., Bd. 1, S. 348, 344; Benjamin, W. (1997): Gesammelte Briefe, hg. v. Gödde, C.; Lonitz, H., Frankfurt/M., Bd. 3, S. 521. Den Hölderlin-Aufsatz hat P. Szondi mit vollem Recht als „gleichsam im zweiten Konditionalis »epochemachenden« frühen Text“ Benjamins bezeichnet (vgl. Szondi, P. (1993): Briefe, hg. v. König, Chr.; Sparr, Th., Frankfurt/M., S. 116). G. Scholem berichtet, es sei ein „Zeichen großen Vertrauens“ gewesen, dass ihm Benjamin „eine Maschinenabschrift seiner Arbeit Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ gegeben habe (vgl. Scholem, G. (1975): Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M., S. 26). 99

JOHANN KREUZER

den Bezugspunkt nicht nur der poetologischen Diskussionen des beginnenden 20. Jahrhunderts geworden war.2 Noch (oder gerade) in der Anthologie Deutsche Menschen, die 1936 in Luzern erschien, kommt Benjamin dann auf Hölderlin zurück, bei dem „der nackte Fels der Sprache schon überall an Tag tritt“: auf „deren schroffen Höhen“ setze der Akt der Wortfindung „trigonometrischen Signalen gleich“ Zeichen, die allein noch im Kontext der „Leidensgemeinschaft“, als die sich die abendländische Geschichte zeige, blieben oder (hoffend formuliert) Widerstand böten.3

II. Nicht alleine Hölderlin, aber insbesondere auch er, füllte das Vakuum, das die Implosion der bürgerlichen Welt im Ersten Weltkrieg erzeugt hatte.4 Den ‚Geist‘ wie den Anspruch, mit dem das geschah, gibt vielleicht am besten eine Tagebuchnotiz Scholems wieder. Benjamins Formulierung der „absoluten Größe Hölderlins“, variierend spricht er von der „absolute[n] Autorität Hölderlins“, und stellt fest: „Hölderlin und die Bibel“ seien „die beiden einzigen Dinge auf der Welt, die sich niemals widersprechen können“.5 Nur noch Heidegger hat von Hölderlins Rang in vergleichbarer Weise gesprochen, wenn er im Rückblick auf seinen Denkweg bekennt: „Mein Denken steht in einem unumgänglichen Bezug zu Hölderlins Dichtung. Ich halte Hölderlin nicht für irgendeinen Dichter, dessen Werk die Literaturhistoriker neben vielen anderen auch zum Thema machen. Hölderlin ist für mich der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet und der somit nicht nur ein Gegenstand der

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Vgl. Hölderlin, F. (1916): Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, München, Bd. 4, bes. durch Hellingrath, N. v., S. XI. Auch der Hinweis, Blödigkeit als „Erfüllung“ eines dichterischen Anspruchs zu lesen, der in Dichtermuth erst angelegt ist, hatte 1910 Hellingrath gegeben (vgl. Hellingrath, N. v. (1944): Hölderlin-Vermächtnis, hg. v. L. v. Pigenot, 2. Aufl., München, S. 70). Vgl. auch Pieger, B. (2001): Norbert von Hellingrath und die Entdeckung des späten Hölderlin. In: Lawitschka, V.: Hölderlin. Philosophie und Dichtung, Tübingen, S. 131-156 Vgl. Benjamin, W. (2008): Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen. In: Benjamin, W: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Gödde, C.; Lonitz, H., Frankfurt/M., Bd. 4., hg. v. Brodersen, M., S. 38, 39. Zur Implosion der bürgerlichen Welt in und nach dem Ersten Weltkrieg und dem Vakuum, das diese Implosion erzeugte, vgl. Grunenberg, A. (2006): Hannah Arendt und Martin Heidegger, München, S. 13-82. Vgl. Scholem, G. (2000): Tagebücher 1917-1923, hg. v. Gründer, K.; KappOberstebrink, H.; Niewöhner, F. unter Mitw. v. Grözinger, K. E., Frankfurt/M., S. 347.

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WALTER BENJAMINS HÖLDERLIN-LEKTÜRE

Hölderlin-Forschung in den literaturhistorischen Vorstellungen bleiben darf.“6 Gegen Heideggers Hölderlin-Deutungen hat sich dann Adorno positioniert7 – nicht zuletzt um der Denkmotive willen, die Benjamin in seiner frühen Arbeit benannt hatte.8 Eines der zentralen dieser Denkmotive ist jenes, dass allein der Akt der Sprachfindung die Verstrickung in den „Schuldzusammenhang“, der sich als Datum und an den Daten bisheriger Geschichte als deren unerlöstes „Schicksal“ zeigt, zu transzendieren vermöge – Sprachfindung allein sei eine oder bleibe als Form erfahrungszugänglicher Transzendenz.9 Sprachfindung als Form erfahrungszugänglicher Transzendenz zu begreifen: Das ist das Motiv, auf das Benjamin im Hölderlin-Aufsatz stößt. Und es ist der Ausgangspunkt für sein „Programm einer kommenden Philosophie“: Benjamin spricht hier im Anschluss an Kant und Hamann davon, dass sich die Erfüllung dieses Programm „nur durch die Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache“ gewinnen lasse10 – eine Beziehung, die sich in der von Hölderlin erreichten Sprachwirklichkeit wiederum realisiert findet, so dass die Sprachwirklichkeit der Dichtung zum Maßstab geschichtlicher Erfahrung wird. Sie wird zum Maßstab geschichtlicher Erfahrung, weil und insofern sich in ihr 6

Vgl. Heidegger, M. (1976): Spiegel-Gespräch. In: Spiegel, H. 23, S. 214. Vgl. auch die Notiz in den Beiträgen zur Philosophie, dass die „jetzt und künftig wesentliche Fassung des Begriffes der Philosophie“ ganz von Hölderlin her zu begreifen sei: „Die geschichtliche Bestimmung der Philosophie gipfelt in der Erkenntnis der Notwendigkeit, Hölderlins Wort das Gehör zu schaffen.“ (Heidegger, M. (1989): Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, hg. v. Herrmann, F.-W. v., Frankfurt/M., S. 422). 7 Vgl. Adornos auf der Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft 1963 in Berlin gehaltenen – und heftige Diskussionen auslösenden (vgl. HölderlinJahrbuch.Im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft hg. v. W. Binder u. A. Kelletat, Bd. 13 (1963/64), Tübingen 1965, S. 178) – „Parataxis“-Vortrag, dessen erweiterte Fassung 1964 in der Neuen Rundschau erschien, jetzt in: Adorno, T. W. (1974): Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R., Frankfurt/M., Bd. 11, S. 447-491; 699 (zur Polemik gegen Heidegger vgl. insbes. das erste Drittel des Aufsatzes). Zum Ganzen vgl. auch Kreuzer, J. (2004): Adornos und Heideggers Hölderlin. In: Ette, W.; Figal, G.; Klein, R.; Peters, G. (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg; München, S. 363-393. 8 Dagegen hat sich wiederum Hannah Arendt gewandt und versucht, eine größere Nähe Benjamins zu Heidegger (als zu den „Subtilitäten seiner marxistischen Freunde“) herzustellen: vgl. Arendt, H. (1971): Walter Benjamin. Bertolt Brecht, München, S. 57, 61. 9 Die Rede vom Schicksal als Schuldzusammenhang des Lebendigen verdankt sich einem jener suggestiven Sätze, derer es bei Benjamin viele gibt: „Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Lebendigem“, schreibt er in seinem Essay über Goethes Wahlverwandtschaften (vgl. Benjamin, W. (1974a): Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R.; Schweppenhäuser, H., Frankfurt/M., Bd. 1, S. 138). Zur Evidenzsuggestion solcher Sätze vgl. Anm. 19. 10 Vgl. Benjamin, W. (1977a): Über das Programm der kommenden Philosophie. In: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R.; Schweppenhäuser, H., Frankfurt/M., Bd. 2, S. 168. 101

JOHANN KREUZER

mitteilt, dass ‚Sprache‘ jene „Sphäre menschlicher Übereinkunft“ meint, „die der Gewalt vollständig unzugänglich ist“.11 Die Kunst der Sprache lässt Formen der Übereinkunft (gelingender Intersubjektivität), die der Gewalt entragen – und insofern die mythische Immanenz bisheriger Geschichte transzendieren –, zu einem innergeschichtlichen Erfahrungsdatum werden. Wie lässt sich diese Sprachwirklichkeit fassen, was zeichnet sie aus? Das erschließt sich Benjamin in seinem frühen Aufsatz als Erläuterung nicht zuletzt des Verses: „Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir“.12

III. Der Hölderlin-Kommentar ist die vergleichende Lektüre zweier Fassungen eines Gedichts: der 2. Fassung von Dichtermuth und von Blödigkeit, das unter den Nachtgesängen im Taschenbuch für das Jahr 1805 veröffentlicht wurde.13

11 ‚Sprache‘ realisiert sich im strengen Sinn als „eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft […], daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: [als] eigentliche Sphäre der »Verständigung« […]“ (Benjamin, W. (1977b): Zur Kritik der Gewalt. In: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R.; Schweppenhäuser, H., Frankfurt/M., Bd. 2, S., 192). 12 Vgl. Vers 21 von Blödigkeit, zit. nach: Hölderlin, F. (1984): Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Sattler, D. E., Frankfurt/M., Bd. 5, hg. v. Sattler, D. E.; Knaupp, M., S. 700. 13 Benjamin bezeichnet sie aufgrund der von ihm benutzten Ausgabe – Hölderlin, F. (1905): Gesammelte Werke, Jena; Leipzig, Bd. 4, hg. v. Böhm, W.; Bd. 2, hg. v. Ernst, P. (vgl. Benjamin, W. (1977c): Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R.; Schweppenhäuser, H., Frankfurt/M., Bd. 2, S. 922/23) – irrtümlich als erste. Zu beiden Gedichten vgl. Bennholdt-Thomsen, A. (2002): Nachtgesänge. In: Kreuzer, J. (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart; Weimar, S. 338 ff.; Janz, M. (2002): Benjamin – Adorno – Szondi. In: Kreuzer, J. (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart; Weimar, S. 439443. 102

WALTER BENJAMINS HÖLDERLIN-LEKTÜRE

Der Kommentar gilt dem „Gedichteten“ beider Fassungen.14 Das ‚Gedichtete‘ ist Benjamin terminus technicus für ein „Verhalten zur Welt“, von dem ein poetischer Text zeuge. In Dichtermuth und Blödigkeit sei dieses Verhalten „der Mut“ – und zwar einer, der der Bestimmung der ‚Harmonie‘ gilt, zu der in seiner Verschiedenheit gefügt sich das Lebendige im Gedicht erfährt. Mit der Bestimmung, dass im Gedicht sich das Lebendige in seiner Verschiedenheit gefügt erfahre, sind verschiedene Aspekte der „Aufgabe“ verbunden, der gegenüber sich die Sprachwirklichkeit des Gedichts als „Lösung“ erweist – sofern sie gelingt, was Benjamin nach erst in Blödigkeit erreicht wird.15 Diese Aspekte sind a) die Selbsterfahrung des Lebendigen. Was hier Selbsterfahrung des Lebendigen heißt, hängt b) mit Verschiedenheit zusammen.16 ‚Verschiedenheit‘ erweist sich als Bedingung der Möglichkeit des Lebendigen in doppeltem Sinn: dem individueller Differenz wie der Bestimmung seiner Endlichkeit (wenn man Verschiedenheit als substantiviertes Partizip Perfekt des Verbs ‚verscheiden‘ liest).17 Was dergestalt Verschiedenheit heißt, hängt schließlich c) mit einer Fügung zusammen: ‚Fügung‘ in jenem Sinn verstan14 Vgl. Benjamin, W. (1977d): Zwei Gedichte Friedrich Hölderlins. In: Benjamin, W.: (1977c) a. a. O., Bd. 2, S. 106 f. Das „Gedichtete“ ist eine ‚Kategorie ästhetischer Untersuchung‘, die ‚innere Form‘ eines Werkes der Sprache, die es zur „besonderen Schöpfung“ werden lässt (vgl. ebd., S. 106). Es stellt sich im Kunstwerk als verwirklichte ‚Selbstidentität des Lebendigen‘ (vgl. ebd., S. 112) dar. Dieses verwirklicht sich nicht als ein Gegenstand, sondern in der Fügung der Gegenstände der Sprache. Je ‚dichter‘ diese Fügung erscheint, um so gelungener ist die besondere Schöpfung des Werks. M. Heidegger wird später zu Recht, an Benjamins Begriff des Gedichteten anknüpfend, postulieren: „Um des Gedichteten willen muß die Erläuterung des Gedichtes danach trachten, sich selbst überflüssig zu machen.“ (Heidegger, M. (1971a): Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 4. Aufl., Frankfurt/M., S. 8). 15 Zur „Idee der Aufgabe“ wie der „Lösung“, von der das sprachliche Gebilde zeugt, vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 107. 16 Vgl. Hölderlins Notiz auf Seite 66 des Homburger Folioheftes: „Unterschiedenes ist/ gut“ (vgl. Hölderlin, F. (1986): Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Sattler, D. E., Frankfurt/M., Supplement III. Homburger Folioheft, hg. v. Sattler, D.E.; George, E. E., S. 92). 17 Sich in seinem Verschiedensein zu begreifen, ist wesentliche Bedingung individuellen Daseins. Erst indem es sich in seiner Endlichkeit erkennt, wird individuelles Dasein sich gleich. Das gilt nun gerade für den ‚Dichter‘, dessen Aufgabe es ist, gelebter Erfahrung zur Sprache zu verhelfen. Entspricht sein ‚Mut‘ der Aufgabe, die Bedingung der Endlichkeit anzuerkennen, dann sehnt er sich nach „der Schönheit“ nicht mehr als einer Eigenschaft, die „die Gefahr des Todes“ in der Kunst zu überwinden suche – als könne sie das. Der Mut dichterischer Sprachfindung gilt dann vielmehr der Annahme der Gefahr des Todes als innerer Bedingung jener Gestalt(ung), in der Schönheit sich mitteilt. In solchem ‚Mut‘, in dem ‚Schönheit‘ nicht mehr irgendein Objekt der Sprache (wie im Jugendstil und seiner Neigung zu ornamentalisierender Stilisierung) ist, sondern sich als ihr Gelingen darstellt, werde aus Abhängigkeit Aktivität (Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 109, 114, 123). Vgl. auch Anm. 43, 44. 103

JOHANN KREUZER

den, den beispielsweise Fuge in der Musik hat – nicht dem schicksalshafter Fremdbestimmung, denn da erfährt Lebendiges allein, dass es Ordnungen unterworfen ist, die nicht die seinen sind. Dass ‚Fügung‘ dann doch, gleichsam in zweiter Potenz, mit mythischen Verbundenheiten zu tun hat, die die Selbsterfahrung der Verschiedenheit des Lebendigen in sich strukturieren – als Formen des ‚Geschicks‘, nicht des Schicksals –, so dass es diese ‚geschickten‘ Ordnungen als die seinen erkennt, ist freilich ein Beweisziel von Benjamins „ästhetischem Kommentar“.18 Dieses Geschick hat mit dem Bewusstsein der Sprache zu tun, das sich in der Dichtung verwirklicht. Denn es ist vornehmlich die Sprache der Dichtung, die das ‚Geschick‘ jener Fügung mitteilt, in der sich die Verschiedenheit des Lebendigen in einer Weise erfährt, die allein „der Zeit der Erlösung oder der Musik oder der Wahrheit“ vergleichbar scheint.19

18 Die „Betrachtung des Gedichteten“ führe „nicht auf den Mythos, sondern – in den größten Schöpfungen – […] auf die mythischen Verbundenheiten, die im Kunstwerk zu einzig unmythologischer und unmythischer […] Gestalt geformt sind.“ (Benjamin, W. (1977d) a. a. O, ebd., S. 126) Die ‚unmythische‘ Bedeutung des Wortes Fügung ist seine ursprüngliche im Sinn von „conjunctio, accomodatio, ordinatio“, vgl. Grimm’sches Wörterbuch, Grimm, J. & W. (1984): Deutsches Wörterbuch, München, Bd. 4, S. 401/02. Zu Benjamins Selbstverständnis, einen „ästhetische(n) Kommentar“ zweier lyrischer Gebilde zu liefern, vgl. Benjamin, W. (1977d), a.a.O., S. 105; vgl. dazu: Groddeck, W. (1976): Ästhetischer Kommentar. Anmerkungen zu Walter Benjamins Hölderlinlektüre. In: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe Nr. 1, Frankfurt/M., S. 17-21. 19 Was in den ‚Schuldzusammenhang‘ verstrickt sein lässt, sei „nach Art und Maß ganz verschieden von der Zeit der Erlösung oder der Musik oder der Wahrheit.“ (Benjamin, W. (1977e): Schicksal und Charakter. In: Benjamin, W. (1977c) a. a. O., Bd. 2, S. 176) Die Suggestion, die von Sätzen wie dem letzten – oder der Setzung, dass „Schicksal der Schuldzusammenhang des Lebendigen“ sei (ebd., S. 175; vgl. auch Anm. 9) – ausgeht, hat mit ihrem gnomischen Gestus und der dadurch beanspruchten Evidenz zu tun. „Der Gestus des Esoterikers“, der sich in ihnen ausdrückt, ist „der des Produzenten autoritärer, und das heißt freilich: von vornherein und ihrem Wesen nach zitierbarer und deutbarer Sätze.“ (Scholem, G. (1972): Walter Benjamin und sein Engel. In: Unseld, S. (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/M., S. 88) Auszufalten, was in solchen Sätzen als Evidenz nur behauptet wird, verweist auf die Bewusstseinsarbeit – die Arbeit des Begriffs, hätte Hegel gesagt –, die in ihre Produktion eingegangen ist. Der Hölderlin-Aufsatz präsentiert wesentliche ihrer Elemente gleichsam in statu nascendi. 104

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III.1 Wie teilt sich das Geschick dieser Fügung sprachlich mit? – oder anders gefragt: Wie teilt ein Werk der Sprache jene Ordnungsleistungen mit, die aus mythischen Bindungen Geschick werden lassen? Die Antwort darauf ist die „Aufgabe“, der gegenüber ein gelungenes Sprachwerk als „Lösung“ zu verstehen ist. Diese Lösung betrifft nicht die gegenständlichen Bezugspunkte eines Gedichts, sondern das Verhalten, das sich in ihm zeigt – das, was in ihm, sofern es zur Sprache findet, im schon erwähnten Sinn das „Gedichtete“ ist. Je deutlicher es mit den Inhalten zusammenfällt, auf die es sich bezieht, desto ‚mythologischer‘, d. h. fremdbestimmt ist es für Benjamin. Wenn ein Gedicht nur das ‚sagt‘, was es kommuniziert, desto weniger kommuniziert es den Akt der Selbstbestimmung mit, der freisetzt, was Sprache als Prinzip von Mitteilung bedeutet. Umgekehrt ist genau dies die Aufgabe dichterischer Sprachfindung: das Vermögen, sich frei bestimmenden Mitteilens erinnerungsfähig zu machen und dadurch erinnerungsfähig werden zu lassen. Was ein Gedicht damit leistet – was es zu einem Gedicht oder „Gesang“ macht20 –, betrifft ersichtlichermaßen auch und gerade die Frage, was sprachliche Gestaltfindung und gewissermaßen ‚Sprache‘ selbst bedeutet. Der Hölderlin-Aufsatz thematisiert implizit die Frage, was durch Sprache mitgeteilt wird und was sie selbst als vom Mitgeteilten unterschiedenes Prinzip von Mitteilung ist.21 Der poetologische Anspruch hat ein sprachphilosophisches Fundament. Sprache verstanden als Vermögen der Sprachfindung – als Akt der Mündigkeit – erschöpft sich nicht in der Wiedergabe vorgegebener Elemente. Das ist ihre mythologische Funktion: Gegebene Daten und vorhandene Deutungsmuster werden bekräftigt, indem sie wiederholt und Erfahrung an sie 20 Zu ‚Gesang‘ als terminus technicus dichterischer Sprache vgl. die Verse 9 und 10 von Dichtermuth („seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich/ friedenathmend entwand“) sowie die Verse V. 10 und 11 von Blödigkeit: „[…] die Himmlischen selbst führet, der Einkehr zu,/ Der Gesang“). 21 Was der Hölderlin-Aufsatz implizit enthält, entfaltet Benjamin dann im zentralen Text seiner frühen Schriften – dem Sprachaufsatz – konzeptionell. „Sprache bedeutet […] das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip in den betreffenden Gegenständen […]. Mit einem Wort: jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache, wobei die Mitteilung durch das Wort nur ein besonderer Fall, der der menschlichen […] ist.“ (Benjamin, W. (1977f): Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In Benjamin, W. (1977c) a. a. O., Bd. 2, S. 140) Was (Benjamin mit) Sprache meint, erschöpft sich nicht in der äußeren Kundgabe gegebener mentaler Gehalte, wie das z. B. in konventionellen Bedeutungstheorien unterstellt wird. ‚Sprache‘ meint vielmehr jenes Prinzip ‚Sprachlichkeit‘, aus dem sich erklärt, dass jede Äußerungsform – gesprochener oder geschriebener oder welcher Art sinnlicher Manifestation immer – als Entsprechung und Übersetzung zu verstehen ist, vgl. auch Anm. 26, 27. 105

JOHANN KREUZER

rückgebunden wird. Der kommunikative Aspekt der Sprache hat es mit dieser mythologischen Funktion zu tun – selbst dann, wenn er Mündigkeit ‚kommuniziert‘ oder kommunizieren zu wollen prätendiert, setzt er mit der Dienstbarmachung des Worts, seiner Funktionalisierung, Fremdbestimmung fort. Deshalb bedeutet es das Gegenteil von Ästhetizismus oder L’art pour l’art, wenn Benjamin festhält: „Dichtung im eigentlichen Sinn entsteht erst da, wo das Wort vom Banne auch der größten Aufgabe sich frei macht.“22 Denn nur dadurch teilt es Selbstbestimmung als Wirklichkeit der Freiheit mit und reproduziert sie. Selbstbestimmung als Datum von Freiheit wirklich werden zu lassen, das ist zugleich jene von der kommunikativen unterschiedene andere Funktion der Sprache, die Aufklärung durch Erzählung bedeutet. Aufklärung durch Erzählung ist die ursprüngliche Leistung des Mythos. Sie besteht darin, gegebene Strukturen durchsichtig zu machen, indem sie gestaltet werden. Mythologie hingegen bedeutet bloße Evokation jeweils gegebener (Macht- und Herrschafts-) Strukturen. Statt als Prinzip der Gestaltung gebraucht zu werden, fungiert Sprache dabei allein als Mittel der Rückbindung an unbefragt übernommene Daten und Verweisungszusammenhänge und verfestigt dadurch mythologische Abhängigkeit. Übertragen auf das Verhältnis SpracheKommunikation heißt das: Der kommunikative Aspekt der Sprache ist ein Rudiment ihres mythologischen Gebrauchs. Davon nicht unabhängig, aber unterschieden ist der Akt der Bewusstwerdung durch Gestaltung, als der sich Sprache ursprünglich erweist: als Akt einer Aufklärung, der sich durch die Übersetzung der Erfahrungswirklichkeit in die zweite Empirie der als Zeichen verstandenen (und als diese zweite Empirie zu verstehenden) Äußerungsformen ergibt.23 Im Unterschied zum mythologischen Gebrauch, auf den Sprache in der Restriktion auf ihre ‚Transportfunktion‘ für das Verstehen beschränkt wird, bedeutet sie als Übersetzung ein Deutungs- und Sinnstiftungsgeschehen, das als Verstehen mythische Verbindlichkeiten nicht wiedergibt, sondern entstehen lässt. Genau diesen Schritt von bloß beanspruchter zu dargestellt erfüllter Verbindlichkeit habe Hölderlin von Dichtermuth zu Blödigkeit vollzo22 Benjamin, W. (1974b): Goethes Wahlverwandtschaften. In: Benjamin, W. (1974a) a. a. O., S. 159. Vgl. auch Anm. 51, 52. 23 Was als Erfahrungskern der (sprachlich sich fassenden) ‚Empirie der Zeichen‘ zu verstehen ist, verdeutlicht – lange vor den zeichentheoretischen Funktionalisierungen der Sprache – eine Notiz von Hölderlins Zeitgenossen Jean Paul, zu dessen Levana Benjamin einmal bemerkt, die „Deutschen“ wüssten „auch hier wieder nicht, was sie besitzen“ (Benjamin, W. (1996): Brief an G. Scholem vom 23. Juli 1920. In: Benjamin, W.: Gesammelte Briefe, hg. v. Gödde, C., Frankfurt/M., Bd. II, S. 93): „Geistesfreiheit“ zeuge von der Fähigkeit, „den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin“ (vgl. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, § 52 zit. nach: Paul, J. (Richter, Friedrich) (1975): Vorschule der Ästhetik. In: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Miller, N., München, Bd. 9, S. 194). 106

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gen. Die „Anlehnung an die Mythologie“ weiche hier „dem Zusammenhang des eigenen Mythos. […] Analog (ist) eine Aktivität aus einem Abhängigkeitsverhältnis geworden.“24 Es zeichnet die als Verhalten verstandene Sprache aus, dass sie mythische Verbindlichkeiten entstehen lässt und nicht bloß wiedergibt. Sprachfindung bedeutet Identität, die sich zur Form gestaltet hat – oder, wie Benjamin im Hinblick auf die im Gedicht sich bezeugende Freiheit formuliert, „Bestimmung des Schicksals durch Gestaltung […]“.25 Durch Gestaltung, nicht durch den Verweis auf andere zu kommunizierende ‚Gründe‘ tritt die dichterische Sprache aus dem geschlossenen Kreis von Fremdbestimmung heraus. Gelingende Gestaltung ist das Geschick der Dichtung, das Sprache freisetzt – sowohl im Sinne des Freigesetzten wie des Freisetzenden. Geschick bedeutet in diesem Zusammenhang jene Geschicklichkeit, die dem Schicksal (dem ‚fatum‘) der Fremdbestimmung entronnen sein lässt.26 Das kann sich nun nicht im bloßen Wollen, fremdbestimmtem Schicksal entronnen zu sein, erschöpfen. Denn solches Wollen wäre die leere Autonomie der Willkür, die dem Schicksal der Fremdbestimmung gleicht. Weder fremdbestimmt noch Fremdbestimmung reproduzierend ist ein Verhalten dann, wenn sich das, was in ihm das Agens ist, in seinem ‚Agieren‘ von dem, was es ‚agiert‘, bestimmen lässt. Dann entspricht es dem, was es durch sein Tun übersetzt. Weder fremdbe-

24 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 114; vgl. auch ebd., S. 124, 126. 25 Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 120. Vgl. auch Anm. 9. 26 Zum ‚semantischen Untergrund‘ dessen, was hier Geschick heißt, vgl.: „GESCHICK […] subst. Verb zu schicken, ‚machen dasz etwas geschieht‘ […] ‚geschicklichkeit, schicklichkeit‘ […], fatum, quod a deo mittitur cuique […], nach heidnischen Anschauungen das schicksal als gottheit von dunkler vorstellung, das fatum, mit blind waltender macht“ (Grimm, J. & W. (1984) a. a. O., Bd. 5, S. 3870-72). „GESCHICKLICHKEIT […] 1) beschaffenheit, namentlich die richtige, gute […], 2) geschicklichkeit, accomodatio, […] concinnitas, opportunitas […] naturanlage, […] ingenium […], geschicktheit, fähigkeit, begabung, […] klugheit, weisheit, […] kunst, tüchtigkeit […]“ (ebd., S. 3877-79). – Zum ‚Geschick‘ poetischen Tuns vgl. auch die Sätze, die J. G. Hamann in seiner Aesthetica. In. Nvce aus dem Theorem folgert, dass „die Schöpfung eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ sei: „wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen […] – oder noch kühner! – sie in Geschick zu bringen, des Poeten bescheiden Theil. / Reden ist übersetzen […].“ (Hamann, J. G. (1968): Aesthetica in nuce, hg. v. Jørgensen, S. A., Stuttgart, S. 87) Diese Stelle dürfte Benjamin, der in Über das Programm der kommenden Philosophie an exponierter Stelle auf Hamann verweist (vgl. Anm. 10) und im Sprachaufsatz dessen berühmtes Diktum aus dem Brief an F.H. Jacobi vom 18.10.1785 zitiert („Sprache die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr ǹ und ȍ […]“, vgl. Benjamin, W. (1977f) a. a. O., S. 147), bekannt gewesen sein. 107

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stimmt noch Fremdbestimmung reproduzierend ist eine Bewusstseinshaltung, die als ‚Übersetzung‘ und ‚Entsprechung‘ zu begreifen ist. Übersetzung wie Entsprechung zu sein ist das ‚Wesen‘ der Sprache. Es ist das Wesen eines Sich-Bestimmenlassens. ‚Sich bestimmen lassen‘: Das sind die Formen der Sprachfindung, die aus dem Zirkel von Fremdbestimmung herausführen. Was dabei – durch die ‚schicklichen Hände des Dichters‘ – geformt wird, ist insofern kein Gegenstand, der übersetzt wird, sondern Sprache als Prinzip des Übersetzens selbst: Ihre zweite Empirie erweist sich als die erste oder primäre Empirie von Selbstbestimmung.27 Wie wird diese primäre oder originäre Empirie von Selbstbestimmung fassbar? – wie teilt sich in der Dichtung Selbstbestimmung als Sprachwerdung, d. h. die ‚Bestimmung des Schicksals durch Gestaltung‘ mit? Dass sich Selbstbestimmung in Sprachgestalt übersetzt habe und in ihr so fassbar werde, sei der Fortschritt, den Hölderlin im Übergang zu Blödigkeit realisiert habe. Als Kriterien für dieses Fassbarwerden gibt Benjamin insbesondere an, dass aus einem Abhängigkeitsverhältnis („Nährt zum Dienste denn nicht selber die Parze dich?“) eine Aktivität werde: „Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?“. Damit werde in der Haltung, dem „Gedichteten“, das in der Sprachgestalt sich ausdrückt, die Umkehr aus mythischer Abhängigkeit zum Entspringen des Mythos aus dichterischer, d. h. sprachschöpferischer Tätigkeit vollzogen. In ihr weiche insofern die ‚Anlehnung an Mythologie‘ der Gestaltung des dem Gedicht ‚eigenen Mythos‘.28 Es entlehnt seinen ‚Ursprung‘ nicht vorgegebenen Ordnungen, sondern wird (als Ort der Sprachfindung) selbst Ursprung und damit zum Zeichen der Freiheit von selbst Entspringendem. Damit kommt die doppelte Semantik dessen ins Spiel, was ‚Ursprung‘ heißt oder heißen kann. Konnotiert werden kann mit ihm die Rückbindung an eine vorgängige Ursprungsmacht.29 Man kann Ur27 Darauf, dass damit der Begriff der Übersetzung ins Zentrum von Benjamins Auffassung der Sprache wie seines Verständnisses von Erfahrung rückt, kann im Rahmen dieser Überlegungen nur hingewiesen werden: Übersetzen ist das Prinzip der Sprache wie das, was Sprache im Prinzip ist: „Es ist notwendig, den Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen, denn er ist viel zu weittragend […], um in irgendeiner Hinsicht nachträglich […] abgehandelt werden zu können.“ (Benjamin, W. (1977f) a. a. O., S. 151). 28 Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 114 ff. Vgl. Scholems Memorandum: „Benjamins Geist kreist und wird noch lange kreisen um das Phänomen des Mythos, an den er von den verschiedensten Seiten herangeht. Von der Geschichte, wo er von der Romantik ausgeht, von der Dichtung, wo er von Hölderlin ausgeht, von der Religion, wo er vom Judentum ausgeht […].“ (Scholem, G. (1975) a. a. O., S. 45). 29 Das ist Heideggers Option. Bei aller Verflüssigung der Relation zwischen dem Ursprünglichen und dem, was aus ihm entspringt – angeregt nicht zuletzt durch Hölderlins Wort aus der Rhein-Hymne: „Ein Räthsel ist Reinentsprungenes.“ –, setzt Heidegger den Ursprung dem Entsprungenen denn doch entgegen: „So 108

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sprung aber auch im Sinn ursprünglicher (‚prinzipieller‘) Kreativität deuten, als jenen Akt, der entspringen lässt: „Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint.“30 Wenn man Sprache nun nicht auf die bloße Wiedergabe von Vorgegebenem beschränkt bzw. sie nicht zum bloßen Mittel der Mitteilung macht, dann ist sie in exemplarischer Weise ein Akt, der ‚entspringen‘ lässt, und erzeugt, was vorher noch nicht war. Es ist die ursprüngliche Freiheit der Sprache, die – in der Terminologie des Hölderlin-Aufsatzes – mythischer Abhängigkeit entronnen sein lässt. Das hebt die andere, ebenso ‚ursprüngliche‘ Tatsache, die in mythischer Abhängigkeit wie Angst befangen sein lässt, nicht auf. Diese andere (‚ursprüngliche‘) Tatsache ist das Faktum der Endlichkeit des Daseins in der Zeit. Sterblichkeit ist der Preis, den das Lebendige in seinem Vorübergehen zu begleichen hat. Andererseits verleiht gerade dieses Wissen um die Endlichkeit dem gelebten Dasein in gleichursprünglicher Weise seinen Sinn: Weil es endlich ist, kommt es auf die Spanne an Zeit an, die Individuellem gegönnt ist. In dieser Spannung ‚lebt‘, was sich in seiner Endlichkeit begreift. Die Position dichterischen Sprechens ist davon – gerade dann, wenn es Verbindlichkeit beansprucht – nicht ausgenommen. Sein ‚Mut‘ erweist sich – und zwar nicht erst dann, „wenn es die Zeit einst ist“ (vgl. Dichtermuth) – in der Annahme dieser Bedingung der Endlichkeit. Denn nur der Mut zu ihrer Annahme lässt über die Natur des Endlichen hinausgehen. Es erfordert ‚Geschick‘, solches Hinausgehen mit der Immanenz des Endlichen zu verbinden. Dies ist die Leistung des Gesangs, der die „Himmlischen gleich Menschen, […]/ Und die Himmlischen selbst“ der „Einkehr“ zuführt. Das ‚Geschick‘ der Dichtung fügt die Annahme der eigenen Endlichkeit mit der Verwirklichung gestaltgewordener Selbstbestimmung zusammen. Insofern hebt es die Tatsache, die in mythischer Abhängigkeit und Angst befangen sein lässt – einschließlich des schwachen Trostes, „zur Freude gewandt“ und „jedem hold“ zu sein31 – denn doch auf.

vermag das dem Ursprung Entsprungene nichts gegen den Ursprung.“ (Vgl. Heidegger, M. (1971b): »Wie wenn am Feiertage ...«. In: Heidegger, M. (1971a) a. a. O., S. 74) Und am Anfang des Kapitels „Zeitlichkeit und Alltäglichkeit“ heißt es in Sein und Zeit thetisch: „Der ontologische Ursprung des Seins des Daseins ist nicht »geringer« als das, was ihm entspringt, sondern er überragt es vorgängig an Mächtigkeit, und alles »Entspringen« im ontologischen Felde ist Degeneration.“ (Heidegger, M. (1972): Sein und Zeit, 12. Aufl., Tübingen, S. 334). 30 Vgl. Benjamin, W. (1974c): Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Benjamin, W. (1974a) a. a. O., Bd. 1, S. 226. 31 Vgl. die Verse 6 und 14 in Dichtermuth. Aus „zur Freude gewandt“ wird in Blödigkeit „zur Freude gereimt“, und „jedem hold“ ersetzt Hölderlin durch „jedem gleich“ (vgl. Hölderlin, F. (1984) a. a. O., Bd. 5, S. 697-99). 109

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III.2 Der Vers, der das Thema dieser Überlegungen zu Benjamins HölderlinLektüre überschreibt, fasst Leistung wie Anspruch poetischer Sprachfindung zusammen. Mit ihm beginnt die Schlussstrophe von Blödigkeit: „Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir“. Was heißt hier „gut“? – und wozu sind die Dichter (als „Zungen des Volks“) ‚einem zu etwas geschickt‘? Dichterisches, das heißt sprachfinderisches Geschick besagt 1) ein Geschickt-sein-zu in einem räumlichen Sinn der Gleichzeitigkeit und es bedeutet 2) eine Eignung, eine ‚Geschicklichkeit‘.32 Das ‚Geschickte‘ der Dichtung ist 3) das ‚Schickliche‘ – das, ‚was sich schickt‘.33 In dieser Wendung ist das Reflexivpronomen nicht als Ausdruck der Passivität, sondern der Aktivität zu verstehen im Sinne von: was ‚sich schickt‘, d. h. Beziehungshaftigkeit selbst in gestalteter Form, wie es bei Hölderlin heißt, ‚bringt‘. Das ‚eine‘, ‚zu‘ dem in diesem Sinn die Dichter ‚geschickt‘ sind, unterscheidet sich von ‚Vereinzelung der Gestalt und Beziehungslosigkeit des Geschehens‘.34 Nicht die evokative Doublette bloßen Erleidens oder vorauseilende Resignation bedeutet das ‚Sich-Schicken-in‘ poetischer Sprachfindung. Es steht vielmehr für das Aufgehobensein des Schicksals der Vereinzelung gelebter Erfahrung. Diese Vereinzelung ist Ausdruck davon, dass ihr Zeit nur als äußere Form gilt, in der einzelnes (individuelles) Zeitliches nie zugleich sein kann. Gilt Zeit nur als äußere Form irreversibler Sukzession, erfährt sich Lebendiges radikal fremdbestimmt: Es ist ihrer Macht unterworfen. Umgekehrt ist das unaufhörliche Vorübergehen innere (wenn nicht innerste) Form wie Bedingung der Erscheinung von Lebendigem selbst: das, was entspringen lässt. Erfährt es deshalb

32 Vgl. Anm. 26. Dass das, was ‚sich schickt‘ oder ‚geziemt‘, gerade auch in ethischer Hinsicht das Angemessene und Maßstab ethisch-moralischer Urteilsbildung ist, findet sich in originärer wie grundlegender Weise in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik mit dem Begriff des „prepon“ diskutiert (vgl. Nik. Ethik IV.4, 1122a). Prepon ist über die lat. Übersetzung decorum zu einem entscheidenden Begriff nicht nur der Moralphilosophie, sondern auch zu einem zentralen Maßstab der Beurteilung produktiv verstandener ästhetischer Erfahrung, d. h. der Kunst geworden. Vgl. den Art. „Geziemende (das)“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (1974), hg. v. Ritter, J. u. a., Darmstadt, Bd. 3, S. 623626. 33 Das Schickliche ist das „Kunstgemäße“, vgl. Art. „SCHICKLICH“. In: Grimm, J. & W. (1984) a. a. O., Bd. 14, S. 2658; Art. „Schicklich“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), hg. v. Ritter, J. u. a., Darmstadt, Bd. 8, S. 1271. – Vgl. auch Schmidt, J. (1992): Erläuterungen zu Blödigkeit. In: Hölderlin, F. (1992): Sämtliche Werke und Briefe, Frankfurt/M., Bd. 1, hg. v. Schmidt, J., S. 831/32; Hölderlin, F. (1992/93a): Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Knaupp, M., München, Bd. 3, S. 531. 34 Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 111. 110

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Zeit nur als ‚äußere‘ Form, entspricht seine Erfahrung nicht dem, was es ist. Dem zu entsprechen, was es ist, gelingt Lebendigem nur in der Gestaltung der Bedingungen, der es unterliegt. Gelingt diese Gestaltung, dann bedeutet das zugleich ein Hinausgehen über diese Bedingungen: kein faktisches, denn das ist unmöglich, aber ein erfahrungsmäßiges Transzendieren. Es schließt eine innere Bewegung und lebendige Empfindung ein, in der der dichterische Mut „bestimmend und bestimmt“ erscheint: ‚bestimmt‘ von den Bedingungen der Endlichkeit, denen er „jedem gleich“ unterliegt – als „Zunge des Volks“ sie selbst ‚bestimmend‘.35 ‚Sich bestimmen zu lassen‘ wird zur Kunst, die der „Genius“ mit ‚schicklichen Händen‘ zur Sprache bringt. Im Finden solcher Formen sprachlicher Selbstbestimmung wird das Leben Gegenstand einer, wie Benjamin sagt, „mit mächtiger Freiheit vollzogenen Bewegung“. Damit bezieht er sich auf die Transformation des Eingangsverses der zweiten Strophe, die Hölderlin von Dichtermuth zu Blödigkeit vornimmt: Aus „Was geschiehet, es sei alles geseegnet dir,“ wird „Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!“. ‚Segnen‘ setzt eine Perspektive voraus (oder impliziert sie), die sich aus dem, worauf es sich bezieht, herausnimmt. Es erfolgt aus einer Außenperspektive.36 Sich alles gelegen sein zu lassen hingegen ist nur möglich inmitten dessen, ‚was geschieht‘ und erfordert Aufmerksamkeit. Zugleich gibt erst der Wechsel von nachträglich-segnender Rechtfertigung zu vergegenwärtigender Aufmerksamkeit der Verwendung des Indefinitpronomens „alles“ einen nicht-hypertrophen Sinn. Gilt ‚Segnen‘ möglichen Objekten, so bedeutet Gelegensein eine Haltung. ‚Alles‘, was in der Zeit vorübergeht, kann zur Gelegenheit bzw. Angelegenheit der Sprachfindung werden. Die ‚Not‘, die sich in den Versen der dichterischen Sprache wendet, bleibt die des Lebendigen in der Zeit. Aber weder muss ihr im selbstbeschwichtigenden „fürchte nichts!“ ausgewichen noch in stilisierendem Gestus eine Identifikation mit dem Aggressor („So vergehe denn auch, wenn es die Zeit einst ist/ […]/ Unsre Freude, doch schönen Tod“) vollzogen werden. Die Not des Lebendigen in der Zeit, dem, „seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich/ Friedenathmend entwand“, eben dieser Gesang gilt, wird zur Gelegenheit wie Angelegenheit sprachfinderischen Muts, der, selbst Teil des Endlichen, das Geschehen der Zeit von innen heraus gestaltet. „Ganz im Gegensatz zur »flüchtigen Zeit«, zu den »Vergänglichen«, ist in der Neufassung dieser Zei-

35 Vgl. ebd., S. 115. Zu „Mut“ als (Übersetzung von „animus“ wie „thymos“) und „bewegung des innern“ und „lebendige empfindung“ vgl. Art. „Mut, Muth“. In: Grimm, J. & W. (1984) a. a. O., Bd. 12, S. 2781/82. Zum weiteren Kontext des ‚Sich bestimmen lassens‘ vgl. auch M. Seel, Sich bestimmen lassen, Frankfurt/M. 2002. 36 Vgl. Hölderlin, F. (1984) a. a. O., Bd. 5, S. 697, 699. „Gesegnet“ sei eine vom Transzendenten und insofern herkömmlich Mythologischen abhängige Vorstellung. (Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 116). 111

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le“ – in Vers 18 von Blödigkeit: „zur Wende der Zeit, uns die Entschlafenden“ – „das Beharrende, die Dauer in der Gestalt der Zeit und der Menschen entwickelt worden.“37 Nicht im Fliehen aus flüchtiger Zeit erweist sich der Mut des Dichters, sondern im darstellenden Bringen des „denkenden Tags“. Im Unterschied zu einer gleichsam idyllischen Zeitlosigkeit, der der „Sonnengott“ einen „fröhlichen Tag“ im Gegensatz zum Vergehen des Endlichen in der Zeit „gönnt“, spricht Hölderlin in Blödigkeit nicht mehr über das Vergehen von Zeit, sondern bricht dessen „zeitliche Form von innen nach außen“.38 Er tut dies, indem er – durch die Reduktion auf sechs Strophen nun genau in der Mitte der Ode – das Tempus aus dem retrospektiven Präsens ins Präteritum und von da retour in ein Präsens prospektiver Art wechseln lässt: „Denn, seit […] der Gesang […] der Einkehr zu(führet die Himmlischen selbst), […] so waren auch // Wir, die Zungen des Volks gerne bei Lebenden, […] so ist ja/ Unser Vater, des Himmels Gott,/ Der den denkenden Tag Armen und Reichen gönnt/ Der, zur Wende der Zeit, uns die Entschlafenden/ Aufgerichtet […] hält (Hervorhebungen, J. K.)“.39 Die Instanz, die das Vorübergehen der Zeit als Selbsterfahrung des Lebendigen sinnvoll und sinnerfüllt soll werden lassen, ist keine Ordnung, über die das Gedicht spricht, sondern ein Ordnen, das es in sich vollzieht – und mit ihm mehr als nur dieses Ordnen ‚bringt‘. „Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen/ Einen bringen […]“. Benjamin betont: „Der Himmlische wird gebracht […].“40 Gebracht wird er als das bzw. im Erfassen des andauernden Vorübergehens des Zeitlichen, das sich zugleich als das „Moment innerer Plastik in der Zeit“ erweist.41 Das Vergehen des Endlichen in der Zeit ist in Blödigkeit nicht mehr Grenze von Selbstbestimmung. Es wird vielmehr zur unausgesprochenen Mitte des Gesangs, aus dem er sich bestimmt. „Offenbar ist, daß der Tod in der Gestalt der »Einkehr« in die Mitte des Gedichts versetzt wurde, daß in dieser Mitte 37 Ebd., 119. Hölderlin nennt dieses Beharrende (in) der Zeit in seinen Anmerkungen zur Antigonä die „Art, wie in der Mitte sich die Zeit wendet“, oder „kategorische Zeit“. Wohl seien die „Nahmen, unter welchem das Höchste gefühlt wird oder geschiehet“, veränderlich – nicht aber jene Wende, als die Zeit selbst jeweils ‚ist‘. (Hölderlin, F. (1998a): Anmerkungen zur Antigonä. In: Hölderlin, F.: J. C. F. Hölderlin. Theoretische Schriften, hg. v. Kreuzer, J., Hamburg, S. 103. Vgl. auch ebd., S. XLIV-XLVI). 38 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 121. 39 Blödigkeit, V. 9-20. In: Hölderlin, F. (1984) a. a. O., Bd. 5., S. 699/700. 40 Ebd., 121. Benjamins absichtliches Changieren zwischen ‚dem‘ und ‚den‘ Himmlischen löst das, was Dichtung ‚bringt‘, als „Akt der Gabe vom Gebrachten wie vom Bringenden“ ab (vgl. Primavesi, P. (2006): »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin«. In: Lindner, B. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart; Weimar, S. 470). 41 Vgl. ebd., 120. Der in sich gegenläufige Sinn der Formulierung ‚andauerndes Vorübergehen‘ versucht den Doppelaspekt dessen zu fassen, was Benjamin das ‚Moment innerer Plastik in der Zeit‘ nennt. 112

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der Ursprung des Gesangs ist […]“.42 Erfährt zuerst der Mut des Dichters am Tod seine Grenze als an einer Gefahr, die durch Schönheit überwunden sein soll – ein Überwinden, das eigentlich nur in der Stilisierung dichterisch heroisierten Sterbens besteht („so sterb’/ […] Unsre Freude, doch schönen Tod“) –, so nimmt Hölderlin in Blödigkeit diese Grenze ausdrücklich in die Sprachbewegung des Gedichts herein. Sollte die Gefahr des Todes zuerst durch Schönheit überwunden werden, so fließe „der spätern Fassung alle Schönheit her […] aus Überwindung der Gefahr.“43 Nicht mehr für den wegwerferischen Gestus todestrunkenen Sich-Opferns steht ‚Schönheit‘ – als bestünde sie darin.44 Was Dichtung bringt, ist vielmehr das bejahende Annehmen der Sphäre des Endlichen und der Krisis sich wendender Zeit als deren Mitte. Nicht Überwindung, sondern Fügung des Endlichen ist es, was Schönheit meint. Der dichterische Mut gilt damit dieser Welt der Endlichkeit, er bedeutet eine Art Rückkehr in sie. „»Blödigkeit«“ sei, so Benjamin, „nun die eigentliche Haltung des Dichters geworden.“45 Dieses Substantiv gebraucht Hölderlin hier singulär. Im Sinn von „schwach, kurzsichtig, abgestumpft / stumpfsinnig, 42 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., ebd., S. 124. „Einkehr“ deutet Benjamin hier als „katalysis“ im Sinn von Auflösung. Vgl. Grimm, J. & W. (1984) a. a. O., Bd. 3, S. 213; vgl. auch: Art. „ȜȣȦ / ȜȣıȚȢ“, in: Hofmann, J. B. (1971): Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, München, S. 185. 43 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 123. Zweifellos scheint hier der biographische Kontext durch, dem sich Benjamins Hölderlin-Aufsatz unter anderem verdankt: der Selbstmord des Freundes Heinle, den Benjamin mit der ästhetischen Heroisierung des Opfertods durch George in Verbindung brachte. Der „Literarischen Welt“ schreibt er über : „Im Frühjahr 1914 ging unheilverkündend überm Horizont der »Stern des Bundes« auf, und wenige Monate später war Krieg. Ehe noch der Hundertste gefallen war, schlug er in unsrer Mitte ein. Mein Freund starb. Nicht in der Schlacht. Er blühte auf einem Feld der Ehre, wo man nicht fällt.“ (Benjamin, W. (1977c) a. a. O., S. 623) Heinle war der „Versuch über zwei Hölderlinsche Gedichte“ ursprünglich gewidmet (vgl. ebd., S. 921). Bei dem Unheilverkündenden denkt Benjamin vermutlich an Zeilen Georges wie diese: „Wie sein Gesetz ist dass sich der erfüllt/ Der sich und alles sich zum Opfer gibt/ Und dann die tat mit seinem tod gebiert.“ (Aus: Der Stern des Bundes, zit. nach: George, S. (1958): Werke in zwei Bänden, hg. v. Boehringer, R., München; Düsseldorf, S. 353). 44 Der Hinweis auf einen exponierten Satz Hegels liegt hier nahe: „Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut […], sondern ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“, heißt es bei Hölderlins Jugendfreund (Hegel, G. W. F. (1988): Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wessels, H.-F.; Clairmont, H., Hamburg, S. 26). Hegels Vernunftoptimismus verbindet das mit der Zuversicht, dass der Geist „in der absoluten Zerrissenheit sich selbst“ finde und dass „diese Macht“, mit der „er dem Negativen ins Angesicht schaut“, als „Verweilen“ jene „Zauberkraft“ sei, die „es (das Negative, J. K.) in das Sein umkehrt.“ (Ebd.) Man braucht diese Zuversicht nicht zu teilen, um sie gleichwohl als Programm begreifen und festhalten zu können. 45 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 125. 113

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furchtsam“ taucht „blöde“ in den Oden Der Zeitgeist und Gesang des Deutschen auf.46 Davon aber hebt sich die Verwendung ab, mit der ‚Blödigkeit‘ die Überschrift ‚Dichtermut‘ ersetzt. Es ratifiziert das Erkennen, dass dichterisches Tun sich auf keine externen Instanzen berufen kann und über keinen privilegierten Status verfügt, der sich etwa vom „Ahnherrn“ der Dichter (dem „Sonnengott“ Apoll) herschreiben ließe. Sein Mut verdankt sich vielmehr einem Anspruch, der von „des Himmels Gott“ als dem „Vater“ aller Menschen ausgeht. ‚Blödigkeit‘ gehört damit in den Kontext jenes nüchternen SichBescheidens, mit dem Hölderlin ab 1802 (nach der Rückkehr aus Bordeaux) den Anspruch poetischen Tuns innerhalb und im Hinblick auf „die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur“ neu zu positionieren versucht.47 Eingebildeter Sicherheiten entledigt, wird „Blödigkeit die eigentliche Haltung des Dichters“: „In die Mitte des Daseins versetzt, bleibt ihm nichts als die völlige Passivität, die das Wesen des Mutigen ist […].“48 Das ‚reglose Dasein des Mutigen‘ ist seinem Wesen nach Aufmerksamkeit: nicht ‚völlige‘ – hier wird Benjamins Emphase missverständlich: Sie widerspricht auch dem „tritt nur/ Baar ins Leben und sorge nicht!“ – sondern eher ‚gespannte Passivität‘. Für das Verhalten zur Welt, von dem die Sprachgestalt eines Gedichts

46 Vgl. Art. „Blöde“, „Blödigkeit“. In: Grimm, J. & W. (1984) a. a. O., Bd. 2, S. 138-142. 47 In einem Brief an den Verleger Wilmans schreibt Hölderlin anlässlich der „Durchsicht einiger Nachtgesänge für Ihren Allmanach“: „Es ist eine Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben.“ (Vgl. Hölderlin, F. (1992/93a): Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Knaupp, M., München, Bd. 2, S. 927) Sich-Bescheiden bedeutet in diesem Zusammenhang reflektierte Realitätshaltigkeit, nicht Resignation. Zu dieser ‚Bescheidenheit‘ als einem Stichwort für Hölderlins Spätwerk vgl. (mit Bezug auf Blödigkeit) Bennholdt-Thomsen, A.; Guzzoni, A. (2004): Analecta Hölderliniana II, Würzburg, S. 11-21. 48 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 125. Aufschlussreich für das semantische Umfeld der Verwendung des Terms Blödigkeit ist ein Blick in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In dem Teil, der „den Affekten in Gegeneinanderstellung derselben mit der Leidenschaft“ dient, ist vom „Mut“ die Rede als einer „Fassung des Gemüts“, die Gefahr „mit Überlegung zu übernehmen“ bereit ist. Im Gegensatz zur „Dreistigkeit“, die einen bloß „äußeren Anschein von Mut“ darstelle, bestehe „Blödigkeit“ in „einer Art von Schüchternheit und Besorgnis, anderen nicht vorteilhaft in die Augen zu fallen […]“, und sei mit der „Schwäche eines überzarten Ehrgefühls in der Scham“, das ist „der Blödigkeit, öffentlich zu reden“, verbunden (vgl. Kant, I. (2000): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. Brandt, R., Hamburg, Erster Teil. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen, S. 177/78, 181) Genau dies – die Selbstbefangenheit eines ‚überzarten Ehrgefühls‘ hinter sich zu lassen – ist die Anforderung, die Hölderlin als Mut dichterischen Tuns formuliert: Aus verhaltener Scheu soll sich verhaltendes Tun werden. Dafür spricht auch die explizite Berufung auf das „Sorge nicht“ von Matth. 6.25-34. 114

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zeugt – und das ihm als ‚Gedichtetes‘ zugrunde liegt49 –, bedeutet ‚Mut‘ eine Art ‚Attentionalität‘. Sie gilt dem stillschweigenden Anspruch, der sich im Vorübergehen des Endlichen zeigt. Gelingt (oder ‚glückt‘) es, ihn in der Form der Sprache seine Entsprechung finden zu lassen, so hebt sich die stumme Not erlittener Fremdbestimmung in eine Form der Selbstbestimmung auf. Benjamin resümiert: „Und jede Funktion des Lebens in dieser Welt ist Schicksal, während in der ersten Fassung herkömmlich das Schicksal das Leben bestimmte.“50 An die Stelle von Abhängigkeit tritt die Freiheit der Sprachwerdung, von deren Glück (und Geschick) der Gesang zeugt.

IV. Damit ist eine Art Zwischenergebnis erreicht. Es sei anhand einiger Thesen zusammengefasst. 1) Dichterisches Schicksal ist kein sich selbst zum Gegenstand werdendes Schicksal des Dichters. Das Geschick der Dichtung ist die Verwirklichung von Selbstbestimmung in Beziehung auf die der Fremdbestimmung und Gewalt unterliegende Welt des geschichtlich Vorfindlichen. Dichterische Sprachfindung wird hier zum Akt des Widerstands – wie umgekehrt sich mitteilende Akte des Widerstands für Benjamin ‚Dichtung‘ sind.51 Sie erfüllen 49 Zum „Gedichteten“ als jenem „Verhalten zur Welt“, das die „innere Form“ eines Sprachprodukts ausmacht, vgl. Anm. 14. 50 Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 124. 51 Der zweite Teil der These spitzt den geschichtlichen Bedeutungsgehalt ästhetischer Erfahrung zu, um zu betonen, dass Kriterium für sein Sich-Mitteilen nicht ist, dass oder ob ein Werk der Kunst dabei sozusagen herausspringt. Diese Zuspitzung erlaubt es Benjamin, an Hölderlin gewonnene Einsichten beispielsweise in seine Deutung des Surrealismus abzubilden. Der Akt der Sprachfindung, der mythische Verbundenheiten um der Gestaltung des eigenen Mythos willen auflöst, heißt nun „profane Erleuchtung“, die der geschichtlichen Realität – nicht einer bestimmten, sondern der geschichtlichen Realität als Ganzer – entgegengestellt wird. Das ist natürlich nicht geringen Missverständnissen ausgesetzt. Der ‚rettungslos‘ verlorenen Realität gegenüber bleibt als Verhalten allein, „den Pessimismus (zu) organisieren“, was „nichts anderes“ heiße, „als die moralische Metapher aus der Politik herausbefördern und im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum zu entdecken. Dieser Bildraum aber ist kontemplativ überhaupt nicht mehr auszumessen.“ (Benjamin, W. (1977g): Der Sürrealismus. In: Benjamin, W. (1977c) a. a. O., S. 309; zum Terminus „profane Erleuchtung“ vgl. ebd., S. 297). J. Taubes hat zu den geschichtsphilosophischen Implikationen oder Konsequenzen surrealistischen Weltverstehens – mitten in einer Zeit, die gleichsam die Probe machte auf das politischästheticologische Quidproquo, das aus ihm folgt – zu Recht angemerkt, dass es sich dabei um eine „gnostische Erlösungslehre“ handle, um den „Protest gegen eine vom fatum oder vom nomos beherrschte Welt“, der als Erlösungsversprechen die Destruktion dieser Welt und die Weltlosigkeit reiner Erfahrung entge115

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sich in Beziehung auf Zeit als Bedingung des Endlichen: weder in der appellativen Evokation ‚zeitloser Schönheit‘, die als Telos von Selbstgestaltung Ästhetizismus wäre, noch in der bloßen Destruktion, die der real gelebten eine eigentliche Zeit oder Sphäre entgegensetzt.52 Zum Residuum – oder wie es bei Hölderlin heißt: „Asyl“53 – wird Sprache vielmehr dadurch, dass sich der Sinn ihrer Gebilde gerade durch den wissenden Bezug auf das konstituiert, was von ihnen unterschieden bleibt. 2) In der Sprache wird die Einheit von Bestimmendem und Bestimmtem als Identität von Selbstbestimmung erfahren. In der Sprache der Kunst wird diese Identität von Selbstbestimmung immer von neuem verwirklicht. ‚Werk‘ der Kunst ist, was diese Freiheit reproduziert. Dabei kommt es nicht auf Kunstwerke an. 3) Als Selbstgestaltung des Lebendigen in seiner Freiheit ist die Sprache der Dichtung das ‚Bringen der Himmlischen‘. Es ist jene Form der Erfahrung von Zeit, in der ihr Vorübergehen stillzustehen scheint. Der späte Benjamin wird sie „die allseitige und integrale Aktualität“ des ‚Messianischen‘ nennen.54 Kunst ist, was das „unendgengesetzt werden (Taubes, J. (1996): Noten zum Surrealismus. In: Taubes, J.: Vom Kult zur Kultur. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, hg. v. Assmann, A. & J.; Hartwich, W.-D.; Menninghaus, W., München, S. 139, 146). Die daraus programmatisch folgende ‚Revolte um der Revolte‘ willen ist der politische Ausdruck derselben Weltflucht, die in der Kunst Ästhetizismus heißt (vgl. die folgende Anm.). 52 Zu beiderlei Formen des Ästhetizismus – der unmittelbar kunstgewerblichen wie der im politischen Kontext destruktiven – merkt Benjamin an: „Wo die Kunst dergestalt die Mitte des Daseins bezieht, daß sie den Menschen zu ihrer Erscheinung macht anstatt gerade ihn als ihren Grund – nicht als ihren Schöpfer, sondern sein Dasein als den ewigen Vorwurf ihrer Bildungen – zu erkennen, entfällt die nüchterne Besinnung […].“ (Benjamin, W. (1974c) a. a. O., S. 281/83) Benjamin kritisiert damit Nietzsches „anstößigen“ Satz aus der Geburt der Tragödie, dass,nur als ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt sei‘. Er kritisiert Nietzsche mit Hölderlin, bei dem es heißt: „Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Gränze deiner Begeisterung. […] Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das leztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt.“ (Aphorismen, zit. nach: Hölderlin, F. (1998b): J. C. F. Hölderlin. Theoretische Schriften, hg. v. Kreuzer, J., Hamburg, S. 17). 53 Vgl. Hölderlins Pindar-Fragment Hölderlin, F. (1998c): Die Asyle. In: Hölderlin, F. (1998b) a. a. O., ebd., S. 115/16. 54 „Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. […] (Ihre) Sprache ist die befreite Prosa […]“ (Neue Thesen K zu: Benjamin, W. (1974d): Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, W. (1974a) a. a. O., Bd. 1, S. 1235). Benjamin präzisiert damit eine Bestimmung aus dem SürrealismusAufsatz, in dem er diagnostiziert hatte, daß sich in dem zu einem hundertprozentigen Bildraum gewordenen Raum des politischen Handelns „die Welt allseitiger und integraler Aktualität“ auftue (vgl. Benjamin, W. (1977g) a. a. O., S. 309). Wenn die Grenzen zwischen dem ästhetischen Bildraum und dem politischen Handlungsraum verschwimmen – wie dies in surrealer Erfahrung wie Aktion der Fall ist –, dann kommt es darauf an, in diesem Verschwimmen (mit Hölder116

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liche Leben“ dieser allseitigen und integralen Aktualität, deren „Zeichen“ die Himmlischen sind, als begrenztes und zeitlich kontrahiertes erfahrbar werden lässt.55 4) Indem es in seiner Begrenztheit erfahrbar wird, erscheint die Gesetzlichkeit der Zeit – das durch jede individuelle Gestalt sich fortsetzende Sukzedieren – in einer Weise wirklich, die nicht mehr nur die Negation des individuell Endlichen, sondern zugleich seine singuläre Sinnbestimmung bedeutet. In der zweiten Empirie der Sprache springt das irreversible Nacheinander des vorübergehend Endlichen – das Vorübergehen der möglichen Gegenstände der Dichtung – in die Gleichzeitigkeit erinnerten Vergehens um: „der Tag“ erscheint „als gestalteter Inbegriff der Zeit“.56 5) Der gestaltete Inbegriff der Zeit – und auch, wofür ‚die Himmlischen‘ in ihm stehen – wird durch die ‚schicklichen Hände der Dichter‘ gebracht. Deren Geschick ist der Mut zur Sprache. Der ‚Mut zur Sprache‘ erweist sich als Geschick freier Selbstbestimmung. Sie wird durch Formen der Kunst zu einer innerweltlichen Kategorie und damit zitierbar. Zitierbar wird damit auch jene Form menschlicher Übereinkunft, die vollständig der Gewalt enträt.57 6) Aus diesem Grund nennt Benjamin das Datum einer Erfahrung, die der sprachlichen Selbsterhaltung des Lebendigen entspricht, die „Gesetzlichkeit der guten Welt“.58 Deren Erscheinungsweise ist „Glück“. 7) Die Erfahrung des Glücks ist die Wirklichkeit der Schönheit.59 Als Erfahrung des Glücks ist das Schöne wirklich und lässt sich bringen als jenes ‚Schickliche‘, das zugleich, wie es bei Hölderlin heißt, das „Freudige“ ist.60 Was hierin zur Wirklichkeit kommt, ist Freiheit. Dichtung ist, was diese Freiheit der Umkehr von Schicksal zur Dauer zitiert.

V. Was hat Benjamin – was haben wir – mit seiner Hölderlin-Lektüre gewonnen? Erreicht sein dürfte primär ein ‚gereinigter‘ Begriff von Dichtung wie

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lin formuliert) ‚nüchternes Besinnen‘ (vgl. Anm. 52) zu bewahren. Zu ihm gehört die Umsetzung der Erkenntnis, dass erst in der Unterscheidung vom Raum politischen Handelns der Erfahrungsanspruch ‚allseitiger und integraler Aktualität‘ seine gerade auch politische Bedeutung erlangt (vgl. auch Anm. 51 und 65). Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 125. Ebd., S. 119. Vgl. Anm. 11. Vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 117. Vgl. Benjamin, W. (1977h): Zum Bilde Prousts. In: Benjamin, W. (1977c) a. a. O., S. 313. Vgl. „Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,/ Was wir wollen, und scheint schicklich und freudig zugleich.“ (Hölderlin, F. (1992/93b): Das Gasthaus. An Landauer. In: Hölderlin, F. (1992/93a) a. a. O., Bd.I, S. 309). 117

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der geschichtsphilosophischen Signatur ästhetischer Erfahrung. Dem Akt der Sprachfindung, der Dichtung ist, kommt Bedeutung zu im Hinblick auf die Verstrickungen, in denen Natur als Gewalt und Bedrohung bis in die sublimsten Formen der Kultur durchscheint. Gegenüber Formen der Selbsterhaltung, die Natur als Gewalt bloß fortsetzen – und, sofern wir uns als „Naturwesen“ erkennen, jederzeit „von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden“ können61 – braucht es ein Verhalten, das Selbstbestimmung als Wirklichkeit von Freiheit mitteilt und reproduziert. Dieses Verhalten ist der Mut poetischer Sprachfindung, deren Glück(en) der Gewalt des Schicksals entronnen sein lässt. Dazu gehört, dass sie das Hinausgehen über die Welt (der Fremdbestimmung) zu einem Teil dieser Welt macht. In ihr von ‚den Himmlischen einen‘ zu bringen, heißt, so etwas wie die Sinnordnung mit der Selbsterfahrung des Endlichen zusammenzubringen. Realisiert wird dabei „etwas“, was der Gewalt vollständig unzugänglich ist. Dieses ‚Etwas‘ ist der stillschweigende Anspruch der Selbsterfahrung des Lebendigen, in dem sich realisiert, was Benjamin das sprachliche Wesen der Gegenstände der Erfahrung nennt.62 Wozu die schicklichen Hände der Dichter gebraucht sind, ist Sprache selbst, sie realisiert darin sich. Der reflexive Sinn des ‚realisiert sich‘ ist hier entscheidend. Denn das ‚etwas‘, zu dem ‚die Dichter gut‘ sind, wird nicht durch Sprache realisiert. Es wird als Sprache realisiert. In diesem Sinn teilt Sprache nicht etwas, sondern sich mit.63 Sprache statt dessen zu einem Mittel der Mitteilung zu machen, gilt Benjamin als

61 Die Unwiderstehlichkeit der Natur gibt uns, „als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann.“ (Vgl. § 28: Von der Natur als einer Macht, B 105, zit. nach: Kant, I. (1968): Kritik der Urteilskraft. In: Kant, I.: Werke, hg. v. Weischedel, W., Frankfurt/M., Bd. 10, S. 349/50). 62 „Die Sprache der Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder Posten dem nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der Inhalt der Losung aber ist die Sprache des Postens selbst […]“, notiert Benjamin im Sprachaufsatz (vgl. Benjamin, W. (1977f) a. a. O., S. 157). Vgl. auch Anm. 26. 63 „Die Aktivität des Dichters findet an den Lebendigen sich bestimmt, die Lebendigen aber bestimmen in ihrem konkreten Dasein – »einem zu etwas« – sich an dem Wesen der Dichtung.“ (Benjamin, W. (1977d) a. a. O., S. 116) – Vor diesem Hintergrund von einer „konservativ-revolutionäre(n) Hermeneutik“ Benjamins zu sprechen – wie dies J. Habermas 1972 getan hat (vgl. Habermas, J. (1972): Bewußtmachende oder rettende Kritik. In: Unseld, S. (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Franfurt/M., S. 220) – zeugt(e) von einer willentlichen Halbverständnishaltung gegenüber Benjamins Auffassung der Sprache im Allgemeinen wie seiner Sicht der geschichtsphilosophischen Signatur poetischer Sprache im Besonderen. 118

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der fundamentale „Sündenfall“ ihrer Remythologisierung.64 Das trifft auch – gleichsam in zugespitztester Weise – dann zu, wenn sie in bester emanzipatorischer Hinsicht instrumentalisiert wird. Denn solche Instrumentalisierung macht das, was Sprache ist, zu etwas, was erst noch sein soll. Freilich muss dieses ‚Etwas‘, das Sprache schon ist oder realisiert, unterschieden werden vom faktischen Dasein – dem Kontext des Schuldzusammenhangs –, in dem sie erscheint. Denn es ist unausdenkbar, dass ein sphärisch erreichter Zustand gewaltfreier Übereinkunft die Geschichte der Schuld und damit des Schicksals, als dessen antizipiertes Ende er sich begreift, gleichsam abschüttelte. Markiert ist damit zugleich die Schnittstelle, die das Geschick der Kunst mit den semantischen Subschichten dessen, was bislang Geschichte heißt, durch Trennung verbindet.65

VI. Doch zurück zum Kommentar von Dichtermuth und Blödigkeit. Weil er der Verschiedenheit des Gedichteten beider Oden gilt, scheint eine Betrachtung der Verse verlockend, die Hölderlin in Blödigkeit unverändert lässt. Es sind – neben dem Bild: „Aufgerichtet an goldnen/ Gängelbanden, wie Kinder, hält […]“ – die folgenden: „[…] oder was könnte denn/ Dich belaidigen, Herz, was/ Begegnen, wohin du sollst?“ Wem der Mut des Dichters gilt und was er bringt, ist kein Sollen. Es ist die Wirklichkeit der Sprache selbst. Sie entragt den Formen der Gewalt, die Schicksal heißen, nicht durch die Berufung oder den Verweis auf andere ‚Mächte‘. Sie entragt den geschichtlich vorfindlichen Gewaltverhältnissen in den Formen sprachlicher Selbstbestimmung.66 Das Geschick gelingender Selbstbestimmung unterscheidet die Wirklichkeit der Sprache von der mit der Vorstellung des Schicksals verbundenen Drohung einer in Erinnerungs- und das heißt in Geschichtslosigkeit zurückfallenden Natur. „Mit Schrecken sieht der Schwermütige die Erde in einen bloßen Naturstand zurückgefallen. Kein Hauch von Vorgeschichte umwittert sie.

64 „Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes.“ (Benjamin, W. (1977f) a. a. O., S. 153). 65 Hölderlin hat deshalb von „freier Kunstnachahmung“ gesprochen, vgl. Hölderlin, F. (1998d): Das untergehende Vaterland … In: Hölderlin, F. (1998b) a. a. O., S. 35. Vgl. dazu Kreuzer, J. (1985): ERINNERUNG. Zum Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten „Das untergehende Vaterland ...“ und „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ...“, Königstein/Ts. 66 Was hier sprachliche Selbstbestimmung meint, schließt Musik, Malerei, die ‚Sprache einer Geste‘ ausdrücklich ein: Auch sie stellen ‚Notationsformen sprachlicher Selbstbestimmung‘ dar. 119

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Keine Aura.“67 Erinnern ist das Vermögen sowohl wie der Anspruch, solchem Rückfall zu widerstehen. Es ist, wie Benjamin sagt, die „jedem Geschlecht mitgegebene schwache messianische Kraft“.68 Ihre in jedem Augenblick gefährdete Realisierung ist Geschichte, die nicht nur abgeschlossenes Geschehen, sondern selbst eine – politisch jeweils unmittelbar zu praktizierende – Form des Eingedenkens ist.69 Dieses als Praxis zu verstehende Eingedenken ist nicht vergangenheitsgebunden, sondern zukunfts- oder genauer gesagt: gegenwartsorientiert. Produktiv wird es in den dialektischen Bildern der Sprache. Denn die mythischen Verbundenheiten, die durch Erinnern „gestillt“ werden, bedürfen – sollen sie nicht, wie der „Sammler“, in einer „Welt der Erinnerung“ allein „verschwinden“70 – der Übersetzung in Sprache. Dieses Bedürfnis wird zur Angelegenheit der Dichtung – und mit oder in ihm der Mut zum „Offenen“, als das Lebendiges ‚ist‘ und sich als ‚Subjekt‘ wie ‚Objekt‘ der Sprache zeigt.71 Auf diesen Zusammenhang ist Benjamin in seiner Lektüre Hölderlins gestoßen. „»Die Sagen, die der Erde sich entfernen, / […] / Sie kehren zu der Menschheit sich«“, zitiert er am Schluss seiner vergleichenden Lektüre von Dichtermuth und Blödigkeit aus einem Gedicht Hölderlins, das nach 1806 – in einer Lebensphase, in der dieser sich aus den gewaltbesetzten Formen menschlicher Interaktion zurückgezogen hatte – entstanden ist. In ihm heißt es weiter: „[…] und vieles lernen/ Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.“72 Freiheit bedeutendes Glück ist das, wird es als Klage erinnert.

67 Benjamin, W. (1974e): Über einige Motive bei Baudelaire. In: Benjamin, W. (1974a) a. a. O., S. 643/44. Auf die Parallelität der Begriffspaare ‚Schrecken / bloßer Naturzustand – Aura / Vorgeschichte‘ kann hier nur hingewiesen werden. 68 Benjamin, W. (1974f): Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, W. (1974a) a. a. O., S. 694. 69 Vgl. Benjamin, W. (1983): Das Passagen-Werk. In: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R.; Schweppenhäuser, H., Frankfurt/M., Bd. 5, hg. v. Tiedemann, R., S. 589. 70 Vgl. ebd., S. 1036. 71 Vgl. Hölderlins Imperativ: „So komm! daß wir das Offene schauen,/ Daß ein Lebendiges wir suchen, so weit es auch ist.“ (Brod und Wein, 6. Fassung (Die Nacht), Hölderlin, F. (1976): Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Sattler, D. E., Frankfurt/M., Bd. 6, hg. v. Sattler, D. E.; Groddeck, W., S. 259) – In gleichem Sinn heißt es in Das Gasthaus: „Komm! ins Offene […]“ – und Hölderlin benennt den Kontext, auf den dieser Imperativ reagiert: „Trüb ists heut, […] und fast will/ Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“ (Hölderlin, F. (1992/93b) a. a. O., Bd. I, S. 308). 72 Hölderlin, F. (1992/93c): Der Herbst. In: Hölderlin, F. (1992/93a) a. a. O., Bd. I, S. 924; vgl. Benjamin, W. (1977d) a. a. O., 126. 120

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Dichtermuth Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen, Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich? Drum, so wandle nur wehrlos Fort durchs Leben, und fürchte nichts! Was geschiehet, es sei alles geseegnet dir, Sei zur Freude gewandt! oder was könnte denn Dich belaidigen Herz! was Da begegnen, wohin du sollst? Drum, seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich Friedenathmend entwand, frommend in Laid und Glük Unsre Weise der Menschen Herz erfreute, so waren auch Wir, die Sänger des Volks, gerne bei Lebenden Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem hold, Jedem offen, so ist ja Unser Ahne, der Sonnengott, Der den fröhlichen Tag Armen und Reichen gönnt, Der in flüchtiger Zeit uns, die Vergänglichen, Aufgerichtet an goldnen Gängelbanden, wie Kinder, hält. Ihn erwartet, auch ihn nimmt, wo die Stunde kömmt, Seine purpurne Fluth; sieh! und das edle Licht Gehet, kundig des Wandels, Gleichgesinnet hinab den Pfad. So vergehe denn auch, wenn es die Zeit einst ist Und dem Geiste sein Recht nirgend gebricht, so sterb’ Einst im Ernste des Lebens Unsre Freude, doch schönen Tod.

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Blödigkeit Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen? Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? Drum, mein Genius! tritt nur Baar ins Leben, und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles gelegen dir! Sei zur Freude gereimt, oder was könnte denn Dich belaidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst? Denn, seit Himmlischen gleich Menschen, ein einsam Wild Und die Himmlischen selbst führet, der Einkehr zu, Der Gesang und der Fürsten Chor, nach Arten, so waren auch Wir, die Zungen des Volks gerne bei Lebenden, Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem gleich, Jedem offen, so ist ja Unser Vater, des Himmels Gott, Der den denkenden Tag Armen und Reichen gönnt, Der, zur Wende der Zeit, uns die Entschlafenden Aufgerichtet an goldnen Gängelbanden, wie Kinder, hält. Gut auch sind und geschikt einem zu etwas wir, Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen Einen bringen. Doch selber Bringen schikliche Hände wir.

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Verdichtete Geschichtserfahrung. Erich Auerbachs Brief vom 3.1.1937 an Walter Benjamin MARTIN VIALON

I.

Absicht und Einleitung zur Epistel

Antonia Grunenberg hat durch ihre langjährigen Forschungen zu Hannah Arendts Werk wesentliche Maßstäbe zu dessen Erschließung und Verständnis des dazugehörigen intellektuellen Umfeldes gesetzt.1 Anknüpfend an die von ihr mitorganisierte Berliner Arendt-Tagung vom Oktober 2006 und deren inzwischen publizierten Ergebnisse, möchte ich anhand der Edition und Kommentierung eines Briefes von Erich Auerbach (1892-1957) an seinen alten Freund Walter Benjamin (1892-1940) die Dichtigkeit geschichtlicher Erfahrung herausstellen, die sich auf die Konzeption eines vom Einzelphänomen ausgehenden Literatur- und Geschichtsbegriffs bezieht. Mein Beitrag möchte als ergänzende Vertiefung zur intellektuellen Konstellation gelten, die Matthias Bormuth in Bezug auf die Trias Arendt, Auerbach und Benjamin überzeugend vorstellte.2 Die hier vertretene Position betrachtet Auerbachs Brief als Anregung, die für Benjamins Spätwerk im Kontext des vorausgegangenen intellektuellen Austausches nicht unerheblich gewesen sein dürfte. 1

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Vgl. Grunenberg, A.; Meints, W.; Bruns, O.; Harckensee, C. (Hg.) (2008): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt/M. Signifikant für alle Publikationen Grunenbergs ist, dass sie sich auf das Spannungsverhältnis zwischen revolutionär-demokratischen Politiktraditionen, existenzphilosophischen Lebensentwürfen und deren Manifestation in Intellektuellenbeziehungen konzentrieren. Vgl. Grunenberg, A. (2006): Hannah Arendt und Martin Heidegger: Geschichte einer Liebe, München; Zürich. Vgl. Bormuth, M. (2007): Krise des Historismus und provisorische Existenz. Hannah Arendt, Erich Auerbach und Walter Benjamin. In: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? Sonderband 16, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hg. v. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, S. 145-166. 123

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Erich Auerbach gehört zu den großen Meistern der Epistolographie deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Seine Kunst des Briefeschreibens hat ihre Wurzeln in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, als der Brief als literarische Form eine selbstverständliche und gegenstandsnahe Rolle im geistigen Austausch der Goethezeit und der Epoche des deutschen Idealismus spielte. Wie bei Benjamin ergänzt das Briefwerk Auerbachs die wissenschaftliche Form und gewährt einzigartige Einblicke in die Prozesse seines Denkens, die sich auf werkgenetische Aspekte, die erlebte Zeitgeschichte, persönliche Gespräche und Freundschaften beziehen. Auerbachs Brief dokumentiert einen feinen und geschliffenen Schreibstil, der seinen sublimen Gedanken entspricht. Seine Sätze liegen vor uns wie ein orientalischer Teppich, dessen gewebtes Muster Auskunft gibt über die Geduld, mit der die einzelnen Fäden zu einem Gesamtbild zusammengeknüpft wurden. Prägnanz im sprachlichen Ausdruck zeichnet Auerbachs Epistel aus, so dass der Leser in eine geistige und vergangene Welt eintauchen kann, die als versunken gilt. Das Verständnis von Auerbachs Briefkunst im Exil hat eine entscheidende Vorbedingung: Er musste sich im Arbeitsvertrag gegenüber der Universität Istanbul verpflichten, keine öffentlichen Stellungnahmen abzugeben, die das gesellschaftliche Ansehen der jungen Republik Mustafa Kemal Atatürks politisch belasten würden.3 Nur im vertraulichen Gespräch und im Medium des Briefes konnte Auerbach über seine Erfahrungen berichten. Die Epistel spiegelt kaleidoskopisch die kulturellen Probleme wider, die aus der Binnenperspektive eines akademischen Lehrers wahrgenommen wurden, der verantwortlich am Europäisierungsprozess einer türkischen Universität beteiligt war. Als die ersten Entlassungen von jüdischen Professoren im April 1933 vorgenommen wurden, verlor Auerbachs Marburger Habilitationsvater Leo Spitzer an der Universität Köln seine Position. Im gleichen Jahr wurde das alte Darülfünun (Haus des Wissens) in Istanbul in eine europäische Universität umgewandelt. Neben reichsdeutschem Lehrpersonal wurden aus damaliger Sicht jüdische Gelehrte berufen und somit von der türkischen Regierung vor den Gaskammern gerettet. Auerbach wurde wie in Marburg, so auch in Istanbul Spitzers Lehrstuhlnachfolger. Im Unterschied zu anderen Exilländern waren die Emigranten in der Türkei erwünscht, hatten feste Arbeitsverträge und nahmen am Aufbau der Modernisierung des Landes teil. Der Frontkämpferparagraph schützte Auerbach zunächst vor der ersten Entlassungswelle, aber 3

Im Arbeitsvertrag, der in deutscher Übersetzung Auerbachs Marburger Fakultätsantrag vom 19.8.1936 auf Verlegung seines Wohnsitzes nach Istanbul beigefügt ist, heißt es in Paragraph 11: „Herr Auerbach verpflichtet sich, keine politische, wirtschaftliche und Handelstätigkeit auszuüben und keine Tätigkeit, die die Propaganda für eine fremde Regierung zum Ziel hat.“ Personalakten Erich Auerbach (Philipps Universität Marburg), Hessisches Staatsarchiv Marburg, 310 acc. 1978/15, No.: 2261.

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VERDICHTETE GESCHICHTSERFAHRUNG

aufgrund der Neufassung der Reichsbürgergesetze wurde die jüdische Herkunft als Grund für den Entzug der Marburger Lehrbefugnis im Oktober 1935 herangezogen. Nachdem Spitzer einem Ruf an die Universität Baltimore 1936 folgte, kam Auerbach im gleichen Jahr an die als Emigrantenhochburg geltende Universität Istanbul, wo er bis 1947 unterrichtete. Danach setzte er seine akademische Lehrtätigkeit in den USA an den Universitäten von Pennsylvania, Princeton und Yale fort. Auerbachs Exilbrief stellt nur einen Baustein in der großen Konfession seines Briefwerkes dar, denn er entstammt einem größeren Schatz, den der Verfasser aus der weltweiten Zerstreuung zusammentrug.4 Die Epistel, die Benjamin in Paris zusammen mit vier weiteren Briefen entgegen nahm, ist nicht ohne Kenntnis der Lebensverhältnisse des Empfängers und der Zeitverläufe zu verstehen. Benjamin hatte im März 1933 Deutschland angesichts zu erwartender Repressalien und dem Verlust seiner Existenzgrundlage als freier Schriftsteller für immer verlassen.5 Sieben Jahre später musste er sein letztes Pariser Refuge in der Rue Dombasle Nummer 10 fluchtartig vor dem Einfall der deutschen Besatzungstruppen im Sommer 1940 in Richtung Südfrankreich aufgeben. Auf dem geplanten Fluchtweg zum Institut für Sozialforschung nach New York, von dem Benjamin wirtschaftlich abhängig war, hatte er zahlreiche persönliche Dokumente zurückgelassen. Die Gestapo beschlagnahmte diese Hinterlassenschaft, worunter sich auch Auerbachs Briefe befanden, die mit dem gesamten Konvolut nach Berlin transportiert wurden. Nach der Eroberung Berlins durch die Rote Armee kam das konfiszierte Kulturgut 1945 in sowjetische Archive. Im Rahmen eines Kulturabkommens wurden 1957 die Materialien an die Staatsorgane der DDR zurückgegeben und im Zentralarchiv Potsdam aufbewahrt. Benjamins Teilnachlass wurde seit 1972 als Bestand in den Literaturarchiven der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin geführt. Die Publikationsbehinderung von Benjamin-Texten in der DDR6 durch die westdeut4

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Etwa 550 Auerbach-Briefe und über 50 Korrespondenzpartner konnten ausfindig gemacht werden. Dieser Briefkorpus wird demnächst in einer zweibändig kommentierten Briefausgabe unter dem Titel Erich Auerbachs gesammelte Briefe: 1919 bis 1957 im Wallstein Verlag Göttingen erscheinen. Vgl. Scholem, G. (1985): Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt/M., S. 49 f. (Benjamin an Scholem: 20.3.1933). Wenige Tage nach der Niederschrift dieses ersten Exilbriefes aus Paris wurde Benjamins Bruder Georg (geb. 1895), der als Arzt in Berliner Arbeitervierteln tätig war, von der Gestapo verschleppt, gefoltert und 1942 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Auch Scholems Bruder Werner (geb. 1895) zählte als kommunistischer Reichstagsabgeordneter zu den Gefährdeten. Er wurde nach dem Reichstagsbrand inhaftiert, misshandelt und 1940 im Konzentrationslager Buchenwald umgebracht. Vgl. Benjamin, W. (1970): Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur, hg. v. Seidel, G., Leipzig; Benjamin, W. (1971): Das Paris des Second Em125

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schen Inhaber der Verlagsrechte (Suhrkamp Verlag Frankfurt) beantwortete die ostdeutsche Kulturadministration 1973 durch eine Benutzersperre, die für Archivbesucher aus nicht-sozialistischen Staaten galt. Die Sperre, die im Kontext von Rolf Tiedemanns herausgegebener Ausgabe der Gesammelten Schriften und der sich daran entzündenden Deutungskontroversen erfolgte, wurde erst 1986 aufgehoben.7 Zwei Jahre später konnte der Ost-Berliner Romanist Karlheinz Barck die von seiner Mitarbeiterin Gabriele Gast transkribierten Briefe Auerbachs in der Zeitschrift für Germanistik publizieren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hatte die Akademie der Künste zu Berlin Benjamins Teilnachlass aufgrund eigentumsrechtlicher Bestimmungen 1996 an das in Frankfurt ansässige Theodor W. Adorno Archiv übergeben. Rückgeführt wurde der Nachlass in das Archiv der vereinigten Akademie der Künste im Jahr 2004 durch das von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Berlin gegründete Walter Benjamin Archiv, das von Edmut Wizisla geleitet wird.8 Jan Philipp Reemtsma kündigte im Mai 2005 die Finanzierung einer 21-bändigen Edition der Schriften an, die hauptverantwortlich von Christoph Gödde und Henri Lonitz unter dem Titel Walter Benjamin. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe herausgegeben wird und die voraussichtlich 2018 abgeschlossen sein soll.9 Die neue Textwiedergabe, Kommentierung und Deutung von Auerbachs Epistel erscheint in Anbetracht der geschilderten Odyssee des Briefes, seinen verschiedenen Aufbewahrungsorten und der veränderten Forschungslage gerechtfertigt. Sie geschieht dank der Erteilung der Abdruckrechte, die Erich Auerbachs Enkelsohn Claude Auerbach (Bluffton, USA) ermöglichte. Die Umschrift von Auerbachs Handschrift wird in diplomatischer Form mit den Randbemerkungen Walter Benjamins wiedergegeben, bei deren Entzifferung sich 1988 einige Lese- und Kommentierungsfehler einschmuggelten, auf die

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pire bei Baudelaire, hg. v. Heise, R., Berlin, Weimar; Benjamin, W. (1984): Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920-1940, hg. v. Kleinschmidt, S., Leipzig. Vgl. Marx, U. (2009): Von Walter Benjamins Archiven zum Walter Benjamin Archiv. Eine Geschichte in Dokumenten. Zusammengestellt von Ursula Marx, Gudrun Schwarz, Michael Schwarz und Erdmut Wizisla. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, H. 31/32: Walter Benjamin, 3. Aufl., Neufassung, S. 134211, hier: S. 190 und S. 195. Ich danke Ursula Marx (Walter Benjamin Archiv, Berlin) für ihre kollegiale Unterstützung, verschiedene AuerbachArchivmaterialien zur Verfügung gestellt zu haben. Ebd., S. 199 f. Die ersten Teilbände liegen bereits vor: Benjamin, W. (2008a): Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, hg. v. Steiner, U., Frankfurt/M., Bd. 3; Benjamin, W. (2008b): Deutsche Menschen, hg. v. Brodersen, M., Frankfurt/M., Bd. 10.

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VERDICHTETE GESCHICHTSERFAHRUNG

Robert Kahn schon hingewiesen hatte.10 Nachgewiesen werden Personen- und Sacherklärungen und wichtige wissenschaftliche Werke, die bei der Erstkommentierung des Briefes unberücksichtigt blieben. Die Orthographie und Interpunktion Auerbachs wurde beibehalten und Abkürzungen stillschweigend ausgeschrieben. Dem Kommentar ist eine Provenienz beigegeben, die belegt, wo und in welcher Sprache der Brief erstmals vollständig veröffentlicht wurde. Auerbachs große Gabe, Freundschaften aus der Bedrängnis des Exils zu pflegen, ist durch diesen Brief besonders durch den Passus dokumentiert, der sich auf Ernst Bloch bezieht. Im Stellenkommentar wird ausführlich erläutert, dass Auerbachs Engagement als Versuch gelten kann, aus der Distanz in einer zeitweise gestörten Freundschaft zu vermitteln. Von Benjamin selbst ist nur ein Antwortbrief erhalten,11 auf den im Deutungsteil einzugehen ist.

II.

Auerbachs Brief an Benjamin in Edition und Kommentar

Erich Auerbach Istanbul-Bebek Arslanli Konak

Walter Benjamin Paris XIV., 23, rue Bénard 3. 1. 1937

Lieber Herr Benjamin, Schönen Dank für Ihren Brief und den Sprachsoziologiebericht, den ich schon kurz vorher in der Zeitschrift, welche im hiesigen Institut der Nationalökonomen ausliegt, bemerkt hatte. Gelesen habe ich ihn allerdings noch nicht, da im Institut mich jemand herumführte und keine Zeit zum Lesen war; und den Sonderdruck hat mir ein deutscher Assistent, der mir beim Einräumen der Bücher half, zunächst entführt. Aber ich hole es nach, und auf Ihr Buch freuen wir uns sehr. Mir geht es zunächst hier gut. Marie und Clemens haben eine Weihnachtsgrippe, mitten in den Umzug hinein, leidlich überstanden; die Wohnung am Bosporus ist herrlich, die Arbeit wissenschaftlich ganz primitiv, aber menschlich, politisch und organisatorisch überaus interessant. Das ganz unge10 Vgl. Kahn, R. (2007): Eine „List der Vorsehung“: Erich Auerbach und Walter Benjamin. In: Barck, K.; Treml, M. (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin, S. 153-166, hier: S. 166. Die geschichtsphilosophische Bedeutung der im Titel zitierten Kategorie wird nicht näher erläutert. 11 Vgl. Benjamin, W. (1999): Gesammelte Briefe, Bd. V. 1935-1937, hg. v. Gödde, Ch.; Lonitz, H., 1. Aufl., Frankfurt/M., S. 446-448 (Benjamin an Auerbach: 21.12.1936). 127

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heuerliche Maß an Schwierigkeiten, Scherereien, Quertreibereien und Fehldispositionen seitens der hiesigen Stellen und aus den hiesigen Verhältnissen heraus, das einige Kollegen zur Verzweiflung treibt, ist mir nicht unerfreulich, weil es als Gegenstand der Beobachtung weit interessanter ist als das etwaige Ziel meiner Tätigkeit, die ich übrigens, wie sich von selbst versteht, nach Kräften ordentlich ausübe. Ich bin auch hier wieder Nachfolger Spitzers, der seinerseits nach Baltimore gegangen ist; ihm, Croce und Vossler verdanke ich diese Lösung, die nicht einfach zu erreichen war, da mindestens 7 Schicksalsgenossen, und mehrere europäische Kultusministerien, zumal das deutsche und das französische, meine Kandidatur nicht gerne sahen. Spitzer hat mir 7 deutsche Assistenten hinterlassen, davon 6 christlicher Abkunft, alle 1933 herausgegangen, jeder auf seine Art vorzüglich, und alle durch das gemeinsame Geschick und die gemeinsame Tätigkeit auf die angenehmste Art miteinander verbunden. Wir lehren hier alle europäischen Philologien, Romanistik, Anglistik, Germanistik, wir versuchen das Unterrichts- und Bibliothekswesen zu beeinflussen und die wissenschaftliche Betriebstechnik, vom Stundenplan bis zum Zettelkasten, zu europäisieren. Das ist natürlich absurd, aber die Türken wollen es, obgleich sie es auch gelegentlich zu hintertreiben versuchen. Ich kenne von diesem Lande bisher nur Istanbul, eine wunderbar gelegene, aber doch unliebenswürdige und unverbindliche Stadt aus zwei verschiedenen Teilen: das alte Stambul, griechischen und türkischen Ursprungs, das noch viel Patina der historischen Landschaft bewahrt, und das „neue“ Pera, Karikatur und Vollendung einer europäischen Siedlung des 19. Jahrhunderts, nun in völligem Verfall. Dort gibt es die Reste grauenvoller Luxusläden, Juden, Griechen, Armenier, alle Sprachen, ein groteskes Gesellschaftsleben und die Paläste der früheren europäischen Botschaften, die nun Konsulate sind. Vom 19. Jahrhundert sieht man auch am Bosporus überall verfallene oder verfallende oder museumshaft erhaltene Sultans– oder Paschapaläste, in einem halborientalischen, halb rokokohaften Geschmack. Im übrigen aber wird das Land konsequent und vollständig beherrscht von Atatürk und seinen anatolischen Türken, einem naiven, misstrauischen, ehrlichen, etwas unbeholfenen und bäurischen, dabei sehr emotiven Menschenschlag; weit härter und unverbindlicher, unliebenswürdiger, unbiegsamer als europäische Südländer sonst, aber doch wohl gut zu leiden und mit viel Lebenskräften, gewohnt an Sklaverei und harte, aber langsame Arbeit. Der grand chef ist ein sympathischer Autokrat, klug, grosszügig und witzig, vollkommen verschieden von seinen europäischen Kollegen: indem er nämlich wirklich dieses Land selbst zum Staat gemacht hat, und auch indem er absolut phrasenlos ist; sein Memoirenbuch beginnt mit dem Satz: „Am 19. Mai 1919 landete ich in Samsun. Zu dieser Zeit war die Lage folgende […].“ Aber er hat alles, was er getan hat, im Kampf gegen die europäischen Demokratien einerseits und gegen die alte 128

VERDICHTETE GESCHICHTSERFAHRUNG

mohammedanisch-panislamitische Sultanswirtschaft andererseits durchsetzen müssen; und das Resultat ist ein fanatischer antitraditioneller Nationalismus: Ablehnung aller bestehenden mohammedanischen Kulturüberlieferung, Anknüpfung an ein phantastisches Urtürkentum, technische Modernisierung im europäischen Verstande, um das verhasste und bewunderte Europa mit den eigenen Waffen zu schlagen: daher die Vorliebe für europäisch geschulte Emigranten als Lehrer, von denen man lernen kann, ohne fremde Propaganda befürchten zu müssen. Resultat: Nationalismus im Superlativ bei gleichzeitiger Zerstörung des geschichtlichen Nationalcharakters. Dieses Bild, das in anderen Ländern, wie Deutschland und Italien und wohl auch Russland (?), noch nicht für jedermann sichtbar ist, bietet sich hier in völliger Nacktheit. Die Sprachreform, zugleich phantastisch urtürkisch (Befreiung vom arabischen und persischen Einschlag) und modern-technisch, hat es fertiggebracht, dass kein Mensch unter 25 Jahren mehr irgendeinen religiösen, literarischen oder philosophischen Text verstehen kann, der älter ist als 10 Jahre, und dass die Eigentümlichkeit der Sprache unter dem Zwang der lateinischen Schrift, die vor einigen Jahren zwangsweise eingeführt wurde, rapide verfällt. Ich könnte viele Seiten Einzelheiten berichten; das Ganze ist dahin zusammenzufassen: Immer deutlicher wird mir, dass die gegenwärtige Weltlage nichts ist als eine List der Vorsehung, um uns auf einem blutigen und qualvollen Wege zur Internationale der Trivialität und zur Esperantokultur zu führen. Ich habe das schon in Deutschland und in Italien, angesichts der grauenvollen Unechtheit der Blubopropaganda vermutet, aber hier erst wird es mir fast zur Gewissheit. Ich wollte Ihnen gern noch einige Worte über die letzten Jahre in Deutschland schreiben, aber ich muss es verschieben, da ich während dieses Briefes mehrfach unterbrochen wurde und nun keine Zeit mehr habe. Dass Ihr Verhältnis zu Ernst Bloch getrübt ist, tut mir für Sie beide leid; aber vielleicht tun Sie gut, die Trübung nicht allzu schwer zu nehmen: Sie kennen ihn lange, einige Eigentümlichkeiten seines Wesens sind als gegeben in Rechnung zu stellen, und vielleicht lässt sich auf dieser gegebenen Grundlage doch eine dauernde Beziehung wiederherstellen. Wie geht es denn Burschell, und wo ist er? Mein Schwager Hausmann und seine Frau, aus Ibiza kürzlich entflohen, aus der Schweiz ausgewiesen, werden sich vielleicht nach Paris wenden. Ob Sie irgend in der Lage sind zu helfen scheint mir zweifelhaft; immerhin bin ich Ihrer freundlichen Bereitschaft sicher, und so werde ich ihnen jedenfalls Ihre Adresse angeben. Ich hoffe bald wieder von Ihnen zu hören, und wir sind beide in freundlichster Erinnerung Ihre Erich und Marie Auerbach

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[Am unteren Blattrand der zweiten Rückseite von Auerbachs Brief, die vom Empfänger nach oben gekehrt wurde, hatte dieser handschriftlich folgende Notizen platziert: 6 Eier, 2 Büchsen Thun, 1 Büchse Sardinen, ¼ Schinken, 1 Brot (durchgestrichen), ¼ Butter, 1 Büchse [?], 2 Bouletten (durchgestrichen), Bonnard / James Cain / Montherlant, Fuchs, Bataille Leyris (beide Namen durchgestrichen), Amerika, Kracauer, Lieb (durchgestrichen), Moskauer Prozess / Gide.] Überlieferung: Walter Benjamin Archiv (Signatur: WBA, 13/4-5). Akademie der Künste, Berlin. Original. E. Br. m. U. Zwei Blätter, die beidseitig mit schwarzer Füllfederhaltertinte beschrieben sind. Veröffentlichung: Karlheinz Barck: 5 Briefe Erich Auerbachs an Walter Benjamin in Paris. In: Zeitschrift für Germanistik, Heft 6, 1988, S. 688-694, hier: S. 691-693. Vollständige Übersetzung, Einleitung und Kommentierung der Briefe Auerbachs ins Englische (ohne Benjamins und Marie Auerbachs Randbemerkungen): Scholarship in Times of Extremes: Letters of Erich Auerbach (1933-46), on the Fiftieth Anniversary of His Death. Introduction and translation by Martin Elsky, Martin Vialon, and Robert Stein. In: Publications of the Modern Language Association of America, May 2007, Volume 122, Number 3, S. 742-762, hier: S. 747-752 (Brief vom 3.1.1937: S. 750f). Sprachsoziologiebericht: Walter Benjamin: Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg., 1935, S. 248-268. Im hiesigen Institut der Nationalökonomen: In der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul lehrte von 1933 bis 1951 der Nationalökonom Fritz Neumark (1900-1991), der zuvor als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt tätig war. Er publizierte folgende Buchbesprechungen: Fritz Neumark [Rez.]: Herbert Uschner: Die Mechanisierung der Landwirtschaft in Übersee und ihre Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft, Wien, Berlin: C. Heymann und Österreichischer Wirtschaftsverlag 1934; Ennio Ronchi: Das erste Jahrzehnt der Wirtschafts- und Finanzpolitik des Faschismus in Italien, Berlin: F. Vahlen 1934; Die faschistische Wirtschaft. Probleme und Tatsachen. Eingeleitet und herausgegeben von Gerhard Dobbert, Berlin: R. Hobbing 1934. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg., 1935, S. 320 und S. 479 f. Als Autor der Zeitschrift dürfte Neumark Belegexemplare erhalten haben, die in der volkswirtschaftlichen Fakultät auslagen und zirkulierten. Neumark hatte später, von 1951 bis 1970, wieder als Professor an der Universität Frankfurt gelehrt. Deutscher Assistent: Vermutlich Traugott Fuchs (1906-1997). Auerbach kannte ihn als Student aus seiner Marburger Anfangszeit. Fuchs wechselte 1930 mit Leo Spitzer nach Köln und wurde dessen Hilfsassistent. Er verlor diese Stelle, weil er gegen Spitzers Zwangsentlassung einen Protest organisierte und emigrierte 1934 nach Istanbul, wo er nach einer langen Lehrtätigkeit in den germanistischen Abteilungen der Istanbul- und Bosporus-Universität verstarb. Fuchs gehörte zum engsten Freundeskreis Auerbachs, war als Maler tätig und hinterließ ein umfangreiches Werk von etwa 200 Ölgemälden und tausenden von Zeichnungen. Wenige Briefe Auerbachs an Fuchs haben sich erhalten; dagegen eine Korrespondenz von etwa 400 Briefen, die Marie Auerbach nach dem Tod ihres Mannes an Fuchs adressierte.

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VERDICHTETE GESCHICHTSERFAHRUNG

Auf Ihr Buch freuen wir uns: Detlef Holz (i. e. Walter Benjamin): Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, Luzern: Vita Nova Verlag 1936. Auerbach war von der getroffenen Auswahl der Briefe völlig begeistert und teilte Benjamin den Erhalt des Buches mit: „Denn es ist wie ein Blitz oder wie ein hoher Besuch zwischen meine sonstigen Beschäftigungen gefahren, hat sie beiseite gedrängt und in Unordnung gebracht. […].“ In dem veröffentlichten Brief vom 28.1.1937 wurde die Nachschrift von Marie Auerbach in Barcks Edition (S. 694) nicht berücksichtigt. Sie bezieht sich ebenso auf die Briefsammlung Deutsche Menschen und wird nun vollständig wiedergegeben: „Lieber Herr Benjamin, Sie haben uns eine Riesenfreude gemacht, und nicht nur uns allein, denn ich weiss viele Menschen, die es noch nicht in Händen haben, die Hoffnung und Trost für eine ganze Weile daraus schöpfen werden. Ein anderes Mal mehr, denn die angedeutete ‚Eile‘ meines Mannes zwingt ihn, den Brief sofort mit der abgehenden Post befördern zu wollen. Mit herzlichem Gruss und Dank, Ihre Marie Auerbach.“ Walter Benjamin Archiv (WBA: Signatur: 13/6). Marie: Marie Auerbach (1892-1979). Älteste Tochter des Berliner Justizrates Georg Mankiewitz (1859-1927); seit 1923 mit Erich Auerbach verheiratet. Clemens: Clemens Auerbach (1923-2002). Gemeinsames und einziges Kind von Marie und Erich Auerbach. Schulausbildung am humanistischen Gymnasium Philippinum in Marburg und am Robert College in Istanbul, Studium an der Harvard University und promovierter Chemiker. 1 Kind: Claude Auerbach, der in Bluffton (USA) lebt. Nachfolger Spitzers: Leo Spitzer (1887-1960). Österreichisch-jüdischer Romanist und Prof. in Marburg von 1924-1930. Spitzer erhielt 1930 einen Ruf an die Universität Köln und Auerbach wurde im gleichen Jahr sein Nachfolger in Marburg. 1933 wurde Spitzer aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Köln entlassen; Emigration im Herbst 1933 in die Türkei und Aufbau des Lehrstuhls für europäische Philologie und Leiter der Fremdsprachenschule an der Universität Istanbul, 1936 Emigration in die USA, Prof. an der Johns Hopkins University in Baltimore; 1956 Emeritierung. Mehrere Aufsatzsammlungen: Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik, Halle: Max Niemeyer 1918; Stilstudien. Sprachstile/Stilsprachen, München: Max Hueber 1928, 2 Bände; Anna Granville Hatcher (Ed.): Leo Spitzer: Essays on English and American Literature, Princeton: Princeton University Press 1962. Wenige Briefe Spitzers an Auerbach haben sich erhalten. Croce: Benedetto Croce (1866-1952). Philosoph und Literaturhistoriker, Vermittler zwischen deutscher und italienischer Kultur- und Geistesgeschichte und Korrespondenzpartner Auerbachs. Vgl. Ottavio Besomi (Hg.): Il Carteggio Croce-Auerbach [1923-1948]. In: Estratto dall’ Archivo Storico Ticenese, Numero 69, Marzo 1977, S. 3-40. Auerbach hatte, gemeinsam mit Theodor Lücke, die von Croce im Jahr 1911 veröffentlichte Monographie La filosofia di Giambattista Vico ins Deutsche übertragen (Die Philosophie Giambattista Vicos, Tübingen: J. C. B. Mohr, Paul Siebeck 1927). Vossler: Karl Vossler (1872-1949). Von 1909 bis 1938 Prof. an der Ludwig Maximilians-Universität München. 1946 Rektor der Universität. Doyen der deutschen Romanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vossler hatte über alle romani131

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schen Literaturen und ihre Sprachen publiziert und eine literaturwissenschaftlichhermeneutische und sprachphilosophische Methodik vertreten. Er war akademischer Lehrer von Victor Klemperer (1881-1960) und Werner Krauss (1900-1976) sowie Mentor, Freund und Korrespondent Erich Auerbachs. Wichtige Werke: Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung, Heidelberg: Carl Winter Verlag 1907/10 (2 Bände); Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1925; Luis de Léon, München: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1943. 7 deutsche Assistenten: Namentlich handelt es sich um folgende Mitarbeiter, die maßgeblich am Aufbau der germanistischen, romanistischen und anglistischen Abteilung der Universität Istanbul beteiligt waren: Heinz Anstock (1909-1980), Eva Buck-Vanio÷lu (1908-1982), Rosemarie Burkart (1907-2002), Herbert Dieckmann (1906-1986), Lieselotte Dickmann (1902-1994), Traugott Fuchs (1906-1997) und Hans Marchand (1907-1978). Später kamen durch Auerbach vermittelte Assistenten hinzu: Robert Anhegger (1911-2001), Ernst Engelberg (geb. 1909), Kurt Laqueur (1914-1997) und Andreas Tietze (1914-2003). Auerbachs Korrespondenz mit Burkart hat sich erhalten. Grand chef: Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938). Präsident der Nationalversammlung (23.4.1920) und Staatsgründer der türkischen Republik (29.10.1923). Memoirenbuch: Auerbach zitiert aus der ins Deutsche übersetzen Ausgabe, die Mustafa Kemals Rede auf dem 2. Kongress der Republikanischen Volkspartei des Jahres 1927 dokumentiert: Kemal Pascha: Die neue Türkei 1919-1927. Der Weg zur Freiheit 1919-1920, Bd. 1; Die nationale Revolution 1920-1927, Bd. 2, Leipzig: Verlag von Karl Franz Koehler 1928, Bd. 1. Diese Ausgabe wurde in der Türkei in einem Band nachgedruckt: Gasi Mustafa Kemal Pascha: Der Weg zur Freiheit 1919-1920 (Teil 1); Die neue Türkei 1919-1927 (Teil 2), Ankara: Baúbakanlık Basımevı 1981 (Zitat: Bd. 1, S. 1). List der Vorsehung: Abgewandelter geschichtsphilosophischer Begriff der Vorsehungslehre aus Vicos Neuer Wissenschaft und der „List der Vernunft“ aus Hegels Geschichtsphilosophie. Blubopropaganda: Bezeichnung für die rassistische Blut- und Bodenpropaganda der Nationalsozialisten. Verhältnis zu Ernst Bloch getrübt: Gemeint ist der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Bloch (1885-1977). Exil von 1933 bis 1949 in verschiedenen Ländern. Zuerst in der Schweiz, Österreich, Frankreich und der Tschechoslowakei. Seit 1911 Freundschaft mit Georg Lukács (1885-1971), Friedrich Burschell, Benjamin und Auerbach. Veröffentlichung des dem Expressionismus nahestehenden Frühwerkes Geist der Utopie: München, Leipzig: Duncker & Humblot 1918. Auerbachs Bemerkung zielt hintergründig auf Blochs Buch Erbschaft dieser Zeit (Zürich: Oprecht & Helbling 1935), in dem Benjamins kulturkritische Aphorismussammlung Einbahnstraße (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag 1928) dem Surrealismus zuordnet wird. Die Freundschaft zwischen Bloch und Benjamin wurde von Benjamins Mutmaßung belastet, dass Bloch in der Erzählsammlung Spuren (Berlin: Paul Cassirer Verlag 1930) zentrale Gedanken ohne Nennung des Ideenspenders übernommen habe. Benjamin vermisste offenbar eine Danksagung Blochs, die hätte zum Ausdruck bringen können, dass die 132

VERDICHTETE GESCHICHTSERFAHRUNG

Entstehung einiger Erzählungen durch gemeinsame Gespräche 1926 in Paris inspiriert wurden. Eine derartige Beteiligung am Entstehungsprozess von Erbschaft dieser Zeit lässt sich nicht nachweisen, weil Bloch zur Kennzeichnung der intellektuellen Debatten in der Weimarer Zeit (Kapitel: Revueform in der Philosophie) den Namen Benjamins und seines Werkes nachweist. Auerbach war mit Benjamin und Bloch seit seiner Heidelberger Studienzeit (1910-1913) befreundet und hatte aus Istanbul versucht, zwischen beiden Intellektuellen zu vermitteln. Die grundsätzliche Aussprache zwischen Bloch und Benjamin fand schon in Paris im Juli 1935 statt, in deren Rahmen Benjamin auf Blochs einlenkendes und versöhnliches Verhalten gestoßen war. Auerbach konnte seine Vertrautheit mit beiden Charakteren einbringen, denn aus Blochs Briefen, die er an Benjamin aus seinem provisorischen Prager Unterstand (1936-1938) im Januar, März und April 1937 geschrieben hatte, geht hervor, dass der alte Freundschaftsbund tatsächlich wiederhergestellt war. Vgl. Ernst Bloch: Briefe 1903-1975. Herausgegeben von Karola Bloch, Jan Robert Bloch, Anne Frommann, Hanna Gekle, Inge Jens, Martin Korol, Inka Mülder, Arno Münster, Uwe Opolka und Burghart Schmidt, Frankfurt/Main 11985, Bd. 2, S. 649-668, hier: S. 664-668. Blochs Beziehung zu Auerbach hatte ihren Ausdruck schon früh durch das Widmungsexemplar der zweiten Auflage des Buches Geist der Utopie (1923) gefunden. Die Blochsche Dedikation bezieht sich auf gemeinsame Urlaubstage am Bodensee und am Starnberger See und enthält eine biographische Anspielung auf Auerbachs Heirat mit Marie Mankiewitz, die 1923 stattfand: „Dieses Buch, in dem mancher See/ schwillt und vom [Staltacher] Hof/ bis Sorrent sein Haupt erhebt,/ Erich und Marie Auerbach in herzlicher Neigung als kleine Hochzeitsfackel./ Berlin 11. 6. 1923 Ernst Bloch.“ Vgl. Martin Vialon (Hg.): Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar, Tübingen, Basel 1997, S. 122. Diese Konstellation war auch im Exil nicht vergessen, auch wenn sich keine Korrespondenz zwischen Auerbach und Bloch erhalten hat. Bloch emigrierte nach dem Prager Aufenthalt in die USA (1938-1948), wo das Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, Ost-Berlin: Aufbau Verlag 1954-1959 (3 Bände) geschrieben wurde. 1948-1956: Philosophieprofessur an der Universität Leipzig (DDR), die auch aufgrund eines Gutachtens von Erich Auerbach geschah. 1957 Zwangsemeritierung wegen Nichtanpassung an die sozialistische Staatsdoktrin und 1961 Flucht nach Westdeutschland während des Mauerbaus und einer Vortragsreise. Gastprofessur in Tübingen, Veröffentlichung von Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1968. Im Kontext der Solidarisierung mit der antiautoritären und sozialistischen Studentenbewegung: Freundschaft mit ihrem Repräsentanten Rudi Dutschke (1940-1979). Burschell: Friedrich Burschell (1889-1970). Literaturkritiker und Literaturhistoriker. Schon vor dem Ersten Weltkrieg mit Auerbach, Benjamin und Ernst Bloch befreundet. Korrespondierte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit Marie Auerbach. Schrieb Essays für die Frankfurter Zeitung, Vossische Zeitung, Die Weltbühne und Neue Rundschau. Emigration 1933 nach Frankreich, Spanien, die Tschechoslowakei und nach Großbritannien. Wichtige Werke: Jean Paul. Die Entwicklung eines Dichters, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1926; Friedrich Schiller in Selbstzeugnis-

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sen und Bilddokumenten, Reinbek: Rowohlt Verlag 1958. Übersetzungen der Werke von Georges Bernanos, George Gordon Byron und Julien Green ins Deutsche. Schwager Hausmann: Raoul Hausmann (1886-1971). Österreichisch-jüdischer Gründungsvater des Dadaismus und mit Marie Auerbachs Schwester, Hedwig Mankiewitz (1893-1974), verheiratet. Überlebte mit seiner Frau das Exil in Limoges (Frankreich). 6 Eier […] zwei Bouletten: Benjamins Buchführung über die verzehrten Lebensmittel, die er auf dem Blattrand von Auerbachs Brief vermerkte, dokumentiert seine bittere Armut im Pariser Exil. Er war vollständig abhängig von finanziellen Zuwendungen des Instituts für Sozialforschung, um die er wiederholt betteln musste. Die vorkriegsbedingte Preissteigerungsrate war in Paris sehr hoch, so dass Benjamin, wenige Monate nach dem Eintreffen von Auerbachs Brief, ein „Memorandum über meine wirtschaftlichen Verhältnisse“ am 29.3.1937 an den Soziologen Friedrich Pollock (1894-1970) senden musste. Benjamin beschreibt darin, dass die „hiesige Preissteigerung […] einen Fehlbetrag in mein Budget einführt“, dass er „keinerlei Ersparnisse“ besitze und dass die „Anschaffung von zwei Paar Brillengläsern (300.- Frs.) mit Schwierigkeiten verbunden“ war. Für „Essen“ wird eine Summe von 720.- - Frs. monatlich veranschlagt, die nicht aus teuren Restaurantgängen resultierte, sondern die sich aus einfachen Speisen, dem Fastfood und der Konservennahrung zusammensetzte, die Benjamin auf Auerbachs Briefunterlage benannte. Benjamin litt permanent unter Wohnungsproblemen, lebte in billigen Pensionen, Hotels oder als Untermieter bei Bekannten. Seine ökonomische Situation wurde im Oktober 1937 durch die Zuwendung eines neuen Stipendiums in Höhe von 80 US-Dollar geregelt, um vor der Abwertung und Schwankung des Franc besser geschützt zu sein, dessen Summe sich bis April 1939 nicht veränderte. Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band V. 1935-1937. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt/Main 11999, S. 499-501, hier: S. 500 f und S. 582-584 (Benjamin an Max Horkheimer: 4.10.1937) sowie Bd. VI. 1938-1940, Frankfurt/Main 12000, S. 257-259, hier: S. 259 (Benjamin an Sigmund Morgenroth: 14.4.1939). Bonnard: Pierre Bonnard (1867-1947). Französischer Maler des Spätimpressionismus. Malte Stillleben, Landschaften, Portraits, Akte und Blumengärten. James Cain: Gemeint ist James Mallahan Cain (1892-1977). Amerikanischer Journalist, Erzähler und Autor von Kriminalromanen: The postman always rings twice, London: Jonathan Cape 1934. Übersetzung ins Französische: Le facteur sonne toujours deux fois. Traduction de l’anglais par Sabine Berritz. Préface d’Irène Némirovsky, Paris Gallimard 1936. Italienische Verfilmung des Romans: Luchino Visconto: Ossessione (1943); amerikanische Verfilmung: Tay Garnett (1946). In der von Karlheinz Barck herausgegebenen Edition von Auerbachs Briefen wurde der Name James Cain durch Gabriele Gast fälschlich mit „James Lain“ (S. 693) wiedergegeben. Montherlant: Henry de Montherlant (1896-1972). Französischer Schriftsteller, Dramatiker und Essayist. Autor einer Romantetralogie, bestehend aus folgenden Werken: Les jeunes filles (1936), Pitié pour les femmes (1936), Le démon du bien (1937) und Les lépreuses (1939).

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Fuchs: Eduard Fuchs (1870-1940). Essayist und Historiker, Nachlassverwalter des marxistischen Literaturhistorikers Franz Mehring (1846-1919). Seit 1919 Mitglied der KPD; Freundschaft mit Karl Liebknecht (1871-1919), Rosa Luxemburg (18711919) und Clara Zetkin (1857-1933); sagte sich Ende der zwanziger Jahre von der KPD los und folgte August Thalheimer (1884-1948) in die KPD-Opposition, der die Stalinisierung der Komintern scharf kritisierte. Emigration aus politischen Gründen 1933 nach Paris. Wichtige Werke: Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (6 Bände), München: Verlag Albert Langen 1909-1912; Die Juden in der Karikatur, München: Verlag Albert Langen 1921; Tang-Plastik. Chinesische Grabkeramik des VII: bis X. Jahrhunderts, München: Verlag Albert Langen 1924; Der Maler Daumier, München: Verlag Albert Langen 1927. Bataille: Georges Bataille (1897-1962). Französischer Schriftsteller, Soziologe, Anthropologe und Philosoph. Vertreter des Surrealismus, Ausbildung zum Bibliothekar und später Tätigkeit an der Bibliothèque Nationale de France in Paris von 1922 bis 1942. Befreundet mit Walter Benjamin, der regelmäßig in der Bibliothèque National arbeitete und Bataille vor seiner Flucht aus Paris beauftragte, Teile seines Nachlasses dort zu verstecken. Darunter befanden sich Aufzeichnungen zur Baudelaire-Studie, zum Passagenwerk, zum Kunstwerkaufsatz und bedeutende Briefe, die Bataille nicht alle nach Kriegsende an Pierre Missac (1910-1986) übergab, der sie an Adorno weiterleitete. Die Restmaterialien verblieben im Besitz von Batailles Witwe, die sie 1964 der Bibliothèque National übergab, wo sie durch Giorgio Agamben 1981 wiederentdeckt wurden. Bataille gründete zusammen mit Roger Caillois (1913-1978) und Michel Leiris (1901-1990) das Collège des Sociologie, an deren Geheimtreffen Benjamin als Zuhörer teilnahm und dessen Mitglieder eine sakralsoziologische Geschichtsperspektive ausarbeiteten. Ergebnisse der Diskussionen wurden in der von Bataille, Pierre Klossowski (1905-2001) und André Masson (18961987) herausgegeben Zeitschrift Acéphale veröffentlicht. Batailles Name deutet daraufhin, dass Benjamin offenbar bekannt war, dass die zweite Nummer der Zeitschrift unter dem Titel Nietzsche et les fascistes: une réparation am 21.1.1937 erscheinen sollte. Später hatte Batailles Theorie der Transgression – die Grenzüberschreitung, die neue Erfahrungen durch Tabubrechungen ermöglicht – den Poststrukturalismus und Michel Foucault (1926-1984), Roland Barthes (1915-1980) sowie Maurice Blanchot (1907-2003) beeinflusst, deren frühe Werke Bataille in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Critique veröffentlichte. Leyris: Pierre Leyris (1907-2001). Französischer Übersetzer englischer Literatur. Der Name wurde in Barcks Edition (S. 693) fälschlich mit „Leyn“ wiedergegeben. Leyris hatte die französische Fassung von Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) ins Englische übersetzt. Die Veröffentlichung von Leyris’ Übersetzung, die vermutlich für die Zeitschrift Life an Letters Today vorgesehen war, kam jedoch nicht zustande. Später übersetzte Leyris die Werke von Blake, Coleridge, Beckett, Dickens, T. S. Eliot, Melville und Shakespeare ins Französische und wurde für sein Lebenswerk 1985 mit dem Grand Prix de la Traduction ausgezeichnet.

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Amerika: Das Institut für Sozialforschung war 1933 für kurze Zeit nach London und dann in die USA (New York) übergesiedelt. Benjamin hatte sich auf der Flucht in die USA im spanischen Grenzort Port Bou am 26.9.1940 das Leben genommen. Kracauer: Siegfried Kracauer (1889-1966). Deutsch-jüdischer Schriftsteller, Journalist, Soziologe und Begründer der Filmwissenschaft. Literatur- und Filmredakteur der Frankfurter Zeitung in den zwanziger Jahren und während dieser Zeit Studium des Marxismus. Befreundet und Briefwechsel mit Erich Auerbach, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno (1903-1969), Leo Löwenthal (1900-1993) und Erwin Panofsky (1892-1960). 1933 Exil in Paris; seit 1941 Exil in den USA und zeitweise wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum of Modern Art in New York. Wichtige Werke: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt/Main: Frankfurter Societäts-Druckerei 1930; Jaques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Amsterdam: Allert de Lange Verlag 1937; From Caligari to Hitler. A Psychological History of German Film, Princeton: Princeton University Press 1947; Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, New York: Oxford University Press 1960. Auerbachs Korrespondenz mit Kracauer hat sich erhalten. Lieb: Fritz Lieb (1892-1970). Schweizer protestantischer Theologe, der sein Forschungsinteresse auf die Untersuchung der orthodoxen Kirche und russischen Geistes- und Kulturgeschichte richtete. Seit 1915 Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, 1920 Mitglied der kommunistischen Partei der Schweiz. Pazifist, religiöser Sozialist und Antifaschist, befreundet mit Karl Barth (18861968). Privatdozent in Basel (1925-1930), danach in Bonn. Wurde 1933 aufgrund seiner politischen Einstellung suspendiert. Exil in Paris bis 1937, danach Prof. in Basel, Prof. an der Humboldt-Universität in Berlin 1947/48 und von 1958-1962 wieder in Basel. Befreundet mit Benjamin und umfangreiche Korrespondenz. Wichtige Werke: Das westliche Geistesleben im Urteil der russischen Religionsphilosophie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1929; Russland unterwegs. Der russische Mensch zwischen Christentum und Kommunismus, Bern: A. Francke Verlag 1945. Moskauer Prozess: Benjamins Notiz bezieht sich auf die Moskauer Schauprozesse, die von August 1936 bis März 1938 stattfanden. Sie bilden den Höhepunkt der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Unter dem perfiden Vorwurf faschistischer Agententätigkeit und trotzkistischer Agitation hatte Josef Stalin (1878-1953) die Ausschaltung der politischen Opposition innerhalb der KPdSU und die Vernichtung der gesamten Führung der Oktoberevolution beschlossen. Benjamin wurde offenbar durch Auerbachs Bemerkung, dass „die Zerstörung des geschichtlichen Nationalcharakters […] wohl auch in Russland (?)“ sich ereigne, zu diesem zeitbezogenen Stichwort angeregt. Schon in seinem Moskauer Tagebuch (Winter 1926/27) hatte Benjamin die Ideologisierung und den sich abzeichnenden Kollaps der sowjetischen Gesellschaftsverhältnisse beschrieben. Durch seinen Schwager Egon Wissing (1900-1984), der 1935 für kurze Zeit als Arzt in Moskau arbeitete, war Benjamin über den weiteren Gang der Entwicklung brieflich informiert. Auch die Exilgespräche mit seinen Freunden Hannah Arendt (1906-1975), Heinrich Blücher (18991970) und Bertolt Brecht (1898-1956) trugen dazu bei, dass Benjamin eine immer stärker auf Distanz gehende Haltung gegenüber der politischen Entwicklung in 136

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Moskau einnahm. Benjamins letzter Text, die Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) belegen, dass er sich von den politischen Hoffnungen, die mit dem sowjetischen Modell verbunden waren, endgültig losgesagt hatte, ohne seine marxistische Haltung preiszugeben. Gide: André Gide (1869-1951). Französischer Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1947. Gides Namensnennung steht in Verbindung mit der Notiz „Moskauer Prozess“. Er hatte sich seit 1931 auf Seiten der kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) und antifaschistischer Organisationen engagiert, aber angesichts seiner Erfahrungen während einer Reise in die Sowjetunion die anfängliche Sympathie 1936 revidiert.

III. Verdichtete Geschichtserfahrung Mit der kritischen Untersuchung dieser Epistel soll nun gezeigt werden, wie die Konstellation zwischen Auerbach und Benjamin zustande kam und in ihren intellektuellen Wesentlichkeiten zu verstehen ist. Auf biographischer Ebene hatte Auerbach eine Leerstelle in seinem Brief eingefügt, die zwar der Empfänger erkennen konnte, aber die dem heutigen Leser verborgen bleiben muss. Sie bezieht sich auf die Bemerkung, dass der Briefschreiber „gern noch einige Worte über die letzten Jahre in Deutschland“ zu schreiben beabsichtigte, aber von weiteren Mitteilungen absah. Auerbach spielt auf den Abbruch ihrer Kommunikation an, die sich aus Benjamins Exilsituation und dem eigenen Schwebezustand ergab, den er während einer Italienreise in Florenz und Rom im Herbst 1935 erfuhr. Von dort erreichte Benjamin jeweils ein Brief (23.9.1935 und 6.10.1935); zwischenzeitlich hatte sich Auerbach in Bologna mit Spitzer getroffen und konnte die für den Übergang nach Istanbul notwendigen Dinge besprechen.12 Die gemeinsame Briefunterschrift deutet darauf hin, dass zwischen dem Hause Auerbach und Benjamin eine enge und herzliche Verbindung bestand. Zudem belegen die Einsprengsel in den vorausgehenden Briefen, dass Auerbach die prekäre wirtschaftliche Situation Benjamins im Pariser Exil bekannt war. Er hatte vergeblich versucht, seinem Freund eine Professur in São Paulo zu vermitteln13 und erwogen, dass vielleicht französische Bekannte wie die ehemaligen Marburger Vortragsgäste Ramón Fernandez, André Malraux, Jean Guéhenno und André Chamson ein zusätzliches Einkommen vermitteln

12 Vgl. Vialon, M. (Hg.) (2007): Und wirst erfahren wie das Brot der Fremde so salzig schmeckt. Erich Auerbachs Briefe an Karl Vossler 1926-1948, Warmbronn, S. 19 (Auerbach an Vossler: 15.9.1935). 13 Barck, K. (1988): 5 Briefe Erich Auerbachs an Walter Benjamin in Paris. In: Zeitschrift für Germanistik, 9. Jg., H.6, S 688-694, S. 689 (Auerbach an Benjamin: 23.9.1935). 137

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könnten.14 Die ernste Sorge um Benjamin, der gegenüber Max Horkheimer seine existentiell angespannte Lage als Angewiesensein auf einen provisorischen „Mittagstisch“15 und nicht vorhandene 100 Francs für die Verlängerung der lebensnotwendigen Carte d’Identité betont,16 hatte für Auerbach höchste Priorität. Er beauftragte seinen Marburger Doktoranden Martin Hellweg, der sich 1935 in Paris aufhielt, als Bote, um dem auf Hilfe angewiesenen Freund eine persönliche Geldzuwendung zukommen zu lassen: „Mit Walter Benjamin war er [Auerbach, M. V.] wohl sehr befreundet. Soweit ich mich erinnere, schickte er ihm öfter (so weit das im Dritten Reich erlaubt war) 10 Mark in Benjamins Exil nach Paris. Im Auftrag von Auerbach habe ich Benjamin in Paris Ende 1935 aufgesucht. Aber ein längeres Gespräch kam nicht zustande. Benjamin bewohnte da ein einfaches Hotelzimmer.“17 Die erfolgte Unterstützung ist Gegenstand von Auerbachs erstem Exilbrief aus Istanbul, in dem er seine neue Anschrift und Ankunft seit Mitte September 1936 mitteilt und auf die nach der Amtsenthebung entstandene Situation in Marburg eingeht: „Mein oben genannter früherer Mitarbeiter [Werner Krauss, M. V.] und sein Ihnen bekannter Assistent sind lang erprobt und verdienen alles Vertrauen.“18 Hellweg war nach seiner Promotion bei Auerbach19 zwischen 1936 und 1938 als Assistent von Krauss tätig,20 der die gerade erschienene Corneille-Schrift21 an Auerbach übergab, die dieser als Beilage eines Briefes an Benjamin verschickte. Im einzig erhaltenen Antwortbrief bedankte sich Benjamin für die erneute Möglichkeit zum „unmittelbaren Gedankenaustausch“22, die „unmittelbare sachliche Hilfe“23, die ihm durch Hellweg überbracht wurde und für „den Hinweis auf Corneille“24, dessen ideologiekritische Verortung Krauss innerhalb der französischen Literaturge14 Ebd., S. 690 (Auerbach an Benjamin: 6.10.1935). 15 Horkheimer, M. (1995): Gesammelte Schriften, hg. v. Schmidt, A; Schmid Noerr, G., Bd. 15, Briefwechsel 1913-1936, Frankfurt/M., S. 413-415, hier: S. 413 (Benjamin an Horkheimer: 16.10.1935). 16 Ebd., S. 414. 17 Martin Hellweg (Briefliche Mitteilung an den Verfasser: 25.11.1993). 18 Barck, K. (1988) a. a. O., S. 691 (Auerbach an Benjamin: 12.12.1936). 19 Vgl. Hellweg, M. (1936): Der Begriff des Gewissens bei Jean Jacques Rousseau. Beitrag zu einer Kritik der politischen Demokratie, Marburg 20 Vgl. Vialon, M. (2007b): In memoriam Martin Hellweg (1908-2006). Philosophischer Romanist, früher Gewissenskritiker Martin Heideggers und Theoretiker des Sozialismus (Teil 1). In: Lendemains. Etudes comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung, 32. Jg., H. 128, S. 122-140; Vialon, M. (2008): In memoriam Martin Hellweg (Teil 2). In: Lendemains. Etudes comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung, 33. Jg., H. 129, S. 61-84. 21 Krauss, W. (1936): Corneille als politischer Dichter, Marburg. 22 Benjamin, Walter (1999) a. a. O., S. 446-447, hier: S. 446 (Benjamin an Auerbach: 21.12.1936). 23 Ebd. 24 Ebd. 138

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schichte des 17. Jahrhunderts vornahm und damit bei Benjamin auf Sympathie gestoßen war. Benjamin kannte Krauss nicht, aber der Berliner Literaturkritiker kam nach Marburg und hatte Auerbach und seine Familie besucht. Clemens Auerbach bemerkte bei der Durchsicht der inzwischen als verschollen geltenden Tagebücher von Marie Auerbach, dass mindestens eine Begegnung in der Friedrichstraße 3 stattfand. Wann sich diese Besuche ereigneten, ließ sich nicht genau ermitteln. Angesichts von Auerbachs Berufung an die Philipps-Universität und Benjamins Königsteiner Aufenthalten bei Adorno, könnten die Marburger Begegnungen wohl zwischen Herbst 1930 und März 1933 stattgefunden haben.25 Benjamin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seinen frühen Entwurf zum Passagenwerk fertig, den er Auerbach vorgestellt haben könnte;26 auch gemeinsame Kinobesuche in den Marburger Lichtspielhäusern und Konversationen über die gesehenen Filme hätten sich als Diskussionsinteresse angeboten. Auf dieses letzte Wiedersehen vor Auerbachs Emigration in die Türkei bezieht sich die unausgesprochene Reminiszenz im Brief vom 3.1.1937, die mittelbar als Anknüpfungspunkt für die wiederhergestellte und intensivierte Verständigung dient. Unter dieser Erinnerungsebene liegt eine weitere Schicht verborgen, denn Auerbach und Benjamin hatten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg kennengelernt. Die frühe Verbindung geht aus einem Brief von Marie Auerbach an Traugott Fuchs hervor, der im Veröffentlichungskontext von Benjamins Schriften die Witwe über die nähere Bedeutung der Beziehung beider in Berlin geborenen Intellektuellen befragte. Am 11. April 1973 schreibt sie nach Istanbul: „Ja, Walter Benjamin war ein guter Freund. Manche Bücher von ihm habe ich hier: ‚für Erich und Marie Auerbach‘, für E. und I. A.‘ usw. Er war bei seiner großen Begabung ein sehr stiller und verschlossener Mensch, voll großer Integrität. Eigentlich glückte ihm äußerlich nie etwas, man verstand ihn nicht und seine schüchterne Unbeholfenheit war nicht immer ein Hilfsmittel. Er gehörte wie Erich in die Gruppe noch vor 1914 [Einfügung: in Heidel25 Clemens Auerbach (Briefliche Mitteilungen an den Verfasser: 10.9.1991 und 25.10.1992): „Es existieren einige Tagebuecher meiner Mutter, aber leider nicht fuer die Jahre 1931-32. In den Jahren 1930 (das erste in Marburg), 1933, 1934 und 1935, ist nichts ueber einen Besuch zu finden. Dagegen existiert eine Eintragung bei einer Reise nach Berlin im Oktober 1930 (‚nachm. Benjamin‘). Ich bin aber sicher, dass mindestens ein Besuch in Marburg stattgefunden hat, habe die deutliche Erinnerung Benjamin auf unserem Balkon zu irgendeinem Kinderspiel gezwungen zu haben!“ Im anderen Brief heißt es: „Obwohl Benjamin wirklich lediglich eine Kindheitserinnerung fuer mich ist, so bin ich mir seiner Wichtigkeit im Leben meiner Eltern doch sehr bewusst.“ 26 Vgl. Benjamin, W. (1982a): Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau. In: Benjamin, W. (1982b): Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, Frankfurt/M. S. 1060-1063. Im Brief vom 6.10.1935 heißt es: „Was das Pariser Buch betrifft, so weiss ich längst davon – einst sollte es ‚Pariser Passagen‘ heissen.“ Vgl. Barck, K. (1988) a. a. O., S. 690. 139

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berg (‚Die Argonauten‘)] zu Bloch, Burschell, Lucacz usw.! Er nahm sich das Leben eines Nachts, bevor er und mehrere andere hofften, den Nazis zu entkommen, die sie am nächsten Morgen an der spanischen Grenze abholen wollten – und dann nicht kamen. Typisch für sein Schicksal. Im Augenblick wird jetzt alles von ihm natürlich neu gedruckt […].“27 Benjamin konnte sich dem Kriegsdienst durch seine Studien entziehen, die er im Schweizerischen Bern seit dem Wintersemester 1917/18 aufnahm und vermittels der Dissertation über den romantischen Kunstbegriff 1919 abgeschlossen hatte.28 Dagegen wurde Auerbach nach seiner Heidelberger rechtswissenschaftlichen Dissertation29 einberufen und war als Offiziersanwärter im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 in Nordfrankreich eingesetzt, wo er schwer verwundet wurde. Die frühe Heidelberger Konstellation, die sich aus dem erweiterten Kreis um Max Weber und den expressionistischen Dichter Ernst Blass ergab, der die Zeitschrift Die Argonauten herausgab, ist im Heft 10-12 des Jahres 1921 dokumentiert. Dort waren Benjamins Essays Schicksal und Charakter (S. 187196),30 Der Idiot von Dostojewski (S. 231-235), Ernst Blochs Aufsatz Motorisch-mystische Intention in der Erkenntnis (S. 176-186) und Auerbachs Übersetzungen von Dante: La Vita nuova. Sonetto XV. (S. 198) und Petrarca: Sonetti LXX., CI., CCXLI. (S. 199-201) erschienen. Im Jahr der ArgonautenVeröffentlichung, in der die Heidelberger Trias zusammentraf, beendete Auerbach sein Romanistik-Studium als Seniorstudent in Greifswald,31 legte anschließend die Fachprüfung als Bibliothekar 1922 ab und hatte als juristischer Fachreferent im Rang eines Bibliotheksrats bis zu seiner Berufung nach Marburg in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin gearbeitet. Dort kam es, jenseits von Auerbachs Aufgaben, zu verschiedenen Begegnungen mit Benjamin, der sich als Bibliotheksbenutzer von Auerbachs geisteswissenschaftlichen Fachkollegen für die später verhinderte Habilitation zum deutschen Trauerspiel mit Forschungsliteratur versorgen ließ. An Scholem vermittelt Benjamin im März 1924 eine Nachricht aus der Gelehrtenwelt Berlins, die ihm Auer-

27 Zitiert nach Vialon, M. (2003): The Scars of Exile: Paralipomena concerning the Relationship between History, Literature and Politics – demonstrated in the Examples of Erich Auerbach, Traugott Fuchs and their Circle in Istanbul. In: Yeditepe’ de Felsefe. A Refereed Year-Book, No. 2, S.191-246, hier: S. 198; Original: Traugott Fuchs Cultural and Historical Heritage Archive, Bosphorus University, Number 660901. Die Abkürzungen „E. und I. A.“ sind Kosenamen für Erich und Marie Auerbach. 28 Vgl. Anm. 9. 29 Auerbach, E. (1913): Die Teilnahme an den Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch, Berlin. 30 Vgl. zur Deutung dieses Textes den Beitrag von Johann Kreuzer in diesem Band. 31 Auerbach, E. (1921): Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich, Heidelberg. 140

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bach mitgeteilt hatte. Sie bezieht sich auf Kurt Hildebrandt, der aus Georgischer Perspektive in seinem Aufsatz Hellas und Wilamowitz32 darlegte, dass das Erziehungs- und Griechenlandbild des klassischen Philologen Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff allzu starre Züge aufweise.33 Der wissenschaftliche Ertrag gelegentlicher Gespräche schlug sich Ende der zwanziger Jahre in Benjamins Surrealismus-Aufsatz nieder. Er erhielt ein Freiexemplar der Habilitationsschrift,34 das der Verlag im Auftrag Auerbachs vermittelte und an Benjamins Berliner Grunewald-Adresse in die Delbrückstraße 23 expedierte.35 Benjamin zitierte daraus einen Passus, der sich auf die provenzalische Liebeskonzeption Dantes bezieht. André Bretons autobiographischen Roman Nadja (1928) deutend, betrachtet Benjamin die mittelalterliche Minne als mystisches Modell für die sinnlich-visionär gestaltete Hauptfigur, deren spiritualistische Erscheinung neuplatonische Züge trägt.36 Als weiteres Ergebnis sich ergänzender Gedankenfülle kann Auerbachs Aufsatz Romantik und Realismus37 gelten, in dem er die ästhetischen Möglichkeiten von Roman und Film verglich und den Verlust der „wahren Wirklichkeit“38 und „Echtheit des Wirklichen“39 als Herausforderung des Erzählens durch das „Lichtspieldrama“40 hervorhob. Auerbach sieht die Gefahr, dass der Film „alle ästhetischen Traditionen zwar durchaus nicht zerstört […], aber erschüttert“41. Die Kategorie der Echtheit und der Erschütterung korrespondieren mit Benjamins materialistischer Diagnose vom Verschwinden der Aura, die er in Bezug auf das Kunstwerk und seine Reproduktionsmöglichkeit durch moder32 Hildebrandt, K. (1910): Hellas und Wilamowitz. Zum Ethos der Tragödie. In: Jahrbuch für geistige Bewegung, Berlin, S. 64-117. 33 Vgl. Benjamin, W. (1996): Gesammelte Briefe. Band II. 1919-1924, hg. v. Gödde, C.; Lonitz, H., 1. Aufl., Frankfurt/M., S. 432-438, hier: S. 438 (Benjamin an Scholem: 5.3.1924). Aus dem Kommentar geht hervor, dass sich offenbar Wilamowitz-Moellendorff im Kontext von Hildebrandts Habilitationsverfahren über Platon für diese Kritik gerächt hatte, denn die Habilitation war 1924 auch am Einspruch des Altphilologen gescheitert. 34 Auerbach, E. (1929): Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin. 35 Verlagskorrespondenz Erich Auerbach/Walter de Gruyter: 18.12.1928 (Verlagsarchiv Walter de Gruyter, Berlin). 36 Vgl. Benjamin, W. (1977a): Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften, Bd. 2.1, Frankfurt/M., S. 295-310, hier: S. 299. Ebenso in den vorbereitenden Exzerpten, die zu diesem Aufsatz überliefert sind, wird Auerbach mehrfach zitiert: Vgl. Benjamin, W. (1977b): Gesammelte Schriften, Bd. 2.3, Frankfurt/M. S. 1027 f., S. 1037. 37 Auerbach, E. (1933a): Romantik und Realismus. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Schulbildung, 9. Jg., S. 143-153, hier: S. 152. 38 Ebd., Hervorhebung im Original. 39 Ebd., S. 153. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 152. 141

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ne Technologie konstatierte.42 Beachtenswert ist, dass Auerbach schon vor der Veröffentlichung von Benjamins Kunstwerkaufsatz die „Kitschproduktion“43 des Films als dessen Warenform skeptisch betrachtete und den bürgerlichen Roman als traditionelles Erzählmittel protegierte. Obwohl Benjamin den Auerbachschen Gedanken aufgreift, indem er die „bouleversement de la tradition“44 durch den Film erkannte, die zur „liquidation de la valeur traditionnelle de l’héritage culturel“45 führe, besteht zwischen beiden Positionen, die sich mittelbar auf die Marburger Gespräche Anfang der dreißiger Jahre zurückbeziehen könnten, ein wesentlicher Unterschied: Benjamin hatte die neue politische Funktion der Filmkunst auf deren Sozialität gegründet. Nach dem Vorbild des sowjetischen Films versprach er sich eine politische Massenaufklärung des Proletariats, wodurch die Ästhetisierung faschistischer Propaganda einzudämmen sei.46 Gleichfalls im Erzähler-Essay, den Benjamin durch das auf Auerbachs Briefpapier fixierte Stichwort „Lieb“ mittelbar abruft, lassen sich argumentative Parallelen zum von Auerbach beobachteten Verlust kultureller Erzähltraditionen herstellen. Der Aufsatz war in der von Fritz Lieb herausgegeben Zeitschrift Orient und Occident im Oktober 1936 erschienen und Benjamin knüpft an die beiden Mimesis-Essays an, die 1933 geschrieben wurden.47 Darin wurde zunächst der Erfahrungsverlust, sinnliche Ähnlichkeiten hervorzubringen,48 beklagt und die individuelle Fähigkeit zum mimetischen Vermögen als schwindend klassifiziert.49 Diesem Grundgedanken folgend, entwickelt Benjamin die These, dass „die Kunst des Erzählens zu Ende geht“50. Mit dem „Niedergang der Erzählung“51 nehme die „Mittelbarkeit der Erfahrung“52 ab, die im aufstrebenden Medienkapitalismus durch sich schnell verbreitende Informationen als solche nicht mehr gemacht werden könne. Die Erzählkunst

42 Vgl. Benjamin, W. (1936): L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 5. Jg., S. 40-63, hier: S. 42: „L’authenticité d’une chose intègre tout ce qu’elle comporte de transmissible de par son origine, sa durée matérielle comme son témoignage historique.“ 43 Auerbach, E. (1933a) a. a. O., S. 152. 44 Benjamin, W. (1936) a. a. O., S. 42. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 65. 47 Vgl. Benjamin, W. (1977c): Die Lehre vom Ähnlichen. In: Benjamin, W. (1977a) a. a. O., S. 204-210; Benjamin, W. (1977d): Das mimetische Vermögen. In: Benjamin, W. (1977a) a. a. O., S. 210-213. 48 Ebd., S. 211. 49 Ebd., S. 206. 50 Benjamin, W. (1977e): Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Benjamin, W. (1977f): Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 438465, hier: S. 439. 51 Ebd., S. 442. 52 Ebd. 142

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versteht Benjamin als ein Handwerk, das von Handeltreibenden erfunden wurde und das der großen epischen Form des Romans gegenübersteht. In Bezug auf Lukács, dessen Theorie des Romans (1916/20) Benjamin referiert, beschreibe der Roman den individuell-episch geschilderten Prozess des Lebens unter der Perspektive zunehmender Entfremdung, während in die Erzählung eine Moral eingebunden sei, die durch kollektives Zuhören beim Erzählen zu Bewusstsein gelangt.53 Das Interesse für die moderne Soziologie des Publikums, die historisch aus der Analyse der veränderten Schreib- und Wahrnehmungsweise gewonnen wird, deckt sich mit Auerbachs Anliegen. Er hatte in seiner Studie über La cour et la ville das französische bürgerliche Publikum, das sich im 17. Jahrhundert aus der Fusion von Adel, Bildungsbürgertum und dem Parterre konstituierte, als gesellschaftlichen Träger der klassischen Bildung und europäischen Frühaufklärung bestimmt.54 Gemeinsam ist Auerbach und Benjamin, dass sie im Bildungsniedergang des emanzipierten Bürgertums den Auftrieb des Nationalsozialismus betrachteten. Jedoch wird die literaturstrategische Differenz, die sich schon im Kunstwerkessay andeutete, zwischen beiden Philologen besonders deutlich, wenn man den ersten Pariser Brief heranzieht, der als Bericht 1936 im Heft 5 in der von Bertolt Brecht, Willi Bredel und Lion Feuchtwanger redaktionell betreuten Exilzeitschrift Das Wort erschien. Bezogen auf die französische Literaturentwicklung markiert das auf Auerbachs Brief notierte Merkwort „Gide“ die Situation, dass André Gides Bekenntnis zum Kommunismus durch Thierry Maulnier (1908-1988) von Seiten der Action Française als Verrat an der Zivilisation betrachtet wurde. Benjamin arbeitet die ideologischen Polarisierungen und Propagandatricks heraus, indem er zeigt, dass Maulnier als „Sachverwalter des Faschismus“55 eine auf die Massen bezogene Ästhetisierung des Politischen betreibe, die in der Affirmation der Technik bestehe, ohne dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel angestrebt werde.56 Im Sommer 1936 bereiste der verunglimpfte Gide für mehrere Wochen die Sowjetunion und hatte seine Desillusionierung über die angetroffenen Verhältnisse in dem Bericht Au retour de l’U.R.S.S (1936) in Form einer Selbstkritik vorgenommen. Die Veröffentlichung brachte ihm massive Kritik von französischen Kommunisten ein, und auch Benjamin, der das Buch las, teilte Hork-

53 Ebd., S. 454 f. 54 Vgl. Auerbach, E. (1933b): Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts, München, S. 45. 55 Benjamin, W. (1972a): Pariser Brief 1. André Gide und sein neuer Gegner. In: Benjamin, W. (1972b): Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1. Aufl., Frankfurt/M., S. 482-495, hier: S. 486. 56 Ebd., S. 490. 143

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heimer am 31.1.1937 mit, dass ihm zu den Vorgängen in der Sowjetunion „jeder Schlüssel“57 des Verstehens fehle. Die Komplexität der politischen Verhältnisse, denen gegenüber Gide seinen unabhängigen Standpunkt zurückzugewinnen trachtet, sind Gegenstand der Auerbachschen Epistel. Unter veränderten kulturellen Bedingungen knüpft er an die Gespräche mit Benjamin an und berührt die erfahrenen Entfremdungsphänomene im Exil, die im Abgeschnittensein von der eigenen Geschichtsüberlieferung und Muttersprache bestehen. Kritisch äußert sich Auerbach zu Atatürks integraler Türkifizierung des Nationalstaates, aus der ein Spannungsverhältnis zwischen laizistischen und konservativen Kräften resultierte, das mit einem defizitären Demokratieverständnis sowie einem Minderheiten- und Antisemitismusproblem einherging. Dass Auerbach die „Unechtheit der Blubopropaganda […] erst hier […] zur Gewissheit“58 wurde, resultiert aus der Tatsache, dass die Emigranten in Istanbul durch die Auslandsorganisation der NSDAP und panturkistische Kräfte einer ständigen Propaganda ausgesetzt waren.59 Politische Sympathien für den Nationalsozialismus wurden durch ehemalige türkische Studenten implantiert, die im Dritten Reich ihre Ausbildung erhielten und als Trägergestalten des gesellschaftlichen Überbaus im Presse- und Universitätswesen arbeiteten. Die Einheit und Verschmelzung von Staat und Partei hatte sich in der von Atatürk gegründeten republikanischen Volkspartei CHP manifestiert, die als einzige Partei die Geschicke des Staates seit 1923 leitete. Der nachzuholende Modernisierungsprozess bestand darin, dass durch die Abschaffung des Sultanats (1923) und des Kalifats (1924) die formellen und reformatorischen Grundlagen für eine laizistische und nationalstaatliche Entwicklung gelegt wurden. Das im Brief eingefügte Atatürk-Zitat belegt, wie bewusst sich Auerbach war, dass dieser Geschichte aus der Sicht der Sieger als monomentale Form der Geschichtsschreibung schrieb. Dagegen stellt er seine eigene Erfahrung als Ausgangspunkt im Hier und Jetzt der Zeit, die nicht die entstandenen Brüche übersieht, die im Verlauf der revolutionären Modernisierung in der Türkei entstanden waren. Die Ideologiekritik, die Auerbach am türkischen Nationalismus vornimmt, lässt darauf schließen, dass er nicht ohne Vorkenntnisse der osmanischtürkischen Geschichte in den Orient kam. Während seiner Berliner Zeit dürfte ihm das Attentat, das der armenische Revolutionär Soghomon Tehlirjan am 15. 3. 1921 auf Talaat Pascha verübte, nicht verborgen geblieben sein. Auer57 Benjamin, W. (1999) a. a. O., S. 458. 58 Hervorhebung M. V. 59 Vgl. Guttstadt, C. (2008): Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Hamburg, S. 169-173; Rifat, B. (2006): The politics of Turkification during the Single Party period. In: Kieser, H.-L. (Hg.) (2006): Turkey beyond Nationalism: Towards Post-Nationalist Identities, London; New York, S. 43-49. 144

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bach lebte in der Fasanenstraße 77, und der Mord ereignete sich auf der Hardenbergstraße, Ecke Fasanenstraße, also in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Tehlirjan, dessen Prozess vor dem Landgericht Berlin-Moabit im Juni 1921 stattfand, wurde von den Geschworenen freigesprochen.60 Das Attentat stand in Verbindung mit der Tatsache, dass die Nationalversammlung unter Mustafa Kemals Vorsitz im August 1920 beschlossen hatte, dass die osmanischen Militärkriegsgerichte aufzulösen seien. In der Folgezeit konnte er den Befreiungskrieg (1919-1923) organisieren und die kulturelle Revolution ohne das Vorhandensein eines ausgeprägten Proletariats und einer Bourgeoisie durchsetzen, um die Türkei in die Moderne zu führen. Dass dieser Weg ambivalent verlief, hatte kürzlich der britische Historiker Perry Anderson betont. Er spricht von der „Ambiguität des Kemalismus“61 als ideologischem Ferment, das sich aus zwei Teilen konstituiere: „Eines davon war säkular und wandte sich an die Elite. Das andere war kryptoreligiös und für die Massen verständlich. Beiden gemeinsam war, dass die Integrität der Nation als ein höchster politischer Wertbegriff erschien.“62 Anderson paraphrasiert nun den hier edierten Brief Auerbachs an Benjamin63 und entwickelt die These, dass Kemal, der nicht am armenischen Völkermord beteiligt war, „nachher in den Greueln eine vollendete Tatsache sah – eine, die zu den Voraussetzungen der neuen Türkei zählte.“64 Auerbach war hingegen aus Dankbarkeit für seine Rettung nicht so weit gegangen, politisch eine Kontinuität zwischen dem Osmanischen Reich und der neuen türkischen Republik herzustellen. Aus sprachhistorischer Sicht führt Auerbach explizit die Sprachreform des Jahres 1928 an, die er mit einem Traditionsabbruch gleichsetzt, der vergleichbar ist mit dem von Benjamin im Erzähler-Essay hevorgehobenen Mnemosyne-Verlust, einem Phönomen, das sich auch in der orientalischen Erzähltradi-

60 Bereits im Istanbuler Kriegesverbrecherprozess wurde Talaat im Juli 1919 als einer der Hauptschuldigen in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Als Innenminister des Osmanischen Reiches hatte er die systematische Vernichtung der armenischen Minderheit (1915-1917) mittels der Spezialeinheit Teskilati Mahsusa organisiert. Im November 1918 gelang ihm durch deutsche militärische Hilfe in einem Unterseeboot die Flucht in den von deutschen Truppen besetzten Hafen Sewastopol, von wo er weiter nach Berlin reiste und aus dem Exil nationalistisch-islamische Ideen des Jungtürkentums verbreitete. Seine Überreste wurden 1943 durch Bemühung des deutschen Botschafters Franz v. Papen von Berlin nach Istanbul überführt und auf dem Freiheitshügel in einem pompösen Staatsakt beigesetzt. Vgl. Hosfeld, R. (2005): Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, 1. Aufl., Köln, S. 9, 26-31, 290-293 und S. 308. 61 Anderson, P. (2009): Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa, Berlin, S.°40. 62 Ebd., S. 40 f. 63 Ebd., S. 44. 64 Ebd., S. 46 f. 145

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tion der Scheherazade abzeichne.65 Zwar hatte die Sprachreform als standardisierende Sprachregelung allen Sprechern gleichen Zugang zur Sprache eröffnet, aber nur wenige behielten den Zugriff auf die osmanisch-persische Kulturüberlieferung. Der Anlass dieser Kritik ist geschichtlich mit dem übersteigerten Nationalismus im nachnapoleonischen Deutschland vergleichbar, in dem puristisch die Reinigung der deutschen Sprache von französischen und sonstigen Sprachelementen propagiert wurde. Im Zeitalter der „Heiligen Allianz“ entstand der romantische Begriff „Nationalliteratur“, gegen den Goethe durch seine Weltliteraturidee opponierte und Wilhelm v. Humboldt mit seiner energetisch-schöpferischen Sprachentwicklungstheorie protestierte. Auerbach deutet an, dass Atatürks „Anknüpfung an ein phantastisches Urtürkentum“, die sich auf die von ihm proklamierte Sonnensprachtheorie bezieht, wonach die Ursprache der Menschheit die türkische Sprache gewesen sei, der sachlichen Grundlage entbehre. Sie erfüllte lediglich die Funktion, die Gründung der modernen türkischen Nation durch einen Mythos zu legitimieren. Kontrastiv hatte Auerbach in seinem gerade erschienenen Aufsatz über Gimbattista Vicos Philosophie dargelegt, dass der Sprachursprung auf dem sensus cummunis (Gemeinsinn) und dem menschlich vielgestaltigen Tätigkeitskonzept beruhen.66 Auerbach hatte vermutlich diesen Aufsatz, der 1936 als Beitrag in der Festschrift für den katalanischen Gelehrten Antonio Rubió y Lluch (18561937) erschien, Benjamin als Sonderdruck nach Paris geschickt.67 Die im Brief verwendete Kategorie der „List der Vorsehung“, mit der Auerbach die „gegenwärtige Weltlage“ verständlich zu machen trachtet, setzt sich aus zwei Bedeutungen zusammen. Vico entwickelt in seinem verum et factum convertuntur-Axiom eine Identitätslehre, indem sich das Wahre mit dem Geschaffe-

65 Vgl. Benjamin, W. (1977e) a. a. O., S. 453. 66 Vgl. Auerbach, E. (1967): Giambattista Vico und die Idee der Philologie. In: Auerbach, E.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, München; Bern, S. 233-241. Auch der amerikanische Diplomat G. Howland Shaw (18931965), der von 1921 bis 1936 in der Türkei tätig gewesen war, hatte die Sprachreform aus nationalistischen Motiven erklärt: „The excluding of Arabic words from newspapers and books has been carried on to such an extent that even educated Turks are often at a loss to understand what the writer is trying to say. […] While the adoption of the new alphabet had behind it a practical purpose – the alphabet taking three months to learn and Arabic script five years – the move to expunge Arabic and Persian words cannot be explained by any other motive than extensive nationalism.“ Vgl. Shaw, G. H.: Turkish Language (April 1932). In: Shaw, G. H. (2009): The First Ten Years of the Turkish Republic Thru the Reports of American Diplomats. Prepared and Annotated by Rifat Bali, Istanbul, S. 37-42, hier: S. 38 f. 67 Im letzten an Benjamin überlieferten Brief heißt es: „Ich schicke gleichzeitig eine kleine Arbeit, deren Sonderdruck ich gerade erhalten habe.“ In: Barck, K. (1988) a. a. O, S. 694, (Auerbach an Benjamin: 28.1.1937). 146

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nen als kongruent erweist. Einerseits sei die Naturgeschichte durch den göttlichen Schöpfungsprozess entstanden, während andererseits die zweite Natur als historische Welt und als Produkt der menschlichen Handlungen und Taten aufzufassen ist.68 Alle Modifikationen und Entwicklungen, die den nicht gradlinigen Geschichtsverlauf bilden, drücken sich im sensus communis als Ausfluss des göttlichen Willens aus, der durch die einzelnen Individuen wirkt und alle Menschen und Völker „als geschichtliche Tatsache“69 miteinander verbindet. In Hegels Geschichtsphilosophie bezieht sich der Begriff der „List der Vernunft“70 auf die Metapher vom Schlachtaltar der Geschichte: Die partikularen und leidenschaftlichen Antriebe, Interessen und Tätigkeiten des Individuums werden dem höheren Fortschrittsverlangen der Menschheit geopfert. Bei dem Lutheraner Hegel bleibt die „List der Vernunft“ wie bei Vico an die göttliche Vernunft und den sensus communis als alles bewegende geschichtliche Kräfte geknüpft. Auerbach bildet aus beiden Bedeutungen die neue Kategorie von der „List der Vorsehung“. Sie bezeichnet den Nivellierungsprozess, der mit der türkischen Säkularisierung verbunden ist, die zugleich im Kontext der europäischen Gesamtentwicklung als standardisierende „Esperantokultur“ bezeichnet wird. Geschichtsphilosophisch ergeben sich durch Auerbachs Bezugnahme auf Vico und Hegel vielfache Bezüge zu Benjamins Spätwerk, die hier nicht im Einzelnen dargelegt werden können.71 Wesentlich ist, dass Benjamins Geschichtsvorstellung nicht die Idee des Historismus zugrunde liegt. Vielmehr bricht er das epische Erzählmoment auf, denn „die Universalgeschichte, wie sie seit dem vorigen Jahrhundert betrieben wurde, [kann] immer nur eine Sorte von Esperanto sein“72. Erkenntniskritisch geht es darum, „gesteigerte Anschauung mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden. […] Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten.“73 Dieses Arbeitsinstrument kon68 Vgl. Vico, Giambattista (1924): Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, München, S. 125. 69 Auerbach, E. (1967) a. a. O., S. 236. 70 Hegel, G. F. W. (1986): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Hegel, G. F. W.: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Bd 12., red. Moldenhauer, E. und Michel, K. M., Frankfurt/M, S. 49. 71 Ansatzweise habe ich dies an anderer Stelle versucht. Vgl. Vialon, M. (2006/2007): Neuere Benjamin-Lesarten und ihre Kritik. In: Jahrbuch der internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, 10./11. Jg., S. 83-103, hier: S. 91-98. 72 Benjamin, W. (1974a): Anmerkungen zu den Thesen über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, W. (1974b): Gesammelte Schriften, Bd. 1.3, S. 12231266, hier: S. 1240. 73 Benjamin, W. (1982c): Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd 5.1, S. 575. 147

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stituiert sich aus Goethes phänomenologischen Anschauungs- und Morphologiebegriff und dem dialektischen Verfahren, bei dem sich der untersuchte Gegenstand selbst verändert. Ob Benjamin die Esperanto-Kategorie aus Auerbachs Brief übernahm, um durch die Mittel der Dialektik die Pariser Passagen als einheitlich strukturierte Warenhäuser des 19. Jahrhunderts kenntlich zu machen, muss fraglich bleiben. Aber aus Auerbachs Perspektive beginnt die „Standardisierung der Erdkultur“74 in dieser Epoche und der Esperantobegriff wird mittelbar herangezogen, um die durch Goethes Weltliteraturbegriff genährte Befürchtung zu aktualisieren, dass nur noch „eine einzige literarische Kultur“75 als negativ mögliches Resultat kultureller Konzentrationsprozesse übrigbleibt. Auerbachs radikal historischer Relativismus, der im Unterschied zu Benjamins Geschichtsbegriff nicht eindeutig marxistisch unterlegt ist, konstituiert sich methodologisch aus einem konstruktivistisch-monadologischen Vorgehen. Bezogen auf Auerbachs Brief deutet die Randnotiz des Namens „Fuchs“ darauf hin, dass Benjamin die beschriebene Kehrseite der türkischen Modernisierungsphänomene und ihre Widersprüche in seine dialektische Geschichtskonstruktion eingearbeitet haben könnte. Einige Formulierungen und zentrale Kategorien, die er direkt nach Erhalt von Auerbachs Epistel in dem im Februar 1937 abgeschlossenen Fuchs-Essay zum Geschichtsbegriff (Vorgeschichte, Nachgeschichte, Konstellation, das Aufsprengen der geschichtlichen Kontinuität, Dokument der Barbarei) entwickelte,76 wurden fast wortwörtlich in die späteren Thesen Über den Begriff der Geschichte übernommen. Gleichfalls das Passagenwerk, das Auerbach bekannt war und das die kulturhistorische Entzifferung der europäischen Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts unternimmt, bezeugt den Gebrauch der induktiven Methode als literarisches Montageverfahren.77 Dieses Verfahren korrespondiert mit Auerbachs Herausgreifen eines Einzelphänomens wie der türkischen Sprachreform, der auf den Kopf gestellten Weltliteraturidee Goethes78 und den in Mimesis praktizierten Ansatzpunkt, die jeweilige Literaturepoche von kleinen, aber exemplarischen Symptomen her zu erfassen. Die Benjamin mitgeteilten Miniaturen zur Modernisierung Peras enthalten das orientalisch-europäische Spiegelbild zur städtebaulichen Veränderung von Paris, die durch Georges74 Auerbach, E. (1952): Philologie der Weltliteratur. In: Muschg, W.; Staiger, E. (1952): Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag, Bern, S. 3950, hier: S. 42. 75 Ebd., S. 39. 76 Vgl. Benjamin, W. (1937): Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 6. Jg., S. 346-381, hier: S. 347 f und S. 355. 77 Vgl. Benjamin, W. (1982c) a. a. O., S. 574. 78 Vgl. Grotz, S. (2008): Mimesis und Weltliteratur. Erich Auerbachs Abschied von einem Goetheschen Konzept. In: Bohnenkamp, A.; Martínez, M. (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit, Göttingen, S. 225-243, hier: S. 227. 148

VERDICHTETE GESCHICHTSERFAHRUNG

Eugenè Haussmanns zügellose Urbanisierung eingeleitet wurde. Was Auerbach und Benjamin gedanklich verbindet, ist ihre Fortschrittskritik, die nicht dem orthodoxen Fortschrittsverständnis des historischen Materialismus entspricht. Die Fortschrittvergötterung von Karl Marx und die vulgärmarxistische Auffassung des Arbeitsbegriffs der deutschen Sozialdemokratie, so urteilte Benjamin in seinen Geschichtsaphorismen, die zeitlich im Kontext der Moskauer Schauprozesse (1936-1938), der Lektüre von Auerbachs Briefen und dem Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt (23.8.1939) entstanden waren, weise „technokratische Züge auf, die später im Faschismus“79 zur Katastrophe führten. Benjamins antikapitalistische Modernitätskritik bezieht sich konkret auf die gigantische Kriegstreiberei der Nazis und die Konzentrationslager als industrieller Tötungsmaschinerien, die den technischen Fortschritt und dessen Logik der Ausbeutung als kapitalistische Spitze dieser historischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zentraleuropa dokumentieren. Hinzu kommt der Verrat staatssozialistischer Politik, der die Hoffnung auf ein effizientes Bollwerk gegen den Nationalsozialismus verdarb. Trotz der einseitigen Neutralitätspolitik der Türkei gegenüber dem Dritten Reich, die sich erst im August 1944 eindeutig gegen das Hitlersche Terrorsystem durch ihren Eintritt in das alliierte Bündnis erklärte, konnte Auerbach die Kriegszeit am südöstlichen Rand Europas relativ unbeschadet überstehen. Die abschließenden Worte, die er in seinem in Istanbul zwischen 1942 und 1945 entstandenen Hauptwerk Mimesis formulierte, sind als Eingedenken an seine alten Freunde zu verstehen: „Möge meine Untersuchung ihre Leser erreichen; sowohl meine überlebenden Freunde von einst wie auch alle anderen, für die sie bestimmt ist; und dazu beitragen, diejenigen wieder zusammenzuführen, die die Liebe zu unserer abendländischen Geschichte ohne Trübung bewahrt haben.“80 Walter Benjamin wäre der ideale Mimesis-Leser gewesen. Er hätte wohl die wechselseitigen Gespräche erinnert und in Erich Auerbachs monadologischer und figuraler Interpretationsmethodik teils die eigene marxistische Geschichtsphilosophie und ihre jüdisch-messianischen Impulse wiedererkannt.

79 Benjamin, W. (2006): Thesen über den Begriff der Geschichte [Hannah-ArendtManuskript, 1940]. In: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, hg. v. Schöttker, D.; Wizisla, E., Frankfurt/M., S. 99-119, hier: S. 109. 80 Auerbach, E. (1946): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, S. 498. 149

Zur Aktualität von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ ULRICH RUSCHIG 1923 veröffentlichte Georg Lukács im Malik-Verlag unter dem Titel „Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik“ eine Sammlung von Aufsätzen. Sympathisanten und Gegner erkannten sofort das umwerfend Neue des Buches – in einer Zeit der Revolution. Lukács selbst hatte einen Bildungsprozess von einem bürgerlichen Intellektuellen (Weber, Simmel) zu einem Kommunisten durchlaufen1, einen Bildungsprozess, der durch umwälzende politische Ereignisse katalysiert wurde – die Katastrophe des Ersten Weltkriegs; der politisch-moralische Bankrott der Sozialdemokratie, die, durch und durch patriotisch gesinnt, die Staatsführer unterstützt hatte, als diese die Arbeiter Europas aufeinander zu schießen befahlen; die Oktoberrevolution; das Scheitern der sich an die Oktoberrevolution anschließenden revolutionären Prozesse in den industrialisierten Staaten Europas. Was in dem Lukács’schen Buch aufschien – vor dem Hintergrund tiefgreifender Umwälzungen und gleichzeitig aufkeimender Hoffnungen auf Emanzipation – wurde als ‚ultralinks‘ etikettiert, damit eingeordnet und zugleich auch ausgegrenzt, löste Disziplinierungen aus bis dazu, dass er selbst – 1934 – widerrief2, sich aus den Fraktionskämpfen zurückzog und dann über Gegenstände der Ästhetik arbeitete.

1 2

Vgl. Grunenberg, A. (1976): Bürger und Revolutionär. Georg Lukács 19181928, Köln; Frankfurt/M. Die Wendung von Lukács am Ende der 20er Jahre, als er, dokumentiert in einem bestürzenden Text (dokumentiert in Cerutti, F.; Claussen, D.; Krahl, H.-J. u. a. (Hg.) (1971): Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Amsterdam, S. 253 ff.), die umwälzenden Erkenntnisse von Geschichte und Klassenbewußtsein zurücknimmt, ist Beleg für die These, dass der Impuls für Schriften wie Geschichte und Klassenbewußtsein aus umwälzenden Zeitläuften entstammt und dass, wenn dieser Impuls erlischt, Theoretiker als anpassungsfähig sich erweisen. 151

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Über 40 Jahre blieb Geschichte und Klassenbewußtsein ein verschüttetes Buch3. Mit der Studentenrevolte erlebte es eine Renaissance – wie um zu bestätigen, dass, wenn die Zeitläufte die Vorstellung einer Fortsetzung der Oktoberrevolution erwachen lassen, auch die theoretische Formulierung einer im Subjekt gründenden Emanzipation ganz aktuell und auf einmal vernünftig erscheint. Und wiederum, wie in den 20er Jahren, reagierten die vermeintlich Marx-getreuen und den Fortschritt der Arbeiterbewegung verwaltenden Kommunistischen Parteien mit dem Etikett ‚linksradikal‘4. Der LukácsRenaissance von 1968 erging es ähnlich wie der Begeisterung um das Buch, als es erschien. Kaum dass die Revolutionshoffnungen verschwunden waren, verschwand das Buch5. Heute sind wiederum 40 Jahre verstrichen, und das Buch ist so gut wie verschüttet6. Was ist der Gehalt von Geschichte und Klassenbewußtsein? Ist das Buch ein mit den revolutionären Zeiten verfliegendes Epiphänomen derselbigen, welches in nicht-revolutionären Zeiten keine Geltung mehr beanspruchen kann? Wenn Geschichte und Klassenbewußtsein das Klassenbewusstsein als durch die Geschichte bestimmt sieht und Geschichte nicht historistisch fasst, sondern den Umschlagspunkt erkennen will, an dem gerade durch das Klassenbewusstsein das Ausgeliefert-Sein an einen objektiven Geschichtsverlauf beendet wird, dann stellt sich – reflexiv – die Frage, in welchem Verhältnis Geschichte und Klassenbewußtsein seinerseits zu den historischen Ereig-

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Tieferliegende und zugleich bis zur Unkenntlichkeit getarnte Wirkungen wie die auf Heideggers Sein und Zeit resp. die auf einen Heidegger-Marxisten wie Marcuse sollen hier nicht behandelt werden. Über die theoretische Einordnung und Ausgrenzung von Lukács aus dem, was als marxistische Position durchgeht, gibt eine von Ahrweiler abgedruckte Diskussion Auskunft (Ahrweiler, G. (1978): Betr.: Lukács. Dialektik zwischen Idealismus und Proletariat, Köln). Brisant an Lukács sei, dass in der Diskussion über ihn „sich die gesellschaftlich aufzeigbaren Fronten“ zwischen Marxismus und nicht-marxistischen Ansätzen verwischen und damit „die klare Trennung zwischen Idealismus und Materialismus nicht mehr luzid“ erscheine (Ebd., S. 23). „Wir sollten […] nicht vergessen, daß diese Mischung von positiven und negativen Elementen (von marxistischen und revisionistischen, materialistischen und idealistischen usw.) dialektisch etwas hervorbringen muß, was für uns Marxisten nur negativ sein kann. So war es bei Bruno Bauer und Max Adler, so auch (obgleich in viel geringerem Maße) bei Rosa Luxemburg. Ich würde es so formulieren: der Marxismus als Theorie muß lupenrein und echt sein, sonst ist er eine Fälschung seiner selbst. Lukács ist zweifellos ein wichtiger Denker, der punktuell Großes geleistet hat und von dem man vieles lernen kann; im großen und ganzen aber ist sein Werk ein gefährliches, revisionistisches Werk“ (Ebd., S. 24). Lukács fehle schlicht „die materialistische Komponente“. Warum? „[…] weil er idealistisch ist und bleibt“. (Ebd., S.24). Derzeit ist Geschichte und Klassenbewußtsein nur antiquarisch erhältlich. Eine Dissertation wie die in Anmerkung 1 zitierte fände heute schwerlich Gutachter.

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ZUR AKTUALITÄT VON „GESCHICHTE UND KLASSENBEWUSSTSEIN“

nissen steht, zu denjenigen, während derer Lukács das Buch schrieb, und zu denjenigen, während derer Lukács’ Gedanken – kometenhaft – eine Renaissance erlebten.

I.

Marxismus und Philosophie

Der Gehalt von Geschichte und Klassenbewußtsein liegt – pauschal gesagt – darin, dass das Verhältnis der Marxschen Theorie zum Deutschen Idealismus erinnert, gegen die Deformation durch die Sozialdemokratie wiederhergestellt und – bezogen auf die Oktoberrevolution – lebendig und produktiv gemacht wurde. Für Lukács geht es bei der Wiederherstellung des Verhältnisses von Marx und Hegel weniger um die innerhalb der Geschichte der Philosophie gebotene Rekonstruktion der Begriffsentwicklung, als vielmehr um die für das Klassenbewusstsein der Arbeiter entscheidende Klärung, was überhaupt Kapitalismus und wie angesichts der durch ihn ausgelösten Katastrophen Emanzipation zu organisieren sei. Im Vorwort zu Geschichte und Klassenbewußtsein betont Lukács, „daß es heute [in den revolutionären Zeiten unmittelbar nach der Oktoberrevolution, U. R.] auch praktisch wichtig ist, […] zu den Traditionen der Marxinterpretation von Engels, der ‚die deutsche Arbeiterbewegung‘ als die ‚Erbin der deutschen klassischen Philosophie‘ betrachtet hat, […] zurückzukehren; daß alle guten Marxisten – nach dem Worte von Lenin – ‚eine Art Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik‘ bilden sollten“7. Damit greift Lukács auf die Frühschriften von Marx zurück8. Er bekämpft – in praktisch-politischer Absicht – die neukantianische (und in der Folge positivistische) Erkenntnistheorie, wendet sich gegen die Abbildtheorie des Erkennens, kritisiert die Ontologisierung dessen, was als materialistische Dialektik ausgegeben wurde9. Wiederherstellung des Verhältnisses der Marxschen Theorie zur Philosophie des Deutschen Idealismus versteht Lukács ganz im Sinne von Marx: „Mit Recht fordert daher die praktische Partei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehenbleiben bei der Forderung […]. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt […]. Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem 7 8 9

Lukács, G. (1967): Geschichte und Klassenbewußtsein, Amsterdam, S. 9. 1923 kannte Lukács die Pariser Manuskripte noch gar nicht. Es ist kein Zufall, dass diese zu Anfang der 30er Jahre ‚entdeckt‘ wurden. Schon bei den drei dialektischen Grundgesetzen von Engels handelt es sich um eine Ontologisierung. 153

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Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen“10. Lukács wurde vorgeworfen, die Wiederherstellung des Verhältnisses der Marxschen Theorie zur Hegelschen Philosophie bedeute die Wiederherstellung des Hegelschen Systems, so wie es mit dem Jahre 1831 vorgelegen haben mag (wiewohl ganz Hegel-immanent zu bezweifeln ist, ob überhaupt jemals ein geschlossenes, in sich konsistentes oder widerspruchsfreies System vorlag). Als solches ist es nicht wiederzubeleben oder gar neu zu konstruieren. Vielmehr nimmt die Marxsche Theorie in entwickelnder Weise Hegel auf, sei es der frühe Marx der Deutsch-Französischen Jahrbücher von 1844 oder sei es der späte Marx, der gegen den auch in die Arbeiterbewegung einsickernden Positivismus Hegel zum wiederholten Male verteidigt und neu rezipiert. „Wenn also Hegel nicht mehr als ‚toter Hund‘ behandelt werden soll, so muß die – tote – Architektur des historisch vorliegenden Systems zerschlagen werden, damit die noch höchst aktuellen Tendenzen seines Denkens wieder wirksam und lebendig werden können“11. Mutatis mutandis gilt das gerade Ausgeführte auch für das Verhältnis der Marxschen Theorie zu Kant, wobei hier verschärfend hinzukommt, dass, wenn überhaupt ein Zusammenhang der Marxschen Theorie mit der klassischen deutschen Philosophie erwogen wurde, Kant sofort in einen äußerlichen Gegensatz zu Hegel gebracht und die Marxsche Theorie vor die als ausschließend definierte Alternative Kant oder Hegel gestellt wurde. Wer Kant – man unterschied der Einfachheit halber nicht zwischen Neukantianismus und Kant – zugeordnet wurde (Otto Bauer, Max Adler u. a.), galt als ‚rechts‘, ‚revisionistisch‘ und ‚bürgerlich-idealistisch‘, wer Hegel zugeordnet wurde (Karl Korsch, Georg Lukács u. a.), als ‚ultralinks‘ und – der abschätzige Terminus taugte für Entgegengesetztes – gleichfalls ‚bürgerlich-idealistisch‘. Für die Kantschen Begriffe (zumindest für seine Praktische Philosophie und die Rechtsphilosophie) gilt – ganz analog wie im Hegelschen Fall –, dass, werden sie außerhalb des In-Beziehung-Setzens zur Kritik der Politischen Ökonomie und damit isoliert genommen, sie eben falsch werden und bestenfalls als tote Architektur im Philosophie-Museum zu bestaunen sind. Werden sie hingegen als Bildungsmomente (welche isoliert genommen immer falsch sind) für die Marxsche Theorie verstanden, gewinnen sie aktuelle Wirklichkeit gerade durch ihre (kritische) Aufhebung. Ohne diese Bildungsmomente zerfällt die Marxsche Theorie zu einem am Wissenschaftsmodell der Naturwissenschaf-

10 Marx, K. (1956): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx, K.; Engels, F.: Werke 1, S. 384. 11 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 10. 154

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ten orientierten Szientismus, der ihre philosophischen Quellen negiert und damit den entscheidenden Punkt bei Marx verpasst12. An Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein ist demonstrierbar, dass die Wiederherstellung des Verhältnisses der Marxschen Theorie zu ihren philosophischen Bildungselementen weniger einem immanenten, die Begriffsgeschichte aufdeckenden philosophisch-philologischen Impuls sich verdankt, sondern vielmehr einer geschichtlichen Umbruchszeit und der Reflexion auf dieselbe, welche Reflexion ohne die Begriffe des Deutschen Idealismus scheiterte. Der Szientismus der Zweiten Internationale bewies seine (praktische) Wahrheit, als die Sozialdemokratie 1914 den Kriegskrediten zustimmte – im patriotischen Gleichklang mit den ansonsten die reine Wissenschaft feiernden Professoren der Berliner Humboldt-Universität. Der Applaus für Deutschlands Weltkriegseinsatz einte Sozialdemokratie und akademische Wissenschaft. Dagegen opponierte Lukács. Der in den Schützengräben entstandene revolutionäre Impuls – ‚Wir Arbeiter schießen nicht mehr aufeinander, sondern drehen die Gewehre gegen unsere Ausbeuter um‘ – sollte sich, so Lukács, gegen die praktisch gewordene Einheit von Sozialdemokratie und Professoren richten. Die revolutionäre Tat verband sich (oder: sollte sich verbinden) mit der Wiederentdeckung der idealistischen Wurzeln der Marxschen Theorie.

12 Der Philosophie den Rücken kehren und abgewandten Hauptes einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmeln – dies trifft auf die strukturalistische, die moralischen Implikationen der Kritik der Politischen Ökonomie ausblendene Marxlektüre M. Heinrichs zu (Heinrich, M. (2006): Die Wissenschaft vom Wert, Münster, S. 372ff.). Marx wird dort in allererster Linie als Wissenschaftler verstanden – versehen mit dem Zusatz ‚materialistisch‘. Einen antiphilosophischen Affekt bedienend grenzt Heinrich gegen den ‚WeltanschauungsMarxismus‘ (ein andermal: ‚Arbeiterbewegungs-Marxismus‘) dasjenige ab, was er aus den Marxschen Texten zuallererst konstruieren will: den echten, reinen Wissenschaftler, der wahre Aussagen über Sachverhalte macht, an denen er selbst nicht beteiligt sei. Wissenschaft versus Weltanschauung, auf keinen Fall die Wissenschaft durch einen (parteilichen) Klassenstandpunkt verunreinigen oder gar auf das Proletariat oder die Arbeiterbewegung beziehen – so bringt man sogar Marx ins Museum, als von subjektiven Momenten befreite tote Architektur. Wie eine Veralberung von Lukács klingt, wenn Heinrich süffisant als „populäres Argument des weltanschaulichen Marxismus“ anführt: „dass es nämlich ein soziales Subjekt gäbe (die Arbeiterklasse), das aufgrund seiner besonderen Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft über eine besondere Fähigkeit zum Durchschauen der gesellschaftlichen Verhältnisse verfügen würde“ (Heinrich, M. (2004): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart, S. 76). 155

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II.

Idealismus und Emanzipation

Im Zentrum von Geschichte und Klassenbewußtsein steht der Begriff des Selbstbewusstseins. Durch Reflexion des Selbstbewusstseins auf seine Verdinglichung im Kapitalismus könne dieses Selbstbewusstsein sich befreien. In dem „Primat von Emanzipationskategorien […], der sich aus der Rekonstruktion des Verhältnisses des Marxismus zur Philosophie, wie das bei Lukács und Korsch der Fall ist, ergibt“13, lag die politische Sprengkraft des Buches. Der gegen Lukács von seinen parteiinternen Gegnern erhobene Vorwurf des ‚Idealismus‘ traf den Kern. Bei den Gegnern war – ohne weitere Begründung – ‚Idealismus‘ verknüpft mit ‚bürgerlich‘, ‚Klassenfeind‘ und ‚revisionistisch‘. Dass ein philosophisches Konzept, das Ideelles betont, heftigen Streit unter Materialisten erzeugte, mochte für Außenstehende verwunderlich sein. Indes – das Eindreschen auf Lukács’ Idealismus bedeutete in Wahrheit die politische Abwehr von letztlich materialistisch verstandenen Emanzipationsbestrebungen14. Lukács kritisiert an der bisherigen Erkenntnistheorie die Scheidung des in der Theorie kontemplativ sich verhaltenden Subjekts von dem jenseits des Subjekts schlicht daseienden Objekt, von dem dann die Erkenntnistheorie behauptet, es werde von dem Subjekt abgebildet – die Theorie des Objekts sei dessen Abbild im Subjekt15. Lukács setzt dem theoretischkontemplativen Verhalten des Subjekts die Praxis, die gegenständliche Tätigkeit eines das Objekt bearbeitenden Menschen, entgegen und behauptet, die Vorstellung, das Subjekt müsse sich in der Theorie kontemplativ verhalten, sei der verdinglichten Struktur des Bewusstseins geschuldet16. Diese Verdinglichung gründe im Kapitalismus und sei dessen Grundübel. Dass Lukács bezogen auf die Naturwissenschaften irrt17 – durch experimentelle Arbeit werden reproduzierbare Zusammenhänge als aus dem Natur-Gesamtzusammenhang isolierte erst hergestellt –, soll hier nicht ausgeführt werden. Lukács geht es bei seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen, wiewohl er dummerweise verallgemeinert, um die zweite Natur und deren Erkenntnis. Dort greift er ein an dem naturwissenschaftlichen Modell orientiertes Erkennen an: Gesellschaftliche Zusammenhänge seien nicht isolierte, von störenden Einflüssen befreite und vor allem vom ‚Beobachter‘ isolierte ‚Zusammenhänge‘; das Gesetz der Gesellschaft sei nicht kontemplativ zu gewinnen und nicht hinzuneh13 Cerutti, F. u. a. (Hg.) (1971) a. a. O., S. 8 (Hans-Jürgen Krahl). 14 Vgl. dazu die frühen Rezensionen (abgedruckt bei Cerutti u. a., s. die vorige Anmerkung) von Deborin und Rudas, die ‚Idealismus‘ als nicht weiter zu erläuterndes, weil sich selbst erklärendes Schimpfwort verwenden – woraus für jeden klipp und klar sich ergebe: Wir (= die Anti-Idealisten) sind die Materialisten! Das ist in den 70er Jahren nicht anders. 15 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 122 ff., 135, 139, 145 u. passim. 16 Ebd., S. 122. 17 Ebd., S. 139, 146. 156

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men wie ein Naturgesetz. Gegen die fälschliche theoretisch-strukturelle Gleichsetzung von erster und zweiter Natur richtet sich Lukács’ emanzipatorischer Impuls. Lukács’ Erkenntniskritik zielt auf die “verdinglichte Struktur des Bewußtseins”18. Diese Verdinglichung gründe in einer durch den Kapitalismus hervorgebrachten objektiven Verkehrung: Die gesellschaftliche Wirklichkeit, mit der die Menschen ganz empirisch zu tun haben, ist eine, die sie selber produzierten (oder die durch sie selbst konstituiert ist). Doch die Produzenten und ihre Verhältnisse untereinander erscheinen nicht als das, was sie sind, nämlich als lebendige Arbeit von dem Anspruch nach freien, miteinander kooperierenden Subjekten, sondern als Verhältnisse von Dingen. Und diese Dinge, weit entfernt davon, normale Dinge zu sein, bekommen eine gesellschaftliche Natureigenschaft aufgeprägt, durch welche sie Macht über die produzierenden Menschen gewinnen. Mithin sind jene Dinge – die objektiven Produktionsbedingungen – in merkwürdiger Weise begeistet oder subjektiviert. Sie sind zum eigentlichen, nämlich gesellschaftlich herrschenden Subjekt geworden, das die Menschen gewaltsam in zu beherrschende Sachen verwandelt19. Für Lukács ist der von Marx begriffene Fetischcharakter der Ware der Schlüssel zum historischen Materialismus, zur Kritik einer kontemplativen Erkenntnistheorie und zur „Aufdeckung der durch die Zweite Internationale verschütteten emanzipativen Subjektivitätsdimension des Marxismus“20. „Es ist oft – und mit einem gewissen Recht – hervorgehoben worden, daß das berühmte Kapitel der Hegelschen Logik über Sein, Nichtsein und Werden die ganze Philosophie Hegels enthält. Man könnte – vielleicht mit ebensoviel Recht – sagen, daß das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware den ganzen historischen Materialismus, die ganze Selbsterkenntnis des Proletariats als Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft (und die der früheren Gesellschaften als Stufen zu ihr) in sich verbirgt“21. Die Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft sei nicht geschieden (oder abtrennbar) von der Selbsterkenntnis des Proletariats (und umgekehrt). Es sei gerade nicht so, dass eine Erkenntnis der Gesellschaft durch wie auch immer kluge, jedoch sich selbst als die erkennenden Subjekte von dem zu Erkennenden isolierende Wissenschaftler zustande käme. Für die Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft sei die Selbsterkenntnis des Proletariats konstitutiv. Ohne die am leidenden Subjekt (dem Leiden des Subjekts) anknüpfende (Selbst-)Erkenntnis resultiere ein verdinglichtes Bewusstsein (modern: eine 18 Ebd., S. 122. 19 Vgl. Marx, K. (1969): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin, S. 85 f. 20 Cerutti, F. (Hg.) (1971): Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Amsterdam, S. 18 (Hans-Jürgen Krahl). 21 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 186. 157

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strukturalistische Marxlektüre), wobei dann das schwierige Problem auftauche, wie das Proletariat die objektiven Erkenntnisse jener Wissenschaftler dann sich zu eigen machen könne, wo ihm doch erstens deren Bildung und Muße fehlen und zweitens diese Erkenntnisse genauso äußerlich seien wie die Erkenntnisse der von ihm getrennten Sachverhalte (z. B.: fallende Steine, Elektronen oder Wiesenschaumkräuter). Gegen die Abtrennung des Subjekts des Erkennens vom erkannten Sachverhalt setzt Lukács: „[…] im gesellschaftlichen Sein des Proletariats [gemeint: die lebendige Arbeit hat die Form von dem Kapital unterworfener Lohnarbeit; U. R.] tritt der dialektische Charakter des Geschichtsprozesses […] unabweisbarer zu Tage“22. Für dieses „gesellschaftliche Sein“ des Proletariats gebe es keine äußerliche Scheidung von Subjekt und Objekt. „Die Quantifizierung der Gegenstände, ihr Bestimmtsein von abstrakten Reflexionskategorien kommt im Leben des Arbeiters unmittelbar als ein Abstraktionsprozeß zum Vorschein, der an ihm selbst vollzogen wird, der seine Arbeitskraft von ihm abtrennt und ihn dazu nötigt, diese als eine ihm gehörende Ware zu verkaufen. Und indem er diese seine einzige Ware verkauft, fügt er sie (und da seine Ware von seiner physischen Person unabtrennbar ist: sich selbst) in einen mechanisch-rationell gemachten Teilprozeß ein, den er unmittelbar fertig, abgeschlossen und auch ohne ihn funktionierend vorfindet, worin er als eine rein auf abstrakte Quantität reduzierte Nummer, als ein mechanisiertes und rationalisiertes Detailwerkzeug eingefügt ist“23. Da der Arbeiter seine Arbeitskraft – als Objekt des Kapitals – nicht am Fabriktor abgeben und, während das Kapital seine Arbeit nutzt, sich als kontemplativer Beobachter zu dem Prozess der reellen Subsumtion seiner Arbeit verhalten kann, fällt die Spaltung zwischen der lebendigen Tätigkeit – der Arbeit, die das Kapital überhaupt erst produziert – und dem Wert der vergegenständlichten lebendigen Arbeit, in ein und denselben Menschen. „Er ist deshalb gezwungen, sein Zurwarewerden, sein Auf-reine-Quantität-Reduziertsein [genauer: auf einen Wert reduziert zu sein, welcher nur als Quantum zählt; U. R.] als Objekt des Prozesses zu erleiden“24. Das Leiden an dieser Zerrissenheit des Subjekts, der Zerrissenheit durch den objektiven Wert, der das ihn Produzierende, die lebendige Subjektivität, unterwirft und zu ständigem Überschuss über das Quantum seines Einsatzes zwingt (zum Mehrwert), ist der Impuls, der auf das Bewusstwerden der Zerrissenheit drängt. Aus diesem Impuls heraus entwickle sich Selbstbewusstsein – und der Theoretiker, der die Konzeption der Entwicklung des Selbst-

22 Ebd., S. 181. 23 Ebd., S. 182. 24 Ebd. 158

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bewusstseins25 aufschreibt, verdanke sein Erkennen diesem Impuls. Theoretischer Ausgangspunkt für die Entwicklung des Selbstbewusstseins ist nicht die äußerliche Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt im Erkennen (die ihrerseits für Lukács schon Resultat von Verdinglichung ist), sondern die in sich widersprüchliche Einheit des Lohnarbeiters. „Der dem Kapital als dem gesetzten Tauschwert gegenüberstehende Gebrauchswert ist die Arbeit. Das Kapital tauscht sich aus, oder ist in dieser Bestimmtheit nur in Beziehung auf das Nicht-Kapital, die Negation des Kapitals, in bezug auf welche es allein Kapital ist; das wirkliche Nicht-Kapital ist die Arbeit“26. Dieses wirkliche Nicht-Kapital ist in Wahrheit (wenn ‚Wahrheit‘ die Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet) aber variables Kapital, bestimmt durch einen zum automatischen Subjekt verwandelten prozessierenden Wert, der die lebendige Subjektivität verschärfend darunter zwingt, was diese nicht ist, und der nur in diesem Verhältnis überhaupt sein kann. „Hier [mit der Lohnarbeit; U. R.] zeigen sich jene Momente, die das gesellschaftliche Sein des Arbeiters [Sein oder Nichtsein des Arbeiters hängen von der Benutzung durch das Kapital ab, davon, ob der Arbeiter variables Kapital sein kann; U. R.] und seine Bewußtseinsformen dialektisch machen und dadurch über die bloße Unmittelbarkeit hinaustreiben“27. „Sein unmittelbares Sein [gemeint ist die erzeugte ‚gesellschaftliche Natureigenschaft‘, die den Arbeiter als eingekaufte Arbeitskraft – bestimmter und näher an den Erscheinungen: als Lohnkosten – darstellt; U. R.] stellt ihn […] als reines und bloßes Objekt in den Produktionsprozeß ein. Indem sich diese Unmittelbarkeit als Folge von mannigfaltigen Vermittlungen erweist [hier liegt der Anknüpfungspunkt für die Entwicklung des Selbstbewusstseins: Der Wert, der den Arbeiter ankauft, ist Resultat der Verausgabung von lebendiger Arbeit unter dem sich verwertenden Wert; die als unmittelbar erscheinende Macht des Kapitals ist in Wahrheit in der Vergangenheit akkumulierter Mehrwert; U. R.], indem es klar zu werden beginnt, was alles diese Unmittelbarkeit voraussetzt, beginnen die fetischistischen Formen der Warenstruktur zu zerfallen: der Arbeiter erkennt sich selbst und seine eigenen Beziehungen zum Kapital in der Ware“28. Eine so bestimmte Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware – „das Selbstbewußtsein der Ware“29 – unterscheidet sich vom theoretisch-kontemplativen Typus des Erkennens; sie ist praktisch: Sie „vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am

25 Für Lukács ist die (ja in philosophischen Termini gefasste) Entwicklung des Selbstbewusstseins eingebettet in die Befreiung der Arbeiterklasse; vgl. dazu den Aufsatz „Methodisches zur Organisationsfrage“. 26 Marx, K. (1974): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858, Berlin, S. 185. 27 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 184. 28 Ebd., S. 185. 29 Ebd. 159

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Objekt ihrer Erkenntnis“30. Das Objekt des Erkennens – die Lohnarbeit – ist nicht isolierbar gegen das Subjekt des Erkennens, den auf seine objektive Beziehung zum Kapital reflektierenden Lohnarbeiter. „Der objektive Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ihr ‚Gebrauchswert‘ (ihre Fähigkeit, ein Mehrprodukt zu liefern) [dem liegt Kausalität aus Freiheit zugrunde; Kausalität aus Freiheit ist prinzipiell keine Erscheinung (kein unmittelbar gegebenes Objekt) und ist dasjenige, was dialektisch der Kausalität nach Gesetzen der Natur entgegengesetzt ist; U. R.], der wie jeder Gebrauchswert in den quantitativen Tauschkategorien des Kapitalismus spurlos untertaucht, erwacht in diesem Bewußtsein, durch dieses Bewußtsein [der Verkehrung der Kausalität aus Freiheit = das Bewußtsein der Entfremdung] zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ohne dieses Bewußtsein ein unerkanntes Triebrad der ökonomischen Entwicklung [Arbeiter sind zu senkende Lohnkosten; U. R.], objektiviert sich selbst durch dieses Bewußtsein [gemeint: hebt die in der Entfremdung manifestierte Verkehrung der Kausalität aus Freiheit auf; U. R.]. Indem aber die spezifische Gegenständlichkeit dieser Warenart, daß sie unter dinglicher Hülle eine Beziehung zwischen Menschen, unter der quantifizierten Kruste ein qualitativer, lebendiger Kern ist [gemeint: Die Produktivkraft der Arbeit erscheint als Produktivkraft des Kapitals31; „dem Arbeiter gegenüber wird […] die Produktivität seiner Arbeit eine fremde Macht, überhaupt seine Arbeit, soweit sie nicht Vermögen, sondern Bewegung, wirkliche Arbeit ist”32; U. R.], zum Vorschein kommt, kann der auf die Arbeitskraft als Ware fundierte Fetischcharakter einer jeden Ware [der Fetischcharakter der Ware schlechthin gründet in dem Fetischcharakter der Ware Arbeitskraft – analog dazu, daß abstrakte Arbeit nur deswegen zu Wert gerinnt, weil der akkumulierte Mehrwert die Verausgabung lebendiger Arbeit beherrscht; U. R.] enthüllt werden: in jeder tritt ihr Kern, die Beziehung zwischen Menschen als Faktor in die gesellschaftliche Entwicklung ein“33 – allerdings in entfremdeter Gestalt – als Produktivkraft des Kapitals – und damit in einer diesen qualitativen, lebendigen Kern zerstörenden Weise. Die Aufklärung des Lohnarbeiters über sein „gesellschaftliches Sein“ – von diesem „Sein“ ist sein empirisches Dasein abhängig; der Lohnarbeiter ist nur, wenn seine Produktivität, die Verausgabung seiner Subjektivität, als fremde, objektive Macht ihn beherrscht – unterscheidet sich nach Lukács von dem möglichen Sich-Erkennen eines antiken Sklaven: Wenn dieser „zur Erkenntnis seines Selbst als Sklaven gelangt“34, bleibt es bei der „struktiven Un30 31 32 33 34

Ebd. Vgl. Marx, K. (1969) a. a. O., S. 353, 381, 386, 407. Marx, K. (1974) a. a. O., S. 214. Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 185 f. Ebd., S. 185.

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berührtheit“ des zu Erkennenden, des objektiven Sklavendaseins (der Sklave ist als instrumentum vocale bestimmt, ist wie eine Sache Eigentum des Sklavenhalters), vom erkennenden Subjekt. Dieses gesellschaftliche Sein ist nicht Resultat einer Vermittlung, nicht Resultat einer Verkehrung der subjektiven Potenzen des Erkennenden. Der erkennende Sklave kann zufällig zu dieser Erkenntnis kommen (oder eben auch nicht); sein Erkennen unterscheidet sich nicht von dem des ‚Freien‘, wenn dieser das Sklaven‚ding‘ erkennt. Die Selbsterkenntnis des Sklaven ist nicht qua innerer Widersprüchlichkeit des Sklaven‚seins‘ gesetzt (ist nicht angestoßen durch das entfremdete Sein und die der Entfremdung zugrunde liegende Verkehrung); das Erkennen dieses Sklaven‚seins‘ hat nicht eo ipso die Potenz der Auflösung einer fremden, objektiven Macht.

III. Geschichte und Emanzipation Mit der Wiederherstellung des Verhältnisses des Marxismus zur Philosophie ist ein gegenüber der Zweiten Internationale veränderter Begriff von Geschichte verknüpft35. Gegen den Historismus, gegen die Unterstellung eines die historischen Ereignisse in ihrer Abfolge determinierenden Zusammenhangs, gegen das passive Sich-Überlassen an einen als objektiv hypostasierten Gang der Ereignisse, an welchen das Subjekt grundsätzlich nicht heranreiche, setzt Lukács die Dialektik von Subjekt und Objekt: Indem das entfremdete „gesellschaftliche Sein“ als Verkehrung menschlicher Subjektivität erkannt wird, zergehe der Fetischcharakter und mit ihm die Herrschaft der wirklich gewordenen Abstraktion ‚abstrakte Arbeit‘. Solcherart Erkennen ist Ausgangspunkt und Grundlage für das Erkennen der Geschichte: Diese kann – als Geschichte – nur von der Jetzt-Zeit aus (in Lukács’ Fall: der Zeit unmittelbar anschließend an die Oktoberrevolution) erkannt werden. Vom entwickelten Begriff der bürgerlichen Geschichte (einem Resultat der Geschichte) her36 – Lukács: dem Begriff der Entfremdung menschlicher Subjektivität durch deren Verkehrung zu Wert und Mehrwert – werden die historischen Ereignisse be35 Dieser veränderte Begriff hat mit Hegel zu tun, und zwar letztlich mit Hegels Bestimmung der Entwicklung des Begriffs in der Wissenschaft der Logik: Dort ist das Vorwärtsgehen Rückgang in den Grund und das rückwärtsgehende Erschließen des Grundes Entwicklung dieses Grundes als Resultat (vgl. Hegel, G. W. F. (1984): Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein, Hamburg, S. 57 f.). 36 Cerutti, F. (Hg.) (1971) a. a. O., S. 12 (Alfred Schmidt). Wie das zu denken sei, nämlich vom entwickelten Begriff her dessen Entwicklung zu diesem Resultat zu bestimmen, dies erläutert Marx an folgendem Modell: In der Anatomie des Menschen liege der Schlüssel für die Erklärung der Anatomie des Affen und nicht umgekehrt (vgl. Marx, K. (1974) a. a. O., S. 26). 161

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trachtet – als vergangene, zu überwindende Stufen der Entwicklung der Menschheit. Was historische Ereignisse sind, ist demnach nicht zu trennen von der Selbsterkenntnis dessen, der diese Ereignisse als historische erkennt und bestimmt. Die Gegenwart, vermittelt durch diesen Blick auf die vergangene Geschichte und durch diese selbst, wird dann begriffen als zu gestaltende Geschichte: Angesichts einer Vergangenheit, in welcher der Kapitalismus unablässig Trümmer auf Trümmer zu einer einzigen Katastrophe häuft und diese Trümmer den (uns) Gegenwärtigen vor die Füße schleudert37, heißt Gestaltung von Geschichte: Menschliche Subjektivität muss durch Aufhebung der Entfremdung wiedergewonnen werden! Hier gibt es Berührungspunkte zu Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte. Der Auffassung des Historismus, Geschichte sei ein „eine homogene und leere Zeit durchlaufender Fortgang“38, ist nach Benjamin entgegenzusetzen, dass Geschichte „Gegenstand einer Konstruktion [ist; U. R.], deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet“39. Das Kontinuum der Geschichte, also die entfremdeten und versteinerten Verhältnisse, seien aufzusprengen – bei Lukács durch die Anstrengung des Begriffs (und dabei steht der Begriff der Totalität im Zentrum). Für Benjamin wie für Lukács ist die Erfahrung der Katastrophe (die Ahnung, es könnten die letzten Tage der Menschheit gewesen sein, wenn nicht das „gesellschaftliche Sein“ grundlegend umgestürzt werde) Impuls für den dialektischen Sprung in das Reich der Freiheit. In diesem Kontext steht, dass Lukács jegliche Erstarrung der „Marxschen Methode“40 zu einer ontologisierten und folglich überzeitlichen Dialektik41 37 Vgl. Benjamin, W. (1974): Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften Band I.2, Frankfurt/M., S. 697. 38 Ebd., S. 701. 39 Ebd. 40 Lukács spricht häufig von der „Methode“ – eine unglückliche Terminologie, die seiner (Marxschen, marxistischen, dialektischen) Intention zuwiderläuft, denn „Methode“ suggeriert Abtrennbarkeit und Selbständigkeit gegenüber dem Inhalt, auf den die „Methode“ ‚angewandt‘ wird. 41 Engels sprach von universell gültigen “dialektischen Bewegungsgesetzen“ (Engels, F. (1973): Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (AntiDühring). In: Marx, K.; Engels, F.: Werke 20, Berlin, S. 11) und maß ihnen einen ontologischen Rang zu. Für Engels bestand kein Zweifel, daran, „daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewußtsein kommen; die zuerst von Hegel in umfassender Weise, aber in mystifizierter Form entwickelt worden, und die aus dieser mystischen Form herauszuschälen und in ihrer ganzen Einfachheit und Allgemeinheit klar zur Bewußtheit zu bringen, eine unsrer Bestrebungen war“ (Ebd., S. 11). 162

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ablehnt – und infolgedessen erstens den später so genannten Historischen Materialismus, weil dieser durch eine seinerseits ungeschichtliche Theorie der Gesetze der Geschichte Letztere zu erklären versuche, und zweitens den später so genannten Dialektischen Materialismus, weil dieser eine in dialektischen Grundgesetzen fassbare ontologische Grundlage für Natur und Geschichte hypostasiere. Lukács kritisiert Engels’ Behauptung von universell, d. i. für Natur, menschliche Gesellschaft, Geschichte und Denken gültigen „dialektischen Bewegungsgesetzen”42 und setzt dagegen, dass die ‚dialektische Methode‘ nicht von der Reflexion auf Dialektik und Methode abgetrennt werden könne. Diese Reflexion finde in bestimmten geschichtlichen Konstellationen statt. Damit enthält Dialektik – so Lukács – ein historisches Moment. „Die dialektische Beziehung des Subjekts und des Objekts im Geschichtsprozeß“43 sei die wesentliche Wechselwirkung, die Dialektik überhaupt erst hervorbringe. Dialektik könne nur durch die Reflexion der Subjekte auf ihre Tätigkeit in der Geschichte erkannt werden, und dieses Erkennen sei Teil der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt im Geschichtsprozess. Da Dialektik und das Erkennen derselben notwendig ein historisches Moment enthalte, sei die Übertragung dessen, was als Wesen der Dialektik herauspräpariert44 wurde, auf Naturprozesse sachfremd. Diese Übertragung nehme – so Lukács – der Marxschen Theorie den politisch-revolutionären Geist. Die „Beschränkung der Methode auf die historisch-soziale Wirklichkeit ist sehr wichtig. Die Mißverständnisse, die aus der Engelsschen Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich darauf, daß Engels – dem falschen Beispiel Hegels folgend – die dialektische Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung des Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veränderung im Denken etc. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind“45. Lukács’ Kritik an Engels’ Anti-Dühring und Dialektik der Natur sowie die strenge Unterscheidung zwischen den ‚Gesetzen‘ für die so genannte zweite Natur und den von den Naturwissenschaften erkannten Naturgesetzen waren dasjenige in Geschichte und Klassenbewußtsein, was zuallererst seine Kritiker empörte46. 42 Engels, F. (1973) a. a. O., S. 11, 14, 23 f., 111 ff.; Engels, F. (1973): Dialektik der Natur. In: Marx, K.; Engels, F.: Werke 20, Berlin, S. 348 ff. 43 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 15. 44 In der Dialektik der Natur: Aus der „Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft“ könnten „die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden“ (Engels, F. (1973) a. a. O., S. 348). 45 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 17, vgl. auch S. 226 f. 46 Auf den ersten Blick verblüfft, dass in die Theoretische Philosophie fallende Fragen (Gelten die dialektischen Grundgesetze universell? Wie begründet Engels die ‚Dialektik der Natur‘?) zu erbittert geführten politischen Debatten bis 163

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IV. Begriff der Totalität und Emanzipation Die Wiederherstellung des Verhältnisses des Marxismus zur Philosophie (des Deutschen Idealismus) impliziert die Wiederbelebung des Begriffs (bei Lukács: der Kategorie) der Totalität. Lukács wendet sich gegen das Sich-Beschränken auf partikulare Zusammenhänge, gegen das den Gesamtzusammenhang ausblendende Klein-Klein des empiristischen Positivismus seiner Zeit, welcher den Begriff der Totalität und insgesamt das Denken des Unbedingten, Unendlichen unter Metaphysik-Verdacht stellte und deswegen transzendentalpolizeilich verbot. Bei der von Lukács propagierten Wiederbelebung des Begriffs der Totalität ging es weniger um eine durch die Reflexion auf Philosophie-Geschichte angestoßene Reminiszenz an die Bedeutung von Ideen in den philosophischen Systemen von Platon, Kant oder Hegel. Vielmehr – und das hängt mit dem angesprochenen historischen Moment von Dialektik zusammen – spürt Lukács gerade in dem nur ideell darstellbaren Begriff der Totalität – genauer: in der Reflexion auf diesen Begriff – dessen praktischpolitische Sprengkraft auf – angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und angesichts einer Sozialdemokratie, die auf als Verbesserungen des Kapitalismus verkaufte ‚Reformen‘ setzt, jedoch insgesamt den Kapitalismus als übermächtige Totalität akzeptiert, an die das Subjekt angeblich schon im Grundsatze nicht heranreiche. In einem Einzelnen, wenn es zum Moment in der Bewegung eines Ganzen geworden ist, ist dieses Ganze präsent. Die kapitalistische Produktionsweise unterwirft alle Gegenstände dem Zweck, den Wert zu vermehren. So werden aus Gebrauchswerten Wertdinge (Waren), so wird aus lebendiger Arbeit der Lohnarbeiter. An einer einzelnen Ware kann, wird sie als das, was sie in Wahrheit (in der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft) ist, nämlich als sinnlich-übersinnliches Ding erkannt, mit diesem ihrem Wert-Sein das gesellschaftliche Verhältnis und so im Wert-Sein der einzelnen Ware die Totalität der kapitalistischen Gesellschaft erkannt werden. „Die Einzigartigkeit des Kapitalismus besteht gerade darin, daß er alle ‚Naturschranken‘ aufhebt und die hin zu organisations-praktischen Fraktionskämpfen führten. Doch auf den zweiten Blick bestätigt gerade die Reaktion auf Lukács dessen These der Historisierung der Dialektik. Jene Debatten um die dialektischen Grundgesetze waren nicht äußerliche Verkleidung oder Rationalisierung von etwas anderem, sondern selbst Ausdruck der praktischen Kämpfe; vgl. dazu Lukács’ Kehrtwende von 1934, wo er Lenins Empiriokritizismus feierte und gerade damit sich aus den Fraktionskämpfen herauszuziehen hoffte, um Bücher über Realismus in der Kunst schreiben zu können; vgl. auch die sehr vorsichtige Absetzung von dem Widerruf von 1934 in dem Vorwort von 1967, als Lukács nach langem, durch die Studentenrevolte beendetem Zögern einer Wiederherausgabe von Geschichte und Klassenbewußtsein zustimmte (Lukács, G. (1968): Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied und Berlin, S. 11 ff.). 164

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Gesamtheit der Beziehungen der Menschen zueinander in rein gesellschaftliche verwandelt“47. Doch die herrschende Ideologie der kapitalistischen Produktionsweise, der Positivismus, bleibt den partikularen Bestimmtheiten verhaftet, leugnet, dass hinter dem verdinglichten Einzelnen ein dieses bestimmende Ganzes (nämlich die Akkumulation von Mehrwert) stehe, und gibt so die entfremdeten Gestalten (die Versachlichung eines gesellschaftlichen Verhältnisses) als etwas Letztes und Unaufhebbares (schlicht als gegebene Sache wie einen Stein) aus. Deswegen bleibt der Positivismus gedanklich hinter der objektiven Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zurück. Er steht zur Entfremdung in einem unmittelbaren und mithin diese affirmierenden Verhältnis, nicht jedoch in einem kritischen. „Das Proletariat ist aber in den Brennpunkt dieses Prozesses der Vergesellschaftung gestellt. Diese Verwandlung der Arbeit in Ware entfernt einerseits alles ‚Menschliche‘ aus dem unmittelbaren Dasein des Proletariats, andererseits vertilgt dieselbe Entwicklung in steigendem Maße alles ‚Naturwüchsige‘, jede direkte Beziehung zur Natur usw. aus den gesellschaftlichen Formen, so daß sich gerade in ihrer menschenfernen, ja unmenschlichen Objektivität [der Akkumulation von Mehrwert; U. R.] der vergesellschaftete Mensch als ihr Kern enthüllen kann. Gerade in dieser Objektivierung, in dieser Rationalisierung und Versachlichung aller gesellschaftlichen Formen kommt der Aufbau der Gesellschaft aus Beziehungen der Menschen zueinander zum erstenmal klar zum Vorschein“48. Wert, Mehrwert, die Bewegung der Akkumulation von Mehrwert usw. sind nicht Gegenstände im Sinne der Naturwissenschaften, sondern die „notwendigen Existential- und Denkformen der bürgerlichen Gesellschaft“49, zu begreifen nur als Resultat „der Verdinglichung des Seins und des Denkens“50 – unter Voraussetzung einer die lebendige Arbeit verkehrenden Totalität51. Der Marxismus – so Lukács – entdeckt „in der Geschichte selbst die Dialektik […] Der Träger dieses Bewußtseinsprozesses ist aber […] das Proletariat. Indem sein Bewußtsein als immanente Folge der geschichtlichen Dialektik erscheint, erscheint es selbst als dialektisch“52. Wie entsteht nun genau diese Reflexivität? Die Reflexion der bürgerlichen Gesellschaft fällt nicht – so Lukács’ Einsicht – in die herrschende Klasse die47 48 49 50 51

Lucács, G. (1967) a. a. O., S. 193. Ebd. Ebd., S. 194. Ebd. „Nur ist die Vernunft jenes Zusammenschlusses zur Totalität [Adorno meint den „unerbittlichen Zusammenschluß aller Teilmomente und Teilakte der bürgerlichen Gesellschaft durch das Tauschprinzip zu einem Ganzen“; U. R.] selber die Unvernunft, die Totalität des Negativen. ‚Das Ganze ist das Unwahre‘“ (Adorno, T. W. (1975): Drei Studien zu Hegel. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften. Band 5, Frankfurt, S. 324). 52 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 194. 165

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ser Gesellschaft (so hat die akademische Volkswirtschaft keinen Begriff der Totalität der kapitalistischen Produktionsweise). Vielmehr seien nur diejenigen des Begriffs der Totalität mächtig, die an sich selbst die Verkehrung erfahren, deren lebendige Subjektivität in das Mittel für die Verwertung des Werts umgestülpt wird. Das Bewusstsein des Proletariats sei – dialektisch genug – Einheit von einander entgegengesetzten Momenten. Auf der einen Seite sei es „der bewußtgewordene Widerspruch der gesellschaftlichen Entwicklung“53. Doch dies nicht im Sinne einer mechanisch-kausalen Wirkung des Seins auf das Bewusstsein (Abbildung des Seins in das Bewusstsein). Vielmehr könne das Bewusstsein des Proletariats überhaupt nur dann bewusstgewordener Widerspruch sein, wenn – und dies ist die andere Seite – „etwas Neues“ hinzutrete: „das zur Tat werdende Bewußtsein des Proletariats“54. Das im kapitalistischen Benutzungsverhältnis gebildete Bewusstsein des Proletariats sei also auf ein Hinzutretendes verwiesen: Kausalität aus Freiheit. Was menschliche Arbeit und was die tätige Seite des Bewusstseins auszeichnet, wurde „abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus […] entwickelt“55. Von daher sei die Wiederherstellung des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie für das Bewusstsein des Proletariats konstitutiv – dieses sei auf Bildungselemente verwiesen, die nicht der unmittelbaren Erfahrung der Lohnarbeit entstammen, sondern einer mit dem Siegeszug der Bourgeoisie entstandenen Philosophie. Die durch den Idealismus hervorgebrachte Reflexion auf die tätige Seite des Bewusstseins könne zum Impuls für „das zur Tat werdende Bewußtsein des Proletariats“56 werden. Da dieses Bewusstsein „nicht das Bewußtsein über einen ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern das Selbstbewußtsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt des Bewußtwerdens die Gegenständlichkeitsform seines Objekts“57. Das Entstehen der Reflexivität im Bewußtsein des Proletariats verdankt sich – wie dargestellt – einem Begriff von Totalität. Ein solcher Begriff ist nur rational darstellbar und entstammt der Tradition des Rationalismus. Doch Lukács weiß, daß die bloße Rekonstruktion dieser Totalität im Gedanken nicht zureichend ist für das Entstehen der Reflexivität des Proletariats. Diese Reflexivität sei zugleich auch geschuldet einer „tiefliegenden Irrationalität, die hinter den rationalistischen Teilsystemen der bürgerlichen Gesellschaft lauert und sonst nur eruptiv, katastrophenhaft, aber eben deshalb ohne die Form und die Verknüpfung der Gegenstände auf der Oberfläche zu verändern,

53 Ebd. 54 Ebd., S. 195. 55 Marx, K. (1969): Thesen über Feuerbach. In: Marx, K.; Engels, F.: Werke 3, Berlin, S. 5. 56 Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 195. 57 Ebd. 166

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zum Vorschein kommt“58. Gemeint ist die „Gewalt“, die der zur Totalität sich entfaltenden kapitalistischen Produktionsweise zugrunde liegt.

V.

Ambivalenzen in Lukács’ Totalitätsbegriff

Der Begriff der Totalität steht im Zentrum von Lukács’ Theorie, wie denn das Proletariat Klassenbewusstsein ausbilden könne. Nicht zuletzt wegen dieser zentralen Stellung eines spekulativen Begriffs handelte Lukács sich den Vorwurf des ‚Idealismus‘ ein. Dieser Vorwurf wurde – was prima vista paradox ist und deswegen der Erklärung bedarf – von einander entgegengesetzten politischen Positionen hervorgebracht und dabei mit umgekehrter Bedeutung versehen. Die offizielle Parteilinie (vorgetragen in den Kritiken von Deborin, Rudas u. a.59) warf Lukács ‚Idealismus‘ vor und meinte damit eine die Emanzipation der Subjekte hier und jetzt einfordernde Position abzuwehren (‚Linksradikalismus‘ aufgrund von ‚Idealismus‘). Krahl, der die LukácsRenaissance in der Studentenrevolte von 68 beförderte, warf Lukács ‚Idealismus‘ vor und meinte damit, der Lukácssche Idealismus führe zu einer Ahistorisierung der Dialektik (richte sich so nun gerade gegen das, was an Geschichte und Klassenbewusstsein revolutionär war) und verhindere daher Emanzipation und die Entfaltung der Subjekte; insofern sei in Geschichte und Klassenbewusstsein das spätere Einschwenken auf die Parteilinie schon angelegt und nicht ein durch äußerliche Ursachen erzwungener Richtungswechsel. „[Deborin, Rudas u. a.; U. R.] haben aufgrund des praktischen Industrialisierungsterrors nach der Oktoberrevolution in Rußland und aufgrund der daraus folgenden theoretischen Ontologisierungszwänge den Idealismusvorwurf zur Abwehr von Emanzipationsargumenten vorgetragen, während wir [Krahl, A. Schmidt, Negt u. a.; U. R.] umgekehrt sagen, daß es auf dem Hintergrund einer richtigen Problemstellung, im Zentrum der Totalitätskategorie stehend, idealistische Reduktionen bei Lukács gibt, die die Entfaltung der Emanzipationskategorien als historisch-praktischer Kategorien verhindert haben.“60 Im Streit um den Idealismus – bestimmter: um das, was idealistische und was demgegenüber materialistische Dialektik sei – fand und findet eine eminent politisch-praktische Kontroverse ihren geistigen Ausdruck. „Wenn aus dem Totalitätsbegriff in zum Teil schroffer Trennung die empirischen Momente herausfallen, dann begreift Lukács – und das ist meiner Ansicht nach das zentrale dabei – Klassenbewußtsein nicht als parteiliches Totalitätsbewußtsein […] Materialistische Empirie ist gebunden an den Produktionszusammenhang

58 Ebd. 59 Vgl. Anmerkung 14. 60 Cerutti, F. u. a. (Hg.) (1971) a. a. O., S. 27 (Hans-Jürgen Krahl). 167

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der konkreten Arbeit, nämlich Gebrauchswerten, Bedürfnissen und Interessen. Die Kategorien der Theorie konstituieren sich hingegen aus dem Produktionszusammenhang abstrakter Arbeit, nämlich Warenform, Mehrwert und Akkumulation, Verdinglichung, Ausbeutung und Krise. Meiner Ansicht nach liegt in diesem materialistischen Empiriebegriff, der gebunden ist an die Produktion von Gebrauchswerten, die Reproduktion von Bedürfnissen, und die Erzeugung von Interessen genau das Moment von Parteilichkeit. Das fällt meiner Ansicht nach bei Lukács heraus“61. Krahl sieht in Lukács’ idealistischer Fassung von Totalität, welche Fassung den Begriff einer parteilichen Totalität verhindere, eine unreflektierte Anleihe bei der Transzendentalphilosophie neukantianischer Prägung. Lukács: „Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips in der Wissenschaft.“62 Ob es revolutionär sei, jenseits kapitalistischer Unmittelbarkeit ein transzendentales Gesamtsubjekt zu konstruieren, das den Standpunkt der Totalität einnehme und eben dadurch und per se revolutionär sei, oder ob darin gerade ein Überbleibsel des neukantianischen Glaubens an die Kraft der Methode liege63, wodurch parteiliches Totalitätsbewusstsein, welches die Vermittlung von materialistischer Empirie und ideellem Begriff der Totalität beinhalte, ausgeschlossen wird, das ist die Frage: Es gibt die Totalität des Kapitals64, es gibt die Totalität der Geschichte65. Dem liegt die Akkumulation von Mehrwert samt der Tendenz, nichts außerhalb ihrer gelten zu lassen, zugrunde. Doch von dieser Totalität gibt es, wird sie idealistisch oder transzendental gefasst, kein adäquates Bewusstsein: Die herrschende Klasse hat keine adäquate Theorie der Gesellschaft insgesamt. Denn ein adäquater Begriff dieser Totalität kann nur parteilich sein, weil die Totalität des Kapitals in sich auf 61 62 63 64

Ebd., S.27 f. (Hans-Jürgen Krahl). Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 39. Cerutti, F. u. a. (Hg.) (1971) a. a. O., S. 34 (Alfred Schmidt). „[…] die Summe der Profite aller verschiedenen Produktionssphären [muss; U. R.] gleich sein der Summe der Mehrwerte und die Summe der Produktionspreise des gesellschaftlichen Gesamtprodukts gleich der Summe seiner Werte“ (Marx, K. (1969): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, MEW 25, Berlin, S. 182). Ohne die spekulative Idee – die nur als ideelle Totalität darstellbare Summe aller Mehrwerte mit der auf der Erscheinungsebene (‚Oberfläche‘) angesiedelten Summe aller Profite gleichzusetzen – ist keine Bestimmung dessen möglich, was Profit (und Produktionspreis) ist. 65 „[…] die Geschichte als Totalität (die Universalgeschichte) ist weder die bloß mechanische Summe der geschichtlichen Einzelereignisse noch ein den einzelnen Geschichtesereignissen gegenüber transzendentes Betrachtungsprinzip […] Die Totalität der Geschichte ist vielmehr selbst eine – wenn auch bis jetzt nicht bewußt gewordene und darum nicht erkannte – reale geschichtliche Macht, die sich von der Wirklichkeit (und darum von der Erkenntnis) der einzelnen geschichtlichen Tatsachen nicht ablösen läßt, ohne auch ihre Wirklichkeit, ihre Faktizität selbst aufzuheben. Sie ist der wirkliche, letzte Grund ihrer Wirklichkeit, ihrer Faktizität […]“ (Lukács, G. (1967) a. a. O., S. 167). 168

ZUR AKTUALITÄT VON „GESCHICHTE UND KLASSENBEWUSSTSEIN“

das bezogen ist, was Nicht-Kapital ist, und weil, bildete der Begriff schlicht das automatische Subjekt ab, die lebendige Arbeit und die natürlichen Grundlagen der Produktion als das gefasst und behandelt werden, was sie nicht sind, nämlich als immer weiter hinauszuschiebende Naturschranken für dieses Subjekt. Das bürgerliche Klassenbewusstsein ergreift Partei allenfalls für das automatische Subjekt und anerkennt damit nicht eine in sich bestimmte Naturschranke für das Kapital. Dieses Klassenbewusstsein kann (und will) sich nicht selbst aufheben. Dies täte es, verhielte es sich kritisch zum Kapital und zu dessen stetigem Angriff auf seine Naturschranke. Die Totalität des akkumulierenden Mehrwerts ist zerstörerisch für seine Grundlage: die lebendige Arbeit und die natürlichen Grundlagen der Produktion. Die idealistischtranszendentale Fassung von Totalität hingegen abstrahiert von diesem notwendigen inneren Widerspruch66. Lukács spürt diesen inneren Widerspruch und hat deswegen den ‚subjektiven Faktor‘ stark gemacht, gegenüber „allen objektivistischen Theorien, die einen ökonomistischen und zum Teil naturalistischen Einschlag sowohl im Kautskyanismus als auch im traditionellen Revisionismus haben“67. Die Kritik an der Verdinglichung hatte deswegen solche Sprengkraft, weil gegen die naturgesetzliche Position der Zweiten Internationale aufgezeigt wurde, dass die kapitalistische Geschichte nur als Geschichte einer Verkehrung und des Resultats dieser Verkehrung, also als Geschichte der verkehrten zweiten Natur, begriffen werden kann. „Lukács verfolgt ein doppeltes Interesse. Einerseits geht es ihm auf der strategisch-taktischen Ebene um die Reaktivierung des Subjektiven gegenüber der passiven Erwartung, daß die Evolution des Kapitals den richtigen Zustand schon herbeiführen werde, andererseits aber vertritt er einen Objektivismus, den er letztlich gemeinsam hat mit der stalinistischen Ideologie […] In dieser kommt […] der Subjektfaktor eigentlich nur vor im Gedanken der geschichtlich-gesamtgesellschaftlichen Erzeugtheit aller unmittelbar gegebenen Tatbestände des Alltags. Lukács wollte die metaphysische Logik Hegels mit politischer Subjektivität verbinden.“68

66 Weswegen die herrschende Ideologie die kapitalistische Produktionsweise insgesamt in ein vom Subjekt nicht erreichbares Jenseits entrückt, wo doch diese ideell bestimmte Totalität das Subjekt ganz empirisch mit in den Abgrund reißt. Modell dafür ist, wie mit den einzelnen Daten verfahren wird, die die irreparable Veränderung des Klimas anzeigen. Die auf einzelne Parameter zielende Krisenbewältigung mit nachhaltig operierendem Kapital ist der grüne Beelzebub, der den Teufel austreiben soll. 67 Cerutti, F. u. a. (Hg.) (1971) a. a. O., S. 35 (Oskar Negt). 68 Ebd., S. 38 (Alfred Schmidt). 169

ULRICH RUSCHIG

VI. Fazit Geschichte und Klassenbewußtsein war ein revolutionäres Buch. Es propagierte einen Begriff kritischer Subjektivität und legte die emanzipative Subjektivitätsdimension des Marxismus wieder frei – gegen die Schematisierungen des Marxismus in der Zweiten Internationale, gegen die Verkrustungen des proletarischen Bewusstseins, gegen die Vorstellungen von Naturwüchsigkeit dieses Bewusstseins und des Geschichtsverlaufs (gegen das, was es die ‚Verdinglichung des Bewusstseins‘ nannte). Lukács stößt einen philosophisch-praktischen Prozess an: In der Reflexion auf die Marxsche Theorie sollte deren immanentes Verhältnis zum Deutschen Idealismus wiedergewonnen und zugleich weiterentwickelt werden. Dieser Prozess ist ein gesellschaftlicher und damit selbst einer historischen Dialektik ausgesetzt. Er ist nicht zu Ende. Geschichte und Klassenbewußtsein markiert den mit vielen Momenten des zu Kritisierenden behafteten Beginn, bleibt allerdings auf halbem Wege stehen. (Der Autor ging später noch Schritte zurück.) Lukács rückt das Subjekt zwar ins Zentrum einer Theorie der Revolution, doch in diesem Zentrum kommt die materiell-empirische Dimension des Subjekts nicht mehr vor – das Herausfallen des Besonderen, Materiellen, Empirischen ist ein Wesensmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft und der Herrschaft der geronnenen abstrakten Arbeit. So wird zwar die Emanzipation des Subjekts abstrakt beschworen, doch die Emanzipationspotenzen einer sinnlich-materiellen Subjektivität werden übersehen. Für die Subjekte in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften gäbe es aufgrund der Produktivkraftentwicklung inzwischen der Möglichkeit nach eine hoch entfaltete Bedürfnisbefriedigung, der Wirklichkeit nach sind die Massen im Bannkreis der Befriedigung unmittelbarer und abstrakt-reduzierter Bedürfnisse gefangen. Den in diesem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit steckenden Emanzipationsimpuls sieht Lukács nicht. Lukács unterschätzt generell das Naturale – und insbesondere, dass die für das Kapital notwendige, nicht durch es vollständig formbare oder gar in es auflösbare Naturbasis durch das Kapital irreparabel zerstört wird; das Erschrecken ob der zerstörten Natur wird von ihm nicht als Moment der Konstitution von Klassenbewusstsein begriffen. Wiewohl Lukács die Dialektik gegen deren Ontologisierung in den geschichtlichen Prozess zurückholte, fällt er in apriorische Bestimmungen des Klassenbewusstseins und der Organisation der Kommunistischen Partei zurück. So ist das Klassenbewusstsein bei dem das historische Moment der Dialektik stark machenden Lukács merkwürdig ahistorisch gefasst. Die KP erscheint bei ihm als die Inkarnation einer transzendental bestimmten volonté générale69, die die vorrangige Bedingung

69 Vgl. dazu: Krahl, H. J. (1971): Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt, S. 164. 170

ZUR AKTUALITÄT VON „GESCHICHTE UND KLASSENBEWUSSTSEIN“

der Möglichkeit jedes Einzelwillen sei. Und nicht zuletzt: Lukács’ Affinität zu einem ‚linken‘ Klassizismus (zuweilen ‚sozialistischer Realismus‘ genannt)70 und seine Abwehr der Moderne71 verkünden im ästhetischen Bereich, was im politischen der Rückfall hinter Geschichte und Klassenbewußtsein war. In der Reflexion auf Lukács’ Ambivalenzen wird deutlich: Was materialistische Dialektik sei, ist eine Frage von eminent politischer Bedeutung.

70 Lukács’ Klassizismus illustriert Krahl mit einer Anekdote: Als Lukács „Volksbeauftragter für Kultur in der ungarischen Räteregierung war, [hat er; U. R.] während der Hungersnot und Revolutionsperiode große Plakate anschlagen lassen, auf denen dem Sinn nach stand: auf den Theatern sind sozialistische Stücke zu spielen, falls das Repertoire daran erschöpft ist, ist auf klassische zurückzugreifen” Cerutti, F. u. a. (Hg.) (1971) a. a. O., S. 47 (Hans-Jürgen Krahl). 71 „Nihilistisch angekränkelt war Herr Lukács zeit seines Lebens nicht. Wen die bürgerliche Kultur, auch in ihren besten Resultaten, nicht einmal angewidert hat, der weiß freilich auch nicht, was sie ist“ (Ebd., S. 47 (Alfred Schmidt)). 171

Die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden, und die Unsinnigkeit, den Kampf des Guten gegen das Böse als Krieg zu führen MICHAEL DAXNER

I.

Eine Erzählung „Denn Gott weiß, daß am Tage, da ihr esset davon, geöffnet werden euere Augen, und ihr werdet sein wie göttliche Wesen, erkennend Gutes und Böses“ Gen., 3,5 „Und es sprach der Ewige, Gott: siehe der Mensch ist geworden wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses, und jetzt, daß er nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch vom Baum des Lebens und esse und lebe ewig!“ Gen. 3,22

Eine kleine Fußnote in Vers 23 verweist darauf, dass das ausdrücklich heißen soll „(wie einer von uns=) wie ein himmlisches Wesen mit Willensfreiheit begabt; die Herausgeber beziehen sich dabei auf Rambam, also Maimonides). Zu Beginn des 4. Kapitels gibt es noch eine kleine Fußnote zum bekannten Vers 1 „Und der Mensch hatte erkannte sein Weib, die Chawa, und sie ward schwanger […]“ (Gen 4,1). Da lesen wir: Er hatte sie noch „vor dem Sündenfall“ (Hervorhebung M. D.) geschwängert. Man könnte daraus schließen, dass nicht jede Erkenntnis mit der Freiheit des Erkenntnisinteresses gemein geht. Ich mag diese Stelle, jenseits aller Textkritik und in allen Lesformen. Die Version von Bamberger, Adler und Lehmann1 aus Frankfurt gefällt mir be1

Thora, Frankfurt/M. 5649. 173

MICHAEL DAXNER

sonders, weil sie die Brüche so freundlich deutlich macht, die die Freiheit mit sich bringt. Warum sagt denn die Fußnote „wie göttliche Wesen“ wo andere Übersetzungen schlicht „Gott“ selbst meinen? Aus diesen paar Worten lässt sich weit mehr als nur die Grundlage der Verantwortungsethik herauslesen, und das Narrativ unseres moralischen Verhaltens nimmt seinen Ausgang bei einer recht einfachen, fast schon trivialen – aber keineswegs banalen – Prämisse. Wenn jeder Gut von Böse unterscheiden kann, bedarf es keiner Belehrung über ein paar Fundamentalia. Ich weiß, ich darf nicht foltern. Ich weiß, ich darf nicht töten (morden, im 5. Gebot, das ist eine Einengung dieses Wissens), weil ich sonst mit dem andern nichts mehr anfangen kann (Levinas: töte mich nicht! steht im Auge des Anderen). Ich weiß noch einige solcher Gewissheiten, für den Rest braucht es Erziehung, Vergesellschaftung, Bildung, politische Wissenschaften und Humaniora. Aber an der Grenze zum Metaphysischen gibt es so eine unverfügbare Potenz für jeden Menschen, dass ich versucht bin, in den ermüdenden Diskussionen um die Würde „des“ Menschen, eben diese Stelle der Erzählung als die Grundlage jeder Würde jedes Menschen anzunehmen. Freiheit als Schuldfähigkeit, nicht als Schuld. (Und ein wenig tröstlich gegen jede Verniedlichung dieses Auftakts ist, dass das Geschlechtliche, Lieblingsprojektion der Religion, noch vor der Schuld „genossen“ werden konnte, wie man eben Rechte unschuldig genießen kann und soll. Artikel 16 Grundgesetz)

II.

Nichts ist einfach

Um mich entscheiden zu können, muss ich leben, muss ich Bewusstsein haben, muss ich wissen, was Gründe sind oder wenigsten eine Intuition davon, was richtig ist und was nicht. Das ist trivial. Aber nicht so banal, dass man darüber breit spekulieren sollte. Der Weg zurück ist versperrt. Aber jedes Mal, wenn zwei Menschen einen andern zeugen, eröffnen sie dieser Trivialität eine neue Facette2. (Die modernen Reproduktionsmethoden denken über dieses Faktum nach?) Ich kann nicht für mich und aus mir heraus gut oder böse sein. Der gesellschaftliche Kontext relativiert nicht, sondern er konstituiert den Auftakt der Genesis. Die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft war vor den Fall gesetzt, die Möglichkeiten zu Gesellschaft danach. Dass ich den Fall weder als Ergebnis von Sünde verstehe noch ihm Sanktionen bis ans Ende der Menschheit zuspreche, bedarf keiner Erläuterung. 2

Um jedes Missverständnis auszuschließen: Die Entscheidung, neues Leben zu zeugen oder es nicht zu zeugen sowie die Entscheidung, einem Menschen zur Geburt, also zum Leben zu verhelfen oder nicht, unterliegen denselben Kriterien moralischer Entscheidung. Es kann kein Prärogativ vor dieser Entscheidung geben.

174

DIE FÄHIGKEIT, GUT UND BÖSE ZU UNTERSCHEIDEN

Aber um seinen Ablauf als Befreiung gleich zu Anfang unserer Zivilisation zu begreifen, ist es nötig auszuholen. Wer Gott denkt, wird nicht auf die Idee kommen können zu sagen „es gibt Gott“. Das ist ja die Besonderheit unserer Fähigkeit, uns zu distanzieren von dem, was uns einengt.3 Damit erledigt sich selbst die Debatte über Kreationismus und ähnlichen Zeitvertreib der Gläubigen. Die Vorstellung, dass ein Gott erst einen Menschen schafft, dann sein Pendant, ist erheblich. (Dass er mit Lilith auch einen als einen Menschen geschaffen hätte, ändert daran nichts. Paare sind menschlich und waren göttlich. Individualität ist nicht gleich Dualität.) Die Ebenbildlichkeit, in der wir Gott als Mensch denken müssen, ist doch dadurch so bezaubernd, dass wir auch immer nur einen besonderen, ganz einmaligen Menschen erzeugen können, der dann wieder geboren und frei wird. Gottesvermehrung, ein Mensch nach der anderen, meinetwegen auch Göttin und Gott gleich verteilt.4 Da Gott nicht gezeugt wurde, konnte er nicht geboren werden, kennt daher selbst die Freiheit nicht. Das muss man mitdenken. (Daher die wunderschönen Mythen der vielen sich vermischenden Göttinnen und Götter, die die ganze Natur und alles, was da ist, mit sich verbinden können, sich daraus lösen usw. (Ovid, Shakespeares Propero, Cesare Pavese etc.).) Aber natürlich kann das nicht so weitergehen, der Gott, den wir als Mensch denken, darf nicht an seinen Dienstleistungen kenntlich werden.5 Auf dem Bedürfnis nach dem Unverfügbaren beruht unser Umgang mit dem Verfügbaren, und wie wir mit ihm umgehen, wissen wir ja, sofern es gut und böse sein kann. Was richtig und falsch ist, haben wir zu lernen gelernt. Das Curriculum der Unterscheidung aber, das der Freiheit, lernt sich anders: nämlich indem wir die Gewissheit des unterscheiden Könnens mitteilen, vergesellschaften, kommunizieren, handeln. Der Prozess des aus sich Heraustretens ist einer, der politisch macht und politisch bleiben möchte. Wir wissen, dass wir arbeiten müssen, dass zu den Schmerzen die Verantwor-

3

4 5

Vgl. Ahrend, H. (2002): Denktagebuch, hg. V. Ludz, U.; Nordmann, I., München. Die Diskussion der vielfachen (> 20) direkten Bezugstellen zu den bisher dargelegten Äußerungen verführt mich jetzt nicht zu einer minutiösen Exegese der Arendt-Texte, die teilweise widersprüchlich sind, etwa über die Radikalität des Bösen und seine Nichtentsprechung im Guten; aber in einer Hinsicht bis zum Äußersten konsequent: Nach der Geburt ist Mensch immer Mensch unter / mit Menschen, und hier kann die Unterscheidung auch zur solidarischen, politischen Wahl werden. Vgl. ebd., XI/11 und vor allem XII/10. Jenseits der Instrumentalisierung gibt es noch eine zweite, wichtigere Dimension: Die Götter offenbaren sich, der eine Gott gerade aber nie. „So sicher es zu sein scheint, dass alle Vielfältigkeit, die wir kennen, auf einem dunklen Eins als ihrem Grund ruht, so sicher ist, dass dies Eins dunkel bleibt und alles, was sich uns offenbart, Pluralität voraussetzt und im Plural sich zeigt.“ Arendt, H. (2002) a. a. O., V/3, S. 103. 175

MICHAEL DAXNER

tung6 (nicht die Sorge) tritt, in unserer Lebensspanne zu erledigen was eben möglich ist, genauer „in Möglichkeit ist“ (Ernst Bloch: und nicht „nach Möglichkeit“).7 Oft lassen wir die Götter sich in Sterbliche verlieben, damit sie wissen, was Glück und Unglück ist; dieses Motiv kann man getrost dem Einen auch unterstellen, den wir denken, damit er sei wie wir. Diese Erzählung ist schon beinahe zu Ende. Weil wir unterscheiden können, sind wir frei, auch zum Ungehorsam, zur „Nichtachtung jeglichen Befehls“ (Ingeborg Bachmann) und zur Kritik der Gottes-Unterstellung. Wer sich aber darüber nicht auseinandersetzt, wer nicht handelt, bleibt auch dann unfrei, wenn er die Freiheit voll und ganz durchdenkt.

III. Szenenwechsel Wer die Fähigkeit zur Unterscheidung hat, kann und darf sich nicht der Abstraktion seiner Objekte hingeben. Das Gute und das Böse werden nicht unterschieden, es gibt sie nicht. Bloch sagt nachdrücklich: S ist nicht P. Natürlich könnte die Achse des Bösen so tiefgründig metaphorisch gemeint gewesen sein, dass sich viele böse Eigenschaften ihren Trägern zuordnen lassen. Aber so wars ja nicht. Weil wir die Guten sind, können wir als Gutes eintreten in den Kampf gegen das Böse, das keiner Emanation mehr bedarf, sondern einen Namen hat – Terrorismus – und ein Label – terroristisch – und unser natürlicher Feind ist. Kurz nach der Wahl Obamas sagte mir Walter Fluker8, ein kluger schwarzer Freund aus Amerika, er meine, die Angst vor dem Terrorismus und der Kampf gegen ihn entsprängen gemeinsam der Angst. Er verwendete das deutsche Wort. Ich fragte sofort nach: Angst wovor? Er antwortete nicht direkt, ich rekonstruierte aber, dass die meisten Amerikaner davor Angst hätten, nicht das Gute zu verkörpern. Träte dies ein, würden sie nicht zu den Rängen der Seligen gehören, die erlöst würden (I want to be, Lord, in that number), und deshalb müsse der Endkampf geführt werden, um jeden Preis. Mit und ohne Obama, die Geschichte der USA als das neue Zion und den Ort der zweiten Wiederkunft des Herrn ist ranzig geworden, deshalb ist faith-based kein hohler Anachronismus, sondern Ausgeburt der Angst. Es scheint weniger auszumachen, die demokratischen Brücken und die zivilisato6

7 8

Unter Hinweis auf Arendts Vita activa und Hans Jonas sagt Ulrich Steinvorth, wir haben nicht die Wahl Gott zu spielen, sondern nur die Wahl, Gott verantwortlich oder unverantwortlich zu spielen. (Vortrag Hamburg 7.11.2002). Ich denke zwar, dass Jonas Ethik gegenüber der Nativität unangebracht ist, aber die Aussage hat es doch in sich: Das Ebenbild lässt sich nicht ausblenden, sondern nur verantwortlich formen. Bloch, E. (1967): Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Frankfurt/M., Bd. I, S. 258288. Salzburg Seminar, International Study Program 29, 9.1.2009.

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DIE FÄHIGKEIT, GUT UND BÖSE ZU UNTERSCHEIDEN

rischen Krücken hinter sich zu lassen, als den Augenblick der Rückführung in die bewusstlose Erlösung zu verpassen, das Böse siegen zu sehen. Deshalb die Kriegserklärung. Terror hat es immer gegeben, in neuerer Zeit mit Anleitung (Lenin) und als Terrorismus Gegenstand von Analyse und Rubrizierung. Terrorisieren nennt man das Eindringen in den politischen Raum, in dem sonst die Freiheit ausagiert werden kann; also wird das Aushandeln der richtigen Politik verhindert, nicht einfach behindert oder einer Auffassung zur illegitimen Macht verholfen. Ist denn dann nicht der Kampf gegen den Terrorismus nötig, richtig, unvermeidlich? Allerdings wird der Terrorismus aber durch den Krieg zur Verkörperung des Bösen. Ist der Krieg einmal erklärt, ist die Unterscheidung fremdbestimmt, sie wird auf eine Entscheidung reduziert. Man kann es sich leicht machen und die Ortung des Bösen durch eine inkompetente und illegitime Instanz – eine Gruppe amerikanischer Menschenfeinde, oder eine legitime Regierung? – ignorieren, sich entziehen. Dann allerdings ist man Zuschauer eines Kampfes und die inhärente Aufforderung, Partei zu ergreifen, ereilt einen jedes Mal, wenn man die Auswirkungen des Patriot Act am eigenen Leib verspürt. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, dass in irgendeiner Weise alle Menschen diese Auswirkungen zu spüren bekommen, auch ohne dass sie es wissen oder sich zu einer „gefühlte“ Parteinahme gedrängt fühlen. Das eschatologische Potenzial des Kampfes gegen die Achse des Bösen ist erheblich. Im Endkampf aktiv oder mental einbezogen sein, heißt, sich dem Ende der Welt nahe zu fühlen, oder dem Endsieg.9 Es ist unwahrscheinlich, dass sich Bush & Co. diesen Gedanken hingeben, aber eine kollektive Siegesgewissheit auf der Seite des Guten, nein, als Gute, ist nicht ausgeschlossen und sicher bei den Unterstützern dieser Politik wahrscheinlicher.

Parenthese Ich habe die Erzählung des Anfangs nicht zur Dramatisierung dieses bekannten Sachverhaltes benutzt, sondern um einen anderen Aspekt zu beleuchten. Die Politik, die aus dem Krieg gegen den Terrorismus folgt, behindert die Freiheit, die sich im politischen Raum demokratischer Gesellschaften nur entfalten kann, um sich zu reproduzieren. 9

„It is a secret from nobody that the famous random event is most likely to arise from those parts of the world where the old adage ‘There is no alternative to victory’ retains a high degree of plausibility.“ Arendt, H. (1969): On Violence, New York, S. 8. Der spezifisch gemeinte Satz (those parts…) kann heute auf die Mitspieler um das Gute und das Böse verallgemeinert werden; die Nationalstaaten mit ihrer Souveränität haben ihre Bindungskraft längst verloren, schon zu Arendts Zeiten. 177

MICHAEL DAXNER

Die Erzählung hilft mir, eine Brücke zu schlagen zwischen dem anthropologischen Postulat, dass wir als Einzelne geboren werden und unterscheiden können, aber nur als Solidargemeinschaft unterscheiden (eigentlich unterscheidend handeln). Von hier werden häufig und berechtigt die Ableitungen der Menschenrechte vorgenommen.10 Ich weiß schon, dass die Erzählung durch die Moderne, durch ihre Rationalität und Dialektik, nicht mehr das ist, was sie auch bezweckt: das Paradies an den Anfang statt ans Ende zu setzen. Aber es ist doch erstaunlich, wie deutlich am Anfang eine Befreiung und keine Freiheit steht und wie die Freiheit der Zweck und nicht der preisgegebene Zustand ist.

IV. Ein aktueller Krieg Zunächst einige Gedanken zum Krieg gegen den Terrorismus und unserer Inneren Sicherheit; jede Rede vom Krieg impliziert notwendig die Alltagsphilosophie von seiner Rechtfertigung oder Ächtung, umso mehr als man selbst, seine Familie oder das eigene Gemeinwesen betroffen sein kann oder ist. In dieser Alltagsphilosophie ist ebenso notwendig eine implizite Einstellung gegenüber dem eigenen Leben und damit der eigenen Freiheit enthalten. Dass die Reflexion über die Rechtfertigung konkreter Kriege auch eine politische Position gegenüber der eigenen Gesellschaft bzw. dem Staat enthält, ist anzunehmen, wo ein solcher Staat dominant besteht. Aber auch Substitute für diese Staatlichkeit in schwachen Staaten – z. B. Religion – können hier mitreflektiert werden. Wer den Kriegt denkt, muss ein Ende und die Zeit danach denken, die nicht notwendig Frieden bedeutet, aber insofern „Zukunft“ heißt, als sie nicht die schlechte Unendlichkeit eines ewigen Krieges ist (der Gedan10 Vgl. Brunkhorst, H. u. a. (Hg.) (1999): Recht auf Menschenrechte., Frankfurt/M. Dieser Konferenzband vereint höchst unterschiedliche und kontroverse Positionen beim Thema. Mich verwundert, dass der Rekurs von Volker Gerhardt (Menschenrecht und Rhetorik) sich verständlicherweise Martin Luther King als Exempel wählt, aber seine theologische Gelehrsamkeit die Frage der Unterscheidungsbegabung völlig außer Acht lässt. Am ehesten trifft Albrecht Wellmer meinen Zusammenhang, wenn er auf das Konzept der Endlichkeit des öffentlichen Raums hinweist, da sind auch noch Elemente von dauernder Neuschöpfung enthalten. Um nichts weniger könnte es bei den Menschenrechten gehen als um Gut und Böse, aber sie sind schon sehr durch die Unterscheidungsfähigkeit mitbestimmt. Und hier ist sie wieder, die Brücke, die ich brauche, um etwas sehr Aktuelles und etwas sehr Allgemeines zu verbinden: Wenn alle Menschen, aber auch jeder für sich, im Krieg gegen den Terrorismus leiden (pathein), dann geht das über das Widerstandspotenzial der Befreiung hinweg. Und das ist unrecht, es ist auch Unrecht. Wellmer konstatiert etwas übertrieben, dass nicht Gerechtigkeit sondern politische Freiheit Hannah Arendts Sache gewesen sei. Aber gerade daraus folgt die große Ungerechtigkeit des Verhinderns von politischer Freiheit. 178

DIE FÄHIGKEIT, GUT UND BÖSE ZU UNTERSCHEIDEN

ke „sucht“ die Entscheidung). Spätestens hier kommt die Anfangserzählung wieder hinein, denn wird sich das Ebenbild fortsetzen und unter welchen Bedingungen? Gesellschaftlich und gar nicht privat heißt das, zu begründen, warum die Welt überhaupt, und warum sie so sein soll, wie sie denkbar ist, wenn der Krieg zu Ende sein wird. Ich rede hier von einem Krieg und nicht einer quasi anthropologischen Vision der Orwellschen Szenarios permanenter Kriegszustände. Wenn wir die Theorie und Kritik der so genannten Neuen Kriege als bekannt voraussetzen, können wir einen Schritt zur Exemplifizierung machen: Der Neue Krieg par excellence ist der Krieg gegen den Terrorismus. Es gibt einige fundierte Kritik am Begriff, die ich hier nicht wiederholen muss; mir geht es um die besonderen Konstruktionsmerkmale dieses Kriegs. Einige habe ich bereits angedeutet: Es ist ein Krieg ohne konkrete Subjekte, weder auf der Seite der erklärenden noch auf der Seite der angegriffenen Kräfte. Die Substantiierung von Gut und Böse und die Zuschreibung des Bösen an die Terroristen ist ein Trick, über dessen Intendiertheit man geteilter Meinung sein kann. Das vermeintliche Subjekt als Böses, also Al Qaida nach 9/11, ist ein Oberbegriff, der keine Ortung, sondern Ubiquität gerade zu impliziert, will man die Terroristen nicht explizit nur auf Muslime bzw. Islamisten reduzieren. Es gibt unterschwellig und noch genauer zu untersuchen eine Tendenz, den christlichen, jüdischen, hinduistischen… (auch atheistischen) Terrorismus, zu orten und vom islamistischen abzugrenzen, sozusagen als lässliche Sünde gegenüber der Todsünde. Ich nenne das ein Huntington’sches Residuum, einen bösartigen Splitter im Bewusstsein. (Dazu kann man sich in den Thesen vom Heimatdiskurs bei Interventionen (Teil der Theorie der Neuen Kriege) genauer informieren bzw. weiterforschen).11 Die Identifikation mit dem Guten ist mehr als Parteinahme für die vermeintlich gerechte Sache. Es ist ein Unterschied, ob man als gut (Individuum, Gruppe, Gesellschaft) oder das Gute gegen das Böse vorgeht. Das Ereignis von 9/11 wurde zum Rechtfertigungsfanal des Endkampfes erklärt. Ich bezweifle, dass die Verwundbarkeit der USA oder die Dimension der Attacke ausschlaggebend waren; vielmehr erscheint mir das Datum den Umschlag von einer erwarteten, von einigen erhofften, Manifestation des Bösen in eine neue Qualität ausschlaggebend. Jetzt darf man im Namen des Guten, d. h. im eige11 Heimatdiskurs ist ein wesentlicher Bestandteil der Theorie von der Interventionsgesellschaft. Er meint die Gesamtheit der diskursiven Strategien und Konsequenzen auf Entscheidungen und Meinungsbildung in den Gesellschaften, die an Interventionen beteiligt sind, also z. B. Militär entsenden. Der Heimatdiskurs ist nicht durch Medienkritik hermeneutisch oder ideologiekritisch allein zu erfassen, sondern kann erst durch kritische Diskursanalyse umfassend begriffen werden. Es gibt auch einen analogen Heimatdiskurs in den Interventionsgesellschaften selbst. www.uni-oldenburg.de/interventionskultur. Dort auch: Daxner, M. (September 2008): Heimatdiskurs. DGS. (Ms) 179

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nen, die Freiheiten beseitigen, die die Unterscheidung von gut und böse praktisch und gesellschaftlich werden lassen können. Wie falsch das ist, kann man an der Leichtigkeit sehen, mit der das Ereignis dekonstruiert und destruiert werden kann. (Ich muss hier an die falschen Messiasse aller Provenienz denken.) 9/11 hat seine erste Halbwertszeit überschritten. Es taugt nicht mehr zum Narrativ für die globale Sicherheitspolitik, für den Endkampf. Das unterscheidet den 11. September 2001 von der Shoah, einem Ereignis mit langer Halbwertszeit12, aber auch von der Weltwirtschaftskrise 1929. (Für alle Generation bis hin zu der unserer Eltern war die Inflation der frühen zwanziger Jahre noch viel einprägsamer als die Weltkrise.) In nicht globalen Zusammenhängen haben auch der amerikanische Bürgerkrieg 1861-64 und der Erste Weltkrieg (La Grande Guerre) weit längere Halbwertszeiten. Totalitäre Unrechtsregime, die durchaus dem Nationalsozialismus vergleichbar wären, wie der Stalinismus, haben vergleichsweise kürzere Erinnerungskonjunkturen. Der Krieg gegen den Terrorismus hat ein unscharfes Kriegs erklärendes Subjekt, die „USA“ (= das Gute), die ihre Legitimation auf eine Allianz weltweit ausdehnt. Der Gegner ist unfassbar, existiert nicht, heißt auch nicht bloß Al Qaida oder Taliban, sondern ist das ontologisierte Böse. Nur in dieser Hinsicht ist verständlich, dass der Kampf dagegen alle Mittel, einschließlich Folter und Mord grenzenlos erlaubt, vorausgesetzt, man bekennt sich zur Allianz. Stimmenthaltung ist schwer möglich und wird moralisch und oft auch realpolitisch bestraft. Die Kriegserklärung legitimiert den Einsatz regulären Militärs und vor allem des Kriegsrechts und sofort seine Außerkraftsetzung, weil es sich beim Gegner ja um das Böse und nicht eine fassbare „reguläre“ Armee handelt. Für die USA hat es drei Konsequenzen gegeben, die nunmehr weltweite Auswirkungen haben: Zum Ersten die Ausdehnung der Jurisdiktion auf rechtsfreie Räume (Guantanamo), damit das Aufgeben der nationalen Rechts12 Maier, C. (1990): Heißes und kaltes Gedächtnis: Zur politischen Halbwertszeit des faschistischen und kommunistischen Gedächtnisses. Transit 22, S. 153-165. Man beachte zunächst den Genetivus subjectivus / objectivus im Titel. Maier macht dies bewusst, er lässt absichtlich die Differenz von Geschichte und Gedächtnis unklar und er sagt nicht, wieweit Faschismus und Kommunismus „ihre“ Gedächtnisse ungleich lange über die Zeit bringen. Ich halte diesen unscheinbaren Aufsatz für revolutionär, weil er ansatzweise versucht, etwas, das uns „eigentlich“ klar ist, das wir uns aber aus ideologischen Gründen oft ungern eingestehen, zu analysieren. Jedenfalls hat ein Ereignis mit kurzer Halbwertszeit, und das ist 9/11, niemals zuvor eine derartige Sicherheitshysterie provoziert. Die Erinnerung an das „extrem“ Böse der Shoah ist ins kulturelle Gedächtnis eingetragen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen „Umgebungen“. Das könnte erklären, warum die heißen und kalten Gedächtnisse selbst historische Ungleichzeitigkeiten der kollektiven politischen Beschäftigung mit Schuld signalisieren. (Birgit Seeman gibt mir den Hinweis, dass dies konkret auch aus der kleinteiligen persönlichen Erinnerung von Einzelschicksalen etc. gespeist sein kann). 180

DIE FÄHIGKEIT, GUT UND BÖSE ZU UNTERSCHEIDEN

einheit; das erzwingende Operieren in souveränen Staaten, die als Mitglieder der Allianz angesehen werden (Straf- und Verfolgungsfreiheit in Deutschland für die CIA bei der Entführung und Verladung illegal verhafteter angeblicher feindlicher Kombattanten, Geheimgefängnisse bei Partnern (Rumänien und Polen etc.). Zum Zweiten wird dies begründet mit dem Vorrang der Sicherheit für das eigene Volk und die Erfordernis, Homeland Security über die Grenzen der eigenen Jurisdiktion und die Grenzen des bestehenden Völkerrechts auszudehnen. Damit hat dieser Kampf gegen das Böse eine metaphysische Dimension erreicht, die u. a. religiös (faith-based) begründet wird. Meine These dazu ist, dass die USA Guantanamo weniger als Hölle ansehen als wir Europäer, weil die dem Armaggedon zustimmenden Amerikaner die wirkliche Hölle nach dem Tod als realer ansehen als wir.13 Insofern wäre eine metaphorische Begrifflichkeit, wie etwa Krieg dem Terror!, noch eher verständlich als der Krieg gegen den Terrorismus. (Bei der Satirezeitung pardon in den 70er Jahren hieß das pro bono contra malum.) Drittens nehmen die Verbündeten der USA billigend oder gar pro-aktiv in Kauf, dass Menschen- und Grundrechte unter Hinweis auf Sicherheit eingeschränkt oder gar vernichtet werden. Hier ist besonders bedenklich, dass diese Einschränkungen auch von solchen Regierungen vorgenommen werden, die mit dem Endkampf Gut gegen Böse wenig im Sinn haben. Terrorismus ist die Generalchiffre dafür, eine Freiheit, die Möglichkeiten der Freiheit zu Gunsten von so genannter Sicherheit zu reduzieren und einzelne Freiheiten bis zur Unkenntlichkeit einzuschränken. Das lässt zwei weitere Fragen stellen. Ist Sicherheit ein ähnlich nichthintergehbarer Wert wie Freiheit? Und wenn ja, sind Konzepte wie Human Security oder Responsibility to Protect (R2P) geeignet, als Konsequenz des neuen Kriegs gegen den Terrorismus diesen Wert ins unser weltgesellschaftliches Menschenrechtsverständnis einzubetten? Ich muss hierzu erklären, dass ich die Frage weder als Philosoph, noch als Jurist noch als Politikwissenschaftler angehen möchte. Mich interessiert als Soziologe, was der permanente Angriff auf die Menschenwürde, die Tradition vergemeinschaftender Rituale und der Verlust der Möglichkeit, bereits bestehende und nunmehr abgeschaffte Freiheiten und Schutzrechte wieder herzustellen, bedeutet. Die Bedeutung etwa für die ethische Erziehung im öffentli13 Auch hier gilt es, einem Missverständnis vorzubeugen. Wir haben der amerikanischen Demokratie und ihrem aufgeklärten Aspekt unendlich viel zu verdanken. Wir neigen aber dazu, den anti-aufklärerischen Aspekt des Kommunitarismus seit Gründungszeiten zu unterschätzen. Die größere Bedeutung von Congregation und Community in den USA erlauben mir die Abkürzung des europäischen Wir, das aber natürlich voluntaristisch und vor allem das des Autors und seiner Zusammenhänge ist. 181

MICHAEL DAXNER

chen Schulwesen, aber auch die Solidarität jenseits der eigenen Interessen sind hier anzufragen. (Die Solidarität und nicht privates Mitleid oder Hilfsbereitschaft sollen der Antrieb für politisches Handeln sein14, und deshalb ist das Motiv, warum wir – Deutschen, Europäer, Eltern oder Geschwister von Bundeswehrsoldaten usw. – uns militärisch am Hindukusch beteiligen, zu hinterfragen.)15 Wenn es um die Freiheit für die Afghanen geht, ohne dass zugleich ein neuer Markt, ein neuer Bündnispartner, eine neue Allianz angestrebt wird, hat das nichts mit Altruismus zu tun, sondern mit Ausleben unserer Freiheit. Wenn aber diese eingeschränkt wird, damit der Einsatz am Hindukusch legitimiert wird, entsteht eine Anomie. Im Übrigen lässt sich die Freiheit der Afghanen16 gar nicht anders als durch diese Übertragung auf uns zurückspiegeln. Hierzu zwei Auffälligkeiten. Die erste: Mit dem amerikanischen Regierungswechsel ist im Lager der Sicherheits-Propheten eine gewisse Verunsicherung eingetreten, ob man mit dem Aufrechnen von Freiheit und Sicherheit so unbekümmert fortfahren könnte wie bisher. Prompt verkünden Herr Schäuble (Innenminister) und Herr Zierke (BKA-Chef) man habe Anzeichen dafür, dass die Terroristen das Wahljahr in Deutschland zu ähnlichen Anschlägen wie vor Jahren ins Spanien benutzen würden, um das Wahlergebnis zu manipulieren. Das Ziel der Warnung ist, vorsorgliche Freiheitsreduzierung zu legitimieren und im Falle des Anschlags, ob vorhergesehen oder nicht, noch einmal mit Verschärfungen nachzuziehen. Die zweite: Am 2. 2. 2009 strahlte die ARD einen Film über post-traumatisch geschädigte Afghanistan Heimkehrer der Bundeswehr aus (Willkommen zu Hause). Der Film beschäftigt uns noch ausführlich in der Forschung. Ich möchte aber auf eine Sequenz hinweisen, in der Peter Struck bei einer Pressekonferenz von der „Sicherheit“ sprach, die am Hindukusch auch verteidigt würde. Verunsichert recherchierte ich, denn bislang bin ich immer vom Struck-Zitat von der „Freiheit“, die dort verteidigt würde, ausgegangen. Und siehe: Hunderte Belegstellen machen deutlich, dass er selbst beide Begriffe, fast austauschbar, verwendet hatte. Wie unterschiedlich übrigens die Reduktion von Freiheiten vor sich geht, kann

14 Hannah Arendt, nach Maurizio Passerin d’Entrèves: Hannah Arendt and the Idea of Citizenship. Ms. Vortrag Oldenburg 11.6.1991, S. 14 f. 15 Medienpolitisch hat Hannah Neumann (ms. unpubl. 2008) Recht, wenn sie die Nähe unserer Freiheit zu unserer Aufmerksamkeit betont, während die Freiheit der Afghanen auch im Wortsinn weit weg ist. Diese Aufmerksamkeit verhält sich umgekehrt zur Fernstenliebe bei radikalen Aufrufen zu Befreiung und Revolution, wie sie zeitweilig von der Linken gepflegt wurden. 16 Dagegen kann man die offenbar begründeten Zweifel fast aller Intervenierenden am endlichen und jedenfalls derzeitigen Erfolg der Post-Intervention und der Kriegsführung in Afghanistan und der Region anführen. Dies ernst nehmen bedeutet keinesfalls Rückzug, sondern den oft abstrakt geforderten Strategiewechsel zu vollziehen. Vgl. Daxner, M. u. Free, J. (2009): Afghanistan – europäische und lokale Perspektiven. In: Kommune, 27. Jg., H. 1, S. 76-87. 182

DIE FÄHIGKEIT, GUT UND BÖSE ZU UNTERSCHEIDEN

man daran ablesen, dass mittlerweile Großbritannien z. B. die USA mit der Einschränkung von Bürgerrechten überholt hat.17 Was die Auswirkungen der Intervention für die innere Sicherheit im Interventionsland für Folgen haben kann, habe ich schon angedeutet. Nun ist aber interessant, wie der Krieg gegen den Terrorismus hier, in unserem Alltag, zur Einschränkung von Freiheiten wegen der angeblichen Erhöhung unserer Sicherheit geführt hat. Ich halte die These, dass der einzelne terroristische Akt jederzeit bei uns stattfinden kann, für begründbar; denke aber, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Akte bestenfalls einzuschränken, aber keineswegs auszuschalten ist, weshalb das Opfern universeller Werte und Freiheiten eher gegenteilige, die Terroristen ermutigende Folgen haben muss. Diese nämlich kümmern sich um unsere Werte und Lebensqualität herzlich wenig, nützen aber aus, dass wir ambivalent auf Sicherheitsmaßnahmen reagieren. Unsere Ambivalenz beruht darauf, dass wir uns gehorsam den Gesetzen den Sicherheitsmaßnahmen beugen, den hinter ihnen stehenden Ansatz aber nicht loyal tragen. Bärbel Bohley, uns noch vom Widerstand gegen das späte DDR-Regime bekannt, formuliert schärfer als es sich viele Liberale erlauben würden: „Ich liebe meine Freiheit so sehr, dass ich es riskiere, mit einem Terroristen im Flugzeug zu sitzen. Ich empfinde es als Terror, dass ich diese kleinen Fläschchen nicht im Handgepäck tragen darf und sogar ein Nacktscanner geplant werden konnte. Damit soll letztlich unser aller Denken besetzt werden […] Doch die Nation ist nicht erschüttert.“18 An dieser Aussage sind zwei Aspekte bemerkenswert. Auch wenn man alle Gefühle und Einsichten nachvollziehen kann, ist es schon eine Form von Kontamination, wenn Bohley die Inspektion am Flughafen selbst als Terror bezeichnet. Wichtiger und sehr aufmerksam aber ist, dass sie sich als einzelne Bürgerin betroffen weiß, die Reaktion der Gesellschaft, also die demokratische Reaktion im politischen Raum, vermisst. Das ist es, was die post-demokratische Reaktion, in der wir uns allmählich befinden, so prekär macht.19 Die Sicherheitsgesetze sind ein Erfolg der Terroristen, nicht des Rechtsstaats. Nicht ganz zu Unrecht werfen wir denen, die Sicherheit und Freiheit auf die gleiche Stufe stellen, Komplizenschaft – fast Kollusivität – mit den Terro17 Raab, D. (2009): A Faustian [!] trade-off. In: International Herald Tribune, 28.1.2009. (R. war Rechtsberater des Foreign and Commonwealth-Office 20002006). Die Gegenrechnung „faustisch“ zu nennen, hat Sinn. 18 Süddeutsche Zeitung, 10.1.2009. 19 Vgl. Crouch, C. (2008): Postdemokratie, Frankfurt/M., S. 8-9. Mir sind nicht Beispiele von Crouch für seine Thesen wichtig, sondern das Postulat der aktiven Beteiligung der Menschen im politischen Diskurs, und die Schwächung des Demos bei Ausbleiben einer Aktivierung außerhalb formalisierter Routinen, zu denen z. B. Wahlen geworden sind. 183

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risten vor, als wären diese konkrete Kriegsgegner. Wenn also der Innenminister erklärt, der Kampf gegen die Taliban in Afghanistan diene unserer Sicherheit, indem er Terroristen demotiviert, uns hier anzugreifen, und zwar durch die Gleichsetzung des Zwecks Sicherheit mit unserer Freiheit, die dazu aber nun leider eingeschränkt werden muss, dann zeigt dies die Unhaltbarkeit der Kriegserklärung. Da 9/11 keine Loyalitätsbindung mehr erzeugt, ist anzunehmen, dass die entmündigende Duldungsstarre einem Versuch der Wiedereroberung von Freiheiten und einem Zurückdrängen der Sicherheitshysterie weicht. Man kann das am ärgerlichen und perversen Beispiel des Flüssigkeitssäckchens im Flugverkehr oder am grundsätzlichen des BKA-Gesetzes gleichermaßen durchspielen. Auch Bohley bringt ihre Bemerkung zum Irrsinn des Hautcreme-Screenings in den Zusammenhang mit der Datensammelwut, die nie die Terroristen zum Ziel hat, sondern die Differenzialdiagnose mit dem Befund enden lässt: Du bist nicht als Terrorist ausgerechnet, noch nicht. Eine weitere Schwäche des Gegenrechnens von Sicherheit gegen unsere Freiheit ist so evident, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen. Wenn tatsächlich Terroranschläge zu jeder Zeit und überall stattfinden können, also ohnedies nur höchst probabilistisch vorzubeugen sind, dann ist fraglich warum wir gegen die Taliban mitkämpfen sollen, aber nicht gegen die Terrorgruppe n bis n+1. Da ich Schäuble nicht vorwerfe, das alles auf der endzeitlichen Gut / Böse-Achse zu schmieden, ist seine Gefolgschaft im Krieg gegen den Terrorismus besonders seltsam. Die innere Sicherheit wird vor allem von denen begrüßt, denen sie relative Positionsvorteile bringt. Arbeitsplätze, Sicherheitsdienste, vor allem private, Sicherheits- und IT-Technik, cross-over Datenzugreifer etc. Die Sicherheitsindustrie gewinnt eine relative Hoheit über die Staatlichkeit und macht sich das Rechtsstaatsprinzip zum Gegner (unverhohlene Gerichtsschelte der Exekutive und – der Gewerkschaft der Polizei). Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Maßnahmen, aber auch solche gegen die Immigration Notleidender und hilfsbedürftiger Menschen, ausschließlich mit diesem Neuen Krieg, mit Sicherheit und nicht mit deren Menschenwürde und Not begründet wird. Zugleich entsteht durch diesen neuen starken Staat eine Aushöhlung von Staatlichkeit. Wieweit ist Sicherheit ein Produkt anthropologischer Konstanten (auf „Angst“ aufbauend, auch in Ländern, die das Lehnwort übernommen haben)?20 Oder steigt die Angst mit der berechtigten Furcht vor Machtverlust? Reagiert bedrohte Hegemonie ungehemmter auf die Verletzung von Menschenrechten und setzt sich über scheinbar unantastbare Werte hinweg (Folterverbot)? Ich stelle diese Fragen ausdrücklich nicht in einem psychologischen Kontext. Ich will nicht wissen, wie diese Reaktion funktionieren, son20 Vgl. Fußnote 6. 184

DIE FÄHIGKEIT, GUT UND BÖSE ZU UNTERSCHEIDEN

dern ob sie empirisch auf relationalen Machtverschiebungen beruhen. Die Konsequenz einer zustimmenden Antwort ist beunruhigend: Bislang war es vor allem die sog. Westliche Zivilisation, die universalen Menschenrechten und Werten auch jenseits ihrer realen Einflusssphären Geltung verschaffen wollten. In dem Maß, in dem die Hegemonie dieser Zivilisation von anderen Mächten relativiert wird – die man aber nur als nicht-westlich, nicht aber anders „verorten“ kann – sinkt das Vertrauen in die Verhandelbarkeit dieser Universalität von westlicher Seite; zugleich sinkt die Neigung der neuen großen Mächte, diesen Universalismus in ihre Prioritätenlisten aufzunehmen. Die Prämissen der Eingangserzählung sind aber auch dann nicht kulturabhängig, wenn andere Kulturen diesen Text gar nicht kennen. Habermas spricht vom Diskurs des Westens mit sich selbst.21 Die universale Geltung der Unterscheidung in einem politischen Raum, der von der Weltgesellschaft oder der globalen Innenpolitik entgrenzt ist, stellt eine praktische Herausforderung dar; es gibt „keine Stelle, die dich nicht sieht“ (Rilke), d. h. die alten Abstufungen – von der Nähe des Hemdes und der Ferne der Hose etc. – gelten nicht mehr. (Bei Hannah Arendt steht dieser Universalismus dem konkreten politischen Raum entgegen.) Auch das Staatlichkeits-Prärogativ hat an Bindungswirkung verloren. Es geht also um die Schaffung von lokalen politischen Räumen, in denen sich Menschen so demokratisch organisieren, dass sie handeln können – unterscheiden wollen und müssen. Die Ungleichzeitigkeiten und die Ungleichmäßigkeiten der lokalen Verteilung von Individualität sind hier ein strukturelles, aber vor allem ein politisches Problem.

V.

Theoretische Praxis

Ich habe die Erzählung an den Anfang gesetzt, weil sie verstehen hilft, nicht um eine unangemessene Metaebene einzuziehen. Die uns abverlangte Zivilcourage ist zunächst keine große Sache, aber eine genaue Prüfung, ob die Unterscheidung wirklich funktioniert, lohnt. Wenn wir die Erzählung von Genesis als Ausgangspunkt einer Orientierung verwenden, ist es müßig zu spekulieren, ob seine „Universalisierung“ intendiert oder von uns postuliert wird, es wäre aber wichtig, diese Differenz abzuhandeln, wenn wir von Menschenrechten und ihrem Geltungsbereich sprechen und die Unterscheidung von Moral und Recht zu unserem Gegenstand machen. Hier aber ist es paradoxerweise einfacher. Eine Theorie von Gut und Böse wäre ein ungeheures Unterfangen. Aber wenn wir unterscheiden können, was gute und böse Handlungen sind – und darum geht es in der Erzählung, nicht um die Philosophie

21 Habermas, J.: Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte. In: Brunkhorst, H. u. a. (Hg.) (1999): Recht auf Menschenrechte., a. a. O., S. 216-227. 185

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apriorischer Begriffe –, dann ist jede Abstraktion – die Achse des Bösen, eine Verhinderung von Praxis – mindestens eine Behinderung. Der Widerstand sollte sich demnach zuerst gegen die Abstraktion im Lager des guten, der Guten, richten und nicht um eine differenzierte Verbesserung der Strategien gegen das Lager des Bösen, um da gerechter oder weniger zweck-rational zu agieren. Es geht nicht darum, die Angemessenheit von Maßnahmen relativ zu sekundären Qualitäten zu diskutieren (Verhörmethoden schon oder nicht als Folter zu normieren). Es geht darum, den Raum wiederherzustellen, in dem wir die Unterscheidung treffen können und dann entsprechend handeln. Und das ist der politische Raum, das ist die Selbstorganisation in der Demokratie, die jene Solidarität erlaubt, die von ihr ausgeht und nicht bloß auf dem privaten guten Willen beruht. Um die irreführende bis böswillige Balance von Freiheit und Sicherheit zu kritisieren, wären der narrative Auftakt und der Rekurs auf die Unterscheidung und die Ebenbildlichkeit nicht nötig gewesen. Mir erscheint aber, dass auf den groben Klotz unserer Freiheitsberaubung bei gleichzeitiger Rechtfertigung des Eingreifens zugunsten der Freiheit anderer der angemessen große, nicht grobe Keil gehört, bei dem es um nichts weniger geht als um gutes und böses Handeln.

186

Kontingenz und Freiheit. Zur Subjektkonstruktion bei Sartre und Merleau-Ponty RAINER FABIAN

I.

Einleitung

Lässt sich Freiheit zugleich mit Unfreiheit, Autonomie zugleich mit Fremdbestimmung denken? Diese Fragestellung, die im Folgenden am Beispiel der frühen Theorieansätze von Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty diskutiert wird, soll zunächst kurz am Beispiel der weisen Regelung des modernen Strafrechts erläutert werden: Das moderne Strafrechtssystem beinhaltet ein zweistufiges Verfahren bei der Strafzumessung. In einem ersten Schritt wird die Frage der Schuldfähigkeit geklärt, d. h. die Frage, ob ein Angeklagter für sein Handeln verantwortlich war, ob er frei entscheiden konnte, die Tat zu begehen oder nicht. In einem zweiten Verfahrensschritt wird dann das Strafmaß für den Delinquenten festgestellt. Das ist die Stunde der Gutachter, Psychologen, Psychiater oder anderer Spezialisten, und es geht unter anderem um die Frage nach mildernden Umständen. In diesem zweiten Schritt wird unterstellt, dass es für jede noch so selbst bestimmte Handlung Motive gibt, Gründe, die in der Biographie, den Lebensumständen und in der unergründlichen Psyche des Menschen ihren Ursprung haben, Faktoren, über die er nie voll verfügen kann. Das Strafrecht hat damit eine zweifache Unterstellung gemacht: Zunächst die, dass der Mensch frei sei, und zugleich diejenige, dass er doch nicht ganz frei ist. Es hat eine elegante – und zugleich pragmatische – Lösung gefunden für ein Problem, das die Philosophie über Jahrhunderte beschäftigt hat und das erst mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft in allgemeiner Form reflexionsfähig wurde. Eine philosophische Theorie über Freiheit und Unfreiheit des Menschen muss eine zentrale Forderung erfüllen: Das denkende und handelnde Subjekt, 187

RAINER FABIAN

welches die Theorie formuliert, muss in dieser selbst ‚vorkommen‘, oder anders formuliert: Die Theorie darf nicht den fundamentalen Prinzipien menschlichen Zusammenlebens widersprechen, die bis in die feinsten institutionellen Verästlungen, aber auch bis in die alltägliche Erfahrung die Lebenspraxis der Menschen in modernen säkularen Gesellschaften bestimmen, in denen diese Theorie formuliert wird. Zu diesen Prinzipien gehört die Ambivalenz der Erfahrung von Freiheit und Unfreiheit. Es scheint eine der schwierigsten Aufgaben der Philosophie zu sein, den Menschen zugleich als frei und unfrei zu denken, nicht einfach eine Seite dieses Problems auf Kosten der anderen zu negieren oder das Problem einfach als Antinomie (Kant) stehen zu lassen. Ihrer Grundtendenz nach scheitern monistische Theorieansätze wie die moderne Hirnforschung à la Roth oder Singer mit ihrer Vorstellung von der totalen Determiniertheit menschlicher Willenshandlungen an dieser Ambivalenzerfahrung. Weder gelingt es ihren Vertretern, den Standpunkt des sprechenden Subjekts dieser Theorie zu bestimmen, noch lässt sich mit diesem Ansatz das in den Grundprinzipien bürgerlicher Gesellschaften – auch institutionell, wie das Beispiel des Strafrechts zeigt – verankerte Selbstverständnis des Menschen als frei und zugleich unfrei adäquat reflektieren. Armin Nassehi hat darauf hingewiesen, dass die Idee des autonomen Individuums eine notwendige Unterstellung in einer komplexer werdenden bürgerlichen Gesellschaft ist: Die Ethik setzt nicht mehr auf Gebote, sondern auf das zur Verallgemeinerungsfähigkeit seiner Entscheidungen fähige Individuum, das moderne Recht wird verstanden als „Generator von individueller Zurechnungsfähigkeit“, und ähnlich machen Ökonomie, Religion, romantische Liebe oder Kunst die Unterstellung eines – wenn auch in Grenzen – selbst bestimmten, autonomen Subjekts.1 Diese Grenzen zu bestimmen, ohne in einen Determinismus zu verfallen, das ist das zentrale Problem der Ambivalenz von Freiheit und Unfreiheit. Als dem Menschen dämmerte, dass er frei sein könnte, hat er das Problem zunächst überwiegend nicht in Bezug auf sich selbst, sondern stellvertretend, am Beispiel Gottes, thematisiert. Immer wieder beschäftigt z. B. die mittelalterliche Theologie – und Philosophie – die Frage, ob Gott in seinem Willen frei, ob er an irgendwelche Gesetze gebunden sei, etwa die Naturgesetze, oder an moralische Prinzipien, ob er selbst auch die Motive für seine Willensakte selbst erzeuge, als ens causa sui, ob er der Repräsentant einer creatio ex nihilo sei. All diese Versuche sind letztlich nichts anderes als die projektive Bearbeitung einer ambivalenten menschlichen Erfahrung durch den Menschen selbst. Ich möchte im Folgenden nicht die philosophische Odyssee dieser Fragestellung verfolgen, sondern mich auf zwei moderne Versuche beziehen, einen

1

Nassehi, A. (2008): Nur keine Kopie sein. Übers wahre Wesen des freien Willens, Süddeutsche Zeitung, 22.08.2008, S. 13.

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KONTINGENZ UND FREIHEIT

schöpferischen Freiheitsbegriff zu formulieren, auf diejenigen von Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, und zwar auf die frühe Phase ihrer Philosophie bis in die Mitte der 50er Jahre. Ich werde zu zeigen versuchen, dass Sartre – aufgrund seiner ontologischen Zugangsweise zu dieser Fragestellung – an dem Problem der Ambivalenz wie auch an dem der Intersubjektivität scheitern muss, und dass es Merleau-Ponty gelungen ist, spezifische Sackgassen des Sartreschen Denkens zu vermeiden. Mit seinem Ansatz beim Leibsubjekt kann Merleau-Ponty den bei Sartre unversöhnlichen Widerspruch zwischen en-soi (An-sich-Sein) und pour-soi (Für-sich-Sein) überwinden und sowohl ein Verständnis von relativer Freiheit bzw. Autonomie wie auch von Intersubjektivität formulieren.2 Die Überlegungen sollen in die Frage münden, ob die Überlegenheit des Ansatzes von Merleau-Ponty sich auch in seinen Beiträgen zur politischen Philosophie und zur politischen Situation seiner Zeit widerspiegelt. Zunächst jedoch noch zwei Vorbemerkungen, eine bezüglich des sozialen Hintergrundes, vor dem die Theorieansätze von Sartre und Merleau-Ponty zu verstehen sind, und eine zweite, die sich auf den Kern der Fragestellung selbst bezieht, auf das Verständnis von Subjektivität unter der Annahme der totalen Kontingenz der Welt. Zum Ersten: Was den gesellschaftlichen Kontext in Frankreich anbelangt, in dem die theoretischen Hauptwerke von Sartre und Merleau-Ponty entstanden sind, so unterscheidet er sich fundamental von der geistigen und politischen Situation im nationalsozialistischen Deutschland. Die intellektuellen Eliten in Frankreich zwischen den 30er und 50er Jahren hatten die Möglichkeit – und sahen sich zugleich in dem Zwang – auf eine Fülle weltgeschichtlich bedeutender Ereignisse und Diskurse zu reagieren, während in Deutschland bis weit in die Nachkriegszeit das Damoklesschwert der Zensur bzw. der Selbstzensur die produktive Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Zeit unmöglich machte. Zu den wesentlichen Dimensionen dieses Kontextes, die vor allem für die nicht-dogmatischen linken Intellektuellen in Frankreich von großer Bedeutung waren, zählen: • Die Volksfrontregierung in Frankreich, • der spanische Bürgerkrieg, • eine starke stalinistische KPF mit einer erstarrten marxistisch-leninistischen Ideologie,

2

Vgl. hierzu die Studie von Meyer-Drawe, K. (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, München. Meyer-Drawe knüpft in wesentlichen Teilen ihrer Untersuchung an die Überlegungen zu Leiblichkeit und Kontingenz von Merleau-Ponty an, insbesondere dort, wo es ihr um die Formulierung eines Verständnisses von relativer Autonomie unterhalb der Ebene eines reflexionsphilosophisch begründeten Subjekts geht. 189

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• • •

die geistige und politische Krise Frankreichs nach der Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland, die Kollaborationsregierung in Vichy, die Erfahrung der Resistance und schließlich die Befreiung vom deutschen Faschismus, die geistigen Bewegungen des französischen Katholizismus (z. B. Paul Claudel, Francois Mauriac, George Bernanos, die Zeitschrift „Esprit“), die intensive Debatte über die Moskauer Prozesse und das stalinistische Regime und schließlich der kalte Krieg und die Kolonialkriege, in die Frankreich verflochten war (Indochina, später Algerien).

Im Kontext dieser komplexen geistigen und politischen Landschaft sind auch die Bemühungen um ein adäquates Verständnis von Freiheit zu verorten, wie sie in den philosophischen Grundpositionen von Sartre und Merleau-Ponty ausformuliert worden sind. Zum Zweiten: Von den vier Modalitäten des Seins, deren Behandlung in der Philosophie eine ehrwürdige Tradition hat – der Möglichkeit, der Notwendigkeit, der Wirklichkeit und der Zufälligkeit – haben Sartre und MerleauPonty die Zufälligkeit zum Ausgangspunkt ihres Denkens gemacht. Die Vorstellung der Kontingenz der Welt als Ganzer und damit auch des menschlichen Daseins, ist offensichtlich eine grundlegende Erfahrung der von André Gide geprägten Generation französischer Literaten und Philosophen zwischen den beiden Weltkriegen. Symptomatisch für diese Grundhaltung ist die intensive Beschäftigung dieser Generation mit dem acte gratuit, einer nicht motivierten menschlichen Handlung. Wenn es keine Schöpfungs- oder sonstige Ursprungsdeutung der Welt und des Kosmos gibt und die Welt als Ganze nicht in einer teleologischen Perspektive interpretiert werden kann, dann ist auch die Existenz des Menschen letztlich kontingent, und der Mensch könnte im acte gratuit zugleich die Tatsache seiner Zufälligkeit und seiner Freiheit nachvollziehen. Merleau-Ponty und Sartre haben die These der Kontingenz der Welt immer als eine Entdeckung des Existentialismus betrachtet, und in der Tat ist sie explizit in der hier diskutierten Form zum ersten Mal in La Nausée von Sartre thematisiert und in L’Être et le Néant auf den Begriff gebracht worden.3 So heißt es bei Sartre: „L’être est, sans raison, sans cause et sans nécessité; la 3

Simone de Beauvoir schildert in La Force de L’Âge, wie schockiert Sartre bei seiner ersten Berührung mit Husserl war, bei der er auf den Kontingenzbegriff stieß, den er für seine eigene Entdeckung hielt: „Il (Sartre, R. F.) eut un coup au coeur en y trouvant des allusions à la contingence. Quelqu’un lui avait-il coupé l’herbe sous les pieds? Lisant plus avant, il se rassura. La contingence ne semblait pas jouer un rôle important dans le système de Husserl.“ de Beauvoir, S. (1960): La Force de l’Âge, Paris, S. 156.

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définition même de l’être nous livre sa contingence originelle.“4 Und Merleau-Ponty formuliert den gleichen Sachverhalt in ähnlicher Prägnanz: „La contingence de tout ce qui existe et de tout ce qui vaut n’est pas une petite vérité à laquelle il faudrait tout bien que mal faire place dans quelque repli d’un système, c’est la condition d’une vue métaphysique du monde.“5 Was bedeutet nun die Tatsache der Kontingenz der Welt als Ganzer für das Verständnis von Subjektivität, von Sinn und von Geschichte? Jürgen Habermas hat in seiner frühen Auseinandersetzung mit Karl Löwith eine Antwort auf diese Frage versucht, die den Formulierungen des späten MerleauPonty sehr nahe kommt und die daher zunächst vorgestellt werden soll: „Wenn die natürliche Welt, in der die menschliche Gattung ihr Leben erhält und führt, als ganze kontingent ist und ihren Logos nicht sprachlos in sich selber hegt, ist die Geschichte in der Tat der Prozess einer nachgeholten Schöpfung: auf dem Boden der Natur, in der natürlichen Welt über sie hinaus ist sie die Bildung der Menschenwelt durch die Hand des Menschen selbst […] Die menschliche Gattung müsste als ein Bestandteil der Natur ebenso kontingent gedacht werden wie die Natur selbst – und als Naturgeschichte die Geschichte.“6 Wenn die Welt als Ganze kontingent ist, also weder einen dem Menschen einsichtigen kosmologischen Schöpfungsauftrag realisiert noch auf ein ihr immanentes Telos zusteuert, dann kann allein das zum schöpferischen Handeln befähigte freie Subjekt ihr Sinn verleihen. Dies ist die gemeinsame Ausgangsbasis von Sartre und Merleau-Ponty. Doch so interpretationsbedürftig die zuletzt genannten Begriffe sind – schöpferisch, Handeln, freies Subjekt, Sinn –, so verschieden sind auch die Antworten beider Philosophen auf die Frage nach der Sinngenesis innerhalb der Welt im Prozess der Geschichte. Die Auseinandersetzung zwischen beiden kann an folgender Problemstellung kurz angedeutet werden: Wenn eine als Ganzes kontingente Welt im Laufe der Entwicklung ein zur Vernunft fähiges Wesen aus sich heraussetzt, das – 4 5 6

Sartre, J.-P. (1943): L’Être et le Néant. Essai d’ontologie phénomenologique, Paris, S. 713. Merleau-Ponty, M. (1948): Sens et non-sens, Paris, S. 168. Habermas, J. (1967): Theorie und Praxis, Neuwied am Rhein; Berlin, 352 f. Für Ernst Bloch ist diese Vorstellung von der Kontingenz der Welt als Ganzer immer eine unerträgliche Zumutung gewesen. So schreibt er zur Begründung einer „marxistischen Kosmologie“: „Hätte also die Welt nur Mechanismus und seine ‚Entropie‘ im Grund, so wäre die Geschichte, wie wenn Fische in einem Bottich sich beißen oder auch ein Liebesspiel aufführen, und draußen tritt aus der Tür bereits die Köchin mit dem dazu disparaten, jedoch alles beendenden Messer […] doch eben ohne positiv-möglichen, möglich-positiven Sinn in der umgebenden Kosmologie, in die alles historische Geschehen letzthin einmündet, ist der Fortschritt dieses Geschehens, wenigstens bei strengem und totalitätshaltigem Blick, so gut wie nicht wahr, wie nicht wirklich gewesen.“ Bloch, E. (1965): Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Frankfurt/M., S. 198 f. 191

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zunächst absichtslos, doch mit der Zeit mehr und mehr bewusst – die Gestaltungsinitiative in seiner Welt übernimmt, so muss eine Theorie der Sinngenesis zeigen, wie dieses Wesen, indem es seine eigene Welt erzeugt, auch sich selbst als Subjekt hervorbringt. Das Subjekt hat an sich selbst ebenso Kontingenz abzuarbeiten, wie es in dem ihm zugänglichen Bereich des Kosmos – in Geschichte und Gesellschaft – kontingente Wirklichkeit in sinnhafte verändert. Das bedeutet, dass eine Theorie der nachgeholten Schöpfung zugleich eine Entwicklungsgeschichte des Subjekts sein muss, und dass Freiheit zu verstehen ist als der Prozess der Befreiung des Menschen – nicht nur von ‚selbstverschuldeter Unmündigkeit‘, sondern auch und vor allem von derjenigen, die dem Menschen als einem Naturwesen notwendig noch anhaftet, und der anderen, die der Vergesellschaftungsprozess hinter dem Rücken des Einzelnen erzeugt. Der ontologische Ansatz Sartres im cogito des pour-soi erlaubt nur begrenzt eine Antwort auf dieses Problem, während der Ausgang MerleauPontys vom Leibsubjekt gerade die Verbindung von Kontingenz und Sinn im Menschen verstehbar macht und damit Geschichte als einen mit der Entwicklungsgeschichte des Subjekts identischen Prozess.

II.

Jean Paul Sartre

In La Nausée hat Sartre in literarischer Form den Prozess dargestellt, in dem der Protagonist Antoine Roquentin auf dem Umweg über den Ekel und die Absurdität die Kontingenz entdeckt: „[…]je comprenais la nausée, je la possédais. A vrai dire, je ne me formulais pas mes découvertes. Mais je crois à présent, il me serait facile de les mettre en mots. L’essentiel, c’est la contingence (kursiv R. F.). Je veux dire que, par définition, l’existence n’est pas la nécessité. Exister, c’est être là, simplement; les existents apparaissent, se laissent rencontrer, mais on ne peut pas les déduire.“7 Für Roquentin ist die Existenz unbegründbar, und diese Unbegründbarkeit auch nicht aufzuheben durch die Erfindung eines notwendigen Wesens, das die Ursache seiner selbst wäre. Einem solchen Versuch hält Roquentin entgegen: „Or, aucun être nécessaire ne peut expliquer l’existence: la contingence n’est pas un faux semblant, une apparence qu’on peut dissiper, c’est l’absolu, par conséquent la gratuité parfaite.“8

7 8

Sartre, J.-P. (1938): La Nausée, Paris, S. 185. Ebd. La Nausée ist ein Musterbeispiel für die allgemeine Tendenz der Sartreschen Literatur, die Explikation eines philosophischen oder sozialen / politischen Problems auszudrücken und zugleich die Quintessenz von den literarischen Protagonisten selbst formulieren zu lassen.

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Das spätere literarische Werk Sartres bietet eine Fülle von Personen (Kean, Goetz, Égisthe, Baudelaire u. a.), deren ewig vergebliches Streben dahin geht, die eigene Existenz zu legitimieren, ihr dadurch Notwendigkeit zu verleihen, dass sie unter den Augen eines anderen Subjekts – eines menschlichen oder göttlichen – Anerkennung findet. Am Ende von La Nausée sieht Roquentin eine Möglichkeit, der Kontingenz zu entrinnen, sich von der ‚Sünde der Existenz‘ („du peché d’exister“)9 zu reinigen, und zwar im Medium der Kunst. Exemplarisch erfährt er diese Lösung in der Musik, am Beispiel einer Melodie, die sich wie ein Leitmotiv durch den Roman zieht und Roquentin beim Anhören als eine Oase von Notwendigkeit in der absurden und kontingenten Welt erscheint. Komponist und Sängerin erscheinen ihm mit diesem Musikstück als gerettet vor der Kontingenz der Welt und der bloßen Existenz. Sartre hat in Les Mots rückblickend die erste Hälfte seines eigenen literarischen und philosophischen Werkes als einen einzigen Versuch der Rechtfertigung seiner Existenz, als Erlösung von der ‚Sünde‘ der Kontingenz im Jenseits der Kunst beschrieben, und zwar kraft der schöpferischen Initiative des Subjekts, das sich so mit eigenen Händen aus dem klebrigen Sumpf der Kontingenz herauszieht.10 Auf den Begriff gebracht erweist sich das Problem der Kontingenz der Welt als Ganzer und des Menschen in der Sartreschen Ontologie des être-ensoi und des être-pour-soi als ein metaphysisches: Das Auftauchen des poursoi, das jeweils die ontologische Formel für Bewusstsein und Subjekt darstellt, erscheint als der Versuch des en-soi, sich durch Nichtung (néantisation) seiner selbst zu begründen, um so den Status des en-soi-pour-soi zu erlangen, des ens causa sui. Ohne ein solches – logisch wie zeitlich zugrunde liegendes être-en-soi – lässt sich nach Sartre ein ens causa sui nicht denken.11 Selbst Gott müsste, falls er existierte, nach dieser Ausgangsposition Sartres als kontingent gedacht werden. Das être-en-soi kann jedoch weder sich selbst noch etwas anderes positiv begründen; es hat nach Sartre lediglich die Möglichkeit der Nichtung und damit der Selbstbegründung als Bewusstsein: „Mais la possibilité propre de l’être – celle qui se révèle dans l’acte néantisant – c’est d’être l’en-soi se perdant comme en-soi pour se fonder comme conscience.“12 Sartre hat damit das Subjekt-Objekt-Verhältnis in ein ontologisches, ein Verhältnis zweier Seinsweisen verwandelt, deren Verhältnis zueinander nur in widersprüchlicher 9 Sartre, J.-P. (1938) a. a. O., S. 248. 10 Sartre, J.-P. (1964): Les Mots, Paris, S. 209. 11 „En un mot, tout effort pour concevoir l’idée d’un être qui serait fondement de son être aboutit, en dépit de lui-même, à former celle d’un être qui, contingent en tant qu’être-en-soi, serait fondement de son propre néant.“ Sartre, J.-P. (1943) a. a. O., S. 123. 12 Ebd., S. 124. 193

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Form formuliert werden kann: Gründung taucht überhaupt nur auf mit dem pour-soi. Dieses verweist einerseits als Bewusstsein nur auf sich selbst als auf seinen Grund, bleibt gleichwohl ohne das kontingente en-soi als dasjenige, was sich zum Bewusstsein nichtet, gar nicht denkbar, denn auch ein nichtendes Bewusstsein ist immer noch Bewusstsein-von-Etwas, ist intentional und somit auf vorgegebene Wirklichkeit bezogen. An dieser Stelle ergibt sich das Problem, das Sartre am Ende von L’Être et le Néant von der Ontologie an die Metaphysik weitergibt: Das Bewusstsein erscheint in der Tat als das Projekt des en-soi, sich zu begründen. Nichts gestattet jedoch auf der Ebene der phänomenologischen Ontologie die Behauptung, die Nichtung des en-soi als pour-soi sei ursprünglich und als Ziel jemals vom en-soi intendiert. Im Gegenteil, die Ontologie hat an dieser Stelle den tiefgreifenden Widerspruch zu erkennen, dass einerseits durch das pour-soi die Begründung erstmals in der Welt auftaucht, andererseits aber das en-soi, um sich selbst begründen zu wollen, immer schon pour-soi sein müsste. So erscheint das Auftauchen des pour-soi letztlich wie ein Wunder, unerklärbar wie die Jungferngeburt. Die Sartresche Ontologie kapituliert vor der Frage nach einer möglichen Entstehungsgeschichte des Subjekts, die sie mit ihrem begrifflichen Instrumentarium auch nicht beantworten kann. Das ist letztlich der Preis dafür, dass Sartre darauf verzichtet, die phylogenetische und sozialgeschichtliche Entwicklung der menschlichen Gattung wie auch die ontogenetische Entwicklung des Einzelsubjekts zu thematisieren.13 Menschliches Bewusstsein erweist sich bei Sartre als in einer Art ontologischem Sündenfall entstanden, einer dégradation, décompression oder désintegration des être-en-soi, womit dem en-soi die logische wie die zeitliche Priorität zugebilligt wird. Diese Priorität des kontingenten en-soi hat zur Folge, dass dem durch Nichtung aus ihm entstandenen pour-soi immer das Moment der ursprünglichen Kontingenz des en-soi anhaftet. Diese Kontingenz des Bewusstseins hat immer zwei Dimensionen: Einerseits ist die Erscheinung des Bewusstseins überhaupt eine absolut kontingente Tatsache, zum anderen ist es immer Bewusstsein eines bestimmten en-soi und partizipiert über die Tatsache, dass es als Ort in der Welt gerade einen bestimmten Leib hat und nicht einen anderen, auch an dessen Kontingenz. Daher die „injustifiable présence au monde“ des pour-soi14, sein Bewusstsein der völligen gratuité, des „étant là pour rien, comme étant de trop“15 – Formulierungen, die aus La Nausée und Les Mots vertraut sind.

13 Sowohl Sartre als auch insbesondere Simone de Beauvoir haben sich später dieser Aufgabe in großen biografischen und autobiografischen Studien gestellt. 14 Sartre, J.-P. (1943) a. a. O., S. 127. 15 Ebd., S. 126.

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Auf der anderen Seite bleibt aber das pour-soi in der Bestimmung Sartres reine néantisation, nur nichtende Aktivität, und damit reines Subjekt, dem nicht der leiseste Hauch eines Objektstatus anhaftet. Das Bewusstsein ist immer absolut frei, und damit das Subjekt auch immer voll verantwortlich für sein Handeln. Im Sartreschen zweidimensionalen Universum von en-soi und pour-soi gibt es keine mildernden Umstände wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit des Subjekts. Der Mensch kann zwar nicht wählen, ob und in welche Situation er geworfen wird, aber wenn er einmal in einer Situation existiert, so ist er voll verantwortlich für den Sinn, den er jeweils einer Situation gibt. Das pour-soi ist zugleich „totalement responsable“ und – wegen seiner mehrfachen Kontingenz – „totalement injustifiable“.16 Ursprüngliche Kontingenz und Sinngebungsfunktion stehen einander immer unvermittelt gegenüber; sie bleiben, in der Sprache Hegels, abstrakte Bestimmungen des Subjekts. Sartre hat eine Philosophie entworfen, die souverän den zu seiner Zeit unschwer zugänglichen Stand der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion ignoriert. Man könnte auch sagen, dass es ihm nicht möglich war, aufgrund seines ontologischen Ansatzes einen Zugang zu Theorieansätzen zu finden, die ihm einen Weg zum Verständnis auch der Ontogenese des sinngebenden Subjekts und der Freiheit hätten eröffnen können – etwa zu Freud oder Mead. Er hat sich zugleich – mit jener ontologischen Teilung der Welt in en-soi und pour-soi – den Zugang zu jenem Zwischenbereich von Gesellschaft und Geschichte versperrt, der Mensch und Welt sinnhaft miteinander verknüpft, und damit die Möglichkeit, die historische Abarbeitung von Entfremdung qua Kontingenz konkret zu fassen. Das nichtende Bewusstsein des pour-soi trifft niemals auf beliebiges Material, sondern immer schon auf ein Mittleres zwischen rein kontingentem en-soi und freiem Sinnentwurf: Auf die vom Menschen bereits gestaltete und sinnstrukturierte Umwelt innerhalb des als Ganzem kontingenten Kosmos; und diese Sinnangebote der jeweils historischen Situation gehen als Motive in die Handlungsentwürfe und Weltdeutungen des Subjekts ebenso ein wie dessen bisherige – in seiner Biographie und seiner Weltaneignung verankerte – Deutungs- und Interpretationserfahrung von Welt. Indem Sartre diese Zwischenwelt zwischen en-soi und poursoi ignoriert, versperrt er sich den philosophischen Zugang zur Genese des Subjekts wie auch zum Verständnis von Intersubjektivität und Geschichte. Intersubjektivität – in der Phase von L’Être et le Néant – wird von Sartre ausschließlich als Antagonismus verstanden: Immer, wenn ein pour-soi auf ein anderes trifft, setzt ein Kampf ein, in dem das eine pour-soi das andere zum en-soi zu degradieren versucht, und immer gibt es in diesem Kampf nach Sartre nur einen Sieger, wenngleich die Fronten sich auch wieder umkehren können. Aber es bleibt das Problem, dass der Mensch entweder pour-soi, frei 16 Ebd. 195

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und Subjekt, ist oder reines en-soi, unfrei und Objekt. Beides zugleich – Subjekt und Objekt, frei und unfrei – lässt sich mit den Kategorien der Sartreschen Ontologie nicht denken. Der Sartre von L’Être et le Néant hat keine Vorstellung von wechselseitiger Anerkennung zweier oder mehrerer Subjekte. In Huis Clos („Geschlossene Gesellschaft“) hat er diesen Sachverhalt am Beispiel des ‚Höllenkarussels‘ dargestellt, einem Prozess, in dem die drei Protagonisten Inès, Estelle und Garcin sich jeweils wechselseitig als Subjekt in einem der beiden anderen Partner zu spiegeln versuchen und von diesen jeweils wieder auf den Objektstatus zurückverwiesen werden. Das bittere Fazit dieses kleinen Kammerspiels: „Die Hölle, das sind die Anderen“, ist eine ziemlich genaue Übertragung der Quintessenz des zentralen 3. Teils von L’Être et le Néant „Le POUR-AUTRUI“ in das literarische Genre – im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, wie ein fragwürdiger philosophischer Ansatz die Basis für hoch attraktive und erfolgreiche dramaturgische oder literarische Inszenierungen sein kann. Gleichwohl: Sartres Subjekt gleicht einem Robinson ohne Diener, dem jeder Neuankömmling auf seiner Insel als eine Bedrohung seiner eigenen Entwurfsmöglichkeiten erscheint. Sartre hat – insbesondere unter der Erfahrung von Besatzung und Widerstand – das ontologisch als reines pour-soi definierte Subjekt auch moralisch und politisch als völlig freies Wesen definiert; allerdings bleiben auch an seinen politischen Vorstellungen von Subjektivität und Freiheit immer Spuren der Ontologie haften: Das Sartresche Verständnis von Freiheit ist zutiefst unhistorisch: Wir sind immer frei, ganz gleich, in welcher Lage wir uns befinden. Der Gefangene ist nach Sartre ebenso frei wie der Mensch unter der Folter. Damit ist „Freiheit bei Sartre nicht die zu realisierende Möglichkeit der sich aus der Naturabhängigkeit herausarbeitenden Gattung, sondern wird als allemal schon real daseiende behauptet.“17 Und auch Marcuse kritisiert die Ungeschichtlichkeit des Sartreschen Freiheitsbegriffs: „Denn Freiheit ist für ihn die Struktur menschlichen Seins selber und kann selbst durch die widrigsten Umstände nicht vernichtet werden: der Mensch ist selbst in den Händen des Henkers frei. Ist das nicht Luthers tröstliche Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen?“18 Und auch für Marcuse ist es „die ontologische Begründung des Existenzialismus“ Sartrescher Prägung, die „seine Bemühung, eine Philosophie der konkreten menschlichen Existenz zu entwickeln, zum Scheitern (verurteilt).“19 Es ist gleichwohl faszinierend zu verfolgen, wie Sartre trotz seines ontologisch begründeten und im Hinblick auf die eingangs formulierte Ambiva17 Schoch, B. (1980): Marxismus in Frankreich seit 1945, Frankfurt; New York, S. 86. 18 Marcuse, H. (1965): Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant, in: Marcuse, H.: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt/M., S. 52. 19 Ebd., S. 68. 196

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lenz von Freiheit und Unfreiheit defizitären Freiheitsbegriffs zu einem der berühmtesten und einflussreichsten französischen Intellektuellen der 50er und 60er Jahre werden konnte, so dass selbst der französische Präsident De Gaulle voller Anerkennung anlässlich einer Verhaftung Sartres formulierte: Einen Voltaire verhaftet man nicht! Sartres tatsächliche Bedeutung liegt sicherlich weniger in seiner Ontologie als vielmehr in dem, was man den ‚revolutionären Humanismus‘ genannt hat, in seinem kompromisslosen Einsatz als Intellektueller gegen gesellschaftliche und politische Unterdrückung, der letztlich in der Erfahrung des Widerstandes im besetzten Frankreich gründet. So setzt er sich für verhaftete Anhänger der KPF ein, die zum Boykott des Indochinakrieges aufgerufen haben, kritisiert zugleich die Unterdrückung der Freiheit im sog. realen Sozialismus und verteidigt die stalinistische KPF im kalten Krieg; er engagiert sich gegen den Algerienkrieg, ist Vorsitzender des Russeltribunals gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner und besucht – trotz massiver öffentlicher Kritik – die RAF-Häftlinge in Stammheim. Ein gewisser – mit seinem Ansatz durchaus vereinbarer – Dezisionismus, den man seinem wechselhaften politischen Engagement nicht absprechen kann, hat seiner Bedeutung als einem der führenden Intellektuellen der 40er und 50er Jahre keinen Abbruch getan. Und was die frühen literarischen Werke anbelangt, so stellen sie zwar aufgrund des defizitären theoretischen Hintergrundes in der Regel nur sehr selektive Teilaspekte menschlicher Existenz dar, diese jedoch in der Regel so eindrucksvoll, dass – etwa im Theater – die Frage nach der darin explizierten Ontologie vom zeitgenössischen Publikum nicht gestellt wird.

III. Maurice Merleau-Ponty Anders als Sartre, der einen Zugang zum Subjekt über die Ontologie gewählt hat, geht Merleau-Ponty von der Phänomenologie aus. In Anknüpfung an die Lebenswelttheorie des späten Husserl sieht er den Ursprung aller Erkenntnis in dem vorreflexiven, gelebten Bezug des Leibsubjekts zur Welt, in der natürlichen und vorpredikativen Einheit der Welt und unseres Lebens. Dieses primäre Zur-Welt-Sein (être-au-monde) des Menschen wird in der radikalen Reflexion thematisiert, die sich der eigenen Abhängigkeit von einem unreflektierten Leben bewusst wird, von dem sie immer schon getragen ist. Merleau-Ponty ordnet dieses Leben de facto wie de jure jeder bewussten Erkenntnis vor und weist damit ein neues a priori auf, eine transzendentale Ebene, die die kantische Reflexion zu umfassen beansprucht, indem sie einen noch fundamentaleren Logos aufsucht als den des objektiven Denkens: „Avec le monde naturel et le monde social, nous avons découvert le véritable trans-

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cendental“.20 Intersubjektivität ist hier mit der Welt immer schon gegeben. Es geht also um das Leibsubjekt und um dessen vorprädikatives, intentionales Korrelat, die erlebte bzw. gelebte Lebenswelt. Merleau-Ponty entwickelt diese Position in expliziter Auseinandersetzung mit der empirisch orientierten Physiologie und – vor allem – der Wahrnehmungspsychologie seiner Zeit.21 Analog zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der Hirnforschung versucht er die Position zu begründen, dass die subjektiven Bedeutungen der Wahrnehmung nicht durch die Reduktion des Verstehens auf physiologische Prozesse erklärbar sind. Der Empirismus macht – so Merleau-Ponty – das Subjekt zu einer Rechenmaschine, die nicht weiß, warum ihre Resultate wahr sind.22 Die Inkarnation des Subjekts begründet eine ursprüngliche co-existence, co-naissance des Menschen mit der Welt und mit den Anderen und ermöglicht eine erste Vertrautheit (familiarité) des mit Sinnen begabten Leibes mit den Gegenständen sinnlicher Erfahrung. Husserl hatte diese Beziehung als vortheoretische Konstitution beschrieben mit den Begriffen Urglaube, Urdoxa, Urempfindung für die Seite des Subjekts und urrepräsentierbares Sein, Lebenswelt für die Objektseite, und er hatte die beide verbindende Intentionalität als fungierende Intentionalität unterschieden von der Akt-Intentionalität. Die leibliche Existenz bedeutet nach Merleau-Ponty zunächst die Möglichkeit einer Kenntnisnahme von Welt überhaupt: Ein nicht-situiertes, akosmisches Subjekt, das nicht mit seinen Sinnen, seinem Leib den ‚Leib der Welt‘ erfahren könnte, hätte überhaupt keine Erfahrung von einer Welt mit Gegenständen, Formen und Strukturen, die alle ihre individuelle Ausdrucksform besitzen. Diese ursprüngliche Beziehung des Menschen zur Welt kann selbst nicht logisch begründet werden; vielmehr ist sie die Tatsache, die allen weiteren Welterfahrungen und Begründungsversuchen zugrunde liegt. Sie verweist darauf, dass der Mensch – als Naturwesen – aus dem gleichen Stoff ist wie die natürliche Welt selbst: „[…] que je suis capable par connaturalité de trouver un sens à certains aspects de l’être sans le leur avoir moi-même donné par une opération constituante.“23 Der Leib bildet durch sein être sensoriel den Dingen ein Echo, er ist das sensorium commune, das ihm ein habituelles Wissen von der Welt vermittelt, welches – unterhalb der bewussten Erkenntnis – im Modus des Allgemeinen, der généralité, existiert.

20 Merleau-Ponty, M. (1945): Phénomenologie de la perception, Paris, S. 418. 21 Diese Auseinandersetzung findet insbesondere statt in: Merleau-Ponty, M. (1942): Structure du comportement, Paris. 22 Merleau-Ponty, M. (1945) a. a. O., S. 22. Vgl. dazu die Diskussion um das sog. „Quale“, in: Müller, B. (2008): Die Seele und ihr Wetter. Für das „Quale“ hat die Wissenschaft keine Lösung, Süddeutsche Zeitung, Nr. 199, 27. August, S. 13: „Was weiß die Wissenschaft vom Ich (4)“. 23 Merleau-Ponty, M. (1945) a. a. O., S. 251. 198

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Empfindung und Wahrnehmung etablieren – vor aller Akt-Intentionalität – eine vorpersönliche Familiarität mit den Dingen, die nach Merleau-Ponty nicht nur zeitlich, sondern auch logisch die Vorgeschichte zu einer jeden bewussten Geschichte des Subjekts darstellt und in der sich bereits eine eigene Schicht von Bedeutungen konstituiert. Mit dem Leib ist jedoch nicht nur die materielle Affinität zu den Dingen gegeben, sondern auch eine formale: Er trägt selbst fundamentale Strukturen einer Welt, von der die Dinge jeweils nur eine bestimmte Konkretion darstellen. Das Leibsubjekt besitzt aufgrund seiner Co-Existenz mit den Dingen der Welt die Fähigkeit, Vorgegebenes spontan zu Sinngestalten zu strukturieren und bereits gebildete Strukturen auf andere hin zu transzendieren. Die Termini Transzendenz, Existenz, Freiheit, Sinngebung zielen – im Kontext der Philosophie Merleau-Pontys – alle auf den gleichen Sachverhalt: „[…] le mouvement permanent par lequel l’homme reprend à son compte et assume une certaine situation de fait“24, und das bedeutet den Akt der Verwandlung von Kontingenz in Sinn bzw. Notwendigkeit. Diese Fähigkeit zur Sinngebung ist für Merleau-Ponty ein Wesenszug menschlicher Natur, und zwar als ständige Möglichkeit und zugleich als eine letzte, nicht weiter begründbare Tatsache. Daher finden wir bei ihm – in Abwandlung der Sartreschen Formel ‚condammé à la liberté‘ – die Formulierung, dass der Mensch zur ‚Sinngebung verdammt‘ sei. Das, was vom Subjekt strukturiert wird, hat bereits in dem vorreflexiven, vorpersönlichen Kontakt des Leibes mit der Welt eine vitale existentielle Bedeutung angenommen, die von sich aus als Motiv für weitere Präzisierung, für bewusste Sinngebungsprozesse wirken und vom Subjekt aufgegriffen werden kann. Solche vortheoretische Konstitution ist nach Merleau-Ponty die Basis aller bewussten personalen Akte und bezeichnet zugleich – wie der corps habituel – das Existenzminimum, auf das Subjektivität zurückfallen kann, wenn sie sich zerstreut in der Allgemeinheit konstituierter Handlungen und Beziehungen zur Welt bewegt. Kontingenz ist in diese Konstitution bereits in zweifacher Hinsicht eingegangen: Auf der Seite des Subjekts durch den vorpersönlichen, noch nicht auf einen bestimmten Entwurf zentrierten Leib und auf der Seite der Situation, des Objekts, als Kontingenz der Inhalte. Spuren und Momente dieser Kontingenz bleiben bis in die theoretischen Leistungen menschlicher Produktivität erkennbar, weil in der theoretischen Einstellung immer auch aufgegriffen und expliziert wird, was die vortheoretische Konstitution als Motiv bereits gesetzt hat: „[…] jusque dans sa sublimation intellectuelle, le contenu demeure comme une contingence radicale.“25 Eine wesentliche Konsequenz solcher in die vorbewusste Konstitution eingehender Kontingenz ist die Tatsache, dass menschliche Existenz eine gegebene Situation niemals

24 Ebd., S. 201. 25 Ebd., S. 148. 199

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vollständig transzendieren kann und dass auch nie eindeutig der Anteil der Freiheit und der Anteil der situativen Vorgaben an einer Sinngebung ausgemacht werden kann. Was Merleau-Ponty am Leibsubjekt aufzeigt, expliziert er in ähnlicher Weise am Beispiel der Wahrnehmung. Der oben ausgeführte ursprüngliche Bezug des Menschen zur Welt ist nicht blind. Die einfachste Wahrnehmung des leiblichen Subjekts ist bereits sinnhafte Wahrnehmung, d. h. sie enthält Bedeutungen, wenngleich noch nicht in Form expliziter Erkenntnis. Diese stellt nach Merleau-Ponty erst ein spätes Produkt der Reflexionsphilosophie dar, sie bedeutet eine theoretische Einstellung des Menschen zur Welt, die ihre eigenen Ursprünge vergessen hat. Der Leib bewohnt den Raum immer schon, wenn ein Subjekt beginnt, sich bewusst darin einzurichten; und dieses Bewohnen beinhaltet die Fähigkeit, die Umwelt seinen Funktionen und Intentionen gemäß zu strukturieren. Die ursprüngliche Wahrnehmung ist also an die praktische Intention eines zunächst von Sinnlichkeit bestimmten Subjekts gekoppelt, das sich mit der Welt vertraut macht. Die hierbei sich ergebende Verbindung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Sinn und diffusem Sinnhorizont, von Kontingenz und Sinn kennzeichnet nach Merleau-Ponty nicht einen modus deficiens menschlicher Erkenntnis in der Wahrnehmung, sondern das Wesen der Wahrnehmung selbst. Die Aktivität des Subjekts strukturiert immer einen zunächst unbestimmten, uneindeutigen Horizont. Dieser Prozess der Neustrukturierung von zunächst unbestimmten Sinngestalten, die wie ein Motiv, wie ein Sinnangebot auf das Subjekt wirken, ist für Merleau-Ponty identisch mit dem Prozess des Denkens selbst. Die Intentionalität eines in einer bestimmten natürlichen und zwischenmenschlichen Welt engagierten Leibsubjekts kann von sehr unterschiedlicher Intensität sein: Einer gewohnten, regelmäßig wiederkehrenden Umgebung entsprechen – auf der Ebene des vorobjektiven Bewusstseins – in der Regel auch gewohnheitsmäßige Intentionen. Unterhalb des voller Aufmerksamkeit einer Situation zugewandten Leibsubjekts, des corps actuel, findet sich immer auch der gewohnheitsmäßig reagierende Leib, der corps habituel26. Die bewusste, sinnstrukturierende Subjekt-Objekt-Beziehung wechselt so ständig mit einer Existenz in der Form der Allgemeinheit, und das Leben enthält Rhythmen, die nicht nur in einer bewussten Wahl des Subjekts begründet sind, sondern auch im milieu banal der Umgebung. Merleau-Ponty beschreibt diesen partiellen Verzicht auf Spontaneität auch als notwendige Entlastung. Entlastung bedeutet hier jedoch wesentlich mehr und anderes als etwa für Arnold Gehlen, bei dem die Institutionen diese Funktion übernehmen und die einzelnen entlastenden Verhaltensmuster – durch den Sozialisationsprozess 26 Ebd., S. 97. 200

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vermittelt – gelernt werden. Merleau-Ponty liefert einer Gehlenschen Entlastungstheorie die Basis, indem er aufzeigt, wie im Individuum als Leibsubjekt Spontaneität sich immer schon stützt auf Anonymität, wie ein organischer Prozess in ein menschliches Verhalten übergeht, ein instinktiver Akt umschlägt und Gefühl wird oder wie umgekehrt ein menschlicher Akt ‚einschlummert‘ und sich zerstreut als Reflex fortsetzten kann.27 Im Menschen verschmelzen so zwei Arten von Geschichte, eine relativ banale, zyklische, und eine offene, einzigartige; und der Terminus Geschichte müsste eigentlich – nach Merleau-Ponty – nur der letzteren vorbehalten bleiben, wenn nicht beide in der menschlichen Existenz ununterscheidbar ineinander übergingen. Wenn Merleau-Ponty in diesem Kontext in der Regel von Geschichte redet, so ist das vornehmlich der Tatsache geschuldet, dass sein Blick auf die Welt des Menschen und deren Entwicklung überwiegend an der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx geschult ist und er die geschichtsphilosophische Ebene selten verlässt. Das, was bei Merleau-Ponty mit Geschichte gemeint ist, wird später in der Kritischen Theorie ausdifferenziert im Hinblick auf unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung, in die Menschen hineinsozialisiert werden. ‚Corps habituel‘ und ‚milieu banal‘ tauchen dann wieder auf als Formen der Entäußerung und Entfremdung, die in den Strukturen der Gesellschaft selbst wurzeln. So zeigt Habermas, dass auch Adorno zwar den „vernunftgeleiteten Willen aus der Sphäre des Intelligiblen in den Bereich der Leiberfahrung […] zurückholt“28, und dass für die Erfahrung der Freiheit – ähnlich dem Ansatz von Merleau-Ponty – „die im Leibsein erfahrene Zentrierung meiner Existenz eine notwendige […] Bedingung“29, ist; gleichwohl gibt es Erfahrungen von Unfreiheit, die weit über die unmittelbare Leiberfahrung hinausweisen: „Unfrei in einem gesteigerten, ja unheimlichen Sinne sind wir vor allem dann, wenn wir verinnerlichte Zwänge nicht einmal mehr als solche empfinden. Adornos Interesse gilt den gesellschaftlichen Zwangsmechanismen, die sich im Scheine der Freiheit etablieren, indem sie sich über eine Verinnerlichung normativer Grundsätze in neurotische, also unbewusste Zwänge umsetzen. Naturwüchsige Gesellschaften funktionieren wie unter Naturgesetzen. Die systemische Steuerung vollzieht sich über das intakt bleibende Medium freien Handelns, aber sie vollzieht sich über die Köpfe der handelnden Subjekte hinweg und setzt das subjektive Freiheitsbewusstsein zur Illusion herab.“30 27 Ebd., S. 104. 28 Habermas, J. (2005): „Ich selber bin ja ein Stück Natur“ – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit. In: Habermas, J.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M., S. 195. 29 Ebd., S. 194. 30 Ebd., S. 202. 201

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Das, was für den einzelnen Menschen gilt, gilt nach Merleau-Ponty auch für den Geschichtsprozess als Ganzen. Auch hier finden wir die gleiche Verbindung von Kontingenz und Sinn. Damit stellt sich die Frage nach der Vernunft in der Geschichte, und damit nach dem Maßstab für Sinn und Nichtsinn, sens und non-sens, denn mit der Offenheit der Geschichte ist Vernunft selbst historisch geworden: „[…]le ‚réel‘ et le ‚rationel‘ sont découpés dans la même étoffe, qui est l’existence historique des hommes, et […]par elle le réel est, pour ainsi dire, promis à la raison.“31 Nichts garantiert der Menschheit den endgültigen Sieg der Vernunft, wenn das, was Vernunft sein soll, nicht eindeutig sich bestimmen lässt; nichts macht eine menschliche Welt für die Zukunft wahrscheinlicher als das Chaos. „[…]le citoyen d’aujourd’hui n’est pas sur que le monde humain soit possible“32 Und noch deutlicher: „Il n’est même pas exclu en principe que l’humanité, comme une phrase qui n’arrive pas à s’achever, échoue en cours de route.“33 Obwohl der Gedankengang Merleau-Pontys eine gewisse Ähnlichkeit mit der Darstellung der Welt als einem Laboratorium possibilis salutis bei Ernst Bloch hat, kann man in Bezug auf seine Geschichtsphilosophie keineswegs von einer dezidierten Philosophie der Hoffnung sprechen; allerdings auch nicht von einem grundlegenden Geschichtspessimismus. Man könnte vielmehr eine Fülle von Belegen dafür anführen, dass Merleau-Ponty mit der Vernunft zugleich die Möglichkeit der Unvernunft betont, mit der möglichen Rationalität der Geschichte zugleich die Möglichkeit des Chaos: „La plus haute raison voisine avec la déraison.“34 Die Kontingenz der Geschichte lässt keinerlei Voraussagen zu über ihren zukünftigen Verlauf, sie lässt dem Einzelnen nicht einmal mehr den klaren Maßstab für Gut und Böse, für Vernunft und Unvernunft; allerdings begründet sie dadurch die Freiheit des Menschen zu Entscheidungen. Freiheit ist die Kehrseite der Kontingenz der Geschichte. Doch mit Kontingenz und Freiheit allein könnte nur ein Dezisionismus begründet werden, bzw. ein totaler Voluntarismus im Hinblick auf die Alternative von raison und déraison, von Vernunft und Unvernunft. Von nachgeholter Schöpfung zu sprechen, wie wir es eingangs mit Habermas vorgeschlagen haben, wäre unter der Bedingung, Vernunft und Unvernunft nicht unterscheiden zu können, völlig unsinnig, denn menschliches Leben und Geschichte könnten dann eher mit einem unendlichen Bastelprozess ohne Ziel verglichen werden als mit einer Schöpfung, die doch offenbar nachholen soll, was von anderer Seite nicht geleistet worden ist. Merleau-Ponty hat diese Problematik, dass nämlich die Kriterien für 31 32 33 34

Merleau-Ponty, M. (1960), Signes, Paris, S. 165. Merleau-Ponty, M. (1948) a. a. O., S. 10. Merleau-Ponty, M. (1960) a. a. O., S. 304. Merleau-Ponty, M. (1948) a. a. O., S. 9.

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Vernunft und Unvernunft selbst wieder historisch sind und Vernunft somit nicht objektiv bestimmbar bleibt, an keiner Stelle systematisch diskutiert. Gleichwohl lassen sich in seinem Werk Hinweise finden, die der Argumentation eine relativ klare Richtung geben, insbesondere seine Aussagen zum Problem des Fortschrittes in der Geschichte: „Le progrès n’est pas nécessaire d’une nécessité métaphysique: on peut seulement dire que trés probablement l’expérience finira par éliminer les fausses solutions et par se dégager des impasses.“35 Entwicklung ist durch die sinnschöpferische Tätigkeit des Menschen zwar immer schon gewährleistet; doch Fortschritt in dieser Entwicklung gibt es nur dadurch, dass bestimmte Problemlösungen aus der Fülle der menschlichen Antworten auf die Herausforderungen der Geschichte eliminiert werden. Sinngenesis in diesem Verständnis wäre eher die sukzessive Beseitigung von Nicht-Sinn als die positive Realisierung von Sinn. Die Geschichte stellt nach Merleau-Ponty Probleme, an denen die Menschheit sich abarbeiten und bewähren muss. Dabei gibt er Folgendes zu bedenken: Einerseits muss eine Lösung, weil sie sich in der Geschichte durchgesetzt hat, nicht auch die richtige sein; auf der anderen Seite aber ist eine Lösung, auch wenn sie den höchsten moralischen Anspruch auf ihrer Seite hat, doch dann die falsche, wenn sie sich nicht durchsetzen kann, und zwar deswegen, weil eine historische Antwort auf gesellschaftliche Probleme alle Fakten berücksichtigen muss, auch die möglichen Widerstände gegen ihre eigene Realisierung. Er ist allerdings der Meinung, dass schlechte Lösungen eines historisch-gesellschaftlichen Problems, auch wenn sie sich durchgesetzt haben, langfristig keinen Bestand haben können, weil die ungelösten Widersprüche in der Sache fortwirken. Merleau-Ponty war in den ersten Jahren nach 1945 Spiritus Rektor der Zeitschrift Les Temps Modernes, in der der Herausgeber Sartre im Editorial der ersten Ausgabe die politische Verantwortung der Intellektuellen hervorgehoben hat. Sartre hatte auf das Engagement von Voltaire im Prozess Calas, von Zola in der Dreyfus-Affäre und von André Gide gegen die französische Kolonialherrschaft im Kongo als Vorbilder hingewiesen. Und er hat diese Rolle selbst für sich übernommen. Merleau-Ponty hat das gelegentlich auch getan, aber seine eigentliche Leistung liegt in der gründlichen Auseinandersetzung mit dem Marxismus seiner Zeit. Merleau-Ponty kämpft unter Berufung auf den jungen Marx und mit einem fundierten Wissen der neueren Geschichte der Philosophie gegen das versteinerte marxistische Lehrgebäude und die objektivistischen Tendenzen der KPF. Sein großes historisches Verdienst ist es, den Gedanken der Kontingenz der Geschichte, der Offenheit der Geschichte bei gleichzeitiger Sinnorientierung, gegen ein mechanistisches Geschichts- und Weltverständnis 35 Merleau-Ponty, M. (1960) a. a. O., S. 304. 203

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in die Debatte eingebracht zu haben. Er war damit in den 50er Jahren wohl der schärfste Kritiker der stalinistischen Variante des sog. realen Sozialismus und hat wesentlich dazu beigetragen, die sozialen Kosten eines jeden gewaltsamen Revolutionsprozesses in die Debatte einzuführen. Er ist der frühen Kritischen Theorie sehr nahe, wenn er betont, dass die Geschichte nicht so sehr als Realisierung von Sinn betrachtet werden kann, sondern eher als die sukzessive Eliminierung von Nicht-Sinn. Die Geschichte ist nach Merleau-Ponty wie ein angefangener Satz, der zu Ende gesprochen werden, aber auch scheitern bzw. unvollendet bleiben kann. Es erscheint wie ein später Kommentar zu den beiden Theoriekonzepten von Sartre und Merleau-Ponty, wenn Nassehi am Ende seiner Überlegungen zum freien Willen schreibt: „Und vielleicht sind gerade deshalb derzeit diejenigen soziologischen Theorie- und Forschungszusammenhänge am innovativsten, die sich für vorreflexive Praxisformen [kursiv: R. F.] mehr interessieren als für das handelnde Heldensubjekt, dem falsches zugunsten des richtigen Bewusstseins ausgetrieben werden muss.“36 Und Nassehi ist „die Frage der Kulturbedeutung und der Praxis der Ich-Erzeugung entscheidender […] als die Frage nach dem ontologischen Ort des Ichs“37. Das ist ein klares Plädoyer für den Ansatz von Merleau-Ponty im Leibsubjekt und gegen den Versuch Sartres, Freiheit ontologisch zu begründen.

36 Nassehi, A. (2008) a. a. O., S. 13. 37 Ebd. 204

Politische Freiheit. Über die Konstituierung des Weltund Selbstverhältnisses im Politischen WALTRAUD MEINTS Um kaum einen Begriff wurde und wird so leidenschaftlich gestritten wie um den der Freiheit. Auch heute stehen sich die verschiedensten Konzeptionen scheinbar unversöhnlich gegenüber.1 Während individualistische Freiheitskonzepte das Individuum mit seinen Rechten zum Ausgangspunkt haben, stehen intersubjektive Formen des Lebens im Zentrum von kommunalistischen Freiheitstheorien. Individualismus und Kommunalismus unterscheiden sich sowohl in ihren anthropologischen Grundorientierungen als auch in ihren Rationalitätsvorstellungen grundlegend. Für Kommunalisten ist das Individuum Resultat seiner Sozialisierung und nicht deren Ausgangspunkt. Kommunalisten bestimmen individuelle Freiheit als eine kommunal ermöglichte Freiheit: „Der ursprüngliche Ort der Freiheit wäre demnach nicht das vereinzelte Individuum, sondern die Gesellschaft als Medium einer Individuierung durch Sozialisierung; Freiheit wäre zu denken als etwas, das nicht nur – als negative Freiheit – durch Institutionen begrenzt, sondern das – als positive Freiheit – durch die Institutionen, Praktiken und Lebensformen einer Gesellschaft allererst ermöglicht und hervorgebracht wird.“2 Während der Individualismus mit seiner Vorstellung von politischer Freiheit im engsten Zusammenhang „mit der modernen bürgerlichen Revolution und der Legitimation der kapitalistischen Gesellschaft“ steht, vertritt der Kommunalismus sowohl gegenüber den anthropologischen Prämissen der individualistischen Theorien als auch gegenüber der Realität der modernen bürgerlichen Gesellschaft eine kritische Position.3 Das gemeinsame Moment von individualistischen und kommunalis1

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Wellmer, A. (1993): Freiheitsmodelle in der modernen Welt, in: ders.: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt/M., 1993, S. 15-54. Vgl. Forst, R. (1996): Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt/M. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. 205

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tischen Freiheitsverständnissen besteht in der Verteidigung von Rechten des Individuums, z. B. gegen die Mehrheit des „Volkes“ oder gegen die Kontrolle des Staates, wie auch im vielbeschworenen „Gemeinsinn“, der als gemeinsames Interesse an der öffentlichen Ausübung und Vertretung der allgemeinen Angelegenheiten wahrgenommen wird. Während sich die Debatte um den Begriff der Freiheit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre auf Diskussionen über die „Zivilgesellschaft“, die „demokratische Frage“ und das „Politische“ zentrierte4, beherrscht seit Mitte der neunziger Jahre der „Kampf um Anerkennung“, die „Einbeziehung des Anderen“ und der „Streit um Differenz“ die Diskussion.5 Hannah Arendts Überlegungen zu politischer Freiheit, lebendiger Macht und öffentlichem Raum wurden und werden innerhalb dieser Debatten kritisch diskutiert.6 Im Folgenden werde ich Hannah Arendts Verständnis von politi-

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Rödel, U./Frankenberg, G./Dubiel, H. (1989): Die demokratische Frage, Frankfurt/M.; vgl. auch Negt,O./Kluge, A. (1992): Maßverhältnisse des Politischen, Frankfurt/.M. sowie Meyer, T. (1994): Die Transformation des Politischen, Frankfurt/M. Honneth, A. (1992): Der Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M.; Habermas, J. (1997): Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. Vgl. Cohen, J./Arato, A. (1990): Civil Society and Political Theory, Cambridge; Rödel, U:/Frankenberg, G./Dubiel, H. (1989) a. a. O.; Rödel, U. (Hg.) (1990): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M.. Während Cohen/Arato der Auffassung sind, daß Arendt “failed to demonstrate that her normative ideal of the public sphere is compatible with modernity”, argumentieren Rödel/Frankenberg/Dubiel mit Arendt (und in ihrer Nachfolge Claude Lefort, Cornelius Castoriades und Marcel Gauchet), wenn sie die “Zerstörung der öffentlichen Sphäre”, die “Abschaffung der Meinungsvielfalt” und “das Verschwinden öffentlicher Politik” vor dem Hintergrund totalitärer Politik diskutieren. Gegen Cohen/Arato wäre einzuwenden, daß sie Arendts Modell lediglich in normativer Perspektive diskutieren und den realhistorischen Hintergrund ausblenden, der wesentlich für das Verständnis der Arendtschen Konzeption ist. Gegen Dubiel, Rödel und Frankenberg wäre anzumerken, dass sie – obwohl sie den geschichtlichen Hintergrund als konstitutiv begreifen – Arendt zu Unrecht ein limitiertes und elitäres Konzept öffentlicher Freiheit unterstellen und dabei ihre spezifische Kritik an der kapitalistischen Ökonomie ignorieren. Vgl. Rödel/Frankenberg/Dubiel (1989) a. a. O., S. 67f.; vgl. auch Wellmer, A. (1999): Hannah Arendt über die Revolution. In: Brunkhorst, H./Köhler, W. R./LutzBachmann, M. (Hg.): Recht auf Menschenrechte, Frankfurt/M., S. 125-156. – Wellmer versucht, Arendts Konzept mit einer “Domestizierung des Kapitals” in Einklang zu bringen. Es ist jedoch fraglich, ob Arendt eine “demokratische Domestizierung des Kapitalismus” als Voraussetzung von politischer Freiheit für möglich gehalten hätte. Folgt man ihren Einsichten über die Entwicklungen des Kapitalismus, scheint dies kaum wahrscheinlich. Vgl. Arendt, H. (1998): Elemente und Ursprünge, München, S. 284f. Siehe auch Seyla Benhabib (1991): Modelle des öffentlichen Raums. Hannah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Habermas. In: Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Heft 2, S. 165.

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scher Freiheit jenseits von individualistischen und kommunalistischen Freiheitskonzeptionen verorten.7 Dass Hannah Arendt in Kants Bestimmung der Urteilskraft den Schlüssel für eine Grundlegung des Politischen zu finden meinte, ist weithin bekannt. Weniger bekannt ist aber, dass der Begriff der Urteilskraft tatsächlich konstitutiv ist für ihr Verständnis von politischer Freiheit und Macht. In den Begriffskonstellationen von politischer Urteilskraft und lebendiger Macht lässt sich ihr Verständnis von politischer Freiheit als eine Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses interpretieren. In dieser Auseinandersetzung wird deutlich, dass es Arendt um die Frage geht, wie der Raum des Politischen gestaltet werden muss, damit sich durch die Urteilskraft politische Macht und damit Freiheit entfalten kann. Erst vor diesem Hintergrund wird es für sie möglich, die Urteilskraft zum Kraftzentrum ihrer Philosophie des Politischen zu erheben. Dass und wie diese die Begriffskonstellation von politischer Freiheit, Macht und öffentlichem Raum konstituiert, soll im Folgenden thesenartig vorgestellt werden.8 Die Komplementarität von Freiheit und Macht ist ohne die Urteilskraft in dem von Arendt entfalteten Verständnis nicht zu begreifen.

I In einer radikalen Kritik des abendländischen politischen Denkens, das das Proprium des Politischen verkannt hat, wendet Arendt sich sowohl gegen den traditionellen Freiheitsbegriff als auch gegen den Begriff der Souveränität, weil beide auf einem Willensbegriff basieren, der die Beziehung des Selbst auf sich selbst solipsistisch zum Gegenstand hat, aber nicht die Beziehung zu Anderen. In Reflexion auf die traditionellen Konzepte von Freiheit, Macht und Öffentlichkeit hebt sie aus dieser Tradition Bedeutungsschichten dieser Begriffe hervor, die durch die Tradition verschüttet wurden. So unterscheidet Arendt zwischen einem prä-politischen9 und politischen Freiheitsbegriff. Der prä-politische Freiheitsbegriff wird als „Triebfeder des Handelns“ als Spontaneität bestimmt. Sie beruft sich für diese Bestimmung auf Kants transzendentalen Freiheitsbegriff in der Kritik der reinen Vernunft. Dort bestimmt Kant die Freiheit in Negation zur determinierten Natur: „Dagegen verstehe ich un7

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Für einen intersubjektivistischen Begriff politischer Freiheit plädiert auch Rainer Forst. Vgl. Forst, R. (2007): Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M., S. 189 – 211. Ich habe diesen Zusammenhang in meiner Studie Politische Urteilskraft. Wie Menschen sich im Handeln und Denken orientieren. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts ausführlich behandelt (in Vorbereitung). Arendt, H. (1993): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ludz, U., München, S. 51. 207

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ter Freiheit, im kosmologischen Verstande, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetz wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte.“10 Freiheit als Kausalität aus Freiheit wird bei Kant jenseits der Erscheinungswelt bestimmt. Die Verwirklichung menschlicher Freiheit wird hiervon unterschieden und untersteht dem Sittengesetz, der praktischen Vernunft. Die Freiheit des menschlichen Handelns ist ein Handeln auf der Grundlage des Sittengesetzes. Obwohl der handelnde Mensch eine Erscheinung der Sinnenwelt ist, erkennt sich der Mensch – so Kant – „auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann.“ Er ist „sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“.11 Der Mensch ist sowohl Erscheinung der Sinnenwelt, also der empirischen Realität und den empirischen Gesetzen unterworfen, als auch intelligibles Wesen. Dieser doppelten Bestimmung entspricht die doppelte Bestimmung des Freiheitsbegriffs: als praktischer und als transzendentaler. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant, dass „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache“12. Der praktische Begriff der Freiheit ist „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.“13 Es ist die Vernunft, die sich jenseits der Naturgesetze die Idee einer freien Spontaneität „schafft“: „So schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne dass eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen.“14 Die Bestimmung der Freiheit als die Idee einer freien Spontaneität, die Kant in der doppelten Bestimmung des Freiheitsbegriffs entwickelt, greift Arendt auf. Sie subsumiert die Spontaneität jedoch nicht unter das „Faktum der Vernunft“. Als Erläuterung sei Kants Beispiel angeführt: „Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei, und ohne den notwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche, eine neue Reihe schlechthin an, obgleich

10 Kant, I. (1968): Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in 12 Bänden: Bd. 3, hg. v. Weischedel, W., Frankfurt/M., B 560, 561. 11 Ebd. B 575. 12 Ebd. B 562. 13 Ebd. B 562. 14 Ebd. B 562. 208

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der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist.“15 Die Bedeutung der Spontaneität als „Triebfeder des Handelns“ schildert Arendt eindringlich in ihrer Analyse der totalen Herrschaft. An prominenten Stellen verweist sie beharrlich darauf, dass die Transformation der menschlichen Natur eben in der Zerstörung dieser Spontaneität liegt, die in jeder menschlichen Tätigkeit enthalten, für das Vermögen des Handelns jedoch unerlässlich ist. Die Zerstörung der Spontaneität ist, so Arendt, identisch mit der Zerstörung der Individualität: „Dass die Zerstörung der Individualität nach Ermordung der moralischen und Vernichtung der juristischen Person in nahezu allen Fällen gelingt, geht am klarsten aus dem Verhalten der Inhaftierten selbst hervor. (…) Denn die Zerstörung der Individualität ist identisch mit der Zerstörung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen.“16 Die Idee der Freiheit als Spontaneität, die allen Tätigkeiten zugrunde liegt, aber dem Handeln eigentümlich ist, zeigt sich erst in der Erfahrung der totalen Herrschaft in ihrer ganzen Radikalität.17 Der Freiheitsbegriff Kants als einem Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen18, ist Arendts „präpolitischer“ Freiheitsbegriff. Kants Unterscheidung zwischen einem „absoluten“ und einem „komparativen“ Anfang wird von Arendt mit Augustinus Unterscheidung zwischen dem principium von Himmel und Erde und dem initium des Menschen in Beziehung gesetzt.19 Hätte Kant die Philosophie des Augustinus des „Geborenwerdens“ gekannt, dann hätte er zugestanden, so Arendt, dass „die Freiheit einer relativ absoluten Spontaneität für die menschliche Vernunft nicht anstößiger sei als die Tatsache, dass die Menschen geboren werden – jeder ist wieder ein Neuankömmling in einer Welt, die ihm zeitlich voranging. Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ der Wille“20. Die Freiheit der Spontaneität liegt in dem Anfangen-Können, indem die Menschen die Geburt des Menschen als einen Anfang bestätigen. „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in 15 Ebd. B 477, 479. 16 Arendt, H. (1998) a. a. O., S. 934f. 17 Arendt, H. (1993) a. a. O., S. 49f. „Trotz Kants politischer Philosophie (...) haben wir die außerordentliche politische Bedeutung dieser Freiheit, die im Anfangen-Können liegt, vermutlich erst heute realisiert, da die totalen Herrschaftsformen sich nicht damit begnügten, der freien Meinungsäußerung ein Ende zu machen, sondern drangingen, die Spontaneität des Menschen auf allen Gebieten prinzipiell zu vernichten.“ 18 Kant, I. (1968) a. a. O., B 474, B 475. 19 Arendt, H. (1979a): Das Wollen. Vom Leben des Geistes, Bd. 2, München, S. 107. 20 Arendt, H. (1979) a. a. O. S. 107. 209

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dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“21

II Kritisiert Arendt an der neuzeitlichen Philosophie die Identifizierung von Freiheit mit der Willensfreiheit, so erkennt sie in der neuzeitlichen politischen Theorie eine falsche Identifikation von Freiheit mit der Souveränität. Diese Gleichsetzung gehe einher mit der Verknüpfung des Freiheitsbegriffs mit einem Subjektbegriff, der sich ebenfalls über die Souveränität bestimmt und der christlich-abendländischen Tradition verhaftet bleibt. An die Stelle der göttlich-absolutistischen Souveränität trete neuzeitlich das menschlich-bürgerliche Subjekt. Arendts Kritik gilt diesem Verständnis bürgerlicher Subjektivität. Politisch hat sich, so schreibt Arendt, „kein anderer Bestandteil des traditionellen philosophischen Freiheitsbegriffs als so verderblich erwiesen, wie die ihm inhärente Identifizierung von Freiheit und Souveränität.“22 Das Denken über Freiheit wird sinnlos, wenn es von der Bedingung der Nicht-Souveränität menschlicher Existenz abstrahiert. Die Nicht-Souveränität menschlicher Existenz ist für Arendt bereits mit dem Faktum der Natalität, der Gebürtlichkeit gesetzt. Um überhaupt leben zu können, bedarf ein Mensch anderer Menschen. Aber nicht nur die Souveränität einzelner Menschen, sondern auch die eines politischen Körpers ist für Arendt ein gefährlicher Irrglaube. Souveränität heißt hier, dass „eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre.“23 Wo aber alle Menschen gleiches tun, sich so verhalten, als ob sie einer wären, kann von Freiheit nicht mehr gesprochen werden. Die Idee der Souveränität entspricht nicht nur nicht der menschlichen Bedingung, sie ist dem Begriff der Freiheit überhaupt entgegengesetzt, insofern Freiheit an das Faktum der Pluralität gebunden ist. Wie die Natalität ist auch die Pluralität eine Bedingung menschlicher Existenz. Das Faktum der Pluralität ist bei Arendt doppelt bestimmt. Einerseits bezieht es sich auf die Gleichartigkeit – alle sind Menschen –, andererseits auf die Verschiedenheit der je einzelnen Menschen. Die Idee der Souveränität streicht die Pluralität menschlichen Daseins durch. Dabei wendet Arendt sich sowohl gegen die autoritäre Souveränitätsauffassung im Verständnis von Thomas Hobbes als auch gegen demokratische Souveränitätskonzeptionen in der Tradition von Jean-Jacques Rousseau als Grundlage 21 Arendt, H. (1983): Vita activa, München, S. 166. 22 Ebd., S. 213. 23 Arendt, H. (1994a): Freiheit und Politik. In: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, hg. v. Ludz, U., München, S. 214. 210

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des Politischen. Politik auf Souveränität und dem allgemeinen Willen zu gründen, stellt für Arendt gerade die Zerstörung dessen dar, was man glaubt zu begründen. Denn die Welt wird durch die Pluralität der Perspektiven konstituiert, deren Unterschiedlichkeit die Offenheit des Gemeinwesens durch die Pluralität der Meinungen zeigt. Es gäbe dort keine echte Meinungsbildung wo alle Meinungen zusammenfallen. Die Bildung einer Meinung setzt voraus, dass man sich auf andere Meinungen einlässt und die eigene überprüft.24 Eine einmütige öffentliche Meinung erzeuge eine einmütige Opposition, die wirkliche Meinungsbildung im Keim erstickt.25 „Wo es eine einhellige öffentliche Meinung gibt, besteht die Tendenz, Andersdenkende physisch zu beseitigen, denn massenhafte Übereinstimmung ist nicht das Ergebnis einer Übereinkunft, sondern ein Ausdruck von Fanatismus und Hysterie. Im Gegensatz zur Übereinkunft bleibt die vereinheitlichte Meinung nicht bei irgendwelchen genau definierten Zielen stehen, sondern breitet sich wie eine Infektion auf alle benachbarten Angelegenheiten aus.“26 Während Meinungen und Interessen divergieren, ist ein Wille unteilbar. Es gibt keine Übereinkunft von Menschen, die Verschiedenes wollen, sondern nur zwischen Menschen, die verschiedener Meinung sind. Während Habermas Souveränität im Sinne eines „Zusammenhangs zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten im normativen Gehalt eines Modus der Ausübung politischer Autonomie“ diskutiert, „der nicht schon durch die Form allgemeiner Gesetze, sondern erst durch die Kommunikationsform diskursiver Meinungs- und Willensbildung“27 abgesichert wird, kritisiert Arendt den Souveränitätsbegriff überhaupt. Auch wenn Habermas’ Paradigmenwechsel von der „praktischen“ zur „kommunikativen Vernunft“ mehr ist als ein bloßer Etikettenwechsel, so kehrt doch bei ihm die Idee eines allgemeinen Willens in der eines allgemeinen Konsensus im Politischen wieder. Die Differenz in den Argumentationen von Habermas und Arendt wird hier besonders deutlich. Habermas arbeitet die Rationalitätsvoraussetzungen und damit die Möglichkeit eines praktischen Diskurses heraus, der in einem gemeinsamen Willen mündet. Für Arendt hingegen ist die Idee eines gemeinsamen Willens schlechthin Gegenstand der Kritik. Sie behauptet nicht, dass Macht und Recht aus der Meinung hervorgehen, auf die sich alle öffentlich geeinigt haben, sondern dass es Übereinkünfte zwischen Menschen verschiedener Meinungen gibt.28 24 Arendt, H. (1963): Über die Revolution, München, S. 290. 25 Ebd., S. 290. 26 So formuliert Arendt es auch in ihrem Aufsatz Die Krise des Zionismus. Arendt, H. (1989): Die Krise des Zionismus, in: dies., Essays und Kommentare 2, Berlin, S. 90f. 27 Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M., S.133. 28 Habermas, J. (1992): a. a. O., S. 182f. Siehe hierzu Arendt, H. (1963) a. a. O., S. 204. 211

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In ihrem Vergleich zwischen der Französischen und Amerikanischen Revolution hebt Arendt genau diesen Unterschied hervor. Was beide Revolutionen verbindet, ist, dass sie die Quelle aller legitimen Macht in die Hände des Volkes verlegte, was sie voneinander trennt, ist, dass der Ursprung des Gesetzes der Wille des Volkes sei. Zwar habe man in Amerika auch vor dem Problem gestanden, eine neue Quelle der Gesetze zu etablieren, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, Gesetz und Macht aus der gleichen Quelle abzuleiten: „Der Ort der Macht wurde ins Volk verlegt, aber die Quelle aller Gesetze sollte die Verfassung werden, ein Schriftstück und Dokument, etwas Objektives, das man zwar so oder anders interpretieren und je nach Umständen abändern und erweitern konnte, das aber niemals ein subjektiver, ephemerer Gemütszustand sein konnte, wie der sogenannte Volkswille, der sich in Wahlen äußert und in Befragungen der öffentlichen Meinung erkundet werden kann.“29 Nicht der allgemeine Wille eines Volkes als Grundlage der Souveränität, sondern die Macht, die sich durch gemeinsames Handeln entfaltet und durch Bünde und Verfassungen stabilisieren kann, ist die Quelle des Gesetzes. Hier erkennt man den Grund für Arendts emphatische Perspektive auf die Amerikanische Revolution, die wesentlich darin begründet liegt, dass die Unterscheidung zwischen Republik und Demokratie auf einer Trennung zwischen Gesetz und Macht basiert, die nicht nur verschiedene Ursprünge haben, sondern auch unterschiedliche Formen der Legitimierung benötigen.30 Arendt bestreitet nicht die Möglichkeit einer Übereinkunft in Meinungs-, Diskussionsund Handlungszusammenhängen, aber sie bestreitet vehement, dass das Resultat einer Konsensbildung ein singulärer oder kollektiver Souverän sein könne. Dies eben widerspreche der menschlichen Bedingung: „Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie.“31 Das Handeln fällt in ein Netz von Bezügen, in dem das von den Einzelnen Intendierte sich verändert.32 Nur Homo faber, der Herstellende, und die in seine Logik eingehende Zweck-Mittel-Kategorie setzt Souveränität voraus: den Zwecken gegenüber, die einer sich setzt, den Mitteln gegenüber, die er für seine Verwirklichung benutzt, den anderen Menschen gegenüber, „denen er im Sinne eines von ihnen erdachten Endproduktes Befehle erteilen muss, die sie nur auszuführen brauchen –, die nur der Herstellende, aber niemals der Handelnde besitzt.“33 Ist der Begriff der Souveränität an eine Herstellungs- und Produktionslogik gebunden, so kann im Handeln als politischem Handeln Souveränität, in welcher Form auch immer, we29 Arendt, H. (1963) a. a. O., S. 204. 30 Ebd., S. 215f. 31 Arendt, H. (1994b): Kultur und Politik. In: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, hg. v. Ludz, U., München, S. 294. 32 Ebd., S. 294. 33 Ebd., S. 295. 212

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der das Ziel noch die Grundlage des Politischen sein. Wenn aber weder die traditionelle Willensfreiheit – und auf deren Basis – die Souveränität nicht die Grundlage von Arendts politischen Freiheitsbegriffs bildet, was ist dann politische Freiheit bei Arendt? Und auf welcher Grundlage steht ihr Begriff politischer Freiheit? Ihr Verständnis von politischer Freiheit beruht auf der Macht der Meinung, die sich durch die politische Urteilskraft legitimiert. Wenn aber ein politisches Gemeinwesen auf der Macht der Meinung beruht, wie ist dann dieser Begriff der Macht bei Arendt zu verstehen? Ich werde zunächst diesen Machtbegriff und dessen Verzahnung mit ihrem Begriff der Öffentlichkeit erläutern, um danach auf die spezifische Bedeutung von Arendts Übersetzung von Kants Kritik der Urteilskraft für ihr Verständnis von politischer Freiheit zu diskutieren.

III Arendt bezieht sich für ihre Bestimmung des Begriffs der Macht auf dessen etymologische Bedeutung. Der Begriff geht zurück auf das griechische Wort „Dynamis“ und das lateinische „Potentia“, welches nicht dem „Machen“ entspringt, sondern von „möglich“ und „mögen“ hergeleitet wird.34 Nicht die Befehls- und Gehorsams-Beziehung kennzeichnet die Macht, sondern sie entspricht der menschlichen Fähigkeit, gemeinsam zu handeln. Im Unterschied zur Macht sei Gewalt durch die Zweck-Mittel-Relation, durch Sprachlosigkeit, Isolation und Herrschaft gekennzeichnet. Während Max Weber Herrschaft als Spezialfall von Macht begreift und diese als die „Chance“ definiert, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“35, bestimmt Arendt den Begriff der Macht jenseits von Herrschaft, nämlich als die gemeinsame Ausübung politischer Freiheit im öffentlichen Raum. Macht erhalte den öffentlichen Raum am Leben: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen,

34 Arendt, H. (1983) a. a. O., S. 194; vgl. auch Grunenberg, A. (1997): Der Schlaf der Freiheit. Politik und Gemeinsinn im 21. Jahrhundert, Hamburg, S. 195f., vgl. auch Grunenberg, A. (1995): Macht kommt von möglich. In: dies./Probst, L. (Hg.): Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute, Bremen, S. 83-96. 35 Weber, M. (1966): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie, 2. Auflage, Tübingen, S. 42, § 16. 213

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er ‚habe die Macht‘, hieße das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt sei, in ihrem Namen zu handeln.“36 Während Max Weber der Macht einen teleologischen Handlungsbegriff unterlegt, der zur Erreichung des Zwecks, zur Durchsetzung des eigenen Willens Mittel einsetzt, den anderen oder die anderen dazu zu veranlassen, in seinem Sinne zu handeln, reserviert Arendt für dieses Handlungsmodell den Begriff der Gewalt. Gewalt sei jedoch fälschlicherweise im Sinne einer Herstellungskategorie begriffen worden, indem die Gewalt als ein Mittel zu einem bestimmten Zweck eingesetzt werde. Die Gewalthandlung verlaufe innerhalb dieses Verständnisses wie ein Herstellungsprozess ab, dessen Kern die Zweck-Mittel-Kategorie beinhalte. Arendt wendet dagegen ein, dass die Vorrangstellung des Zwecks im Verlauf der Handlung verloren gehe und der Zweck von den Mitteln überwältigt werde. Arendts Machtbegriff ist der Weberschen Konzeption entgegengesetzt. Er basiert auf Handeln, Kommunikation und Verständigung, ist also ein, wie Habermas es formuliert, „kommunikativer Machtbegriff“.37 Während Arendt zwischen „materialisierter Macht“ und „lebendiger Macht“ unterscheidet, differenziert Habermas in Anlehnung an Arendt zwischen „administrativer“ und „kommunikativer“ Macht, die der Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln korrespondiert. Im Unterschied zu Arendt hält Habermas am strategischen Moment der Macht fest. Obwohl Habermas Arendts Begriff der kommunikativen Macht „in seinem normativen Status“ schätzt (und übrigens auch übernimmt), liest er Arendts Verständnis des Politischen aus verfallstheoretischer Perspektive. Arendts Begriff des Politischen sei „kein denkbarer Weg für irgendeine moderne Gesellschaft“.38 Im Unterschied zu Habermas eliminiert Arendt das instrumentell-strategische Moment im Machtbegriff. Die Differenz zwischen der Konzeption von Arendt und Habermas liegt aber noch in einem zweiten Moment. Während Arendts Begriff der Macht herrschaftsfrei konzipiert ist, wie überhaupt ihre Philosophie des Politischen jenseits des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten gedacht ist, versteht Habermas Herrschaft als die Ausübung politischer Macht, die sich rational und diskursiv legitimieren muss. Jede Regierung, jede politische Organisation ist, so Arendt, auf das kommunikative Machtpotential angewiesen, weil sie ihm ihre Existenz verdankt: „Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust, und schließlich Ohnmacht. Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie 36 Arendt, H. (1987): Macht und Gewalt, München, S. 45. 37 Vgl. Habermas, J. (1972): Hannah Arendts Begriff der Macht. In: Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, hg. v. Reif, A., München, S. 287f. 38 Ebd., S. 240. 214

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zugrunde, und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass kein materiell greifbarer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag.“39 Während Max Weber das Wesen des Staates im Anspruch auf das Gewaltmonopol sieht, bestimmt Arendt die Macht als das Wesen politischer Gemeinwesen. Tritt der Begriff der Macht an die Stelle des Begriffs der Herrschaft, dann erscheint ein politisches Gemeinwesen als „seinem Wesen nach organisierte und institutionalisierte Macht“40. Im Unterschied zur Gewalt ist Macht kein Mittel, sie entsteht nur im Zusammenhandeln der Menschen. Im Verständnis von Arendt ist sie die Erscheinungsform sowohl der inneren als auch der äußeren Freiheit. Und darin ist sie zugleich die Einheit der philosophischen Freiheit – das Ich-will – und der politischen Freiheit – das Ich-kann. Macht als das Vermögen, Mögliches zu verwirklichen, ist in diesem Sinne „the freedom to call something into being which did not exist before“.41 Unter der Perspektive der menschlichen Pluralität fallen Freiheit und Macht zusammen. Politische Institutionen und Organisationen sind sowohl Ausdruck materialisierter Macht als Vergegenständlichung des menschlichen Handelns. Sie dienen sowohl zum Schutz als auch zur Beschränkung menschlicher Freiheit. Arendt betont die Notwendigkeit der Institutionen, Rechte und Gesetze, weil Handeln und als Resultat Macht schrankenlos sind.42 Ohne diese Materialisierung von Macht kann sich politische Freiheit nicht entfalten. Die politischen Institutionen sind für ihren Erhalt auf lebendige Macht angewiesen, insofern Macht sowohl der Grund ihrer Existenz als auch ihrer Stabilität ist. Macht selbst aber ist äußerst fragil. Sie zerfällt so rasch, wie sie durch das Miteinander der Menschen entstehen konnte. Dies liegt nicht zuletzt an der Eigentümlichkeit des öffentlichen Raums, der so essentiell auf dem handelnden und sprechenden Miteinander der Menschen beruht, dass er selbst unter den scheinbar stabilsten Verhältnissen seinen fragilen Charakter niemals ganz verliert.43 Machtverlust zeige sich darin, „dass das Volk seinen Konsens zu dem, was die Machthaber, nämlich die Ermächtigten tun, entzieht“. Sie versuchen, ihre verlorene Macht durch Gewalt zu ersetzen. Gewalt ist jedoch in der Lage, vorhandene Macht zu zerstören. Die Zerstörung der Macht durch Gewalt beinhaltet die Beherrschung des öffentlichen Raumes oder gar die Vernichtung desselben: „Die Gewalt kann nie mehr, als die Grenzen des politischen Bereichs schützen. Wo die Gewalt in die Politik eindringt, ist es um

39 40 41 42 43

Arendt, H. (1983) a. a. O. S. 193f. Arendt, H. (1987) a. a. O., S. 53. Arendt, H.(1963): Between Past and Future, New York, S. 151. Arendt, H. (1983) a. a. O., S. 195. Arendt, H. (1987) a. a. O., S. 81. 215

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Politik geschehen.“44 An anderer Stelle formuliert sie: „Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande sie zu erzeugen.“45 Arendts Machtbegriff ist mit ihrem Begriff der Öffentlichkeit, der ebenfalls doppelt bestimmt wird, verzahnt. Einerseits beinhaltet er alles, „was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist“46. Andererseits beinhaltet der Begriff die Welt selbst, insofern „sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen. […] In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, dass eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen.“47 Ein weiteres Moment kommt hinzu. So verweist sie innerhalb dieses Zusammenhangs explizit auf die innere Beziehung zwischen der Realität der Außenwelt und der eigenen Identität: „Ohne den Erscheinungsraum und ohne ein Minimum an Vertrauen auf Handeln und Sprechen als Weisen des Miteinander wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.“48 Ausgehend von den zwei Momenten des Öffentlichen bei Arendt schlage ich deshalb folgende Interpretation vor. Die erste Bestimmung des Öffentlichen bei Arendt ist keine ontologische Dimension des öffentlichen Bereichs, sondern betrifft die Realitätsfähigkeit der Menschen, die so verletzbar ist wie das Öffentliche als Welt. Die zweite Bestimmung des Öffentlichen bezieht sich auf ebendiese Welt als Ort politischer Freiheit.49 Wenn man nun Arendts Begriff der Öffentlichkeit mit ihrer Bestimmung der Macht zusammenbringt, ergibt sich eine Perspektive, die ihre These der Identität von Freiheit und Politik zu erhellen vermag. Denn Arendt hat, wie oben dargestellt, den Begriff der Macht doppelt bestimmt: als „lebendige Macht“ und als „materialisierte Macht“. Der Begriff der „lebendigen“ Macht korrespondiert mit der ersten Bestimmung des Öffentlichen; die zweite Bestimmung des Öffentlichen korrespondiert mit dem Ort der Freiheit als materialisierter Form von Macht, also den Organisationen, Institutionen und Verfassungen. Die erste Bestimmung des Öffentlichen entspricht dem Handeln und Sprechen als lebendiger Macht und damit als einer Potentialität des politischen Erscheinungsraums. Macht als Potentialität liegt somit vor dem politischen Erscheinungsraum, insofern sie sich nicht schon in Institutionen oder Organisationen materialisiert hat. 44 45 46 47 48 49

Arendt, H. (1963) a. a. O., S. 20. Arendt, H. (1987) a. a. O., S. 57. Arendt, H. (1983) a. a. O., S. 49. Ebd. S. 52. Arendt, H. (1983) a. a. O., S. 202. Benhabib, S.: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998, S. 54.

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Die Materialisierung von Macht ist auf diese lebendige Macht angewiesen. In Anlehnung an Madison, der formulierte, dass alle demokratischen Regierungen letztlich auf Meinungen beruhen, formuliert Arendt, dass „alle politischen Institutionen […] Manifestationen von Macht (sind); sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt“50. Der innere Zusammenhang zwischen Macht und Handeln ist ausschlaggebend. In dieser Perspektive kann politische Freiheit mit der zweifachen Bestimmung der Macht als „lebendige“ und „materialisierte“ Macht gedacht werden. Mit dieser doppelten Bestimmung der Macht kann sie deren institutionelle Ebene identifizieren und gleichzeitig zeigen, dass diese immer auf die lebendige Macht angewiesen ist, die sie bestätigt oder auf Veränderung der institutionelle Ebenen drängt. Die lebendige Macht entsteht durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Perspektiven, die zu einer Zustimmung aller führen kann, aber nicht muss.51 Arendt insistiert auf der Notwendigkeit eines begrenzten politisch-öffentlichen Raums, in dem Meinungen sich entfalten und durch eine „erweiterte Denkungsart“ überprüft werden können. Dadurch entfaltet sich politische Freiheit, weil diese Form des Denkens, die zur Bildung einer Meinung führt, diskursiv und öffentlich ist und der menschlichen Pluralität entspricht. Die Bedeutung der Macht für Arendts Bestimmung des ersten Moments des Öffentlichen liegt also darin, dass sie das zweite Moment des Öffentlichen als den Erscheinungsraum der Freiheit überhaupt aufrecht erhält.52 Betrachtet man Arendts Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen im Rahmen ihrer Neuformulierung des Politischen angesichts der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass das Private als Ort des reflexiven Rückzugs des Einzelnen bestimmt wird. Das Politische der Öffentlichkeit und der private Ort, die Rückzugsmöglichkeit des Einzelnen zum stummen Dialog mit sich selbst gehören zusammen, weil man zuerst mit anderen spricht, „ehe man mit sich selbst spricht.“53Es geht in der Unterscheidung zwischen Öffentlich und Privat also nicht darum, festzulegen, was politisch ist und was nicht, sondern darum, die „ungesellige Geselligkeit“ (Kant) des Menschen als einem denkenden und handelnden Menschen in diesen unterschiedlichen Sphären zu gewährleisten. Anders ausgedrückt: weil der Mensch sowohl Teilnehmer als auch Zuschauer ist, bedarf er unterschiedlicher „Orte“, denn das Handeln bedarf der Anderen, während das Denken ein einsames Geschäft ist, dass aber den politischen Raum zur Voraussetzung hat.

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Arendt, H. (1987) a. a. O., S. 42. Arendt, H. (1983) a. a. O., S. 193. Ebd., S. 199. Arendt, H. (1979b): Das Denken. Vom Leben des Geistes, Bd. 1, München, S. 187. 217

WALTRAUD MEINTS

IV Arendt bestimmt politische Freiheit als die Freiheit, die in der Kritik der Urteilskraft von Kant als Prädikat der Einbildungskraft erscheint, da die Einbildungskraft mit der ‚erweiterten Denkungsart‘ verknüpft ist, weil wir durch sie die Möglichkeit haben, „an der Stelle jedes anderen zu denken.“54 Meinungsbildung und Urteilskraft sind für Arendt die ausschlaggebenden rationalen Vermögen des Menschen im Raum des Politischen.55 Meinungen entsprechen der Fähigkeit des Menschen zum perspektivischen Denken und beruhen auf der „Standortgebundenheit der Menschen“, d.h. die Meinungen sind nicht zufällig. Zugespitzt formuliert: Die Meinung als Standpunkt ist subjektiv bestimmt durch einen besonderen Standort, deshalb ist sie nicht zufällig. Arendt hebt hervor, dass erst die politische Urteilskraft – als Fähigkeit, mir gedanklich den Standort und damit auch den Standpunkt des Anderen zu vergegenwärtigen – es mir ermöglicht, meine Denkungsart zu erweitern. Durch die Einbildungskraft, die mich lehrt, Besuche zu diesem Standort zu machen, kann ich den Subjektivismus meines eigenen Standpunkts und damit meiner Meinung beheben. Die politische Urteilskraft hat die Meinung zum Gegenstand, die nicht mit der Einfühlung oder Empathie zu verwechseln ist. „Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solcher Standort ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.“56 Diese Einbildungskraft ermöglicht zweierlei, sie schafft Distanz zu dem, was zu nah ist, und sie rückt Dinge in die Nähe, die zu fern sind. Damit befreien wir uns von unseren subjektiven Meinungen und Vorurteilen und erreichen eine Unparteilichkeit jenseits von Objektivität. Dieser Prozess der Urteilsbildung begleitet das Handeln der Menschen und verleiht ihrer Macht eine Legitimität, die ihre Stärke aus der erweiterten Denkungsart bezieht. Arendt begriff Kants Kritik der Urteilskraft als „versteckte Kritik der politischen Vernunft“57. Diese bestimmte den Begriff der „erweiterten Denkensart“ als Form des Denkens, durch das sich die Menschen im Denken und Handeln 54 Arendt, H. (1994a) a. a. O., S. 216. 55 Arendt, H. (1963) a. a. O., S. 295. 56 Arendt, H. (1994c): Wahrheit und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München, S. 342. 57 Arendt, H. (2000): Denktagebuch, hg. v. Ludz, U./Nordmann, I., 2 Bde., Bd. 1, München, S. 577. 218

POLITISCHE FREIHEIT

orientieren. Denn in der „erweiterten Denkungsart“, so hatte Arendt argumentiert, bringen die Menschen die Weltlichkeit der Welt durch die jeweilig unterschiedliche Perspektive auf die Welt hervor. Zugleich enthüllen sie mit ihrem Urteil nicht nur ihre Sicht auf die Welt, sondern zeigen auch, „wer“ sie sind. Das heißt, dass „Wer jemand ist“ zeigt sich nur im gemeinsamen Handeln der Vielen, in der Pluralität. Die Bildung der Person verschränkt sich bei Arendt mit ihrem Begriff der Macht. Die Macht entsteht nur durch das Handeln der Vielen, die nur in diesem Zusammensein ihr „Wer“ und damit die „Person“ enthüllen. Die Person ist ein Effekt der Begegnung mit Anderen. Enthüllt sich im „Wer“ die Individualität eines Menschen, so wird durch das Sprechen dieser Person gleichzeitig enthüllt, wie er/sie die Welt sieht. D.h. sowohl die Weltlichkeit der Welt, die sich durch die Vielfalt der Perspektiven konstituiert, als auch die Individualität des Menschen enthüllt sich im Urteilen. Welt- und Selbstverhältnis fallen im Urteilen zusammen. Beides kann sich aber nur entfalten, wo es die Bedingung der Möglichkeit für einen öffentlichen Raum gibt. Durch das Urteilen entscheidet sich zugleich, wer zu dieser Welt gehört, denn indem man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft. Alle diese Momente, die Arendt als conditio sine qua non der Weltund Selbstorientierung ausgewiesen hatte, kehren im Begriff der Macht wieder. Dies heißt aber nichts anderes, als dass der Begriff des Politischen, den Arendt in der Interpretation des Begriffs der Urteilskraft von Kant gewann, das Kraftzentrum bildet, ohne das politische Freiheit im Arendtschen Sinne sich nicht entfalten kann. Für die Entfaltung politischer Freiheit ist der innere Zusammenhang von Macht und politischer Urteilskraft konstitutiv. Freiheit, Macht, Öffentlichkeit und Urteilskraft sind bei Arendt intern aufeinander bezogene Begriffe. Zugleich ist dieses Bezugsgewebe aber von äußerster Fragilität und Verletzbarkeit. Deutlich wird dies im Prozess der Beschädigung und letztendlich Zerstörung der Bedingungen politischer Urteilskraft, wie sie sich im 20. Jahrhundert ereignete. In der Zerstörung der Urteilskraft zerfällt die Einheit von Macht und politischer Freiheit, und damit zerbricht auch das Welt- und Selbstverhältnis, durch das sich die Menschen in der Welt orientieren.

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Kollektivkörper und Netzwerke. Die Verkörperung imaginierter Gemeinschaften im Sport THOMAS ALKEMEYER „Sie sollen nicht glauben, dass sie Brasilianer sind, nur weil sie aus Brasilien kommen.“ Mit diesem Satz kommentierte der ehemalige deutsche Fußballnationalspieler und heutige Fernsehkommentator Paul Breitner schwache Leistungen der brasilianischen Fußballspieler Dede und Evanilson in der FußballBundesliga.1 Von Breitner mag man halten, was man will, immerhin hat seine Feststellung einen gewissen zeitdiagnostischen Wert: Sie zeigt einen Wandel in der Vorstellung von kollektiver Identität in unserer Gesellschaft an. Zugehörigkeit zu einem Kollektiv bestimmt sich danach nicht mehr vorrangig über die Herkunft, sondern über eine bestimmte Qualität des Verhaltens, Auftretens oder Spielens. Identität ist in dieser Perspektive nicht gegeben, sie entspringt nicht einer angeborenen Natur, sondern kann erworben werden – zum Beispiel, indem man sich in zumeist langwierigen Prozessen des Spielens, Übens und Trainierens einen identifizierbaren Spielstil aneignet, in dem sich motorische, technische und taktische Erfordernisse untrennbar mit ästhetischen Merkmalen verbinden.2 Identität scheint in spätmodernen Gesellschaf-

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Vgl. Bröskamp, B. (2006): Glokalisierte Körper. Körperkünste und Kulturen in Zeiten der Globalisierung. In: Hillebrand, M.; Krüger, P.; Lilge, A.; Struve, K. (Hg.): Willkürliche Grenzen. Das Werk Pierre Bourdieus in interdisziplinärer Anwendung. Bielefeld, S. 219-248, S. 229, Fn. 19. Das Spiel gibt einen Rahmen vor, der verschieden genutzt werden kann. Wenn die praktischen Interpretationen des Spiels durch die Akteure Regelmäßigkeiten zeigen, kann man von einem Stil sprechen. Stil bezeichnet eine formende Tätigkeit. Er greift stets über das Individuum hinaus: Das Individuum, das einen Stil verwirklicht, erzeugt stets auch etwas Überindividuelles: Stil ist, so Hans-Georg Soeffner im Anschluss an Georg Simmel, „das Heraustreten aus der Einmaligkeit“; er bedeutet „den Anschluss an etwas Allgemeines“ (Soeffner, H.-G. 221

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ten nicht länger dem Leitbild einer organisch-geschlossenen Gesellschaft zu folgen, sondern dem Modell einer Vereinigung, deren Selbstidentifikation durch erlernbare Attribute hergestellt und gewährleistet wird. Sie entspricht nicht länger dem klassischen Idealbild von Identität als Kugel, sondern eher dem Modell eines Netzwerkes, an dem man – gleichgültig, woher man stammt – teilhaben kann, wenn man nur über die entsprechenden Mitspielfähigkeiten verfügt und diese auf eine von den anderen akzeptierte Weise darzustellen vermag: Man muss auf eine bestimmte Weise zu sprechen, zu lachen, zu gehen oder zu stehen in der Lage sein oder seine Gesten in einem angemessenen Tempo vollziehen, um dazuzugehören.3 Diese These möchte ich im Folgenden am Beispiel des Sports plausibilisieren.

I.

(Kollektive) Identität als Problem der Moderne

„Identität“ ist ein Phänomen moderner Gesellschaften, so lautet ein Grundkonsens der Sozialwissenschaften. Dies gilt für die personale Identität ebenso wie für Selbstbeschreibungen, die in Zugehörigkeiten verankert werden. Letztere werden in den Sozialwissenschaften für gewöhnlich mit Begriffen wie „kollektive“ oder auch „partizipative Identität“4 bezeichnet. Eine der historisch einflussreichsten kollektiven Identitäten ist die „Nation“. In einer strikt konstruktivistischen Perspektive wird sie spätestens seit Benedict Andersons Studie über „Imagined Communities“5 nicht länger als eine natürliche oder historisch vorgegebene Größe aufgefasst, sondern als das Produkt einer sozialen Konstruktion, an der „sich die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft beteiligen“6. Dieses Konstrukt antwortet, so die in den Sozialwissenschaften gängige Auffassung, auf Problemlagen, die in der Moderne aufgrund der fortschreitenden Ausdifferenzierung eigenständiger Sozialbereiche entstanden sind: „Nation“ ist in dieser Sicht ein Gegenpol, von dem aus

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(2001): Stile des Lebens. Ästehtische Gegenentwürfe zur Alltagspragmatik. In: Huber, J. (Hg.): Kultur-Analysen. Interventionen 10. Wien; New York, S. 123). Zum Wandel von Identitätskonzepten in hoch-, spät- oder postmodernen Gesellschaften vgl. auch Reckwitz, A. (2001): Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik. In: Rammert, W.; Knauthe, G.; Buchenau, K.; Altenhöner, F. (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig, S. 21-40. Hahn, A. (1997): Partizipative Identitäten. In: Münkler, H. (Hg.): Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit, Berlin, S. 115-158. Anderson, B. (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London; New York. François, E.; Siegrist, H.; Vogel, J. (1995): Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen. In: François, E.; Siegrist, H.; Vogel, J. (Hg.): Nation und Emotion, Göttingen, S. 13-38, S. 14.

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KOLLEKTIVKÖRPER UND NETZWERKE

„gegen die Erosion von Sozialität Front gemacht wird“7. Ihre zentrale Funktion besteht darin, individuelle und kollektive Bedürfnisse nach Einheit, Ganzheit und Sinn, nach Wärme, Stärke und Stabilität zu decken, die auf der Rückseite des Prozesses der Moderne mit seinen Merkmalen der Individualisierung, Destrukturierung und Detraditionalisierung entstanden seien.8 Diese Bedürfnisse sind, so die Annahme, um so stärker, je mehr sich traditionale soziale Bindungen lockern.9 Folgt man dieser Perspektive, dann reichen in den Sozialwissenschaften gängige Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft als funktional differenziert nicht aus. Denn offenbar bleibt auch diese Gesellschaft auf (quasi-) segmentäre Differenzierungen angewiesen. Beide Differenzierungsformen gehen, wie es scheint, nicht nur ein ko-evolutives, sondern auch ein rekursives Konstitutionsverhältnis ein. So dämpft die „Erfindung der Nation“10 die Dramatik einer Verselbständigung der Lebenssphären seit dem 18. Jahrhundert gleichsam ab. Eben dadurch ist diese Erfindung für die weitere Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft unverzichtbar. Sie reklamiert einerseits die Einheit der gegeneinander sich verselbständigen Funktionsbereiche; und sie postuliert andererseits eine quasi-familiäre Zugehörigkeit, welche die Differenzen und Gegensätze der Berufe, der Kompetenzen und der Interessen verdeckt: Das von Desintegration bedrohte Gemeinwesen stabilisiert sich durch seine repräsentative Wiedereinsetzung. Gesellschaftliche Unterschiede und Gegensätze werden reproduziert, indem sie imaginär übersprungen werden.

II.

Die Verkörperung der Nation und die Wiederentdeckung der Emotionen

Dieses im Kern modernisierungs- bzw. differenzierungstheoretische Erklärungsmuster thematisiert die diachronen bzw. strukturellen Voraussetzungen für die Genese der Nation, sagt jedoch nichts über die Vielzahl der sich einander oft sogar widersprechenden Vorstellungen und Begriffe von Nation im europäischen Raum aus.11 Es richtet sich auf die diachron wirksamen Bedingungen, die den Einzelfall ermöglichen, aber nicht auf diesen selbst. In solcher Allgemeinheit findet es sich in der einen oder anderen Weise in den

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Hahn, A. (1997) a. a. O., S.127. Vgl. auch Klinger, C. (1995): Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München; Wien. 9 Vgl. François, E. u. a. (1995) a. a. O., S. 18. 10 Gellner, E. (1983): Nations and Nationalism, Oxford. 11 Zu dieser Vielzahl vgl. Grunenberg, A. (2007): Risiken und Nebenwirkungen eines politisch bestimmten Nationenbegriffs in Europa. Von einer antagonistischen zur wettstreitenden Vielfalt. In: Kommune 4/07, S. 78-85. 223

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meisten sonst sehr heterogener (vergleichender) Studien über die Nation.12 In seiner Folge sind auch die Emotionen und mit ihnen die körperlich-sinnlichen Dimensionen des Sozialen und des Politischen (wieder) zu einem wissenschaftlich seriösen Thema geworden.13 Denn die Funktion, die Gräben in der modernen Gesellschaft imaginär zu überbrücken, können die vielfältigen Vorstellungen, Bilder und Träume kollektiver Identität nur dann erfüllen, wenn sie nicht bloße Ideen und damit uneingelöste Versprechen bleiben, sondern wenn sie auch zu einer subjektiv gelebten Erfahrung werden: Sie müssen – zumindest von Zeit zu Zeit – konkret am eigenen Leib spürbar werden. Zwar ist die Nation fiktiv und fiktional, also ‚gemacht‘ und scheinhaft, aber das bedeutet nicht, dass ihr jedwede Realität abgesprochen werden muss. Lange Zeit wurden fiktionale Phänomene in den Sozialwissenschaften exklusiv der Geistesgeschichte zugeschlagen. Sie galten „lediglich als [ideologische, T. A.] Komplementärphänomene zu harten gesellschaftlichen Tatsachen“14. Sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze der jüngeren Vergangenheit15 haben jedoch die alten Dichotomien von Basis und Überbau, von Realität und Fiktion durchkreuzt und demgegenüber die Wechselbeziehungen zwischen der sozialen und politischen Ordnung sowie der Ordnung des Imaginären betont. Die symbolischen Artikulationen des Imaginären sind in dieser Sicht mitverantwortlich dafür, wie Gesellschaften handeln und sich selbst begreifen, wie sie sich deuten, ändern und neu formieren.16 Schon dafür, dass sich kleinere soziale Einheiten, zum Beispiel die antike Polis, als kollektiver Agent begreifen können, ist, so zeigen diese Ansätze, „eine Reihe von schöpferischen ästhetischen Prozeduren erforderlich“17: Es müssen greifbare Vorstellungen von Einheit und Ganzheit geschaffen werden, die wiederum auf das Selbstverständnis der Akteure zurückwirken und zur Formung ihres Selbst- und Weltverständnisses beitragen. Insofern handelt es sich bei diesen ästhetischen Prozeduren nicht um Repräsentationen im verkürzten Sinn bloßer Abbildungen bereits existierender Vorstellungen und

12 Vgl. François, E. u. a. (1995) a. a. O., S. 18. 13 Allerdings in einer anderen Weise als in der alten Nationalgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als sie als unmittelbarer Ausdruck einer (völkischen) Substanz interpretiert wurden. 14 Koschorke, A.; Lüdemann, S.; Frank, T.; de Mazza, M. (2007): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt/M., S. 10. 15 Beispiele sind sozial- und begriffsgeschichtliche Forschungsrichtungen in der Tradition der französischen „Annales“, spätmarxistische ideologietheoretische Konzepte (z. B. Althusser 1977) sowie aktuelle performativitäts- und praxistheoretische Forschungen. 16 Vgl. auch Koselleck, R. (2006): Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M., S. 9-31. 17 Koschorke u. a. (2007) a. a. O., S. 10. 224

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Identitäten, sondern um performative Strategien, die das, was sie darstellen, im Zuge der Darstellung erst mit erzeugen und so Einstellungen und Werte prägen. Dies gilt erst recht für moderne politische Leitkategorien wie Staat, Volk oder Nation. Denn je größer die kollektiven Identitäten werden, „desto unsichtbarer und unfassbarer werden sie“ 18 auch. Sie sind nicht nur auf sprachliche Artikulationen und Deutungssysteme angewiesen, sondern auch auf anschauliche Symbole, Repräsentationen und „kulturelle Aufführungen“ (cultural performances) wie Rituale, Feste, Wettkämpfe oder Spiele. Erst die Gestik des Leibes verleiht ihnen Vitalität und Plastizität, füllt sie mit Emotionen und lässt sie fassbar werden. Solche Repräsentationen und Aufführungen können – mit einem Begriff von Clifford Geertz19 – als „metasoziale Kommentare“ begriffen werden. Mit ihnen gibt sich eine Gesellschaft Bedeutung, reflektiert sich selbst und legt ihren Mitgliedern wie auch den Angehörigen anderer Gesellschaften sprachlich wie gestisch ein überwiegend implizites Wissen über die eigenen Grundzüge und -werte dar. Wie Victor Turner20 gezeigt hat, kommentieren und interpretieren Repräsentationen und Aufführungen das soziale Leben allerdings nicht nur, sondern wirken auch affirmativ oder verändernd auf dessen Strukturen ein. Viele dieser „metasozialen MetaKommentare“, in modernen Gesellschaften beispielsweise die Ereignisse der populären Kultur und des Showsports, werden in den Medien der Körperlichkeit erzeugt.21 Die auf das gesellschaftliche Leben zurückwirkenden Prozesse der Veranschaulichung und Verlebendigung ideeller Konstrukte vollziehen sich dabei stets im Verbund mit technischen Nachrichtenträgern, von der Schrift und dem Druck über das Telefon und den Rundfunk bis hin zu Fernsehen und Internet. Erst durch diese Medien wird die Reichweite der kollektiven Repräsentation über die konkreten Orte ihres aktuellen Vollzugs hinaus ausgedehnt und die Konstruktion grenzüberschreitender virtueller Gefühlsgemeinschaften auf Zeit ermöglicht. So wirken Bildung, populärkulturelle Aufführungen, Massenmedien und – nicht zu vergessen – die vielfältigen symbolischen Strategien von Werbung und Warenästhetik in einem Medienverbund eng zusammen. Die Konstruktion kollektiver Identitäten ist mithin nicht nur ein po18 Hondrich, K. O. (2006): Geteilte Gefühle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juli 2006, Nr. 174, S. 8. 19 Geertz, C. (1994): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 3. Aufl., Frankfurt/M., S. 252. 20 Turner, V. (1989): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M.; New York, S. 139. 21 Vgl. Hirschauer, S. (2008): Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs. In: Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Teil 2, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt/M.; New York, S. 974-984. 225

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litischer, sondern auch ein kultureller Prozess, in dem symbolisch-ästhetische Gestaltungen, performative Strategien und massenmediale (Re-)Inszenierungen eine entscheidende Rolle spielen. Besonders folgenreich für das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften als Nationen nun war die Metapher des sozialen Körpers. „Es hat“, schreiben Albrecht Koschorke et al., „in Europa Tradition, dass Kollektive sich als Körper imaginieren. Die daraus hervorgehende Metaphorik dient nicht allein der Veranschaulichung, sondern verfügt über institutionenbildende Kraft. Aus der imaginären Selbstvergegenwärtigung von Kollektiven als Körperschaften erwachsen politische und rechtliche Regulative, die für die europäische Staatsentwicklung grundlegend sind“22. Gemeinschaftsbildungen nach dem Modell des sozialen Körpers dienten in der europäischen Kultur maßgeblich der Abgrenzung von anderen Gemeinschaften sowie der sozialen Schließung nach askriptiven, also als unveränderlich gedachten Merkmalen wie Rasse, Ethnie, Geschlecht oder Herkunft. Die Körpermetaphorik war mithin vor allem eine Abgrenzungsfigur zur Diskriminierung der Anderen, die erst die Identität des Eigenen garantiert. Sie blieb niemals nur auf das Imaginäre beschränkt, sondern wurde in kollektiven Praktiken auch performativ vergegenwärtigt. Ansonsten hätte sie ihre institutionen- und organisationenbildende Kraft kaum entfalten können.23 Wie unter anderem Wolfgang Kaschuba (1995) und Inge Baxmann (1995, 2002) gezeigt haben, erfolgte die Verkörperung der Nation seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in vielgestaltigen Inszenierungsformen: Trauerzüge und Gedenkfeiern, Aufmärsche und Umzüge, Tanzfiguren und Gymnastikformationen, Sport und Spielveranstaltungen überführten die Nationenbilder „von der symbolischen Ebene in eine Erfahrung des kollektiven Raums“24; sie verliehen der Metapher des sozialen Körpers in synchronen Bewegungen und signifikanten Gesten Gestalt und Physis, vitale Energie und affektive Wucht. Sinnlichkeit und Sinnstiftung gehen in solchen Verkörperungen von Metaphern des gesellschaftlichen Imaginären eine emphatische Verbindung ein. Erst die plastische Vergegenwärtigung abstrakter Gebilde stiftet einen Sinn, der berührt und erinnerungswert bleibt. Kulturelle Aufführungen des sozialen Körpers schufen eine „Nation zum Anfassen“ und überbrückten so die Kluft zwischen Ideologie und Alltag, zwischen sozialer Konstruktion und subjektivem Erleben. Regelmäßig inszenierte Szenen und Gesten konnten „als Signaturen ‚nationaler Haltung‘ gespeichert“ werden und sich als „nationaler Bil-

22 Koschorke, A. u. a. (2007) a. a. O., S. 11. 23 Zu dieser Kraft vgl. bspw. Türk, K.; Lemke, T.; Bruch, M. (2006): Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden, S. 20, 30 ff. 24 Baxmann, I. (2002) a. a. O, S. 60. 226

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derkode“ allmählich dem kollektiven Gedächtnis einprägen.25 Gemeinsam mit anderen am Körper ansetzenden Strategien der Habitusformierung, wie dem im 19. Jahrhundert in Deutschland institutionalisierten (Schul-)Turnen, beförderten diese kulturellen Aufführungen eine nationale Akkulturation der Massen und die Einschreibung national kodierter Männlichkeitskonzepte in die Körper der Akteure.26 Als leiblich-gestische Artikulationsformen populärer Kultur gestatteten es diese Veranstaltungen zudem, den Einflussbereich des klassischen Eliten-Nationalismus auf „das Volk“ auszudehnen.27 Verkörperungen sind zweibahnige Vorgänge: Sie bezeichnen die Interiorisierung gesellschaftlicher Strukturen und Wissensbestände ebenso wie ihre Exteriorisierung, ihre Einkörperung ebenso wie ihre Veräußerlichung und Darstellung. Sie sind damit für die Subjektbildung ebenso bedeutsam wie für die Repräsentation von Selbst- und Weltbildern für sich und andere. Ihr Medium sind sozial geformte und kulturell kodierte Körperbewegungen, in deren Vollzug soziale Strukturen und Metaphern des gesellschaftlichen Imaginären zugleich einverleibt, mit Leben erfüllt und praktisch interpretiert werden.28 Für die sozial- und kulturwissenschaftliche Nationsforschung verspricht ihre Untersuchung deshalb interessante Einsichten, weil sie Aufschluss geben können über die besonderen Interpretationen kollektiver (nationaler) Identität in unterschiedlichen sozialen Gruppen oder Regionen zu bestimmten Zeitpunkten. Anders als Texte, Monumente oder Architekturen registrieren die in den flüchtigen Medien der Körperlichkeit lokal erzeugten Aufführungen der populären Kultur den Wandel von Einstellungen, Haltungen und Werten in einer Gesellschaft recht sensibel. Dies gilt in besonderer Weise für die Aufführungen und Spiele des Sports. Diese, gleichsam auf Probebühnen ‚sozialer Schwerelosigkeit‘ aufgeführten performances sind geradezu prädestiniert dafür, als Indikatoren gesellschaftlichen Wandels und kollektiver Gefühlslagen analysiert zu werden.29 Als eine der einflussreichsten Kulturformen der modernen Gesellschaft geben sie seit dem 19. Jahrhundert ebenso heterogenen wie diffusen Identitätsempfindungen eine erkennbare soziale Form. Für die kulturwissenschaftliche Analyse solcher populären Verkörperungen scheinen mir insbesondere folgende Untersuchungsperspektiven relevant 25 Kaschuba, W. (1995) a. a. O., S. 297. 26 Vgl. Goltermann, S. (1998): Körper der Nation. Habitusformierung und Politik des Turnens 1860-1890, Göttingen. 27 Vgl. Kaschuba, W. (1995): Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion ‚nationaler‘ Alltagswelt. In: François, E. u. a. (Hg.): Nation und Emotion, Göttingen, a. a. O., S. 293. 28 Vgl. Alkemeyer, T. (2003): Bewegen als Kulturtechnik. In: Neue Sammlung. Viertel-Jahreszeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, 43. Jg., Heft 3, S. 347357. 29 Vgl. Gebauer, G.; Alkemeyer, T.; Boschert, B.; Flick, U.; Schmidt, R. (2004): Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld. 227

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zu sein; sie bilden gemeinsam eine Art heuristisches Fangnetz: 1. Welche Metaphern oder Narrative werden verkörpert? 2. Wer sind die Träger der Verkörperung? Welche Akteure werden von wem – von welchen Institutionen – aufgrund welcher Auswahlkriterien legitimiert und autorisiert, das Kollektiv zu verkörpern? 3. Wie groß ist die Form- und Gestaltbarkeit der performance durch die Akteure? Welche Handlungs- und Gestaltungsspielräume haben diese für ihre praktischen Interpretationen? 4. Wie gestaltet sich in der Aufführung das Verhältnis von Individualkörper und Kollektivkörper? 5. Wie werden Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, markiert und gezogen? Welche Gestalt, welche Festigkeit und Durchlässigkeit haben diese Grenzen? 6. Wie kann Zugehörigkeit zum Kollektiv erlangt werden? Wie erfolgt der Eintritt ins Kollektiv? Was zeichnet den Schwellenübergang, die Konversion, des ‚vorsozialen Einzelnen‘ zu einem (Mit-)Glied des sozialen Ganzen aus?30

III. Performativität und Diskursivität Schon die Eingangsfrage dieses heuristischen Fangnetzes nach den jeweils verkörperten Metaphern bzw. Narrativen impliziert die Annahme, dass kulturelle Aufführungen Bedeutung niemals aus sich selbst heraus erlangen. Vielmehr sind dafür auch ihre Beziehungen zu den jeweiligen historischen, sozialen und politischen Kontexten sowie jene Gewebe aus interpretierenden Worten und Zeichen, aus mythologischen Motiven und ästhetischen Signaturen verantwortlich, in die sie beständig eingesponnen werden. Wichtig für die Bedeutungsherstellung sind schließlich auch die Deutungsaktivitäten der Rezipienten, die das Dargestellte nach Maßgabe ihrer subjektiven konzeptuellen Rahmen im Verstehensprozess in größere Zusammenhänge aus Institutionen und Objekten, aus Texten, Bildern und Praktiken einordnen. Körperliche Praktiken und symbolische Aktivitäten sind im aktuellen Vollzug des Geschehens untrennbar zum Ereignis verschränkt; Performativität und Diskursivität können in actu nicht getrennt, sondern nur analytisch unterschieden werden. Dabei legt es jede Verkörperung eines symbolischen Konstrukts dem Betrachter nahe, das Gezeigte – zum Beispiel Leistungsstärke, Bewegungsstile oder motorische Virtuosität – auf angeborene anatomische, physiologische oder psychische (charakterliche) Eigenschaften der Akteure zurückzuführen, anstatt sie als Indikatoren sozial-kultureller Existenzbedingungen, Bildungs- und Trainingsprozesse zu begreifen. Verkörperungen haben mithin eine stark ausgeprägte Tendenz zur „Naturalisierung des Sozia-

30 Zu diesen Untersuchungsdimensionen vgl. auch Koschorke, A. u. a. (2008) a. a. O., S. 11 f. 228

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len“31, die einem Verkennen Vorschub leistet: Sie verdecken, dass auch angeblich angeborene Differenzen der Ethnizität oder der ‚Rasse‘ ebenso wie die Unterschiede des Geschlechts „zu Naturunterschieden hypostasierte gesellschaftliche Unterschiede sind“32. Diese Unterschiede werden durch Naturalisierung verewigt und gerechtfertigt.33 In Deutschland sind die Konstrukte nationaler Identität seit dem 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein im Feld des Sports vor allem in Kollektivübungen der Gymnastik und des Turnens inszeniert worden. In diesen, sich vom ‚individualistischen‘ Wettkampfsport englischer Provenienz klar abgrenzenden Praxisformen rhythmisch organisierter Gemeinschaftskörper wurden die kollektivistischen Leitwerte eines „deutschen Sports“ idealisiert.34 Die Gesten, Haltungen und Bewegungen der Turner galten in dieser Perspektive als unverfälschter physischer Ausdruck für primordial erklärte Merkmale der ‚Abstammung‘ oder des ‚Blutes‘ bzw. anderer vermeintlich objektiver Prinzipien, wie eines gemeinsamen nationalen Schicksals. Als dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer Mittelstand den bis dahin auf heftige Ablehnung stoßenden modernen Wettkampfsport und die Sportspiele auch nach Deutschland importierte, wurden diese Formen der Bewegungskultur zunächst begrifflich und praktisch der „von sozialer Militarisierung geprägten Atmosphäre der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende“35 angepasst. Durch die Verwendung militärischen Vokabulars und die soldatische Prägung des Spielverhaltens sollten das ursprünglich englische Spiel in einen symbolischen Raum ‚des Deutschen‘ eingemeindet, Kriegszielen nutzbar gemacht und seine nur schwer kontrollierbaren Leidenschaften eingehegt werden.36 Auf den Fußball zu sprechen zu kommen, liegt in diesem Zusammenhang nahe. Denn wie kaum eine andere kulturelle Institution hat diese Sportart im

31 Gebauer, G. (1996): Der Körper als Symbol für Ethnizität. In: Alkemeyer, T.; Bröskamp, B. (Hg.): Fremdheit und Rassismus im Sport, St. Augustin, S. 81-85. 32 Bourdieu, P. (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, I.; Krais, B. (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/M., S. 153-217, S. 214. 33 Vgl. auch Bourdieu, P.; Delsaut, Y. (1975): Die neuen Kleider der Bourgeoisie. In: Kursbuch 42, S. 172-182, S. 178; Bröskamp, B. (2006) a. a. O., S. 228. 34 Vgl. Goltermann, S. (1998) a. a. O.; Alkemeyer, T.; Wiedenhöft, A. (2003): Der Körper der Nation – die Nation als Körper. Repräsentationen und HabitusKonstruktionen in der deutschen Turnbewegung des 19. Jahrhunderts. In: Prutti, B.; Wilke, S. (Hg.): Körper – Diskurse – Praktiken, Heidelberg, S. 19-59. 35 Eisenberg, C. (1997): Deutschland. In: Eisenberg, C. (Hg.): Fußball, Soccer, Calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München, S. 94-129, S. 101. 36 Vgl. auch Knoch, H. (2002): Gemeinschaft auf Zeit. Fußball und die Transformation des Nationalen in Deutschland und England. In: Zentrum für Europaund Nordamerika-Studien (Hg.): Fußballwelten. Zum Verhältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Opladen, S. 117-153, 123 f. 229

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20. Jahrhundert besonders – aber nicht nur – in Europa Leidenschaften (überwiegend im männlichen Teil der Bevölkerung) ausgelöst und sich als Seismograph, vielleicht auch als Taktgeber, kollektiver Gefühlslagen hervorgetan.37 Raum-zeitlich herausgelöst aus dem Fluss des Alltagslebens sind Fußballarenen seit den 1920er Jahren zentrale Orte einer „Regie und Selbsterfahrung der Massen“38 und zu Schmelztiegeln heterogener Gefühlskulturen geworden.39 Im Verbund mit den Massenmedien, seit den 1950er Jahren vor allem mit dem Leitmedium Fernsehen, konnte der Fußballsport intensive Gemeinschaftserlebnisse stimulieren und geteilte Erinnerungen wachrufen. Narrativ entsprechend gerahmte Sportereignisse, wie der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 durch die deutsche Nationalmannschaft oder der Vorrundensieg des österreichischen Teams über die als Titelverteidiger angetretene deutsche Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, sind bekanntlich als Wunder von Bern oder – wahlweise – als Wunder bzw. Schmach von Cordoba ins kollektive Gedächtnis eingegangen und also solche Bestandteile nationaler Identitätskonstruktionen geworden. Repräsentanz finden kollektive (nationale) Identitäten zudem in den nationalen oder lokalen Spielstilen ‚ihrer‘ Mannschaften und deren herausgehobenen Helden bzw. Medienstars, die als personifizierte Verkörperungen des jeweiligen Mannschafts- oder Teamgeistes im Scheinwerferlicht televisionärer Aufmerksamkeit stehen.40 So gehört es seit Jahrzehnten zu den eingefleischten Überzeugungen der Welt des Fußballs, dass das brasilianische Fußballspiel mit seiner Mischung aus Akrobatik, Spielwitz und Erfindungsreichtum, aus Bewegungsrhythmus, Ballzauberei und Feststimmung, ein charakteristischer Ausdruck brasilianischer Lebensfreude sei. Der Stil deutscher Auswahlmannschaften wird hingegen gemeinhin als Ausdruck nationaltypischer Tugenden der Disziplin und Effizienz, des Einsatzwillens und der Kampfkraft, der Ordnung und des Mannschaftsgeistes interpretiert. Das sind gewiss Klischees, dennoch artikuliert sich in ihnen wohl auch ein Körnchen Wahrheit. Denn tatsächlich ist, um bei diesem Beispiel zu bleiben, der brasilianische Fußball historisch im Schnittfeld von Straßenkultur, Samba und Karne37 Vgl. auch Knoch, H. (2002) a. a. O., S. 117. 38 Verspohl, F.-J. (1976): Stadionbauten von der Antike bis zur Neuzeit. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen. 39 Vgl. auch Alkemeyer, T. (2008): Fußball als Figurationsgeschehen. Über performative Gemeinschaften in modernen Gesellschaften. In: Klein, G.; Meuser, M. (Hg.): Fußball-Gemeinden. Zur politischen Soziologie einer populären Sportart, S. 87-112. 40 In anderen Ländern sind es andere Sportarten mit anderen Helden, die diese Funktion übernehmen. So gilt in Kanada beispielsweise der legendäre Wayne Gretzky als personifizierte Verkörperung einer mythischen Canadianess. Vgl. Schwier, J. (2006): Globaler Fußball und nationale Identität. In: Spectrum der Sportwissenschaft 18, H. 1., S. 40-53, S. 46. 230

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val entstanden.41 Aus diesem Grund haben viele – beileibe nicht alle – brasilianische Fußballspieler besondere rhythmische Begabungen und Körpertechniken entwickelt, die in den Augen europäischer Zuschauer einen Eindruck größter Unbeschwertheit hervorrufen. Unsere Ausgangsthese, dass Bilder des gesellschaftlichen Imaginären durchaus reale Auswirkungen haben, gilt auch für den Sport. So schlagen sich nicht nur in Brasilien, sondern überall auf der Welt nationale, regionale oder lokale Mythen und Traditionen in Übungsformen und Trainingskonzepten nieder und werden auf diese Weise körpermächtig. In Serien von Übungen, Spielen und Wettkämpfen werden spezifische Körpertechniken und Spielsysteme ausgeprägt und eingeübt. Nach wie vor arbeiten beispielsweise in Brasilien Fußballschulen eng mit Sambaschulen zusammen, so dass die Spieler von Kindesbeinen an eine besondere Befähigung für kurze, trippelnde Schritte und damit für das Dribbling erwerben. Schulung und Training führen dazu, dass Spieler und Mannschaften eigene nationale, regionale oder auch lokale Stile entwickeln, das heißt je besondere, über die unmittelbaren motorischen Erfordernisse des Spiels hinausgehende Weisen, die von den Regeln des Spiels eingeräumten Möglichkeitsfelder praktisch zu interpretieren. So haben sich nicht nur deutsche, französische, italienische oder eben brasilianische Spielkulturen entwickelt, sondern auch vereinsgebundene Stile, die durch einzelne Trainer ebenso geprägt werden können, wie durch lokale kulturelle Traditionen. Diese, durch Schulen, Trainingsmodelle oder Verbandslehrgänge geformten Spielkulturen und -stile sind Erscheinungsweisen einer „sozialen Motorik“42, die Gemeinsamkeiten zugleich herstellt und aufführt.43 In ihnen verkörpern sich – in Verbindung mit weiteren Merkmalen wie dem Sound der Spieler-Namen (Kaka, Robinho und Adriano hier, Metzelder, Mertesacker und Schweinsteiger dort) – Qualitäten, Ideen und Vorstellungen, in denen sich Gesellschaften, Milieus oder Gruppen wieder erkennen und zu Hause fühlen können und auf die sie nicht selten auch Stolz entwickeln. In der narrativ gerahmten Verkörperung antrainierter Spielweisen und habitualisierter Bewegungsstile werden fundamentale Werte und Einstellungen, Bilder und Träume immer wieder aufs Neue aktualisiert und performativ bestätigt.

41 Vgl. Huppertz, P. (1993): Fußball in Deutschland und Brasilien, Butzbach; Bröskamp, B. (2006) a. a. O., S. 234. 42 Gebauer, G. (2006): Poetik des Fußballs, Frankfurt/M., S. 121. 43 Dies gilt selbstverständlich nicht nur für den Fußballsport. So zeigen trainingswissenschaftliche Forschungen, dass beispielsweise auch Speerwerfer unterschiedlicher Nationalität aufgrund nationaler Trainings- und Übungsmethoden charakteristische Bewegungsmuster – eine wiedererkennbare nationale Motorik – ausbilden. Vgl. Schöllhorn, W. (1999): Trainingswissenschaft und -lehre: Individualität – ein vernachlässigter Partner? In: Leistungssport 29, S. 4-12, S. 8 f. 231

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IV. Fußball zwischen Nationalismus und Transnationalismus Ob sportliche Spiele und Wettkämpfe nationale, ethnische und regionale Unterschiede und Spannungen betonen oder abbauen, ist maßgeblich von politischen Kontexten, Erzählmustern und massenmedialen Dramatisierungen abhängig. Das Sportgeschehen selbst ist aufgrund seiner Bildhaftigkeit hochgradig ambivalent und damit breit interpretierbar. Eben deshalb ist es auch in der Lage, als – nahezu globaler – kultureller Kitt wirksam zu werden: Alle beziehen sich auf dasselbe, meinen damit jedoch nicht unbedingt auch dasselbe. Sportliche Wettkämpfe lassen sich unter den Aspekten des Gegeneinanders ebenso deuten wie unter dem Gesichtspunkt des Miteinanders, des Nationalismus ebenso wie des Internationalismus. Schon Pierre de Coubertin wollte mit den von ihm an der Wende zum 20. Jahrhundert begründeten Olympischen Spielen der Neuzeit sowohl die nationale Moral Frankreichs nach der Niederlage im Krieg von 1870/71 heben, als auch die Spannungen zwischen den Nationen mindern. Erzählmuster und Inszenierungsformen entscheiden mit darüber, ob in der öffentlichen Wahrnehmung des Sports das Moment der Abgrenzung oder das Moment der Grenzüberschreitung in den Vordergrund tritt. Dabei hat im Zeitalter des Fernsehens die Vervielfältigung von Kameras, Sendeplätzen und Schnittmöglichkeiten die Gelegenheiten zu nationalisierenden Darstellungen internationaler Sportveranstaltungen erheblich vergrößert. Die Bildregie kann sich nun konsequent am Leitfaden des Nationalen orientieren: Jäh wird beispielsweise bei der Übertragung Olympischer Spiele zwischen genau den Wettbewerben hin- und hergeschaltet, an denen deutsche (oder französische, italienische usw.) Sportler beteiligt sind. Dies zerstört zwar die raum-zeitliche Einheit der Sportereignisse, stattdessen wird jedoch eine neue, sich an der nationalen Zugehörigkeit der Sportler orientierende Ordnung der Bilderfolgen erzeugt: Für die verschiedenen nationalen Publika werden eigene, ‚heimische‘ Medienrealitäten konstruiert.44 Hatte in einer frühen historischen Phase der Buchdruck entscheidend dazu beigetragen, den Mythos der Nation zu entwickeln und zu verbreiten, so treten heute nicht zuletzt die Fernsehübertragungen internationaler Großveranstaltungen des Sports in den Dienst der Stabilisierung nationaler Wir-Identifikationen. Im Fußball war das nationale Element in Deutschland allerdings nicht durchgängig von primärer Bedeutung. Nationale Identifikationen prägten, so Knoch45, vor allem den Zeitraum zwischen den 1920er und 1960er Jahren sowie – mit deutlich transitorischen Zügen, die den Nationalismus als eine 44 Vgl. Gebauer, G. (1993): Auf der Spur der Deutschen. Wie das Fernsehen zu einem neuen Nationalismus im Sport beiträgt. In: die tageszeitung, 21.8.1993, S. 16; Schwier, J. (2006) a. a. O., S. 47 ff. 45 Knoch, H. (2002) a. a. O., S. 120 f. 232

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Zugehörigkeitsoption unter anderen verdeutlichte – die Zeit ab 1980. „Fußball dient insbesondere Transformationsgesellschaften als ‚soft power‘ nach innen und außen […]. Das traf für die Bundesrepublik Deutschland bei ihrem unerwarteten WM-Sieg von 1954 ebenso zu wie es für Kroatien mit dem Sieg über eine favorisierte deutsche Mannschaft bei der WM 1998 gilt.“46 Eine dem Krieg entstammende, aus der NS-Zeit übernommene, emotive Berichterstattung prägte zwar noch in den 1950er Jahren die Live-Übertragungen von Fußballspielen. Aber schon im Laufe der 1960er Jahre kam es zu einer Eindämmung einseitig dramatisierender und polarisierender Metaphoriken, die insbesondere jene Attribute hervorheben, welche das Eigene vom Anderen abgrenzen und es als diesem überlegen darstellen.47 Hand in Hand mit diesen Veränderungen in der diskursiven Präsentation des Spiels wandelte sich die gesamte Spielkultur. Mit dem Anbruch einer Epoche des „totalen Fußballs“ gewannen anstelle von ‚Kampf‘ und ‚Siegeswillen‘ technische Fähigkeiten und eine systematische, disziplinierte Spielweise an Bedeutung: Der moderne europäische Fußball wurde geboren und begann, allmählich die nationalen Fußballstile zu überformen. Die Schwerpunkte dieses neuen, europäischen Fußballs lagen in einer kontrollierten Abwehr und im Mittelfeld, statt, wie zuvor, im Sturm. Erst dieser Wandel der Spielkultur ermöglichte den Auftritt der Figur des Liberos sowie großer Mittelfeldregisseure wie in Deutschland Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath oder Günter Netzer. Deren Spieleleganz und technische Raffinesse hat „den nationalen Fußballstil quasi entdeutscht“48. Die Identifikation mit diesen Spielertypen bedeutete eine Identifikation mit nationalen und transnationalen Strebungen gleichermaßen. Die bereits angedeuteten Wechselwirkungen zwischen Spielkultur und Berichterstattung, zwischen Performativität und Diskursivität, werden auch daran deutlich, dass die neue – mitunter auch als „Computer-Fußball“ kritisierte – Spielweise mit einer neuen Nüchternheit der Kommentatoren einherging: Euphorische, durch eine gleichsam performative Atemlosigkeit ausgezeichnete Spielbeschreibungen wurden durch die sachliche Nennung der Spielernamen ersetzt. Zumindest bis in die 1980er Jahre hinein wurde der deutsche Fußball-Fernsehalltag „von einem Primat der Information gegenüber der Emotion geprägt“49. Zur Sachlichkeit trug auch die Dominanz der Kameraperspektive ‚von oben‘ mit wenig Geräten und bescheidener Gestaltungsphantasie bei. Diese europäische Öffnung des deutschen Fußballs versah nun umgekehrt jede überbordende nationale Euphorie mit einem faden Beigeschmack. An deren Stelle trat eine ungleich subtilere Strategie zur Produktion 46 47 48 49

Ebd., S. 124. Ebd., S. 131 f. Hondrich, K. O. (2006) a. a. O. Knoch, H. (2002) a. a. O., S. 133. 233

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affektiver Bindungen, ohne die auch ein transitorischer Nationalismus nicht auskommt: Leistungsanalysen und Spielbeschreibungen widmeten sich „fast ausschließlich den deutschen Spielern“.50 Zwar gehören ethnozentristische Formulierungen, nationalistische Bilder und patriotische Stimmungen nach wie vor zum festen Repertoire des Sports, allerdings haben sich in den differenzierten Gesellschaften Europas, Asiens und den USA im professionellen Sport wie auch in vielen anderen Bereichen der – legitimen und populären – Kulturproduktion (Architektur, Tanz, Musik, Film, Kunst, Wissenschaft etc.) transnationale Räume etabliert, welche die Grenzen nationalstaatlich verfasster Räume überschreiten. Stellvertretend dafür kann einmal mehr auf den Fußballsport und dessen internationale Wettbewerbe (UEFA Champions League etc.) verwiesen werden. Deren Bedeutungszuwachs stimuliert nicht nur die Personal- und Marketingpolitik multinational operierender Spitzenclubs, sondern auch die weltweite Arbeitsmigration von Fußballspielern.51 Ähnliches gilt für den Basketballsport, den American Football, den Radsport, die Formel I oder den Tenniszirkus. Wie in anderen Bereichen der kulturellen Produktion kreuzen auch in diesen Segmenten des professionellen Sports Ströme von Gütern, Vorstellungen, Bildern, Informationen, Praxisformen und Menschen die Grenzen der nationalstaatlich verfassten Gesellschaften. Im Feld des Sports betrifft dies materielle Gerätschaften (equipment, sports wear etc.) ebenso wie Trainer, Sportler oder Trainingsmodelle, Körperideale, Körpertechniken und Habitusformen, das heißt Kultur im objektivierten wie im inkorporierten Zustand.52 Allerdings führt diese globale Verbreitung feldspezifischer Kapitalformen nicht etwa zu einer ‚mcdonaldisierten‘ Welteinheitskultur. Vielmehr werden die global zirkulierenden Güter lokal entsprechend den jeweiligen kulturellen Codes und habitualisierten Dispositionen (kreativ) angeeignet, umgedeutet 50 Knoch, H. (2002) a. a. O., S. 132. Eine gewisse Rückkehr zu einem emotiven Stil lässt sich – parallel zur Übernahme eines großen Teils der Sportberichterstattung durch das Privatfernsehen – seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beobachten. Im selben Zeitraum ist auch die Emotionalisierung in den Stadien selbst intensiviert worden. Sehr wichtig dafür war die Konstruktion neuer Fußballstadien, die sich durch eine vollständige Umbauung mit rundum laufender Überdachung nahezu hermetisch von der Außenwelt abschotten. Kein Blick kann hier mehr nach draußen dringen; der Schall des Torjubels geht nicht ins Leere, sondern hallt mit großer Wucht im Innern wieder. „Hysterienschüsseln“ nennt der Architekt Volkwin Marg diese Stadien, in denen die Jubel- und Anfeuerungsrufe der Zuschauer in besonderen Situationen zum „berauschenden Orkan“ anschwellen und zu einem „emotionalen Ausnahmezustand“ führen. Prosser, M. (2002): ‚Fußballverzückung‘ beim Stadionbesuch. In: Herzog, M.; von Berg, U. (Hg.): Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kult – Kommerz, Stuttgart, S. 269-292, S. 275. 51 Vgl. Schwier, J. (2006) a. a. O., S. 48 f. 52 Vgl. Bröskamp, B. (2006) a. a. O. 234

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und verändert. Musterbeispiel einer solchen „Glokalisierung“53 im Feld des Sports ist das ursprünglich aus England stammende Cricket. Das weltbeste Cricket wird derzeit in Westindien gespielt. Unter Wahrung der englischen Form wird das Spiel hier in Stil, Technik und Präsentation kreolisiert und von afro-karibischen Habitusformen, Normen und Werten durchdrungen.54 Mit nahezu weltweiten Fernsehübertragungen internationaler Fußballspiele, Sportfernsehen und World Wide Web sind die Bildhaushalte des Sports nachhaltig von nationalen Engführungen befreit worden. Es sind nun bewegte Bilder aus nahezu allen europäischen und auch aus außereuropäischen Ligen verfügbar, so dass sich die Wissenshorizonte und Wahlmöglichkeiten des Sportpublikums enorm verbreitert haben. Damit werden „Identifikationen und Zugehörigkeiten nach Wahl sowie Erlebnisse und Gemeinschaften auf Zeit [stimuliert, T. A.], die immer weniger an räumliche, soziale und nationale Ordnungen gebunden sind“.55 Populäre Sportspiele wie der Fußball werden damit zumindest in westeuropäischen Ländern mit einer etablierten Spielkultur „von der Verkörperung als ethnisch und primordial erklärter Identitäten zum Katalysator transitorischer Zugehörigkeiten […], die in ‚Gemeinschaften auf Zeit‘ zwischen partikularen und universalistischen Bindungen vermitteln“56.

V.

Treue zum Stil und Netzwerksidentitäten

Im europäischen Profifußball repräsentieren die Clubs selbst ein neues Zugehörigkeitsmodell, in dem nicht länger ‚Abstammung‘ und ‚Herkunft‘, sondern andere Attribute entscheidende Zugehörigkeitskriterien sind. In den höchsten deutschen, englischen, italienischen, französischen und spanischen Fußballligen befinden sich im Land geborene Spieler in aller Regel in der Minderheit. Und auch in den Nationalmannschaften werden inzwischen mehr oder weniger selbstverständlich eingebürgerte Spieler eingesetzt. Maßgeblich für die Zusammensetzung der Teams durch das Clubmanagement ist nicht länger die Herkunft der Spieler, sondern sind die sportliche Leistung und der Unterhaltungswert. Besondere Aufmerksamkeit konnte in diesem Zusammenhang die multiethnisch zusammengesetzte französische Equipe auf sich ziehen, deren Erfolg bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 von Politik und Massenmedien

53 Robertson, R. (1998): Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Beck, U. (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M., S. 192-220. 54 Vgl. Bröskamp, B. (2006) a. a. O., S. 234. 55 Knoch, H. (2002) a. a. O., S. 119. 56 Ebd. 235

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als Sinnbild und Beleg für die Integrationsleistungen des Sports wie auch des französischen Staates inszeniert wurde.57 Was aber bleibt noch vom nationalen Fußball, wenn das ‚Spielermaterial‘ in der Mehrzahl ‚fremd‘ ist? Jeder Versuch, die nationalen oder regionalen Charakteristika einer Mannschaft auf Abstammungslinien zurückzuführen, ist unter diesen Bedingungen zum Scheitern verurteilt. Dennoch werden die Mannschaften der verschiedenen Fußballnationen auch in einer globalisierten Welt nicht als ununterscheidbar wahrgenommen. Aber die Differenzen werden nun anders konstruiert. Wie Christian Huck58 am Beispiel des englischen Profifußballs gezeigt hat, verschiebt sich das Zugehörigkeitsproblem mit der multiethnischen, internationalen Zusammensetzung der Club- und ansatzweise auch der Nationalmannschaften von den Fragen der Herkunft zu Problemen des Verhaltens und des Auftretens. So wurden beispielsweise in englischen Tageszeitungen und Chatrooms von Fans im Jahr 2006 lebhafte Debatten darüber ausgetragen, ob sich die europaweit notorische ‚Fallsucht‘ von Spielern bereits bei geringsten Körperberührungen (vor allem im Strafraum) mit den in England tradierten oder auch neu entdeckten Idealen der englishness und gentlemanliness vertrage. Die Fähigkeit, ‚englisch‘ Fußball zu spielen, wurde in diesen Debatten von der Frage der Herkunft abgelöst und zu einer Frage der cultural performance umgedeutet. Der Verlust ‚essentieller‘ Merkmale des nationalen Fußballs kann, den Debatten zufolge, durch einen bestimmten (Spiel-)Stil kompensiert werden, den im Prinzip jeder erwerben kann. Identität wird damit zu einer Angelegenheit der Bildung und der Erziehung, des Trainings und der Sozialisation statt der Abstammung und des ‚Blutes‘. Spieler aus aller Welt haben damit unabhängig von ihrer (ethnischen) Herkunft die Möglichkeit, zum Mitglied eines englischen Teams zu werden: Englishness verwandelt sich von einem askriptiven in ein erwerbbares Attribut; die Herkunft wird durch trainierbare performative Kriterien des Verhaltens und Auftretens ersetzbar.59 Die „Treue zum Stil“60 ist dann das, was die Identität eines aus heterogenen Spielern zusammengesetzten Netzwerkes garantiert.61 Wenn Sportclubs

57 Schwier, J. (2006) a. a. O., S. 49. 58 Huck, C. (2008): Postmaterial Britishness. Playing Football Like a Gentleman. In: Journal for the Study of British Cultures 1/2008, S. 25-42. 59 Zu vergleichbaren Phänomenen in anderen Bereichen der populären Kultur vgl. Schmidt, R. (2002): Shared Movements und der Glaube an die ‚schwarze Kultur‘. Zur Ethnografie einer Cultural Performance im Schnittpunkt von Popkultur und Sport. In: Sasse, S.; Wenner, S. (Hg.): Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld, S. 85-102. 60 Gebauer, G. u. a. (2004) a. a. O. 61 Netzwerksmodelle gestatten es, sowohl Kohärenz als auch Heterogenität zu modellieren (Vgl. Schäfer, H. (2005): Identität als Netzwerk. Ein Theorieentwurf 236

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ihre Identität in Zeiten der Globalisierung über eine solche Treue zum Stil konstruieren, hat dies zur Folge, dass sich die Spieler selbst immer wieder gemäß den jeweiligen Erwartungen und Notwendigkeiten umbilden müssen: Sie müssen Identitätsmanagement betreiben und ihre Habitus so transformieren, dass sie in die jeweiligen nationalen, regionalen oder auch lokalen Spielkulturen hineinpassen. Dies hat allerdings nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie dafür disponiert sind und entsprechende Anlagen mitbringen. Denn die Aneignung neuer körperlich-sportiver Kompetenzen kostet vor allem eines: viel Zeit zum Üben und Einprägen, zum Wiederholen, Korrigieren und Verbessern.62 Diese Zeit wird den Spielern angesichts eines enormen Erfolgsdrucks jedoch in aller Regel nicht gewährt. Die Athleten haben nur dann eine Chance sich durchzusetzen, wenn sie sich rasch zu adaptieren in der Lage sind. Sie benötigen mithin bereits ein breites Bündel an Dispositionen zum Spiel, von denen einige in der Interaktion mit dem neuen Kontext selektiv hervorgehoben werden. Diese Dispositionen treten dann gleichsam aus den Kulissen auf die offene Bühne, während andere im Hintergrund bleiben oder dorthin abgedrängt werden. Durch eine eben solche selektive Aktualisierung und Hervorhebung habitueller Dispositionen entsteht und transformiert sich Identität. Identität ist in dieser Sicht unmittelbar bezogen auf die Positionen, auf die Erwartungen und Anforderungen eines sozialen Feldes. Sie ist damit prinzipiell offen und kann – ja muss – jederzeit fortgeschrieben werden: relativ kohärent, aber ohne festen Rand; nicht ohne Brüche und immer unvollendet.63 Individuen lassen sich nur dann erfolgreich in neuen Umgebungen mobilisieren, wenn deren kollektive Dispositionen einen Resonanzboden in ihren individuellen Dispositionen finden. Die Spieler müssen also – in unserem Beispiel – dafür disponiert sein, sich einem neuen Spielstil anzupassen und diesen in die eigene subjektive Praxis zu übersetzen, ihn zu inkorporieren und ihm auf diese Weise ein neues, eigenes Leben einzuhauchen. Ein Musterbeispiel dafür, wie durch die kontinuierliche Pflege eines (wieder-)erkennbaren Spielstils die sportliche Identität eines Fußballclubs bewahrt werden kann, dessen Spieler aus der ganzen Welt zusammenkommen, ist der FC Barcelona. „Wer erstmals in Barcelonas Stadion Camp Nou kommt, den drängt es dazu, sofort nach einem Maßband zu verlangen“64, scheint doch das Spielfeld deutlich größer zu sein als normal. Aber es entspricht mit 110 m Länge und 75 m Breite exakt dem von der FIFA erlaubten Höchstmaß. Dieses am Beispiel religiöser Bewegungen im Bürgerkrieg Guatemalas. In: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 15, Nr. 2., S. 260). 62 Vgl. Bröskamp, B. (2006) a. a. O., S. 232, Fn 21. 63 Vgl. Schäfer, H. (2005) a. a. O., S. 259-282, S. 264, S. 267. 64 Hoeltzenbein, K. (2009): Die verlorenen Identität. In: Süddeutsche Zeitung, 10. April 2009, http://www.sueddeutsche.de/sport/184/464781/text/. Zugriff am 22. April 2009. 237

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maximal erlaubte Maß ist die materielle Bedingung für Barcelonas spezifische Interpretation des europäischen „totalen Fußballs“. Es heißt, Johann Cruyff habe zuerst als Spieler (1973 bis 1978) und dann als Trainer (1988 bis 1996) darauf gedrängt, den größtmöglichen freien Raum für die Entfaltung von Kreativität zur Verfügung gestellt zu bekommen, für sich ebenso wie für die nachfolgenden Generationen. „Noch heute“, so der Fußballjournalist Klaus Hoeltzenbein, „folgt der Wirbel“ von Messi, Eto’o, Henry, Xavi und Iniesta, „streng der Tradition. Barcelona will gestalten, begeistern, will immerzu Regie führen – und wer gestalten will, braucht Platz. Sonst tritt ihm der Gegner auf die Füße“. Im völligen Kontrast zur tradierten goldenen Regel der deutschen Fußball-Bundesliga, dass, wer die Zweikämpfe gewinne, auch das Spiel für sich entscheide, spielt der FC Barcelona einen ZweikampfVermeidungsfußball. Seine komplexen Kreationen aus Kurzpässen fußen auf einer trainierten Intuition, auf Technik und Tempo. „Zweikämpfe sind dabei lästig, denn sie bedeuten Verletzungsgefahr und Zeitverlust.“65 Selbstverständlich braucht man dafür auch entsprechende Spieler und, vor allem, ein adäquates Training, um neue Spieler an diesen Tempofußball zu gewöhnen. Dabei trainieren spanische Mannschaften generell offenbar weniger als deutsche: nicht zweimal, sondern zumeist nur einmal am Tag – und ein Lauftraining ganz ohne Ball kennen sie überhaupt nicht. Barcelona hat dafür Modellcharakter. Deutsche Trainer wie Ernst Tanner, Leiter des äußerst erfolgreichen Nachwuchszentrums des TSV 1860 München, studieren das Training des Nachwuchses von Barcelona, um daraus auch für den deutschen Fußball zu lernen. Eine der von ihm beobachteten Trainingsübungen nennt sich „das Chaos“. Ein Jugendteam spielt dabei mit acht Bällen gleichzeitig auf ein Tor. Die Spieler sollen dadurch lernen, permanent aus den Augenwinkeln darauf zu achten, nicht mit anderen Spielern zusammenzustoßen. Bis zum Exzess trainieren die Spanier, so Tanner, kleine Spielübungen auf engstem Raum, wie zum Beispiel das Spiel „vier gegen vier“. Bei diesen Übungen wird nur gepasst und dauernd blitzschnell zwischen Angriff und Verteidigung gewechselt. „Es sind dies die entscheidenden Handlungen des heutigen Spitzenfußballs: Defensiv organisiert sind längst Dutzende Topteams; es gewinnen die, die mit dem schnellen, präzisen Pass den kürzesten Moment taktischer Unordnung ausnutzen können.“66 Während bei etlichen deutschen Bundesligisten vorrangig eine defensive Kompaktheit einstudiert wird, nimmt das schnelle Passen auf engstem Raum bei vielen spanischen Erstligisten gut ein Drittel der Trainingszeit ein. Erst das schnelle Kurzpassspiel ermöglicht es, sich ohne

65 Ebd. 66 Reng, R. (2009): Das Chaos trainieren. In: Berliner Zeitung, 26. März 2009, http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0326/ sport/0021/index.html, Zugriff am 22. April 2009. 238

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Zweikampf aus einer Bedrängnis zu befreien, um dann überraschend die Weite des Raumes zu nutzen. Das gesamte Schulungs- und Trainingssystem Barcelonas speist sich damit aus der Ablehnung einer puren Athletik ohne Ball und der Sehnsucht nach einer Offensive aus der Verteidigung hinaus. Diese grundlegende Spielidee wurde über Jahrzehnte nicht verraten, „der FC Barcelona stürmt aus seiner Tradition heraus“67. Das Festhalten an einem ausgeprägten Stil gab dem FC Barcelona offenbar auch in Krisenzeiten Halt. Ein Gegenbeispiel ist derzeit der FC Bayern München, der seine sportliche Identität verloren zu haben schein. Zu unterschiedlich agierten seine Trainer in der jüngeren Vergangenheit, zu wenig gelang es, neue Spieler in einem gemeinsamen Stil aufeinander abzustimmen. Eben dieser Mangel einiger deutscher Mannschaften an einer zielführenden Spielidee wird messerscharf auch in Chatrooms von deutschen Fußballfans diagnostiziert. Als Bayer Leverkusen im Jahr 2007 als klarer Favorit im UEFA-Cup-Viertelfinalspiel gegen den spanischen Club CA Osasuna 0:3 unterging, stelle ein Fan im Netz beispielsweise die rhetorische Frage: „Wie ist so etwas möglich?“ Seine Antwort: „Damalige Spieler wie eben die namenlosen Abwehr-Spezialisten Chruchaga oder Izquierdo wurden über Jahre hinaus in Pamplona geformt. Nicht nur die fußballerischen Voraussetzungen stimmten bei ihnen, auch die Spiel-Philosophie wurde ihnen geradezu ins Mark geimpft. Heraus kam eine den Purismus pflegende, äußerst disziplinierte Elf, die nicht den Anspruch verfolgte auf dem Spielfeld das ‚Showorchester ungelenk‘ (copyright „11 Freunde“) nachzuahmen“.68 Zugehörigkeit zu einer Netzwerksidentität durch Formungsarbeit am Selbst – dies ist die Quintessenz solcher Äußerungen. Eine solche Identitätskonzeption stützt sich nicht länger auf irgendwelche mythischen Urgründe, sondern auf erlernbare Mitspielkompetenzen und performative Qualitäten. Sie gestattet es, eine Einheit zu denken und zu schaffen, ohne Vielfalt außer Kraft zu setzen. Unter dem Erfolgsdruck eines internationalen sportlichen wie ökonomischen Wettbewerbs scheint gerade der professionelle Sport ein solches anti-essentialistisches Identitätsmodell in der Sphäre der populären Kultur zu repräsentieren, ja gleichsam vorzuahmen. Wo vorrangig die Leistung im Wettbewerb mit anderen zählt, kann man sich eine geschlossene Gesellschaft, die unter sich bleiben möchte, nicht (mehr) leisten. Es müssen vielmehr auch diejenigen physisch und mental in eine neue gemeinsame, nicht ursprüngliche, sondern künstlich geschaffene Spielkultur integrieren werden, für die in den alten, die Anderen strikt ausgrenzenden Kollektivkörpern kein Platz war. Zumindest dafür darf man dem Kommerz wohl dankbar sein. Er macht es möglich, auch dann zu einem Brasilianer zu werden, wenn man nicht aus Bra-

67 Hoeltzenheim, K. (2009) a. a. O. 68 http://www.transfermarkt.at. Zugriff am 22. April 2009. 239

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silien stammt. ‚Echte‘ Brasilianer, die jedoch nicht brasilianisch spielen, missbilligt er hingegen. Die Diskriminierung oder sogar der Ausschluss derer, die sich nicht fügen und entsprechend formen können oder wollen, ist seine Kehrseite.

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III

Hannah Arendt’s Je wish Experience. Thinking, Acting, Judging JEROME KOHN For Antonia Grunenberg

The question of the importance of Hannah Arendt’s Jewish identity has often been raised and usually been answered in categories of particularism and universalism. Yet there is something problematic about the question itself, even aside from Arendt’s understanding of the uniqueness of every human life. What exactly does Jewish identity mean when applied to a nonreligious Jew who in much of her writing criticized the Jewish people, and who, because she dared to judge the behavior of certain Jewish leaders during the Holocaust, was cast out of Jewish communities in America, Europe, and Israel? If identity always implies some sort of sameness,1 the sameness, for example, of a set of generic personal and behavioral characteristics by which an individual is recognized as a member of a group or collective, then it is tempting to say that her Jewish identity, without denying that it existed, holds little importance for who Hannah Arendt was. And this temptation becomes harder to resist if one considers the principal trains of her thought, which embrace the human world, human plurality, human freedom, human action, and the distinctive faculties of human minds. Arendt invites all human beings, human beings as such, to join her and think for themselves along these trains of thought, which, though they are by no means “restricted” for Jews, are not easy to see as setting forth or gathering steam from her Jewish identity. If it is politically attached to Arendt, I find the term Jewish identity even more problematic. In a now famous letter written to Gershom Scholem in 1963, Arendt responds to his complaint that she lacks “Ahabath Israel: Love of the Jewish people” by simply agreeing with him. “You are quite right,” she says, and then continues: “I have never in my life ‘loved’ any people or col1

From its Latin root idem, meaning “same.” 243

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lective – neither the German people, nor the French, nor the American, nor the working class or anything of that sort.”2 For Scholem “love of the Jewish people” is the inner meaning of a Jew’s identity, whose sameness lies in being a part of – in participating in – that exclusive and excluding love. This quasitheological, quasi-Zionistic sameness of Scholem’s Jewish identity, unlike the sameness of a set of merely outward characteristics, entails the immortality, at any cost, of God’s “chosen people.” The military might of the sovereign State of Israel has inflicted waste and desperation on far greater numbers of Arab men, women, and children than Arabs have inflicted on Israelis, and yet the destiny of the Jewish nation still hangs in the balance. Arendt rejects this sense of Jewish identity, as itself a rejection of the reality of the world that Jews, whether they want to or not, cohabit with people other than themselves whom they do not love. But if we replace the word identity with the word experience, the question before us changes completely. To doubt the importance of what Arendt experienced as a Jew, the witness she bore to the unprecedented catastrophe that befell Jews in her time – as I have raised doubts first about the importance and then the existence of her Jewish identity – would be more than irresponsible. It would come closer than one could possibly wish to letting something precious and vital slip through one’s fingers and disappear from sight. That is the general point I want to make, and in what follows I will try to illustrate it. We should bear in mind that Arendt accepted having been born a Jew as a “given” of her being, a gift for which she was always grateful and never dreamed of exchanging. Distinguishing between a natural Jewish identity that, even or especially if we are skeptical of its importance, is indisputable in Arendt’s case;3 a religious Jewish identity of a common creed and rite to which Arendt is not a party; and a Jewish identity of the heart, like Scholem’s, which is alien to Arendt, may help us to appreciate the impact of her Jewish experience. A preliminary and perhaps oblique way of approaching this matter is to consider Arendt’s status as a political philosopher or as a philosopher tout court. Readers of The Human Condition, precisely because of its abstract generality, are hard put not to think of it as a work of political philosophy, while readers of The Life of the Mind, primarily because of its twofold reflective nature – it is an intertwined series of reflections on the reflexivity of mental activities – are hard put to think of it as anything other than a work of philosophy. Yet Arendt consistently denies, and nowhere more explicitly than in The Life of the Mind, that she is a philosopher of any stripe. 2 3

Arendt, H. (2007): The Jewish Writings. In: Kohn, J.; Feldman, R. H. (eds.), New York, p. 466-67. Some may object to the word “natural,” prefering perhaps “cultural,” but not Arendt. She says explicitly that being a Jew for her “is physei and not nomô” (Ibid., p. 466).

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For her the inherent tendency of philosophic thought, not excluding political philosophic thought, is to seek atemporal or absolute truths – from the nonnatural or inverted teleology of Plato’s idea of the Good, for example, to Augustine’s vision of the true order of the City of God within the false order of the Earthly City, to Hegel’s and Marx’s demonstrations of the dialectical progression of History and historical events toward their necessary ends. Such truths transcend human affairs, even when they are conceived, as they usually are in political philosophies, as immanent in human affairs; they are at home, so to speak, in a “higher” metaphysical realm, which is all well and good as long as they are not logically or, as Arendt sometimes says, “tyrannically” imposed on the essential contingency of the free realm of human action, either to determine or encompass it. The main consideration here is that for Arendt, and no one has ever articulated this as clearly as she does, thinking and acting are fundamentally distinct activities. On the one hand, thinking discloses the self to the self, the condition of which is the thinker’s withdrawal from the world, while on the other, acting displays the self to other selves, the condition of which is the actor’s appearance in the world. Granted that for her the activity of thinking is not contemplative but on the contrary, more sheerly active than acting itself, nevertheless I want to suggest that her experience of the destruction of European Jewry impelled Arendt to weigh action, whose mental spring is not thinking but the self-contradictory activity of willing, as heavier and more exigent when placed in a scale with the absolutes of philosophic thought, at least in her time.4 More than anything else, I believe, it is the exigency of action that distinguishes Arendt’s thinking from philosophy in general and political philosophy in particular. Her thinking, which she conceives as the self conversing in accord with itself, seeks a meaningful world, above all by finding meanings in the ever-changing appearances brought forth by human actions, rather than the truths those same appearances have been thought by philosophers to obscure. Thus thinking as Arendt practices it need not be at odds with acting: as distinct activities they can and usually do run parallel to each other. Indeed, it was her experience of thinking’s failure to find meaning in the phenomenal world that prompted Arendt’s discovery of a new “‘middle term’,” as she once said of Kant, “that links and provides a transition from theory to practice.”5 For her, if not for Kant, that “transition” leads back and forth between the activities of thinking and acting without implying their convergence. The “middle term” Arendt discovers between the self and other selves, 4

5

Yet not only in her time: “What Hamlet said is always true: ‘The time is out of joint; O cursèd spite / That ever I was born to set it right!’” Arendt, H. (2005): The Promise of Politics, ed. by Kohn, J., New York, p. 203. Arendt, H. (1982): Lectures on Kant’s Political Philosophy, ed. by Beiner, R., Chicago, p. 36. 245

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relating them to each other, not only precludes the search for absolutes but also heals the abyssal, anarchic freedom of the will; it “provides” the way along which new meanings enter and enrich the world through new actions.6 Another way to look at this is to say with Arendt that thinking, if it is to be relevant to experience, cannot lose contact with experience. I should add that the term experience here signifies the mind’s imaginative encounter with reality, that is, with those events that affect human lives and sometimes, in extreme cases, destroy parts of the human world. A part of that world was deliberately destroyed in her lifetime, and Arendt remembers and laments the diminishment of both the world and its experience, the loss itself perhaps even more than what was lost: “it is not merely that a people or a nation or a given number of individuals perishes, but rather that a portion of our common word is destroyed, an aspect of the world that has revealed itself to us until now but can never reveal itself again.”7 If the thinker’s withdrawal is both the condition and the phenomenological description of understanding the past, of endowing it with meaning, the activity of thinking cannot but be strained when the experience of what has passed is intentionally obliterated, as it was in totalitarian societies, first by systematic lies and then by means of violence. That the activity of thinking originates in experience is crucial for Arendt. Even before Plato said so explicitly, that initiatory experience was of wonder, an admiring wonder, directed not at what our senses perceive, but at the invisible harmony of the whole, sometimes called the beauty of the cosmos, which the most apparent of appearances may hint at, but only the mind’s eye can bring into focus, make still, and behold.8 Admiring wonder is a response to what is not called forth by men, but to what calls forth from men hymns and odes of praise in the case of poets, and reasoned accounts, of which Aristotle’s four causes or reasons why are a prime example, in the case of philosophers. Two and a half millennia after Plato, however, the existential experience of European Jews living in the twentieth century was more likely to have been of horror, not the least aspect of which was the blinding of their minds’ eyes to their own reality. Jews were denied the solitude of withdrawal, obstructed from exercising their imaginations in the inner dialogue of thought, constrained from living in accord with themselves, deprived of their humanity, and thereby rendered unfit to live among men (inter homines esse). Vast numbers of them were brutally prevented – and this was planned and organ6

7 8

This is the overall project of her last, uncompleted, and underappreciated masterwork, The Life of the Mind, in which her thought is unmistakably political, but from an entirely new perspective. Arendt, H. (2005) op. cit., p. 175. For this and what follows on the experience of wonder see Arendt, H. (1978): The Life of the Mind, vol. 1, Thinking, New York, p. 141-51, “Plato’s answer and its echoes.”

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ized by men – from understanding why they suffered, from recognizing, recognizing, their world in the factitious world into which they were uprooted and hurled not by fate but by lies and force. What issues from the experience of horror is non-meaning, a sense of nothingness, a revulsion, or, in Sartre’s word, nausea at the opaque omnipresence of sheer existence, of nothing but existence. Is not that in every conceivable sense the opposite of philosophic wonder? Today our shame at what men are capable of doing to their fellow men, a distant cousin of horror, has become so prevalent that at times thinking, even when not obstructed, seems to be going out of style all by itself. Now the question becomes whether there is still enough wonder left in us to rouse a thinking that in its withdrawal remains circumscribed by the experience of shame. I believe that question, which has seldom been asked explicitly, informs much of the contemporary interest in Arendt’s thought, that is, with her way of thinking which reflects its own unusual, perhaps unique, originating experience. That experience, whose seed was planted in her youth, is of a relation between “the speechless wonder of gratitude” for “what is as it is” and “the speechless horror at what man may do and what the world may become.”9 At first sight so bewildering, this relation is essential for understanding Arendt: what rises between wonder and horror and connects them is the possibility of the new, and what matters most in the present context is that the imaginative experience of a new beginning is called forth in response to the conjunction of wonder and horror, not from one and then the other. In this sense Arendt’s thought can be seen as an approchement to a world in which the potential freedom of human action is ultimately ineradicable, and that, I believe, is the reason why her way of thinking has become exemplary for those who, consciously or unconsciously, attempt to emulate it. For, and here Arendt acknowledges an affinity with Hegel,10 an active thinking that refuses to acquiesce in the reality of what it itself cannot change issues in a selfunderstanding – indeed, a self-illumination – that almost always reconciles the thinker even to an inimical world. That is a lot more than the so-called “consolations of philosophy,” but it is not yet the discovery of the “middle term” that links thought to action. Hannah Arendt was a thinker who acted only rarely, when she “couldn’t help it,”11 as, for instance, when she escaped from Germany by the skin of her 9

Arendt, H. (2005): Essays In Understanding 1930-1954, ed. Kohn, J., New York, p. 445. Much later Arendt speaks of “the intimate connection that binds the thought of Being and the thought of nothingness together” (Arendt, H. (1978) op. cit., p. 149). 10 Cf. Arendt’s remarks about Hegel in Arendt, H. (1979): The Recovery of the Public World, ed. by Hill, M. A., New York, p. 303. 11 Ibid., p. 304. 247

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teeth in 1933. A few months after the burning of the Reichstag in February of that year, Arendt was enlisted by her friend Kurt Blumenfeld, the head of the Zionist organization in Berlin, to collect antisemitic12 statements whose sources were not Nazi propaganda but “professional clubs” and “professional journals.” The collection was intended to show Jews and others outside of Germany, who for the most part were unaware of it, the extent to which antisemitism permeated ordinary, respectable German society, that is, the same society that did next to nothing to resist Hitler’s rise to power. Why did Arendt do this, considering that she “was not a Zionist” and “politically […] had nothing to do with Zionism”? Moreover, she already believed that conditions for Jews “would just get worse and worse.” Well, in her own words, “I did not intend to run around Germany as a second-class citizen,” and this “very intelligent idea” of Blumenfeld’s “gave me the feeling that something could be done after all.” It was a lost cause, of course, and for her efforts in its behalf Arendt was arrested. But “the official who arrested” her turned out, against all odds, to be “a charming fellow,” and she “made friends” with him. When he said, “I got you in here [and] I shall get you out again,” she “relied” on his “open, decent face” rather than on the lawyer dispatched by the Zionist organization to aid her. That lawyer “was himself afraid,” in an admittedly frightening situation, and she sent him packing at the official’s urging: “Don’t get a lawyer!…Jews don’t have any money now...Save your money!” The official was good to his word, he did get her out of jail, and Arendt forthwith crossed the German border “illegally” – her “name had not been cleared” from the police register – gratified that she was no longer “‘innocent’,” no longer “a bystander,” but someone who had made a decision and “done something.”13 In short, she had acted – with courage, with luck, and with the indispensable support of a most unlikely friend. I don’t want to belabor this perhaps minor incident. Arendt spoke of it in public only once, and then with embarrassment, saying it was “of no consequence.”14 Nevertheless, anyone familiar with her fully developed understanding of action cannot but recognize some of its elements in this recounting of what transpired not simply because Arendt was a Jew – that was yet to come – but because she acted for the sake of Jews. These elements include the determination to do something that can be done, which Arendt later elaborates as the actuality of freedom experienced only in action; the inability of thought to determine the outcome of any specific action in advance, which 12 I follow Arendt in writing “antisemitic” and “antisemitism,” rather than “antiSemitic” and “anti-Semitism” (cf. The Jewish Writings, p. xxxiii). 13 Arendt, H. (2005) op. cit., p. 5-6. 14 Ibid. The occasion was a 1964 televised interview with Günther Gass, who was adept at getting Arendt to tell a number of stories that otherwise she kept for her inner circle or “tribe,” as she called it. 248

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later becomes the ever-present element of risk, of chance, and contingency in all action; and the trust placed in someone other than oneself, that is, the fact that no one can act alone, which Arendt will come to see as the joy, and in a sense the miracle, of acting together, of acting in concert with one’s fellow men to change the world. But let me return to anitisemitism, surely one of Arendt’s great topics. While still in Germany, and later as a stateless exile in France from 1933 to 1941, in her late twenties and early thirties, Arendt sought to understand how antisemitism had grown in Germany, of all places, where the emancipation of Jews had been associated with the struggle for human freedom since the Enlightenment. In the eighteenth century Gotthold Lessing and his friend Moses Mendelssohn, and after them J. G. Herder, who was critical of the Enlightenment ideal of an a-historical, universal humanity, strove to liberate Jews from the mentalité of the ghetto. The liberation of Jews became “official” with the Emancipation Edict of 1812, that is, in the wake of the French Revolution and the Declaration of the Rights of Man, followed by Bonaparte’s victories in 1806-07 and the French occupation of Prussia. Arendt’s main point is that neither Lessing, Mendelssohn, or Herder, nor the Edict of 1812, which in any case was never passed into law, succeeded in emancipating Jews. True, the social assimilation of Jews was now more viable than before, but Jews took no part in anything like a public realm where they could raise their voices and take responsibility for the future of German Jewry. The assimilation of Jews into German society15 and their lack of responsible political action are the kernels that grew into Arendt’s well known and controversial distinction between social and political life,16 and mark the beginning of her career as a conscious pariah among her own people. After 1812 and before 1823 Arendt discerns a historical moment when the absolutist Prussian monarchy, the power of the state, lacked the support of both the aristocratic and bourgeois classes. The Junkers wanted the ancient privileges attached to their hereditary properties, which had been attenuated by the monarchy, reinstated, and the bourgeoisie wanted a constitution that would legally establish and secure its financial and economic interests. The monarchy resisted the demands of both of these classes as diminutions of its own power, but it is more consequential for our purposes that the mutual opposition of the aristocrats and the bourgeoisie to the monarchy by no means united them. On the contrary, the conservative aristocrats mounted a blistering attack on the bourgeoisie’s “cosmopolitanism,” its predilection for interna15 The assimilation of Jews in Germany is a tremendously complex matter that cannot be gone into here. It is treated in detail by Arendt in Rahel Varnhhgen: The Life of a Jewish Woman and in the first part of The Origins of Totalitarianism, “Antisemitism.” 16 Arendt, H. (1958): The Human Condition, Chicago, p. 22-37. 249

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tional trade, and its accumulation of wealth as subversive of the German “spirit.” Worst of all, the aristocrats declared the bourgeoisie to be a disintegrative and destructive force within the German nation. At the same time the peasant class, which felt itself exploited by the premiums exacted on loans negotiated by ingenious bourgeois capitalists, that is, for reasons not wholly dissimilar to the Junkers’, also despised the bourgeoisie. To salvage its own position in German society, the bourgeoisie shifted the attack of the aristocrats and the enmity of the peasants to the Jews, which is to say that the most liberal class in Germany did all it could to revive the feudal hatred of Jews as usuers, laying every charge against itself on Jewish doorsteps. For Arendt this marks a turning point in the history of German Jews. When the monarchy, above all class distinctions but dependent on popular support, accomodated to a degree the demands of both the aristocracy and the bourgeoisie, and offered a degree of protection to the peasantry, the reinvigorated prejudice against Jews played a major role in restoring and rebalancing the class structure of German society. A political crisis was averted when every class and also the monarchy readily agreed that Jews, now looked upon as a caste within the various strata of society, were “the ‘real’ usurers” – which of course was not true and had not been true since the Middle Ages. In 1823 the Law for the Estates of the Provinces “for the first time […] linked the right to elect and be elected [to public office] to a person’s being ‘in communion with a Christian church’,” which was “an open revocation of the Edict of 1812.”17 So much for the Enlightenment’s “inalienable” rights of man. To top it off, the civil rights of German Jews, which finally were enacted into law in 1869, did not alleviate but exacerbated society’s prejudice against them. For it was then that the danger of the political equality of a “foreign” people living within the German national state was first surmised. The breadth and depth of the social prejudice against Jews, as we have seen, prompted Arendt to act in 1933, the result of which was the abrogation of her civil rights, statelessness, and exile. Soon after 1933 Hitler found, in promulgating his racist ideology, that the outdated hatred of Jews as usurers, and even more so as politically dangerous intruders,18 was the easiest thing to export to countries with strong Catholic and / or nationalist identities, such as Poland, where far greater numbers of Jews resided than in Germany. From this constellation in modern German-Jewish history, in part experienced through her capacious imagination and in part in her person, Arendt learned a lesson she never forgot, namely, that the assimilation and the emancipation of a people in a land that is not their own exist in inverse proportion. Social as17 Arendt, H. (2007) op. cit., p. 111, 121 n. 24. 18 The Nazi propaganda machine used The Protocols of the Elders of Zion, a forged document purporting to reveal Jews as the secret dominators of the world, to support Hitler’s ideology. 250

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similation comes at the price of forfeiting political emancipation, and political emancipation at the price of jeopardizing social assimilation.19 Upon arriving in New York in 1941 Arendt was pleased to find that the sheer diversity of the people, their customs, and habits left nothing “American” to assimilate to, at least for herself. Her stand for emancipation and against assimilation aligned her, for a while, with Zionism as the only authentic Jewish political movement. During the Second World War Arendt called for an international Jewish army, not just a Jewish brigade within the British army (though she appreciated that as well). Her call to Jews all over the world was not to immortalize the Jewish people by sacrificing their own and others’ lives, but to act for the freedom of their people by combating their oppressors. A Jewish army fighting the Nazis under a Jewish flag would be an unequivocal sign to the world that Jews are a free people. At this same time Arendt distinguished between a people and a polity, and it is from this distinction that a few years later she spoke of a “right to have rights.”20 A “right to have rights” cannot be a civil or human right in the usual sense, since it is a right that trumps the experience of European Jews whose civil and human rights were systematically nullified by the Nazis in camps (or “laboratories,” as Arendt called them) designed for that purpose. Again it is a question of action, in this instance the fundamental action of founding a polity, whose laws and institutions for the first time would enable Jews to make binding treaties, military alliances, and trade agreements with other polities. The political right of Jews to enjoy civil and human rights would no longer be in question, since it would be manifest to, and recognized by, other states and nations throughout the world. There is not time now to go into this matter in the detail it deserves, but it should be noted that Arendt broke with Zionism over the nature of this new polity. She contended not for a Jewish nation-state based on the model of European nation-states, which is what Zionists wanted and eventually got, but for a Jewish homeland or Heimat within a federated Palestinian state. Arabs

19 Though this is not the place, it would be interesting to test Arendt’s theorem in the case of African Americans, which, in part because of institutional slavery, differs from that of Jews. The history of African Americans begins when they were brought to this country as chattel, while the history of European Jews ends when they were turned into chattel by the Nazis. Still, there is nothing that rightly can be called a social prejudice against African Americans before Lincoln’s Emancipation Proclamation freed them from a condition in which they had no social status at all, not even that of a caste. That was in the South, and in the abolitionist North, where slavery was renounced, the gradual acceptation of African Americans changed into a cruel form of social discrimination only after the same Proclamation. 20 Arendt, H. (1968): The Origins of Totalitarianism, 4. ed., New York, p. 296302. 251

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and Jews are neighbors in the small land of Palestine, but can live as neighbors only in a secular state whose political structure is revolutionary and opposed, from beginning to end, to the equally revolutionary structure of “the so-called totalitarian state,” both of which are simultaneously present in Arendt’s mind in the late 1940s.21 In a federated Palestinian state two distinct peoples would have “a common government […] rest[ing] on Jewish-Arab community councils.” Power and authority would flow upward from this “lowest and most promising level of proximity and neighborliness,” and not downward from above. In Arendt’s words, which now appear prescient, “Local self-government and mixed Jewish-Arab municipal and rural councils, on a small scale and as numerous as possible, are the only realistic political measures that can eventually lead to the political emancipation of Palestine.” The state envisioned by Arendt might then become a “natural stepping stone for a […] greater federated structure in the Near East and the Mediterranean area” whose power potential would be immense – an autonomous political entity, to be sure, but one that eschews national sovereignty.22 This, too, turned out to be a lost cause, but when Israelis, Arabs, and others in or outside the Middle East dismiss the idea of a federated Palestinian state as unrealistic, they implicitly accuse Arendt of lacking political judgment – which is ironic since she is the first political thinker to thematize political judgment. She lacks judgment in the eyes of those who regard the possibilities of action from the point of view of their own or their people’s selfinterest. But for Arendt the hallmark of judgment is the disinterestedness, or impartiality, which allows the judge, through his imagination, to see with his own eyes from standpoints that are not his own or his people’s. In other words, though she is a Jew, Arendt’s political identity is not Jewish but that of an active world spectator, a Weltbetrachter,23 and the sole yet crucial “sameness” in that identity is the community of spectators who likewise exercise their imaginations when they judge. Human judgment is far removed from Hegel’s notion that History is the final judge in human affairs (Die Weltgeschichte ist das Weltgericht), for unlike History the activity of judging does not go on behind the backs of actors, but is the other side of action. In fact, judgment is operative in actors insofar as their actions reveal the principles – which the Greeks thought of as aretai or excellences – that inspire them. In the last analysis, the spontaneity of actors is their judgment that along with the principles of their actions they themselves as actors are fit to appear in the 21 For the structure of “the so-called totalitarian state” see Ibid., p. 389-459. 22 Arendt, H. (2007) op. cit., p. 400-401. Later, in The Human Condition and On Violence, Arendt analyzes power and sovereignty as antithetical concepts. 23 A world spectator is sharply to be distinguised from a world citizen. Arendt, after Kant, views a world government as the greatest tyranny imaginable (Arendt, H. (1982) op. cit., p. 44). 252

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world, regardless of the perils that always await them, and regardless, too, of their success or failure. Apart from seeing from the points of view of others, many others, as many as possible, political judgment is feckless, no more than an opinion among opinions. Arendt understands political judgment as refined opinion, in analogy, one could say, to the way oil must be refined before it can propel a vehicle. No polity, no people, no party has a premium on judgment. When the distinguished Palestinian writer Sari Nusseibeh, in his political memoire Once Upon a Country, called for a binational secular state, as had Arendt many years before, Arabs derided him as an “Arab who wants to be a Jew,” and Jews as “the most dangerous Arab alive.” To Hannah Arendt, who was a Jew, and to Sari Nusseibeh, who is an Arab, the core of the Arab-Israeli conflict is the inability – or refusal – of both Jews and Arabs to see themselves from the other’s point of view. Though Arendt wrote about Jews and Jewish affairs during four decades, from the 1930s to the 1960s, I have been trying to shed some light on the ways in which her political thought in general is anchored in her experience as a Jew. In this sense, her Jewish experience is literally the foundation of her thought: it supports her thinking even when she is not thinking about Jews or what pertains only to Jews. To put it in a way suggested earlier, Arendt’s most abstract concepts and ideas grow from an experiential ground, and thrive, as great trees thrive, because they remain rooted in that ground. On the other hand, the power of her political thought can be fully grasped if and only if her ideas strike chords and resonate in the experiences of others, however different they may be from hers. Her most original, profound, and yet elusive concept of human plurality, the uniqueness and hence dignity potential in every human life, and the host of ideas surrounding it, developed out of her experience of political antisemitism. By calling upon Diaspora Jews, that is, Jews who for centuries had lived dispersed in different nations and cultures, to show who they are by joining together to combat their common oppressor, Arendt first disclosed plurality as the condition of action, and action itself as the experience of freedom, the latter being the origin and raison d’être of politics as she understands it.24 As the condition of action, since no one acts alone, plurality is likewise the condition of human solidarity, for only when the plain fact that “not a single man but Men inhabit the earth”25 is recognized will the fundamental meaning of political life, which is to share the earth with others, be realized. Today’s instantaneous communications make it theoretically more feasible than ever before to encounter others as neighbors in one

24 Cf. Arendt, H. (1968): Between Past and Future, New York, p. 146. 25 Arendt, H. (1951): The Origins of Totalitarianism, 1. ed., New York, p. 439, and repeated in all of Arendt’s major works. 253

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world regardless of where they live. This political encountering of others as separate and related, distinct and equal may be in the throes of being born right now. But if it is not to be stillborn, the plurality and dignity of human lives will have to be experienced by men and women all over the world, and their experience obviously cannot and need not be the same as Arendt’s. We have seen how Arendt’s urge to think and find meaning in the world, rather than truth beyond the world, was instigated by her need to understand the rise of antisemitism in Germany. In Arendt’s native land, where distrust of Jews had become a widespead social prejudice over the previous hundred years, Hitler transformed that prejudice into a “valid” political ideology, that is, an ideology approved as the truth of Nature by world-alienated masses, in Germany and elsewhere.26 The consequences of that transformation were unprecedented, precipitating from the denial of the right of Jews to appear in public to, in the ensuing darkness, the insignificance of their right to live. Although Arendt was never in a Nazi concentration or extermination camp, in 1940 the government of France, that is, the Third Republic, could legally – because Germany had stripped her of citizenship in 1933 – intern her as an “enemy alien.” The irony that at the time France and Germany were on the brink of war, and that she had fled Germany to seek asylum in France, is striking. It may be idle to speculate on the role her internment by the French played when, a decade later, Arendt imagines the terror of the Nazi camps, the “radical evil” of rendering the lives of Jews, simply because they were Jews, along with the lives of everyone else touched by that terror, “superfluous,” that is, interchangeable and expendable, in the attempt to “accelerate” Nature’s plan to evolve a superior or master “Aryan” race. The power of Arendt’s imagination, which is fully manifest in her writing, enables readers of The Origins of Totalitarianism, most of whom today lack experience of or relatable to a totalitarian society, to experience vicariously an evil that cannot be “understood” or “explained” by any known “evil motives,” such as “selfinterest, greed, covetousness, resentment, lust for power, [or] cowardice.”27 For the first time in human history, according to Arendt, the hitherto disguised root of evil appeared unmasked in the world. Arendt’s idea of one supreme human right, the “right to have rights,” hangs upon the experience of having lost one’s accustomed place, rights, and

26 Ideological “truth” is the dark underbelly or perversion of philosophic truth discussed above. For Arendt’s account of the spread of world alienation and the emergence of mass men see: Arendt, H. (1958) op. cit., p. 245-325. 27 Arendt, H. (1968) op. cit., p. 459. In this respect, radical evil is not coextensive with genocide, which in fact (if not in name) is as old as human history. Even the Turks’ genocide of Christian Armenians, often evoked as analogous to the Holocaust, had the transparent “political” motive of shoring up the disintegrating Moslem Ottoman empire. 254

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legal standing as a citizen. Thus it might be thought to originate in human superfluousness, except, as she sees it, the worthlessness of human life cannot be experienced; to be superfluous is to be deprived of “the reality of experience,” of “common sense,” of “contact with [one’s] fellow men.” In every respect the polar opposite of human plurality, the meaing of human superfluousness can be thought today probably only through the experience of what Arendt calls “loneliness.” Even more than being forced out of a particular, familiar community, the experience of loneliness is of “not […] belong[ing] to the world at all.”28 The one supreme right is therefore the “right to the human condition itself,” which “can and can only be guaranteed by the comity of nations.” Thus, while negating superfluousness, the idea of a “right to have rights” is embedded in the freedom experienced by a plurality of human beings joined in action to generate new or regenerate exhausted political entities. This highest of rights transcends “the rights of a citizen [by] being the right of man to citizenship,”29 which is to say that its realization would afford, as no formal contract can afford, men and women qua citizens the experience of political equality, the only sense, after all, in which plural and unique beings can be conceived as equal. It should be noted that political equality does not entail being the same as one’s equals in the sense of a national, religious, or ethnic identity, or of social uniformity, let alone the sameness of superfluous human lives deduced from totalitarian ideologies. What Arendt means by political equality demands far more of a citizen than entering a voting booth alone to cast a ballot for the candidate of his choice; it demands that each citizen take upon himself responsibility for his nation’s actions, which is but the other side of each citizen’s spontaneity when he joins other citizens to act into his nation’s future. The experience of political equality is most likely to be achieved in a revolutionary council state, such as Arendt strove to see established by Jews and Arabs in Palestine. In showing how rare that experience is, the appeal of her book On Revolution is less to scholars and students of revolution, and more to those who, though they may be citizens of a state, and though that state may be a modern constitutional democracy, have nevertheless experienced political inequality.30 What we have not yet seen, and in conclusion will turn to, is how the “right to have rights” corresponds to the specific meaning Arendt gives, in Eichmann In Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, to the new concept

28 Ibid., p. 474-75. 29 Arendt, H. (1951) op. cit., p. 437, 439. 30 Today Barack Obama’s appeal is to such citizens of the United States of America. 255

JEROME KOHN

of a “crime against humanity,” and to her judgment of that crime.31 In 1961 Adolf Eichmann stood trial in Jerusalem, and Arendt attended his trial because she wanted to see in the flesh a man responsible for the deaths of literally millions of Jewish men, women, and children who had committed no crime and posed no threat to the German Reich. Her experience in the Jerusalem courtroom may have been her culminating experience as a Jew; it was certainly the catalyst of her discovery of the power of judgment, which is indeed the culmination of her political thought. The case of Eichmann is complex, and one way of approaching it is to note how frequently we hear clerics and other moralists bemoan the increasing number of people who seem proud of their liberation from moral and religious prohibitions, and of their dismissal of, or impassivity toward, the commands of conscience. Those words do not fit well with Arendt’s experience of Eichmann, and certainly do not capture what she means when she speaks of “the banality of evil.” But they may account for the striking recurrence of that phrase in our everyday language, as well as in the media, to characterize a certain type of crimes, such as the killing of a passerby for his watch or wallet. In such a crime we have difficulty relating the motive of the criminal, say to buy something, to taking a human life. And if the purchase turns out to be crack cocaine, and the criminal a drug addict who has no control over what he does, we are still likely to call his crime “unthinkable”– primarily, I suspect, because we cannot imagine ourselves committing it. In these cases we do not say, “There, but for the grace of God, go I.” Despite its unthinkability, however, his crime is thought of as an instance of “the banality of evil,” not to excuse it, but somehow to reconcile ourselves to a society in which this sort of criminal behavior – less rare, perhaps, than it used to be – is believed to emanate from the lack of a moral disposition. “The banality of evil” has also been used, and for much the same reason, to characterize the unfortunate U.S. policy of “aggressive interrogation” – in plain language the torture of prisoners, who may be no more than suspects, in the “war against terror.” The motive of men to torture other men is never moral: it can be the pragmatic motive of discovery, or the highly questionable one of evidence, or, more important in this context, the “unthinkable” one of willfully degrading and humiliating a fellow human being. In disparate acts, which recently have included the random shooting of students in a lecture hall of an Illinois university, the dumping by Florida police officials of a quadriplegic from his wheelchair, and the abandonment of infants by their mothers, it is the anti-moral motivation of the transgressors that

31 “Crimes against humanity” were first announced in the Nuremberg Trials of high-ranking Nazi officials, where, in Arendt’s opinion, they were never sufficiently distinguished from “war crimes” and “crimes against peace.” 256

HANNAH ARENDT’S JEWISH EXPERIENCE

we seek to comprehend in what has now become a catchword, “the banality of evil.” Arendt’s experience as a Jew facing Eichmann is very different. She sees in him a particular perpetrator of a political crime that has far greater consequences for the world than immoral or amoral acts ever have. “In the center of moral considerations of human conduct,” she writes, “stands the self; in the center of political considerations of conduct stands the world.”32 In this partially Kantian view, moral transgressions, regardless of who else is harmed, always shatter the integrity of the transgressor. The political crime against humanity, on the other hand, corresponds to the “right to have rights,” insofar as the former denies what the latter promises, a chance for men and women to actualize their potential freedom, which becomes manifest in the world whenever they speak and act together as equal citizens of polities. When Arendt saw Eichmann in the dock he struck her as an ordinary man, neither especially intelligent or especially stupid, even though what he did was not in the least ordinary. He was not a psycopath, he murdered no one with his hands, but by identifying himself with what he called “the household use” of Kant’s categorical imperative,33 and with the cooperation of Jewish leaders, he organized the mass transport of Jews across Europe to extermination camps where, in unfathomable loneliness, they were transformed into living corpses before being destroyed. Because Arendt chooses not to overlook the role that Jewish leaders played in the destruction of their own people, she was accused of absolving Eichmann and blaming his victims. That is a pure distortion of what she says, which has nothing to do with the absence and everything to do with the uselessness of traditional moral standards throughout “respectable European society – not just in Germany but almost all European countries, not only among the persecutors but also among the victims.”34 Because she now calls the evil that arose with this uselessness, which she observes specifically in the person of Eichmann, not radical but “banal,” Arendt was ostracized by Jews on three continents. This may recall her exile from Germany thirty years before, and in all likelihood is the most political consequence to date of her concept of “the banality of evil.” To Arendt, the banality of Eichmann’s crime against humanity ensues from his inability to think, which she apprehends in the extraordinary triteness of the clichés that flowed from his mouth regardless of what he talked about. This was his “distinction,” the distinction of a “buffoon,” the only sense, perhaps, in which he was not entirely ordinary, and Arendt goes on to say that 32 Arendt, H. (2003): Responsibility and Judgment, ed. by Kohn, J., New York, p. 153. 33 Arendt, H. (1965): Eichmann In Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, revised ed., New York, p. 136. 34 Ibid., p. 116-26, the quoted words are on p. 125-26. 257

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the independence of the activity of thinking, absent in Eichmann, can condition those who enjoy it against evildoing.35 Yet under the law no one is condemned for not thinking, for what does not go on in his mental life, but for what he does and why he does it. This is the crux of the matter. Arendt agrees with the judgment of the court that Eichmann should be hanged, but not because, as the court held, he had “base motives.” What she sees in Eichmann is that he had not an unknowable evil motive (as she implied in speaking of radical evil) but no motive whatsover. He did his “duty” as a “law-abiding citizen” of Nazi Germany,36 and therefore anticipated rising within the ranks of the Gestapo, but, contrary to what has sometimes been alleged, his motivation cannot be attributed to “careerism.” To advance his career did not move him to erase Jews from the face of the earth, any more than he would have plotted the murder of a superior officer to take his place in the hierarchy in which he worked. He was not in any perceptible sense morally corrupt, and above all he was not an antisemite, he harbored no “ill feelings” against the Jews he dispatched to their deaths.37 The conclusion of Arendt’s judgment addressed to Eichmann reads: “Let us assume, for the sake of argument, that it was nothing more than misfortune that made you a willing instrument in the organizaton of mass murder; there still remains the fact that you have carried out, and therefore actively supported, a policy of mass murder. For politics is not like the nursery; in politics obedience and support are the same. And just as you supported and carried out a policy of not wanting to share the earth with the Jewish people and the people of a number of other nations – as though you and your superiors had any right to determine who should and who should not inhabit the world – we find that no one, that is, no member of the human race, can be expected to want to share the earth with you. This is the reason, and the only reason, you must hang.”38

In other words, the crime against humanity is against the human status of plurality, “against the very nature of mankind,” the political crime for which Eichmann was indicted, as Arendt sees it, not just by the people of Israel but by all the peoples of the world. His crime against human plurality was “perpetrated upon the body of the Jewish people, […] only the choice of victims, not the nature of the crime, could be derived from the long history of Jew-hatred

35 Arendt, H. (1978): The Life of the Mind, vol. 1, Thinking, New York, p. 3-5. 36 The brilliant, devastating center of Eichmann In Jerusalem is chapter VIII, “Duties of a Law-Abiding Citizen.” 37 Eichmann In Jerusalem, p. 30. For a fuller account of Eichmann’s “incorruptibility” than can be offered here see: Kohn, J. (2002): Arendt’s Concept and Description of Totalitarianism. In: Social Research, vol. 69, no. 2, p. 621-656. 38 Ibid., p. 279. 258

HANNAH ARENDT’S JEWISH EXPERIENCE

and antisemitism,” and that choice was not Eichmann’s.39 To judge his crime requires no proof of the perpetrator’s intention or motive to do wrong, nor of his guilty conscience, for in doing his “duty,” in being duty-bound, Eichmann was extremely conscientious. Arendt knows what she says flies in the face of the age old moral principles that inform the law, but that is her main point: moral standards of human conduct, which originate in the accord of the twoin-one in the activity of thinking,40 did not apply in judging the crime of the particular man who appeared before her in the Jerusalem courtroom. That the judges in the trial did not view Eichmann as Arendt did, and that by and large we do not either, is due to the undoubted difficulty of distinguishing the activity of judging from that of thinking. By sending to their deaths masses of people he did not even dislike, Eichmann’s crime against humanity included, since he was no demon, his own humanity. It was his inability to think what he was doing, both in the war and during his trial, which defies thought and releases, at least in Arendt, the power to judge what thinking cannot endow with meaning – the terrifying banality of the evil done to the world by this one thoughtless man.41 Arendt does not seek reconciliation to a world in which such evil once appeared and for that reason is “more likely” to reappear “than its initial emergence could ever have been,” and on a far greater scale.42 The reconciliation she seeks is to a world that strives to prevent its recurrence, that is, to a world in which its previous unprecedented occurrence is kept unprecedented. That is not something thinking can do, since that activity, as Arendt understands and practices it, does not effect what happens in the world, even if it effects what thinking individuals refuse to do when they appear in the world. Arendt’s point, I believe, is not simply to encourage thinking but to revivify it, since thoughtless evil, which unlike radical evil has no root for thinking to latch on to and thus no experience for thinking to remain bound to, tends to render thinking men and women themselves superfluous. What else could she have

39 Ibid., p. 253-272 (the quotations are on p. 268 and p. 269). Nevertheless Arendt, unlike her friend and mentor Karl Jaspers, believed the trial of Eichmann was rightly held in Israel, under Israeli law, absent “an international criminal court” and “an international penal code.” 40 Arendt, H. (2003) op. cit., p. 185-189. 41 This limiting case, in which the impotence of thinking liberates the faculty of judgment, has no bearing on the lack of political judgment in such a thinker as Martin Heidegger. 42 Arendt, H. (1965) op. cit., p. 273. “The frightening coincidence of the modern population explosion with the discovery of technical devices that […] will make large sections of the population ‘superfluous’ […] and that, through nuclear energy, make it possible to deal with this twofold threat by the use of instruments beside which Hitler’s gassing installations look like an evil child’s fumbling toys, should be enough to make us tremble.” 259

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meant when in 1964, writing about “The Destruction of the Six Million,” she says that a “reappraisal of our mental habits” is not only now required but also so “agonizing” that it threatens to make our humanity “irrelevant”?43 Eichmann was unable to think what he had done, and Arendt, who excells at thinking, cannot think it either. The only meaning of such evil is paradoxical: its “banality” stymies the faculty of thinking that alone can give it meaning. Arendt suggests that, because it has no root, this evil is “extreme” and “can overgrow and lay waste the whole world.”44 She also suggests that, because it is “word-and-thought defying,”45 it is essentially evil. But that does not mean it is “nothing,” or “insubstantial,” or a “lack of being” as the great tradition of philosophic thought, in which the unity of thinking and being is presupposed, has maintained.46 From a psychological point of view, her judgment that Eichmann “must hang” comports with her love of the diversity of human life and her abhorrence of its destruction. Yet her invocation of the death penalty is not to punish Eichmann – there is no punishment commensurate with his crime – but to indicate that a human world can neither forgive nor contain a man who never hesitated to fill boxcars with human beings and ship them to extermination camps, much as cattle are shipped to slaughterhouses, a man, that is, who in sheer indifference to his own humanity never elected “to share the earth” with others. Because she sees in Eichmann a man “who should never have been born,” Arendt repeats the judgment of Jesus Christ: “It were better for him that a millstone were hanged about his neck, and he cast into the sea” (Luke, 17: 2).47 The power of judgment is the link between thinking and acting that Arendt long sought and here discovers, as probably only she could discover it. Her judgment cleaves the meaningless meaning of the destruction of the world from what hencefore the world can permit to appear in it. It is her decisive judgment that never again can a human being “be expected to want to share the earth with” such a man as Eichmann. Arendt’s judgment is an arrow shot into the past, which, its target struck, revivifies her thinking. She will not “think the unthinkable” (which in the end remains a contradiction) but reveal an abundance of new meanings in phenomena and events that have passed, or are passing, or may yet come to pass. Thinking, the first part of The Life of the Mind, abounds with new meanings, and the reader who discovers the world of

43 44 45 46

Arendt, H. (2007) op. cit., p. 493 (emphasis in the original). Ibid., p. 471. Arendt, H. (1965) op. cit., p. 252. Kant, who destroyed that unity and first introduced the notion of “radical evil,” is an exception within that tradition. For the “nonbeing” of evil see: Kohn, J. (1996): Evil and Plurality. In: Hannah Arendt: Twenty Years Later, ed. by May, L.; Kohn, J., Cambridge, p. 147-178. 47 Arendt, H. (2003) op. cit., p. 125. 260

HANNAH ARENDT’S JEWISH EXPERIENCE

which they are the meanings will find for himself that thinking sets bounds to what he is willing to do. That is the correlate of the power of judgment that halts the indeterminable oscillation of the will in men of action, its inability to decide to act, not in necessity, to which it is not subject, but rather as Buridan’s ass is said to have starved to death while standing unfettered between two equally tempting bales of hay. It is no wonder, considering all that it relieved her of, that Arendt wrote Eichmann In Jerusalem in a “state of euphoria.”48 Yet the fact of the matter is that the act of judging is by no means a readily applicable “middle term,” but an autonomous faculty of the human mind. Arendt’s judgment of Eichmann as the motiveless perpetrator of a worlddestroying crime is clearly for the sake of the world, and she writes Eichmann In Jerusalem to tell the story of a man whose life exemplifies the extremity of thoughtless, unthinkable evil. To experience the import of her judgment, however, requires an “enlarged mentality,” as Kant called it, to make present what is not immediately present, a complex political image of the concrete reality of human freedom, distinctness, and equality as undermined by Eichmann’s deeds against that reality. Arendt’s judgment of Eichmann, whose emblematic significance is his disappearance from the world, claims agreement, since by itself it cannot prevent the recurrence of his crime, a restriction of the faculty of judgment that is all too evident and of which she is fully aware. To claim agreement, after her book’s entirely unexpected reception, is, I believe, the principal reason she undertook to explain and justify the concept of “the banality of evil” in the remarkable series of essays that precede The Life of the Mind.49 In these writings she seeks not the passive consent of her readers, but to draw them into the silent dialogue of her thinking, to induce them to think with her as far as she can guide them. Only then, at the limits of thinking, they may actively assent to the validity of her judgment of a man who, without thinking what he was doing, did all he could to obliterate human plurality from the face of the earth, and with it every trace of dignity from human lives. In the eventuation of that assent, Eichmann’s execution, unlike his life, is thinkable, indeed most meaningful, provided only that the mind’s eye sees in the gallows – before which Eichmann stood “elated” – the threshold to a renewed and lightened world, which each one of us, Jew and non-Jew alike, can elect to cross.

48 Brightman, C. (ed.) (1995): Between Friends. The Correspondence of Hannah Arendt and Mary McCarthy. 1949-1975, New York, p. 168. 49 These essays, which include “Some Questions of Moral Philosophy,” are collected in: Arendt, H. (2003) op. cit., p. 17-189. 261

Überlegungen zu Pluralität und Politik nach Hannah Arendt STEFAN AHRENS

I.

Pluralität als Bedingung und Auftrag der Politik

Dass Pluralität als Grundvoraussetzung der Politik zu gelten hat, ist zunächst eine simple Tatsache, deren Bedeutung aber, folgt man zum Beispiel Hannah Arendt, häufig nicht wirklich erkannt wurde. Sie schreibt etwa: „[…] Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen. Gott hat den Menschen geschaffen, die Menschen sind ein menschliches, irdisches Produkt, das Produkt der menschlichen Natur“1 und sie spricht in diesem Zusammenhang auch von „fehlendem Tiefsinn“, dem „fehlenden Sinn für die Tiefe, in der Politik verankert ist“2 bei den ‚großen Denkern‘, sofern sie ihr Interesse der Politik schenkten. Will man diese Tiefe tatsächlich ausloten, so muss man sich nicht dem einzelnen Menschen zuwenden, sondern dem Bereich zwischen den Menschen. Pluralität ist für Arendt keine nebensächliche Größe, sondern ein wesentlicher Teil menschlicher Grundausstattung. Die Verschiedenheit ist gleichzeitig kein zu überwindendes Problem, sondern öffnet überhaupt erst den eigentlich politischen Raum. Über die amerikanischen Gründerväter schreibt sie: „[D]as Wort ‚Volk‘ wurde für die Gründer niemals ein Singular, sie verstanden es vielmehr als eine Vielheit und stellten sich darunter die unendlichen Verschiedenheiten und Unterschiede einer Menge vor, die gerade in ihrer Pluralität ehrfurchtgebietend war.“3 Warum und in welchem Sinne setzt die Suche nach der Tiefe im Politischen bei der Pluralität an? Welcher Zweck wird mit diesem Ansatz verfolgt? Und welche möglichen Konsequenzen ergeben sich daraus?

1 2 3

Arendt, H. (2003): Denktagebuch, hg. v. Ludz, U.; Nordmann, I., 2. Aufl., 2 Bde., München, Bd. 1, S. 15, Hervorhebungen im Original. Ebd. Arendt, H. (1998): Über die Revolution, 4. Aufl., München, S. 118. 263

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„In der deutschen und französischen Geschichte war das Verständnis von Pluralität eher auf Toleranz beziehungsweise auf dem Gebot zum Ertragen der Differenz um der Idee der Menschheit willen gegründet.“4 Demgegenüber, so lässt sich mit den amerikanischen Pragmatisten betonen, „[…] benötigt die Gesellschaft die abweichenden Ideen und Interessen, sie toleriert sie nicht nur. Die Gesellschaft braucht die Anders-Meinenden, weil in ihren abweichenden Aktivitäten und Meinungen ein Teil des gedanklichen Reichtums der Gesellschaft aufscheint.“5 Die unterschiedliche Akzentsetzung lässt deutlich werden, dass Pluralität als Bedingung, aber auch als Auftrag der Politik gelten muss. Daraus ergibt sich dann auch die Verpflichtung der pluralistischen Demokratie, ihr Legitimitätsversprechen einzulösen. Eine Politik, die dem gerecht werden will, ist sinnstiftend und gemeinschaftsbildend, verliert dabei aber die Verschiedenheit nicht zugunsten der Vereinheitlichung aus dem Blick. Der Bereich des Politischen, das ‚Zwischen-den-Menschen‘, besteht eben nicht nur aus Nähe, sondern auch aus Distanz. Wird diese aufgegeben, so verschwindet der notwendige Raum, in dem politische Bindungskräfte entstehen können. Politik ist auf Pluralität festgelegt. Es kann dabei aber nicht nur um einen Pluralismus der Interessen und Bedürfnisse gehen, die organisiert und befriedigt werden müssen. Pluralität als Grundbedingung des menschlichen Lebens muss nicht vorrangig politisch organisiert werden; sie gehört selbst zum Kern des Politischen, das damit eher einen agonalen als einen konsensualen Charakter zugesprochen bekommt. Aus ihr geht die Vielfalt der Meinungsäußerungen hervor, die Politik nicht überwinden, sondern als wesentlichen Teil ihrer selbst begreifen muss. Zum Sinnbild der pluralistischen Demokratie wird dann eher der Dissident als der Bürger, dessen Wahlentscheidung ihn auf die Seite der politischen Mehrheit führte. Das lässt sich logisch ableiten6 und hat wenig mit einfachem Minderheitenschutz zu tun; vor allem führt es aber auch auf die richtige Spur der Intention der pluralistischen Demokratie. Das Ernstnehmen der Pluralität in der Politik führt insbesondere zur Ergebnisoffenheit des politischen Prozesses. Das moderne Gegenbild gegen ein effizienzorientiertes Politikmodell lässt sich deutlich formulieren vor dem Hintergrund des Holocaust, der, wie Zygmunt Bauman meint (und in diesem Zusammenhang kann er sich zu Recht auf Hannah Arendt stützen), ein neues Nachdenken über den Fortgang sozialwissenschaftlichen Denkens nötig macht: „Aus der Sicht der Opfer hält der Holocaust viele Lehren bereit – die wichtigste, von den Sozialwissenschaften bisher nur am Rande zu [sic!] 4 5 6

Grunenberg, A. (2008): Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München, S. 361. Ebd., Hervorhebung im Original. Vgl. Flores d’Arcais, P. (2004): Die Demokratie beim Wort nehmen. Der Souverän und der Dissident, Berlin.

264

ÜBERLEGUNGEN ZU PLURALITÄT UND POLITIK NACH HANNAH ARENDT

Kenntnis genommen: Rationalität ist als einziger Wertmaßstab für die Leistungsfähigkeit von Organisationen völlig unzureichend. In dieser Hinsicht besteht wissenschaftlicher Nachholbedarf, damit die Überbetonung der zunehmenden Effizienz menschlichen Handelns, die zu Lasten qualitativer Kriterien, wie etwa moralischer Normen, geht, nicht dazu führen soll, dass die möglichen negativen Konsequenzen nicht zu Ende gedacht werden.“7 Auch Arendts Rede vom „fehlenden Sinn für die Tiefe, in der Politik verankert ist“, speist sich aus der Totalitarismuserfahrung, aus der sie unter anderem die Lehre zieht, dass das politische Denken sich nicht auf angemessener Höhe bewegte und keinen Halt gegenüber dem Verschwinden von Politik zu bieten vermochte. Die Deutung impliziert, dass man es nicht mit einem Zuviel an Politik, sondern im Gegenteil mit deren weitgehender Abwesenheit zu tun hatte. Das ‚totalitäre Band‘ verringert den Raum zwischen den Menschen so lange, bis er verschwindet, weil es unmöglich ist, Wahrheiten und Tatsachen auszusprechen; so lange, bis diese, weil unformuliert, nicht mehr zu existieren scheinen. Das, was ist, scheint unglaubwürdig, und ideologisch verbürgte Wahrheiten nehmen nach und nach seinen Platz ein. Auf die längerfristigen Wirkungen dieser Verwirrung von Tatsache und Meinung weist Arendt z. B. in ihrem Text ‚Besuch in Deutschland‘ hin. Wiederum im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus hebt Rüdiger Safranski noch einmal die Schwierigkeiten der Verbindung Pluralität – Politik in Deutschland hervor: „Die Sehnsucht nach einer unpolitischen Politik schien plötzlich ihre Erfüllung zu finden. Politik war ja für die meisten eine Angelegenheit des Parteiengezänks und des Egoismus gewesen. Heidegger selbst hatte dieses Ressentiment gegen Politik zum Ausdruck gebracht, als er diese ganze Sphäre dem Man und dem Gerede zuschlug. ‚Politik‘ galt als Verrat an den Werten des ‚wahren‘ Lebens: Familienglück, Geist, Treue, Mut. ‚Ein politischer Mensch ist mir widerlich‘ hatte schon Richard Wagner gesagt. Der antipolitische Affekt will sich nicht abfinden mit der Tatsache der Pluralität der Menschen, sondern sucht nach dem großen Singular: der Deutsche, das Volk, der Arbeiter, der Geist.“8 Arendts Lehre geht dann allerdings nicht, wie die von Bauman gezogene, in Richtung Moral, sondern stellt Freiheit in den Vordergrund. Insofern bekommt der Interpret große Schwierigkeiten mit den von Bauman angesprochenen qualitativen Kriterien. Dabei unterliegt Politik gleichzeitig der Schwierigkeit, die Vielheit und Verschiedenheit zu organisieren, wie es ihrer Aufgabe entspricht. Wie kann sie also der ‚Effizienzfalle‘ entgehen? Nötig scheint, weil traditionsgestützte Gewissheiten nicht mehr weiterhelfen, sich 7 8

Bauman, Z. (1992): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Frankfurt/M. u. a., S. 165. Safranski, R. (2007): Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt/M. u. a., S. 363, Hervorhebungen im Original. 265

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erneut auf die Frage: ‚Was ist Politik?‘ zu besinnen. Diese Denkbewegung wird jeweils von aktuellen politischen Fragestellungen ihren Ausgang nehmen und nach theoretischen Fundierungen in der politischen Ideengeschichte suchen. Dabei kann sie sich unabhängig von geisteswissenschaftlichen Traditionen aus dem historischen Fundus bedienen9, um das spezifisch Politische an der jeweils in den Blick genommenen Fragestellung auf den Begriff zu bringen. Dieses ‚Auf-den-Begriff-bringen‘ impliziert allerdings auch das ‚Risiko des Politischen‘, d. h. eine Perspektive, die auch als Schranke gegenüber dem Einfluss unerwünschter sozialer Bewegungen dienen könnte, ist aus diesem ‚pluralistischen‘ Blickwinkel zumindest schwer vorstellbar. Hier wirken andere Kräfte, nämlich Pluralität selbst und ein nachvollziehender positiver Rückbezug auf die Gründung des demokratischen politischen Gemeinwesens, um das es geht, als beschränkende Größen, denen ihre Unbestimmtheit eingeschrieben ist. Politische Freiheit, so ließe sich sagen, ist in diesem Verständnis nicht dauerhaft herstellbar, denn sie existiert nur ‚im Vollzug‘; ebenso wäre sie nicht grundsätzlich begrenzbar. Das Dilemma bestünde darin, möglicherweise eine Dynamik in Gang zu setzen, die als offener Prozess immer auch die Möglichkeit unerwünschter Resultate birgt. Lässt man sich auf Arendts Republikanismus ein, wird es schwer, eingebaute Grenzen des Erreichbaren zu rechtfertigen; sie selbst plädiert natürlich durchaus für Grenzen des Handelns, solche Plädoyers stellen jedoch noch keinen theoretischen Einwand dar. Ein systematisch begründbarer Einwand könnte nur dort gesucht werden, wo die politische Tätigkeit an die Grundfesten ihrer eigenen Voraussetzungen rührt, hier insbesondere der des Pluralismus / der Pluralität (und ein entsprechender Nachweis dürfte im Einzelnen schwer zu führen sein).

II.

Bürger, Politik, Alltag

Dass die Ausbildung einer „pluralen Identität“10 (also der möglicherweise einzig sinnvollen politischen Identität, könnte man sagen) überhaupt erreichbar ist, führt Volker Gerhard11 auf die der äußeren Vielheit bereits in gewisser 9

„Ich bediene mich, wo ich kann. Ich nehme, was ich kann und was mir paßt. […] Ich denke, einer der großen Vorteile unserer Zeit ist wirklich, was René Char, wie sie wissen, gesagt hat: ‚Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.‘ Das heißt, es steht uns vollkommen frei, uns aus den Töpfen der Erfahrungen und Gedanken unserer Vergangenheit zu bedienen.“ (Fernsehgespräch mit Roger Errera. In: Arendt, H. (1998): Ich will verstehen, 3. Aufl., München, S. 114-131, hier S. 123). 10 Glaser, H. (1998): Deutsche Kultur 1945-2000, Frankfurt/M., S. 15, mit Bezug auf „Menschen und [kulturelle] Institutionen in den neuen Bundesländern“. Auch dort steht der Begriff in Anführungszeichen. 11 Gerhardt, V. (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik, München. 266

ÜBERLEGUNGEN ZU PLURALITÄT UND POLITIK NACH HANNAH ARENDT

Weise parallel strukturierte Form der Individualität zurück und verbindet damit das Anliegen, „[…] die Theorie vor [der] Subtraktion des Individuums aus der Geschichte zu bewahren.“12 Gemeint ist der unabweisbare Einfluss einzelner Personen auf den Verlauf der Geschichte, nicht aber deren vorgeblich autonomes Handeln. Die Suche nach dem Prinzip, das dieses – das politische – Handeln leitet, beschreibt er folgendermaßen: „Die systematische Frage ist also auf das Spezifikum der Politik gerichtet. Es gilt aufzuklären, was Politik eigentlich ist und wie sie sich zum Recht und zur Moral verhält. Damit wird nach einem Prinzip gesucht, das zwar mit Moral und Recht zusammenhängt, aber in seiner Herkunft, seiner Stellung und vor allem in seiner Leistung eigenständig ist.“13 Die von der ‚pluralen Identität‘ ausgehende Suche endet konsequent bei dem Prinzip der Partizipation als dem der Politik eigenen Antrieb und Sinn. Ist diese Tatsache (die als vorweggenommenes Ergebnis bei Gerhard am Anfang und am Ende seiner Untersuchung steht) öffentlich bewusst? Konzediert man, dass es nicht hinreicht, zur Beantwortung der Frage lediglich auf mehr oder weniger professionelle Politikbeobachter abzuheben, so fragt sich, was eigentlich ‚allgemein‘ für Politik gehalten wird. Dieses ‚Allgemeine‘ impliziert allerdings eine Form von Bürgerlichkeit, deren Bestimmung häufig in der Differenz zwischen citoyen und bourgeois gesucht wurde, womit sie jedoch nicht automatisch auch schon gefunden ist. Erkennt man beispielsweise an, dass im modernen / postmodernen Industriestaat die Zahl eigenverantwortlicher monetärer Entscheidungen für den Bürger zugenommen hat und hält also eine erfolgte Ökonomisierung – wenn schon nicht jene Kolonisierung der Lebenswelt – zumindest auf dieser Basis für wahrscheinlich, so könnte dies praktisch bedeuten, dass ökonomische Entscheidungen ihren Einflussbereich in einer Weise erweitert haben, die sie sehr viel zwingender in den Bereich des Politischen einbeziehen. Der Bezug auf das Gemeinwesen spielt bei der Beurteilung der Frage, ob es sich jeweils um politisches Handeln dreht oder nicht, natürlich eine Rolle; aber möglicherweise führt die allzu simple Unterscheidung von citoyen und bourgeois nicht mehr weiter. Der republikanische Ansatz Hannah Arendts bietet in diesem Zusammenhang den Vorzug eines beständig gegebenen (und im Wechselspiel von politischem Handeln und Urteilen zu vollziehenden) Zwanges zur Selbstvergewisserung über die Grundlagen öffentlicher Freiheit, die im politischen Handeln und Sprechen der Bürgerinnen und Bürger besteht. Indem sie einen direkten Zusammenhang mit dem ‚Gründungsversprechen‘ eines jeden demokratischen Gemeinwesens in ihre Überlegungen einbaut, formuliert sie einen hohen Anspruch an Politik.

12 Ebd., S. 14. 13 Ebd., Hervorhebungen im Original. 267

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Eine übliche Wahrnehmung der politischen Akteure und dessen, was überhaupt als Politik gilt, lässt sich am folgenden Beispiel gut nachvollziehen: Nachdem Konrad Weiß sich über verpasste Partizipationschancen und das für diesen entscheidenden Makel verantwortliche Verhalten der Westparteien im Verlauf des deutschen Vereinigungsprozesses sehr kritisch geäußert hatte, folgerte er: „Politisch können wir die Wiedervereinigung abhaken, politisch ist sie vollzogen – die Machtpolitiker, scheint es, haben recht behalten.“14 Nun müsste man ihm eigentlich entgegenhalten, dass sie eben darum gerade nicht als politisch vollzogen gelten kann. Dieser Blick auf das politische Subjekt wird, was die Objekte angeht, ergänzt durch die autoritative Situation der ‚politischen‘ Hauptnachrichtensendungen, deren Effekt (qua Themenwahl und Wiederholung) dabei zunächst noch nicht einmal so sehr in der Prägung politischer Meinungen (die im politischen Denken Hannah Arendts zu Recht einen ausgesprochen hohen Stellenwert besitzen) besteht, sondern einfach darin, den Bereich dessen festzulegen, was als ‚politisch‘ verstanden wird. Beide Momente unterstützen die Tendenz, das Prinzip der Teilhabe zwar als solches – eben als Prinzip – nicht in Zweifel zu ziehen, aber es in weite Ferne zu rücken, denn die Geschehnisse werden lediglich beobachtet, scheinen unerreichbar und nicht im Geringsten zu beeinflussen. Politik wird möglicherweise insgesamt als etwas wahrgenommen, das nicht zu ändern ist, wodurch sich eine Wahrnehmungsstruktur ausprägt, die letztlich dazu beiträgt, dass Politik hinter ihren demokratischen Möglichkeiten zurückbleibt. Die normierend wirkende Art und Weise der Nachrichtenpräsentation setzt dabei meist auf den Eindruck der allumfassenden Informiertheit anstelle des Verstehenwollens.15 Ein weiterer entscheidender Effekt dieser Art des nachrichtentechnisch induzierten Politikverständnisses besteht in der Provokation eines möglichst schnell abzugebenden moralisch bestimmten Urteils über die präsentierten Fakten, der sich die Zuschauenden schwer entziehen können. Demgegenüber gilt es, auf der grundlegenden Differenz zwischen Moral und Politik und ihrer beider Eigenständigkeit zu beharren. Es geht schließlich nie zuerst darum, ob uns das Verhalten irgendeines Politikers als moralisch begrüßenswert oder verwerflich erscheint, sondern zunächst, im Sinne des Verstehenwollens, um Wahrscheinlichkeiten. Politikbeobachtung dreht sich im Kern um die wahrscheinlichen Ergebnisse politischen Handelns und darum, wie man in einzelnen Situationen – die eine Tendenz zum politischen Ereignis beinhalten – solcherlei Wahrscheinlichkeit auch durchbrechen könnte. Der unbewusste 14 Zit. nach Glaser, H. (1998) a. a. O., S. 438, Hervorhebungen S. A. 15 Besonders eindringlich wurde dies im Rahmen der Berichterstattung über die Ereignisse des 11. September. Die totale Informiertheit ersetzte den ernsthaften Versuch, zu verstehen, was geschieht. Es fehlte offensichtlich vielerorts bereits an der Möglichkeit, das Nicht- oder Noch-nicht-Verstehen an den Anfang zu setzen. 268

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Zwang zur Abgabe eines moralischen Urteils verhindert das Verstehenwollen dessen, was hinter den präsentierten Fakten steht oder dessen, was diese Fakten eigentlich bedeuten. Zwar ist es nicht selten, dass solche moralischen Urteile ‚gut‘ durchdacht und clever begründet präsentiert werden, doch das Nachdenken über sie ist von grundsätzlich anderer Art als das über das Politische. Hier sollte es im Kern um diejenigen Dinge gehen, die den Bürger in einem starken Sinne betreffen; das, was er – im Prinzip – verändern könnte, durch nicht-autonomes, politisches Handeln. „Hannah Arendts Verständnis des Politischen ist nicht wirklichkeitsfremd, weil es sich dafür eignet, die politische Realität zu verändern und zu verbessern.“16 Aber Politik entsteht ihr zufolge eben außerhalb des Menschen, zwischen den Menschen. So dass sich also aus dem oben Gesagten mit Arendt durchaus folgern lässt, dass eine mangelhafte Beschaffenheit der öffentlichen Diskussion den Zwischenraum, der notwendig zur Politik gehört, demokratiegefährdend verkleinert. Was Sontheimer „eine neue Idee des Politischen“ nennt17 (die durch ihren prinzipiell offenen, im Gegensatz zu einem vorrangig problemlösenden Charakter gekennzeichnet ist), ist mit dem ‚Ich will verstehen‘ zusammenzudenken, dessen Ermöglichung für eine große Gruppe der Bevölkerung in direktem Zusammenhang mit dem Zustand der Massenmedien steht. So muss das anfangs herangezogene Schreckbild des Totalitarismus nicht notwendig der aktuelle Gegenpart sein; dieser findet sich vielmehr beispielsweise nach wie vor überzeugend dargelegt von Neil Postman.18 Dabei bleibt allerdings festzuhalten, dass die totale Herrschaft im Falle Arendts besonders geeignet ist, als Ausgangspunkt einer dezidierten Hinwendung zu einer weltlich-konkreten Fundierung politischen Denkens gelten zu können. Für Arendt gilt: „Ihre Forschungen zu Antisemitismus, Rassismus, zu Imperialismus und Totalitarismus hatten sie zu einer Kritik der rein zuschauenden philosophischen Denkweise und deren Einstellung zur Erfahrungswelt gebracht, hinter die sie auch nach der Wiederbegegnung mit Heidegger nicht zurückging.“19 16 Sontheimer, K. (2007): Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin, 2. Aufl., München, S. 256. 17 Ebd., S. 255 ff. Vgl. auch ebd., S. 135: „Hannah Arendt […] will die Politik wieder zu einer Hauptsache machen. Freilich setzt dies ein Denken voraus, das von der westlichen Tradition, die im Politischen stets das Problem der Herrschaft von Menschen über Menschen gesehen hat, abweicht und der Politik einen neuen zentralen Stellenwert im Denken zuweist.“ 18 Vgl. auch Flores d’Arcais, P. (2004) a. a. O., S. 108: „Auf das Fernsehen (und das Radio) kommt man also immer wieder zurück: Alle Wege der Demokratie führen inzwischen auf den Gott der Röhre des allesverschlingenden Bildschirms zu. Man denke nur an die Bereicherung des Pluralismus, die entstehen würde, wenn durch Wählerentscheid in regelmäßigen Abständen die Frequenzen neu zugeteilt würden, wenn neue Betreiber dazukämen (und unvermeidlich andere wieder ausscheiden müßten) […]“. 19 Grunenberg, A. (2008) a. a. O., S. 325. 269

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Wo persönliche Erfahrung den Ausschlag gab und Skepsis gegenüber der ‚rein‘ intellektuellen Tätigkeit zeitweilig prägend wurde, fand folgerichtig eine Orientierung an der konkreten Situation, am politischen Ereignis und an Personen statt. „Immer wieder macht sie in ihren Schriften der Tradition des politischen Denkens den Vorwurf, es habe sich einseitig mit dem Menschen als Abstraktum beschäftigt und nicht genügend zur Kenntnis genommen, dass man es immer mit einer Pluralität, also mit vielen konkreten Menschen zu tun habe, wenn man Politik richtig verstehen will.“20 Für diese konkreten Menschen wiederum gibt es ausreichend Hinderungsgründe, sich selbst dem Politischen zuzuwenden. Ein legitimes Sicherheitsbedürfnis scheint zeitweilig ausschließlich die Sprache des politischen Imperativs zu generieren, die ihrerseits mit der Offenheit des politischen Prozesses nicht mehr kompatibel ist. Eine latente Überforderung angesichts scheinbar oder tatsächlich beständig anwachsender Komplexität lässt ein ‚defensives‘ Weltverhältnis wahrscheinlicher werden. Ein übermächtiger Zwang zur Daseinsvorsorge verunmöglicht ein ‚verstehen wollendes‘ Verhältnis zur Politik. Die allgegenwärtige nervöse Beobachtung des Arbeitsmarkts und der Frage, wie die Regierung ihn zu beeinflussen sucht, hat ihre objektive Entsprechung in den Ausschlussmechanismen, die beispielsweise Heinz Bude eindrucksvoll beschreibt.21

III. Partizipation „Wenn es nicht zum Begriff des Menschen gehört, dass er mit anderen, die seinesgleichen sind, die Erde zusammen bewohnt, bleibt nur eine mechanische Versöhnung, in der den atomisierten Selbsten eine ihrem Begriff wesentlich heterogene Grundlage gegeben wird.“22 Das Prinzip der Politik, die ihre Bindung an Pluralität ernst nimmt, ist Partizipation.23 Doch Partizipation in welcher Form? Wenn gesagt werden kann, politische Freiheit existiere streng genommen nur ‚im Vollzug‘ ihrer selbst, so ergibt sich daraus zunächst eine zentrale Bedeutung für die Einübung in demokratische Verfahren (letztlich auch als Aufgabe für eine politische Pädagogik) und die Orientierung am Widerspruch (und der Ermöglichung entsprechender Widerspruchsverfahren). In der beständigen Auseinandersetzung über die Rollenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft artikuliert sich das Bedürfnis, die als ambivalent empfundene staatliche Steuerung und Reglementierung (die gelegentlich auch 20 Sontheimer, K. (2007) a. a. O., S. 107, Hervorhebung im Original. 21 Bude, H. (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München. 22 Hannah Arendt in: Was ist Existenz-Philosophie, zit. nach Grunenberg, A. (2008) a. a. O., S. 266-267. 23 Gerhardt, V. (2007) a. a. O. 270

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als Bevormundung erlebt wird) in einem stärkeren Maße durch Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen, wobei je nach Perspektive eher der vermutete Freiheitsgewinn begrüßt oder kritisch nach den Verlusten, Gefährdungen und Zumutungen gefragt wird, die die Veränderungen mit sich bringen.24 Dabei ist zunächst noch ungewiss, ob die Argumentation sich innerhalb des genuin politischen Handlungs- und Entscheidungsfeldes bewegt. Geht es insgesamt um eine Stärkung bürgerschaftlichen Engagements in allen Bereichen der Gesellschaft, so bleibt diese Bestimmung doch in der Regel so ungenau, dass sie für sich genommen kaum ernste Inkompatibilitäten mit bestehenden Funktionen und Abläufen westlicher Demokratien aufweist. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Verwirrung hinsichtlich der Frage, ob denn nun Bürgerengagement wünschenswert, weil demokratisch, oder vielmehr abzulehnen, weil nur eine weitere Spielart kostengünstiger Privatisierung sei, wiederum mit der fehlenden Trennschärfe hinsichtlich der Frage, was Politik eigentlich ist, zusammenhängt bzw. mit dem ‚fehlenden Tiefsinn‘ (s. o.). Das demokratische ‚Eingreifen in die eigenen Angelegenheiten‘ müsste dabei in einem umfassenderen Sinn verstanden werden als in dem, der den unmittelbaren eigenen Vorteil (eben im Sinne einer ‚pluralen‘, nicht z. B. familiär bestimmten Identität) in den Mittelpunkt stellt. Demokratisch verfasste politische Systeme sind, so lässt sich Hannah Arendts Beitrag zum Legitimitätsdenken auf den Punkt bringen, letztlich darauf angewiesen, sich einer beständigen handelnden wie urteilenden ‚Wiederholung‘ des ‚ursprünglichen‘ Freiheitsaktes zu stellen, auf den sie sich gründen. Dabei bewahrt sie vor allem ihre existenzielle Bindung an Pluralität davor, Anschluss an gewissermaßen ‚ein für allemal‘ legitimierende einheitliche Souveränitätsakte, bzw. an die korrespondierenden politischen Mythen zu suchen. Es bleibt die Herausforderung, politische Formen zu benennen, die den legitimierenden Rückbezug auf den Gründungsakt ermöglichen, ohne dass darüber Konsens herrscht, wenn denn „[…] die Grundwerte des Grundgesetzes immer wieder neu gefährdet sind und deshalb immer wieder neu erkämpft werden müssen.“25 Dabei ist keineswegs ausgeschlossen, dass bereits der öffentlich ausgetragene Streit über die formalen Aspekte einen Teil der inhaltlichen Anforderungen erfüllt, sei er ein Streit über die Möglichkeiten politischer Freiheit innerhalb bestehender Formen oder auch über die Suche nach neuen Formen. Der Hinweis auf Arendts Sympathien für rätedemokratische Erscheinungen impliziert hier noch keineswegs, dass damit schon die richtige Spur gefunden ist, dass also ihre rätedemokratischen Theoretisierungsversu-

24 Vgl. z. B. Nolte, P. (2005): Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München; Sennett, R. (2005): Die Kultur des neuen Kapitalismus, Frankfurt/M. u. a.; Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch, Frankfurt/M.; Wien. 25 Glaser, H. (1998) a. a. O., S. 12. 271

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che in einem unmittelbaren Verständnis auf gegenwärtige politische Praxis anzuwenden wären. Politische Theorie muss sich über die Kompatibilität ihrer Erkenntnisse mit politischer Praxis Rechenschaft ablegen. Um andererseits die hohen partizipatorisch-legitimatorischen Anforderungen zu erfüllen, die sich aus Arendts theoretischen Arbeiten herleiten lassen, wäre ein möglicher Weg, die Aussichten auf unmittelbare Einflussnahme auf den politischen Prozess innerhalb der bestehenden liberaldemokratischen Systeme (bei allen internen Unterschieden) insgesamt zu verbessern. Problematisch bleibt dabei die prinzipielle Ergebnisoffenheit, d. h. das Nichtwissen darüber, wie sehr möglicherweise die parlamentarische Demokratie durch die Verbesserung direkter Einflusschancen verändert würde. Aber die Abwesenheit entsprechender Partizipation(smöglichkeiten) sowie der zugehörigen politischen Urteilskraft untergräbt die Legitimität demokratischer politischer Gemeinwesen. Der Bezug auf dieses Gemeinwesen als Ganzes ist Voraussetzung für die Teilhabe. ‚Reine Interessenvertretung‘ würde erschwert, da ihr der Nachweis dieses Bezuges schwer fiele; ihre Grenzen wären allerdings auch nur schwer allgemein zu fassen, es bliebe also das Vertrauen darauf, dass das Niveau des politischen Urteils mit der Verantwortung und der Herausforderung ansteigt, so dass die korrespondierende Debatte selbst jeweils begleitend über In- und Exklusion entscheidet bzw. entsprechende rechtliche Regelungen politisch vorbereitet. Ein mögliches Ausschlussargument wäre dann der mangelnde Bezug auf das Ganze, nicht jedoch die inhaltliche Festlegung einer politischen Bewegung, solange diese nicht die Beseitigung der pluralistischen Grundlage beinhaltet. Ebenso wenig, wie sich vorab die prinzipielle Offenheit der Äußerungsformen direkter Beteiligung begrenzen lässt, da die formalen Auswirkungen inhaltlicher Beteiligung nicht schon im Voraus feststehen, lässt sich wissen, wie der mögliche Träger einer neuen politischen Initiative strukturiert ist. Von den klassischen Parteien und ihrem Pendant, dem Wahlbürger, bis hin zur kurzlebig-aktivistischen multitude26 lassen sich viele Optionen denken, denen der politische Raum nicht schon vorab verschlossen sein darf. Arendts Annäherungen an die Politik stehen im Zusammenhang mit dem Unerwarteten, das als ‚Ereignis‘ das historische Kontinuum unterbricht. Die Ergebnisoffenheit, das Rechnen mit dem Unerwarteten, als wesentlicher Bestandteil des politischen Denkens, stellt hohe Anforderungen. Aus dieser Sicht muss das politische System offen sein für das unerwartbare Ereignis; in diesem paradox scheinenden Sinne ist Politik also immer auch als die Ermöglichung neuer Anfänge zu denken, die Abwesenheit der Freiheit, einen neuen Anfang zu setzen, untergräbt die Legitimität der Republik. Wie also ließe sich dieser Raum – der Raum zur Ermöglichung neuer Anfänge – weiter öffnen? Paolo 26 Vgl. Hardt, M.; Negri, A. (2003): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. 272

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Flores d’Arcais27 zeigt unter Bezugnahme auf Arendt Möglichkeiten auf, die das Leitbild des ‚widersprechenden Bürgers‘ (mit einem hohen Maß an Freiraum für den individuellen Rückzug zu denken) für sich in Anspruch nehmen. Die Spontaneität des Handelns politischer Bewegungen beschreibt er dabei z. B. wie folgt: „Sie werden wie Karstflüsse abwechselnd heftig hervorbrechen, dann wieder in tausend unterirdischen Rinnsalen verschwinden, sich erneut zu einem breiten, ruhigen Fluß versammeln, um dann in heftigen Strudeln voranzuströmen und das Flußbett in aller Breite auszufüllen.“28 Hier wird deutlich, wie unbestimmt die Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie aus dem Geist der Spontaneität bleiben muss. Vorschläge zur Finanzierung und medialen Verbreitung der verschiedenen Anliegen sind bei Flores d’Arcais allerdings durchaus eingeschlossen. Ein wesentlicher Bestandteil der Kritik an solcherart gedanklichen Experimenten, die zu konkreten Vorschlägen führen, wird immer wieder die vorausgesehene Manipulation durch die Massenmedien bleiben; es ist aber noch offen, ob nicht mit den Anforderungen auch der Sinn für Verantwortung und Qualität steigen kann.

27 Flores d’Arcais, P. (2004) a. a. O. 28 Ebd., S. 105. 273

Diversité et pluralité. Qu’est qu’une pluralité spécifiquement humaine? MARTINE LEIBOVICI UND ETIENNE TASSIN Un des problèmes les plus anciens de la philosophie est la relation entre l’un et le multiple. Dans le sillage de philosophes comme Nietzsche ou Bergson, une partie de la philosophie contemporaine est caractérisée par une volonté de donner une nouvelle dignité au multiple sans le réduire à une unité plus essentielle. Il y a plusieurs façons de faire valoir une telle volonté. Deux d’entre elles sont notables : l’une recourt au concept de multitude (Toni Negri et Michæl Hardt), l’autre au concept de pluralité (Hannah Arendt). Nous ne développerons pas ici le concept de multitude et nous ne procéderons pas non plus à une confrontation entre les deux démarches. Une indication suffit pour faire ressortir la singularité du concept arendtien de pluralité sur lequel nous concentrerons notre attention. L’inspiration de Negri et Hardt est Spinoza et Deleuze – et un certain souci de sauver l’intention marxienne. L’expérience historique en arrière-plan de cette préoccupation est le mouvement autour de mai 68, l’effondrement de l’URSS et le nouveau contexte de la globalisation. Le concept de totalitarisme est par ailleurs à leurs yeux une « catégorie de la guerre froide ». 1 Or la grande différence entre le concept arendtien de pluralité et le concept de multitude est que le thème de la pluralité émerge en réponse directe à l’expérience totalitaire : « La domination totale […] s’efforce, écrit Arendt, d’organiser la pluralité et la différenciation infinie des êtres humains comme si l’humanité entière ne formait qu’un seul individu » 2 Certains en ont hâtivement déduit que la pluralité arendtienne n’était qu’un argument en faveur du pluralisme 1 2

Negri, T. (1997): Le pouvoir constituant. Essai sur les alternatives de la modernité, trad. E. Balibar et F. Matheron, Paris, p. 42. Arendt, H. (2002a): Les origines du totalitarisme, Paris; Arendt, H. (1979): The origins of totalitarianism, New York, p. 438. 275

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libéral là où au contraire le concept de multitude désignait une puissance politique révolutionnaire. C’est méconnaître l’extraordinaire novation philosophique du concept de pluralité et sa portée politique. Hannah Arendt se revendique de la tradition de pensée phénoménologique – et plus particulièrement de « la tradition philosophique allemande. » 3 Conjuguée avec l’expérience du totalitarisme, cette tradition philosophique doit être interrogée. Cela ne veut pas dire que la philosophie serait directement responsable du totalitarisme : « La raison, non la moindre, pour laquelle je me suis donnée la peine de déceler les composantes des formes des gouvernements totalitaire, est de nettoyer de tout soupçons la tradition occidentale de Platon jusqu’à Nietzsche inclus ». Mais, ajoute-t-elle, « je soupçonne la philosophie de n’être pas tout à fait innocente». En quoi consiste cette quasi noninnocence ? Elle a à voir avec une méconnaissance philosophique des implications politiques du concept de pluralité. La « philosophie occidentale n’a jamais eu une conception du politique et elle ne pouvait en avoir parce qu’elle parlait forcément de l’homme individuel et traitait accessoirement la pluralité effective» 4 La pluralité se dresse ainsi contre une tradition de pensée individualiste autant qu’elle s’oppose à la manière dont celle-ci se décline dans la fiction du grand individu social porteur de l’émancipation. Saisie depuis Les origines du totalitarisme, on pourrait aussi croire que, contre le totalitarisme unificateur, l’invocation de la pluralité cherche non seulement à valoriser le pluralisme mais également la différenciation des individus. Pourtant, une formule du Journal de Pensée – reprise dans Qu’est-ce que la politique ? – nous permet de comprendre que si la différenciation des individus est certainement une des dimensions de la pluralité, elle requiert cependant d’être déployée de façon plus complexe : « La création de l’homme par Dieu est contenue dans la pluralité [Pluralität], dans la diversité [Verschiedenheit] absolue de chaque homme l’un par rapport à l’autre, qui est plus importante que la relative diversité des peuples, des nations et des races. Mais c’est précisément ce dont la politique n’a rien à faire. La politique organise d’emblée des êtres absolument différents en considérant leur égalité relative et en se différenciant de la diversité relative » 5

3

4

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Arendt, H. (1978): Lettre à Gershom Scholem. In Scholem, G.: Fidélité et utopie, p. 222; Arendt, H. (2007): The Eichmann controversy. A letter to Gerschom Scholem. In: Arendt, H: The Jewish writings, New York, p. 466. Arendt, H. (1986): Lettre à Karl Jaspers, 4/3/51. In: Hannah Arendt / Karl Jaspers. Correspondance, Paris, p. 243-244; Arendt, H. (1985): Briefe an Karl Jaspers, 4/3/51. In: Hannah Arendt – Karl Jaspers. Briefwechsel, 1926-1969, München; Zürich, p. 203. Les italiques sont dans le texte. Arendt, H. (1995): Qu’est-ce que la politique ?, trad. modifiée, p. 34; Arendt, H. (1993): Was ist Politik, München; Zürich, p. 12 ; Arendt, H. (2005): Journal de pensée, I, août 1950, 21, p. 31. Les italiques sont dans le texte.

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DIVERSITÉ ET PLURALITÉ

La politique n’est donc pas concernée par la pluralité en tant qu’absolue diversité (Verschiedenheit), à moins que cette diversité soit organisée à partir d’une considération de l’égalité — alors que la domination totale organise la diversité comme si l’humanité était un seul individu. Le concept de pluralité est politiquement indissociable de celui d’égalité. C’est en raison de son rapport à l’égalité que la pluralité est dite humaine, et donc politique, si l’on en croit la première phrase de cette note qui affirme : « la politique repose sur un fait : la pluralité humaine» 6 Mais il n’est pas simple de passer de la pluralité en général ou de la pure et simple diversité à la pluralité proprement humaine : « tout est lié à la difficulté de concevoir une pluralité spécifiquement humaine. » 7 Pour comprendre ce qui est en question dans la distinction entre pluralité humaine et pluralité ou diversité absolue, il faut revenir aux Origines du totalitarisme, et singulièrement, à la fin de la deuxième partie consacrée à l’impérialisme, aux « embarras suscités par les droits de l’homme» 8. En partant de la question des droits, on pourra successivement passer de l’examen de la pluralité comme diversité absolue (I) à celui de la pluralité humaine considérée depuis la parole (II) pour enfin comprendre comment cette pluralité humaine est indiquée dans la pluralité ou diversité absolue (III). Peut-être saisira-t-on alors la véritable portée émancipatrice du concept politique de pluralité dans le double rapport qu’il entretient avec l’égalité et l’étrangèreté des autres humains.

I.

La pluralité comme diversité absolue

Le dernier chapitre de L’impérialisme traite comme on sait des situations d’apatridie de masse telles qu’elles se sont produites depuis la fin de la Première Guerre mondiale, et se sont perpétuées après 1945. De ces réfugiés qui ont perdu leur statut politique sans avoir pu en retrouver un nulle part dans le monde, Hannah Arendt fournit une liste 9 qui indique que si les situations sont différentes, on peut sous ce rapport les rassembler : ils ne sont plus, chacun pour soi, qu’ « un homme qui n’est rien d’autre qu’un homme ». Ils auraient alors dû « tomber exactement dans la situation précise que les déclarations de ces droits généraux ont prévue »10 ; or c’est le contraire qui s’est produit : 6 7 8 9

Ibid., p. 31; Arendt, H. (1993) op. cit., p. 9; Arendt, H. (2005) op. cit., p. 31. Ibid., III, 24 avril 1951, p. 87. Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 591; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 290. Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 603: « Les survivants des camps d’extermination, les détenus des camps de concentration et d’internement, et même les apatrides relativement heureux […] »; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 300. 10 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 604; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 300. 277

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« l’abstraite nudité de celui qui n’est rien qu’un homme constituait pour eux le pire des dangers » 11. Les Etats-nations sont non seulement incapables de protéger les apatrides mais ils obéissent à une tendance inévitable à agir contre leurs principes. Tel est le paradoxe : quand un être humain est réduit à n’être qu’un homme et rien d’autre, il n’est plus reconnu et protégé en tant que représentant de l’idée, tout abstraite, d’homme. L’homme nu ne renvoie pas à l’idée indéterminable d’humanité ou à celle du semblable. Au contraire, écrit Arendt, celui-ci « a précisément perdu les qualités qui permettent aux autres de le traiter comme un semblable ». Etre un humain en général, c’est être « sans profession, sans citoyenneté, sans opinions, sans actes par lesquels [il] s’identifie et se particularise » 12; c’est apparaître dans une « différence beaucoup trop évidente [all too obvious]» 13. Cette différence qui, à proprement parler, crève les yeux, ne correspond cependant pas à ce que Giorgio Agamben appellera « la vie nue ». Car si cet homme a perdu les qualifications qui permettent de le traiter en semblable, il reste à « cette existence pure et simple [mere]» certaines qualités, c’est-à-dire « tout ce qui nous est mystérieusement accordé de naissance et qui inclut la forme de notre corps et les dons de notre intelligence», soit encore « le fait que chacun d’entre nous a été fait ce qu’ il est – singulier, unique et immuable » 14 L’homme nu est encore une différence, il n’est même que cela. « Le paradoxe impliqué par la perte des droits de l’homme, c’est que celle-ci survient au moment où une personne devient un être humain en général […] et apparaît comme différente en général, ne représentant rien d’autre que sa propre et unique individualité qui, en l’absence d’un monde commu où elle puisse s’exprimer et sur lequel elle puisse intervenir, perd toute signification. » 15

Dans son absolue différence, la personne n’est pas vue comme une figure humaine ; elle est bien plutôt une figure de l’effrayant « ‘alien’ », avec lequel nous n’avons rien en commun, l’intrus qui dérange et devient insupportable dans un monde déjà organisé auquel il n’est pas autorisé à participer. L’étranger n’est pas ici celui qui parle une autre langue, qui vient d’ailleurs ; 11 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 603; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 300. 12 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 604, 606; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 300, 302. 13 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 605. Trad. légèrement modifiée; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 301. 14 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 605; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 301. Sur l’interprétation d’Arendt par Agamben, voir Leibovici, M. (2005): Biopolitique et compréhension du totalitarisme. Foucault, Agamben, Arendt. In: La fabrication de l’humain. Techniques et politiques de la vie et de la mort, I, dir. DayanHerzbrun, S.; Murard, N. et Nollez-Goldbach, R. Tumultes, n°25, octobre 2005, p. 23-45. 15 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 606-607; Arendt, H. (1979) op cit., p. 302. 278

DIVERSITÉ ET PLURALITÉ

c’est l’autre humain dans son individualité unique et irremplaçable, dont la sphère d’apparition est en principe le domaine privé. Mais une telle apparition de la différence nue de l’étranger sur la scène publique n’est pas un apparaître : elle est, paradoxalement, une exposition sans apparence. Là est la nudité : il ne s’agit pas ici du zoé distinct du bios (Agamben) mais d’une exposition sans protection (sans la protection de la citoyenneté et du droit) et donc d’une exposition informelle, en deçà de toute institution, d’une exposition qui, donc, ne confère aucune visibilité politique, aucun apparaître. Puisque l’exposition non phénoménale de la différence nue est effrayante, c’est alors la pensée raciale qui vient juguler cette peur : elle arase ces différences non subsumables en les unifiant dans une « espèce ». La pensée raciale spécifie la différence individuelle inassimilable à aucune forme de vie commune. Là est le danger : quand des êtres humains sont pris dans une pure pluralité d’êtres purement différents, ils sont en danger de perdre leur humanité et de devenir un matériau susceptible d’être organisé de l’extérieur selon une catégorisation instrumentalisée à des fins prétendument politiques. Cependant, si la situation de réfugié consiste en une telle mise à nu de l’individualité, elle ne l’atteint pas à proprement parler car celle-ci est ce qu’il y a de plus difficile à détruire. Les différenciations individuelles « naturelles omniprésentes […] n’indiquent que trop clairement les domaines où les hommes ne peuvent pas agir ou transformer à leur guise » 16. C’est pourtant ce que la machinerie totalitaire des camps s’efforcera d’entreprendre et parviendra, selon Arendt, à réaliser : « Une fois tuée la personne morale, il ne subsiste qu’un obstacle à la métamorphose des hommes en cadavres vivants : la différenciation des individus, l’identité unique de chacun […]. Il ne fait aucun doute que cet aspect de la personne humaine, dans la mesure précisément où il tient si essentiellement à la nature et à des forces échappant au contrôle de la volonté est le plus difficile à détruire » 17

La pluralité ou diversité absolue indique ici un niveau de différenciation qui correspond en partie à ce que Hannah Arendt appellera « distinction » (Verschiedenheit) dans Condition de l’homme moderne. Dans ce dernier ouvrage, la distinction est différenciée de l’ « altérité» (Besonderheit oder Andersheit), ou de la « qualité d’altérité»18 qui désigne la « multiplication pure et simple 16 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 606; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 301. 17 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 803; Arendt, H. (1979) op. cit, p. 453. Arendt s’appuie ici sur le récit de Bettelheim, B. (1946): On Dachau and Buchenwald. In: Nazi conspiracy and agression, Office of the United States Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality, US Government, Washington, vol. VII. 18 Arendt, H. (1988): Condition de l’homme moderne, Paris, p. 231. Il s’agit de la traduction en français de Arendt, H. (1958): The human condition, Chicago; Arendt, H. (1981a): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München; Zürich, p. 164. 279

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des objets inorganiques» 19. Et, comme nous le verrons bientôt, elle l’est aussi de l’« unicité» (Einzigartigkeit). La distinction correspond à « l’unique individualité» évoquée dans Les origines du totalitarisme, ou à la différenciation partagée par tous les êtres vivants qui eux aussi montrent des «variations et des distinctions » (Variationen und Verschiedenheiten)20 En ce sens, être « singulier, unique et immuable», n’est pas spécifiquement humain, dans la mesure aussi où cela dépend de « forces échappant au contrôle de la volonté ». C’est à ce type de phénomènes que nous donnons le nom de nature. Mais la distinction n’est pas spécifiquement humaine en un autre sens : « l’unique individualité » est aussi la caractéristique principale de Dieu. Le Journal de pensée offre de nombreuses réflexions sur « la signification politique du monothéisme 21. Un certain nombre d’entre elles concernent les interprétations chrétiennes du monothéisme inspirées par Platon, comme celle d’Augustin par exemple. D’après Arendt, Augustin dit que les hommes descendent d’un homme unique ex uno homine (Adam) créé par Dieu (d’après Gen. 2,7), alors que les animaux sont venus à l’être plusieurs à la fois (plura simul iussit existere). La pluralité serait donc ici la marque de l’animalité ! Et l’on en pourrait déduire une certaine conception de l’Etat comme devant prendre en charge notre animalité ou encore celle d’une vie publique qui reposerait sur la famille. C’est en revanche le fait d’avoir été créé comme un individu unique qui garantit que l’homme a bien été fait à l’image de Dieu : car Dieu aussi est « un ». Dans ce contexte, la relation entre Dieu et l’homme est calquée sur la relation platonicienne entre les Idées ou modèles et les copies. Chaque homme est comme Dieu, unique, et la pluralité est conçue comme une multiplicité d’individus telle que chaque « un » est porteur de l’idée d’homme en général, garantie par une origine commune : celle « de l’Homme mythique, non identifiable, qui seul est la créature de Dieu » et qui est « au-delà de l’histoire humaine, de la nature humaine et de l’intention humaine ».22 D’un côté, une telle représentation, qui a nourri « la conception de l’homme dans la métaphysique » 23, est un cran d’arrêt au racisme qui nie « l’origine commune » des hommes. D’un autre côté, cependant, elle ne va pas sans soulever des difficultés quant au concept de pluralité. En témoigne une hésitation de la pensée. Dans Les origines du totalitarisme, Arendt semble accepter l’idée selon laquelle « cette origine divine est la concept métaphysique sur lequel peut se fonder l’égalité politique dans ses intentions, l’intention qui vise à établir l’humanité sur terre » 24 Si le racisme peut être 19 20 21 22 23 24

Arendt, H. (1988) op. cit., p. 232; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 164-165. Arendt, H. (1988) op. cit., p. 232; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 165. Arendt, H. (2005) op. cit., XV, 18, mai 1953, p. 389. Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 517; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 234. Arendt, H. (2005) op. cit., I, 26, août 1952, p. 243. Arendt, H. (2002a), op. cit., p. 517; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 234.

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considéré comme l’identification de l’humain à un type déterminé d’homme par rapport auquel les autres sont des humains inférieurs ou des sous-hommes, l’idée que l’homme créé par Dieu est « non identifiable » garantit que chaque individu, quelles que soient ses caractéristiques, est porteur, à égalité avec tout autre, de l’humain. Alors que dans le Journal de pensée, la conception métaphysique de l’homme issue de l’idée du Dieu Un est jugée une « absurdité dangereuse ». D’une part, cette idée de Dieu est anthropomorphique : Dieu est l’idée éternelle de l’homme lui-même. Plus loin, Arendt suggérera que ce n’est pas une idée juive, mais qu’elle provient d’une spéculation plus tardive issue du néoplatonisme. D’autre part, le Dieu Un ne supporte « aucun deux à ses côtés ». 25 D’où l’impossibilité de concevoir la pluralité à partir d’une telle représentation, comme on peut le lire dans Condition de l’homme moderne : dans le deuxième récit de la création, Dieu a créé l’homme seul, et « la multitude des humains [devient] le résultat de la multiplication». Dans la mesure où Dieu est unique, il ne saurait être le modèle de l’inter homines esse (selon « la langue des Romains, le peuple le plus politique que l’on connaisse »)26 . La pluralité ne serait que la répétition des Mêmes, une multiplicité. La figure du Dieu Un justifie l’individualité unique des créatures. Elle est au fondement de l’individualisme occidental moderne. Mais dès lors aussi, les créatures ne sauraient être plusieurs que sur le mode d’une multiplication. Certes, la différence propre de chacune n’est pas menacée. Mais le monothéisme créationniste ne saurait constituer un fondement pour la pluralité humaine. Il faut considérer, plus généralement, que la réponse d’Arendt ne consiste pas à chercher un nouveau fondement susceptible de remplacer le divin : « la place métaphysique de Dieu est restée vide », écrivait-elle en réponse à Eric Voegelin 27. Arendt prend congé de toute problématique fondationnelle. Paradoxalement, la pluralité ne pourra être dite humaine qu’à la condition de n’être reconduite à aucun principe originaire, lequel annulerait par là même son caractère de pluralité. On sait que la leçon politique qu’Arendt tire de l’incapacité de la Déclaration des Droits de l’homme — cet ensemble de principes sur lesquels s’appuient les Etats-nations — à être une référence susceptible de protéger les personnes devenues de simples êtres humains « en général », est la priorité du « droit d’avoir des droits» sur les droits de l’homme, garantissant à chacun « une place dans le monde qui donne de l’importance aux opinions et rende les actions significatives ». 28 En d’autres termes, ce 25 Arendt, H. (2005) op. cit., IX, 26, août 1952, p. 243. 26 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 42; Arendt, H. (1981a) op cit., p. 15. 27 Arendt, H. (2002b): Une réponse à Eric Voegelin. In: Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 972; Arendt, H. (1994): A reply to Eric Voegelin. In: Essays in Understanding, 1930-1954, New York, p. 406. 28 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 599; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 296. 281

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n’est que si chacun est en mesure de se manifester politiquement aux autres dans sa singularité et non dans sa différence qu’il pourra aussi être traité comme un semblable. La pluralité qui se dévoile alors comme la condition de la vie politique n’est plus la diversité absolue mais la pluralité proprement humaine.

II.

La pluralité humaine et la parole

Un paradoxe gouverne la conception arendtienne de la pluralité humaine : contrairement à la diversité absolue, la pluralité humaine comprend l’égalité qui est, selon une formule des Origines, « guidée par le principe de justice. » 29 C’est à ce titre qu’elle devient proprement humaine. Dans Condition de l’homme moderne, la pluralité humaine est présentée selon deux formulations : 1) « La pluralité humaine […] a le double caractère de l’égalité [Gleichheit] et de la distinction [Verschiedenheit] »30 2) « La pluralité humaine est la paradoxale pluralité d’êtres uniques [einzigartig]» 31 Une élaboration subtile du passage d’une formulation à l’autre amène à complexifier le sens de l’idée de distinction. Dans la pluralité – en tant qu’elle est humaine – la «distinction » (Verschiedenheit) devient « unicité » (Einzigartigkeit ), terme qui apparaît à l’occasion de cette reformulation. L’unicité est proprement humaine car « seul l’homme peut exprimer [sa] distinction et se distinguer lui-même » et pas seulement exprimer ou communiquer quelque chose. Me distinguer moi-même, c’est révéler qui je suis. Qui je suis n’est pas ce que je suis, c’est-à-dire mes « qualités, [mes] dons, [mes] talents, [mes] défauts » 32 Ce que je suis renvoie à des différences individuelles ou spécifiques, et non à la singularité proprement dite qui, elle, procède d’un « se distinguer » au sens actif. Les qualités du ce que qui différencient les êtres ne procèdent, elles, d’aucune activité. Et ce sont elles qui, dans le cas des réfugiés et des apatrides privés de droits, étaient exposées sans apparaître, c’est-àdire sans que rien ne permette de distinguer en elle l’acteur, l’être agissant et parlant sur la scène publique d’apparition. Ce que je suis m’est donné et Arendt n’hésite souvent pas à qualifier cela de « naturel ». Néanmoins, ce qui est là « naturel » est tout aussi bien construit : ces qualités, dons, talents, etc, sont

29 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 605; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 301. 30 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 231; « Das Faktum menschlicher Pluralität […] manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. » Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 164. 31 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 232; « Menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, dass jeder ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist. » Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 176. 32 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 236; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 169. 282

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d’ordre culturel, social voire politique. Seulement, du fait même que construit et déterminé en raison de notre insertion dans le tissu social et culturel par des mécanismes qui nous échappent, ce que nous sommes et qui nous identifie n’est pas fait par nous ou n’est qu’indirectement notre œuvre. En revanche, qui je suis est ce que manifestent mes actions, cet être auquel elles donnent naissance et qu’on nomme à juste titre « acteur ». Certes, cette capacité de me distinguer, c’est-à-dire non pas de faire surgir un moi profond qui serait exprimé ou traduit en public, mais de révéler qui je suis selon une manifestation inséparable de son activité d’expression même, cette capacité relève bien de moi sans pour autant être au sens propre « faite par moi ». Car qui advient avec l’action, qui se manifeste et naît de ses actions n’est pas un « moi » au sens classique du terme ni n’est le produit d’un « moi » antérieur, déjà donné et producteur qui, agissant, se ferait advenir comme son œuvre. Si nous voulons suivre rigoureusement ce qu’Arendt suggère, il faut dire que qui je suis, l’acteur manifesté par l’action, naît de celle-ci sans être stricto sensu l’œuvre de ce que je suis . Le qui n’est autre que son expression, sa performance (au sens théâtral du terme) unique, avec son style et son excellence propre. Et, surtout, cette révélation n’a pas lieu sans la présence des autres. Elle se produit au travers de mon exposition mais ce sont les autres qui la recueillent, c’est à eux que « qui je suis » apparaît, et je ne sais jamais exactement qui apparaît à cette occasion. On conviendra qu’à la différence de l’exposition non phénoménale des êtres réduits à leurs différence pures, cette exposition est phénoménalisation de l’acteur dans son action, sur une scène d’apparition publique formée des autres acteurs-spectateurs : pour l’acteur que je suis à ce moment là, elle est une manière d’apparaître qui me distingue, me rend remarquable, me donne existence auprès des autres, dans un cadre d’apparition qui garantit cette existence comme nouvelle apparence au monde et du monde. « La parole et l’action, écrit Hannah Arendt, révèlent cette unique individualité »33 . Parole et action sont les manières du « se distinguer ». Si les deux sont étroitement reliés (« l’action muette ne serait plus l’action ») 34), il faut cependant différencier ce qui dans un tel « se distinguer soi-même » correspond à l’action et ce qui correspond à la parole. Or l’unicité est rapportée à la natalité tandis que la distinction au sens du « se distinguer » ou de la singularisation, relève de la parole. 1) « Si l’action en tant que commencement correspond au fait de la naissance, elle est l’actualisation de la condition humaine de natalité […] l’affinité entre l’action et le commencement est plus étroite qu’entre parole et com33 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 232; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 165: « Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich dartellt ». 34 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 235; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 168, « Wortloses Handeln gibt es streng genommen überhaupt nicht ». 283

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mencement » 35. Dans Vita activa, la version allemande de The human condition, Arendt précise que c’est bien l’unicité – et non la présence en chacun de telle ou telle qualité – qui repose sur le fait de la natalité. 36 L’unicité désigne le commencement que chacun est pour soi : elle relève de la natalité, de la nouveauté qu’est chacun. On retrouve ici le caractère divin qu’Arendt réfère à Augustin : « pour qu’il y eut un commencement Dieu a créé l’homme, avant qui il n’y avait personne » 37 . En d’autres termes, la parole n’inclut pas la natalité comme telle, notre être de commencements, « l’impétus ou le surgissement mystérieux du commencement » que nous sommes 38. Celle-ci relève avant tout de l’action. L’esclave, par exemple, est privé d’insertion active dans le monde humain : à supposer que l’esclavage soit aboli, il reviendra toujours à l’esclave et à lui seul, avec les autres, d’agir et de faire advenir de la nouveauté dans le monde. D’une manière générale, le cadre indispensable de l’Etat de droit en démocratie ne garantit pas à lui seul l’émergence d’une véritable vie démocratique, laquelle ne repose que sur les initiatives imprévisibles des acteurs. 2) « la parole correspond au fait de la distinction [einzigartiger Verschiedenheit], elle est l’actualisation de la condition humaine de pluralité, qui est de vivre en être distinct et unique parmi des égaux […] l’affinité entre la parole et la révélation est plus intime qu’entre l’action et la révélation » 39 La naissance est l’apparition d’un nouveau commencement, d’une nouveauté absolue, promesse qui s’actualisera avec le temps. Mais cette nouveauté est portée par un être lui-même distinct de tout autre. Dans la mesure où cette distinction est humaine, elle est une singularisation : l’humain n’est pas seulement distinct, il se distingue, et la parole est révélatrice de qui parle. Mais la parole suppose aussi «un environnement de semblables» 40, puisque c’est toujours aux autres que l’on s’adresse. C’est en ce sens que la parole actualise la condition humaine de pluralité en même temps que la singularité de qui parle. La singularité humaine, la révélation du qui, est d’emblée relative aux autres singularités.

35 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 234-235; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 167. 36 Ibid.: « der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem der war, ist oder sein wird […] wobei aber diese Einzigartigkeit nicht so sehr ein Tatbestand bestimmer Qualitäten ist […] vielmehr auf dem […] Faktum der Natalität beruht, der Gebürtlichtikeit, kraft deren jeder Mensch einmal als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen ist ». 37 Arendt H. (1988) op. cit., p. 234; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 166. Arendt cite ici De Civitate Dei, XII, 20. 38 Abensour, M. (2006): Hannah Arendt, contre la philosophie politique?, Paris, p. 143. 39 Arendt, H. (1988), op. cit., p. 234-235; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 167. 40 « einer Umgebung von ihresgleichen », ibid. 284

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La version allemande de The human condition précise la pensée d’Arendt. Si la pluralité humaine est davantage reliée à la parole qu’à l’action, comprendre la différence entre la pluralité ou diversité absolue – qui engage un premier sens de la distinction, une distinction absolue (absolute Verschiedenheit) – et la pluralité proprement humaine – engageant cette fois-ci une distinction singulière (einzigartiger Verschiedenheit ) 41 – requiert l’explicitation d’une caractéristique essentielle au langage. Si, comme nous l’avons vu, la différence entre diversité absolue et pluralité proprement humaine suppose l’introduction de l’égalité dans la diversité, il faut se demander sous quelle forme l’égalité est à l’œuvre dans le langage. Ce qui nous permettra de comprendre comment le langage permet à la distinction au premier sens de devenir unicité ou singularisation, c’est-à-dire distinction au sens actif d’un se distinguer. L’égalité que déploie le langage consiste dans le fait qu’il se trouve entre nous et que chacun est un sujet parlant. Même si certains manient les mots mieux que d’autres, personne n’est le maître du langage. Le langage et le monde sont très proches l’un de l’autre au sens ou le monde, « comme tout entre-deux relie et sépare les hommes en même temps »42. Ainsi de la pluralité humaine : quand des hommes s’assemblent sur ce mode, un réseau se tisse les reliant sans les identifier les uns aux autres à condition que chacun ait la possibilité d’apparaître. L’entre-deux présente deux aspects. D’une part, nous l’avons en commun, au sens où les actions et les paroles sont à propos de quelque chose. Elles ouvrent vers autre chose qu’elles-mêmes, qui nous est commun bien qu’apparaissant différemment à chacun en fonction de chaque doxa ou opinion : « chacun perçoit différemment l’entre-deux qui est commun […] C’est dans la parole et la parole seulement que je révèle ma doxa […] Dans l’écoute, je fais l’expérience du monde, tel qu’il apparaît à d’autres points de vue. » 43 Ou encore : « la pluralité implique essentiellement la pluralité des aspects […] Pour les amis de la pluralité, le monde ne se montre jamais exactement sous le même aspect à deux hommes. […] La communication vivante et réciproque de la doxa [est] un aller et venir », et c’est en cela que consistait, précise Arendt, ce que les Grecs appelaient politeuein. 44 Mais d’autre part, ce premier entre-deux est comme recouvert par un autre : ce qui est en question n’est pas seulement l’argumentation ou l’effort de persuasion, voire la seule communication des doxai ; c’est aussi de « se mettre en valeur 41 Ibid.: « Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden ». Nos italiques. 42 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 92; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 52. 43 Arendt, H. (2005) op. cit., XVII, 4. juillet 1953, p. 433. 44 Ibid., XVI, 20, juin 1953, p. 424-425. 285

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par rapport aux autres et en s’opposant à eux », ce que les Grecs appelaient aristouein (ibid.), ou encore dévoiler qui je suis « comme un être unique parmi des égaux. » Cette fois-ci la pluralité est spécifiquement humaine au sens où elle est radicalement non divine. Elle est même ce qui différencie au plus haut point Dieu (qui est un) et les hommes, « parce que l’entre-deux se produit au sein de la pluralité en tant que domaine exclusivement humain. » 45 Tel est d’après Arendt le sens du second récit de la création : « Mâle et femelle il les créa. » La principale différence entre les hommes (et non plus l’homme) et Dieu se trouve là : les hommes ne peuvent exister que dans la pluralité. Dès lors la « signification politique du monothéisme » pourrait être la suivante : si la politique repose sur le fait de la pluralité humaine, alors elle n’a rien à voir avec Dieu. Dieu est l’Un que nous ne sommes pas, il est l’Autre parce qu’il est un. Une évocation politique de Dieu ne peut avoir lieu qu’à faire de Dieu le garant ultime du sécularisme.

III. Les signes de la pluralité humaine au sein la diversité absolue On peut concevoir la pluralité ou diversité absolue et la pluralité humaine comme deux scènes ou deux domaines qui correspondent à peu près aux sphères du privé et du public. Hannah Arendt compare notre insertion dans le monde humain par les actions et les paroles à une seconde naissance « dans laquelle nous confirmons et assumons le fait brut de notre apparition physique originelle » 46 D’un côté, il n’y a pas de transition d’une sphère à l’autre. En parlant et agissant nous naissons à nous-mêmes car qui je suis n’apparaît qu’à la condition de la présence des autres sur la scène publique. Qui je suis ne se révèle pas dans la vie privée. Malgré tout, d’un autre côté, la relation entre les deux scènes ne saurait être conçue par abstraction de la seconde, comme elle l’est dans le républicanisme de tradition française : comme si la scène publique requerrait de faire abstraction des particularités propres à la vie privée. Arendt invite au contraire à penser la relation, car si « la politique organise d’emblée des êtres absolument différents en considérant leur égalité relative et en se différenciant de la diversité relative »47, c’est que cette absolue diversité fait signe, ou indique en elle-même, voire requiert, l’égalité relative, c’est-à-dire la pluralité humaine. Mais comment le fait-elle ?

45 Ibid., XII, 10, décembre 1952, p. 302. 46 Arendt, H. (1988) op. cit., p. 233; Arendt, H. (1981a) op. cit., p. 165. 47 Arendt, H. (1995), op. cit., p. 34; Arendt, H. (1993) op cit., p. 12.; Arendt, H. (2005) op. cit., p. 31. Les italiques sont dans le texte. 286

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Deux pistes semblent s’ouvrir à nous : l’une se rapporte au « deux-en-un » du dialogue solitaire avec soi-même ; l’autre concerne ce que nous pourrions appeler une phénoménologie de l’engendrement. Dans la première piste, l’un n’est que l’effet phénoménal du deux que chacun est, au moins, pour soi. Tout être humain « existe essentiellement dans la dimension plurielle » 48. Penser ne s’effectue que sous le régime de la division originaire de soi en deux : « ce n’est pas l’activité de penser qui instaure l’unité, unifie le deux-en-un; bien au contraire, le deux-en-un redevient Un quand le monde extérieur s’impose au penseur et interrompt brusquement le processus de pensée »49. La pluralité est toujours déjà inscrite au cœur du moi, défaisant par avance toute prétention de celui-ci à s’ériger en un principe d’unité primordiale : l’unicité du moi est seconde et dérivée, puisqu’elle est une conséquence de la pluralité des regards portés sur moi et non une manifestation phénoménale de la pluralité essentielle de chacun. Dans la deuxième piste, « un » rencontre « deux » et devient « trois ». Si la première piste indique que la pluralité est toujours déjà inscrite au cœur de l’unicité, elle signifie que la pluralité est indérivable de l’unité. La deuxième semble en revanche proposer une dérivation de la pluralité à partir de l’un sur le mode de la génération. Elle se déploie encore dans un dialogue avec les textes fondateurs du monothéisme. Suivons là afin de tester si et en quel sens la pluralité peut être engendrée d’une unité. Revenons aux Origines du totalitarisme, au chapitre qui clôt la deuxième partie sur l’impérialisme. La différence nue ne se produit jamais comme unicité singulière puisqu’elle est exposée sans apparaître sur la scène publique et immédiatement codée de l’extérieur par des catégories générales. Quelque chose qui aurait dû rester privé surgit dans le public où elle ne rencontre pas de conditions d’articulation : ces qualités « ne peuvent d’ordinaire s’articuler que dans le domaine de la vie privée » 50. L’articulation est une expression, un venir-à-la parole. Elle s’adresse à quelqu’un d’autre. Arendt indique que dans le privé cette demande peut rencontrer la réponse de l’amour. La formule de l’amour, dit Augustin, est : « volo ut sis », je veux que tu sois, toi tel(le) que tu es, sans aucune raison ni justification. 51 « Volo ut sis » est certes une parole, mais cette parole n’est pas à propos de quelque chose, c’est une affirma48 Arendt, H. (1981b): La vie de l’esprit, I. La pensée, Paris, p. 210; Arendt, H. (1978): The life of the mind, I. Thinking, New York, p. 185. 49 Ibid. Cf. Tassin, E. (1999): Le trésor perdu, Hannah Arendt, l’intelligence de l’action politique, Paris, p. 70 sq. 50 Arendt, H. (2002a), op. cit., p. 605; Arendt, H. (1979) op cit., p. 301. 51 Arendt, H. (2002a) op. cit., p. 605: « A cette existence pure et simple, c’est-àdire à tout ce qui nous est mystérieusement donné de naissance et qui inclut la forme de notre corps et les dons de notre intelligence, répondent seuls les imprévisibles hasards de l’amitié et de la sympathie, ou encore la grande et incalculable grâce de l’amour, qui affirme avec saint Augustin : ‘Volo ut sis’ (‘je veux que tu sois’) »; Arendt, H. (1979) op. cit., p. 301. 287

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tion pure qui tire sa force de la vie elle-même : « L’amour est vie sans monde. » 52 En ce sens, la parole des amants n’insère pas de monde entre eux. Si je célèbre celui ou celle que j’aime – en poésie par exemple – je n’exprime pas mon point de vue dans un échange éventuellement agonistique avec les autres. Hannah Arendt a beaucoup écrit sur le caractère acosmique de l’amour (et sur ses effets désastreux quand il pénètre dans la politique). Dans le Journal de pensée, elle oppose les relations d’amour aux relations mondaines. L’amour est le domaine du Je et Tu, ayant besoin l’un de l’autre, se convenant l’un à l’autre, alors qu’au regard de la pluralité nous devons compter avec des étrangers, avec d’autres. 53 Malgré tout, la dynamique de la vie elle-même fait signe vers la pluralité : « L’un que forme l’union des deux est l’origine du troisième et c’est là le commencement de la pluralité. » 54 La naissance d’un enfant insère un entredeux entre les amants, un monde, il les relie et les sépare à la fois. Il ne s’agit pas ici de psychanalyse mais de phénoménologie : c’est l’enfant qui sépare les parents et les relie d’une manière nouvelle, alors que la psychanalyse s’attache à la manière dont le père sépare la mère de l’enfant. Mieux : si l’enfant est un monde inséré entre les amants dont l’amour est acosmique, les parents sont en même temps le monde pour l’enfant, monde auquel il est d’abord étranger et auquel il doit advenir. L’enfant est un nouveau venu, un étranger, il doit être introduit dans un réseau qui lui préexiste. Le premier réseau est « le père et la mère » : « Nous naissons dans ce monde de la pluralité où père et mère sont prêts à nous recevoir, à nous accueillir, à nous guider et à nous démontrer que nous ne sommes pas des étrangers. Nous grandissons pour devenir comme n’importe qui d’autre […]. Puis nous aimons, et le monde entre nous, le monde de la pluralité et de l’être-chezsoi est en proie aux flammes jusqu’à ce que nous soyons prêts à accueillir de nouveaux arrivants, de nouveaux venus auxquels nous démontrons que nous ne croyons plus maintenant qu’ils ne sont pas des étrangers. Nous mourons dans une absolue singularité, étrangers qui, après tout, font leurs adieux à un endroit étranger dans lequel ils ont effectué un bref séjour. Ce qui continue c’est le monde de la pluralité » 55

Une telle compréhension de l’engendrement souligne aussi combien la pensée de la pluralité humaine nous distingue de Dieu. La relation entre un homme et une femme qui engendre un enfant qui lui-même engendre un enfant, etc (ce que la Torah appelle les toledot) est indépendante de Dieu lui-même. C’est 52 53 54 55

Arendt, H. (2005) op. cit., XVI, 4, juin 1953, p. 405. Ibid., II, 8, p. 52. Ibid., III, 8, mars 1951, p. 77. Ibid., XIX, 39, février 1954, p. 508-509.

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DIVERSITÉ ET PLURALITÉ

ainsi que Hannah Arendt interprète la Bible et la distingue du mythe platonicien de l’origine de la race humaine dans Le politique. Le mythe dit que les hommes sont directement nés de la terre : ils vivaient comme un troupeau gardé par une divinité exerçant son autorité sur un mode pastoral, comme un berger veillant à la fois sur la multiplicité et sur chaque individu du troupeau. La pluralité humaine n’existait pas. Et donc la politique non plus : « les bêtes du troupeau sont dépendantes du pasteur et non pas les unes des autres (engendrement biologique). » 56 Qu’il y ait un signe de la pluralité humaine dans la pure différence ou la pure diversité biologique des êtres ne signifie cependant pas que la pluralité puisse être dérivée d’autre chose qu’elle même. Ce signe, en revanche, indique que le paradigme politique qui gouverne l’image de l’engendrement et donc de la filiation propre à la seule dimension vitale est celui du gouvernement familial ou du gouvernement pastoral. La réflexion d’Arendt met en effet en évidence une alternative, alternative dont elle s’efforce de sortir : d’un côté, selon la tradition juive, une filiation déconnectée de l’origine divine mais organisée selon le schème du legs familial 57; d’un autre, selon le mythe platonicien, une multiplicité grégaire sans filiation mais subordonnée à une autorité pastorale qui vient en quelque sorte pallier le défaut généalogique. A distance de l’une et de l’autre de ces perspectives, l’originalité d’Arendt est de mettre en avant la question de l’étranger avec lequel commencent en un même mouvement et le monde et la politique 58. La question de l’étranger est indissociable de celle de la pluralité. L’étranger n’est ni le membre de la famille ni le membre de l’espèce. Il est d’abord la singularité pure de l’autre, irréductible au point qu’il peut désigner le barbare de la différence nue inassimilable dans aucune forme de vivre-ensemble (alien) ; il est ensuite la figuration de la différence culturelle des autres peuples avec lesquels un dialogue est possible mais qui sert aussi souvent de repoussoir politique à des fins de conquête ou d’extermination (stranger) ; il est enfin le statut de citoyen reconnu par un autre Etat (foreigner) 59. En liant la pluralité à l’étrangèreté, Arendt nous invite à penser non seulement que la question de la citoyenneté des étrangers est une question politique centrale pour chaque Etat, mais aussi que l’étrangèreté n’est pas simplement la caractéristique d’une catégorie

56 Ibid., I, 32, septembre 1950, p. 39. 57 Cf. Leibovici, M. (2003): Hannah Arendt et la tradition juive. Le judaïsme à l’épreuve de la sécularisation, Genève. 58 Arendt, H. (1993) op. cit., p. 24: « Im Mittelpunkt der Politik steht immer die Sorge um die Welt ». 59 Cf. Tassin, E. (2008): Condition migrante et citoyenneté cosmopolitique: des manières d’être soi et d’être au monde. In: Dissensus n°1, revue de philosophie politique de l’université de Liège, décembre 2008. 289

MARTINE LEIBOVICI UND ETIENNE TASSIN

d’individus (les non-nationaux) : elle est un trait définitionnel de l’humain puisque toute pluralité humaine est au fond une pluralité d’étrangers. La comparaison de l’enfant et de l’étranger pourrait donc bien être trompeuse (que l’on songe à toute la littérature anthropologique sur les mentalités primitive et infantile 60). Car la question politique n’est pas celle de l’éducation, et les acteurs politiques ne sont pas des enfants quand bien même ceux-ci se distinguent d’abord par le fait qu’ils sont étrangers au monde. Corrélativement, la question politique n’est pas celle de l’assimilation des étrangers par une éducation civique qui viserait, comme le font les parents pour leurs enfants, à leur rendre la communauté humaine moins étrangère en les rendant eux-mêmes moins étrangers au monde. L’étrangèreté de l’étranger accompagne la pluralité et n’est pas moins irréductible qu’elle. La question politique est alors, tout au contraire, celle de l’institution d’un cadre politique ou d’un monde commun permettant que s’instaure un lien d’égalité entre ceux qui sont étrangers au monde qui les accueille et ceux qui ont déjà la possibilité d’y agir et de parler. A condition toutefois de ne jamais oublier la pluralité essentielle du deux-en-un qui rend chacun de nous, pour partie, étranger à soimême, aux siens et au monde ; ou qui laisse toujours « qui je suis » en une certaine façon étranger à « ce que je suis ». La dimension plurielle de la politique fait que celle-ci reste irréductible à une quelconque unité égologique ou subjective, familiale ou pastorale, ethnique ou confessionnelle, nationale ou supranationale. Quel est alors le seul lien qui rassemble ceux qu’aucune communauté n’unit par avance ni par filiation ni par spécification, ni par lignages ni par alliances ; le seul lien qui peut unir une pluralité d’étrangers soucieux du monde, à la fois commun et différent pour chacun d’eux ? Ce lien est celui de l’égalité. Seule l’égalité lie ceux que tout désunit. Seule l’égalité peut constituer le « monde de la pluralité » qui perdure de générations en générations. Aussi la question politique est-elle celle de l’instauration et de la vérification de l’égalité entre étrangers au sein de la pluralité des acteurs. Là où la multiplicité des multitudes, celle des grands nombres, ne saurait être qu’une multitude d’identiques, la pluralité humaine est toujours une pluralité de singularités, d’unicités prises dans un rapport d’égalité. Loin d’être l’apologie du pluralisme ou du différentialisme, la politique de la pluralité désigne une lutte continuelle pour l’égalité d’êtres uniques, pour l’égalité de ceux que La Boétie avait nommé les « tous uns ».

60 Cf. entre autres, Lévy-Bruhl, L. (1960): La mentalité primitive, Paris, et la lettre de Husserl à Levy-Bruhl du 11 mars 1935 (présentation et traduction de Ph. Soulez, in Gradhiva n° 4, Paris, été 1998, p. 63-72). 290

Unbearable life and Narrative Reconciliation. Public Space as Metaphorical Natality in Hannah Arendt * BETHANIA ASSY Life is not what one has lived, but rather the life one recollects and how one recollects it to tell. Gabriel García Márquez1 ‘My life, I will not let you go except you bless me, but then I will let you go.’ The reward of storytelling is to be able to let go: ‘When the storyteller is loyal […] to the story, there, in the end, silence will speak. Where the story has been betrayed, silence is but emptiness. But we, the faithful, when we have spoken our last word, will hear the voice of silence.’ Hannah Arendt2

Under the guise of introduction, I quote an intriguing question pointed out by Pirro concerning Arendt’s approach on narrative, which underlines the main propose of this paper: “why should stories of failed strivings and ruined aspirations foster a sense of hope rather then despair? After all, remembrance of a lost cause seems a slender reed on which to rest one’s hopes.”3 How can the

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This paper was written at the occasion of Prof. Antonia Grunenberg’s Festschrift. To celebrate Prof. Gunenberg intellectual career this paper deals with the relationship among public space, narrative, and reconciliation. Prof. Grunenberg’s work is an outstanding example of the power of political narrative, a potentiality of sort of metaphorical political natality of public space. “La vida no es la que uno vivió, sino la que uno recuerda y cómo la recouerda para contarla.” García Márquez, G. (2002): Vivir para contarla, Barcelona. Arendt, H. (1983): Men in Dark Times, New York; London, p. 97. Pirro, R. C. (2001): Hannah Arendt and the Politics of Tragedy, DeKalb, p. 21. 291

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narrative of our ungrateful experiences, the facing of unbearable sufferings, bring hopefulness, love for our destines and pride for who we have been in life, and a sort of reconciliation with the world, reconciliation with the public space of appearance? This is exactly the kind of expectation Arendt assigns for narrative. By the attempt to relate our fate with the question who we are, Arendt quotes Isak Dinesen (Karen Blixen), one of her most influential exemplar storyteller figures, who says that “[…] in the repetition of imagination the happenings have become what she would call a ‘destine.’ To be so at one with one’s own destiny that no one will be able to tell the dancer from the dance, that the answer to the question, Who are you? Will be the Cardinal’s answer, ‘Allow me […] to answer you in the classic manner, and to tell you a story,’ is the only aspiration worthy of the fact that life has been given us. This is also called pride, and the true dividing line between people is whether they are capable of being ‘in love with [their] destine’.”4 That we have a particular human ability to recollect, to remember and to retell our and others’ stories belong to the major topics on Hannah Arendt’s writings on narrative and reconciliation. It has at least one crucial dimension this paper will deal with. Closely related to the redemptive power of narrative, we have the potential to be tellers of our own stories, narrators of who we have been in life. Here imagination and recollection help reconciliation towards our own past. By telling our own story, we may become the protagonist of who we are and thereby, as an outcome, we can reconcile ourselves with our life experiences. The main question here is that to be the storyteller of our own story is deeply connected with the possibility of a public reconciliation and with our ability to judging. The reconciliation with our story implies also reconciliation with the public space of appearance, namely by Arendt, the plural world of acting and speech.

I.

Narrative and Imagination. A Redemptive Way of Thinking

The intriguing, paradoxical condition of the faculty of thinking allows “the mind to withdraw from the world without ever being able to leave it or transcend it”.5 It justifies in the first place the use of metaphorical language and

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Arendt, H. (1983) op. cit., p. 105. Arendt, H. (1978): The Life of the Mind – Thinking, New York; London, p. 45. Taminiaux calls attention to this symmetry: “Not only do most of the words in ordinary language refer to the outlooks and aspects of entities appearing in the world, but even our most abstract way of speaking is full of metaphors which transpose to the activity of the mind words which are originally rooted in appearances. Originally, an idea is an outlook, a concept is a capture, a metaphor is

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UNBEARABLE LIFE AND NARRATIVE RECONCILIATION

imagination, to employ the terms Arendt uses to articulate the imbrications among thinking, judging, narrative, and the visible world. Whether in silent critical thought or in concrete judgment, what is at stake are the outlooks and events of the appearing world transposed into ordinary language.6 In the case of thinking activity, it operates through a silent “conceptual metaphorical speech,” since thinking “must prepare the particulars given to the senses in such a way that the mind is able to handle them in their absence; it must, in brief, de-sense them”.7 Nevertheless, thinking requires this visibility of being heard and understood by others. “Thought without speech is inconceivable; ‘thought and speech anticipate one another. They continually take each other’s place’”.8 From this sort of conceptual metaphorical speech, it is possible to trace the bridge between thinking and narrative. Narrative derives from human beings’ lived experience and therefore must remain tied to it. On the other hand, “what becomes manifest when we speak about psychic experiences is never the experience itself but whatever we think about it when we reflect upon it”9. Thinking for Arendt has a very particular meaning. Thinking is not equated with the classical attributes of rationality as a cognitive faculty whose criterion is truth and which apprehends concepts through passive perceptions leading to objectively verifiable knowledge. At the same token, imagination is not described in the classical sense, in which it merely (re)presents images, schemas through which intellect and cognition operate. In those classical conceptions of imagination, logic arbitrates meaning; principle

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a displacement, a reason is a ground, and son on.” Taminiaux, J. (1999): Time and the Inner Conflicts of the Mind,” In: Hermsen, J.; Villa, Dana (eds.): The Judge and the Spectator- Hannah Arendt’s Political Philosophy, Leuven, p. 46. It is worth calling attention to the fact that Arendt is not making rigorous conceptual distinctions between any of those terms. See also: Taminiaux, J. (1985): Événement, Monde et Jugement. In : Esprit – Changer la culture et la politique. Hannah Arendt, no. 42, 2 ed., p. 135-147. Arendt would agree with Wittgenstein’s argument against a private language: “In all such reflecting activities men move outside the world of appearances and use a language filled with abstract words which of course, had long been part and parcel of everyday speech before they became the special currency of philosophy.” Arendt, H. (1978) op. cit., p. 78. Ibid., p. 77. Ibid., p. 32. Quoting Merleau-Ponty. On the more general discussion on mental activity and politics, see: Gray, J. G. (1977): The Winds of Thought. In: Social Research, New York, vol. 44, no. 40-62; Vollrath, E. (1977): Hannah Arendt and the Method of Political Thinking. In: Social Research, vol. 44, no. 1, p. 160182; Yarbrough, J.; Stern, P. (1981): Vita Activa and Vita Contemplativa. Reflections on Hannah Arendt’s Political Thought in The Life of the Mind. In: The Review of Politics, vol. 43, no. 3, p. 323-354; Jonas, H. (1977): Acting, Knowing, Thinking. Gleanings from Hannah Arendt’s Philosophical Work. In: Social Research, New York, vol. 44, no. 1, p. 25-43. Arendt, H. (1978) op. cit., p. 31. 293

BETHANIA ASSY

precedes prudence and general rules command particular circumstances. In Arendt’s understanding, by removing the object, imagination is not merely endowing judgment with the reproductive image to supply the concept, as in the case of determinant logic judgment.10 By de-sensing, imagination prepares the objects of thought for reflexive judgment.11 The important feature here is the link Arendt establishes in language between the world of appearances and the mind’s realm of invisibility. “Thinking is the mental activity that actualizes those products of the mind that are inherent in speech and for which language, prior to any special effort, has already found an appropriate though provisional home in the audible world. If speaking and thinking springs from the same source, then the very gift of language could be taken as a kind of proof, or perhaps, rather, as a token, of men’s being naturally endowed with an instrument capable of transforming the invisible into an ‘appearance.’”12 In this context, metaphor, imagination, terms borrowed from visuality, take the deflated meaning of a “mind’s language” and restores thinking to the visible world. This elaborates what can be said through speech: a seeing through “bodily ears.” Indeed, metaphor calls for the primacy of the appearing world, but at the same time it attributes narrative with an ability to apprehend the visible world apart from the chrono-

10 Discussed by Kant in the Critique of Pure Reason, in determinant judgment the particular is subsumed under a universally given law, rule or principle. In that case, the play between intellect and imagination is a matter of the pre-given categories of determinant judgment, deontological argumentation, or procedural rationality, where the role of imagination is merely to facilitate understanding – a re-presenting imagination that is basically imitative and reproductive. Abstract and universal schemas are the main outcome of imagination in determinant judgment, an operation of our universal cognitive rationality. On the other hand, reflective judgment rather encompasses a free play of imagination and understanding. In reflexive judgment, rather than intellect providing the rule, imagination provides an exemplary instance. This active perception is able to re-move objects and promote the enlargement of mind. This ethical imagination is the foundation for a subsequent operation, namely reflection, “the actual activity of judging something,” which gathers deep political implications. Arendt, H. (1982): Lectures on Kant’s Political Philosophy, Chicago, p. 68. 11 On Arendt’s account on reflective judgment see: Dostal, R. (1984): Judging Human Action: Arendt’s Appropriation of Kant. In: The Review of Metaphysics, no. 134; Forti, S. (1993): Sul ‘Giudizio Riflettente’ Kantiano. Arendt e Lyotard a Confronto. In: Parise, E. (ed.): La Politica tra Natalità e Mortalita à Hannah Arendt, Napoli; Clarke, J. P. (1994): A Kantian Theory of Political Judgment – Arendt and Lyotard. In: Philosophy Today, vol. 38, no. 1/4, p. 13548; Ferrara, A. (1998): Judgment, identity and authenticity. A reconstruction of Hannah Arendt’s interpretation of Kant. In: Philosophy & Social Criticism, vol. 24-2/3, p. 110. 12 Arendt, H. (1978) op. cit., p. 108-9. 294

UNBEARABLE LIFE AND NARRATIVE RECONCILIATION

logical events of everyday life.13 Narrative interrupts space and time inasmuch as it can make present to the mind a past event through remembrance and anticipate the future by foreseeing an event, in a non-chronological or logical rational way. Such path paved by imagination traces a small track of non-time in which imagination beats within the time-space of mortal men and into which the trains of thought, of remembrances and anticipation run through.14 “In terms of tragedy, conceptualizing (through philosophy, analysis, and maxim) cannot be compared with the intensity and richness of significance with an appropriately narrated story.”15

II.

The Manufactured Language of Cognition. The Habit of Reproductive Imagination

To feel at home in the world embraces the security of habits. The so-called “force of habit” is remarkably described by Augustine in Arendt’s Der Liebesbegriff bei Augustin as “a kind of manufactured nature”16 whose immediate result is to put man at the service of made objects. Habit is then described as “manufactured”; it is a fabricated form of life, assigning human beings through the work of their hands to the production of the world. Arendt’s remarks from her 1929 doctoral thesis anticipate her account of pure cognitive knowledge as the philosophy of the homo faber par excellence in The Human Condition more than 30 years afterwards.17 13 In a longer passage Arendt highlights: “If the language of thinking is essentially metaphorical, it follows that the world of appearances inserts itself into thought quite apart from the needs of our body and the claims of our fellow-men, which will draw us back into it in any case. No matter how close we are while thinking to what is far way and how absent we are from what is close at hand, the thinking ego obviously never leaves the world of appearances altogether. The twoworld theory, as I have said, is a metaphysical delusion although by no means an arbitrary or accidental one; it is the most plausible delusion with which the experience of thought is plagued. Language, by lending itself to metaphorical usage, enable us to think, that is, to have traffic with non-sensory matters, because it permits a carrying-over, metapherein, of our sense experiences. There are not two worlds because metaphor unites them.” Ibid., p. 110. 14 Arendt, H. (1977): Between Past and Future – Eight Exercises in Political Thought, New York, p. 13. See: Eslin, J.-C. (1985): L’Événement de Penser. In: Esprit – Changer la culture et la politique. Hannah Arendt, no. 42, 2 ed., p. 7-18. 15 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 22. 16 (On Music VI, 19) Arendt, H. (1966): Love and Saint Augustine, ed. by Scott, J.; Stark, J., Chicago; London, p. 82. 17 Arendt, H. (1989): The Human Condition, Chicago, London, p. 85. Although labor stands for repetition, associated with the biological process of living organism, and with the process of growth and decay in the world, it leads to an endless self-consuming movement of nature. 295

BETHANIA ASSY

Cognition, which is based on an account of usefulness, embeds a kind of knowledge that, like homo faber’s activity, can be approached only as “in order to,” in terms of utility. It is opposed to “for the sake of,” which is understood in terms of meaningfulness.18 “Cognition always pursues a definite aim, which can be set by practical considerations as well as by ‘idle curiosity’; but once this aim is reached, the cognitive process has come to an end.”19 Cognition, like fabrication with its instruments and tools, is a process that leads to a proposition. It has a beginning and an end and its utility can be demonstrated. Scientific results produced through cognition are added to human artifacts, like material things. Cognitive processes in science correspond to the function of cognition in fabrication.20 Cognition, contributing to the fabrication of our world, is the invisible hand of the manufactured world, producing in us a kind of manufactured nature as well. It leads men to find durability and security in the man-made habitual world, as opposed to the realm of contingency and unpredictability. Like the realm of homo faber, our fabricated habits provide the durability of the world. This is the sense in which one can say that “habit has already delivered him [man] to the world.”21 Delivering ourselves to the world means the quite process of composing life through habits. This is a result not only of the instrumentalization of the world, but mostly important here, of the instrumentalization of thinking and judging processes. The pure process of rationalization apprehends language in terms of cognitive logic process, operating under the edge of a reproductive imagination. The manufactured nature of language relies in fact on a reproductive imagination. Approaching man as toolmaker and fabricator, as the embodied authority of the science of fabrication, as mastering epistƝmƝ poƝtikƝ, turns the processes of the realm of fabrication into the guarantor of reality. The result is to

18 In The Human Condition Arendt underscores: “This perplexity, inherent in all consistent utilitarianism, the philosophy of homo faber par excellence, can be diagnosed theoretically as an innate incapacity to understand the distinction between utility and meaningfulness, which we express linguistically by distinguishing between ‘in order to’ and ‘for the sake of.’” Arendt, H. (1989) op. cit., p. 154. 19 Ibid., p. 121. 20 In The Human Condition, Arendt distinguishes thinking and from logical reasoning: “In these human faculties we are actually confronted with a sort of brain power which in more than one respect resembles nothing so much as the labor power of the human animal develops in its metabolism with nature” Arendt, H. (1989) op. cit., p. 172. This type of intelligence, which according to Arendt was mistaken for reason, is a mere substitute for human labor power. It is “a mere function of the life process itself, … Obviously, this brain power and the compelling logical processes it generates are not capable of erecting a world, are as worldless as the compulsory processes of life, labor, and consumption” Ibid., p. 172. 21 Arendt, H. (1966) op. cit., p. 82. 296

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neglect unexpected experiences, those which fall outside the frame of meansends relationships, making us unable to think and to act not only in unpredictable situations, but also in unbearable experiences.22 Besides the encouraging habits, this has two unavoidable outcomes. First, it promotes an overvaluation of mental and material senses of reality based mainly on mechanization; and second, it thereby promotes what can be called the security of an enduring yesterday. At the same time that habit contributes to the world’s enduringness, it creates a false security in reality. As remarkably annunciated by Arendt, already in 1928, “habit is the eternal yesterday and has no future. Its tomorrow is identical with today.”23 In the mechanization of language, the enduring yesterday is the only rain material left to be processed by language. Nevertheless, it is through narrative, and not in cognitive logic process of language in and by itself that a non-time and unpredictable reconciliation with the unbearable is possible. Diametrically opposed to the security of habit is thaumadzein, the speechless wonder identified with the beginning of the philosophical pathos. It was first equated with astonishment in the face of the miracle of man, life, and the cosmos as described by Plato in the Theaetetus24 and Aristotle in the Metaphysics25. In Socratic terms, wonder bears a power to dislodge us from everyday affairs, from “that which is as it is.” In order to confront the “dogmatism of mere opinion,” Arendt argues, Plato makes this speechless wonder into a way of life (the bios theôrétikos) – philosophy’ state of contemplation in which theǀria has became “only another word for thaumadzein; the contemplation of truth at which the philosopher ultimately arrives is the philosophically purified speechless wonder with which he began.”26 When converted into theǀria, however, wonder is reduced to cognition, the mental apparatus of homo faber. To prolong wonder is to crystallize yesterday inasmuch as there is no longer room for perplexity. It is under the aegis of this mental process of fabrication that totalitarianism was able to mechanize the real: through the

22 See Arendt, H. (1989) op. cit., p. 300. In terms of political philosophy, it coincides with the creation of the modern political vocabulary, in which, for instance, one speaks of the “fabrication” of “tools” and “instruments” for the creation of the “artificial man” called the State: Hobbes’ Leviathan. 23 Arendt, H. (1966) op. cit., p. 83. 24 Plato (1980): The Collected Dialogues. Including the Letters. Edited by Edith Hamilton and Huntington Cairns. With Introduction and Prefatory Notes. 10. ed., Princeton, p. 155. 25 Aristotle (1995): The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation. Edited by Jonathan Barnes. 4. ed., Princeton., 982b12 ff. 26 Arendt, H. (1989) op. cit., p. 302. It is in that sense, as the dimension of contemplative truth, that thaumadzein is opposed to doxadzein, in other words, to a substitution of Greek thaumadzein by the Cartesian doubt. See ibid., p. 302-304. 297

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power of logical reasoning, of cognition, its instruments and tools were able to build a self-explanatory picture of a rather horrifying reality. Speechless astonishment must remain one moment in the capacity to be ready to join a new pathos of narrative, a necessary estrangement from the everyday life of human affairs. This original wonder was just a fleeting moment “or, to take Plato’s own metaphor, the flying spark of fire between two flintstones,”27 a spark able to make the enduring yesterday strange. It is this original fleeting moment of strangeness within the habitual, given in daily life that incites narrative. Particularly by the “normality, and habituality” of the horror experienced in the catastrophic political events of the last half of the Twenty Century, in particular, the Holocaust and its concentration camps, sealed by what Hannah Arendt called “images of hell on earth.” Against the safeness of habits, one has wonder, perplexity, summons narrative, the act of awareness activated for the sake of meaningfulness. The activity of thinking, the rain material of narrative, holds the same inexorability and recurrence as life itself: it “is as relentless and repetitive as life itself, and the question whether thought has any meaning at all constitutes the same unanswerable riddle as the question for the meaning of life; its processes permeate the whole of human existence so intimately that its beginning and end coincide with the beginning and end of human life itself.”28 By despatializing the topos of narrative, Arendt emphasizes the human being’s capacity of driving and placing the ‘past’ through remembrance and the future through expectation. By positing memories and prospects, narrative is able to drive temporality. This insertion echoes Augustine’s distinction between the principium of the world and the initium of man as well as in his reflections on the notion of time in Confessions. The world of all other living creatures was created “in numbers” and cycles, corresponding to the fabrica Dei. As man expresses his uniqueness by initium, by inserting himself into this in-between present he breaks up the continuum. “Because they are focused on the particle or body that gives them their direction, being fighting with each other and acting upon man is the way Kafka describes.”29 Time is defined here by the nature of man’s activities. In the everyday of animal laborans and homo faber, inasmuch as what takes place is “the continuity of our business and our activities in the world in which we continue what we started yesterday and hope to finish tomorrow,”30 this continuum determines time into spatial increments and cyclical time states. It is precisely in such terms that the time of our historical and biographical existence can be “understood 27 Arendt, H. (1990): Philosophy and Politics. In: Social Research, vol. 57, no. 1, p. 101. 28 Arendt, H. (1989) op. cit., p. 171. 29 Arendt, H. (1977) op. cit., p. 11. 30 Arendt, H. (1978) op. cit., p. 205. 298

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in analogy to numerical sequences, fixed by the calendar, according to which the present is today, the past begins yesterday, and the future begins tomorrow.”31 In the Confessions, the philosopher of Hippo coins a remarkable expression to illustrate time, namely, “a present act of attention.” He relocates the three time dimensions through the act of attention: the past through memory, the future through expectation, and the present as the act of our attention in both directions. The present therefore cannot be measured in time, since it has no tense between what just happened and what will happen. Rather then three tenses spatially located as a past “behind” and a future “ahead,” the present act of attention towards the past through narrative relies on memory.32

III. Narrative and Creative Imagination. A Deliberative Recollection from the Storehouse of Memory Recalling Kafka’s parable, Arendt mentions so often, one could say that narrative, in being able to displace the appearing world, produces what she calls “diagonal forces” – its “own self-inserting appearance, created by past and future forces, found a place in time which is sufficiently removed from past and future to offer ‘the umpire’ a position from which to judge the forces fighting with each other with an impartial eye.”33 The non-time element of narrative relies on its reflective ability to locate and to place human beings through their memories and expectations, not only regarding absent objects. Memory holds all the dispositions of recollection and stories. “Only because of the mind’s capacity for making present what is absent can we say ‘no more’ and constitute a past for ourselves, or say ‘not yet’ and get ready for a future.”34 Narrative turns us able to constitute a past for ourselves, and prepare us to a future. It means that narrative’s attribute of making present what is temporally or spatially absent contains the very condition of your capacity to judge. Relying on Augustine’s account of memory – what he calls “the fields and vast palaces of memory,”35 – Arendt distinguishes between two different steps

31 Ibid. 32 Augustine (1993): Confessions. Translated by F. J. Sheed. Introduction by Peter Brown, Indianapolis, p. 223. 33 Arendt, H. (1977) op. cit., p. 12. 34 Arendt, H. (1978) op. cit., p. 76. 35 As meaningfully put by Augustine: “And so I come to the fields and vast palaces of memory, where are stored the innumerable images of material things brought to it by the senses. Further there is stored in the memory the thoughts we think, by adding to or taking from or otherwise modifying the things that sense has mad contact with, and all other things that have been entrusted to an 299

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of memory, “what remains in the memory,” and “the vision in thought,” in order to describe two operations in apprehending the appearing world. “‘The vision, which was without when the sense was formed by a sensible body, is succeeded by a similar vision within’ (Book XI, ch.3) the image that represents it. The image is then stored in memory, ready to become a ‘vision of thought the moment the mind gets hold of it; it is decisive that ‘what remains in the memory – the mere image of what once was real – is different from the ‘vision in thought’ – the deliberately remembered object.”36 The simple act of retaining an image in memory is distinct from the actual act of remembering. Memory’s ability to retain an image is different from its ability to impress in the image how and what to remember.37 Arendt uses Augustine’s terminology to separate the “visible sense-object” from the “image” the memory holds of it, and to distinguish both from the “thought-object,” a deliberate act of recollection and remembrance. Hence, all thinking is in fact a re-thinking, an “after-thought” that requires an “umpire.” Thinking is an act of judging under the image requiring a vision-in-thought of the stored image.38 By distinguishing the simply apprehension of an image from the active recollection, Arendt underlines the intrinsic link between a reflexive imagination, working through memory’s act of recollecting, and narrative. Even though it is through reproductive imagination that the mind stores an image, “these thought-objects come into being only when the mind actively and deliberately remembers, recollects and selects from the storehouse of memory […].”39 This capacity to ‘de-sense’ a sense-object, which itself never appears to the mind, transforming it into an image, belongs to the imagination. This operation is carried out by what Arendt calls a mere “reproductive imagination,” which can be identified with an “elementary ability to de-sense and have present before (and not just in) your mind what is physically absent.”40

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laid up in memory, save such as forgetfulness has swallowed in its grave.” Augustine (1993) op. cit., p. 178. Arendt, H. (1978) op. cit., p. 77. See Arendt, ibid. (Augustine: Trinity, Book XI, chaps. III, VIII, and X) “It is because of the twofold transformation of the thinking ‘in fact goes even further,’ beyond the realm of all possible imagination, ‘when our reason proclaims the infinity of number which no vision in the thought of corporeal things has yet grasped’ or ‘teaches us that even the tiniest bodies ca be divided infinitely.’” Arendt, ibid. “Nor indeed do the things themselves enter: only the images of the things perceived by the senses are there for thought to remember them.” Augustine (1993) op. cit., VIII, p. 179. Augustine still calls attention to the fact that since we remember this in the memory, we are not disturbed by the emotional qualities of the forth movements (disturbances) of the mind (mens, soul): desire, joy, fear, sadness. Arendt, H. (1978) op. cit., p. 77. Ibid., p. 86.

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On the other hand, it stands a “productive imagination,” or creative imagination, which, though dependant upon the reproductive imagination, promotes deliberative selection, a re-location and attribution of meaning to the image. Through the power of imagination man enlarges his capacity to narrate, to come up with a story able to deal with reality. I claim that imagination is one of the key features through which narrative calls for reconciliation with our past and tragic stories. “The world is full of stories, of events and occurrences and strange happenings, which wait only to be told, and the reason why they usually remain untold is, according to Isak Dinesen, lack of imagination – for only if you can image what has happened anyhow, repeat it in imagination, will you see the stories […]. Without repeating life in imagination you can never be fully alive, ‘lack of imagination’ prevents people from ‘existing.’ ‘Be loyal to the story,’ […] means no less than, Be loyal to life, don’t create fiction but accept what life is giving you, show yourself worthy of whatever it may be by recollecting and pondering over it, thus repeating it in imagination; this is the way to remain alive.’”41 Inasmuch as narrative’s capacity of creative imagination is an activity, it implies a sort of ethical imagination, since this capacity to transform sense-objects into images involves a capacity of judging. We have rather become used to limiting the world of sense perception to reproductive imagination. It is fundamental that by creative imagination, Arendt emphasizes that we select not only what to remember but also how to remember. The capacity of fixing on how we produce impressions from within the palaces of memory has a deep impact in the conduct of your own life. The faculty of memory that allows mental enlargement, the expansion of our ethical imagination, is inextricably linked to the ability to judge. Arendt adds the powerful role of narrative to this account, since we face our sorrows literally by how remembering, as much as by sharing our stories with others.

IV. Narrative, Judgment and Reconciliation. A Metaphorical Natality In the 1964 Chicago manuscript on Kant and judgment, Arendt links appearance, judgment, and reconciliation: “We never are so much members of the sensible world of members of the human society than when we judge of appearance qua appearances. And with respect to communicability as the great source of joy in life, I remain you of Isak Dinesen’s: ‘All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them.’ That is, if you

41 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 97. Emphasis added. Later published as “Foreword” in: Dinesen, I. (1979): Daguerreotypes and Other Essays, Chicago. 301

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communicate. Even grief carries with in an element of joy if it is being told about.”42 Let me take back the question that introduced this paper pointed out by Pirro concerning Arendt’s approach: “why should stories of failed strivings and ruined aspirations foster a sense of hope rather then despair? After all, remembrance of a lost cause seems a slender reed on which to rest one’s hopes.”43 The tears of remembrance bear not only the pure act of bringing the past back through memory, as a closed book to be read. The key element in Arendt’s account on the power of narrative relies precisely on the potentiality of some unexpected moments of new beginning, by keeping the meanings of our despair into motion. It holds the possibility of the unpredictable moment of a metaphorical natality, in which reconciliation no longer can be predictable through the regular rational account by a mere accountability of our sufferings.44 “The story reveals the meaning of what otherwise would remain an unbearable sequence of sheer happenings.”45 Here one can subsume narrative carries an element of unpredictability. The act of narrating brings the capacity to open up a new understanding of the past. Such redemptive appeal of the storytelling through remembrance moves precisely among concreteness, particularity, and contingency of human affairs. By one hand, it is a way of dealing with real life, rather then a simple psychological internal dimension of the mind to self justifying excuses or resentments. On the other hand, narrative can operate imagination as a capacity for “entirely free thinking, which employs neither history nor coercive logic as crutches.”46 42 Arendt, H. (1964): Kant’s Political Philosophy. By: Hannah Arendt’s Papers, Manuscript Division, Library of Congress, Washington DC, p. 0322580. 43 Pirro, R. C. (2001) op. cit., p. 21. On Arendt’s account on redemption and narrative see: Benhabib, S. (1990): Hannah Arendt and the Redemptive Power of Narrative. In: Social Research, vol. 57, no.1, p.157-196; Hammer, D. C. (1997): Incommensurable Phrases and Narrative Discourse – Lyotard and Arendt on the Possibility of Politics. In: Philosophy Today, vol. 41, no. 4/4, p. 475-490. 44 Even though out of the scope of this paper, it is noteworthy to mention that Arendt’s account of narrative echoes our capacity to forgive. There can be slender doubt that reconciliation is at least on the way to forgiveness. Narrative’s power of redemption is deeply imbricated with the power to forgive. “The possible redemption from the predicament of irreversibility – of being unable to undo what one has done though one did not, and could not, have known what he was doing – is the faculty of forgiving.” Arendt, H. (1989) op. cit., p. 237. Forgiveness depends on plurality and communication, since it “rests on the experiences which nobody could ever have with himself, which on the contrary, are entirely based on the presence of others.” Ibid., p. 238. It would remain without reality if occurred in solitude or isolation. In the act of forgiving others, the use of imagination is extended, carrying an ethical redemptive dimension. Forgiveness is not merely an appendix of contingence; it is rather a sort of actuality, a potentiality. It is not a mere side effect of our actions. See: Pirro, R. C. (2001) op. cit. 45 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 104. 46 Ibid., p. 8. 302

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Through the abilities of thinking and judging, narrative reaches a dimension far beyond language reduced to cognition, the mental apparatus of homo faber’s fabrication, as it has been approached before. Narrative achieves a level beyond the over-valorization of a mental and material sense of reality based mainly on mechanization. Narrative, unlike the power of logical reasoning and cognition, does not mechanize the real. Through its instruments and tools, logical reasoning is able only to build a self-explanatory picture of reality. “The spoken word and all the actions and deeds which the Greeks called prákseis or prágmata, as distinguished from poíesis, fabrication, can never outlast the moment of their realization, would never leave any trace without the help of remembrance.”47 Narrative can rather accomplish a magnitude beyond the mere rational information. Racionality pretends to master the events “once and for all”.48 At the contrary, narrative is by no means a matter of merely mastering the past. It rather remains open to interpretation and retelling and thus “can set in motion a process of narration in which a plurality of voices and perspectives is visited.”49 By keeping the meaning of the events alive, narrative illuminates a dimension of suffering, horror, senselessness, which goes far beyond the limits of mere rationalized explanations. To remember and to narrate our stories implicate to give life, to bring back, those implicated and those circumstances. In a word, it is to revive the scene, and to revive is a compelling feature of justice. At the first sign, it may give the false impression it means merely to bear in mind our misfortune’ stories, mostly in a spectral form, as if the main achievement of remembering would be to stay deeply imbedded in the sorrows of our disgraceful experiences. Quite on the contrary, evoked by our capacity to recollect, repeating in imagination the happenings of our life, the capacity to remember opens a powerful dimension: the possibility of freeing us from excuses and resentments. Recalling Dinesen’s capacity for recollection, Arendt describes this quality of narrative as a sort of life elixir: “Recollection, the repetition in 47 Arendt, H. (1977) op. cit., p. 44. Arendt adds: “They do this by translating prákseis and léksis, action and speech, into that kind of poíesis or fabrication which eventually becomes the written word” Ibid., p. 45. 48 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 21. As Bilsky accurately calls attention for, Benjamin captures this dimension of narrative in his essay on storytelling: “It is half the ‘art’ of storytelling to keep a story from explanation as one reproduces it. […] The most extraordinary things, marvelous things, are related with the greatest accuracy, but the psychological connection of the events is not forced on the reader. It is left up to him to interpret things the way he understands them, and thus the narrative achieves an amplitude that information lacks.” Benjamin, W. (1969): Illumination, ed. by Arendt, H., New York, p. 89. Bilsky, L. Y. (2001): When Actor and Spectator Meet in the Courtroom. Reflections on Hannah Arendt’s Concept of Judgment. In: Beiner, R.; Nedelsky, J. (eds.): Judgment, Imagination, and Politics – Themes from Kant and Arendt, New York, p. 272. 49 Ibid. 303

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imagination, may decipher the essence and deliver to you the ‘elixir’; and eventually you may even be privileged to ‘make’ something out of it, ‘to compound the story.’ But life itself is neither essence nor elixir, and if you treat it as such it will only play its tricks on you.”50 Here Arendt’s approach on reconciliation through narrative carries neither a sophisticated way of making up reality (the power of “reinventing” reality) nor an emerging language of victimization. Arendt ultimately ascribes a communal and pluralistic dimension to narrative. The question of company is also deeply involved in remembering. Narrative depends on an “in between.”51 In the terms of The Human Condition, Arendt’s “subjective in-between” space is linked to narrative’s ability to constitute an in-between present. Narrative requires a location, which is found in the gap between the past and future. The present act of attention, whose invisible activity implies taking a position, in turn, depends on a search for meaning. And, consequently, the search for meaning implies the question of justice. “To assume the position of ‘umpire,’ of arbiter and judge over the manifold, never-ending affairs of human existence in the world, never arriving at a final solution to their riddles but ready with ever-new answers to the question of what it may be all about.”52 This position has a twofold meaning. Firstly, narrative’s ability to place itself in time occurs through the measure of a beginning and an end of what the mind brings into presence. This stands for man’s capacity to establish a pre50 Arendt, H. (1983) op. cit., p. 109. 51 The spatiality of man-made worldly objects guarantees the durability and relative permanence of the world. This attribute of spatiality in the manufactured world creates a sort of space of maneuver, a shared, in-between space. According to Arendt, the durability of what is created assures the reality of the world. The reality of life presupposes the eternal recurrence of natality. The birth of man also presumes the durability and stability of the world. Such a continuous and objective man-made world provides an objective space of reality (an objective in-between), the world of objects, the domain of fabrication, the poiƝsis of the world properly speaking, and a subjective space of reality (a subjective inbetween), the common otherness of language and action, the sphere of praxis and interaction that is responsible for establishing a sort of imaginary of the public thing. It is worth underlining that narrative plays a crucial role in guaranteeing this in-between subjective reality, and also grounds the possibility of judging, which is the outcome of a common world. It is in this sense that the plurality and otherness of narrative presuppose the subjective in-between space, the web of relationships among acting and speaking agents Arendt described in The Human Condition. 52 Arendt, H. (1978) op. cit., p. 210. See: Benhabib, S. (1988): Judgment and The Moral Foundations of Politics in Arendt’s Thought. In: Political Theory, vol. 16/1, p. 29-51; Collin, F. (1999): Birth as Praxis. In: Hermsen, J. J.; Villa, D. R.: The Judge and the Spectator – Hannah Arendt’s Political Philosophy, Leuven, p. 97-110. 304

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sent for himself.53 Secondly, by attributing to narrative a capacity for breaking with the linear trilogy of time, we have another way of describing the dismantling of the metaphysical tradition. It annihilates neither the necessary past nor the unpredictable future. Instead, it orients man in each new situation toward the responsibility to relocate himself, which, like all active experience, only takes place through judging the particular events.54 The question of company in which we share our stories also relates to that of judgment, since it concerns one of the concrete and particular domains in which we become spectators of our own life: when our words and deeds are told to others. In a way, through the ability to judge, narrative carries the capacity to conjugate the thinking ego and the ego that appears and moves through the world.55 There is an ethical redemptive and cathartic dimension here, in which the other plays a meaningful part. We can put our sorrows into a story in which the lead of narrative does not function in a merely logic descriptive way. “The scene where Ulysses listens to the story of his own life is paradigmatic for both history and poetry; the ‘reconciliation with reality,’ the catharsis, which, according to Aristotle, was the essence of tragedy, […] came about through the tears of remembrance.”56

V.

Narrative: the Life of a Who. A Matter of World’s Reconciliation, a matter of justice

Being the protagonist of our own story does not imply changing our social identity; as if tricking destiny meant merely changing those attributes that constitute what we are, putting in Arendt’s vocabulary at the Human Condi-

53 In The Life of the Mind, Willing’s volume, Arendt emphasizes: “Time that can be measured is in the mind itself; namely, ‘from the time I began to see until I cease to see.’ For ‘we measure in fact the interval from some beginning up to some kind of end,’ and this is possible only because the mind retains in its own present the expectation of that which is not yet, which it then ‘pays attention to and remembers when it passes through” Arendt, H. (1978): The Life of the Mind – Willing, New York; London, p.107. See: Birulés, F. (1993): Poetica e politica. Hannah Arendt, Abitare il present. In: Parise, E. (ed.): La Politica tra Natalità e Mortalita – Hannah Arendt, Napoli, p. 45-62. 54 See: Arendt, H. (2003): Responsibility and Judgment, ed. by Kohn, J., New York. See also: Assy, B. (2008): Hannah Arendt – An Ethics of Personal Responsibility, Frankfurt/M.; Berlin; Bern; a. o.; Bernauer, J. (1987): Explorations in the Faith and Thought of Hannah Arendt, ed. by Bernauer, J. W., Boston; Dordrecht; Lancaster. 55 Kristeva accurately observes the poetic language of a narrator. See Kristeva, J. (2001): Hannah Arendt – Life Is a Narrative, Toronto; Buffalo; London, p. 40. 56 Arendt, H. (1977) op. cit., p. 45. 305

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tion, namely, our qualities, gifts, talents, which we can display or hide.57 On the contrary, that which is distinctly us, what makes us unique human beings, is the constant ability of each of us, through act and speech, to dimension reality without erases the past, named by Arendt, who we are. “The narrative structure of action and of human identity means that the continuing retelling of the past, its continued reintegration into the story of the present, its reevaluation, reassessment, and reconfiguration are ontological conditions of the kinds of beings we are”58 It is who we are that is responsible for the narrative structure of our identities. Acceptance here has no passive connotation. One accepts reality as provisional, since the who consists in the activity of reiterating oneself in each new, concrete and particular situation. This can involve an ethical leap, a leap into the deep understanding of the sorrowful features by being exposed to the world of appearance.59 Narrative is related with the life that can be told as a story, “it is of this life, bios as distinguished from mere zoƝ, that Aristotle said that it ‘somehow is a kind of praxis.’”60 This very possibility of narrating grounds human life in what is specific human, not merely as zoƝ, animal and physiological.61 As such, life is not a value in itself, it has his meaning reinvented, over and over again. Suffering can be unbearable, senseless, but it also gathers no significance in itself, it necessarily implies meaning.62 57 In The Human Condition, Arendt makes a clear distinction between who and what we are. “In acting and speaking, men show who they are, reveal actively their unique personal identities and this make their appearance in the human world, while their physical identities appears without any activity of their own on the unique shape of the body and sound of the voice. This disclosure of ‘who’ in contradiction to ‘what’ somebody is – his qualities, gifts, talents, and shortcomings, which he may display or hide – is implicit in everything somebody says and does.” Arendt, H. (1989) op. cit., p. 179. Who someone is, his specific personal identity, akin to his personality, is not identified with his gifts, abilities, and talents. It is through the continuous actualization of personality, the constant exercise of thinking, that we are able to reaffirm our doxai, the formulation in speech of what dokei moi, what appears to me. This formulation in speech discloses who I am, a who that can only emerge in the phenomenal space of appearance. 58 Arendt, H. (1990): Philosophy and Politics. In: Social Research, vol. 57, no. 1, p. 98. 59 See the outstanding work of Agamben on the notions klƝsis-Beruf. Agamben, G. (2005): The Time That Remains. A Commentary on the Letter to the Romans, Stanford. [Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani, Bollati Boringhieri, 2000]. 60 Arendt, H. (1989) op. cit., p. 97. 61 See Kristeva, J. (2001) op. cit. 62 A good parallel can be drawn with the issue of equality as a narrative as well. It is open to discussion in the public domain and is a matter of neither rational nor factual truth. It is a matter of opinion, and human equality depends upon such choices. As beautifully put by Lefort: “Inequality and invisibility go hand in 306

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Arendt argues that what the Romans called Humanitas, a unique and vital identity, can only be achieved by throwing oneself into the so-called “adventure of the public realm.”63 The uniqueness of our identity embraces unavoidable the capacity to take and to overcome the risk. Humanitas embodies precisely the courage to be exposed to the unpredictability of life. By that reason, a leap into our own life is an ethical leap; the courage to submit ourselves to life, and the narrative’s power of attributing meaning to it. Humanitas is described as something occupying or appearing in a mental space. Narrative is one of the keys to access such mental space. The act of narrating carries the capacity for achieving Humanitas. It means neither a matter of “changing the way events were” in order to make the story bearable, nor just a mere process of rationalizing suffering. The miracle of narrative carries a sort of potentiality of changing the past without changing the past, holding the unpredictable moment of reconciliation. This reconciliation with our destinies recalls Heller’s interpretation of Nietzsche’s eternal recurrence in her Ethics of Personality. “The first feature is gratitude towards one’s own life inherent in amor fati, a prominent characteristic of an ethics of personality. A person who conduct his life in the spirit of an ethics of personality will always say ‘yes’ to his own life, irrespective of his suffering, his solitude, his marginalization, or his bad luck in all matters that are external to his personality. A ‘lucky throw of the dice’ says ‘yes’ to his own life (and thus to life in general). Not because he is lucky in life, but because it is his life, his fate, because he became what he has (always) been. Here we arrive at the deepest layer of Nietzsche’s vision of the eternal recurrence of the same. To accept the mythological image of the eternal recurrence of the same with gratitude and gaiety is tantamount to wishing to live one’s own life again and again, and never another life, never in another place or in another time.”64 Nietzsche points out in Ecce Homo that while writing Zarathustra he was filled by “the Yes-saying pathos par excellence”: “the tragic pathos, was alive in me to the highest degree.”65 Saying “Yes” to life is the tragic pathos of choosing ourselves. It is not by chance that by making natality the core of her philosophy, Arendt privileges the unpredictability of life over the anticipatory future of behand. This in itself is enough to suggest that, for Arendt, equality is an invention; it is an effect or simply a sign of the moment which raises men above life and opens them up to a common world.” Lefort, C. (1989): Hannah Arendt and the Political. In: Democracy and Political Theory, Minneapolis, p. 51. 63 It is noteworthy to recall Jaspers’ conduct into public life. See Arendt, H. (1983): Karl Jaspers: A Laudation. In: Arendt, H.: op. cit., p. 73-74. See also: Pirro, R. C. (2001) op. cit., p. 122. 64 Heller, A. (1996): An Ethics of Personality, Oxford; Cambridge, p. 17. 65 Nietzsche, F. (1989): Ecce Homo. Thus spoke Zarathustra. In: On the Genealogy of Morals, Ecce Homo, New York, p. 296. 307

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ing-for-death. This gratitude for life is passed down through memory. Natality, for its part, privileges memory66 by bringing out our capacity to judge our irreversible past injuries and mistakes as spectators. Positively valuing narrative by not means assigns for attributing to speech and acts the same apparatus as inner rational truth, transposed to the realm of visibility. In giving a metaphorical sense of natality to narrative, by making our suffering bearable, Arendt seeks to reestablish the dignity of who we are into the public sphere, as the realm of an ethics that can make sharing life in society worthwhile. In other words, reconciliation promoted through narrative can only appear where a public space exists. It is in this sense that memory is deeply related with reparation and justice. That is the deeper significance of the public realm in the acting of narrating our stories to the others. Thus, perishable individual qualities and talents constant displayed by what we are is not the rain material of narrative. It gathers no ethical meaning into the public realm. Only the ongoing activity of reconciling ourselves with what we went through has a revelatory character of who we are, giving us a deep sense of Humanität.67 A singular personal identity can only appear in the form of acts and speech in the space between men. Silence and forgetfulness, extra-worldly refuges of interiority, are antagonistic to discourse and action, this latter only takes places where who we are can become known and brought into the luminous world, and consequently, reconciled with the senseless unbearable suffering one experienced. That is the deep sense of justice in the public sense of appearance. Narrative gathers then reconciliation with, and the new beginning for, our sense of trust in the world. It also can restore the courage of each free man to throw himself again into the unpredictability and irreversibility of action. Courage consists here in throwing oneself into in the plurality of the common world; an act of freedom that ethically dignifies him into the public

66 See the beautiful essay by Bullo, A. (1999): Natalità, Mortalità e Memoria. In: Forti, S. (ed.): Hannah Arendt, Millano, p. 194. 67 Arendt’s concern to describe who someone is never falls into the vocabulary of what someone is. “The manifestation of who the speaker and doer unexchangeably is, though it is plainly visible, retains a curious intangibility that confounds all efforts toward unequivocal verbal expression. The moment we want to say who somebody is, our very vocabulary leads us astray into saying what he is; we get entangled in an description of qualities he necessarily shares with others like him; we being to describe a type or a ‘character’ in the old meaning of the word, with the result that he specific uniqueness escapes us.” Arendt, H. (1989) op. cit., p. 181. She continues: “the well-known philosophic impossibility to arrive at a definition of man, all definitions being determinations or interpretations of what man is, of qualities, therefore, which he could possibly share with other living beings, whereas his specific difference would be found in a determination of what kind of a ‘who’ he is.” Ibid. 308

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space of appearance.68 We can only trust in the world if this very same world is able to promote public memory. It is in this sense that memory can bring justice into the bright space of appearance.69 The revelatory role of the storyteller relies also on his ability to make some truths more supportable. One of its most radical examples concerns the astonishing power of Holocaust survivors’ testimony, which brings forth facts that would otherwise never reach the brightness of the public domain. They are the only ones who can convey the unimaginable reality of the concentration camps, and of the “Muselmänner” Agamben situates at the threshold between man and non-man. Without testimonies, the atrocities would remain “un-truth.”70 This is not just a matter of “telling the truth,” but of revealing an insupportable reality. Yet by telling a story, testimony not only gives it reality, it can make the reality less unbearable. It is not narrative itself, in the sense of some kind of understanding, procedimental rationalism, or normative analysis that Arendt attributes the capacity to think horror. On the other hand, it is neither irrationalism. It is rather an extended thinking of narrative, able to reach beyond the limits of normative reason. That is the reason why narrative carries a tension between bio theǀrƝtikos and zoƝ. Narrative can assign neither for the rationalizing cognitive process due to the professional philosophers, nor for the mere vital process of the animal, physiological life, the so called bare life by Agamben.71 Narrative, as an activity in itself, contributes in another life, in our life as bios politicos, since it necessarily requests shared meaning and judgment, the essence of political life for Arendt. “Narrative participates in another politics, that of open memory, renewed and shared memory that she [Arendt] calls the life of a who.”72 Shared memory is a matter of the public world, since it leaves “the structural potentialities of narration as wide-open and infinite political action, offered to the judging perspicacity of inter-esse.”73 It is an open path 68 See: Tassin É. (1999): Le Trésor Perdu – Hannah Arendt, L’Intelligence de L’Action Politique, Paris, p. 342; Giusti, R. (1999): Antropologia della Libertà – A comunità delle singolarità in Hannah Arendt, Assisi. 69 Although out of the scope of this paper, it is noteworthy the deep relation with justice one can derive from Arendt’s consideration regarding memory, narrative, forgiveness, and reconciliation. See the remarkable essay by Mate, R. (2008): La Herancia del Olvido. Ensayos en Torno a la Razón Compasiva, Madrid. 70 See: Agamben, G. (2000): Lo Que Queda de Auschwitz – El Arquivo y el Testigo Homo Sacer III, Valencia. See also: Diner, D. (1997): On the Banal and the Evil in Her Holocaust Narrative. In: New German Critique, no. 71, p. 177190. 71 See: Agamben, G. (1998): Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, 1. ed., Stanford. 72 Kristeva, J. (2001) op. cit., p. 43. 73 Ibid. Regarding Arendt’s approach on judging and politics, see: Denneny, M. (1979): The Privilege of Ourselves: Hannah Arendt on Judgment. In: Hill, M. A. 309

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to reconciliation with our trust in the plural world of appearance. Narrative remains this tremendous human potentiality of new beginning, a sort of miracle keeping into motion the possibility of the unpredictable moment of a metaphorical natality in face of the unbearable life.

(ed.): Hannah Arendt. The Recovery of the Public World, New York; McClure, K. (1997): The Odor of judgment. Exemplarity, Propriety, and Politics in the Company of Hannah Arendt. In: Calhoun, C.; McGowan, J. (eds.): Hannah Arendt and the Meaning of Politics, Minneapolis; London, p. 53-84; Barnouw, D. (1990): The Quality of Judgment. Arendt and Kant. In: Barnouw, D.: Visible Spaces. Hannah Arendt and the German-Jewish Experience. London. 310

Two Views of the Public and its Citizens. Combining Arendt and Rawls HORST MEWES Modern constitutional democracies are based on both popular government and individual rights, and hence require a distinction between a public and a private sphere.1 But the precise outline or delineation of either or both is a matter of enduring dispute, even political controversy. Distinctly different views of the public or the public sphere have been advocated in the recent past by two prominent political thinkers. In Political Liberalism, John Rawls presents the public and its publicity in terms of ‘public reasoning.’2 It is the reasoning of the public, that is to say the totality of ‘the people,’ and is concerned with the good of that public.3 Hannah Arendt, in The Human Condition and elsewhere, views the public as a sphere or distinct (spatial) realm within which individuals, as they conduct ‘public business,’ disclose themselves and their deeds in action and speech before their public witnesses.4 In the following, I argue, albeit briefly and incompletely, that while each of these theorists focus on their own conception of the public at the expense 1

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In the original defense of the U.S. Constitution, the ‘Federalist Papers,’ James Madison takes it for granted that “the most considerate and virtuous citizens” are equally “the friends of public and private faith and of public and personal liberty. They are assumed to be concerned with both ‘public engagements’ and ‘private rights’.” (Federalist no. 10) Inasmuch as some private rights, most prominently free speech and the right to assembly are prerequisite for public engagements, the private and the public are not simply separate but interactive. Hence their specific interrelations become a perennially crucial issue under constitutional government. Rawls, J. (1996): Political Liberalism, 1. Aufl., New York, 1996. Ibid., p. 213. Arendt, H. (1958): The Human Condition, 1. Aufl., Chicago; Arendt, H. (1965): On Revolution, 1. Aufl., New York; Arendt, H. (1978): The Life of the Mind, one volume edition, New York. 311

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of the other, a full rendition of the phenomenon of the public requires the inclusion and combination of both. Moreover, a theory of the public must not only contain a full account of public reasoning and its goals, as well as the public appearance and action of those who not only deliberate publically but also engage actively in subsequent enactments of those deliberations. Importantly, it must also include and clarify the rather complex interrelations and various interactions between these two dimensions of the public. In short, the public realm or forum consists not only of debates about the public good, but also of public actors aiming to excel in the enactment of public business. And as I shall attempt to show in my juxtaposition of the views of Arendt and Rawls, a theory of the public must deal with some seemingly irreconcilable tensions between its two dimensions of public reasoning and public actions. I am neither referring here to the traditional distinction between political theory and practice, or public rhetoric and action. Rather, I am alluding to the strong possibility that, given certain potential tensions between the two dimensions of the public, a sense of priorities, or even of a hierarchy, might have to be established between them. We assume that in a free republic or democracy public deliberation and public action thrive together and are mutually beneficial. Nonetheless, ultimately we must know, for instance, whether our judgment and evaluation of public actors and deeds is exclusively or mainly determined by their responsibility to the terms of public reasoning and its aim, the public good. Or, alternatively, we must decide whether the public appearances of public actors and their deeds are primarily measured by the human qualities and meanings they disclosed. Political actors aiming for greatness of performance and stature are not solely guided by public reason as Rawls defines it. At least these are alternatives posed by a direct juxtaposition of Rawls’ and Arendt’s respective notions of the public. Evidence for the necessity of such queries is found especially in Arendt’s description of the public sphere. While decidedly emphasizing public speech, public deliberation and especially public judgment, Arendt also reveals certain discrepancies between the standards for judging public appearances of actors and actions, on the one hand, and the requirements for public reasoning and debate about the public good, on the other. Such discrepancies are less conspicuous in Rawls’ theory of the public. Although he briefly introduces the importance of ‘publicity’ in democracy, he sees it exclusively as the openness and accessibility of public reasoning. Rawls’ theory of public reasoning as an ‘idealized’ rendition of modern democracy barely hints at the aspects of ‘publicity’ Arendt places at the center of attention. Our basic premise for the following presentation thus consists of two parts. First, it is crucial that the public debates and arguments of a republic are fundamentally guided by fair rules of public conduct and reasonable delibera312

TWO VIEWS ON THE PUBLIC AND ITS CITIZENS

tion as well as the public good. However, it is also important for an understanding of modern public life to focus on the public presentation and the public performance of individual agents, aiming for the perfection of their public appearances, while guided by public reasoning and the public good. Obviously, modern democracies are dependent upon, and pay ample attention to, both the dedication of their political leaders to the people’s good, as well as the political effectiveness and unique characteristics of their ‘public personas.’ Today, political judgment is obviously passed on the constitutionality of politics and on policy debates. Judgment also constantly evaluates and judges the political personality and characteristics of major political actors, both past and present. Neither Rawls nor Arendt seems to succeed in effectively combining these two dimensions of public life.

I.

Rawls’ Theory of the Publicity of Public Reasoning

Rawls’ concept of the public and public reasoning is presented in the context of his theory of a political conception of justice. Public reason in turn is seen to be “implicit in the public political culture of a democratic society.”5 Furthermore, Rawls presents his theory of the public as an abstract and “idealized” version of democratic political culture.6 Public culture is said to consist of the constitutional regime and its political institutions, as well as the tradition and history of its documented interpretations.7 This political culture is also assumed to be embodied in the “educated common sense of citizens.”8 The ‘public’ thus consists of the common culture of its citizens, it is seen as a “fund of implicitly shared ideas and principles.”9 As such, this public fund constitutes the shared center of a wider civil society, the “background culture” for the political public, made up of a plethora of broadly comprehensive philosophical, moral and religious doctrines entertained by citizens in their private capacities. Each citizen’s individual identity is thus divided into a private and public capacity, but the public culture demands that each citizen’s private comprehensive view of life reasonably allows for an “overlapping consensus” concerning support of and participation in the shared public political culture. Presumably, such support and consensus among otherwise widely divergent understandings of citizens of both themselves and their world is made possible by the very attraction of democratic ideals and culture. However, integral 5 6 7 8 9

Rawls, J. (1996) op. cit., p.13. Ibid., p. 43-46. Ibid., p. 14. Ibid. Ibid. 313

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to their attraction is their fundamental reasonableness and justice, which, unless also valued by the individual citizen’s privately held comprehensive doctrines of human existence will make a political culture of democracy less likely in a highly pluralistic ‘multicultural’ society. Indeed, unless such cultural pluralism is ‘reasonable,’ it will not be capable of justice.10 Hence Rawls’ theory of a public political culture already presupposes not only the existence of a constitutional democracy and its traditions, but also the fact that its citizens are fundamentally committed to such a democracy, whatever their basic religion, philosophy or dogmas. Rawls makes it quite clear that his idealized theory of a just public political culture of democracy presupposes not only reasonable persons, but a concept of citizenship in conformity with his theory of a reasonable democracy. It requires an “ideal of citizenship.”11 To make this possible, Rawls stipulates a basic model of the human person corresponding to his conception of justice as fairness and its political implementation in a political culture. It is a conception of the person that defines it to be political in order to suit it for democratic citizenship.12 He thus presupposes that the idealized version of democratic citizenship as an ideal is intrinsic to the ‘common sense’ understanding of democracy. Furthermore, although that ideal will never be ‘realized’ in democratic societies, citizenship in a less than ideal version must be possible if constitutional democracy is to be more than a mere illusion. Rawls emphasizes that his ideal of citizenship and its approximation in the public life of real democracy is not based on some comprehensive ‘science of human nature.’13 Democratic citizenship is not shown to be some need or desire of human beings according to their natural constitution. In Rawls’ view, such a general science of the nature of human beings would be so permissive of various types of moral psychologies that it could do no more than ‘limit’ our concepts of the human person and citizenship. All Rawls’ concept of the political person as citizen has to comply with are the ‘practical needs’ of the political system we demand, as well as “general facts about human nature” that “society seems to allow.”14 The conclusion we must draw from these claims is that his concept of the political person as public citizen is reasonable and factually compatible with the capabilities of ‘human nature’ because the historical experience of American and other modern democracies have shown it to be such. Rawls’ theory of public life is an idealization of a limited historical experience.

10 11 12 13 14

Ibid., p. 123. Ibid., p. 84. Ibid., p. 18. Ibid., p. 86. Ibid., p. 86-87.

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For Rawls, the possibility of public citizenship is therefore not based on any kind of metaphysics about the nature of persons.15 But a citizen’s ‘identity’ has two aspects, consisting of a nonpolitical and political dimension. In their political identity, they are committed to and guided by a conception of justice, and in their nonpolitical dimension persons conceive of their life and action in terms of a larger, more comprehensive notion of what is a good life. And, Rawls points out, these two aspects of their moral identity citizens must adjust and reconcile.16 In practice this means that all citizens must freely adapt their more comprehensive notion of the good life to the requirements of a reasonable, just society. Conversely, such a society must also provide for all the ‘needs’ of ‘persons as citizens,’ and must publically recognize these.17 Presumably, then, public life deals with both the concept of justice and its ‘basic structure’ of a democratic society as well as publically recognized personal needs. Thus, despite citizen’s dual identity of public and private person, the ‘well-ordered society’ based on justice is not a ‘private society’ inasmuch as it shares the basic political end or purpose of justice, conceived as a highest good.18 But public political life of democracy is nevertheless fundamentally different from its “background culture of civil society.”19 It is concerned not with the person’s whole life, but only with the “main political and social institutions” of a citizen’s life.20 So what is public life and public reasoning? Rawls assigns it three main parts: as reason of the citizens, it is the reason of the public; its subject is justice and the good of the public; public reason is public in the sense that it is “conducted open to view” in accordance with the public principles.21 Additionally, public reasoning in order to be properly public must be conducted in a ‘public forum,’ not in private associations or communities of churches or universities etc. A public forum apparently is defined as one where “citizens exercise their final and coercive political power over one another,” or where political power is exercised, either directly or indirectly.

15 Ibid., p. 25. 16 Ibid., p. 31. At this point, Rawls follows the French liberal Benjamin Constant, who in 1819 wrote that for modern societies, having devoted themselves primarily to the pursuit of their newly discovered innumerable personal freedoms, the central task is to not neglect their political freedoms of participation in selfgovernment. Modern societies instead require the ‘combination’ of private and public freedoms. See Constant, B. (1988): The Liberty of the Ancients compared with that of the Moderns. In: Constant, B.: Political Writings, Cambridge, p. 309-328. 17 Rawls, J. (1996) op. cit., p. 179. 18 Ibid., p. 202. 19 Ibid., p. 14. 20 Ibid., p. 175. 21 Ibid., p. 213. 315

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The public forum thus includes public elections, which Rawls does not consider to be private acts, as well as constitutionally designated offices of government, especially the constitutional court. Indeed, the latter serves as exemplar of the public inasmuch as it most explicitly deals with constitutional essentials and basic principles of justice, the very core constituting public citizenship.22 Rawls’ choice of the constitutional court as the embodiment of public reason puts both its gist and limits into a clear light. Justices, in deciding upon matters of essential principles of justice cannot rely upon their own personal morals, nor appeal to principles of ‘general morality.’ Instead, they must decide in terms of values “they think belong to the most reasonable understanding of the public conception and its political values of justice and public reason.”23 They must ‘in good faith’ make judgments which they think all ‘reasonable’ citizens might endorse.24 As such, and since the constitutional court regards public reason as “the sole reason” it exercises, that court is “visibly on its face” the creature of public reason alone.25 Furthermore, as a public institution serving justice only, it gives “public reason vividness and vitality in the public forum.”26 This is as close as Rawls ever gets to speak of the visibility, vitality and vividness of the public forum. Otherwise, the public revolves around principles, justice and their debate among the people in open events dealing with public matters. The only dimension of such debating citizens he sees is their reasoning and deliberation, not their actions, characteristics and aspirations as actors, not reasoning debaters. The question arises whether the actions as well as the reasoning of citizens in public life matter to both the good and the justice of those citizens, and how they interact with each other in real life.

II.

Arendt’s Theory of the Public Realm and Politics

Arendt’s theory of the public realm, and public life in general, differs fundamentally from Rawls’ view as outlined. Arendt’s theory is not based on an a priori conception of acting persons defined so as to ‘idealize’ the requirements of the political culture of a just democratic society. Nor is it the con-

22 Ibid., p. 219. 23 Ibid., p.236. It includes upholding the constitution as higher law, respecting the citizen’s bill of fundamental rights, and maintaining the basic division of power and each governmental offices’ responsibility to the people. Ibid., p. 232. 24 Ibid. 25 Ibid., p. 235. 26 Ibid., p. 237. 316

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ceptualization of reasonable conduct and citizenship based on a specific notion of justice. Instead, her concept of a citizen as public actor derives from certain fundamental human activities defined by the basic condition under which human life is given on earth.27 In addition, Arendt combines this analysis of the basic human activities of labor, work and action with an ontological source of the essential qualities of what it means to be human. These ontological essentials lead all humans to desire a public life, although the basic human activities of labor and work may block that desire. Compared to Rawls’ conviction that human nature’s flexibility allows for any number of different public structures, Arendt’s approach is more fundamentally rooted, if not in human nature, then in the basic condition of life shared by all humans. Rawls’ is a political construct inherent in the ‘common sense’ of modern liberal democracy. Arendt’s is a human construct inherent in human ontology and the conditions of life. Arendt’s concept of the public realm is rooted in her complex notion of human action. First, action is an individual’s initiation of something new, in the company of other individuals. As such, action is the completion or even perfection of individual birth, seen as the appearance of someone new and unique in the human world.28 Clearly, such appearance consists of being witnessed, in one’s deeds and words and person, by other individuals, for example by one’s fellow citizens. Strictly speaking, for Arendt the spectators of actors and their actions constitute the public. As witnesses, such spectators of actions also ‘reify’ actions by recording them as stories and thereby overcoming the otherwise fleeting nature of any act, which disappears no sooner than it has been perpetrated. If organized and constituted within the framework of governing institutions, and if such a framework is explicitly intended to encourage and enhance free action, a public sphere takes on a degree of permanence and becomes the center of human attention. Action, or actively taking an initiative for something in the company of other men and women, is apparently motivated by two main impulses. The strongest seems to be a basic individual ‘urge’ for self-display, reminiscent of a desire to substantiate or realize one’ s appearance quite literally in the eyes of other humans.29 One’s sense of being real apparently depends upon having other humans witness the uniqueness and novelty of one’s actions and hence oneself. One’s own uniqueness also constitutes one important element of the criterion by which public action is judged, namely by the measure of greatness.30 More than anything else, the greatness of one’s action and oneself 27 28 29 30

Arendt, H. (1958) op. cit., chap. 1, p. 7 ff. Ibid., chap. 24, p. 175 ff. Arendt, H. (1978) op. cit., chap.1, p. 19-23. Arendt, H. (1958) op. cit., p. 205. I assume Arendt herself, and not only the Greeks, believe that “action can be judged only by the criterion of greatness.” It 317

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guarantees a measure of immortality in the memory of the future. However, in addition to the ambition for one’s individual greatness, Arendt also mentions that those active in public are moved as well by a ‘care for public business,’ or proven concern for the public. But this motive is not as clearly and extensively articulated as the ‘possession’ by an urge for individual self-display and public self-presentation. What Arendt calls care for public business is not as ontologically rooted as is the urge for public self-presentation. This creates an imbalance between these two possible motives for public action, in favor of individualistic rather than ‘common’ concerns. When Arendt describes the Greek ‘solution’ to the desire for action, she points out that in Athens the individual motives were asserted “at the expense of all other factors.”31 But if the competition for individual greatness is detrimental to the public upon which it depends, it is self-destructive. But Arendt’s concept of action is more complex than appears at this stage. For Arendt, besides being the initiation of something new, with the intention of having one’s fellow actors join in the initiative and carry it to its conclusion, actions are also ‘inspired’ by principles.32 Such principles of action as justice, freedom, equality, honor, public happiness, republicanism, and others, rather than being individual inspirations and motivation, are dependent for their realization upon groups of individuals agreed upon their enactment. And while they inspire individual as well as joint actions, they are strengthened not weakened by constant use and inspire by such use. Thus the principles of action transcend individual’s desire for self-presentation by enlarging it through guidance by an inspiration larger than any one individual. Principles thus build communities of action. Furthermore, principles are crucial in that they prevent active initiation of ‘something new’ from being a meaningless nothing. Unless guided by principle, an action amounts to nothing more than ‘pure spontaneity’ signifying nothing. Hence, Arendt’s emphasis of action as novelty and self-presentation of a unique actor with unique character and personal identity, is tempered by their guidance by and ‘subordination’ to far more permanent and shared principles. Without such guidance human action is meaningless. And for Arendt nothing is more important about the human condition than the meaning of human acts. Finally, Arendt’s notion of the public sphere requires a fundamental ability to distinguish between activities properly ‘fit’ for public appearance, and those that are meant to be kept in private. She claims that their proper place in human life is due to certain inherent characteristics of those activities themfollows that the “art of politics teaches men how to bring forth what is great and radiant.” Ibid., p. 206. 31 Ibid., p. 194. 32 Arendt, H. (1993) What is Freedom? In: Arendt, H.: Between Past and Future, New York, p. 152 ff. 318

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selves.33 Activities related to nourishing the physical body and procreation, but also the relation of love, are properly private, kept so by a sense of shame which keeps them hidden from public gaze. Activities having to do with the ambition for individual and political greatness are fit for public appearance, as they are dependent upon the judgment of one’s spectators and fellow activists. Furthermore, this ability to judge the proper place of human activities is closely affiliated with a broader outlook on human life and its meaning, which Arendt consistently refers to as an attitude of “worldliness.”34 Obviously, this predisposition of worldliness contrasts directly to various forms of ‘otherworldliness’ to which humans are prone. It demands that humans focus on life in the world, or the public in the broadest sense, which humans have created and built for themselves through their work and interactions. Worldliness more than anything else appreciates the human beings appearing in that world, praising their greatness and beauty, their intrinsic worth based in a degree of unfathomable freedom transcending all natural processes of predetermination. Without this disposition of worldliness, Arendt writes, no public world, and thus no freedom of political action, is even conceivable. And for Arendt, no faith in eternal afterlife, or truth of a world above or behind the appearances, no metaphysics of a reality behind the ‘mere’ appearances of human experience, can rival the splendor and even ‘glory’ of human greatness. What are the implications for the ideals of a democratic public and its political culture along the lines elaborated by Rawls? Arendt has high praise for the original US Constitution as the work of genuine activists creating an enduring framework of public freedom and action.35 Its republican principles of freedom created precisely the kind of political community based on free public interaction demanded by her view of active freedom. However, from the outset Arendt sees a basic conflict, even contradiction, in the American’s simultaneous defense of public and private liberties. In her view, an imbalance developed in subsequent American history, constantly favoring personal freedoms and happiness in the form of private wealth and comfort over public participation and action. Arendt’s response is demand for more ‘spontaneous’ citizen involvement, in the form of civic movements and activists. In addition, and generally speaking, Arendt calls for an essentially self-selecting ‘elite’ of activists who out of a care for public business and the very love of public action, rather than the pursuit of private interests, are inspired to act in a for the public world. Thus, not more participation of more democratic citizens, but the participation of the ‘inevitably’ few who want more than anything else to 33 Arendt, H. (1958) op. cit., p. 78. 34 Ibid., p. 248 ff, which argues that the modern world is characterized by world alienation rather than the ‘worldliness’ of man. Cf. ibid., p. 256. 35 Arendt, H. (1965) op.cit., chap. Four through Six. 319

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enjoy the glory of public life is the answer to democracy’s ills.36 Only this would change contemporary a ‘meaningless’ society preoccupied with personal interests and private affairs into a meaningful democracy revolving around its public center, its human actors fully appearing in word and deed.

III. Conclusion To conclude, both Rawls and Arendt focus on the distinction between the dual identities of democratic persons into citizens and private persons. But where Rawls’ idealization simply assumes that an individual “must” have the capacity to “adjust and reconcile” these two aspects of modern individuality, Arendt regards the relation as highly problematic, with only a minority of modern citizens preferring the life of the public in the spirit of ‘worldliness.’ Furthermore, the basic difference between Rawls and Arendt is that, whereas Rawls focuses almost exclusively on the reasoning required to guarantee a people, or public a just and good society, Arendt concentrates almost entirely on the actors and deeds possibly constituting such a society.37 But insofar as Arendt also emphasizes the crucial role of public principles in the guidance of action, she provides a link between public reasoning and judgment, on the one hand, and the exemplary striving for political greatness in action, on the other. Such a link is barely visible in Rawl’s more partial rendition of the public forum of political liberalism. The reality of modern democratic public life clearly exemplifies the presence of both dimensions of politics. The aspiration of the more important political actors to greatness and perfection in public action, or at least a favorable ‘legacy’ in the memory of the republic, are as vital to democratic public life as are its principles of justice and freedom that form the foundation of its political community. But clearly, a political actor’s aspiration towards a legacy of greatness and enduring public stature is a different (perhaps irrational?) motivation than is following the rules of public reason. Rawls’ abstract ideali36 Ibid., p. 278-280. 37 Arendt’s and Rawls’ differences can be seen to complement each other if they are put in the context of the first modern republican constitution of the US, which is an historical reference point for both. The Preamble to that constitution states its goals: the people “ordain and establish” the Constitution “in order to form a more perfect union, establish justice […] and secure the blessings of liberty to ourselves and our Posterity […]”. It appears that establishing justice is on a par with securing liberty. As such, it is implied that without justice there will not be security of liberty, and vice versa. Hence they must complement each other in the sense that liberty can only be based on just order, and the latter can only be established by free citizens. In this sense, both Rawls’ and Arendt’s conception of the public life of citizens presuppose and complement each other. 320

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zations, however valuable his emphasis on the communal principle of a democratic public, ignores the reality of what he once calls the ‘vitality’ of the enactment of such principles. On the other hand, Arendt, does not sufficiently clarify the integral links between individual public action and its goal of individual splendor, and the good of the most fundamental principle of republicanism, namely the sovereignty of the people. It is never clarified whether the public exists for the individuals’ urge for self-presentation in publicly acclaimed greatness, or whether their greatness is measured primarily, albeit by no means exclusively, by its contribution to the enhancement of its communal principles.38 A theory of the phenomenon of a public sphere or public forum in all of its various dimensions remains to be written.

38 In the Federalist Papers, James Madison argues against those opponents of the system of representative government who assume that it will attract mainly those who aspire to ‘self-aggrandizement’ rather than serve the public good. In a republic, he maintains, those whose ‘pride and vanity’ seeks for ‘public honor and distinction’ can only satisfy their desire by benefiting the people, the only ones bestowing public distinction. Hence the individual pursuit of public distinction (or greatness) is quite compatible with serving the public good. Cf. The Federalist Papers, any edition, Federalist 57. 321

Was heißt Menschenwürde? OLIVER BRUNS In meinem Beitrag möchte ich diskutieren, ob und inwiefern in der politischen Theorie Hannah Arendts ein Begriff von der Würde des Menschen enthalten ist und ob dieser jenen Bestimmungen der Menschenwürde entspricht, wie wir sie aus den Deklarationen der Menschenrechte und dem deutschen Grundgesetz kennen. Die Menschenwürde gilt hier als angeboren und unantastbar.1 Zunächst mag es vielleicht unverständlich erscheinen, warum zwischen der Theorie Arendts und den Menschenrechtserklärungen im Hinblick auf die Würde des Menschen überhaupt Gegensätzlichkeiten bestehen sollten. Diese möchte ich in Abschnitt I kurz skizzieren. Es soll deutlich werden, dass zwischen einer universal gedachten Menschenwürde und Formen politischer Anerkennung beziehungsweise Gleichheit eine Differenz besteht, die nicht ohne weiteres behoben werden kann, indem das eine dem anderen als Voraussetzung zu Grunde gelegt wird. Obwohl die Menschenwürde bei Arendt unmittelbar mit dem Vorhandensein eines politischen Raumes verknüpft ist, und die Würde daher auch den Kontingenzen des Politischen ausgeliefert zu sein scheint, lassen sich mit ihrem Begriff von der Person auch Argumente für die Unantastbarkeit der Menschenwürde erschließen (Abschnitt II). Ich möchte versuchen, diese Argumente aus dem Kontext der Arendtschen Theorie herauszuschälen. Wenn die Würde dem Menschen unmittelbar zukommt, dann kann sie selbst meiner Ansicht nach nicht Zweck eines ethischen »Gestaltungsauftrages« sein, ohne dadurch in die Mittelbarkeit gerückt zu werden. Eine »Praxis des Respektierens«, so wie sie von Avishai Margalit und Franz

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In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) (2004): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 4. aktual. und erw. Aufl., Bonn, S. 54. Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ 323

OLIVER BRUNS

Josef Wetz vertreten wird2, entspricht zwar der Menschenwürde, sie kann aber nicht der Grund derselben sein und somit auch nicht die Unantastbarkeit der Würde ausreichend begründen. Wäre die Würde tatsächlich durch die Einhaltung »höchster moralischer Gebote« und durch »ethische Erkenntnisse« begründet, so folgt hieraus letztlich eine Trennung von Sein und Sollen im Hinblick auf die Menschenwürde. Sobald die Menschenwürde einseitig von bestimmten Befähigungen, Begabungen oder Einsichten in die Natur des Menschen abhängig gemacht wird, wird die Würde als ein Akzidenz des Menschseins verstanden. Dabei werden der Grund der menschlichen Würde und solche Handlungsweisen, die ihr entsprechen, miteinander verwechselt. Die Würde, verstanden als Gestaltungsauftrag, ist nicht mehr die Grundlage für politisches Handeln der Menschen, sondern wird zum Resultat einer auftragsgemäßen Praxiserfüllung, die der Mensch für sich konzipieren soll. Weil eine solche Konzeption auch scheitern kann, wird davon ausgegangen, dass die Würde antastbar ist. Ich möchte dagegen versuchen, aus der Auseinandersetzung mit der Arendtschen Theorie des Politischen einen Begriff von der Menschenwürde zu entwickeln, der nicht auf die Inanspruchnahme von bevorzugten und wünschenswerten Eigenschaften des Menschen gegründet ist, sondern in der Pluralität der Menschen. Wenn ein Verständnis der Menschenwürde mit konkreten Erfahrungen des Würdigseins verbunden sein soll, dann ist es notwendig, über die üblicherweise begrenzten juristischen, politischen und ethischen Fragen hinaus auch nach dem Menschsein zu fragen. So richtig es beispielsweise ist, in einem juristischen Sinne danach zu fragen, wie die Würde eines Menschen geschützt werden kann – zumeist auf dem Wege der Feststellung dessen, was einer Person nicht zugemutet werden darf – so wenig kann das Recht auf Schutz der Würde mit dem tatsächlichen Besitz der Würde gleichgesetzt werden. Der Schutz vor Würdeverletzungen impliziert noch nicht, dass sie in einem positiven Sinne durch gegenseitige Achtung, Selbstachtung, Respekt, Freundschaft, Liebe usw. erfahren wird. Mit Arendt möchte ich im Folgenden zeigen, wie die menschliche Würde politisch gedacht werden kann.

I. Politisches Handeln ist laut Arendt nur in Freiheit möglich und geschieht nur dort, wo Menschen einander als Gleiche begegnen. Die »Anerkennung des

2

Vgl. Wetz, F. J. (2005): Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart; Margalit, A. (1999): Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt/M.

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WAS HEISST MENSCHENWÜRDE?

Anderen«3 ist untrennbar mit dem politischen Handeln selbst verknüpft. Sie ist weder Voraussetzung noch erst Ergebnis bestimmter Formen des politischen Handelns, sondern kann überhaupt nur erfahren werden, wo das Politische in der Welt einen Platz hat. „Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und daß es mehr ist als ein Nicht-gezwungen-werden.“4 Der völlige Ausschluss aus der Öffentlichkeit, die Nichtbeachtung und Nichtanerkennung durch die politisch Handelnden und Urteilenden geht laut Arendt einher mit der Beraubung der Menschenwürde. Selbst der politische Feind könnte immer noch als ein Jemand anerkannt werden, insofern er, um als politischer Feind sichtbar sein oder in Erinnerung bleiben zu können, öffentlich sein muss. Der Ausgeschlossene, der Unbekannte ist jedoch per definitionem derjenige, der nicht erscheint und dem daher seine Würde, als Handelnder berücksichtigt zu werden, geraubt wurde. An einer Stelle in Vita activa, an der Arendt direkt mit der Menschenwürde argumentiert, spricht sie von einer Beraubung dieser im Zusammenhang mit den Denkmälern für »den Unbekannten Soldaten«, welche in allen europäischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg errichtet worden waren. Sie würden Zeugnis davon ablegen, »ein Wer, einen Jemand zu finden, den die vier Jahre des Massenmordes hätten offenbaren sollen«5. Als potentiell »Handelnde« bezeichnet Arendt hier die Soldaten. Unabhängig von den Ursachen für die Verheerungen des Krieges knüpft Arendt den Verlust der menschlichen Würde an das Verschwinden des Erscheinungsraumes, die Möglichkeit, sich vor Anderen auszuzeichnen und ihnen in Erinnerung zu bleiben. Der Verlust der Würde beruht vorrangig nicht auf der hohen Anzahl der Opfer oder den Umständen, unter denen die Soldaten ihr Leben einbüßten, sondern darauf, dass sie als Handelnde unbekannt blieben und das ungeheure Geschehen im Nachhinein so wirkte, als habe niemand es gewollt und inszeniert.6 Demgemäß wären nach Arendt solche Verhältnisse menschenunwür-

3

4

5 6

Ich gebrauche diese Begrifflichkeit hier unabhängig von moralischen oder anthropologischen Gehalten, welche sie im Rahmen der Anerkennungsethik bei Axel Honneth besitzt. Insofern darüber diskutiert wird, ob die „Anerkennung des Anderen“ nicht auch eine Begründung für die Menschenrechte darstelle, möchte ich nicht darauf verzichten, im Folgenden eine Arendtsche Lesart im Sinne ihrer Theorie des Politischen zumindest anzudeuten. Vgl. Menke, C.; Pollmann, A. (2007): Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg, S. 61-68. Arendt, H. (2000a): Freiheit und Politik. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. v. Ludz, U., 2. durchgesehene Aufl., München; Zürich, S. 201. Ebd., S. 222. Vgl. ebd. 325

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dig, in denen die Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit des »Wer-einer-ist« nicht mehr offenbar werden können. Das Beispiel von den Soldaten des Ersten Weltkrieges erstaunt natürlich nicht nur, weil die menschliche Würde an den öffentlichen Raum gebunden ist, sondern auch deshalb, weil Arendt den Soldaten das Potential zu handeln zuspricht. Viel dringlicher mutet hier also die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Politik an, auf die ich hier jedoch nur am Rande eingehen kann. Das Politische ist nach Arendt nicht auf die Aktivitäten von Regierungen, Parteien oder anderen Institutionen beschränkt. Das Beispiel der Soldaten oder die oben erwähnte Öffentlichkeit des Feindes soll allerdings auch nicht dazu verleiten, ihren Begriff des Politischen in die Nähe des Schmittschen Politikbegriffs zu rücken.7 Agonalität und Dissens zeichnen zwar auch den Arendtschen Politikbegriff aus, jedoch nicht in der Weise, dass dem Politischen selbst Formen der Gewalt oder des Zwangs zu eigen wären beziehungsweise der Potentialität halber vorausgesetzt werden müssten. Politisches Handeln kann in Kriegszeiten beziehungsweise in der Nachkriegsphase bewirken, dass die Erfahrung von Gewalt, die ihrem Wesen nach stumm ist8, artikuliert werden kann. Während laut Carl Schmitt das Politische von der souveränen Entscheidung über den Extremfall, das heißt, von der möglichen äußersten Dissoziation von Freund und Feind abhängig ist9, fängt das Politische im Arendtschen Sinne genau dort an, wo Gewalt, Zwang und Notwendigkeit aus dem zwischenmenschlichen Bereich verbannt werden. Krieg und Politik schließen sich nach Arendt jedoch nicht vollkommen aus. 7 8 9

Vgl. Owens, P. (2007): Between War and Politics. International Relations and the Thought of Hannah Arendt, New York, S. 25 f. Vgl. Arendt, H. (2003a): Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München; Zürich, S. 36. Vgl. Schmitt, C. (2002): Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 7. Aufl., Berlin, S. 26 ff. Auf S. 29 hebt Schmitt hervor, dass der Feind „eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht [Hervorhebung C. S.]“, ist. Im folgenden Satz heißt es: „Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird.“ Unklar bleibt bei Schmitt, wie sich die „Gesamtheit“ von Menschen konstituiert. Im Zitat spricht Schmitt vom Volk, hierauf folgt ein Beispiel von Christentum und Islam als „Gesamtheiten“, die in der Freund-Feind Konstellation einander gegenüber stünden. Es mag sein, dass die kulturellen, ökonomischen, ethnischen, oder religiösen Motive, die zur Bildung einer „Gesamtheit“ führen, für die Frage nach ihrer Politisierbarkeit im Sinne Schmitts irrelevant sind, damit einher geht jedoch die Annahme, dass „Öffentlichkeit“ an sich keine spezifische Qualität für eine Gesamtheit ist, solange nur jedes Mitglied dieser Gesamtheit weiß, wer potentiell ein Feind sein kann und zu welcher es selbst gehört. Der oben erwähnte „politische Feind“ ist jedoch nicht deshalb öffentlich, weil er einer kämpfenden Gesamtheit angehört, sondern weil er trotz der Feindschaft als ein Jemand erscheinen kann.

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Anhand der Polis zeigt Arendt, dass gerade der Ausschluss von Gewalt aus dem inneren Stadtbereich jene zu einem konstitutiven Bestandteil der »Außenpolitik« erhob. „Dabei ist es, als ob die Griechen den Kampf, ohne den weder Archill noch Hektor je wirklich hätten in Erscheinung treten und zeigend beweisen können, wer sie sind, von dem Kriegerisch-Militärischen, in dem die Gewalt ursprünglich beheimatet ist, abgetrennt und ihn dadurch zu einem integrierenden Bestandteil der Polis und des Politischen gemacht hätten […].“10 In den militärischen Auseinandersetzungen der Poleis spiegelt sich der agonale Geist wider, der das innenpolitische Leben prägte. Nichts war für die Griechen bedeutsamer, als vor den Anderen in Erscheinung zu treten, sich auszuzeichnen und »unsterblichen Ruhm« zu erlangen. Maßgeblich ist jedoch nicht die physische Leistung an sich, sondern ihr Gesehen- und GehörtWerden durch Andere, welche von den Taten erzählen können. Ohne jede Form der Öffentlichkeit des Feindes tritt in einem Krieg niemand in Erscheinung; er bleibt ein bloßer Vernichtungskrieg. Kriege können jedoch in »politische Kriege« umgewandelt werden, insofern zumindest an diejenigen, die sich in ihm auszeichneten, erinnert wird: „Weiter als bis zu dieser von Homer bestimmten dichterischen und geschichtlich-erinnernden nachträglichen Rettung der Vernichteten und Geschlagenen ist bekanntlich die griechische Anstrengung, den Vernichtungskrieg in einen politischen Krieg umzuwandeln nie gediehen […].“11 Die Bedeutung dieser »nachträglichen Rettung« wird klarer, wenn in Betracht gezogen wird, dass in der modernen Welt das Vernichtungsprinzip erneut zur Geltung gelangt ist – nirgendwo ungehemmter als in den Konzentrationslagern, die Arendt auch als »Höhlen des Vergessens« bezeichnet. „Die abendländische Welt hat bisher noch immer, auch in ihren dunkelsten Zeiten, dem getöteten Feinde das Recht auf Erinnerung als eine selbstverständliche Anerkennung dessen, daß wir alle Menschen (und nur Menschen) sind, zugestanden. Nur weil Archill selbst sich zu Hektors Begräbnis rüstete, nur weil auch die despotischen Regierungen den toten Feind ehrten, nur weil die Römer den Christen erlaubten, ihre Märtyrergeschichten zu schreiben, nur weil die Kirche ihre Ketzer in der Erinnerung der Menschen erhielt, war und konnte nie alles schlechthin verloren sein. […] Indem die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten […], nahmen sie dem Sterben den Sinn, den es immer hatte haben können.“12 Die Würde ist bei Arendt nicht an eine abstrakte Fähigkeit, Begabung oder an ein bestimmtes Vermögen gebunden. Sie dient ebenso wenig der Formulierung eines Minimalanspruchs für die Begründung von Menschen10 Arendt, H. (2003b): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ludz, U., München; Zürich, S. 101. 11 Ebd., S. 93. 12 Arendt, H. (2003c): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 9. Aufl., München; Zürich, S. 929 f. 327

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rechten wie dem Zweck, die größtmögliche Allgemeingültigkeit für das Zugrundegelegte einfordern zu können. Die enge Bindung der Würde an die Erfahrungen des politischen Handelns und Sprechens verleiht ihr einerseits einen sehr konkreten Sinn, ist aber andererseits nur schwer operationalisierbar, wenn es darum geht, rechtliche Verbindlichkeit einzufordern, weil Rechte und Gesetze Allgemeingültigkeit beanspruchen müssen und ein gewisses Maß an Abstraktion voraussetzen. Das Recht ist gerade nicht vom Status einer Person oder einer anderen persönlichen Besonderheit abhängig, sondern gilt prinzipiell für jeden gleichermaßen, auch jenseits der politischen Öffentlichkeit. Wenn die Würde jedoch an das politische Handeln gebunden ist, dann haftet einem würdevollen Leben ebenso wie dem politischen Leben grundsätzlich eine gewisse Fragilität an. Sobald das politische Handeln erstarrt und ganz zu schweigen von einer etwaigen gewaltsamen Zerstörung des öffentlichen Raumes, wären die Menschen ihrer Würde beraubt. Es zeigt sich, dass politisches Handeln höchst anspruchsvoll ist und wenig gemein hat mit solchen Bestimmungen, nach denen die Würde in der »Anerkennung jedes Anderen« begründet werden könne. Zwischen der »Anerkennung des Anderen« und der »Anerkennung jedes Anderen« klafft eine große Lücke. Andere in ihrem einzigartigen Sosein anzuerkennen, ist eine ontologische Grundbedingung für politisches Handeln. Der Mensch kann sich dieser Bedingung nicht entledigen, ohne nicht auch gleichzeitig das Politische aus der Welt zu verbannen. Er wird in eine Welt hineingeboren, die von Anderen bewohnt ist und aus deren Miteinander ein Gewebe von Bezügen hervorgegangen ist, in das der Neuankömmling seinen Faden einzuschlagen hat. Dieses Gewebe von Lebensgeschichten, gemeinsamen Erinnerungen und Angelegenheiten geht dem politischen Handeln voraus, wobei die Initiative zum Handeln weniger eines besonderen Entschlusses bedarf, als vielmehr das Wesen des Menschen, Anfänger zu sein und Anfänge machen zu können, bestätigt.13 „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“14 Nach Arendt offenbart sich im Sprechen und Handeln das Menschsein.15 Das entscheidende Kriterium dafür, dass sich das Menschsein offenbaren kann, ist für Arendt die Anwesenheit einer jeweiligen Person für Andere. Gegenüber Anderen kann jemand als der, der er ist, erscheinen und damit seiner menschlichen Würde gemäß leben. Die Würde ist folglich weniger ein Attribut des Menschen als das einer Tätigkeit, nämlich des gemeinsamen Handelns. In diesem Sinne spricht Arendt in Vita activa beispielsweise von dem Anliegen, „das Politische in seine alte Würde wieder-

13 Vgl. Arendt, H. (2003a) a. a. O., S. 214 f. 14 Ebd., S. 215. 15 Vgl. ebd., S. 214. 328

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einzusetzen“ oder von einer herausgehobenen Würde des Politischen in der Rangordnung menschlicher Tätigkeiten. An anderer Stelle ist es der öffentliche Raum selbst, „der nur duldet, was er als relevant anerkennt, würdig, von allen betrachtet oder angehört zu werden [Hervorhebungen O. B.]“.16 Im allgemeinen Sprachgebrauch lässt sich dieses Verständnis von Würde in der Redensart »in Amt und Würden« oder in dem Begriff des »Würdenträgers« wiedererkennen, wobei anzumerken ist, dass die Geschichtsschreibung in dem bloßen Streben nach Ämtern und Anerkennung stets ein Indiz für den Verfall politischer Tugenden erblickte, weil die Inhaber irrtümlicherweise glaubten, mit dem Amt bereits die Würde gewonnen zu haben, die sie doch erst durch die rechte Amtsführung hätten erlangen können. Arendt geht es nicht um eine Bestimmung der Mindestvoraussetzungen, die Freiheit und Würde als Rechte zu sichern vermögen, sondern um die Art und Weise selbst, wie Freiheit als weltlich-sichtbares Phänomen sich in der Welt kundtut, wofür nicht das Minimale, sondern, so Arendt, Größe der Maßstab ist. „Im Unterschied zu der Art und Weise, mit der wir uns in einer gegebenen Situation so oder anders verhalten, und welche die Griechen natürlich wie wir nach bestimmten ‚moralischen Maßstäben‘, gemäß den Motiven und Intentionen, den Zielen und den Folgen, beurteilen, untersteht das Handeln seinem Wesen nach ausschließlich dem Kriterion der Größe, und zwar deshalb, weil es gar nicht zustande kommen würde, wenn es nicht das gemeinhin Übliche durchbräche und in das Außerordentliche vorstieße, wo eben das, was gemeinhin und im Alltagsleben gültig und maßgebend ist, nicht mehr gilt und wo alles, was geschieht, so einmalig und sui generis ist, daß es sich unter Regeln nicht mehr subsumieren läßt.“17 Arendt nimmt eine deutliche Trennung zwischen den »moralischen Maßstäben«, welche für das Alltagsleben von Belang sind, und dem politischen Handeln, für das Größe und Außerordentlichkeit maßgebend sind, vor.18 Demgemäß scheint die Würde nur denjenigen zu-

16 Vgl. ebd., S. 24, 45, 64. 17 Ebd., S. 260 f. 18 Dass die Moralität für das Politische kein letztgültiger Maßstab ist, bedeutet für Arendt nicht, dass damit der Geltungsbereich der moralischen Regeln im „Alltagsleben“ selbst zu bezweifeln sei. Ganz im Gegenteil gehörten gerade der „Zusammenbruch der moralischen Ordnung“ und ihre Austauschbarkeit zu den unheimlichsten Begleiterscheinungen des Naziregimes. Hierin erkennt Arendt schließlich auch ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Nazi- und dem Sowjetregime: „Mit Blick auf die Tatsachen, glaube ich, ist es gerechtfertigt zu behaupten, daß das Nazi-Regime moralisch, nicht gesellschaftlich, extremer gewesen ist als das Stalin-Regime in seiner schlimmsten Gestalt.“ Arendt, H. (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, hg. v. Kohn, J., München; Zürich, S. 15. Sicherlich können sich in einer „entmoralisierten“ Welt – ich meine damit nicht den Moralverfall oder das Zuwiderhandeln gegen moralische Regeln, sondern, wie erwähnt, deren völlige Austausch329

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zukommen, die sich in besonderer Weise verdient gemacht haben und dafür anerkannt werden und für alle Übrigen nur potentiell erlangbar zu sein. Gegen diese relativ einseitige Deutung einer politischen Würde in der Arendtschen Theorie, wonach lediglich das griechische Verständnis der Würde eine Aktualisierung erführe, sind einige Einwände denkbar. Die Fragilität der politisch gedachten Würde schließt beispielsweise nicht nur ihre Verletzbarkeit ein, sondern auch die Möglichkeit ihrer Restitution. Das politische Handeln hält für die ihm innewohnende Aporie der Unumkehrbarkeit des einmal Getanen und Gesagten selbst Mittel zur Sühnung bereit – nämlich die Fähigkeiten zu Verzeihen und zu Entschuldigen. Ein besonderes Beispiel für eine politische Entschuldigung und Anerkennung der Würde des Anderen gab am 11. Juni 2008 die kanadische Regierung, als sie sich für die jahrzehntelange Misshandlung indianischer Kinder in christlichen Schulen entschuldigte.19 Bis in die 70er Jahre hinein waren die Kinder ihren Familien und Gemeinschaften entrissen worden, um sie in staatlich geförderten Heimen und Schulen jenseits ihrer ursprünglichen Traditionen, Kulturen und Sprachen zu »vollwertigen kanadischen Bürgern« zu erziehen. Die Kinder waren besonders häufig physischen, psychischen und sexuellen Misshandlungen ausgesetzt und neigten später zu Alkoholismus und Drogenabhängigkeit. Die erlittenen Traumatisierungen erschwerten es ihnen, selbst Familien zu gründen oder in familiären Strukturen zu leben. Der kanadische Ministerpräsident Stephen Harper hatte in einer Rede vor dem Parlament, in dem die Vertreter der Assembly of First Nations zugegen waren, erklärt, dass die Politik der Assimilation falsch gewesen war und den Opfern eine Entschädigung in Höhe von 2 Mrd. Dollar zugesagt. Eine Entschuldigung vermag es zwar nicht, Getanes rückgängig zu machen, aber sie kann dort die Möglichkeiten für erneutes politisches Handeln eröffnen, wo vergangene Taten jedes weitere Zusammenleben unmöglich gemacht zu haben schienen. Die Entschuldigung ist daher eine Geste, die nicht nur die Fortwirkung des Vergangenen zu unterbrechen vermag, sondern zugleich das Versprechen enthält, den Anderen zukünftig anzuerkennen. Ihre Öffentlichkeit erlaubt es den Handelnden, repräsentativ für diejenigen zu sprechen, die in actu nicht anwesend sein können. Dennoch verbleiben die Nicht-Anwesenden als Zuschauende, Urteilende oder einfach nur als berechtigte Glieder der politischen Gemeinschaft in das Umfeld der Öffentlichkeit einbezogen. Im Zusammenhang mit den kanadischen Indianern möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die kanadische Regierung es 2006 und 2007 in den Generalversammlungen als einzige ablehnte, die UN-Deklaration für die Rechte indigener Völker zu implementieren, weshalb die Ernsthaftigkeit der

barkeit – auch die politischen Tugenden nur schwerlich erhalten, das heißt jedoch nicht, dass das Politische deshalb selbst per se moralisch ist. 19 Vgl. beispielsweise: http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/425/179873/. 330

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Entschuldigung bezweifelt wurde. So berechtigt diese Zweifel sein mögen, mindert es jedoch nicht die Bedeutung des politischen Ereignisses an sich. Ganz im Gegenteil, gerade weil an dem Gesagten prinzipiell auch gezweifelt werden kann, haben politische Ereignisse nie allein den Charakter von unbezweifelbaren Faktizitäten, sondern bedürfen stets der Vielfalt von Perspektiven, Interpretationen und Beurteilungen.20 Reine Faktizitäten sind für sich genommen uninteressant, sie müssen erst in den zwischenmenschlichen Bereich gerückt werden, das heißt, vermittelt und an den Anderen adressiert werden, um politisch relevant zu werden. Politisches Handeln ist nie die Angelegenheit eines Einzelnen, welchem infolge seiner Taten allein die Würde zugesprochen werden könnte. Durch den Zuspruch der Würde wird nicht nur die Würdigkeit eines Anderen offenbar, sondern ebenso die desjenigen, der die Würdigkeit einer Tat erkannte und den Zuspruch zu erteilen vermochte. Eine Politik der Würde beruht demnach auf einer wechselseitigen Anerkennung solcher politischen Handlungen, die in besonderer Weise das Menschsein, sich sprechend und handelnd in die menschlichen Angelegenheiten einzuschalten, bestätigen und zum Ausdruck bringen.

II. Es gibt noch einige weitere Aspekte des politischen Denkens bei Arendt, die die neoaristotelische Lesart und die Kritik am vermeintlichen Elitarismus ihres Politikbegriffs entkräften können und demgemäß die Menschenwürde nicht als ein Attribut der wenigen öffentlich Handelnden erscheinen ließe. Ich möchte sogar behaupten, dass das Arendtsche Werk und insbesondere Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft21 selbst der Wiedergewinnung der Menschenwürde für die Juden verpflichtet ist.22 Viele jüdische Leser empfan20 Vgl. Arendt, H. (2000b): In der Gegenwart. Übungen zum politischen Denken II, hg. v. Ludz, U., München; Zürich, S. 322 ff. 21 Arendt, H. (2003c) a. a. O. 22 Der dichte Zusammenhang der Würde mit dem Politischen bei Arendt wird insbesondere auch in den frühen Schriften zur jüdischen Politik deutlich, durch die sich wie ein roter Faden das Diktum „Wenn man als Jude angegriffen wird, muß man sich als Jude verteidigen.“ zieht. Arendt, H. (1998): Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. V. Ludz, U., 3. Aufl., München; Zürich, S. 57. Arendt wendete sich damit gegen alle jüdischen Assimilationsbestrebungen und „individuellen Lösungen“, die ihr angesichts der politischen Situation in den dreißiger Jahren zunehmend absurder erschienen. „Die Zeiten werden auch im günstigsten Fall zu ernst bleiben, als daß wir uns weiterhin den Luxus leisten könnten, für Menschen, die nicht zu uns gehören wollen und virtuelle Verräter sind [gemeint sind ‚Juden, die keine sein wollen‘ H. A.], weil ihnen für ihren individuellen Ausweg kein Mittel zu schlecht ist, und kein Weg zu entwürdigend, die moralische und politische Verantwortung vor der Welt zu 331

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den es als Genugtuung, dass diese Wahrheit über die totale Herrschaft ausgesprochen wurde. Die menschliche Würde bleibt im Arendtschen Sinne an den politischen Raum gebunden, so dass sie nicht die Voraussetzung jedweder Politik und jedweden Rechts zu sein scheint, sondern selbst erst durch das Politische und das Recht zu erscheinen vermag. Wie jedoch können Begrenzung und Fragilität des politischen Raumes in die Entsprechung zu einem universalen Prinzip, nämlich dem der Unantastbarkeit der menschlichen Würde, gebracht werden? Universal ist das, was zu jeder Zeit, an jedem Ort und für alle gilt.23 Im Gegensatz zur gestaltbaren Würde beruht die Wesenswürde auf einem Verständnis vom Wesen beziehungsweise der Natur des Menschen. Fragen nach dem Wesen einer Sache sowie Behauptungen mit universalem Anspruch haben gegenwärtig einen schweren Stand. Die Wesensfrage wird vermieden oder hinsichtlich ihres Sinnes selbst infrage gestellt und der Universalismus als ungerechtfertigte Verabsolutierung abgelehnt. Doch wie lässt sich vor diesem Hintergrund der Anspruch auf die Unverletzbarkeit der Menschenwürde verstehen? Wie gezeigt, scheint sich mit der Theorie Arendts eher die Verletzbarkeit der Würde sowie ihre Abhängigkeit von politischen Räumen aufzeigen zu lassen. Ich möchte im Folgenden versuchen, mit Arendt eine Begründung für die Unantastbarkeit der Würde vorzustellen. Sollte es so etwas wie eine Unantastbarkeit, Unverfügbarkeit beziehungsweise Unveräußerbarkeit der menschlichen Würde nicht geben, müsste Franz Josef Wetz wohl recht behalten, der in der Menschenwürde eine bloße Illusion sieht, wenn sie nicht jenseits aller so genannter Letztbegründungen als ethischer Gestaltungsauftrag verstanden werde.24 Nur wenn die Würde als Praxis des Respektierens25 und der gegenseitigen Achtung konkretisiert werde, sei sie mehr als eine »willkürlich auslegbare Leerformel«, die dazu benutzt werde, »ihre Argumentationsgegner mundtot und sprachlos zu machen«26, so Wetz. Eine Begründung für die menschliche Würde ist bei Arendt in ihrem Theorem des »Wer-einer-ist« gegeben. Wie bereits erwähnt, offenbart sich das Wer den Anderen im Sprechen und Handeln und bezeichnet die Einmaligkeit eines Menschen, aus der sich die Würde begründet. Das Wer eines Menschen unterscheidet Arendt vom Was dadurch, dass es nicht auf Eigenschaften einer Person, den Charakter oder Äußerlichkeiten reduziert werden kann. „Im Unterschied zu dem, was einer ist, im Unterschied zu den Eigenschaften, Gaben,

23 24 25 26

übernehmen.“ Arendt, H. (1940): Zur Minderheitenfrage, Hannah ArendtZentrum, Cont. 79.13. Ohne die Übernahme der moralischen und politischen Verantwortung kann folglich auch die Würde keinen Bestand haben. Vgl. Tönnies, S. (2001): Der westliche Universalismus. Die Denkwelt der Menschenrechte, 3. Aufl., Wiesbaden, S. 15. Wetz, F. J. (2005) a. a. O., S. 233-244. Margalit, A. (1999) a. a. O., S. 100. Wetz, F. J. (2005) a. a. O., S. 12 f.

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Talenten, Defekten, die wir besitzen und daher so weit zum mindesten in der Hand und unter Kontrolle haben, daß es uns freisteht, sie zu zeigen oder zu verbergen, ist das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun.“27 Das Wer-jemand-ist entzieht sich der Sagbarkeit und Beschreibbarkeit. Immer dann, wenn der Versuch unternommen wird, etwas über den Anderen zu sagen, fällt die Beschreibung auf dieses Etwas, also auf Eigenheiten oder Verhaltensweisen der Person, zurück, ohne wirklich das Personale einer Person zum Ausdruck bringen zu können. „Es stellt sich heraus, daß die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt, so daß wir schließlich nur Charaktertypen hingestellt haben, die alles andere sind als Personen […].“28 Der Arendtsche Personbegriff bezeichnet keine formale Konstruktion, nach der einer Person die Trägerschaft bestimmter Rechte und Pflichten zuerkannt wird, sondern das je einzigartige Wesen eines Menschen. »Wesen« meint bei Arendt nicht eine so oder anders bestimmbare Natur des Menschen, sondern – zumindest im Hinblick auf die Person und ihr Erscheinen in der Welt – das, was den Grund seiner inneren Möglichkeit, seiner Seinsweise, in sich selbst trägt. Die »Möglichkeit«, jemand zu sein, ist aber keine dem Menschen verfügbare Potentialität, seine Essenz oder ein anderes »Was«, das nun einen allgemeinen Begriff vom Menschen erlauben würde. Zum Wesen des Menschen gehört paradoxerweise, dass „jedes seiner Glieder in seiner Art einzigartig ist“29. Daher kann nur der Einzelne selbst über sich und sein Befinden in der Welt Auskunft geben. Im Hinblick auf die Einzigartigkeit kann Arendt zu Recht sagen, dass es so scheint, als habe es vor der Geburt eines neuen Menschen niemanden gegeben.30 Obwohl der Einzelne sich im Sprechen und Handeln mitteilt und somit erscheint, rückt sein Wer dadurch nicht in die Verfügbarkeit seines oder eines Anderen Tuns. Das Wereiner-ist offenbart sich selbst den Anderen. Alle Versuche, dieses Erscheinen des Wer unter Kontrolle zu bringen, um beispielsweise »so zu sein wie jemand anderes«, bleiben oberflächlich oder sind zum Scheitern verurteilt. Ebenso findet eine jede Einwirkung durch Andere am Jemand-sein einer Person ihre Begrenzung, denn alle Formen des menschlichen Wirkens sind wesensmäßig verschieden vom menschlichen Wesen, das eine Pluralität der Wesen ist, welche ihre Weise zu sein aus sich selbst heraus begründen. Gewalttätigkeit kann beispielsweise nur verhindern, dass sich ein Mensch als der, der er ist, zeigen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Gewalt generell durch die Unkenntnis von der Personhaftigkeit des Anderen provoziert würde, viel27 28 29 30

Arendt, H. (2003a) a. a. O., S. 219. Ebd., S. 222 f. Ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 217. 333

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mehr scheint sich der Wunsch, jemanden zu misshandeln, erst an der Tatsache, dass der Andere eine Person ist und nicht einfach ein bloßer Gegenstand, zu entzünden.31 Die Einzigartigkeit einer Person, die sich in Stimme, Antlitz und Gesten unverwechselbar äußert, kann nur dem Anderen als solche erscheinen. Die Würde manifestiert sich darin, dass die Anderen dieses Erscheinen zulassen und nicht verhindern. Der Grund der Würde ist aber nicht das Erscheinen selbst. Mit dem Erscheinen wird vielmehr deutlich, dass dem menschlichen Zugriff im Hinblick auf die Person etwas grundsätzlich entzogen ist. Das, was sich dem Erscheinen entzieht, ist aber nicht einfach nur der bloße Gegensatz zum Erscheinen – also das Nicht-Erscheinen – sondern der seinsmäßige Grund, der sowohl das Erscheinen als auch die Verborgenheit der Person verstattet. Dass das Wer-jemand-jeweilig-ist der Selbstkontrolle sowie dem Zugriff der Anderen entzogen ist, wird im Prozess der Enthüllung der Person offenbar. In diesem Sinne hängen »Enthüllung« des und das »sich Versagen« der Sprache am Wer aufs Engste miteinander zusammen. Handeln und Sprechen würden ohne die unwillkürliche Mitteilung der Person zu bloßen gegenstandsbezogenen Leistungen degradiert, die gleich dem Herstellen nach der Zweck-Mittel Rationalität ausgeführt werden könnten.32 Zumindest eine gewisse Greif- und Handhabbarkeit kann dem Wesen einer Person jedoch durch die Erzählung der Lebensgeschichte verliehen werden. Das Hervortreten der Wesentlichkeit setzt aber einerseits den Tod der Person voraus, über die eine Geschichte erzählt werden soll und andererseits den Erzähler selbst, der der Lebensgeschichte eine Bedeutung zumessen muss. Erst wenn das Leben eines Menschen an ein Ende gekommen ist, hört auch die Unverfügbarkeit des Wer auf, fortzuwirken. Mit dem Tod entzieht sich der Einzelne den Folgen seines Handelns, welche aufgrund des Mitwirkens Anderer einen unvorhergesehenen Lauf hätten nehmen können. Die Lebensgeschichte ist abgeschlossen und kann, wenn sie aufgezeichnet wird, zu etwas Dinghaftem werden. „Das Wesen einer Person – nicht die Natur des Menschen überhaupt (die es für uns jedenfalls nicht gibt) und auch nicht die Endsumme individueller Vorzüge und Nachteile, sondern das Wesen dessen, wer einer ist – kann überhaupt erst entstehen und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Geschichte.“33 31 Vgl. Arendt, H. (2007) S. 58 f. Dies widerspricht nicht dem oben erwähnten Beispiel vom Handeln der Soldaten, welches das gewaltsame Handeln gegen die Feinde natürlich einschließt. Im Krieg ist es nicht die bloße Gewalttätigkeit, sondern das sich Auszeichnen vor Anderen, das die Möglichkeit für die Entstehung eines Erscheinungsraums bietet. Gewalt per se kann jedoch nichts zur Konstituierung einer Person beitragen. Selbst die Charakterisierung eines „Kriminellen“ beziehungsweise „Kriegshelden“ setzt die Anderen voraus, die gewaltsames Handeln so oder anders bewerten. 32 Vgl. Arendt, H. (2003a) a. a. O., S. 221. 33 Ebd., S. 242. 334

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Dafür, dass der Erzähler die Wesentlichkeit eines Menschen so benennt, wie jener sie nach seinem Tod zu hinterlassen wünschte, kann es keine Garantie geben. Wenn es jedoch in der Absicht des Handelnden liegt, sich in der Erinnerung der Anderen durch eine Tat einen fortdauernden Platz zu sichern, „so muß er in der Tat, wie Achill, ein kurzes Leben und einen frühen Tod wählen.“34 Nur so kann die Tat, in deren Lichte jemand dauerhaft erinnert werden wollte, gewissermaßen für sich stehen, ohne durch weitere Handlungen noch einmal verfälscht und relativiert zu werden. Gegen eine Begründung der menschlichen Würde im »Wer-einer-ist« ließe sich nun zunächst die Frage einwenden, warum diese sperrige Formulierung beispielsweise dem Begriff »Individuum« vorzuziehen sei, der doch gewöhnlich gewählt wird, um die Einzigartigkeit von Personen zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff »Individuum« bezeichnet die »Unteilbarkeit«, also Einzigartigkeit, gemäß seiner etymologischen Herkunft ja selbst. Ein Eintrag im Denktagebuch Arendts gibt hierüber deutliche Auskunft: „Denkt man erst einmal das Handeln in den Mittel-Zweck-Kategorien und die politische Grundsituation in der Kategorie von Teil – Ganzem (Individuum – Gesellschaft etc.), so kann man gar nicht mehr vermeiden, einen Menschen als Mittel zu benutzen und ihn als Teil einem Ganzen aufzuopfern.“35 Der Begriff des Individuums hat in der Entgegensetzung zum Begriff der Gesellschaft seine Prägung erfahren und bezeichnet eine bestimmte »politische Grundsituation«, die Arendt als Voraussetzung für ihren Begriff des Politischen zu vermeiden sucht. Das Entstehen der Gesellschaft schildert Arendt als eine Verwischung der Grenzen von privatem und öffentlichem Bereich sowie der Bedeutungen, die sie im griechischen und römischen Sinne besessen hatten.36 Arendt kritisiert Thomas von Aquin dafür, dass er das Politische mit dem natürlichen gesellschaftlichen Zusammenleben des Menschen als Gattungswesen identifizierte: „Der Mensch ist von Natur politisch, das heißt gesellschaftlich.“37 Das, was Thomas mit dem Begriff »socialis« umschreibt, habe jedoch gemäß der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Wortes keine »societas generis humani« bezeichnet, sondern „ein Bündnis, in das Menschen miteinander für einen bestimmten Zweck traten, also z. B. um sich die Herrschaft über andere anzueignen oder auch um ein Verbrechen zu begehen“38, so Arendt. In der griechischen Sprache und im griechischen Denken habe das Wort »societas« überhaupt kein Äquivalent. Natürlich war auch den Griechen 34 Ebd. 35 Arendt, H. (2002): Denktagebuch. 1950 bis 1973, Bd. 1., hg. v. Ludz, U.; Nordmann, I., München; Zürich, H. VI, 2, (Eintrag vom September 1951), S. 125. 36 Vgl. Arendt, H. (2003a) a. a. O., S. 47 ff. 37 Zit. nach ebd., S. 34. 38 Ebd. 335

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klar, dass es den Menschen nur in Gesellschaft anderer geben konnte. Sie sahen hierin jedoch laut Arendt kein spezifisch menschliches Merkmal, sondern eines, welches der Mensch mit dem Tier gemein habe.39 Mit der Entstehung der Gesellschaft dringen jene Bedürfnisse, die zuvor im Privaten ihren Platz hatten, in die Öffentlichkeit ein und etablieren sich dort als neue Maßstäbe, mit denen die Beschränkung der staatlichen Gewalt gerechtfertigt werden soll „– ob es sich nun um eine Gesellschaft der Gläubigen handelte wie im Mittelalter, oder eine Gesellschaft von Eigentümern wie bei Locke, oder eine Erwerbsgesellschaft wie bei Hobbes, oder eine Gesellschaft von Produzenten wie bei Marx, oder eine Gesellschaft von jobholders wie in der modernen Gesellschaft der westlichen Länder, oder eine Gesellschaft von Arbeitern wie in sozialistischen oder kommunistischen Ländern.“40 Jedes Mal, so Arendt, erschien das Individuum mit seinen Ansprüchen in der Entgegensetzung zum Politischen, das, in Verkehrung der antiken Verhältnisse, mit Zwang und Gewalt identifiziert wurde. Diese Ansprüche seien gemäß den Vorstellungen davon, wie eine Gesellschaft zu sein habe, immer wieder umformuliert worden. Grundlegend ist ihnen aber zueigen, dass sie im Sinne des Fortschrittsgedankens einen »Glauben an die Zukunft« entfalten, der sich repressiv gegen alles Neue richtet, das dem gesetzlichen Ablauf der Geschichte nicht zu gehorchen scheint. Dieses Neue aber ist der Mensch selbst. Die Pluralität der Menschen gerät so in den eklatantesten Widerspruch zum Begriff des Menschen als Gattungswesen. „Fortschritt als das Grundgesetz der Geschichte ist undenkbar, wenn man ihm nicht die Vorstellung der Menschengattung, verkörpert in dem Begriff des Menschen als eines Gattungswesens, zugrunde legt.“41 Den Widerspruch zwischen der menschlichen Pluralität, also der absoluten Verschiedenheit eines jeden vom Anderen, und der Beschreibung als Gattungswesen, sieht Arendt bereits bei Kant angelegt. „Das Schöne ist, in Kants Worten, ein Zweck an sich selbst, weil all sein möglicher Sinn in ihm selbst enthalten ist […]. Bei Kant selbst aber gibt es den folgenden Widerspruch: Unendlicher Fortschritt ist das Gesetz der Menschengattung; gleichzeitig verlangt die Würde des Menschen, daß der Mensch (jeder einzelne von uns) in seiner Besonderheit gesehen und als solcher – ohne Vergleichsmaßstab und zeitunabhängig – als die Menschheit im allgemeinen widerspiegelnd betrachtet werde. Mit anderen Worten: Gerade die Idee des Fortschritts – wenn es sich dabei um mehr handelt als einen Wandel von Umständen und eine Verbesserung der Welt – widerspricht Kants Vorstellung von der Würde des Menschen. Es ist gegen die menschliche Würde, an den Forstschritt zu glauben.“42 Die Kri39 40 41 42

Vgl. ebd. Ebd., S. 41. Arendt, H. (2003d): Macht und Gewalt, 15. Aufl., München; Zürich, S. 30. Arendt, H. (1998): Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. v. Beiner, R., München; Zürich, S. 102.

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tik an der Tradition des politischen Denkens richtet sich also gegen die Behauptung eines Fortschritts der Menschengattung in moralisch-politischen Verhältnissen, wobei natürlich nicht außer Acht gelassen werden darf, dass das Verhängnis dieser Behauptung erst vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts faktisch offenbar wurde. Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle kurz darauf eingehen, inwiefern ein Verständnis der Menschenwürde im Sinne Arendts an das Kantische Verständnis der Würde anknüpfen kann. Zunächst zeigen sich hier einige Parallelen. Sowohl die Kantische »Selbstzweckformel«, nach der ein Mensch immer als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt werden darf,43 als auch das Erscheinen der Person im öffentlichen Raum bei Arendt schließen aus, dass der Andere als Objekt behandelt werde. Die Kantische Formel lautet vollständig: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“44 Sie steht bei Kant in enger Verbindung zum Begriff der Würde. Kant unterscheidet zwischen Sachen und Personen sowie zwischen relativem und absolutem Wert. Der Person kommt ein absoluter Wert zu, weil sie keinen Preis hat. Denn, „[w]as einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“45 Sowohl bei Kant als auch bei Arendt ist die Einzigartigkeit ein Absolutum, im Sinne eines absoluten Werts, beziehungsweise der absoluten Verschiedenheit eines jeden vom Anderen. Warum aber darf der Mensch gemäß der Selbstzweckformel nicht als Mittel gebraucht beziehungsweise instrumentalisiert werden? Geachtet werden soll nach Kant die Menschheit in der Person des Anderen. »Menschheit« meint hier jedoch nicht die Gattung als Summe aller Individuen, sondern das wesentliche Charakteristikum des Menschseins, also das, was den Menschen zum Menschen macht. Dieses Charakteristikum ist laut Kant die »Autonomie« des Menschen. „Autonomie ist […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“46 Die Autonomie als das Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, verlangt, dass der Mensch nicht nur als Mittel für die Zwecke Anderer benutzt werde. Die Autonomie ist bei Kant ihrerseits begründet in „der Vernunftfähigkeit, durch die der Mensch allgemeine Gesetze denken kann, einen durch Vernunft bestimmbaren freien Willen, der sich Gesetze unabhängig von naturkausaler Determination durch Triebe geben kann [sowie] einer ‚Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), […] das moralische Ge43 Vgl. Kant, I. (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Berlin, S. 429. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 434. 46 Ebd., S. 436. 337

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fühl‘.“47 Der letzte Punkt, die Empfänglichkeit für das moralische Gefühl, verweist darauf, dass die menschliche Würde bei Kant nicht allein auf der Vernunftfähigkeit beruht, sondern auf »einer Relation zwischen den beiden Grundvermögen der Sinnlichkeit und der Vernunft«.48 Die Würde entspringt der Einsicht in das moralische Gesetz und dem moralischen Gefühl der Achtung. Im Sinne Kants hat die Würde einerseits zwar keinen »Preis«, ist andererseits aber an das Kriterium der Moralität geknüpft und kann laut Károly Kókai daher auch entzogen werden.49 Daher scheint der Kantische Würdebegriff neueren Vorstellungen von menschlicher Würde eher zu widersprechen, die in der Würde ein bedingungslos allen Menschen zukommendes Gut sehen, das selbst jeder moralischen Beurteilung enthoben ist. Unmoralische Menschen, Kriminelle, geistig Behinderte oder Tote haben menschliche Würde. Bezüglich des Würdebegriffs Kants besteht die Schwierigkeit darin, diesen unabhängig von Vernunftbedingungen für den Einzelnen zu begründen. Auf eine positive Weise wird die menschliche Würde dort geachtet, wo sie mehr beinhaltet, als die formal-rechtlichen Bestimmungen zu ihrem Schutz in Fällen von Missachtung, Demütigung oder gar Folter zu leisten vermögen. Damit soll die rechtliche Dimension der Frage nach einer Garantie der Menschenwürde keineswegs hintangestellt werden. Diese Frage kann im Bereich des Rechts aber nur im Hinblick auf den Schutz der Würde beantwortet werden, welcher seinerseits durch die Anwendung entsprechender Gesetze gesichert wird. Für die rechtliche Anerkennung des Einzelnen als Rechtssubjekt ist es irrelevant, ob der Einzelne die menschliche Würde tatsächlich erfährt und von Anderen so geachtet wird, dass er seine Selbstachtung darauf gründen kann. Erst dann, wenn die Entwürdigung eines Menschen gleichzeitig auch eine Rechtsverletzung beinhaltet, stellt sich die Frage nach dem Schutz der Würde. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Verletzung von Menschenrechten oder Grundrechten nicht per se schon eine Entwürdigung impliziert, weil nur die Betroffenen selbst darüber Auskunft geben können, ob sie eine Rechtsverletzung tatsächlich auch als Entwürdigung empfunden haben. Streng genommen kann folglich nur ein Recht verletzt werden, nicht aber die Würde selbst.50 In diesem Sinne ist Vorsicht geboten, wenn in der öffentlichen Debatte allzu schnell von »Verletzungen der Menschenwürde« die Rede ist, denn jeder Verweis auf eine solche Verletzung gesteht zugleich ein, dass 47 Mohr, G. (2007): Ein „Wert, der keinen Preis hat“ – Philosophiegeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte. In: Sandkühler, H. J. (Hg.): Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, Frankfurt/M., S. 19. 48 Vgl. ebd., S. 20. 49 Vgl. Kókai, K. (2001): Von der Menschenwürde. In: Gerhardt, V.; Horstmann, R. P.; Schumacher, R. (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. III, Berlin; New York, S. 265. 50 Vgl. Menke, C.; Pollmann, A. (2007) a. a. O., S. 144. 338

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die Würde in der behaupteten Weise verletzbar sei. Die »Errungenschaften« der modernen Biotechnik bergen in sich beispielsweise die Gefahr einer Entwürdigung des Menschen, das heißt, einer Trennung des Menschen von der ihm innewohnenden Würde. Aus der Nichtbestätigung der Würde folgt aber nicht, dass dadurch der Grund der Würde, also die Pluralität der Menschen als die absolute Verschiedenheit eines jeden vom Anderen, selbst angetastet werden könnte. Pluralität kann nicht erzeugt oder hergestellt werden; sie wird vielmehr durch die Geburt neuer Menschen und durch deren fortwährendes Handeln und Sprechen bestätigt. Anders als das Grundrecht auf Schutz der Würde oder die Anerkennung der politischen Zugehörigkeit erfolgt die positive Bestätigung der Würde nicht in einem einmaligen Akt, sondern muss immer wieder aufs Neue errungen werden.

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Der Sinn von Politischer Bildung ist Freiheit. Politikdidaktische Annäherungen an Hannah Arendt DIRK LANGE UND SVEN RÖSSLER „[…] meine Annahme ist, daß das Denken aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung erwächst und an sie als die einzigen Wegweiser, mit deren Hilfe man sich orientiert, gebunden bleiben muß.“ Hannah Arendt1

Politische Bildung zielt auf die Verbesserung der politischen Orientierungsund Handlungsfähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger. Sie betont die Kompetenz zur politischen Selbstbestimmung und begreift Autonomie und Mündigkeit des demokratischen Souveräns als Ausgangspunkt und als Orientierung des Bildungsprozesses. Politische Bildung zielt nicht einfach auf den Erhalt des demokratischen Status Quo, sondern auf die Bildung urteils- und handlungskompetenter Bürgerinnen und Bürger, die sich ein politisches System so schaffen, so verändern und so erhalten können, dass es ihnen politische Selbstbestimmung ermöglicht. Der Gegenstand der Didaktik der Politischen Bildung ist das »Bürgerbewusstsein«2. Im Bürgerbewusstsein bildet der Einzelne den Sinn, der es ihm ermöglicht, die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen. Im Bürgerbewusstsein erweitern und erneuern sich die Inhalte und Strukturen der subjektiven Vorstellungen über Politik und Ge1

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Arendt, H. (2000a): Vorwort. Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 18. Vgl. zum Begriff des Bürgerbewusstseins und zum Folgenden: Lange, D. (2008a): Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), 57. Jg., H. 3, S. 431439. 341

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sellschaft. In der Politischen Bildung interessieren die Sinnbilder und Sinnbildungen, durch die sich Lernende die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit erklären. Dieser subjektive Sinn ermöglicht ihnen das politische Sehen, das politische Urteilen und das politische Handeln. Die Inhaltskonzepte und Sinnbildungskompetenzen der Lernenden sind die Ausgangs- und Endpunkte der Politischen Bildung. Sie wandeln sich im Lernprozess. Dieser Umstand macht es notwendig, die fachlichen Modellierungen des Bürgerbewusstseins in der Politischen Bildung zu reflektieren. In der klassischen Politischen Bildung wurden die »Bürgerinnen und Bürger« in einem engeren Sinne als Staatsbürger begriffen. Das hatte eine inhaltliche Konzentration auf die Institutionen und Prozesse des Staates zur Folge. In der modernen Gesellschaft kann das Politische aber nicht mehr mit dem Staat gleich gesetzt werden. Der Diskurs und die Regelung öffentlicher Belange sind zu einer Funktion der Zivilgesellschaft geworden. Der historische Wandel von Staatlichkeit hat für die Politische Bildung zur Folge, dass sie die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr nur in ihrem Verhältnis zum Staat bilden kann. Sie muss die Lernenden als Akteure der Zivilgesellschaft begreifen, welche auch im vor- und außerstaatlichen Raum über die notwendigen Orientierungen und Partizipationskompetenzen verfügen. Das Bürgerbewusstsein bezeichnet die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit. Es dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und produziert den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen. Die Sinnbildungen des Bürgerbewusstseins sind so didaktisch relevant, da sie Lernprozesse beeinflussen und sich in Lernprozessen verändern. Der Wandel des Bürgerbewusstseins ist nicht nur ein unterrichtlich induzierter Vorgang, sondern ein Bestandteil des politischen Alltags der Lernenden. Didaktisch relevant sind nicht nur Fragen des Transfers von wissenschaftlicher in lebensweltliche Erkenntnis, sondern auch die lebensweltlichen Sinnbildungen des Bürgerbewusstseins. Das Bürgerbewusstsein gibt einerseits Schemata vor, durch welche die wahrgenommene Wirklichkeit eingeordnet und reflektiert wird. Andererseits stellt es eine Struktur zur Verfügung, durch die geplant in die Wirklichkeit eingegriffen werden kann. Der Mensch benötigt und benutzt die Modellbildungen, um die Welt zu erklären und zu verändern. Das Bürgerbewusstsein ist der mentale Bereich, den die Politische Bildung aktivieren muss, um mündige Bürgerinnen und Bürger zu bilden. Sofern auch heute noch gelten muss, dass jede Debatte über Erziehungsideale „[…] nichtig und gleichgültig [ist] diesem einen gegenüber, daß

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Auschwitz nicht sich wiederhole“3, sieht sich die Politische Bildung vor die Frage gestellt, wie sie zu diesem kategorischen Imperativ der Politischen ‚Erziehung nach Auschwitz‘ steht. Von Arendts Theoriebildung sind insbesondere Impulse für die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Genozid im Besonderen und der totalen Herrschaft im Allgemeinen zu erwarten. Welche Anregungen erhält die Politische Bildung für die Reflexion und Entwicklung von Bürgerbewusstsein als subjektiver Faktor der politischen Kultur im Angesicht der Krise der Moderne?

I.

Was die Politische Bildung von Arendt lernen kann

In ihrem Aufsatz über Politische Bildung nach Arendt4 gibt Eva Cendon einen Überblick über die wesentlichen Bezüge sowohl auf der Ebene der Theoriebildung als auch auf der Ebene der Praxis von Politischer Bildung, die sich aus einer vertiefenden Auseinandersetzung mit Hannah Arendt ergeben können. Sie folgt darin drei verschränkten »Linien«: Die der Person Arendt, mit ihren lebensgeschichtlichen Anstößen, die der auf die Welt gerichteten Haltung Arendts, die sich nach der Erfahrung des Traditionsbruches in ihrer Denkungsart5 ausdrückt, sich qua Einbildungskraft darin zu üben, „an der Stelle

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Adorno, T. W. (1977): Erziehung nach Auschwitz. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, R., Frankfurt/M., Bd. 10.2, S. 674-690, Zitat: S. 674. Cendon, E. (2000): Denken ohne Geländer. Politische Bildung nach Arendt. In: Lenz, W.: Brücken ins Morgen. Bildung im Übergang, Innsbruck, S. 13-32. Das Arendtsche Denken ist im Ich will verstehen als Politikberatung denkbar ungeeignet. Die Literarizität ihres Essayismus, dessen Ästhetik bereits bestimmtes inhaltliches Urteil gegen einen neuzeitlichen Vernunftoptimismus ist, der die menschlichen Angelegenheiten analog zur Natur Gesetzmäßigkeiten unterwerfen will, sperrt sich jedem Schematismus. In den von ihr zitierten Worten Heideggers, bei dem sie studierte, mit dem sie eine Liebe verband und dessen in seiner Philosophie zumindest angelegten Weltbezug sie unabhängig von ihrer scharfen Kritik seines politischen Versagens, als er kurzzeitig glaubte, den Nihilismus der Nationalsozialisten zur Erneuerung der universitas nach dem Vorbild der platonischen Akademie als Rektor verwerten zu können, anerkannte und weiterdachte: „Wir haben die Anmaßung alles Unbedingten hinter uns gelassen.“ Arendt, H. (2008): Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought. In: Grunenberg, A. u. a. (Hg.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt/M., S. 11-30, Zitat: S. 14. Zum ambivalenten Verhältnis von Arendt zu Heidegger vgl. Grunenberg, A. (2006): Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München. Zur theoretischen Bedeutung von Heidegger und Jaspers für Arendts Begriffe von »Welt« und »Freiheit« siehe Potêpa, M. (1995): Zum Begriff der ‚Politischen Bildung‘ bei Karl Jaspers, Hannah Arendt und Martin Heidegger. In: Sa343

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jedes anderen zu denken“6, sowie die des Werkes Arendts, in der exemplarischen Behandlung der Begriffe Handeln, Freiheit und Macht.7 Im Folgenden soll nun skizzenhaft, ebenfalls anhand von Aspekten zu Person, Haltung und Werk, die abschließende Konfrontation des Konzeptes eines »Bürgerbewusstseins« mit Positionen Arendts vorbereitet werden. Arendts Themen sind Lebensthemen im doppelten Sinn: Von Kontinuität, die in der Frage von Möglichkeitsbedingungen politischer Freiheit liegt, wie in der selbstkritischen Befragung einmal eingenommener Positionen vor dem Hintergrund der vom Leben gestifteten Erfahrungen. Arendts Krise ist die Erfahrung des Scheiterns jüdischer Assimilation und des aufkommenden Nationalsozialismus, die sich in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft8 in der Analyse von Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus, als politisch neuer Herrschaftsform, artikulieren wird. Für die unpolitische, aber intellektuell herausragende, aufgrund ihres Scharfsinns unter Kommilitonen gefürchtete Studentin, die zunächst eine philosophische Attitüde ostentativer Weltabgewandtheit übernimmt9, „[…] extrem naiv und recht weltfremd […]“10, rückt

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lamun, K. (Hg.). Philosophie – Erziehung – Universität. Zu Karl Jaspers’ Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Frankfurt/M. u. a., S. 93-109. Vgl. § 40. Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis, in: Kant, I. (1983): Kritik der Urteilskraft. Werke, hg. v. Weischedel, W., Frankfurt/M, Bd. 10, S. 224ff. „Die Kritik der Urteilskraft handelt von reflektierenden Urteilen im Unterschied zu den bestimmenden. Bestimmende Urteile subsumieren das Besondere unter einer allgemeinen Regel; reflektierende »gewinnen« demgegenüber die Regel aus dem Besonderen.“ Arendt, H. (1998a): Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. v. Beiner, R., München, S. 109. Vgl. zum Stellenwert der politischen Aneignung der bei Kant ästhetisch ausgelegten Urteilskraft bei Arendt Meints, W. (2008): Die gleichberechtigten Anderen und die »erweiterte Denkungsart«. Hannah Arendts Abschied von der traditionellen Philosophie. In: Grunenberg, A. u. a. (Hg.): Perspektiven politischen Denkens, Frankfurt/M., S. 71-92. Cendon schließt mit einer Passage Anregungen für politische Bildung, in welcher sie u. a. auf Grammes verweist, der bezogen auf das Kontroversitätsgebot ebenfalls mit Arendt argumentiert. Grammes, T. (1999): Art. „Kontroversität“. In: Sander, W. (Hg.): Handbuch politische Bildung, 2. Aufl., Schwalbach/Taunus, S. 80-94. In der völlig überarbeiteten dritten Auflage des Handbuchs von 2005 fehlt jedoch dort bezeichnenderweise jeder Hinweis auf Arendt, vgl. Grammes, T. (2005): Art „Kontroversität“. In: Sander, W. (Hg.): Handbuch politische Bildung, 3. Aufl., Schwalbach/Taunus, S. 126-145. Vgl. Arendt, H. (2000b): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 7. Aufl., München. Im Juli 1963 entgegnet Arendt auf Gerhard Scholem: „Ich gehöre nicht zu den »Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind«. […] Ich habe Marx’ Bedeutung erst sehr spät erkannt, weil ich mich in der Jugend weder für Geschichte noch für Politik interessierte. Wenn ich überhaupt aus etwas »hervorgegangen« bin, so aus der deutschen Philosophie.“ Arendt, H. (1998b): Brief an Gerhard Scholem [New York, 20.07.1963]. In: Arendt, H.: Ich will ver-

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die politische Welt, nachdem sie zum persönlichen Problem geworden ist, bald ins Zentrum einer im Laufe ihrer Auseinandersetzung zunehmend rettenden Kritik.11 Aus einem assimilierten, sozialdemokratischen Elternhaus in Königsberg stammend und wenn, nur über den Antisemitismus auf ihr »Jüdin-sein« verwiesen, hört Arendt 1926 zufällig Kurt Blumenfeld auf einer Versammlung des zionistischen Studentenvereins sprechen. Dessen Eintreten für einen postassimilatorischen Zionismus verhilft ihr in den dreißiger Jahren zu politischen Einsichten, an denen eine prägende Lektion ihrer Mutter anschließen kann: „Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren!“12

stehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. Ludz, U., 3. Aufl., München, S. 29-36, Zitat: S. 29. 10 Young-Bruehl, E. (2004): Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/M., S. 86. 11 „Arendt: […] Daß die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitte schön, nicht Hitlers Machtergreifung, um das zu wissen! […] Das Problem, das persönliche Problem, war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten.“ Arendt, H. (1998c): Fernsehgespräch mit Günter Gaus [1964]. In: Arendt, H.: Ich will verstehen, hg. v. Ludz, U., 3. Aufl., München, S. 44-70, Zitat: S. 55 f. 12 „[…] Ich gelangte zu einer Erkenntnis, die ich damals immer wieder in einem Satz ausgedrückt habe, darauf besinne ich mich: »Wenn man als Jude angegriffen ist, muß man sich als Jude verteidigen.« Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so. Sondern: Was kann ich ganz konkret als Jude machen?“ Arendt, H. (1998c) a. a. O., S. 52, 57. Arendt ist nie Zionistin, sie arbeitet aber für verschiedene zionistische Organisationen, mit Blumenfeld verbindet sie mittlerweile eine tiefe Freundschaft. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten leistet sie Fluchthilfe und sammelt für die zionistische Öffentlichkeitsarbeit im Ausland Belege alltäglichen Antisemitismus, wird wegen ihrer Tätigkeit 1933 in Gestapohaft genommen und kann über Paris, wo sie unter anderem als Sozialarbeiterin junge Emigranten auf eine Ausreise nach Palästina vorbereitet, mit ihrem zweiten Mann, dem ehemaligen Kommunisten Heinrich Blücher, 1941 in die USA emigrieren. Im deutschsprachigen Flüchtlingsmagazin Der Aufbau erhält sie eine Kolumne, in der sie wiederholt aus einer Minderheitenposition gegen die Notabelnpolitik des europäischen Judentums wie »patriotische« Unsichtbarkeit aus Angst vor Antisemitismus des nordamerikanischen, für eine eigenständige jüdische Armee, die Subjektwerdung des jüdischen Volkes, im politischen, nicht rassischen Sinn, nicht seiner Stellvertreter, im Kampf gegen Nazideutschland eintritt. Auch ihr heute weitsichtig erscheinendes Votum für eine gleichberechtigte arabisch-jüdische Föderation unter europäischer Anbindung, bleibt bei der Staatsgründung Israels ungehört. Arendt steht zeitlebens im kritischen, aber solidarischen Dialog mit »jüdischer« Politik [Vgl. u. a. die Essaysammlung Arendt, H. (2000c): Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/M.] und pflegt, wenngleich die mehrjährige und Kampagnencharakter annehmende Debatte ihrer Berichterstattung über den Eichmannprozess eine Belastungsprobe ist, die manche Beziehungen nicht überstehen, einen regen Austausch mit ihren Akteuren. 345

DIRK LANGE UND SVEN RÖSSLER

Das politische Denken Arendts ist nicht selbstverständlich. Motive wie das »Wer einer ist« (und das »Was einer ist«), das »Zwischen«, die »Welt« oder ein sehr spezifischer Begriff des »Politischen« erschließen sich nicht unmittelbar. Arendt selbst nannte ihre »Methode« »Perlenfischerei«13, die Suche nach den Schätzen einer verborgenen Tradition14, die unter der in der Geschichte wirksam gewordenen Auffassung von Politik, im Sinne des Machtbegriffes Max Webers, als „[…] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“15, einer Auffassung des Politikmachens, nur noch ereignishaft wieder in Erscheinung getreten sind. Das »Zwischen«, das zugleich trennt und verbindet, ist die sich im »Interesse«, »Anteil nehmen«, »dazwischen«, »beteiligt« sein16, widerspiegelnde, für die Einzelnen unverfügbare und doch durch sie konstituierte gemeinsame Welt, die nur im Modus der Pluralität der Menschen als Menschenwelt gegenüber der reinen Erd-Physis erschaffen werden kann. Will man in Arendts »Denken ohne Geländer«17 nach den Traditionsbrüchen der Neuzeit, die im nationalsozialistischen Genozid ihren vorläufigen Höhepunkt finden, Orientierungspunkte ausmachen, stößt man auf Ordnung stiftende Begriffsreihen, die den Rahmen ihrer Überlegungen abstecken, ohne in klassische Dualismen zu verfallen.18 13 Vgl. Young-Bruehl, E. (2004) a. a. O., S. 151; siehe auch, auf Walter Benjamin bezogen, Arendt, H. (2001): Walter Benjamin. In: Arendt, H.: Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ludz, U., München, S. 179-236, hier: S. 236. 14 So der Titel eines Essays der 1976 erweiterten gleichnamigen Sammlung, die unter Sechs Essay bereits 1948 erschien und in dem Arendt in der Figur des Paria das in der Assimilation verloren gegangene Vermächtnis des europäischen Judentums nachzeichnet. Sie endet mit der Unmöglichkeit einer solchen Unabhängigkeit unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts und schließt mit der Forderung nach einer politischen Subjektwerdung des Judentums, implizit nach einer Staatsgründung, vgl. Arendt, H. (2000d): Die verborgene Tradition. In Arendt, H. (2000c) a. a. O., S. 50-79, Zitat: S. 79. Für Arendt ist die Notwendigkeit einer jüdischen Staatsgründung aus der Erfahrung massenhafter Staatenlosigkeit, politischer und sozialer Rechtlosigkeit, durch Flucht und Vertreibung erwachsen: Ohne einen institutionellen Garanten, der das »Recht, Rechte zu haben« konkret durchsetzen kann, bleiben »Menschenrechte« abstrakt und unwirksam, vgl. Arendt, H. (2000b) a. a. O., S. 614. 15 Weber, M. (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen, S. 28. 16 Vgl. Art. »Interesse«. In: Kluge, F. (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Seebold, E., 24. Aufl., Berlin; New York, S. 444. 17 Vgl. Arendt, H. (2000e): Tradition und die Neuzeit. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 23-53, Zitat: S. 37. 18 „Mit nur wenigen Ausnahmen handelte es sich dabei um Trypticha: Herstellen, Arbeiten und Handeln; das Private, das Gesellschaftliche und das Politische; das 346

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Im Arendtschen Werk wird europäische Geschichte als Geschichte des Verlustes eines eigenständigen Begriffes des Politischen erzählt. Ihren Epochen lassen sich dabei paradigmatisch Grund-Tätigkeiten zuordnen, eingebettet in die „[…] allgemeinste Bedingtheit menschlichen Lebens […], daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet“19: Die freien Bürger der Polis repräsentieren das »Handeln«. In der Öffentlichkeit finden sie sich als Gleiche zusammen, handeln politisch frei auf das Gemeinwesen hin – was nicht heißt, dass sie dabei nicht kontroverse Ziele verfolgen, in Auseinandersetzung sich durchsetzen, Niederlagen erleiden und Eitelkeiten befriedigen würden. Gerade das Moment des Lustvollen politischen Handelns, des »öffentlichen Glücks«, stellt Arendt – wie die Leidenschaft aus Inter-esse, dazwischen-sein überhaupt – entschieden einer Auffassung von Bürde und Opfer gegenüber.20 Für sie ist Politik originäres Bedürfnis und unveräußerliches Recht gesehen und gehört zu werden – sich unter Gleichen als Freie auszuzeichnen, zu ex-ponieren, also wörtlich: herausstellen, aus-setzen. »Handeln« ist dabei wechselseitig vermittelt mit einer funktionierenden Öffentlichkeit, zumindest also der Reife eines Gemeinwesens, von sprachloser Gewalt abzusehen und – wichtiger – den ureigensten Angelegenheiten nicht gleichgültig gegenüberzustehen. »Handeln« hat zwar einen Anfang, im unwägbaren Beziehungsgeflecht der Pluralität aber kein bestimm- oder gar kalkulierbares Ende. Wo immer wir wirklich tun, wissen wir nicht, was wir tun.21 – Während »Handeln« nur unter Anderen möglich ist, ist Denken nur für sich allein möglich. In der Hierarchie der Tätigkeiten folgt mit dem »Herstellen« die Transformation von Natur in Kultur, das Sich-Einrichten in einer – auch feindlichen – Um-Welt. Kennzeichen hergestellter Dinge ist Bestand. Ihr Gebrauch schreibt sich ihnen ein, ohne sie aufzubrauchen. Vermittelt über die Welt der Gegenstände, die als Eigentum zu Eigen sind und in handelnder Pluralität mit Anderen, konstituieren sich die Subjekte bei Arendt so in Identität und Differenz. Der Vorgang des »Herstellens« hat einen erkennbaren Anfang und – im Unterschied zum »Handeln« – am Ende ein durch Wiederholung erwartbares Urteilen, das Denken und das Wollen; alles Variationen der zeitlichen Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Young-Bruehl, E. (2004) a. a. O., S. 389. 19 Arendt, H. (2003): Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München, S. 17 f. 20 Vgl. die Figur des »Verfolg des Glücks« aus »Liebe zur Welt«, in: Arendt, H. (1974): Über die Revolution, 2. Aufl., München, insbesondere das gleichnamige Kapitel S. 147-182. 21 Arendt, H. (2000f): Geschichte und Politik in der Neuzeit. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 80-109, Zitat: S. 105. 347

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Resultat. »Herstellen« wird zur idealtypischen Tätigkeit der Neuzeit. Die an deren Anfang stehende wissenschaftliche Revolution erscheint als unbegrenzter, linearer Fortschritt in den universalen Wissenschaften. Bedingtheit des Menschen durch seine Natur schlägt um, in ihre scheinbare Beherrschung im Experiment. Die Kategorien des »um zu« und von Modellhaftigkeit werden nun auch auf die menschlichen Angelegenheiten übertragen, die plötzlich nicht mehr Ereignisgeschichte ausgezeichneter »Täter großer Taten« und herausragender »Sprecher großer Worte« sondern Gattungsgeschichte sind mit bald auch statistischen Kennzahlen.22 Und der Versammlungs- wird zum Marktplatz… »Arbeit« endlich ist nur noch Reproduktion der Gattung und des Individuums, reine Notwendigkeit der biologischen Existenz. Sie hat keinen Anfang und kein Ende, ist bloßer Prozess, ewige Wiederkehr des Immergleichen und kennzeichnend für die Moderne. Während dem »Herstellen« als Transformationsakt schon immer auch ein politikfeindliches Moment der GewaltTätigkeit eigentümlich ist23 – der Baum wächst eben nicht als Tisch –, sieht das »Arbeiten« endgültig vom persönlichen Gestaltungsanspruch als Möglichkeit, durch herausragende Leistung Unsterblichkeit zu erlangen, ab. Wenn nun die Prinzipien der privaten Tätigkeiten über die politische des »Handelns« dominieren, so bedeutet es für Arendt die praktische Zerstörung dessen, wozu der Mensch als zur Politik begabtes Wesen zwar fähig ist, aber dennoch auch immer erst kommen muss. Ohne Öffentlichkeit aber wird auch ihr Gegenteil, das tatsächlich Private, zugleich überflüssig gemacht. Der Rückzug aufs Private (von lateinisch privare, berauben, im vergessenen Sinn von öffentlicher Teilhabe beraubt sein) – mit seiner modernen Entgrenzung und Radikalisierung – ereignet sich bei Arendt als »Weltentfremdung« in (mindestens) drei koinzidenten, aber voneinander unabhängigen Ursprüngen: Erstens als »Erdentfremdung« in den Entdeckungen der Neuzeit (Amerika), der Vermessung der Welt, ihrer plötzlichen Berechen- und Beherrschbarkeit (neue Wissenschaft), einer »Erdschrumpfung«. Zweitens als »Weltentfremdung« im engeren Sinne, als Denkereignis des Zweifels (Descartes), Reaktion auf den Autoritätsverlust (Reformation) und Rückzug auf das Selbst. Drittens schließlich ökonomisch im Modus der Enteignung bei der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsweisen, der Vernichtung der DingWelt des Homo Faber. Im Konsumismus der Arbeits- und Massengesellschaft

22 Vgl. Arendt, H. (2000g): Natur und Geschichte. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 54-79. 23 Vgl. Arendt, H. (2000h): Was ist Autorität? In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 159-200, hier: S. 178. 348

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und ihrer Verbrauchsgüter endlich wird eine sich beschleunigende Vernichtung zum Fundament des Wirtschaftens selbst.24 Im Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus zeigt sich der Weltverlust als ein weiterer, in seiner Radikalität unwiderruflicher Traditionsbruch. Für das Denken Arendts ist seine Erfahrung doppelt konstitutiv: Im Neuen der totalitären Herrschaft selbst und im Bewusstsein, dass – technisch und gesellschaftlich –, was denkbar auch möglich ist. Dabei trübt die Schlüssigkeit der ideologischen Projektionen den »common sense«, „[…] dem wir es verdanken, daß wir Wirklichkeit und Tatsächlichkeit wahrnehmen, verstehen und uns handelnd in ihnen orientieren können.“25 Der gemeine Menschenverstand enträt, wenn die Ideologie die Wirklichkeit überformt, aus Erfahrungslosigkeit zum vermeintlich gesunden Volksempfinden. „Wir leben in einer erscheinenden Welt und müssen uns daher im Umgang mit ihr auf das, was erscheint, verlassen können. Vernunft kann nur gelten, wo diese Verläßlichkeit garantiert ist, und Worte können Geltung nur solange beanspruchen, als nicht der Verdacht besteht, daß sie dazu benutzt werden, etwas zu verbergen. […] Sich vernünftig zu benehmen, wo die Vernunft als Falle gebraucht wird, ist nicht »rational«, so wie es nicht »irrational« ist, in Selbstverteidigung zur Gewalt zu grei26 fen.“

Wie stellt sich nun eine als unvernünftig kritisierbare Wirklichkeit her, in der die Urteilsfähigkeit derart getrübt sein kann? „Wiederholung ist nicht darum ein so wirksamer Bestandteil aller Massenpropaganda, weil die Massen so dumm wären, etwas zu verstehen, oder zu träge, sich an etwas zu erinnern, sondern weil Wiederholung Folgerichtigkeit in der Zeit sichert […]. Was die Massen sich weigern anzuerkennen, ist die Zufälligkeit, die eine Komponente alles Wirklichen bildet. Ideologien kommen dieser Weigerung entgegen, sofern sie alle Tatsachen in Beispiele vorweggenommener Gesetze verwandeln […].“27

24 Vgl. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 321 f. „Weltentfremdung in ihrem doppelten Aspekt: der Flucht von der Erde in das Universum und der Flucht aus der Welt in das Selbstbewusstsein.“ Auch „Enteignung [ist] einer der Modi, in denen sich Weltentfremdung vollzieht.“ Ebd., S. 15; 322. 25 Arendt, H. (1998d): Macht und Gewalt, 13. Aufl., München, S. 12. 26 Ebd., S. 67 [Hervorhebung im Original]. 27 Arendt, H. (2000b) a. a. O., S. 745. Später relativiert sie diese Aussage gegenüber Mary McCarthy etwas: „Den Einfluß von Ideologie auf das Individuum habe ich vielleicht überbewertet“. Arendt, H. (1997): An Mary McCarthy, New York, 20. September 1963. In: Arendt, H.; McCarthy, M.: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975, hg. v. Brightman, C., München, S. 232-235, Zitat: S. 234. Im später verfassten Vorwort von Elemente und Ursprünge schreibt sie: „Es ist ganz offensichtlich, daß weder Informationsmangel noch Gehirnwäsche für die 349

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Als Misstrauen gegenüber der Selbstverständlichkeit in den Erscheinungen des Alltagsverstandes kommt der technisch vermittelten Wahrnehmung der Welt durch Teleskop und Mikroskop ein Anteil am Traditionsverlust zu, genauso, wie sie das Denken nachhaltig beeinflusst. „Es hat Jahrhunderte gedauert, bis diese Weltentfremdung, die in dem Zweifel an der Realität der Außenwelt und dem daraus folgenden Außer-Kurs-Setzen des sogenannten gemeinen Menschenverstandes erst einmal sich nur in der gelehrten Welt fühlbar machte, ein politisch und historisch handgreifliches Phänomen in der gesamten Menschenwelt wurde.“28

In der Vita activa wird dies im Bild vom »archimedischen Punkt« beschrieben, der – außerhalb liegend – die Erde auszuhebeln befähigt, mit dieser zugleich aber auch die auf ihr errichtete Welt der Menschen aus den Fugen gebracht hat. Eine Rückkehr zur alltäglichen Verlässlichkeit in einer selbstverständlichen Welt der Erscheinungen ist politisch so nötig wie historisch unmöglich. Ihre Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in denen sie die historisch-genetische Verschränkung von Antisemitismus, Imperialismus und totaler Herrschaft entwickelt und in der Verlassenheit der Konzentrationslager bereits den Vorgriff auf eine als Möglichkeit neu bestehende Gesellschaftsformation erkennt, endet Arendt auf der letzten Seite – Augustinus zitierend – dennoch in einer unerwarteten Wendung: „Initium ut esset, creatus est homo – »damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen«“.29 Die Gebürtlichkeit also eröffnet – solange es Menschen geben wird – immer wieder neue Möglichkeiten des Handelns und so der geschichtlichen Verläufe in einer aus den Fugen geratenen Welt – die allerdings auch zu ergreifen sind und sich nicht von selbst ergeben. Die Literatur, die im Zusammenhang mit (Politischer) Bildung über Arendt handelt, nimmt sich – ohne hier Anspruch auf Vollständigkeit zu erUnterstützung eines totalitären Systems durch die Massen verantwortlich sind.“ Arendt, H. (2000b) a. a. O., Anm. 2, S. 629f. Auch, u. a. gegen Adorno: „»Manipuliert« werden können Menschen nur durch physischen Zwang, durch Furcht, Folter oder Hunger, und die Meinungsbildung kann zuverlässig nur durch organisierte, gezielte Falschinformation gelenkt werden, aber weder durch »hidden persuaders«, Fernsehen, Reklame oder andere psychologische Mittel, deren sich die freien Länder gerne bedienen.“ Arendt, H. (1998d) a. a. O., S. 33. 28 Arendt, H. (2000g) a. a. O., S. 66. 29 Arendt, H. (2000b) a. a. O., S. 979. In Macht und Gewalt führt sie diesen Gedanken näher aus: „Philosophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als einer der Grundbedingungen seiner Existenz: da wir alle durch Geburt, als Neuankömmlinge und als Neu-Anfänge auf die Welt kommen, sind wir fähig, etwas Neues zu beginnen […] Keine andere Fähigkeit außer der Sprache, aber weder Verstand noch Bewußtsein unterscheidet uns so radikal von jeder Tierart.“ Arendt, H. (1998d) a. a. O., S. 81. 350

DER SINN VON POLITISCHER BILDUNG IST FREIHEIT

heben – recht übersichtlich aus. Dies mag auch damit zusammenhängen, was Wiltrud Gieseke in ihrem Beitrag zu Zwischen Vergangenheit und Zukunft in Perspektive auf die Erwachsenenbildung einleitend feststellt: „Verbindet Arendt politisches Denken mit Denken über Bildung, setzt sie ihre Vorstellungen von Handeln und Herstellen aus der »vita activa« in Beziehung zu Bildung und Qualifizierung im Lebenslauf? Arbeitet sie mit einem Kompetenzbegriff, vielleicht im Zusammenhang mit politischem Handeln? Nein, um es kurz zu machen, dieses tut sie nicht. […] Von Erwachsenenbildung […] ist Arendt so weit ent30 fernt, wie man sich dies auch für die damalige Zeit nicht negativer denken kann.“

Gieseke eignet sich dabei in ihrer Argumentation Arendts Betonung des durch Handeln initiierten unabschließbaren und unabsehbaren Prozesses zur Verteidigung eines lebenslangen »Lernens ohne Erziehung«31 ausdrücklich gegen – und zwar im Verweis auf die „spezifische neue Lernerfahrungswelt“ u. a. durch die Anforderungen an den hochqualifizierten, flexiblen Menschen und der Verlängerung der Arbeitszeit – Arendts Misstrauen an, dass „[w]er erwachsene Menschen erziehen will, […] sie in Wahrheit bevormunden [will] und daran hindern, politisch zu handeln“32 und schließt mit der Einschätzung: „So könnte man durchaus mit Hannah Arendt und in Erweiterung zu ihr die Erziehung, die Bildung und das lebenslange Lernen als dieses essentielle zivile Gewebe zwischen Privatheit, Öffentlichkeit, zwischen Handeln und Herstellen, zwischen Wachsen, Entwickeln, Entscheiden und eigener Mündigkeit bei gleichzeitigem Lernen betrachten.“33

Überzeugend ist Giesekes Lesart insbesondere, wenn sie gegen den Sprachgebrauch des Bildungsmanagements und in Qualitätssicherungssystemen mit Arendt unterstreicht, dass Bildung nicht als Produkt und damit als Herstellungskategorie aufzufassen ist. Fragwürdig ist aber, wenn Arendt genutzt wird, um die menschliche Fähigkeit zum Neubeginn in einen Zusammenhang mit der optimierten Einpassung an die Zumutungen der modernen Arbeitsgesellschaft zu stellen.34 30 Gieseke, W. (2007): »Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I« (1961) von Hannah Arendt. In: Koerrenz, R.; Meilhammer, E.; Schneider, K. (Hg.): Wegweisende Werke zur Erwachsenenbildung, Jena, S. 379-288, Zitat: S. 379, 380. 31 Ebd., S. 385. 32 Arendt, H. (2000i): Die Krise in der Erziehung. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 255-276, S. 258. 33 Gieseke, W. (2007) a. a. O., S. 388. 34 Eine ähnlich weit gehende Interpretation nimmt Sonja Strube vor, die für eine Persönlichkeitsbildung im Geiste Hannah Arendts votiert. Strube, S. (2005): 351

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Die in der hier zugrundegelegten Literatur umfangreichste Auseinandersetzung mit Arendt hat Roland Reichenbach mit seiner Habilitationsschrift Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt vorgelegt. In dieser widerspricht er entschieden einer verbreiteten Hoffnung auf die Ausbildung demokratisch mündiger Kulturhelden als (wünschbares) Resultat Politischer Bildung in der überzeugenden Einsicht, „[…] daß Demokratie, Inkompetenz und Dilettantismus insofern intrinsisch zusammenhängen, als die demokratische Praxis – im kleinen wie im großen – eine ‚Praxis der Freiheit‫ދ‬, Freiheit aber ein Gegenbegriff zu Souveränität darstellt […]. Ziel der Erziehung wäre dann nicht die Autonomie des (moralischen) Subjekts, sondern die Bereitschaft des Selbst, die Zumutung der Freiheit zu übernehmen, wo es die Situa35 tion (subjektiv) erfordert.“

Und so deutet sich ironischerweise und unerwartet an, dass mit Arendt besser gerade nicht von (Politischer) Bildung, im Sinne des Formgebens, sondern vielmehr von Ausbildung, Ausbildung wohlgemerkt des Vermögens, zur Welt Stellung zu beziehen, gesprochen werden könnte. Aber auch, wenn die Regelung der menschlichen Angelegenheiten, Politik als Organisation von Verschiedenheit36, bei Arendt zwar auf das Handeln von Menschen angewiesen Persönlichkeitsentwicklung im Geiste Hannah Arendts. Hannah Arendts Begriff des Gemeinsinns und die politische Dimension persönlichkeitsorientierter Erwachsenenbildung. In: Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, 51. Jg., H. 3, S. 130-133. Ausgehend vom dezentrierten Machtbegriff Arendts entfaltet sie die wesentlichen Aspekte der Pluralität, Spontaneität und wechselseitigen Vergewisserung der Menschen im Sprechen und Handeln und beschreibt zutreffend die Bedrohung der Demokratie durch „schleichende Aushöhlung“ [S. 132] im Schrumpfen des Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten in, so der erst heute in seiner ganzen Tragweite erfahrbaren Befund, einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht. [Vgl. Arendt, H. (2003) a. a. O., S. 13.] Sie tut dies jedoch vor allem, um schließlich mit einer sehr ins Allgemeine gehenden Apotheose des „ehrliche[n] und unverzweckte[n] Miteinander-Sprechen […] innerhalb der Gruppe“ eine „große Affinität und Nähe von Arendts Definition des Gemeinsinns zu dem, was sich in persönlichkeitsorientierten Bildungsangeboten ereignet […]“ [Strube, S. (2005) a. a. O., S. 133] zu konstruieren – und formuliert in einem Ausblick die Aufgabe, für deren »Profilierung« weiterzudenken, „[…] wie der an unerwarteten Orten in unserer Bildungslandschaft entstehende Gemeinsinn und die bisweilen damit verbundene konkrete politische Willensbildung in den größeren Rahmen des uns vorgegebenen Systems, das wesentlich ein Parteiensystem ist, vermittelt werden kann.“ Ebd. 35 Reichenbach, R. (2001): Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne, Münster, S. 15 f [Hervorhebungen im Original]. 36 Vgl. Arendt, H. (2003): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hg. v. Ludz, U., München, S. 12. 352

DER SINN VON POLITISCHER BILDUNG IST FREIHEIT

ist, macht es Adorno, auf dessen Imperativ wir eingangs zurückgriffen, den Politisch (Aus-) Bildenden dabei im Zugriff auf dieses Vermögen insofern leichter, als Arendts Vorbehalte insbesondere gegen die Psychoanalyse, die sie als radikale Rückwendung des Subjekts auf sich selbst, im Sinne von Selbstbezogenheit, als Krisenphänomen moderner Weltlosigkeit betrachtet37, eilfertigen Hoffnungen einer bruchlosen Aneignung, in der Betrachtung der mentalen Verfasstheit und Motivation der zu bildenden, im Folgenden zumindest zunächst sperrig entgegentreten. Die Vorstellung eines »autoritären Charakters« verwirft Arendt zwar – wie alle Psychologie und auch vom Begriff der Autorität her38 –, und doch enthält ihre Reflektion über den Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann durchaus so etwas wie eine exemplarische Beschreibung der subjektiven Dimension totaler Herrschaft, die mentale Verfasstheit jener, die sie durch ihre bereitwillige Mitwirkung möglich machen. Entgegen des, wahrscheinlich noch unter dem lebendigen Eindruck der Veröffentlichung des Ausmaßes der Verbrechen in den Konzentrationslager konstatierten, ohnmächtigen39 »radikal Bösen«, das sie in Elemente und Ursprünge bei Kant entlehnt, bringt sie die bei Eichmann ansichtig gewordene Weigerung, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen, auf den mittlerweile sich verselbständigenden Begriff und nicht minder alarmierenden Befund der »Banalität des Bösen«, das die größten Verbrechen gerade nicht der Entscheidung zum Schurken, sondern der Gedankenlosigkeit erwachsen.40

37 „Hannah Arendt lehnte ab, was sie Reflexion oder Introspektion nannte, und sie fand sehr scharfe Worte für die Psychoanalyse; in und mit Hilfe der Poesie verstand sie sich selbst.“ Young-Bruehl, E. (2004) a. a. O., S. 36. 38 Dem sie in seinem Ursprung in der römischen Antike – erst aus potestas in populo und auctoritas in senatu entstehen senatus populusque Romanus [Arendt, H. (1974) a. a. O., S. 231.] – den Wert von bewahrender Verbindlichkeit zuspricht, eine Vermittlerrolle zwischen dem anstürmenden Infragestellen der neu in die Welt Gekommenen und Verantwortung gegenüber dem auf Erfahrung gründenden Sinn, dem das Handeln der Vorhergehenden der Welt gegeben hat. Vgl. Arendt, H. (2000h) a. a. O., S. 159-200. 39 „Das Entscheidende ist der Tag gewesen, an dem wir von Auschwitz erfuhren. […] Vorher hat man gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies war anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles irgendwie einmal wiedergutgemacht werden kann. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter – ich brauche mich darauf nicht weiter einzulassen.“ Arendt, H. (1998c) a. a. O., S. 59 f. 40 Arendt, H. (2000j): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 10. Aufl., München; Arendt, H. (2000k): Über den Zusammenhang von Denken und Moral. Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I., hg. v. Ludz, U., 2. Aufl., München, S. 128-155. 353

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Arendt endet ihren Bericht aus Jerusalem mit einer fiktiven Urteilsbegründung, die dem »Argument« des Befehlsnotstandes entgegnet: „[…] im politischen Bereich der Erwachsenen [ist] das Wort Gehorsam nur ein anderes Wort für Zustimmung und Unterstüzung.“41 Haim Gordon schreibt in Bezug auf diese Passage: „Here is one of the areas where Arendt’s writings are an important source of philosophical ideas with clear educational implications.“42 Aber es liegt im Wesen des Denkens, dass „[…] there is no direct way to teach persons to think. […] the educator can only point the way, and demand of his or her students that they may enter this realm. The educator can, of course, share with students what she or he has learned while thinking, but beyond that he or she can only encourage, chide, demand, indicate, coach.“43 Hier scheint die Tür geöffnet zu sein, durch die die Politische Bildung mit Arendt konfrontiert werden kann.

II.

Bürgerbewusstsein und Arendt?

Für die Politische Bildung bestehen einige gute Gründe, sich bisher unbearbeiteten oder neu zu erschließende Fragestellungen zu widmen. Dies umso mehr, wenn sich die Didaktik der Politischen Bildung verstärkt aus einem unbestimmten disziplinären Status zwischen sozialwissenschaftlichen Bezugswissenschaften und Pädagogik zu einer Kulturwissenschaft des politischen Lernens erweitert, ähnlich wie zuvor bereits die Geschichtsdidaktik. Maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen hat dort die Etablierung der Schlüsselkategorie des »Geschichtsbewusstseins«. Ausgehend von der begründeten Unterstellung, dass jeder Mensch ebenso wie über Geschichte auch Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit aufbaut, gleichsam Vorurteile im Arendtschen Sinne44, deren Insgesamt der mentalen Strukturen sich als Bürgerbewusstsein beschreiben lässt, eröffnen sich Forschungsfelder auf mehreren Ebenen45: Normativ stellt

41 Arendt, H. (2000j) a. a. O., S. 404. 42 Gordon, H. (1988): Learning to think. Arendt on Education for Democracy. In: The educational Forum, 53. Jg., H. 1, S. 49-62, Zitat: S. 49. 43 Ebd., S. 60. 44 „Der Verlust von Vorurteilen heißt ja nur, daß wir die Antworten verloren haben, mit denen wir uns gewöhnlich behelfen, ohne auch nur zu wissen, daß sie ursprünglich Antworten auf Fragen waren. Eine Krise drängt uns auf die Fragen zurück und verlangt von uns neue oder alte Antworten, auf jeden Fall aber unmittelbare Urteile. Eine Krise wird zu einem Unheil erst, wenn wir auf sie mit schon Geurteiltem, also mit Vor-Urteilen antworten.“ Arendt, H. (2000i) a. a. O., S. 256. 45 Vgl. Lange, D. (2004): Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens, Schwalbach/Taunus. 354

DER SINN VON POLITISCHER BILDUNG IST FREIHEIT

sich die Frage nach der Wünschbarkeit, empirisch die nach der Tatsächlichkeit, reflexiv nach der Möglichkeit und anwendungsbezogen nach der Beeinflussbarkeit dieses Bürgerbewusstseins. Entscheidend ist, dass die im Bürgerbewusstsein zusammengefassten Vorstellungen dabei als aktive subjektive Konstruktionsleistungen im Sinne einer inneren »Landkarte« und weder als Abbildverhältnisse noch gegenüber fachwissenschaftlichen Vorstellungen als defizitär aufzufassen sind. Anders gesagt: „Politische Mündigkeit ist eine Kompetenz, die sich in alltäglichen Sinnbildungen, Urteilen und Handlungen der Bürgerinnen und Bürger ausdrückt. Wissenschaftlichkeit ist dafür eine sinnvolle, aber keine unabdingbare Voraussetzung.“46

Auf der konzeptionellen Ebene des Alltagsbezuges und der gleichberechtigten Behandlung der individuellen Vorstellungen gegenüber fachwissenschaftlichen Ansätzen unter Anerkennung einer kontingenten Wirklichkeitserfahrung, die sich nicht auf widerspruchsfreie Erklärungsangebote stützt, ist wohl durchaus von einer Wahlverwandtschaft zwischen dem Konzept des Bürgerbewusstseins und der von Arendt vertretenen Auffassung zur Ausbildung der Moral als Mores, als Gewohnheiten, und der wechselseitigen Vergewisserung über Sprechen und Handeln auszugehen. Wenn der gewählte empirische Zugang eher einer zarten Empirie ähnelte, die verstehen will, wie sich die Welt durch die Menschen, die sich in ihr handelnd bewegen, konstituiert, würde sogar auch dieser nicht mit Arendts Widerspruch zu rechnen haben. Insbesondere aber auf der normativen Ebene, in der Frage der Wünschbarkeit, kann das Konzept des Bürgerbewusstseins von einer Rezeption des Arendtschen Werkes nur profitieren. Die an die alltägliche Erfahrung anschließenden, zunächst nicht notwendig miteinander in Verbindung gebrachten Vorstellungen gerinnen durch Bestätigung in der individuellen Biographie zu vernetzten und sich auch überlagernden mentalen Modellen oder Konzepten, die sich analytisch in fünf Sinnbildern strukturieren lassen. Interventionen durch Politische Bildung werden dann möglich, wenn bestehende Vorstellungen durch abweichende Erfahrungen in Frage gestellt oder nachhaltig irritiert werden, sprich: eine neue An-Sicht eines Gegenstandes eröffnet, deren aktive Aneignung durch die adressierten Schüler_innen selbst dann aber letztlich wieder unverfügbar bleibt. Im Sinnbild »Vergesellschaftung« (1.) lassen sich diejenigen Vorstellungen und Modelle gruppieren, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in einer sozialen Dimension betreffen. Insbesondere die Unterscheidung und Wertschätzung der Eigenlogiken von Privatsphäre und Öffentlich46 Lange, D. (2008b): Kernkonzepte des Bürgerbewusstseins. Grundzüge einer Lerntheorie der politischen Bildung. In: Weißeno, G. (Hg.): Politikkompetenz. Was Unterricht zu leisten hat, Bonn, S. 245-258, Zitat: S. 247. 355

DIRK LANGE UND SVEN RÖSSLER

keit, das lustvolle Spiel mit der Person und das Ertragen vielleicht sogar Begrüßen von Pluralität, Uneindeutigkeit und Unverfügbarkeit wären hier wünschbare Aneignungen zentraler theoretischer Figuren bei Arendt. Wert- und normbildende und -begründende, kurz: politisch-moralische Vorstellungen, lassen sich im Sinnbild »Wertbegründung« (2.) zusammenfassen, vor allem der republikanische Impetus von Verfahrenslegitimität im Gründungsakt und ein Verständnis des Unterschiedes der Herrschaft von Gesetzen oder von Menschen über Menschen böte, neben den Übungen zu zentralen Begriffen wie Freiheit, Autorität, etc., wertvolle Orientierung. Vorstellungen über politisch-ökonomische Beziehungen, Arbeit, Arbeitsteilung und Konsum lassen sich dem Sinnbild »Bedürfnisbefriedigung« (3.) zuordnen. Bei Arendt finden sich neben der Kritik an der Weltlosigkeit von Kapitalismus und Imperialismus und der des Gesellschaftsbegriffes in den Fürsorgeregimen der Massengesellschaften auch die sinnstiftende Unterscheidung von Verbrauchs- und Gebrauchsgegenständen aus der Vita activa. Politisch-historische Vorstellungen, fokussiert im Sinnbild »Gesellschaftswandel« (4.), umfassen Erklärungen und Verständnisse von Kontinuität und Zäsur. Entscheidend wird hier Arendts Kritik an der Geschichtsphilosophie und ihre »Methode« des Perlentauchens. Im letzten Sinnbild ist der Titel aus einer Arendtschen Perspektive schlecht gewählt, vieles erinnert an die normativ gesättigte, zu Arendt inkommensurable Bestimmung bei Max Weber: Genuin politische Vorstellungen über Prozesse und Legitimität der allgemeinen Verbindlichkeit partialer Interessen, Macht und Herrschaft, Konflikt und Gemeinwesen, schließlich auch im Verhältnis von Gesellschaft und Staat oder zu Staatlichkeit, können nämlich systematisch zum Sinnbild »Herrschaftslegitimation« (5.) verbunden werden. Neben den genannten Schlüsselbegriffen, allen voran der der »Macht«, sollte Arendts Souveränitätskritik auf jeden Fall berücksichtigt werden. Zu Recht hat übrigens zuletzt Chantal Mouffe darauf hingewiesen47, dass es Konflikte gibt, die nicht deliberativ entschieden werden können – und dabei zu Unrecht Arendt mit Habermas in eins gesetzt, denn schließlich weiß Arendt durchaus, dass „Was Wut provoziert, […] nicht so sehr entgegenstehende Interessen [sind] als die »Scheinheiligkeit«, der Schein von Vernunft, hinter dem man sie zu verbergen trachtet.“48 Die gesellschaftliche Relevanz des Konzeptes des Bürgerbewusstseins lässt sich rasch aufweisen: Als global bedeutendes Phänomen betrifft beispielsweise transnationale Migration – eines der Kernthemen bei Arendt unter dem Aspekt der Staatenlosigkeit und der Überflüssigen, aber auch in der Fra-

47 Mouffe, C. (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, 2. Aufl., Frankfurt/M. 48 Arendt, H. (1998d) a. a. O., S. 67. 356

DER SINN VON POLITISCHER BILDUNG IST FREIHEIT

ge der Assimilation, der Wahl zwischen Paria und Parvenü – Individuen und Gesellschaften der Ankunfts- wie der Herkunftsregionen. Wo verlässlich, nach der klassischen Formel Simmels49, der Fremde heute kommt und morgen bleibt, werden Anforderungen an das Vermögen individueller Einpassung in ein nicht mehr (nur) durch Tradition vermitteltes, kulturell dynamisches, sozial heterogenes und politisch plurales Gemeinwesen allgemein: Hier werden faktisch Möglichkeiten eines multikulturellen Gemeinwesens verhandelt; Konflikte wie etwa um das Tragen von Kopftüchern oder den Besuch des gemischtgeschlechtlichen Sportunterrichtes sind – zumindest in gewisser Hinsicht – weniger Hinweise auf die Existenz von Parallelgesellschaften, denn auf wünschbaren, zumindest erwartbaren Meinungsstreit über die Einrichtung eines gemeinsamen Gemeinwesens – sonst würden sie nämlich überhaupt nicht in Erscheinung treten. Bürger_innen in der Migrationsgesellschaft benötigen jedoch verstärkt komplexe Konzepte zum Umgang mit beständig wechselnden Bedingungs- und Bedeutungsverhältnissen, um als soziale und politische Akteure handlungs- und urteilsfähig zu sein.

49 Vgl. Simmel, G. (1992): Exkurs über den Fremden. In: Simmel, G.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, hg. v. Rammstedt, O., Frankfurt/M., Bd. 11, S. 764-771, hier: S. 764. 357

Ein Bild von den Flüchtlingen. Erfahrung, Sichtbarkeit, Einbildungskraft WOLFGANG HEUER „Alles Denken überträgt, ist metaphorisch. Da nun aber nicht die selbst-gebundene Vernunft, sondern nur die Einbildungskraft es möglich macht, ‚an der Stelle jedes anderen zu denken‘, ist es nicht die Vernunft, sondern die Einbildungskraft, die das Band zwischen den Menschen bildet.“ Hannah Arendt

Wir leben in einer Welt der Bilder, die das Sichtbare, das Erscheinende und dessen Bewegung als Performanz in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt hat. In dieser Welt, die in der Wissenschaft von dem ‚iconic turn‘ begleitet wird, wird nur das für wirklich gehalten, was sichtbar ist oder sichtbar gemacht werden kann. Die Simultanität von Bildern sowie Live-Berichten und Ereignissen vermittelt die Illusion der Informiertheit. Was die Flüchtlinge an den europäischen Grenzen betrifft, so halten wir uns für informiert. Wir wissen von den Flüchtlingen an den europäischen Grenzen, wir kennen die Bilder von ihnen. Oder genauer – vier Themen: an den Zäunen in Afrika, auf den überfüllten Booten auf dem Mittelmeer, als Tote an den Stränden Spaniens und als Insassen von Lagern in Italien oder unerträglichen Unterkünften in Griechenland. Doch viel mehr als das wissen wir nicht, weil es mehr Bilder nicht gibt. Wir wissen nur wenig über die SansPapiers in unseren Staaten: Wer keine Papiere hat, bleibt besser unsichtbar. Wir wissen nichts über ihre Herkunft, die Dörfer oder Städte, in denen sie lebten, ihre Familien, ihre Fluchtwege, ihre Meinungen. Das Sichtbare bleibt vom Unsichtbaren umschlossen, das Wissen vom Unwissen überdeckt. Was

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WOLFGANG HEUER

wissen wir, wenn wir ein paar Bilder gesehen haben? Wissen ist nicht mit Wahrheit gleichzusetzen und das Bild nicht mit der Wirklichkeit. Doch es ist keineswegs so, dass die Unsichtbaren einfach unsichtbar sind, wie das Sichtbare einfach sichtbar wäre. Wir haben immer Bilder vor Augen, auch wenn es um das Unsichtbare geht, und das betrifft unser Bild von den Flüchtlingen. Dieses Bild ergänzt die Leerstellen in dem zufälligen oder auch gezielten Angebot von Bildern. Der „embedded journalism“ während des Irak-Krieges, die nur schemenhafte Sichtbarkeit der Häftlinge in Guantánamo und der Begriff „Achse des Bösen“ dienen der gezielten Herstellung von Bildern, sie sind Bestandteile eines Bild-Managements der Macht. Auch wo sie nicht gezielt erstellt werden, werden sie in einem gesellschaftlichen Konsens geschaffen. Meine These ist, dass sich alle Diskussion und Argumentation, auch das „Wissen“ über Flüchtlinge in Europa, auf Bilder stützt und folglich jegliches Beurteilen die Frage nach den Bildern im Sinne der Perspektiven stellen muss. Urteilen bedeutet, einen denkerischen Perspektivwechsel vorzunehmen, und das bedeutet: einen Bildwechsel. Bei Hannah Arendt trifft eine solche Auseinandersetzung mit dem Bild auf einen doppelten Impuls. Bildlichkeit im Sinne des Erscheinens ist für Arendt zu allererst eine zentrale Kategorie ihres Verständnisses von Welt und Wirklichkeit. Darüber hinaus aber hat diese Bildlichkeit auch noch eine zentrale Bedeutung für unsere Erkenntnis. Denn Wissen und Wahrheit beruhen für Arendt auf einem sinnverstehenden Denken und Urteilen, das wiederum nicht von der Bildlichkeit von drei Elementen zu trennen ist: der Erfahrung, der Sichtbarkeit und der Perspektivenvielfalt. Die Erfahrung war nicht nur der Anlass für Arendts eigene Forschungen, sondern ebenso Gegenstand der Frage nach den Beweggründen des Handelns anderer. Arendts Methode ist eine sinnverstehende. Wenn sie von der Sichtbarkeit spricht, dann handelt es sich keineswegs um ein nur poetisches Bild, mit dem sie das Handeln in der Öffentlichkeit und die „Enthüllung der Person“ durch Sprechen und Handeln in einem „Beziehungsnetz“ beschreibt. Vielmehr wird alles Geschehen, wenn es verstanden werden soll, im Denken und damit auch in der Sprache bildlich repräsentiert: „Alles Denken überträgt, ist metaphorisch“1. Und schließlich bildet für Arendt nicht die Vernunft, sondern die Einbildungskraft das Band zwischen den Menschen. Nicht die selbst-bezügliche Vernunft lässt uns sinnvolle Urteile fällen, sondern die Perspektivenvielfalt, d. h. die Bereitschaft, „an der Stelle jedes anderen zu denken“2.

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Arendt, H. (2002): Denktagebuch, hg. v. Ludz, U.; Nordmann, I., 2 Bde., München, S. 728. Ebd., S. 570.

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EIN BILD VON DEN FLÜCHTLINGEN

Ich will im Folgenden diese drei Elemente näher erläutern und anschließend die Frage stellen, welche Rolle Erfahrung, Sichtbarkeit und Perspektivenvielfalt bei unserem Bild von den Anderen spielen können.

I.

Erfahrung

Ich möchte dazu einen Blick in Arendts Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ werfen, Bd. II, „Imperialismus“, Kapitel 7: „Rasse und Bürokratie“. Dieses Buch stellt keine Theorie der totalen Herrschaft auf; erst später fügte Arendt ein Kapitel an, das in Weiterentwicklung von Montesquieus Analyse der Regierungsformen in konzentrierter Form Ideologie und Terror als Wesen und Prinzip einer neuen Herrschaftsform analysiert. „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ handelt auch nicht von einer historischen Zwangsläufigkeit, die zur totalen Herrschaft führte, sondern es sammelt ebenjene Elemente und Ursprünge, die die Entstehung der totalen Herrschaft begünstigten. Neben etlichen anderen Elementen beschreibt Arendt in dem genannten Kapitel die koloniale Erfahrung in Afrika, bei der die Begegnung mit Stammesgesellschaften und die Ausübung bürokratischer Kolonialverwaltung zusammenkamen. Beides wurde von den totalitären Bewegungen aufgegriffen und zu einem neuen Rassebegriff und einer neuen bürokratischen Herrschaftsform transformiert. Was für uns hierbei von besonderer Bedeutung ist, ist, wie bei allen anderen Elementen, mit denen sich Arendt in diesem Buch auseinandersetzt, die Rolle der Erfahrung. Diese Erfahrung wird nun von Arendt nicht kühl analysiert und in abstrakte Begriffe gefasst, sondern erlebbar gemacht. Arendt rekonstruiert den Sinngehalt der Handlungen der Kolonialisten und lässt uns an den Erfahrungen teilhaben, die zu den entsetzlichsten Massakern an der einheimischen Bevölkerung führten. Es sind, nach Arendts Interpretation, die Erfahrungen des blanken Entsetzens „vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein scheinen und gespensterhaft, ohne alle fassbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten“.3 Die christliche Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts verlor unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen „zum ersten Mal ihre zwingende Überzeugungskraft“4, und die Ausrottung der Hottentottenstämme, das wilde Morden in Deutsch-Ostafrika und die Massenmorde im Kongo sind für Arendt nur so zu erklären, dass die Kolonialisten den Grund für ihr Entsetzen beseitigen wollten. Dieses Entset-

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Arendt, H. (1986a): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, S. 308. Ebd. 361

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zen, so Arendt, wird man nicht verstehen, ja nicht einmal entdecken können, wenn man die üblichen geschichtlichen, politischen oder ethnologischen Untersuchungen zurate zieht, sondern nur dann, wenn man die Literatur zu Hilfe nimmt.5 Sie stützt sich dabei auf Joseph Conrads Roman „Das Herz der Finsternis“. Dieses literarische Nachvollziehen von Erfahrung hat in der akademischen Welt, die mit einem solchen Vorgehen nicht vertraut ist, zu dem absurden Vorwurf geführt, Arendt selber sei, wenn nicht rassistisch, so doch in einem extremen Maß eurozentristisch.6 Arendt entdeckte bei den Protagonisten des Romans neue Verhaltenweisen und Eigenschaften mit, wie sie es nannte, Begabungen für Ressentiments und Demagogie und der Verbindung von Verbrechen mit „zivilisiert-raffinierter Lasterhaftigkeit“7. Den Grund wiederum für diese Entwicklung fand Arendt in der „Antwort auf politische Erfahrungen, denen gegenüber die Traditionen nationalstaatlichen Denkens ganz und gar zu versagen schienen.“8 Es waren dies die Erfahrungen mit einer zunehmenden Zahl von Flüchtlingen und Staatenlosen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, denen ethnisch homogene Nationalstaaten keine Staatsbürgerschaft anbieten wollten. Die nach den Erfahrungen fragende sinnverstehende Methode Arendts treffen wir wenig später auch bei ihrer Verwendung von Kiplings Romanen zur Erklärung der „imperialistischen Legende“ an, ebenso auch bei der Beschreibung eines „neuen Selbst“ bei T. E. Lawrence. Schließlich suchte Arendt in dem später hinzugefügten Kapitel über Ideologie und Terror als neue Staatsform nach einer Antwort auf die Frage, was die Menschen für die totalitäre Bewegung und Denkweise empfänglich gemacht hatte, und sie antwortete wieder mit einer Erfahrung, nämlich jener der „Grunderfahrung der Verlassenheit“9. „Was ist der Gegenstand unseres Denkens?“ fragte sie während einer öffentlichen Diskussion und antwortete: „Die Erfahrung! Nichts anderes! Und wenn wir den Boden der Erfahrung verlieren, dann gelangen wir in alle mög-

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„Dass diese Dichtung nicht der subjektiven Laune einer zufälligen Dekadenz entstammt, haben wir inzwischen gründlichst erfahren und damit beinahe so etwas wie einen Beweis dafür geliefert bekommen, dass nur die Dichter, die unbeirrt von allen Theorien für die ‚Kinder der Welt‘ sprechen, dem wirklichen Lauf der Welt unfehlbar verhaftet sind.“ Ebd., S. 248. Vgl. Norton, A. (1995): Heart of Darkness. Africa and African Americans in the Writings of Hannah Arendt. In: Honig, B. (Hg.): Feminist Interpretations of Hannah Arendt, Philadelphia, S. 247-263; Pietz, W. (1988): The “PostColonialism” of Cold War Discourse. In: Social Text, H. 19/20, S. 55-75. Ebd., S. 315. Ebd. Arendt, H. (1986a): a. a. O., S. 727.

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lichen Arten von Theorie.“10 Sie unterwarf die Sphäre des theoretischen Denkens insgesamt der Erfahrung. In ihrem Essay „Verstehen und Politik“ machte sie die Wissenschaften von einem „unkritischen Vorverständnis“ abhängig, von dem sie ausgehen und das sie „nur erhellen, niemals aber beweisen oder widerlegen“11 können.

II.

Sichtbarkeit

„Alles Denken überträgt, ist metaphorisch.“ Das bedeutet, dass die Metapher kein Beiwerk, keine Zierde des sprachlichen Ausdrucks des Denkens, sondern das einzige Medium ist, mit dessen Hilfe wir die Wirklichkeit denken und damit auch verstehen können. Und auch die Einbildungskraft, wie es das Wort schon besagt, die Ein-bild-ung, die Imagination, auch: die Vor-stellung, ist die auf einer Verbildlichung beruhende Voraussetzung eines sinnvollen Urteilens. Dieses Urteilen kann nicht auf der Logik, einer selbst-gebundenen Vernunft oder der Ratio beruhen, weil sie alle gerade von der Wirklichkeit abstrahieren. Deshalb warnte Arendt auch nach der Erfahrung des Totalitarismus nicht nur vor der Verselbständigung der Logik in einem ideologischen Denksystem, sondern sie sprach sich auch gegen „die Tyrannei der Vernunft in uns“12 und ebenso gegen „evident-vernünftige Argumente“ aus, mit denen z. B. Kant den Willen zwingen wollte. In ihr Denktagebuch notierte sie: „Man überzeugte, statt ‚einzuleuchten‘“. Welch eine treffende Metapher! „Daher verschwindet aus der Philosophie der Spruch, der hineinleuchtet, aufleuchten lässt und einleuchtet; an seine Stelle setzen sich Beweisketten, die durchaus Ketten sind, im doppelten Wortsinn.“13 Daher lehnte Arendt auch ein Argumentieren ab, „das im Vorhinein so angelegt ist, dass man immer recht behält“, und dessen „Erfolg […] auf der rücksichtslosen Ausschaltung der Erfahrung“ beruhe. Ebenso lehnte sie auch ein erklärendes Denken ab, „das im vorhinein so angelegt ist, dass vom Erklären nichts übrig bleibt, wenn das Erklären mit ihm fertig ist“.14 Gegen die Tyrannei der Vernunft in uns setzt Arendt den Neuanfang als Quelle der Freiheit und die Gewissheit, dass die

10 Arendt, H. (1996): Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. Ludz, U., München, S. 79. 11 Arendt, H. (1994): Verstehen und Politik. In: Arendt, H.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. v. Ludz, U., München, S. 114. 12 Arendt, H. (2002) a. a. O., S. 157. 13 Ebd., S. 188. 14 Ebd., S. 196. 363

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Wahrheit nicht Ziel und Zweck des Denkens ist, sondern umgekehrt dessen Anlass.15 All das bindet das Denken an die Sichtbarkeit. Wenn es nun stimmt, wie Arendt behauptet, dass „alles Denken […] aus der Erfahrung [entsteht], aber keine Erfahrung […] irgendeinen Sinn oder auch nur Zusammenhang [liefert], wenn sie nicht der Vorstellung und dem Denken unterworfen wird“16, dann hängt die Sinngebung von den Bildern der Vorstellung ab, von den Metaphern. Insofern ist Arendt entgegen dem verbreiteten ersten Eindruck, eine einfache Realistin zu sein, eine Konstruktivistin. Unsere Weltsicht ist weit entfernt von einer einfachen Wiedergabe der Wirklichkeit, sie ist Konstruktion. „Irrtum und Schein hängen eng miteinander zusammen; sie entsprechen einander“17, so dass nicht nur der Irrtum, sondern, wie Arendt in ihrem Essay „Die Lüge in der Politik“ schildert, auch die Lüge eine gute Aussicht auf Glaubwürdigkeit hat. Während Arendt mit dem Verweis auf die Erfahrungsgebundenheit des Denkens und der Sprache den Irrwegen der Abstraktion und Logik entgegenwirken will, zeigen die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson in ihrer klassischen Untersuchung über unser unausweichliches „Leben in Metaphern“, wie unsere Sprache durchgängig von Metaphern geprägt ist, wie wir Sprachbilder konstruieren und gebrauchen und damit die Wirklichkeit sowohl wiedergeben als auch in einer subjektiven und zugleich kulturell gemeinsamen, intersubjektiven Weise formen. Wir bilden mit dem stetigen Gebrauch bestimmter Metaphern unsere Weltsicht, d. h. wir schaffen einen festen Rahmen, in den jeweils neue Bilder eingefügt werden.18 15 Vgl. ebd., S. 489; Arendt, H.; McCarthy, M. (1995): Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975, hg. v. Brightman, C., München, S. 76. 16 Arendt, H. (1979): Vom Leben des Geistes. Das Denken, Bd. 1, München, S. 93. 17 Ebd., S. 47. 18 Lakoff, G.; Johnson, M. (1998): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg; Lakoff, G.; Wehling, E. (2008): Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg. – Ryszard Kapuscinski weist darauf hin, wie die Welt nur durch ihre Benennung, durch die Sprache, begriffen werden kann: „Ich begriff, dass jede Welt ihr eigenes Geheimnis besitzt und dass der Zugang zu diesem nur über die Sprache möglich ist. Ohne sie bliebt uns diese Welt unzugänglich und unverständlich, […]. ich stellte eine Verbindung fest zwischen Benennen und Existieren, denn nach meiner Rückkehr ins Hotel wurde mir bewusst, dass ich in der Stadt nur das gesehen hatte, was ich benennen konnte, so erinnerte ich mich zum Beispiel an eine Akazie, jedoch kaum an den Baum daneben, dessen Namen ich nicht kannte. […] ich begriff eines: je mehr Wörter ich kannte, um so reicher, umfassender und verschiedenartiger würde sich die Welt mir darstellen.“ Kapuscinski, R. (2007): Meine Reisen mit Herodot, München; Zürich, S. 32f. – Und der Bildwissenschaftler Horst Bredekamp erklärt, er habe „bei Hobbes und Leibniz zu zeigen versucht, dass Denken nicht durch das Abbilden vom Denken 364

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In diesen Rahmungen bewegen wir uns, sie wirken ihrerseits auf uns zurück, die Metaphern verlieren ihren ursprünglichen bildlichen Glanz und werden zu feststehenden, kaum mehr hinterfragbaren Begriffen. Mit ihnen glauben wir zu wissen, was wir unter Freiheit verstehen, was realistisch ist, wie wir die Zukunft Europas sehen und das Schicksal der Flüchtlinge bewerten.19 Die Untersuchungen von Benjamin Lee Whorf bereits in den 1930er Jahren über den Zusammenhang von „Sprache, Denken, Wirklichkeit“20 stellen diese Begriffe in den weiterreichenden Zusammenhang der jeweiligen Sprachstruktur. Sein „linguistisches Relativitätsprinzip“ geht davon aus, dass die jeweilige Grammatik den Gedanken formt. Denn in der Grammatik steckt eine ganze Weltsicht mit den spezifischen Orten für Subjekt, Prädikat und Objekt und den Auffassungen von Ursache und Wirkung, Raum und Zeit. Whorf hat im Vergleich der europäisch-amerikanischen Kultur mit verschiedenen indianischen Sprachgemeinschaften die Relativität der Sprach- und Wirklichkeitswelten aufgezeigt. „Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen geführt.“21 Entsprechend dieser Struktur werden Metaphern hervorgebracht und in einen entsprechenden Rahmen eingepasst. Das bedeutet nun nicht, dass diese Wirklichkeiten nicht unveränderlich seien, sie sind nur sehr beharrlich. George Lakoff hat anhand der Metaphern in der politischen Sprache rekonstruiert, wie sich nicht nur hinter unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zielen und Werten unterschiedliche Sichtsweisen der Welt verbergen, sondern wie auch andererseits mit der Wahl von Bildern wie z. B. dem „Krieg gegen den Terror“ oder der „Achse des Bösen“ absichtlich eine bestimmte Perspektive und damit eine vermeintliche Wirklichkeit konstruiert werden kann.22 Arendts Konflikt mit der denkerischen Tradition der abendländischen Philosophie hat sie zu den Grundlagen von Denken und Sprechen zurückgeführt und eine eigene Sprache entwickeln lassen. Wenn ihre Sprache und ihr Denken die Kritik ihrer Zeitgenossen hervorrief, dann entzündete sie sich letztlich an dem vorhandenen Unterschied von Perspektiven.

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in Bildern, sondern durch die bildaktive Bewegung überhaupt erst konstituiert wird, in Zeichnungen, Statuen oder auch Instrumenten. Das ist für mich der ‚heiße Kern‘ dessen, was den iconic turn ausmacht.“ Bredekamp, H. (2005): Im Königsbett der Kunstgeschichte, Interview. In: Die Zeit, Nr. 15. Online verfügbar unter www.zeit.de/2005/15/Interv_Bredekamp, zuletzt geprüft am 9.4.2009. Dabei geschieht eine Begriffsbildung nicht nur durch eine abstrahierende Schematisierung einer ursprünglich metaphorischen Bedeutung, sondern auch durch die Versteinerung der Metapher. Whorf, B. L. (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit, Reinbek. Ebd., S .20. Vgl. Lakoff, G.; Wehling, E. (2008) a. a. O., S. 126 ff. 365

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Bei ihrer Beschäftigung mit der Frage, was uns denn zum Denken bringe, betont Arendt nicht zufällig die Rolle des Sehens in der griechischen Philosophie. Die Menschen bestanden demnach aus nous und logos, stummer geistiger Anschauung und dem Versuch, das Geschaute in Worte zu fassen. Die Aufgabe des logos sei es, auf möglichst adäquate Weise, der Wahrheit verpflichtet, „zu sagen, was ist“ (Herodot).23 Es war nicht zufällig Herodot, der Weltreisende, der jeglichem Urteil die praktische Anschauung voranstellte, sondern auch stumme Gottesschau, theorein, in den Rahmen einer Reise stellte. Er erzählte „von Solon, der, nachdem er die Athenischen Gesetze entworfen hatte, zehn Jahre auf Reisen ging, teils aus politischen Gründen, teils aber auch zum Schauen – theorein“24 und sich mit dem Phänomenen in ihrer Konkretheit befasste.25

III. Die Vielfalt der Perspektiven Literatur und Erzählungen sind nicht nur ein entscheidender Schlüssel zur Wirklichkeit. Erzählungen sind auch umgekehrt unverzichtbar, um dem Geschehen einen Sinn zu geben und dadurch lebendig zu sein: „Wer das Leben nicht in der Vorstellung wiederholt, wird niemals ganz lebendig sein können; ‚der Mangel an Vorstellungskraft‘ hindert die Menschen daran, wirklich zu ‚existieren‘.“26 Diese Vorstellungskraft dient nicht nur dem Durchdenken, sondern auch der Beurteilung des Geschehenen. So ist auch dieses Urteilen ein bildlicher Vorgang, ein re-‚präsentativer‘, der der Wirklichkeit nicht durch logisches Schlussfolgern gerecht werden kann, sondern nur durch die Einbildungskraft und die erweiterte Denkungsart, die alle möglichen wirklichen oder auch nur möglichen anderen Perspektiven in die eigene Urteilsfindung mit einbezieht. Wenn Arendt erklärt, dass ihre Methode im Grunde immer von der Unterscheidung ihren Ausgangspunkt nehme, A sei nicht dasselbe wie B,27 und dass das einzige, was uns helfe, ein „réfléchir“ sei, ein Nachdenken, das immer kritisches Denken im Sinne von Unterminieren und Dagegensein bedeute, dann ist damit nicht scholastisches Argumentieren gemeint, sondern ein „Denken ohne Geländer“, das jedes Ereignis vor dem Hintergrund von Erfah23 Arendt, H. (1979) a. a. O., S. 138. 24 Ebd., S. 164. 25 Zur Bedeutung der Anschauung bei Arendt vgl. auch Birmingham, P. (1999): Hannah Arendt: The spectator’s vision. In: Hermsen, J.; Villa, D. R. (Hg.): The Judge and the Spectator: Hannah Arendt’s Political Philosophy, Leuven, S. 2941. 26 Arendt, H. (1989): Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ludz, U., München, S. 115. 27 Arendt, H. (1996) a. a. O., S. 112. 366

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rung und erweiterter Denkungsart neu durchdenkt. Nicht nur im moralischen Urteil, sondern auch im politischen geht es um Einzelfälle, die als solche beurteilt werden müssen. Mit ihren Studenten hat Arendt, wie sie es nannte, „Übungen in Einbildungskraft“ als Bedingung des Urteilens unternommen. Bei diesen Übungen geht es darum, sich in andere hineinzuversetzen und deren Erfahrungen zu verstehen. Das hat nichts mit Empathie zu tun, auch nicht mit psychologischer Analyse, sondern damit, sich „vorzustellen, wie man selbst gefühlt, gedacht etc. hätte. Man denkt seine eigenen Gedanken, aber an der Stelle von jemand anderem. Nur wenn man seine eigenen Gedanken denkt, kann man eigentlich erfahren, wenn auch auf eine vermittelte Weise, stellvertretend.“28 Mit Hilfe der Einbildungskraft ist es möglich, andere Perspektiven und ihre jeweiligen Umstände zu berücksichtigen. Eine solche Perspektive ist keine abstrakte, sondern eine, die zugleich das Fühlen und Erleiden mit einbezieht. Es verwundert nicht, dass Arendt in diesen Seminaren wieder fast ausschließlich Literatur verwendet hat. Und es verwundert auch nicht, dass sie auch ihre zahlreichen Essays als „Übungen im politischen Denken“ bezeichnete und erklärte, ihr Denken trage wie alles Denken „das Merkmal des Vorläufig-seins“29. Bemerkenswert ist die enge Bindung, die Arendt zwischen Erfahrung, Einbildungskraft und Urteil herstellte. Wovon handelt das Urteil auf moralischem und politischem Gebiet? Von Beispielen. „Die Einbildungskraft“, notierte Arendt in ihr Denktagebuch, „ist zum Urteilen nötig, weil ohne sie keine Alternativen vorliegen würden. Sie re-präsentiert, was gerade nicht vorliegt, nämlich Beispiele und Vorbilder. Ohne Einbildung ist das Urteil blind, ohne Urteil ist die Einbildung leer!“30 Dieses Urteil in Beispielen ist kasuistisch. Deshalb bezeichnete auch Kant das Beispiel als einen „Gängelwagen der Urteilskraft“31. Repräsentatives Denken ist exemplarisch. Dabei geht es nicht nur um die Bedeutung einzelner Beispiele wie der Taten des Achilles als Beispiele des Muts oder derjenigen Adolf Eichmanns als Beispiele für die Gedankenlosigkeit eines Verwaltungsmassenmörders. Es geht zugleich auch um den Kontext. Arendt veranschaulicht das in ihrer Vorlesung zur Moral am Beispiel des Anblicks eines Wohnhauses in einem Slum. Es erregt in ihr „die Vorstellung von Armut und Elend. Ich komme zu dieser Vorstellung, indem ich mir vergegenwärtige, wie ich mich fühlte, wenn ich dort leben müsste, das heißt, ich versuche an der Stelle des Slum-Bewohners 28 Arendt, H. (2007): Politische Erfahrung im 20. Jahrhundert. In: Heuer, W.; Lühe, I. v. d. (Hg.): Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, Göttingen, S. 218; Ausführlicher zu diesem Seminar: Heuer, W. (2007): Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen. In: ebd., S. 197-212. 29 Arendt, H. (1996) a. a. O., S. 112. 30 Arendt, H. (2002) a. a. O., S. 680. 31 Kant, I. (1798): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, §2. 367

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zu denken.“32 Das bedeutet nicht, notwendigerweise mit dessen Urteil übereinzustimmen, aber es mit ganzer Einbildungskraft zu berücksichtigen. Insofern ist das eigene Urteil nicht mehr subjektiv. „Die Gültigkeit solcher Urteile wäre weder objektiv und universal, noch subjektiv, von persönlichen Einfällen abhängig, sondern intersubjektiv oder repräsentativ.“33 Dieser Vorgang, sich in eine Gemeinschaft mit anderen Urteilenden zu begeben, bezeichnet Arendt als Gemeinsinn, als „die Mutter der Urteilskraft“34.

IV. Ein Bild von den Flüchtlingen Welche Rolle spielen die drei Aspekte Erfahrung, Sichtbarkeit und Perspektivenvielfalt für das Bild von den Flüchtlingen heute? Alle drei Aspekte bilden das, was wir, beflügelt auch durch Foucaults Analysen des Zusammenhangs von Wissen und Macht, als ein Wissen über die Flüchtlinge bezeichnen können, das weit mehr ist als die Summe von Informationen und sich auch nicht auf die Frage nach Vorurteilen auf der Ebene von Meinung und Argumentation reduzieren lässt. Ein wie auch immer geartetes Wissen beruht vielmehr auf Erfahrungen und Praktiken, die zu entsprechenden Bildern und Urteilen verarbeitet werden. Dieses Wissen ist Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensbestandes, in den die verschiedenen Formen des Erscheinens der Fremden eingehen. Sie erscheinen an den Grenzen, sie sind die Anderen, die Illegalen, sie sind nicht Teil der Gesellschaft, sie sind die Ausgeschlossenen, Geduldeten, Internierten, Abzuschiebenden, die nicht Sesshaften. Sie widersprechen in allen grundlegenden Fragen der Herkunft, des Aufenthalts, der Arbeit, der Tradition und der Kommunikation der feststehenden Ordnung der Gesellschaft.35 Das ist der Blick, der entsprechende Bilder erzeugt. In einer Untersuchung über die Metaphern im Einwanderungsdiskurs in Deutschland zeigte sich, dass allein in der Wochenzeitschrift DER SPIEGEL über Jahrzehnte hinweg von 1947 bis 1988 Bilder des Wassers, des Feuers und des militärischen Kampfes benutzt wurden, um die Bewegungen von Flüchtlingen zu beschreiben. Es ging um Ströme, Fluchtwellen, Schwemmen, Asylantenflut, Schleuser, Sogwirkungen und Rettungsinseln; es ging um schwelende Konflikte, um ein Aufflackern, Anheizen, Anfachen und Entzünden, und es ging um Heere, Reservearmeen, Vorposten, Einfallstore, Invasionen und sozialen Spreng32 Arendt, H. (2006): Über das Böse. Eine Vorlesung zur Fragen der Ethik. Aus dem Nachlass, hg. v. Kohn, J., München, S. 142. 33 Ebd., S. 143. 34 Ebd. 35 Vgl. Terkessidis, M. (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld. 368

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stoff.36 Weitere Metaphern stammten aus der Welt der Krankheit und des Warenverkehrs und verstärkten die bedrohliche Szene. Das Bild, das mit diesen Metaphern gezeichnet wurde, war deutlich negativ und wurde „häufig mit dem Unterton der Übertreibung zur Dramatisierung und / oder zur Kritik der Verhältnisse eingesetzt“37. Diese Sprache heizte bis in die 90er Jahre hinein auch einen Diskurs der Ausländerfeindlichkeit an. Er hat sich erst mit der Erkenntnis, dass Deutschland auf Dauer Migranten benötigt, gemildert. Seitdem wird auf der Grundlage entsprechender europäischer Regelungen die Perspektive eines, wie es in der Verwaltungssprache heißt, „sicheren Drittstaates“ eingenommen. Nun werden aus der Distanz des Zuschauers die „Tragödien“ im Mittelmeer bedauert, mit denen man nichts weiter zu tun hat. Die Abwehr der Flüchtlinge wird jetzt mit Bildern aus der Dienstleistungsgesellschaft beschrieben: Da werden statt Lager „Aufnahmezentren“ eingerichtet, die Flüchtlinge befinden sich in „Transitzonen“, und mit Kapverden wird über eine „MobilitätsPartnerschaft“ verhandelt, bei der eine begrenzte Anzahl von Arbeitserlaubnissen ausgestellt werden soll, sofern sich Kapverden zur Rücknahme aller illegalen Flüchtlinge in Europa verpflichtet. Das Bild der gesichtslosen Menge, der Flut, ändert sich nicht; nur der Standort hat sich von dem der aufgeregten Betroffenheit zu dem einer desinteressierten Nichtbetroffenheit gewandelt. Mit dem Bild der gesichtslosen Masse ist eine Entpersonalisierung verbunden, die an Arendts Analyse der Massengesellschaft und der Aufhebung der Individualität in der totalitären Bewegung erinnert, ebenso auch an ihre Darstellung der einzelnen Schritte der Enthumanisierung von Gefangenen, die ihre schließliche Vernichtung erleichtert. Welche Bilder machen wir uns angesichts dieser Gefahren von den Flüchtlingen als jeweils individuelle Personen? Man könnte wie Arendt die Frage stellen, welche Erfahrungen die Europäer z. B. mit den Menschen in Afrika machen, ob sich der Albtraum einer Reise in das „Herz der Finsternis“ eines Joseph Conrad gewandelt hat und für den modernen Massentouristen die fremden Völker ihren Schrecken verloren haben. Die Antwort darauf wird sein, dass es eine Zweiteilung gibt: die Welt der Bürgerkriege, zerfallenden Staaten und AIDS-Toten auf der einen Seite und die Welt der Touristen-Resorts auf der anderen. Es sind so genannte „tourist bubbles“, die eine Kunstwelt des exotisch Reinen mit Sonne, Meeresluft und schön anzusehendem Personal beinhalten, die mit Mauern und Wachper-

36 Böke, K. (1997): Die „Invasion“ aus den „Armenhäusern Europas“. Metaphern im Einwanderungsdiskurs. In: Jung, M. u. a. (Hg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses, Opladen, S. 164-191. 37 Ebd., S. 191. 369

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sonal den Blick auf Armut, Schmutz und Migranten verstellt.38 Solch eine Wunschwelt mutet außerhalb dieser Mauern wie eine Fata Morgana an: Mal nimmt sie das Aussehen des romantischen Kolonialismus in Tansania an, der in dem Film „Out of Africa“ so schön anzusehen war, mal das des authentischen griechischen Kellners auf Kreta, der sich leider als albanischer Gastarbeiter herausstellt, mal das einer abenteuerlichen Favela-Tour in Rio mit besonderer Erlaubnis der mörderischen Drogengangs.39 Auch Heidegger suchte seine Wunschwelt, als er auf den Spuren Hölderlins nach Griechenland fuhr und enttäuscht von der Wirklichkeit zurückkehrte.40 Das anzublicken, was sich einem tatsächlich darbietet, ist oft nur schwer auszuhalten. Der großartige Humanist und Reisende Ryszard Kapuscinski, einer der Neugierigsten auf andere Menschen und ihre Welten, stellte fest, dass nicht nur das Reisen als Lebensform eine Seltenheit ist, sondern „auch eine tiefere Neugier für die Welt […] nicht allgemein verbreitet [ist]. Die meisten Menschen interessieren sich kaum für die Welt.“ Dabei findet er schon bei dem Reisenden und ‚Gesellschaftsforscher‘ Herodot die Feststellung, dass die Erkenntnis des Anderen und die Erkenntnisse seiner selbst in einem engen Verhältnis zueinander stehen. „Er begreift, dass er, um sich selber besser erkennen zu können, die Anderen kennenlernen muss, weil sie der Spiegel sind, in dem wir uns selbst sehen.“41 Das bedeutet, sich in eine plurale Beziehungswelt zu begeben und mit Hilfe der von Arendt genannten Einbildungskraft angesichts des Slums auch einen ganz realen Ortswechsel vorzunehmen: Das bedeutet, zum Beispiel den Weg der Flüchtlinge von Accra in Ghana über Lagos in Nigeria, Agadez in Niger, Tamanrasset in Algerien bis nach Tanger nachzuvollziehen, oder über Niamey, Ouagadougou, Bamako, Nouakchott, Dakhla und Rabat. Kaum einer geht diesen Weg so wie der Journalist Klaus Brinkbäumer, der mit einem ghanaischen Flüchtling, der heute legal in Spanien lebt, den Fluchtweg noch einmal zurücklegte. 42 Ein Weg, der ursprünglich zweieinhalb Jahre dauerte

38 Michel Houellebecqs literarische Beschreibung des Sex-Tourismus nach Thailand beruht auf dieser Selbstbezogenheit, vgl. Houellebecq, M. (2003): Plattform, Reinbek. 39 Vgl. Backes, M. u. a. (Hg.) (2006): Fenster zur Parallelwelt. Reisebilder & Fernwehgeschichten, Freiburg. 40 Terkessidis, M.: Post- / Koloniale Reisebilder, www.einseitig.info/html/content. php?txtid=500, zuletzt geprüft am 9.4.2009: „Vor Delos ist alles ein NochNicht, nach Delos ein Nicht-Mehr. Die anderen Orte, die er sieht, dienen ihm lediglich als Folie, um jenes Authentisch-Griechische, das er sucht, von allen ‚fremden‘ Einflüssen zu reinigen.“ Vgl. auch Terkessidis, M.; Holert, T. (2006): Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen, Köln. 41 Kapuscinski, R. (2008): Der Andere, Frankfurt/M., S. 13 ff. 42 Brinkbäumer, K. (2006): Der Traum vom Leben. Eine afrikanische Odyssee, Frankfurt/M. 370

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und den Flüchtling in die Hände von wucherischen Fluchthelfern, Räubern und korrupten Polizisten führte, bis er schließlich an den Grenzen Europas stand. Es sind die Besten, die einen solchen Weg überstehen, jung, gebildet, unternehmungslustig, ehrgeizig. Offenbar bedarf ein solcher Perspektivwechsel nicht bloß der Einbildungskraft, sondern auch der Erfahrung im wörtlichen Sinn. Ein Bild der Flüchtlinge, das „sagt, was ist“, besteht nicht bloß aus mehr Bildern als den oben als zahlenmäßig zu wenig und inhaltlich zu stereotyp bemängelten Bildern von Flüchtlingen in Booten und an Grenzen. Es besteht aus Bildern von Personen, Akteuren, Orten, Umgebungen, Stimmungen, wie von Reisenden wie Herodot, Solon und Kapuscinski gezeichnet.43 Insofern hält Arendt einen Perspektivwechsel bereit, der geeignet ist, unser Bild von den Flüchtlingen zu verändern: anstelle jener Flüchtlinge, die als Fliehende, um ihr Leben Laufende, sich Anpassende und Verbergende erscheinen, jene zu sehen, die diese Anpassung und Selbstverleugnung verweigern, die erscheinen und sprechen. Hannah Arendt hat selber als Flüchtling 1943 in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“44 mit bitterer Ironie die Assimilationsversuche jüdischer Flüchtlinge als Selbst- und Weltflucht angeprangert und jene als Vorbild empfohlen, die „keine Emporkömmlinge sein wollten und den Status des ‚bewussten Paria‘ vorzogen“, die dadurch „ihre menschliche Einstellung und ihren natürlichen Wirklichkeitssinn“ bewahrten. Es sind wenige, aber, so Arendt, sie „repräsentieren die ‚Avantgarde ihrer Völker – wenn sie ihre Identität aufrechterhalten“.45 Dieser doppelte Perspektivwechsel – mit dem Flüchtling auf die Reise zu gehen und in ihm nicht nur den Parvenu, sondern auch den Paria zu sehen – bedeutet zu akzeptieren, dass wir bei einem solchen Vorgang des Urteilens nicht mehr dieselben bleiben werden. Nicht nur unsere Kultur ändert sich, denn Migrationen führen zur Entstehung von hybriden Kulturen46, auch wir werden nicht mehr den Anderen als den Anderen gemessen an dem unverrückbaren Maßstab unseres Ichs definieren. Denn „Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen“47, so Arendt, heißt, das zu Nahe auf Distanz zu bringen und zugleich Abgründe zu überbrücken. Dabei bedeuten das zu Nahe die di43 Arendt beschrieb die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit der Vernichtungslager der Nazis erst zum Zeitpunkt ihrer Öffnung durch die Alliierten mit Filmen und Aufnahmen adäquat wiedergeben zu können, in: Arendt, H. (1986a) a. a. O., S. 685; vgl. auch Sontag, S. (2003): Das Leiden anderer betrachten. München; Wien, S. 97 f. 44 Arendt, H. (1986b): Zur Zeit. Politische Essays, hg. v. Knott, M. L., Berlin. 45 Ebd., S. 20 f. 46 Vgl. Bhabha, H. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen; Bronfen, E.; Marius, B.; Steffen, T. (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen. 47 Arendt, H. (1994) a. a. O., S. 127. 371

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rekte Erfahrung und die Abgründe das bloße Wissen. Damit aber geraten wir selber in Bewegung. Und dann ist uns diese Einbildungskraft der „einzige innere Kompass“, den wir auf dieser Art von Reise haben und ohne den wir nichts verstehen werden, keine Heimat in der Welt finden und nicht einmal mehr Zeitgenossen sein werden.48

48 Ebd. 372

IV

Die nationalen Erinnerungsgemeinschaften und die Frage nach dem geschichtlichen Bewusstsein Europas BERND FAULENBACH Nach wie vor sind die Erinnerungskulturen in Europa ganz überwiegend national strukturiert. Gleichzeitig aber bildet Europa einen Staatenverbund, in dem die einzelnen Nationen einander näher gerückt sind. Deshalb stellt sich – zumal seit der Erweiterung der Europäischen Union – in neuer Weise die Frage nach dem Umgang mit unterschiedlichen, teilweise auch entgegengesetzten Erinnerungen. Damit verknüpft ist die weitergehende Frage nach der Möglichkeit der Herausbildung einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft und der Rolle, die Politik dabei spielen kann und soll. Wir erörtern hier diese Frage im Hinblick auf die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, insbesondere den Zweiten Weltkrieg, dessen Erfahrungen für die Bildung der Europäischen Gemeinschaften geradezu konstitutiv waren, was die Frage nach einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft besonders dringlich erscheinen lässt. Vorab einige Bemerkungen zum Begriff Erinnerungsgemeinschaft. Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann u. a. haben die Vergemeinschaftungsfunktion von kollektiven Erinnerungen herausgearbeitet.1 Demnach tendieren Gruppen, die länger existieren oder gar auf Dauer angelegt sind, dazu, sich ein gemeinsames Bild der Geschichte der Gruppe und ein Gedächtnis zuzulegen. Insbesondere sind es herausragende Ereignisse, an die bei bestimmten Anlässen erinnert wird. Die gepflegten Erinnerungen sind dementspre1

Vgl. Halbwachs, M. (1985a): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M; Halbwachs, M. (1985b): Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M; Assmann, J. (1999): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, S. 34 ff; Assmann, A. (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Aufl., München. 375

BERND FAULENBACH

chend bezogen auf die Vergangenheit selektiv. Durch das Erinnern wird ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart hineingeholt, das Erinnern ist dadurch immer auch auf die Gegenwart hin orientiert. Bedeutsam ist, dass die gemeinsamen Erinnerungen die Gruppen stabilisieren. Städte, Gemeinden, Parteien, Vereine, vor allem aber Nationen sind Gruppen, die – neben anderen Funktionen – eben auch Erinnerungsgemeinschaften sind. Hier wollen wir zunächst die Bedeutung von Geschichte für die nationalen Selbstverständnisse kennzeichnen, dann die Sicht des Zweiten Weltkrieges, des Holocausts, der kommunistischen Herrschaft für die verschiedenen Nationen charakterisieren, nach weiteren gemeinsamen Erinnerungen fragen, um dann einige Überlegungen zu einer europäischen Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik anzustellen.

I. In den europäischen Nationsbildungsprozessen seit dem 19. Jahrhundert spielte Geschichte durchweg eine wichtige Rolle. Nationale Identität wurde über Geschichte begründet, geradezu konstituiert. Dabei waren gemeinsame Erfahrungen – die Nation als „Schicksalsgemeinschaft“ – bedeutsam. Unübersehbar war die Suche nach Ursprüngen, Herkunftslinien, Verbindungen zu einer realen oder imaginierten Vergangenheit. Nationale Geschichte wurde dabei nicht selten ein Stück weit konstruiert. Eric Hobsbawm hat von „invention of tradition“ als konstitutivem Moment von Nations- und Nationalstaatsbildungsprozessen gesprochen.2 Häufig kamen jedoch bei dieser spezifischen Aneignung von Geschichte die anderen Nationen als Feinde, gegen die die eigene Identität durchgesetzt oder behauptet werden musste, in den Blick. Im gegenwärtigen Europa kann man recht verschiedene Stadien der Nationenbildung und der Herausbildung nationaler Erinnerungsgemeinschaften feststellen. Die meisten Nationen bilden Erinnerungsgemeinschaften mit entwickelten Erinnerungskulturen und historisch-politischen Selbstverständnissen. Doch gibt es auch Nationen im Osten, die gerade dabei sind, die maßgeblichen Erinnerungen festzustellen und nationale Selbstbilder zu konstruieren.3 Dies gilt etwa für die baltischen Länder oder die Ukraine. Meist spielen auch heute noch bestimmte Schlüsselereignisse eine herausragende Rolle, sie werden nicht selten mythisiert. Wichtig in unserem Zusammenhang aber ist, dass die Erinnerungen meist verschiedene Nationen umfassen und damit ganz oder teilweise unterschiedlich bewertet werden.

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Hobsbawm, E.; Ranger, T. (Ed.) (1983): The Invention of Tradition, Cambridge. Vgl. Hobsbawm, E. (2001): Wie viel Geschichte braucht die Zukunft? München.

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DIE NATIONALEN ERINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN

Dies gilt z. B. für Kriege und Vertreibungen, die etwa in Europa von den 20er bis Ende der 40er Jahre viele Nationen betrafen und auch in der Gegenwart noch zu heftigen Diskussionen führen.4 Auf diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass nationale Erinnerungen mehr oder weniger separieren. Sie prägen z. T. nicht nur das eigene Selbstverständnis, sondern stützen Ressentiments gegenüber den anderen oder sind gar mit politischen Ansprüchen an diese verbunden. Dies aber macht die nationalen Erinnerungsgemeinschaften zum europäischen Problem. In besonderer Weise gilt dies im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vieles spricht dafür, dass seit 1989/90 die nationalen Erinnerungskulturen in Europa, vor allem in Osteuropa, gestärkt worden sind. Dan Diner hat gemeint, dass der Kalte Krieg als „Neutralisator des nationalistischen Nährbodens“ und der in ihm verwurzelten partikularistischen Erinnerungen gewirkt“ habe.5 Die Befreiung vom Kommunismus hat demnach die Hinwendung zur Nationalgeschichte zur Konsequenz, die aus europäischer Sicht ambivalent ist.6

II. Der Zweite Weltkrieg hat fast alle Nationen betroffen und sie haben unter dem Geschehen gelitten. Insofern verbindet tatsächlich die Erinnerung an den Krieg und die daraus gezogene Folgerung „Nie wieder Krieg“ die verschiedenen Nationen. Dementsprechend ist in weiten Teilen Europas Krieg – auch auf dem Hintergrund gemeinsamer leidvoller Erfahrungen – kaum vorstellbar. Trotz dieser Gemeinsamkeit ist freilich festzustellen, dass der Zweite Weltkrieg in den verschiedenen Ländern unterschiedlich erlebt und auch auf unterschiedliche Weise erinnert worden ist. Die Ausstellung des Deutschen

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Vgl: Naimark, N. M. (2004): Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München; Faulenbach, B.; Helle, A. (Hg.) (2005): Zwangsmigration in Europa, Essen. Diner, D. (2001): Der Holocaust in den politischen Kulturen Europas: Erinnerung und Eigentum. In: Auschwitz. Sechs Essays zu Geschehen und Vergegenwärtigung, hg. V. Henke, K.-D., Dresden, S. 65-73, Zitat S. 66. Vgl. Mommsen, M. (1992); Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie, München; Krossa, A. S. (2005): Kollektive Identitäten in Ostmitteleuropa: Polen, Tschechien und Ungarn und die Integration der Europäischen Integration, Berlin; Leo, A. (Hg.) (1997): Die wiedergefundene Erinnerung. Verdrängte Geschichte in Osteuropa, Berlin; Schirrmacher, F. (Hg.) (1990): Im Osten erwacht die Geschichte. Essays zur Revolution in Mittel- und Osteuropa, Stuttgart. 377

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Historischen Museums über die „Mythen der Nationen“ hat dies beeindruckend gezeigt.7 Es sind verschiedenartige Tatbestände, die aus dem Krieg erinnert werden. Hinzu kommen differierende Perspektiven, Wahrnehmungsmuster und Wertungsmaßstäbe. In Russland erinnert man sich an den Großen Vaterländischen Krieg, der nach dem Ende der Sowjetunion vielleicht der wichtigste integrative Erinnerungskomplex ist.8 In England ist es der zeitweilig fast alleine geführte Krieg gegen Nazi-Deutschland, der intensiv erinnert wird. In Frankreich, in dessen Erinnerungshaushalt der Erste Weltkrieg immer noch eine eminente Rolle spielt, war es lange vor allem die Résistance, die im Mittelpunkt der auf den Zweiten Weltkrieg bezogenen Erinnerungskultur stand, während das Vichy-Regime wenig beachtet wurde – die Ausblendung bestimmter Komplexe ist offensichtlich die Kehrseite der Erinnerungskulturen. Noch spezifischer war die Konzentration auf die Resistenza in Italien, von wo der Faschismus seinen Ausgang genommen hatte.9 In vielen osteuropäischen Ländern war es ebenfalls der Widerstand gegen die Deutschen, bei dem sich das Interesse in kommunistischer Zeit nur auf bestimmte Gruppen richtete, andere eskamotiert oder denunziert wurden. Nach 1989 nun wurden nationale Widerstandsgruppen wiederentdeckt und geehrt, die keineswegs alle eine demokratische Orientierung aufwiesen. Auffällig ist dabei: zum einen die politische Prägung, auch Instrumentalisierung der Erinnerung in der Nachkriegsepoche, zum anderen, dass die Erinnerung sich lange Zeit vorrangig auf positives Handeln richtete und keineswegs unbedingt auf die Opfer. Immerhin wurden mancherorts, etwa in Polen, wo dies dem eigenen Selbstbild entsprach, auch an die Millionen Ermordeten erinnert. Was in der Nachkriegsepoche meist vergleichsweise wenig vorkam, das war das für das nationale Gedächtnis moralisch Belastende, Negative, Ruhmlose. In dieser Hinsicht hat sich das Bild erst in den letzten beiden Jahrzehnten teilweise differenziert. Jetzt erhält mancherorts die Erinnerung Momente, die schuldhafte Verstrickungen der eigenen Nation in Krieg und Verbrechen erkennen lassen. Komponenten dieser Art sind demgegenüber im deutschen Gedächtnis, wie es sich in der Bundesrepublik herausgebildet hat – und das 7 8

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Vgl. Flake, M. (Hg.) (2004): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, 2 Bde, Berlin. Vgl. Langenohl, A. (2000): Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Russland, Göttingen. Vgl. auch die Beiträge von Bernd Bonwetsch, Isabelle de Keghel, Andreas Langenohl und Heinz Timmermann in: Faulenbach, B.; Jelich, F.-J. (Hg.) (2006): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen, S. 221 ff. Vgl. die Beiträge von Ulrich Pfeil und Kerstin von Lingen, in: Faulenbach, B.; Jelich, F.-J. (2006) a. a. O., S. 299 ff.

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DIE NATIONALEN ERINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN

macht die deutsche Ausnahmestellung aus10 – geradezu vorherrschend. Hier wird das Gedächtnis geprägt durch die Erinnerung an ein ebenso furchtbares wie sinnloses Geschehen. Zentral ist dabei der Holocaust, umfasst aber auch den Krieg auf den Schlachtfeldern. Man muss in der Normandie nacheinander Soldatenfriedhöfe der Amerikaner und Briten und danach der Deutschen besuchen, um etwas von der unterschiedlichen Bewertung des Krieges und des Soldatentodes und der Möglichkeit, diesen in Sinnzusammenhänge einzuordnen, zu ahnen. Allerdings gibt es auch in Deutschland die Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler, in der Gegenwart weniger an den – lange von kommunistischer Seite allzu instrumental genutzten – Widerstand der Arbeiterbewegung als vielmehr den der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944, die in der frühen Nachkriegszeit zunächst noch sehr strittig gewesen war. Das Bedürfnis nach positiver nationaler Identifikation konkurriert im Grunde auch hier mit der Identifikation mit dem einzigartig Negativen.

III. Eine herausragende Rolle im gegenwärtigen Europäischen Geschichtsbewusstsein spielt der Holocaust. Dan Diner hat die These vertreten, dass das zunehmend integrierte Europa im Holocaust eine einende Erinnerung finde.11 Der Holocaust sei inzwischen zu einem „veritablen Gründungsmythos“ umgeformt worden. Hält die These im Hinblick auf ganz Europa einer Überprüfung stand? Vieles spricht für Antonia Grunenbergs Feststellung, dass seit 1989, durch den Zerfall der Blöcke, die NS-Verbrechen in einem neuen Licht erscheinen: aus einem „Geschehen in Europa“ sei ein „europäisches Geschehen“ geworden. Ohne Komplizenschaften in den europäischen Ländern hätte Hitler „sein mörderisches Geschäft nicht verrichten“ können.12 Und Götz Aly hat vor einiger Zeit die großen Unterschiede bei der Realisierung des Holocaust in Europa hervorgehoben, die nicht zuletzt von der Bereitschaft der verschiedenen Länder, ihrer Behörden und Führungsgruppen zur Kollaboration abhing.13 So zweifelsfrei der deutsche Ursprung und die deutsche Verantwortung für den

10 Aus der Sicht mancher Beobachter sind allerdings auch die Deutschen auf dem Weg der Normalisierung. Vgl. z. B. Sloterdijk, P. (2008): Theorie der Nachkriegszeiten, Frankfurt/M., S. 50 ff. 11 Diner, D. (2001) a. a. O, S. 65 ff. 12 Grunenberg, A. (2001): Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart, Berlin, S. 168. 13 Vgl. Aly, G.: Auschwitz und die Politik der Vertreibung, in: Faulenbach, B.; Jelich, F.-J. (2006) a. a. O., S. 35-44. 379

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Holocaust sind, so wird inzwischen mancherorts in Europa bewusst, dass Menschen aus verschiedenen anderen Völkern auf die eine oder andere Weise an diesen Verbrechen beteiligt waren. Franziska Augstein hat pointiert formuliert, während vor 1989 Auschwitz – nicht das „historisch-reale“, sondern das „gegenwärtig-metaphorische“ – in Deutschland gelegen habe, so liege es seit 1989 potentiell überall.14 Sie hebt damit darauf ab, dass Auschwitz – wie inzwischen durchweg anerkannt wird – ein universales Verbrechen war. Die Gründung einer internationalen Task Force zur Aufarbeitung des Holocaust scheint in die gleiche Richtung zu deuten.15 Allerdings gibt es zumal in Osteuropa Widerstände gegen diese Sicht des Holocaust. Hier sieht man sich vorrangig selbst als Opfer der NS-Eroberungsund Vernichtungspolitik, vor allem aber des sowjetischen kommunistischstalinistischen Imperialismus. Wie man dabei beide Komplexe gewichtet, differiert in den verschiedenen Ländern.16 Die Frage nach der eigenen Rolle wird im Hinblick auf den Holocaust nur bedingt gestellt. Generell aber lässt sich feststellen, dass sich inzwischen eine internationale bzw. transnationale Holocaust-Erinnerungskultur in Europa, den USA und in Israel herausgebildet hat. Die großen Vernichtungslager sind – ähnlich wie die Konzentrationslager – zu Orten internationaler Erinnerung geworden, in denen freilich nach wie vor zwischen Opfern verschiedener Nationalität differenziert wird.17 Im Holocaust-Gedenken ist sicherlich eine internationale bzw. transnationale Dimension unübersehbar. Wie eng dieses Gedenken indes mit dem europäischen Bewusstsein verbunden ist – immerhin gibt es die HolocaustErinnerungskultur auch außerhalb Europas – lässt sich schwer beantworten.

14 Augstein, F.(2002): Deutschland (= Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Berichte zur Gegenwart). In: Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, hg. v. Knigge, V.; Frei, N., München, S. 221-232, hier S. 225. 15 Zur „Task Force“ for International Cooperation of Holocaust Reeducation, Remembrance and Research siehe: The Stockholm International Forum on the Holocaust. Produktion: Swedish Information. Dazu kritisch: Lutz, T. (2001): Internationale Aspekte und Internationalisierung der Gedenkstättenarbeit. In: Gedenkstätten-Rundbrief 100, hg. v. Stiftung Topographie des Terrors, Berlin, H. 4, S. 123-135, hier S. 125 ff. 16 Vgl. Faulenbach, B.; Jelich, F.-J. (2006), a. a. O.; Knigge, V.; Mählert, U. (Hg.) (2005): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Osteuropa, Köln; Weimar; Wien. 17 Zu erinnern ist an die Debatte um die nationalen Ausstellungen in der Gedenkstätte Ravensbrück. Vgl. Eschebach, I.; Jacobeit, S.; Landwerd S. (Hg.) (1999): Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1995, Berlin, S. 120 ff. 380

DIE NATIONALEN ERINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN

IV. Gegenwärtig wird darüber diskutiert, inwieweit die kommunistische Herrschaft, die von ungleich längerer Dauer als die Herrschaft der Nazis und NSDeutschlands war, ebenfalls eine negative gemeineuropäische Erinnerung darstellt. In der Tat ist auch sie – vor allem in der stalinistischen Periode – für Menschheitsverbrechen verantwortlich. Und auch hier waren die Auswirkungen in den verschiedenen osteuropäischen Staaten zwar vergleichbar, wiesen aber doch auch große Unterschiede auf. Sicherlich hatte die kommunistische Herrschaft ihr Epizentrum an der europäischen Peripherie. Russland ist ein europäisches Land, das große Teile Asiens umgreift. Dementsprechend war der sowjetische Kommunismus, dessen Ideologie ohnehin in Mitteleuropa entstand, ein europäisches Phänomen, wenn in diesem Kommunismus auch spezifisch russische Züge eingingen. Und auch die Tatsache, dass man im Hinblick auf die kommunistischen Verbrechen von Regimeverbrechen im Gegensatz zu Nationen-Verbrechen wie beim Nationalsozialismus gesprochen hat, spricht nicht wirklich dagegen, dass kommunistische Verbrechen für die europäische Erinnerung bedeutsam sind.18 Gewiss wurden diese Verbrechen auch an zahllosen Menschen der Sowjetunion verübt. Doch wurden sie in Ostmitteleuropa – etwa in den baltischen Ländern oder in Polen – vielfach als Verbrechen eines fremden Landes begriffen. Und für die nachwirkende Leiderfahrung macht es keinen großen Unterschied, wie die Taten begründet worden sind. Der Streit zwischen der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete und Salomon Korn vom Zentralrat der Juden in Deutschland hat erkennen lassen, dass immer noch Missverständnisse über die Vergleichbarkeit der verschiedenen Totalitarismen möglich sind.19 Keine Frage, dass die Totalitarismen wesentliche Unterschiede aufweisen. Und die Einzigartigkeit des Judenmordes ist zu Recht herausgearbeitet worden. Und doch sind auch die kommunistischen Verbrechen, die ebenfalls manche singuläre Züge aufwiesen, ein wesentlicher Teil europäischer Erinnerung, der es verdient, im europäischen Gedächtnis aufbewahrt zu werden. Auch diese Verbrechen waren eine europäische Möglichkeit. Nicht unbedenklich ist jedoch, dass es derzeit auf der europäischen Ebene nicht nur um Erinnerung, sondern auch um die

18 Dan Diner sieht einen wesentlichen Unterschied zwischen den NS-Verbrechen und den stalinistischen Verbrechen: Die NS-Verbrechen kennzeichnet er als Nationen-, die stalinistischen als Regimeverbrechen (Diner, D. (2003): Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichte, München, S. 27 ff.). 19 Vgl. Faulenbach, B. (2004): Eine europäische Erinnerungskultur als Aufgabe? In: Von der Osterweiterung zur Europäischen Nation. Die EU auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, hg. v. Flegel, S.; Hoffmann, F.; Overhoff, E., Bochum, S. 91112, hier S. 105 f. 381

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Frage der Schuld geht, bei der Instrumentalisierungen von Geschichte und gegenseitige Aufrechnungen unübersehbar sind. Die hier genannten Komplexe der Erinnerung kreisen um Katastrophen. Doch ließe sich auch fragen nach europäischen Freiheitsbewegungen, nach der Geschichte des Kampfes um Menschen- und Bürgerrechte oder auch um den Sozialstaat, der zu den großen zivilisatorischen Leistungen der Europäer gehört.20 Auch die europäische Geschichte der Freiheit ist bedeutsam. Voraussetzungen dafür zu schaffen, um sie verstärkt bewusst zu machen und Diskurse zu ermöglichen, kann eine Aufgabe europäischer Erinnerungspolitik sein.21

V. Was kann und was soll die europäische Politik im Hinblick auf die europäische Erinnerung tun? Dazu einige abschließende Thesen: 1.

Zweifellos werden die europäischen Nationen auf unabsehbare Zeit als Erinnerungsgemeinschaften fungieren. Doch kommt es darauf an, Prozesse zu fördern, die die Erinnerungskulturen zueinander öffnen. Gewiss ist eine generelle Entnationalisierung der Erinnerung unrealistisch. Doch gilt es die bis in die Gegenwart vielfach gepflegte Separierung, die manchmal gar hermetischen Charakter hat, zu überwinden. Andererseits führt ein Mehr an Kommunikation nicht mehr per se zur Pazifizierung, im Gegenteil: Der Streit kann sogar dabei zunehmen.22 Europa hat sich aber gerade in den Formen der Konfliktaustragung zu bewähren. Die nationalen Erinnerungen haben zudem vielfach eine europäische Dimension, die es zu beleuchten gilt. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass Europa mehr sein muss als eine Wirtschaftsge-

20 Vgl. Schmidt, H. (2008): Außer Dienst. Eine Bilanz, München, S. 123. (Schmidt bezeichnet den heutigen Wohlfahrtsstaat als „die größte kulturelle Leistung des 20. Jahrhunderts“.) 21 Vgl. Faulenbach, B. (2004) a. a. O., S. 106ff.; Schönhoven, K. (2007): Europa als Erinnerungsgemeinschaft, Bonn (= Gesprächskreis Geschichte. Heft 75). Auch bei Schönhoven stehen die negativen Erinnerungen im Vordergrund. 22 Peter Sloterdijk (siehe Anmerkung 10) hat die provozierende These aufgestellt, dass in der Nachkriegszeit das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland dadurch positiv verändert worden sei, dass die „fatale Überbeziehung“ beendet worden sei, wodurch es zu einer „wohltuenden Entflechtung der beiden Nationen“ gekommen sei (S. 64 f). Sloterdijk lässt dabei allzu sehr die ökonomische Verflechtung (seit der Montanunion) außer Acht und verkennt die Selbstverständlichkeit, mit der man mit der kulturellen Unterschiedlichkeit umgeht. 382

DIE NATIONALEN ERINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN

meinschaft. Europa muss vor allem eine Kommunikationsgemeinschaft werden, aus der sich eine Erinnerungsgemeinschaft entwickeln könnte. 2.

Die historisch geprägten nationalen Gegensätze müssen behutsam unter dem europäischen Dach erörtert werden. Vielfach ist die Frage nach der Schuld der verschiedenen Nationen und ihrer Staatsmänner schwer zu beantworten. Generell ist zu versuchen, die allzu simple nationale Zuordnung von Schuld aufzubrechen. Nicht selten wurden die Täter zu Opfern und auch die Opfer zu Tätern, abgesehen davon, dass die Nationen keineswegs als homogen zu betrachten sind. Dies heißt indes nicht, dass die Frage historischer Verantwortlichkeit wegeskamotiert werden soll.

3.

Überwunden werden muss auch der Kampf zwischen konkurrierenden Opfergruppen der beiden Totalitarismen, der vielfach eine Tendenz zur gegenseitigen Aufrechnung enthält. Europa wird nur gedeihen können, wenn jeder Totalitarismus und jede Diktatur kritisch aufgearbeitet und im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft geächtet wird.

4.

Europa kann nicht nur als Negation von misslungener Vergangenheit definiert werden. Es gilt auch das positive Erbe Europas zu bestimmen, wozu nicht nur Gemeinsamkeiten der Kultur, sondern auch ein politisches Erbe gehört, zu dem die Menschen- und Bürgerrechte, Gewaltenteilung und Sozialstaat zu zählen sind.

5.

Bedeutsam ist die Organisierung transnationaler Diskurse über Erinnerungen und Erfahrungen. Unabhängige Zeitgeschichtsforschung, die es in Osteuropa gegenwärtig noch schwer hat, und die internationale scientific community können derartige Diskurse erleichtern. Sinnvoll können auch Projekte wie das eines europäischen Geschichtsbuches oder auch eines Europäischen Historischen Museums sein. Auf jeden Fall aber hat die Politik hier Rahmenbedingungen zu schaffen, nicht jedoch über Interpretationen zu entscheiden.

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Zur Wiederkehr des Mythischen KURT LENK „Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Marx

Das 20. Jahrhundert hat viele Namen. Es wird abwechselnd als das „Zeitalter der Massen“, das „Jahrhundert der Revolutionen und Gegenrevolutionen“ und als das „Jahrhundert der Weltkriege“ bezeichnet. Ohne Zweifel könnte eine Geschichte dieses Jahrhunderts kaum geschrieben werden, ohne die Schlüsselereignisse der beiden Weltkriege und die in ihrem Gefolge entstandenen revolutionären und gegenrevolutionären Systeme in den Mittelpunkt zu stellen. Zu den bewegenden Kräften dieser Epoche gehören vor allem auch die verschiedenen Spielformen des Sozialismus sowie die in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zwischen den beiden Weltkriegen virulenten faschistischen Bewegungen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine europäische Neuordnung in ihrem Geist anstrebten. Politischen Revolutionen wurden in der Neuzeit unter Berufung auf Ideologien und Utopien, Gegenrevolutionen im Namen von Mythen geführt. Obwohl die Grenzen zwischen diesen Bewusstseinsformen fließend sind, lassen sich doch zumindest Kernelemente dieser drei großen Deutungsmuster angeben. Die Formen, in denen sich Utopien, Ideologien und vor allem Mythen darstellen, sind häufig symbolischer Art. Ideologien und Utopien gemeinsam ist der Bezug zur Geschichte. Mythen dagegen eliminieren die Zeitdimension zugunsten eines „Ursprungs“, der zum Ziel verklärt wird.

I.

Zum Interpretationsspektrum der Mythen

Jeder Bemühung um Klärung des Mythenthemas – besonders im Feld der Politik – stellen sich eine Reihe von Vorfragen: 385

KURT LENK

Sind Mythen und Symbole ihrer Natur nach einer rational-analytischen Erkenntnis überhaupt zugänglich? Schwindet etwa mit dem Versuch ihrer kognitiven Durchdringung ihr primär emotiver Bedeutungsgehalt? Weist die zentrale Funktion von Symbolen als Kernbestand nationaler Mythen auf deren Immunität gegen alle Formen der Rationalisierung hin? Sind etwa die dem Nationalismus zugeschriebenen Funktionen nur dann und so lange wirksam, als den in ihren Vorstellungen sich bewegenden Menschen die kognitiven Momente gar nicht zu Bewusstsein kommen? Die auf einer Akzentuierung der Außengrenze fundierten Prozesse der Lokalisierung und Ethnisierung sind immer auf einen Anderen bezogen. Die lokalen Akteure greifen auf ein bestimmtes kulturelles Repertoire zurück, das ein Produkt dieser wechselseitigen Kommunikations- und Verhandlungsprozesse ist. In der Tat ist in der Nachzeichnung der Geschichte der Mythen jene Denkschule lange Zeit dominierend gewesen, die mit der Formel „vom Mythos zum Logos“ den Weg der abendländischen Philosophie und Wissenschaft als eine zunehmende Überlagerung (Überwindung oder Verdrängung) früher mythologischer Vorstellungskomplexe durch rational-analytische Denkformen – wie Mathematik und Logik – umschrieben hat. Die Bewertung dieses Prozesses selbst ist durchaus umstritten. Da ist die eine Richtung, die Aufklärung, die diesen Vorgang rückhaltlos bejaht und begrüßt. Da ist die andere, die die Auflösung der Mythen in Wissenschaft beklagt und als Entfernung vom Ganzen, vom Ursprung, von der bildlichen Unmittelbarkeit des Mythos kritisiert; demgegenüber steht eine dritte Denkschule, die behauptet, dass Mythen trotz oder gerade wegen des Wandels der neuzeitlichen Kultur nach wie vor unentbehrlich blieben. Dementsprechend können drei Formen des Umgangs mit politischen Mythen unterschieden werden: Ein rationalistischer: Bewusst distanziert, beginnend in der frühchristlichen Theologie, von der die biblischen Mythen allegorisch gedeutet werden. Unter dem Stichwort: Vom Mythos zum Logos wird der Mythos negiert im Zeichen des historischen Fortschritts. Die grundsätzlich veränderte Stellung zur Wirklichkeit, die das wissenschaftliche Denken in der Moderne einnimmt, führt zur Abwehr mythischer Relikte, die nur mehr als Vorstufe menschlichen Denkens gewertet werden. Emanzipation und Selbstwerdung heißt hier zugleich auch Überwindung der Ursprungsverhaftung und Befreiung vom Mythos. Philosophisches Denken versteht sich seit der Aufklärung als ein Versuch, mit eigenen Mitteln und jenseits der Mythen zur Autonomie der menschlichen Vernunft vorzudringen (Bsp. Kant: Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit). Ein irrationalistischer: Bewusste Annäherung an den Mythos, auch gefühlsmäßig, durch Restaurierung der ursprungsmythischen Haltung mit eindeutiger Stoßrichtung gegen den Subjektivismus der Moderne und die mit 386

ZUR WIEDERKEHR DES MYTHISCHEN

ihm erstrebte Emanzipation des Individuums. Stichworte für diese Gegenreaktion gegen die neuzeitliche Aufklärung sind: Fundamentalismus, AntiSubjektivismus, Essentialismus, Ontologie usw. Getragen von einer Sehnsucht nach Ganzheit, nach einem einheitlichen, anschaulich gestalteten Weltbild als Gegengewicht gegen die komplexe Differenziertheit der Zivilisation (Bsp: Ludwig Klages: „Der Geist als Widersacher der Seele“). Die irrationalistische Mythendeutung zielt demnach auf eine Remythisierung des modernen Denkens. Als dritte Spielform könnte die Weiterführung des Mythos im Übergang zum Logos durch „Arbeit am Mythos“ (Werner Blumenberg) gelten. Die bereits im Mythos selbst angelegte Aufklärung wird hier durch den Wechsel der kategorialen Mittel auf einer neuen Ebene fortgeführt, d. h. die mythische Chaosbewältigung wird von der Ratio aufgenommen und vollendet. Nicht Verdrängung und Negation, sondern produktive Thematisierung der Mythen heißt hier die Parole. Dieser Position geht es um die Rettung der „Wahrheit im Mythos“ (Kurt Hübner), d. h. um die Ergänzung und Synthese von Wissenschaft und Mythos und nicht – wie in der rationalistischen Interpretation – um einfache Negation. Diese dritte, eine die Gegensätze miteinander vermittelnde Interpretation findet sich im heutigen Diskurs etwa im Strukturalismus, der die Mythen zumindest dem diskursiven Denken gegenüber als gleichwertig einschätzt. So spricht Hübner von einer Ranggleichheit von Wissenschaft und Mythen, da diese vom jeweils anderen Prämissen her nicht als „falsch“ widerlegt werden könnten. Im fortschrittsbewussten 19. Jahrhundert dominierte die rationalistische Mythendeutung. Dem zeitgenössischen Positivismus erschien der Bereich des Mythos als ein anachronistischer, vom wissenschaftlichen Denken längst überholter Aberglaube. An der Wende zum 20. Jahrhundert jedoch gab es eine Grundlagenkrise im Kernbereich der Naturwissenschaften, an dem sich der Positivismus stets orientiert hatte, hießen die Schlüsselworte Relativitätstheorie, Quantenphysik und Unbestimmtheitsrelation. Als Folge dieses Paradigmenwechsels erstarkte eine „Lebensphilosophie“ (Bergson, Dilthey, Georges Sorel), der es erneut – nach dem Vorbild der Romantik – um eine Rehabilitierung des Mythos zu tun war. Instrumentalisiert kam im Faschismus diese gegenrevolutionäre Strömung in populistischer Form auf einen Höhepunkt. Es entstand eine rassischbiologistische Mythologie, für die der Mythos – wie es in Meyers Lexikon aus dem Jahre 1940 heißt – „der anschauliche, verdichtete, bewusst gewordene und in der Daseinsgestaltung auf allen Gebieten ausschlaggebende Ausdruck der rassisch-völkisch bestimmten Gesamteinstellung der Gemeinschaft“

387

KURT LENK

sein sollte.1 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges liefen zwei Stränge nebeneinander her: neben dem Versuch einer Wiederentdeckung klassischer Mythenmotive die bewusst am westlichen Pragmatismus orientierte Absage an mythische Elemente. Seit den 70er und 80er Jahren lässt sich in fast allen Ländern Europas eine mehr oder weniger stark betriebene Aufwertung moderner Mythen – im Sinne konstruierter, lebensdienlicher Kollektivmythen – beobachten. Die „Neue Rechte“ ist hier, ausgehend von Frankreich, eine der eifrigsten Protagonisten dieser erneuten Remythisierung. Strukturalismus, Nietzsche-Renaissance und der in außerkirchlichen religiösen Bewegungen spürbare „Drang zum Spirituellen“ (Geoffrey K. Nelson) sorgen für eine im Zeichen postmoderner Beliebigkeit forcierte „Rückkehr des Imaginären“.

II.

Soziale und politische Mythen

Seit Georges Sorel werden politische Mythen als eine Ausdrucksform kollektiver Wünsche von Massen interpretiert. Der Mythos bringt ihm zufolge die Tendenzen, Instinkte, Hoffnungen und Ängste eines Volkes oder einer Bewegung in Bilder, in denen diese emotionalen Bedürfnisse in einer Ganzheit veranschaulicht werden. Nicht „richtig“ oder „falsch“ sind die Kriterien für Mythen, sondern deren mobilisierende Wirkung für die kollektiven Phantasien und das von ihnen motivierte Handeln der Massen. Bei dieser Mythenproduktion geht es um die planmäßige und bewusste Indienstnahme emotionaler, vorrationaler Potenzen für politische Zwecke. Insofern gehört das Thema der Mythenproduktion auch in das Gebiet einer Massenpsychologie, wie sie seit Le Bon zu Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Bei Sorel wird gegen rationales Bewusstsein die Vitalität des Mythischen beschworen. Neben Krieg und Revolution zählt er die Mythen zu den großen Bewegern des Menschengeschlechts – gegen Dekadenz und Verfall. Sorel hat in seinem Buch über die Gewalt aus dem Jahre 1908 als Programm formuliert, was seit der französischen Revolution in wachsendem Maße gesellschaftliche Praxis war: Die Instrumentalisierung des Mythos im Rahmen propagandistischer Rhetorik. Die Frage nach dem Richtigen, dem logisch oder besser vernünftig Entscheid- und Verantwortbaren wird suspendiert. An ihre Stelle tritt die Glaubensfrage. Wie alle Glaubensfragen werden politische Angelegenheiten dann mit großer Leidenschaft verfochten, denn auch hier blüht der Drang zur Missionierung, zur nötigenfalls auch physisch nachdrücklich betriebenen Bekehrung der „Heiden“ und „Ketzer“. Der Wille allein im Verein mit gläubiger Opferbereitschaft soll das herbeiführen, was im 1

Meyers Lexikon (1940), Leipzig, S. 29.

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ZUR WIEDERKEHR DES MYTHISCHEN

Mythos bildkräftig aufscheint. Es ist dies eine „Politik des Als-Ob“, die pragmatisch Fiktionen einsetzt, um die Wirklichkeit dem Mythos anzupassen und sie durch die Tat „wahrzumachen“. Vielleicht liegt darin gerade deren faszinierende Kraft in Zeiten fundamentaler Krisen, in denen sich offenbar keine gangbaren Wege anbieten und wo doch irgendeine Lösung aus lebensbedrohlichen Nöten und Ängsten gefunden werden soll. Was die modernen Mythen (Reichsmythen, Rassemythen, Völkische Mythen, Gemeinschaftsmythen) von den klassischen unterscheidet, ist demnach ihre planmäßige Erzeugung und ihr gezielter Einsatz im politischen Kampf: „Die neuen politischen Mythen wachsen nicht frei auf; sie sind keine wilden Früchte einer üppigen Einbildungskraft. Sie sind künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt. Es blieb dem zwanzigsten Jahrhundert […] vorbehalten, eine neue Technik des Mythus zu entwickeln […] Die wirkliche Wiederaufrüstung begann mit der Entstehung politischer Mythen“.2

III. Mythos und Geschichtsphilosophie Den geschichtsphilosophischen Hintergrund der modernen Mythen bildet eine rückwärtsgewandte Prophetie, die sich in einem Dreischritt vollzieht: Ausgehend von einer ursprünglichen Alleinheit kennt sie einen säkularen Sündenfall der Individuation („Zerstreuung“, „Entfremdung“), von wo aus eine erneute Verschmelzung des Ich mit einem als ruhend gedachten Sein konstruiert wird. Im Sinne einer Säkulartheologie wird die Geschichte als Kampfstätte eines guten und eines bösen Prinzips interpretiert. Dabei stellt das „große Wir“ (der Staat, die Gemeinschaft) stets das werthaft Höhere dar, während die individuell-subjektive Existenz in der Regel als ein rechtfertigungsbedürftiges Element eingeführt wird. Die Dynamik dieses Modells entsteht dadurch, dass vom Ausgang dieses Kampfes zweier Prinzipien eine Weltenwende erwartet wird; ein neuer Nomos mit durchaus apokalyptischer Endzeit-Erwartung. Sie lässt die extremistische Pose der totalen Negation einer dekadenten Gegenwart zu, einer „vollendeten Sündhaftigkeit“, aus der es allein durch Opfer, Selbstopfer und Heroismus einen Ausweg gebe. In dieser apokalyptischen Weltdeutung treffen sich etwa Ernst Jünger und Martin Heidegger. Beide gehen zunächst von einem in der Moderne vom Selbstverlust bedrohten Ich aus, das in der Identifikation mit dem großen Wir, der Nation, sein Heil zu finden sucht (vgl. Ernst Jünger: Gestalt des Arbeiters). Erst nach dem historischen Scheitern dieses Projekts erfolgt eine erneut

2

Cassirer, E. (1949):Vom Mythus des Staates, Zürich, S. 367 f. 389

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Rückwendung zum Ich, das sich nun als einsamer „Waldgänger“, als „Anarch“ oder „Partisan“ stilisiert. Moderne Mythen sind Protestformen gegen jene Entsagungen, die das neuzeitliche Wissenschaftsideal mit sich bringt. „Die romantische Kontrastfunktion des Mythos gewinnt unter dem Aspekt der Wirklichkeitsproblematik erst ihr Profil: sie ist der Unwille, mit den Resultaten des Zweifels und unter den Verzichten, die er auferlegt, zu leben.“3 So gesehen lässt die gegenwärtige Mythenrenaissance sich als eine Verweigerung gegen die unzähligen Kosten und Verluste begreifen, die der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt erzeugt hat. Der Mythos ist gleichsam jene Phantasie, die der Kausalitätsgewissheit ein Schnippchen schlägt. Dass „Wunder“ doch möglich seien, ja, dass, falls sie möglich seien, durch sie jene brüchig gewordene Autorität auszuhebeln sei, die sich Moderne nennt, ist der Grund für den geheimen „Zauber“ moderner Mythen. Während der Fortschrittsbegriff der Moderne als linear erscheint, da bestimmte Ursachen stets nur bestimmte Wirkungen zeitigen können, sabotiert der Mythos diese Gesetzmäßigkeit. Die Erklärbarkeit der Welt mit ihrem Triumph über alles Vorbewusste und Unbewusste soll mythologischer Denkweise zufolge in Frage gestellt und durch die Bezweiflung der Skepsis mit Blick auf neue Gewissheiten überwunden werden: „Als übermächtig mit allen Gewalten im Bunde soll erscheinen, was aller rationalen Legitimierbarkeit entbehrt und beim Mangel an erweisbarer Geschichte doch wie das UraltWiederkehrende aussehen soll. Denn dem ‚alten Wahren‘ wird unterstellt, es sei wegen seiner Wahrheit alt geworden, während die Funktion fiktiver Spätmythologien darin besteht, dem als alt Ausgegebenen die Assoziation der Wahrheit zu erschleichen.4 Als Motiv der Remythisierung der Geschichte steht eine Auffassung, die man als „Unbehagen an der Moderne“, „Angst vor Vaterlosigkeit“ oder aber auch als Abwehr gegen die vom Modernisierungsprozess erzwungene Rationalisierung ansehen kann. Es ist dies jene „Auffassung, dass rationale, kausal und final erklärende Weltsicht ihrerseits eine Verarmung bedeute, und dass es […] in einer mythenlosen Zeit neuer Mythen bedürfte, um dem Leben einen Sinn zu geben und die vitalen Kräfte des Einzelnen wie der sozialen Gebilde zu mobilisieren“.5 Abschließend sollen noch einmal die wichtigsten Kennzeichen und Funktionen moderner Mythen benannt werden:

3 4 5

Blumenberg, H. (1971a): Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos. In: Fuhrmann, M.: Terror und Spiel, München, S. 41. Ebd., S. 25 f. Striedter, J. (1971b): Poesie als „Neuer Mythos“ der Revolution am Beispiel Majakovskijs. In: Fuhrmann, M. (Hg.): Terror und Spiel, München, S. 431.

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Sie beanspruchen ein Definitionsmonopol auf die Wirklichkeit, geben mit absolute Gewissheit für die Gläubigen an, was Sache ist, was zählt und was nicht zählt (gut / böse; echt / unecht; natürlich / künstlich. Sie versprechen ein individuelles und kollektives Selbstwertgefühl, indem sie beide abkoppeln von den alltäglichen Nöten und Bedrängnissen (Realitätsabwehr, -verleugnung). Insofern leisten sie eine psychische Entlastung, indem sie die soziale und politische Realität gleichsam einklammern, da sie nicht zum Wesentlichen („Eigentlichen“) gehöre (Immunisierung). Sie versprechen Orientierung und Selbstsicherheit, womöglich eine neue Identität. Dass, was in Zeiten religiöser Glaubensgewissheit für die Gläubigen allein durch göttliche Gnade bewirkt werden sollte, wird nun, geschichtsimmanent, in Regie genommen und kommerziell / politisch instrumentalisiert. Sie verheißen rasche „Lösungen“ durch eine radikale Änderung der Sichtweise, in der man die Welt wahrnimmt. Sie verheißen ein neues Gemeinschaftsgefühl, zwischen denen, die die Botschaft nicht nur vernommen, sondern daraus auch die verordneten Lehren gezogen haben. Wie in Massensekten üblich, wird die Welt in „wir selbst“ und „die dort“ geschieden (Mechanismen der Ausgrenzung). Mythen definieren den Feind, wodurch der Grund allen Übels sichtbar und exkludiert werden soll. Auf diesen Feind ist all das projizierbar, was durch mythische Blickumkehr nicht beseitigt werden konnte, was die eigene Ruhe stört oder die neu gewonnene Gewissheit infrage stellen könnte. Sie verschaffen ein gutes Gewissen und dienen der Rechtfertigung des eigenen Tuns – und vor allem Lassens (neues „Wir-Gefühl“). Mythen enthalten Handlungsanweisungen und verweisen auf eine „Praxis“, die nicht aus Reflexionsprozessen, genauen Überlegungen, sondern aus einer konsequenten Entschiedenheit hervorbricht: eine „blinde Praxis“ also, wie sie zu Recht genannt werden kann. Das Vehikel vom Mythos zur entschlossenen Tat ist nicht der Kopf, sondern der „gesunde Instinkt“, ein „echtes“ Gefühl an sich.

All dies müsste Anlass dafür sein, erneut über die Strukturen und Funktionen heutiger Mythen nachzudenken. Was neu ist, ergibt sich aus den nahezu unbegrenzten technischen Möglichkeiten ihrer Verbreitung in den elektronischen Medien, denen sich niemand wirklich entziehen kann, d. h. einer mythengespeisten Dauermobilmachung durch eine explosionsartig gestiegene Möglichkeit medialer Politikvermittlung.

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Kapitalismus und Demokratie als widersprüchliche Momente der bürgerlichen Gesellschaft. Reminiszenzen aus gegebenem Anlass GERHARD KRAIKER Auch die ökonomische Krise der Jahre 2008 folgende wird nicht die definitiv letzte kapitalistische Krise sein. Die kapitalistischen Akteure demonstrieren Lernbereitschaft, indem sie als Heilmittel preisen, was ihnen noch Monate zuvor als linksextremistische Einfälle erschienen wäre. Neokeynesianer sind wieder am Tisch der Bescheidwisser geduldet. Anerkennung wird zuteil, wer auf frühe Warnungen verweisen kann oder wer sich rechtzeitig von den Spekulationsgeschäften zurückgezogen hat. Unverändert geschmäht freilich werden, wer in der Politik, wie Oskar Lafontaine als Finanzminister in der ersten rot-grünen Bundesregierung, Regulative für den internationalen Finanzbereich proklamiert hatte. In den Grundzügen bleibt also alles beim Alten, auch hinsichtlich des Trends der Vermögensverteilung von unten nach oben. Bestenfalls setzt sich die Einsicht durch, dass die theoretische Rettung des Kapitalismus, wie sie Keynes in den 20er Jahren dachte, nicht auf Staatsliebe, sondern auf postkolonialen bzw. postimperialistischen Verhältnissen gründete, und dass nicht straflos hinter Keynes zurückgegriffen werden kann, als ob es die Entwicklung vom Manchester-Kapitalismus zum organisierten Kapitalismus nie gegeben hätte. Die Vorstellung eines naturwüchsig sich selbst regulierenden Marktes ist jedenfalls fürs Erste platt gewalzt durch die Billionen, die die Staaten zur Rettung der Finanzinstitutionen und mancher Industriezweige mit Überkapazitäten aufbringen mussten. Damit aber stellt sich ein durch die neoliberalistische Hegemonie abgedrängtes Thema wieder: das Verhältnis von Ökonomie und Politik unter kapitalistischen Bedingungen, dem das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat zugrunde liegt.

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Der zweite Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte hatte für dieses Verhältnis eine eindeutige Antwort: die Minimierung der Politik und ihres Haupthandlungsorgans, des Staates, zugunsten der Autopoesierung des Marktes. Der erste Neoliberalismus der Jahre nach dem 2. Weltkrieg war da noch zurückhaltender gewesen; der Staat sollte den nationalen rechtlichen Rahmen für den Markt schaffen, die gröbsten Wettbewerbsverszerrungen und sozialen Ungleichheiten ausgleichen, aber sich ansonsten aller unmittelbaren Eingriffe in den Wirtschaftsablauf enthalten. Freiheit wurde auch im ersten Neoliberalismus primär als ökonomische Handlungsfreiheit verstanden, so sehr man es vermied, sie weiterhin als Klassenprivileg erscheinen zu lassen. Der zweite Neoliberalismus hatte neben den Resten der Nationalstaatlichkeit zum Hauptgegner die weltweit erzeugten Erwartungen in sozialstaatliche Ausgleichspolitik. Der erste Neoliberalismus musste erstens vergessen machen, dass der Faschismus mit Kapitalismus in Verbindung gestanden hatte und zweitens eine Front gegen alle Versionen des Sozialismus in Ost und West aufbauen. Wenn in den Schriften Röpkes, Rüstows, von Hayeks, Müller-Armacks u. a. Sozialismus als per se freiheitsfeindlich erschien, dann war die Wirtschaftsfreiheit des Besitzbürgertums gemeint. Sie sollte auch in Demokratien nicht zur Disposition stehen, da ansonsten die Demokratie zur »jakobinischen Massendemokratie« zu entarten drohte. Wilhelm Röpke im Jahr 1958: „Ob nicht freilich auf der andern Seite in der modernen jakobinischen Massendemokratie mächtige Kräfte wirksam sind, die der Freedom as such keineswegs günstig, der Wirtschaftsfreiheit aber geradezu feindlich sind, ist eine sehr ernste Frage, die wir an dieser Stelle zu notieren haben. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die Marktwirtschaft in Deutschland, deren Neugeburt sich als so segensreich erwiesen hat, nicht ein legitimes Kind der Demokratie gewesen ist, denn dafür fehlten ja 1948 noch die Voraussetzungen. Es war ein voreheliches Kind, das erst später durch die deutsche Demokratie unter immer stärkeren Beweisen der Zuneigung adoptiert worden ist – legitimatio per subsequens matrimonium.“1 In der Tat, nie und nirgends hat es je eine demokratische Abstimmung über die Einführung der kapitalistischen Wirtschaft gegeben. Sie erschien stets als Nebenprodukt eines Kampfes um hehre Ideale wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie. Bei näherem Zusehen teilt sich die ganze bürgerliche Theorie in das Moment der hehren Ideale und das Moment der kapitalistischen Marktwirtschaft. Beide Momente berufen sich auf die Natur, der Idealteil auf die „gute Natur“, nach der alle Menschen frei und gleich sind, die als Voraussetzung der Aneignung von Gütern die formende Arbeit an den Rohstoffen setzt. Zumindest gilt Letzteres für den Haus-

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Röpke, W. (1959): Erziehung zur wirtschaftlichen Freiheit, in: Hunold, A. (Hg.): Erziehung zur Freiheit, Erlenbach-Zürich; Stuttgart, S. 287.

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vorstand, dem auch als Eigentum zukommen soll, was Knechte und Mägde der Natur abgewinnen;2 eine Vorform der Aneignung von Werten, die die Lohnarbeit erzeugt. Da deutet sich schon die weniger gute Natur an, die dem Menschen anhaftet, und die klassischerweise in den Hobbesschen Ausdruck gefasst ist: Homo homini lupus. Ihrem Idealbild gemäß bedürfte die bürgerliche Gesellschaft keines Staates; die Interessenhomogenität der aufgeklärten Besitzbürger ermöglicht die Selbstverwaltung der Gesellschaft, die höchstenfalls einer gewählten Exekutive, zuständig für den Vollzug der allgemeinen Angelegenheiten, bedarf. Bei Kant ist das Ende des 18. Jahrhunderts schon anders: Da bedarf es bereits der bürgerlichen Vereinigung in einer Rechtsgemeinschaft, die die wechselseitig zugerechnete Freiheit auf Dauer sichert. Die Sicherung vollzieht sich, indem alle das Gesetz als verbindlich anerkennen. Die Gesetze aber müssen nach Kant nicht über demokratische Verfahren zustande kommen, sie müssen nur dem entsprechen, was das „Volk“ objektiv wollen kann. Kant reproduziert zustimmend das elitäre Versteck der modernen Fürstenherrschaft, das in die Repräsentativform der bürgerlichen Demokratie eingeht: dass einige es besser wissen als die anderen, was für alle gut sein soll. Schumpeter hat später daraus sein aus der Realität gewonnenes Demokratieprogramm entworfen, nach dem das Volk sich auf die Führerauslese begrenzen soll. Den Führern, Repräsentanten genannt, vertraut es in Form der Wahl seine Angelegenheiten an, darauf hoffend, dass sie politisch zur Geltung gebracht werden. Schumpeter tat nichts anderes als die Praxis der modernen Demokratien mit dem Status einer Theorie zu versehen.3 Noch einmal zu Kant zurück: Er, einer der letzten Vertreter der klassischen bürgerlichen Theorie, ist es auch, der die „gute und die böse Natur“ des Menschen in Einklang bringt, indem er beide anthropologisiert und einem Plan der Natur für die menschliche Geschichte zudenkt. Diesen Plan treibt nämlich voran, dass der Mensch nicht nur notwendig vergesellschaftet ist, fähig, sich von der Vernunft in Überstimmung mit der Sittlichkeit leiten zu lassen, sondern dass er zugleich im Widerspruch zur hindernden Gesellschaft steht, die Ansprüche triebhafter Sinnlichkeit zu verfolgen. Kant nennt die Angewiesenheit auf Gesellschaft und den Widerspruch zu ihr die gesellige/ungesellige Natur des Menschen, wobei ihm vor allem die Ungeselligkeit als dynamisierender Faktor in der Geschichte wichtig ist: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig un2

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Vgl. Locke, J. (1967): Zweite Abhandlung über die Regierung. In: Locke, J. Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. v. Euchner, W., Frankfurt/Main, § 57. Vgl. auch den Beitrag von Maria Kreiner in diesem Band. 395

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entwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“4 Kant versöhnt also die zwei Linien der bürgerlichen Theorie, die auf dem Egoismus des Einzelnen gründende kapitalistische Linie und die an Gemeinsinn appellierende demokratische im Als-Ob-Regulativ eines Plans der Natur. Bei Hegel, der wie Kant auf die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines sittlichen Gemeinwesens im Sinne der antiken Theorie gerichtet ist, wird 30 Jahre später die Versöhnung nicht mehr in der Natur gesucht, sondern in der Wiedervereinigung von Gesellschaft und Staat, der ihm als die Wirklichkeit der sittlichen Idee gilt. Hegel nimmt unter dem Einfluss der schottischen Philosophen Smith, Ricardo u. a. die Realität der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft schärfer ins Auge als Kant, er erfasst ihre Spannungen und Teile ihrer Widersprüche, aber er glaubt in dieser Gesellschaft doch Spuren der ersehnten Sittlichkeit zu erkennen, zumal im Korporationswesen des rückständigen Deutschland. Damit jedoch die Gesellschaft als das System der Bedürfnisse und der Arbeit die Stufe der Sittlichkeit erklimmt, bedarf es des auf das Allgemeine gerichteten Staates, der diese Ausrichtung kraft der in ihm verkörperten Macht hat und der keiner demokratischen Form bedarf. Der Hegel der Rechtsphilosophie begegnet den Widersprüchen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mit einer restaurativen Idee der konstitutionellen Monarchie und fällt damit hinter die Selbstverwaltungsidee der bürgerlichen Gesellschaft, die bei Kant noch als Rechtsgemeinschaft erscheint, zurück. Was Hegel verdienstvoll erfasst, ist die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat in zwei Sphären, die eine der Besonderheit der Interessen und der blanken Selbstsucht, die andere der sittlichen Allgemeinheit, die aus der Unterwerfung unter das moralische und staatliche Gesetz entsteht. Marx erkennt dieses Verdienst an, artikuliert jedoch stärksten Widerspruch gegen Hegels Vorstellung, dass der die Geschichte durchwaltende absolute Geist die Trennung bewirkt. Für Marx ist dies pure Ideologie. Ideologie, d. h. nicht Illusion, denn Elemente der Allgemeinheit sind ja wirklich vorhanden. Ideologie ist hier zu verstehen als der historisch notwendige Schein, dass sich im Staat der Mensch als »Gattungswesen« verwirklicht, dass er als „imaginäres Glied einer eingebildeten Souveränität“ erscheint. Das Bürgertum hat seinen Emanzipationskampf gegen die Feudalkräfte im Namen aller Herrschaftsunterworfenen, im Namen des »Volkes«, d. h. des neuen Souveräns, geführt; diesen Schein muss es aufrecht erhalten, auch um der Kontinuität seines Selbstverständnisses willen. Das Ergebnis ist für Marx, wie er in „Zur Judenfrage“ darstellt, die Doppelung der bürgerlichen Gesellschaft in Gesellschaft und Staat, die zugleich eine Doppelung des Menschen impliziert: „Der vollendete politische Staat ist 4

Kant, I. (1968): Werke, hg. v. Weischedel, W., Darmstadt, Bd. 9, S. 38 f.

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seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben außerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewusstsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde.“5 Marx hat damit die gespaltete Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft als kapitalistische und als rechtsstaatliche Demokratie offengelegt. Aber er hat die Eigendynamik und den Selbstlauf der Rationalität unterschätzt, die aus der formellen Zuerkennung von Rechten und aus der formellen Klassenneutralität entsteht, zumal, wenn starke Parteien, wie die Sozialdemokratien, sie programmatisch ins Zentrum rücken. Ein Erfolg ihrer Anstrengungen war, dass institutionelle Barrieren, die das Bürgertum aus Sicherheitsbedürfnis gegenüber der Rechtsgleichheit aufgebaut hatte (vorgegebenes unverfügbares Recht auf Eigentum, Beschränkung des Wahlrechts nach Geschlechts- und Besitzkriterien), ebenso wie soziale Barrieren (Bildung, Statusprivilegien etc.) im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend beseitigt wurden. Aber gleichwohl gilt, dass je stärker sich die bürgerliche Gesellschaft in Klassen und Klassenfraktionen differenzierte, desto vorrangiger die Frage der Sicherheit wurde und diese in Spannung zum Freiheitsprinzip trat. Von Rochau etwa hält Wilhelm von Humboldts Minimierung des Staates aus Sicht dessen individualistischen Freiheitsbegriffs schon für ein Hirngespinst. Was dem Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland Sicherheit verspricht, ist die angestrebte Einigung der Nation in einem starken Staat sowie ein Arrangement mit Feudalkräften gegen die »Masse«, sprich die Sozialdemokraten. Sicherheit wird wichtiger als ein Mehr an individueller und politischer Freiheit. Der Bedeutungszuwachs der Nationenidee als Zusammenhalt des gesellschaftlich Auseinanderstrebenden ist übrigens keine deutsche Besonderheit, sondern tendenziell in allen Ländern festzustellen, in denen sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelte. Wichtig wurde die Nationenidee, die als imaginierte Gemeinschaft in Gestalt des Nationalstaats konkret wurde auch, weil sie eine neue Gleichheit ermöglichte, die die reale Ungleichheit in der Gesell-

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Marx, K.; Engels, F. (1964): Werke, Berlin, Bd. 1, S. 354 f. 397

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schaft nicht antastete. In Deutschland war dieses Gleichheitssubstitut die Gleichheit völkischer Abstammung. Was jedoch aus den Einsichten des jungen Marx neben der Doppelung der bürgerlichen Gesellschaft in eine Real- und eine Idealsphäre festzuhalten ist, ist die aus der Doppelung resultierende Fixierung auf das konstitutionellrepräsentative Demokratiesystem. In ihm sind formelles und materielles Element der Staatstätigkeit optimal zu scheiden; zwar ist der Mensch formell Citoyen (Staatsbürger), aber materiell ist er Bourgeois (Mitglied der Gesellschaft), in Abhängigkeitsverhältnissen lebend und von den sozialen Ungleichheiten betroffen. Die bürgerliche Gesellschaft gibt sich ein politisches Dasein, aber sie mindert das Risiko dieses Daseins, indem sie ihre politische Existenzform von sich absondert und als neutralen Staat scheinhaft über sich selbst stellt. Zur Absonderung gehört die Form der Repräsentation und das heißt, wie schon Rousseau kritisch feststellte, die Mediatisierung des wirklichen Volkswillens durch Abgeordnete. Marx hat das Dilemma der mit den demokratischen Postulaten Freiheit und Gleichheit angetretenen bürgerlichen Gesellschaft treffend beschrieben: „Entweder findet Trennung des politischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft statt, dann können nicht Alle einzeln an der gesetzgebenden Gewalt teilnehmen. Der politische Staat ist eine von der bürgerlichen Gesellschaft getrennte Existenz. Die bürgerliche Gesellschaft würde einerseits sich selbst aufgeben, wenn alle Gesetzgeber wären, andrerseits kann der ihr gegenüberstehende politische Staat sie nur in einer Form ertragen, die seinem Maßstabe angemessen ist. Oder eben die Teilnahme der bürgerlichen Gesellschaft durch Abgeordnete am politischen Staat ist eben der Ausdruck ihrer Trennung und nur dualistischen Einheit. Oder umgekehrt. Die bürgerliche Gesellschaft ist wirkliche politische Gesellschaft. Dann ist es Unsinn, eine Forderung zu stellen, die nur aus der Vorstellung des politischen Staates als der von der bürgerlichen Gesellschaft getrennten Existenz, die nur aus der theologischen Vorstellung des politischen Staates hervorgegangen ist. In diesem Zustand verschwindet die Bedeutung der gesetzgebenden Gewalt als einer repräsentativen Gewalt gänzlich.“6 An der Reduktion von Demokratie auf das Repräsentativsystem hat sich nach wie vor nichts geändert. Es ist zur politischen Herrschaftsform geworden, als die es auch die einschlägigen Wissenschaften verstehen.7 Erhöht hat sich die hegemoniale Praxis, Abgeordnete, die die sozial Abhängigen repräsentieren, systemisch einzubinden und Koalitionsalternativen zum bürgerlichen Block von vorneherein auszuschließen. Vor Jahren waren es die Grünen, 6 7

Marx, K.; Engels, F. (1964) a. a. O., S. 324 f. Vgl. dazu Eisenstadt, S. N. (2005): Paradoxien der Demokratie. Die politische Theorie auf der Suche nach dem Politischen, Frankfurt/M. sowie kritisch Demirovic, A. (1997): Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie, Münster.

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mit denen eine Koalition einzugehen als schlicht abwegig für Demokraten galt, jetzt wird Gleiches für die Linkspartei suggeriert. Die bürgerliche Rechte bestimmt in Verbindung mit den Medien, welche Koalitionen als legitim gelten sollen, nämlich solche, die Systemänderungen von vorneherein ausschließen. Die vielfach gepriesene Spielregel der konstitutionell-repräsentativen Demokratie, nach der die Verlierer von heute die Gewinner von morgen sein können, ist zutreffend für den Wechsel von Personen, aber dieser Wechsel betrifft nicht die Herrschaftsstruktur. Für pluralistische Gesellschaften mag dieser einen wichtigen Unterschied zu monolithischen Gesellschaften darstellen, aber für die mit der Spaltung von kapitalistischer Gesellschaft und Staat sich erhaltende Herrschaft bleibt er weitgehend bedeutungslos. Insofern ist es irreführend, wenn S. N. Eisenstadt behauptet: „Eine der Hauptfunktionen dieser konstitutionellen Vereinbarungen, wie sie sich in allen modernen demokratischen Systemen verbreitet haben und institutionalisiert worden sind, besteht darin sicherzustellen, dass Anwärter auf die Macht in etablierten Bahnen darum kämpfen können, und zwar nach einigen ganz klar formulierten Spielregeln. Die Befolgung dieser Vereinbarungen und Spielregeln verschafft Sicherheit darüber, dass die Wahlverlierer von heute möglicherweise die Wahlgewinner von morgen sind und dass für neue Gruppen von Kandidaten der Aufstieg möglich wird und ihnen die Chance zuteil wird, sich um die Macht zu bewerben. Durch ihre Befolgung wird außerdem verläßlich garantiert, dass die Möglichkeit, die Herrschenden auszuwechseln, kein einmaliges Ereignis bleibt, sondern auf Dauer gestellt ist.“8 Allerdings wird zu Recht gefragt, wer denn Systemänderungen noch will. Am wenigsten die in den Parteien organisierten und auf Systemlegitimität bedachten Repräsentanten. Was wäre in einer Demokratie mit stärker unmittelbaren Teilhaberrechten, einer »jakobinischen Massendemokratie«, wie Röpke sie einst warnend genannt hat? Schon Marx hat in der direkten Demokratie à la Rousseau kein Allheilmittel gegen den Dualismus von Gesellschaft und Staat gesehen. Er verweist darauf, dass die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft Vereinzelte sind, dass also nicht Gemeinsinn bei der Abstimmung sie leiten würde, sondern ihr Einzelinteresse: „Die Einzelnen tun es Alle, oder die Einzelnen tun es als Wenige, als Nicht-Alle. In beiden Fällen bleibt die Allheit nur als äußerliche Vielheit oder Totalität der Einzelnen. Die Allheit ist keine wesentliche, geistige, wirkliche Qualität des Einzelnen. Die Allheit ist nicht etwas, wodurch er die Bestimmung der abstrakten Einzelnheit verlöre; sondern die Allheit ist nur die volle Zahl der Einzelnheit. Eine Einzelnheit,

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Eisenstadt, S. N. (2005) a. a. O., S. 14. 399

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viele Einzelnheiten, alle Einzelnheiten. Das Eins, Viele, Alle – keine dieser Bestimmungen verwandelt das Wesen des Subjekts, der Einzelnheit.“9 Was bei Marx noch keine Rolle spielt, aber im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts das Verhältnis von Gesellschaft und Staat wesentlich verändert hat, zugunsten einer Verschränkung, ist der seither eingetretene Zuwachs an Staatsaufgaben. Er lässt sich an der Zunahme von Ministerien heute im Vergleich zu den wenigen klassischen Ressorts (Finanzen, Außenpolitik, Krieg und Frieden, Ordnungspolitik) ablesen. Da das staatliche Handeln dem Prinzip formaler Gleichheit unterliegt, war dieser Aufgabenzuwachs mit einer wachsenden Neutralisierung gegenüber den Klasseninteressen verbunden. Seinem Eigenbild als neutraler Rechtsstaat folgend, blieb sein Handeln zwar auf formale Allgemeinheit gerichtet, aber gerade diese Ausrichtung wirkte sich in der Summe korrigierend auf die materielle Ungleichheit in der Gesellschaft aus. Es blieb nicht dabei, dass der Staat als »ideeller Gesamtkapitalist« (F. Engels) fungierte, er wurde zugleich, dem sozialdemokratischen Impetus folgend, Wahrer des sozialen Friedens. Das machte die Wahl der Repräsentanten trotz der herrschaftlichen Verselbständigung des repräsentativen Systems zu einem wichtigen politischen Akt, zumal im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch die letzten Schranken des Wahlzensus gefallen sind. Marx erwartete von der Aufhebung des Wahlzensus noch den definitiven Durchbruch der Nichtbesitzenden. Davon kann freilich keine Rede sein, das Repräsentativsystem erweist sich auch unter den Bedingungen des allgemeinen Stimmrechts allüberall als die Demokratievariante, die mit dem Kapitalismus am verträglichsten ist. Wie in der Gegenwart die allenthalben konfliktfreie Zustimmung der Repräsentanten aller Parteirichtungen zu den Billionenausgaben zur Stützung der Finanzinstitutionen und Industriezweige zeigt, hat sich in den Köpfen der Repräsentanten längst die Logik des Kapitals festgesetzt. Die Billionenausgaben seien alternativlos für den Fortgang der Wirtschaft, so versichert man sich wechselseitig und verleugnet die Aufbürdung fremder Last auf die ohnmächtige Mehrheit und künftige Generationen. Die gigantische Verschuldung, die die Staaten in ihren Rettungsaktionen eingingen, wird sie auf Jahre hindern, sozialstaatliche Aufgaben auszuüben und damit ihre Funktion als soziale Friedensbewahrer weiterhin wahrzunehmen. Die indirekte Umverteilung, die damit einhergeht, erinnert an die von Naomi Klein geschilderten Schockstrategien.10 Der erste Neoliberalismus der Nachkriegszeit betonte noch die Kompatibilität, ja den Bedingungszusammenhang von Kapitalismus und repräsentativer Demokratie. Nach der Mischwirtschaft des Faschismus und angesichts der

9 Marx, K.; Engels, F. (1964) a. a. O., S. 322. 10 Klein, N. (2007): Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt/M. 400

KAPITALISMUS UND DEMOKRATIE ALS WIDERSPRÜCHLICHE MOMENTE

Staatswirtschaft im Osten schien ein entschärfter Dualismus zwischen Gesellschaft und Staat in der Art der Sozialen Marktwirtschaft der geeignetste Weg für die Rettung des Kapitalismus. Der zweite Neoliberalismus wollte den Dualismus wieder in Gänze herstellen. Die Universalisierung der Sozialen Marktwirtschaft, verstärkt durch den Keynesianismus, galt als zu staatsinterventionistisch und mit zu weitgehender Umverteilung verbunden. Der sog. Privatinitiative, für die der Begriff Freiheit herhalten musste, sollte wieder wie einst in den Anfängen des Kapitalismus ungehindert Raum gegeben werden. Dass dabei die politische Freiheit die wirtschaftliche zur Voraussetzung hat, jedoch die wirtschaftliche Freiheit auch ohne die politische bestehen kann, hebt Milton Friedman, einer der Inspiratoren des zweiten Neoliberalismus, in einem Vorwort zur deutschen Neuausgabe seines vierzig Jahre alten Buches „Kapitalismus und Freiheit“ als inzwischen gewonnene Einsicht hervor: „Seit der Fertigstellung dieses Buches hat mich die Entwicklung in Hongkong bis zur Rückgabe an China davon überzeugt, dass zwar die wirtschaftliche Freiheit eine notwendige Voraussetzung für bürgerliche und politische Freiheiten ist, jedoch die politische Freiheit – so wünschenswert sie auch sein mag – keine unabdingbare Voraussetzung für die wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit ist. So sehe ich den großen Mangel dieses Buches darin, dass ich zu wenig auf die Rolle der politischen Freiheit eingegangen bin, die unter manchen Umständen die wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit vorantreibt, sie unter anderen Bedingungen aber auch behindert.“11 Kapitalismus und Demokratie als gegensätzliche Momente der bürgerlichen Gesellschaft stellen nicht nur strukturelle Unvereinbarkeiten her, die Gegensätzlichkeit reicht bis in die Verhaltensanforderungen an die Individuen. Als privatautonome Subjekte sind sie aufgefordert, gegenüber dem Markt möglichst effektiv ihre Individualinteressen zur Geltung zu bringen, als autonome Bürger (Citoyen) sollen sie Gemeinsinn zeigen, sich die allgemeinen Angelegenheiten zu eigen machen. Nirgendwo ist das Einfallstor für Ideologieproduktionen weiter geöffnet als durch diesen Gegensatz. Die ständige Beschwörung bei allem und jedem, dass es doch um Arbeitsplätze gehe, ist das nächstliegende Beispiel. In der auf Personalisierung von Problemen ausgerichteten Öffentlichkeit versucht man diesem Gegensatz mit Klagen über fehlende Ethik und Moral zu begegnen und ignoriert dabei, dass Egozentrismus das systemadäquate und selbsterhaltende Verhalten ist und Gemeinsinnigkeit ins Belieben gestellt bleibt. Es mag irreal gewesen sein, wenn Marx von der wahren Demokratie erwartete, dass in ihr die Menschen als Gattungswesen (treffender sein Ausdruck: als individuelle Gemeinwesen) zusammenleben könnten. Demokratie als Lebensform, nicht nur als Methode der Führerauslese à la Schumpeter, 11 Friedman, M. (2003): Kapitalismus und Freiheit, München, S. 18. 401

GERHARD KRAIKER

würde voraussetzen, dass die herrschaftsstützende Spaltung in eine Ideal- und Realsphäre sowie die Spaltung in der Staatstätigkeit, in den ideellen Gesamtkapitalisten und den Bewahrer des sozialen Friedens, zugunsten einer politisch-demokratischen Gesellschaft, in der weder die herrschaftsfreie Privatautonomie noch die soziale Existenzsicherung zur Disposition steht, im Ganzen überwunden wäre. Zunächst wäre jedoch schon viel gewonnen, wenn der neoliberalistische Trend zur Erneuerung der Spaltung gestoppt würde. Das wäre in der Tat ein produktives Ergebnis der gegenwärtigen Krise.

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Claus Offes »Strukturprobleme« revisited. Fragen an Global Governance und transnationale Zivilgesellschaft 1 LEIV EIRIK VOIGTLÄNDER

I. Die Zivilgesellschaft nimmt in der politischen und politikwissenschaftlichen Diskussion um Global Governance eine prominente Rolle ein.2 Dies könnte Anlass zur Hoffnung geben, dass die politische Partizipation zivilgesellschaftlicher Strukturen gegenüber dem politisch-administrativen System oder der Ökonomie zumindest aufgewertet wird – zudem im traditionell eher bürgerfernen Bereich der internationalen Beziehungen. Global Governance verspricht schließlich den Abschied vom unsäglichen sogenannten Sachzwang und seinen entpolitisierenden Effekten in politisch relevanten Fragen und

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Dieser Beitrag basiert auf einem gemeinsam mit Thomas Goes auf einer kapitalismustheoretischen Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im April 2009 in Wien gehaltenen Referat. Ihm bin ich für Anregungen und Kritik zu Dank verpflichtet. Mit Zivilgesellschaft werden in diesem Zusammenhang die nicht-staatlichen, auf Freiwilligkeit beruhenden, kulturellen und politischen Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern bezeichnet. Die Übergänge zu Neuen Sozialen Bewegungen oder NGOs, aber auch zu organisierten Interessen der industriellen Beziehungen, sind fließend. Zu unterschiedlichen Begriffen der Zivilgesellschaft vgl. Adloff, F. (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt/M. Außerdem: Gosewinkel, D.; Rucht, D.; van den Daele, W.; Kocka, J. (Hg.) (2004): Zivilgesellschaft – national und transnational, Berlin. Vgl. zu Global Governance das gleichnamige Kapitel in: Deutscher Bundestag (Hg.) (2002): Globalisierung der Weltwirtschaft. Schlussbericht der EnqueteKommission, Opladen, S. 415-455. Außerdem: Behrens, M.; Reichwein, R. (2007): Global Governance, in: Benz, A.; Lütz, S.; Schimank, U. u. a. (Hg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden, S. 311-323. 403

LEIV EIRIK VOIGTLÄNDER

setzt an dessen Stelle ein Mindestmaß an Gestaltbarkeit von Globalisierung. Denn die Zivilgesellschaft wird zugleich als Forum und als Werkstatt in Anspruch genommen, in denen politisch gestritten und beraten, aber auch Lösungen bürgernah gefunden und praktisch umgesetzt werden. Es wäre selbstverständlich überzogen, diesen Ansatz der Global Governance auf die Beteiligung der transnationalen bis lokalen Zivilgesellschaft am Prozess des Regierens zu reduzieren,3 aber es ist doch erlaubt, sich hier auf diesen Aspekt zu konzentrieren; schließlich ist er für das Verständnis von Global Governance als Strategie und Theorie unerlässlich. Es scheint dennoch angebracht, die Erwartungen zurückzuschrauben. Im als Governance bezeichneten politischen Zusammenspiel von Staat und Zivilgesellschaft bleibt dieser der Zugang zu manchen Feldern verwehrt, die zu zivilisieren ihre Anhänger sich vorgenommen haben (z. B. Bereiche der Sicherheitspolitik, Finanzmarktpolitik). Auf anderen Feldern nimmt sie lediglich die Rolle der nützlichen Legitimationsbeschafferin ein oder wird von ihrem staatlichen Governancepartner gerade so behandelt, als wäre sie, wovon sie sich doch unterscheiden soll, nämlich bürgerliche Gesellschaft.4 Um das Verhältnisse von Staat und (Zivil-)Gesellschaft kompetent zu diskutieren, kann man sich mit den Ergebnissen der aktuellen Forschung zur Transformation von Staatlichkeit auseinandersetzen5 oder die allgemeine Governance-Literatur, von der Global Governance ja nur ein Themenfeld unter anderen darstellt,6 zu Rate ziehen. Man kann aber auch sichten, was an vergangenen Debatten geführt worden ist und deren Impulse nutzen, um das Neue besser zu begreifen. Ein solcher Versuch soll an dieser Stelle vorgeschlagen werden und zwar anhand von Claus Offes Aufsatzsammlung »Struk-

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Auch die von Zivilgesellschaftskonzepten denkbar verschiedenen Normbildungsprozesse in der Welthandelspolitik, unter Beteiligung von Industrieverbänden unter dem Dach der Welthandelsorganisation, sind Global Governance zuzurechnen. Vgl. Behrens. M.; Reichwein, A. (2007) a. a. O., S. 320-322. Zur sicherheitspolitischen Rolle von NGOs vgl. Klein, A.; Roth, S. (Hg.) (2007): NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik, Wiesbaden. Vgl. zur Genese des durchaus widersprüchlichen Verhältnisses der EU-Kommission zu europäischer Zivilgesellschaft und privaten bzw. gesellschaftlichen Interessengruppen im Allgemeinen: Zimmer, A.; Sittermann, B. (2004): Brussels Civil Society. Definition von NGOs und ihre Legitimation zur Mitwirkung in den Politikprozessen der EU, in: Ensslen, C. (Hg.): Interessenvertretung durch NGOs auf EU-Ebene, Hamburg, S. 15-42. Zur Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Zivilgesellschaft vgl. Adloff, F. (2005) a. a. O., S. 30-36. Vgl. Leibfried, S. (2008): Rückkehr des Staates, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 53. Jg., H. 5, S. 79-85. Vgl. Benz, A. u. a. (2007) (Hg.) a. a. O.

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CLAUS OFFES »STRUKTURPROBLEME« REVISITED

turprobleme des kapitalistischen Staates«.7 Anstatt Offes Ansatz systematisch in der (materialistischen) staatstheoretischen Debatte einzuordnen, in die er eingegriffen hat, und ohne ihn einem Vergleich mit dezidierten Theorien der internationalen Politik zu unterziehen, werden im Folgenden seine wesentlichen und im genannten Kontext relevanten Aspekte herausgearbeitet (II.) und auf dieser Basis einige Fragen an den gewählten Gegenstand zivilgesellschaftlicher Organisationen gestellt (III.).

II. Fragt man mit Offe nach den allgemeinen Möglichkeiten, die sich organisierten Interessengruppen bieten oder nach den ungefähren Grenzen, an die sie im politischen Engagement stoßen werden, dann werden sich die Fragen außer an die industriellen Beziehungen oder an die Zivilgesellschaft an den Staat richten – es geht Offe schließlich nicht zuletzt um die Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Den Staat wiederum begreift Offe in seinem Verhältnis zu den anderen Subsystemen bzw. zu den organisierten Interessengruppen als nicht-staatlichen Akteuren des politischen Systems. Die Pointe dieser relationalen Perspektive8 liegt im Machtbegriff, der wie eine Klammer die in Offes Aufsätzen enthalten Theoreme umfasst. Vermittels dieses Begriffes gerät die Frage nach Macht und Einfluss der Interessengruppen zur brisanten Auseinandersetzung mit dem demokratischen Versprechen politischer Gleichheit, das für die Legitimation demokratischen staatlichen Handelns nach wie vor zentral ist. Ein grundlegendes Problem, mit dem sich Offe auseinandersetzt, stellt das Verhältnis zwischen Kapital und Staat dar. Marx’ Basis-Überbau-Metapher kann naheliegenderweise dahingehend interpretiert werden, dass sich der politische Überbau dechiffrieren lässt, wenn man sich nur mit der ökonomischen Basis befasst. Der Staat wird in dieser Lesart gar zu einem Instrument der Bourgeoisie als herrschender Klasse.9 Offe, dem es um eine sozialwissen7

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Offe, C. (1972): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt/M. Der Band wurde 2006 in veränderter und erweiterter Neuauflage herausgegeben von Jens Borchert und Stephan Lessenich und vom Autor mit einem Vor- und Nachwort versehen. Diese Ausgabe enthält staatstheoretische Frühschriften Claus Offes der Jahre 1969-1977: Offe, C. (2006): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen. Soziologie. Veränderte Neuausgabe, Frankfurt/M.; New York. Vgl. Borchert, J; Lessenich, S. (2006): Lang leben die Strukturprobleme! Einleitung zur Neuauflage, in: Offe, C. (2006) a. a. O., S. 11-22, hier S. 19. „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen 405

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schaftlich belastbare staatstheoretische Erweiterung der marxschen Tradition geht, behauptet hingegen die relative Autonomie des Staates gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Er gesteht den staatlichen Institutionen zu, ein Interesse an sich selbst zu haben und sich gegen Versuche gesellschaftlicher Interessengruppen, ihn zum Objekt ihrer Strategien zu degradieren, durchaus erfolgreich wehren zu können.10 In der Tat würde man einen Staat, der zum Spielball von Partikularinteressen geworden ist, eher als fragilen denn als konsolidierten Staat bezeichnen. Anhand von Engels’ Diktum vom Staate als einem ideellen Gesamtkapitalisten11 diskutiert Offe insbesondere die Grenzen jener relativen Autonomie. Die von Engels gewählte Formulierung impliziert einen Unterschied und zugleich eine Entsprechung zwischen Staat und Kapital. Zum einen wird der Staat vorgestellt als etwas, was das Kapital nicht ist: Ein ideelles Gesamtwesen, das den empirischen Einzelwesen gegenübersteht. Der Staat ist dann, was selbst die Summe der Einzelkapitale nicht sein kann: nämlich ideeller Gesamtkapitalist. Zum anderen wird er als ein – wenn auch ideeller – Kapitalist bezeichnet und insofern gewissermaßen als einer von ihnen gedacht. Folgende Überlegung gestattet es Offe, auf dieses Bild zurückzugreifen: Als Steuerstaat ist der Staat abhängig von Einkommen, das er selbst nicht generieren kann, entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.“ Marx, K. (1961): Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, in: Marx Engels Werke, Berlin, Bd. 13, S. 3-160, hier S. 8-9. Eine unorthodoxe Interpretation der Marxschen Vorlage nimmt Antonio Gramsci vor, der in seinen zwischen 1929 und 1935 entstandenen »Gefängnisheften« einige Überlegungen Offes vorwegnimmt, indem er die relative Autonomie des Staates und den aus der kapitalistischen Ökonomie erwachsenden Problemdruck ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. „Für Gramsci haben die Klassen die Gründe ihrer Existenz nicht allein in der ökonomischen Struktur, denn ohne deren Formierung auf der Ebene der Überbauten oder Superstrukturen könnten sie weder expandieren noch überhaupt bestehen. Der Überbau erscheint bei Gramsci als Sphäre, aus der heraus die Basis gewissermaßen »interpretiert« wird und Lösungen für deren Probleme gesucht werden. Falsche Interpretationen oder versäumte Lösungen führen dann zu einem wachsenden Problemdruck, der sich in letzter Instanz katastrophisch auswirken muss.“ Voigtländer, L. E. (2009): Der Funktionär als Partizipationsagent. Organische und traditionelle Intellektuelle im politischen Denken Antonio Gramscis, in: Jung, T.; Müller-Doohm, S. (Hg.): Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt/M., S. 85-104, hier S. 89. 10 Vgl. Offe, C. (2006) a. a. O., S. 127 ff. 11 „[D]er moderne Staat ist […] nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der Ideelle Gesamtkapitalist.“ Engels, F. (1962): Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Marx Engels Werke, Berlin, Bd. 20, S. 1-303, hier S. 260. 406

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und auf diesem Wege von einer tragfähigen Kapitalakkumulation, aus der das Steuereinkommen hervorgeht, das ihm schließlich zuteil wird.12 Der Staat muss also im eigenen Interesse die Aufgabe wahrnehmen, dem – diesmal realen und nicht ideellen – Gesamtkapital im Rahmen seiner Möglichkeiten günstige Bedingungen für die Verwertung und Akkumulation seiner selbst zu bereiten. Und zwar u. U. gegen das Interesse bestimmter Einzelkapitale oder Kapitalfraktionen. Es gibt Offe zufolge kein »Kapitalinteresse« im Besitz des Kapitals; der Staat repräsentiert dieser Auffassung nach nicht das Allgemeine als etwas vorpolitisches, sondern er formuliert es erst politisch. Der so skizzierte kapitalistische Staat kann gewissermaßen als Entwicklungsstaat aufgefasst werden, insofern in seinen Institutionen mehr oder weniger kohärente politische Strategien entworfen und verfolgt werden, die sich auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft beziehen. Ein durch politische Entscheidungen begünstigter oder forcierter Strukturwandel trifft auf nachteilige Weise nicht nur Erwerbsabhängige, sondern auch Kapitaleigner. Dies bestätigt nur Offes Auffassung vom kapitalistischen Staat als ideellem Gesamtkapitalisten. Das Verhältnis zwischen Staat und Kapital ist durch seine Reziprozität gekennzeichnet; nicht nur der Staat ist in dieser Relation abhängig von der Kapitalakkumulation, sondern die Kapitalakkumulation ihrerseits von Steuerungsleistungen des Staates. Offe schreibt: „Allgemeine Erfordernisse der Systemerhaltung wachsen mit dem Ausmaß von Vergesellschaftungsprozessen, die nicht mehr widerspruchsfrei vom Markt selbst organisiert werden können, und sie müssen daher zunehmend zum Gegenstand konkreter, nicht durch die Warenform vermittelter gesellschaftlicher Arbeit werden.“13

Claus Offe begründet auf diesem Wege zwar eine grundlegende Aufgabe, die sich dem Staat stets aufs Neue stellt. Er geht aber keineswegs davon aus, dass sich aus dieser Aufgabe erfolgreiche politische Interventionen und schließlich ihre verlässliche Lösung einfach ableiten ließen. Er modelliert keinen reibungslosen Funktionszusammenhang, in dem der Staat die wirtschaftliche Entwicklung garantiert, sondern er beschreibt den Zusammenhang von Staat und Ökonomie auf eine Weise, dass sich gerade nach dem Scheitern einer solchen harmonischen Entsprechung fragen lässt: Nicht das Ungleichgewicht von den Voraussetzungen der Infrastrukturproduktion und der Kapitalverwertung, sondern deren simultane Entsprechung ist der unwahrscheinliche und deshalb erklärungsbedürftige Fall.14 Politik löst Prozesse aus, die sich der politischen Steuerung entziehen; das politische Problemlösen gebiert Folgeprob12 Vgl. Borchert, J. Lessenich, S. (2006) a. a. O., S. 13. 13 Offe, C. (1972) a. a. O., S. 32-34. 14 Vgl. ebd., S. 57. 407

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leme, die das angestrebte Gleichgewicht wieder unterlaufen. Eines dieser Folgeprobleme aber ist die Politisierung selbst, die durch politische Interventionen ins Ökonomische unweigerlich sich vollzieht: „Insofern ist die Politisierung von Ordnungsfunktionen, die die marktgesteuerte Ökonomie nicht mehr aus sich selbst erzeugt, eine zwar unumgängliche, aber zweischneidige und selbst widersprüchliche Problemlösung: sie konfrontiert den Staatsapparat mit der Aufgabe, nicht nur empirisches Interesse der Einzelkapitale und Funktionsvoraussetzungen des Gesamtkapitals in Einklang zu bringen, sondern auch die politischen Prozesse, mit deren Hilfe dies allein gelingen kann, so zu kanalisieren, daß ihr relatives Eigengewicht die Grenzen einer kapitalistischen Produktionsweise nicht verletzt. Keinerlei »höhere Vernunft« bietet eine apriorische Gewähr dafür, daß die Inanspruchnahme des Staates als Steuerungsinstrument nicht gleichzeitig seine Eigenschaft, relativ verselbständigter »Fremdkörper« zu sein, akzentuiert, so daß die Frage prinzipiell offen ist und allein von kontingenten Umständen entschieden wird, ob das Einspringen einer »besonderten« Staatsorganisation in die Funktionslücken des marktgesteuerten Verwertungsprozesses diesen langfristig stabilisiert oder in Frage stellt. Die Entscheidung wird in jedem Falle von der Selektivität des politischen Institutionensystems, d. h. von seiner Fähigkeit abhängen, Steuerungs- und Komplementärleistungen politisch zu organisieren, ohne die Ökonomie material zu politisieren, d. h. in ihrem »privaten« Charakter zu beeinträchtigen.“15

Politisierung meint in diesem Zusammenhang, dass über ökonomische Probleme in zunehmendem Umfang politisch entschieden wird, und das bedeutet in der Konsequenz, dass sie jeweils auch anders entschieden werden könnten. Solange das einzelne Unternehmen noch als Anpassungsoptimierer16 charakterisiert wird, kann bei unpopulären wirtschaftlichen Entscheidungen glaubhaft auf die quasi naturgesetzlich sich vollziehenden ökonomischen Prozesse als tieferen Grund für die jeweilige Entscheidung verwiesen werden. Sobald aber der Staat, etwa über eine mehr oder weniger konkrete nachfrageorientierte Globalsteuerung, sich für kompetent erklärt, die ökonomische Entwicklung zu steuern, stellt sich die politische Frage nach Alternativen zur jeweils vorgenommenen Steuerung. Dieser Kompetenzgewinn ist außerdem keineswegs als selbstherrliche Anmaßung des Staates zu verstehen, sondern stellt angesichts der vorangegangenen Entwicklung, die in die Weltwirtschaftskrise mündete, eine geradezu als notwendig erscheinende Maßnahme dar. In jedem Falle ist er ein wesentlicher Bestandteil des damaligen Mainstreams keynesi15 Ebd., S. 34-37. Hervorhebungen im Original. 16 Anpassungsoptimierung bedeutet, dass das Unternehmen seine internen, veränderbaren Parameter, wie z. B. die Menge, die es produziert, an externe, von ihm nicht veränderbare Parameter, darunter Preis, der sich auf dem Konkurrenzmarkt wie von unsichtbarer Hand ergibt, zum Zwecke der Gewinnmaximierung optimal anpasst. 408

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anistisch inspirierter Wirtschaftspolitik. Damit verschärfen sich im »Spätkapitalismus« die Legitimationsprobleme,17 zumal sich das Personal des demokratischen Wohlfahrtsstaates direkt oder vermittelt durch Wahlen reproduziert. „Dieser Formwechsel, als dessen Ergebnis die Handlungsprämissen nicht mehr einer »Umwelt« entnommen werden können, sondern Gegenstand systeminterner Entscheidungen werden, hat schwerwiegende Folgen für das Konfliktpotential spätkapitalistischer Gesellschaften. Während Marktdaten nur registriert werden müssen, bedürfen Entscheidungen der Begründung.“18

Es öffnet sich „ein Kontingenz-Bereich, dem gegenüber das Entscheidungsresultat rechenschaftspflichtig wird: Der Entscheidende muß begründen, warum er – angesichts gegebener Alternativen – nicht anders gehandelt hat.“19 Die Anforderung, sich z. B. vor einem anspruchsvollen Wählerpublikum rechtfertigen zu müssen, kann der Staat einsetzen, um sich einen Autonomiegewinn gegenüber partikularen Kapitalinteressen zu verschaffen,20 auf die er als ideeller Gesamtkapitalist angewiesen ist; er kann anhand ihrer glaubhaft machen, gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet zu sein. Sie macht ihn andererseits abhängig von einer weiteren »Ressource«, die er nicht selbst generieren kann. Das „durch den notwendigen Formwechsel der gesellschaftlichen Arbeit und ihrer Steuerungsweise ausgelöste Strukturdilemma“ mündet „in ein Legitimationsproblem: für den Entscheidungsprozeß – sei es für seine Restriktionen, sei es für seine Resultate – müssen Geltungsgründe gefunden werden; und umgekehrt bezeichnen die Grenzen der »Konsensbeschaffung« den Punkt, an dem das prekäre Nebeneinander von sich ausschließenden Steuerungsprinzipien instabil wird. Nicht die »Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals« selbst, sondern die Blockierung ihrer (nur noch in politisch-administrativen Formen möglichen) Sicherstellung durch »Legitimationsdefizite« müßten demnach heute zum Ausgangspunkt einer (nicht mehr nur »ökonomischen«, sondern politischen) Krisentheorie des Kapitalismus gemacht werden.“21

Wie erwähnt, findet sich in den »Strukturproblemen« eine machttheoretische Klammer. Die Macht des Kapitals bzw. besonderer gesellschaftlicher Parti17 Vgl. Habermas, J. (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. Offe war von 1971 bis 1975 Mitarbeiter von Habermas; seine Aufsätze entstanden u. a. im Zusammenhang mit dessen Forschungsarbeit am Max Planck Institut in Starnberg. Vgl. zum damals intensiv diskutierten Begriff des Spätkapitalismus Offes Nachwort zur Neuausgabe der »Strukturprobleme« in Offe (2006) a. a. O., S. 194-196. 18 Offe, C. (1972) a. a. O., S. 50. 19 Ebd., S. 50 f. 20 Vgl. Borchert, J.; Lessenich, S. (2006) a. a. O., S. 19. 21 Offe, C. (2006) a. a. O., S. 51 f. 409

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kularinteressen über den Staat oder bestimmte Staatsapparate ist bekanntlich ein Thema weit über die zeitlichen und diskursiven Grenzen der marxistischen Debatten hinaus. Offe findet eine Fülle von einschlägigen Arbeiten vor, denen er unabhängig von ihrer jeweiligen Qualität pauschal vorwirft, das, was sie zu untersuchen vorgeben, gar nicht untersuchen zu können – es fehle ihnen schlicht an einem tragfähigen Machtbegriff. Es befindet sich Offe zufolge auf einer falschen Fährte, wer den Ereignissen nachspürt, in denen sich eine Gruppe mit ihren Interessen gegenüber dem Staat oder widerstreitenden Interessenlagen dritter durchsetzt. Anstelle eines solchen weberianischen, »mechanischen«22 Verständnisses von Macht – eigentlich handele es sich eher um Einfluss denn um Macht – bringt Claus Offe einen systemtheoretisch23 inspirierten Machtbegriff in Stellung, der dem oben skizzierten reziproken Zusammenhang der Teilsysteme entspricht. „Macht kann ich nur über etwas haben, das seiner eigenen Struktur nach meiner Machtausübung standgibt und auf sie eingeht, mich seinerseits also sozusagen zur Machtausübung ermächtigt. Das einzige Verhältnis, das außerhalb dieser Komplementaritätsbedingung besteht, ist das direkter physischer Gewalt.“24

Aus der wiederholten Beobachtung einer Einflussbeziehung lasse sich kein analytischer Begriff über Machtverhältnisse ableiten. Es bestehe allenfalls die Möglichkeit, empirisch zu generalisieren.25 Erst wenn die Strukturen zweier sozialer Teilsysteme – Staat und Ökonomie – ein Minimum an Reziprozität aufweisen, kann zwischen ihnen ein Machtverhältnis bestehen.26 Macht erschöpft sich aber nicht in Reziprozität, diese ist Voraussetzung und nicht Synonym von Macht. Anhand von Offes staatstheoretischer Frühschriften lässt sich seine machttheoretische Grundannahme in mindestens zwei Richtungen weiterentwickeln. Im selben Artikel, in dem er seine Kritik an den Einflusstheorien vorbringt, diskutiert er die Binnenstruktur des Staates als ein Filtersystem, das Ereignisse erzeugt oder ausschließt, je nachdem, ob sie den Systemanforderungen der kapitalistisch organisierten Ökonomie entsprechen oder nicht.27 Man kann den Denkweg von Offes machttheoretischem Ausgangspunkt aus aber auch in anderer Richtung, nämlich den Blick auf die nicht-staatlichen Akteure bzw. organisierten Interessen gerichtet, weiterverfolgen. In einem Aufsatz von 1969, der in die Neuauflage der »Strukturprob22 Vgl. Offe, C. (1972) a. a. O., S. 72. 23 Offe bezieht sich auf Luhmann, N. (o. J.): Klassische Theorie der Macht. Kritik ihrer Prämissen, Ms. Vgl. Luhmann, N. (1975): Macht, Stuttgart. 24 Offe, C. (1972) a. a. O., S. 72 f. 25 Vgl. ebd., S. 72. 26 Vgl. ebd., S. 73. 27 Es werden genaugenommen »Nicht-Ereignisse« erzeugt, denn das Filtersystem wirkt selektiv nach bestimmten Ausschließungsregeln. Vgl. ebd., S. 74. 410

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leme« aufgenommen worden ist,28 setzt sich Offe mit den Voraussetzungen der Macht unterschiedlicher Arten von Interessengruppen auseinander, diesmal auch im Hinblick auf Merkmale der Gruppen selbst und nicht allein auf die Binnenstrukturen des Staates, dem sie politisch gegenübertreten. Dieser Weg dürfte sogar zielführender sein, wenn es um die Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlich verankerter Interessengruppen bzw. NGOs in Global Governance geht. Außerdem erweitet der Autor selbst in diesem älteren Beitrag den Gegenstandsbereich seiner Reflexionen um die Ebene internationaler Politik. Offe nimmt an, dass ein Schema von drei fundamentalen Systemproblemen zum Bezugspunkt für die Analyse politisch-administrativer Handlungssysteme erhoben werden muss,29 und gibt damit selbst den Hinweis, wie sein Modell sinnvoll zu erweitern ist: um den Komplex der ökonomischen Stabilität bzw. der Kapitalverwertung und Akkumulation, um den Komplex von Massenloyalität bzw. der Legitimation30 und schließlich um den Komplex der außenpolitischen, außenwirtschaftlichen und militärpolitischen Beziehungen. „Angesichts der externen Systembedrohungen, die sich schon aus der neokolonialistischen und imperialistischen Behauptung geographischer Einflußsphären ergeben, erlangt dieser [zuletzt genannte] Komplex die gleiche Bestandsrelevanz wie der ökonomische. Die entsprechenden politisch-administrativen Aktionsparameter liegen auf dem Gebiet der Rüstungs-, Bündnis-, Entwicklungs- und Währungspolitik.“31

Nun steht der Staat aber vor dem bereits angesprochenen Problem, dass er einen unerlässlichen Teil der Ressourcen, die zur Sicherheit in diesen drei Bereichen erforderlich sind, nicht selbst in Händen hält. Er kann Wachstum, Legitimation und Frieden nicht gleichsam »herstellen«, sondern ist auf externe, ebenfalls relativ autonome Akteure angewiesen, die über die notwendigen Ressourcen verfügen bzw. darauf, dass sie bereit sind, diese Ressourcen im Sinne seiner politischen Strategie zur Verfügung zu stellen. Solche Akteure

28 Offe, C. (2006a): Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Offe, C. (2006) a. a. O., S. 23-50. 29 Vgl. ebd., S. 43. 30 Offe grenzt die beiden Begriffe in seinem Aufsatz von 1969 voneinander ab und bezieht sich nachdrücklich auf Massenloyalität, nicht auf Legitimation. Er geht zu diesem Zeitpunkt anders als in den darauffolgenden Jahren davon aus, dass die soziale und politische Stabilität nicht des aktiven Legitimationsglaubens der Bevölkerung, sondern lediglich deren apathischer Grundeinstellung bedarf. Vgl. ebd., S. 44. Im Vergleich der Aufsätze wird deutlich, was das gemeinsame der zwei Varianten dieses Problemkomplexes ist, nämlich die interne Integration der Bevölkerung, vgl. ebd. 31 Ebd., S. 43-44. 411

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können mit einem gewissen Entgegenkommen des Staates gegenüber ihren Interessen und Bedürfnissen rechnen, ihre Einflussnahme vollzieht sich auf der Basis einer Machtbeziehung, die sie strukturell begünstigt: „Die Hauptfunktionen der politischen Systeme des untersuchten Typus [der spätkapitalistischen Gesellschaften] lassen sich als die des umsichtigen »crisis management« und der langfristigen Vermeidungsstrategie beschreiben; bei deren Befolgung ziehen jeweils diejenigen gesellschaftlichen Funktionsgruppen und institutionellen Sektoren den größten Anteil politischer Förderung auf sich, die nach den gegebenen Umständen am wirksamsten zur Vermeidung von Risiken beitragen können.“32

Neben der Organisations- und Konfliktfähigkeit als Voraussetzungen, unter denen sich gesellschaftliche Interessen überhaupt verbandsförmig repräsentieren lassen,33 ist nach Offe also entscheidend für das Maß an »politischer Förderung« bzw. Ermächtigung, die eine Gruppe von Seiten des Staates erfährt, inwiefern sie im Sinne seiner jeweiligen, kontingenten aber nicht beliebigen, Strategie effizient verwertbar ist.

Wenn diese Skizze ein relativ kohärentes Modell des Verhältnisses von Staat und gesellschaftlichen organisierten Partikularinteressen suggeriert, dann ist dies allein zu didaktischen Zwecken gestattet; Offe hat ein solches kohärentes Modell wie erwähnt nicht explizit dargelegt. Die Skizze soll als eine Art Zwischenschritt fungieren zwischen den Aufsätzen selbst und der Frage nach charakteristischen Merkmalen von Offes staatstheoretischen Überlegungen. Abgesehen von der krisentheoretischen Verschiebung, die Offe vornimmt – weg vom traditionellen Klassenkampf hin zu Konflikten zwischen Funktionslogiken bestimmter gesellschaftlicher Subsysteme – und abgesehen von seiner stark an der marxschen Arbeitswertlehre orientierten Diskussion der Dekommodifizierung von Arbeitskraft und ihrer Folgen, stechen eine Reihe solcher Merkmale hervor. Offe nimmt durchgängig eine relationale Perspektive ein; er fragt nicht bloß nach den Funktionen, die ein Teilsystem im Dienste eines anderen bzw. des Gesamtzusammenhanges erfüllt, sondern darüber hinaus nach deren reziproken Abhängigkeiten, nach den Aus- und Rückwirkungen, Gefährdungen und ex ante unabsehbaren Folgeproblemen der Maßnahmen, die im Sinne solcher Funktionsaufgaben getroffen werden. Die erwähnte Abhängigkeit des Staates von Steuern bzw. des Kapitals von Steuerungsleistungen, darf nicht missverstanden werden, als ließe sich mit ihr der dynamische Zusammenhang von Politik und Ökonomie erklären. Sie steht bloß exemplarisch für ein gan32 Ebd., S. 44-45. 33 Vgl. Ebd., S. 33-36. 412

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zes Bündel, auf das stößt, wer in dieser Richtung sucht. Andererseits legt Offes Herangehensweise nahe, Systemprobleme und Dependenzen nicht einfach zu konstatieren, sondern auch zu beurteilen, zu bewerten und sogar zu hierarchisieren. Schließlich spricht er von fundamentalen Systemproblemen und hält diese zur Erklärung staatlicher Politik für besonders relevant. An welcher Stelle der Problemdruck am größten ist, kann aber nicht a priori bestimmt werden, sondern erst in Auseinandersetzung mit den jeweiligen empirischen politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen. Ein weiteres Merkmal von Offes Herangehensweise besteht darin, dass seine Überlegungen um verworfene Konzepte kreisen, bzw. einen denkbar engen Bogen um sie machen, so dass diese den Gang seiner Untersuchung produktiv mitbestimmen. Offe kritisiert einerseits einige (zu seiner Zeit) verbreitete Vorstellungen vom systemischen Gleichgewicht, von erfolgreicher politischer Steuerung oder vom »Kapitalinteresse«, andererseits löst er sich in seiner Argumentation nicht einfach von diesen Konzepten, sondern eignet sie sich gewendet für seine Untersuchung an: die politisch relevante Unwahrscheinlichkeit des Gleichgewichts, die Unzulänglichkeit der zugleich notwendigen politischen Steuerung, anstelle eines originären und basalen Kapitalinteresses dessen kontingente staatliche Formulierung. In diesem Sinne kann man z. B. nach inkohärenten »Strategien« – nach Brüchen im Zusammenspiel verschiedener synchroner und diachroner staatlicher Politiken – suchen, gerade weil davon auszugehen ist, dass die Vorstellung von einer staatlichen Strategie wirklichkeitsfern ist. Hier kann man lernen, dass es Konzepte gibt, die so falsch sind, dass man nicht einfach auf sie verzichten sollte; und dass die Antwort auf ökonomistische Deutungsangebote durchaus darin zu finden sein kann, das Ökonomische in der politischen Analyse konsequent zu berücksichtigen. Offes Machtbegriff, den er gegen die Einflusstheorien in Stellung bringt, schließt Einflussnahme keineswegs aus. Es geht Offe lediglich darum, zu begründen, warum angesichts eines regelmäßigen Erfolges bestimmter Gruppen bei der Durchsetzung ihres Interesses noch nicht ohne weiteres von einer Machtbeziehung ausgegangen werden kann. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass in einer Machtbeziehung im Sinne Offes kein Einfluss geltend gemacht oder keine Gewalt ausgeübt werden kann. Gruppen, die vom Staat systematisch politisch bevorzugt, gefördert oder ermächtigt werden, weil sie über strategisch wichtige Ressourcen verfügen, können z. B. Einfluss geltend machen, indem sie dem Staat ihre Ressourcen vorenthalten – als zukunftsträchtige IT-Unternehmen z. B. Investitionen reduzieren oder mit Kapitalflucht drohen. Wie sich organisations- und konfliktfähige Interessengruppen jeweils verhalten, lässt sich auf struktureller Ebene nicht hinreichend diskutieren, die Perspektive muss also um die Akteursebene erweitert werden. Machtstruktu-

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ren und Einflussnahme durch die Akteure sind wiederum in relationaler Perspektive zu betrachten. Ressourcenreichtum und -armut, Verwertbarkeit und Überflüssigkeit erscheinen in dieser Perspektive als politische Kategorien, die als solche außerdem über die Verfassung des Politischen Auskunft geben. Offe orientiert sich in seinen staatstheoretischen Frühschriften offenbar nicht an einem emphatischen Begriff des Politischen, wie beispielsweise Hannah Arendt, deren Art und Weise, das verhängnisvolle Verhältnis von Ohnmacht und Überflüssigkeit zu verhandeln, nicht nur begrifflich, sondern auch methodisch sich grundsätzlich von Offes Ansatz unterscheidet.34 Dass strukturelle Macht, administrative Strategien, Ressourcenausstattung und Einfluss mit Offe aufeinander bezogen werden können, sollte nicht mit der Kritik dieser Beziehung verwechselt werden. Auch wenn Offe seine Überlegungen (ideologie-)kritisch und normativ einbettet, geht es ihm unmittelbar doch eher um theoretische Vorüberlegungen für ein Forschungsprogramm – und um die Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Operationalisierbarkeit derselben ergeben. Impulse dürften sich aus den »Strukturproblemen« deshalb am ehesten für die theoretische Vorbereitung politisch-soziologischer Forschungsarbeiten ergeben.

III. Es soll im Rahmen des vorliegenden Beitrages keineswegs darum gehen, Offes unorthodoxe Verbindung marxistischer und früher systemtheoretischer Einflüsse zum Zwecke der politischen Makro-Analyse sozialer Strukturen hinreichend zu aktualisieren, theoretisch zu erweitern bzw. zu revidieren. Stattdessen sollen für die relativ konkrete Auseinandersetzung mit politischen Akteuren wie Ministerien, Verbänden, Bündnissen, Netzwerken und NGOs aus Offes Überlegungen Fragen entwickelt werden, gleichwohl um in einem ersten anwendungsorientierten Versuch zu erkunden, ob und wieweit sich der Strukturproblemeansatz für eine umfassendere thoeretische und empirische Auseinandersetzung mit Staat, Demokratie und Kapitalismus unter den Bedingungen ihrer gegenwärtigen Transformation gebrauchen lässt. Mit Offe lässt sich die Einbindung der Zivilgesellschaft, sozialer Bewegungen und NGOs in Governance strategisch interpretieren. Der Staat versucht, verloren gegangene bzw. sogar verspielte Handlungsfähigkeit wettzumachen, indem er gesellschaftliche Akteure als Governance-Partner anruft

34 Vgl. zu Arendts Herangehensweise: Meints, W. (2006): Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine Aktualisierung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderbd. 16, S. 225-335. 414

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bzw. der Politikverdrossenheit zu begegnen, indem er sich einen Legitimationsgewinn durch Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten verschafft. Das heißt aber nicht, dass diese Strategie für eine bestimmte zivilgesellschaftliche Organisation auch relevant ist. Bewegt sich die betreffende Organisation politisch überhaupt auf einem Feld, auf dem Global Governance mit Zivilgesellschaft zur Anwendung kommt? In bestimmten »harten« Politikfeldern wird sie eventuell von vornherein von relevanten Akteurs-Positionen ausgegrenzt und sie entwickelt, allein auf sich und ihr Publikum gestellt, lediglich ein gewisses Protestpotenzial. Pazifistischen NGOs z. B. dürften wichtige Bereiche der Sicherheitspolitik verschlossen bleiben. Auch Organisationen, die sich in ihren Aktivitäten eher auf Protest beschränken und die öffentliche Meinung oder bestimmte Teilöffentlichkeiten zu beeinflussen suchen, können unter dem Gesichtspunkt von Legitimationsproblemen für Governance wertvoll werden. In diesem Fall ist zu fragen, inwiefern sie durch ihr Engagement auf die Ursachen gegebener Legitimationsdefizite verändernd einwirken können, oder ob sie bloß kurzfristig durch ihre Einbindung selbst und ohne nennenswerten Einfluss zum willkommenen Legitimationsbeschaffer für ihre privaten und staatlichen Governance-Partner werden. Möglicherweise sind die Probleme in einem Politikfeld so gelagert, dass eine zunächst ausgegrenzte oder ignorierte Organisation mit ihrem spezifischen Wissen oder ihrem sozialen Kapital strategisch durchaus bedeutsam werden kann. Wie erfolgreich vermag sie die eigenen Kompetenzen in ein allgemeines, eine zukünftige Regierungspolitik adressierendes Programm einzubetten? Inwiefern gelingt es ihr (oder den Verbänden und Netzwerken, in die sie eingebunden ist), ein solches Programm zu vermitteln, bzw. auf dessen Formulierung Einfluss zu nehmen? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche (z. B. öffentliche Meinung) und quasi-staatliche (auf Regierungsbeteiligung zielende Parteien) Strukturen und Akteure? Welche Staatsapparate und – es geht um Global Governance – Staaten haben überhaupt Interesse an einer Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichen Kräften im jeweiligen Politikfeld? Die Anzahl miteinander konkurrierender und sich eventuell widersprechender Strategien steigt vermutlich mit der Anzahl der beteiligten staatlichen und substaatlichen Akteure. Internationale und supranationale Gebilde wie VN oder EU lösen die Staaten zwar als wichtigste Akteure in den internationalen Beziehungen nicht ab, relativieren deren Bedeutung gegenüber Offes staatszentriertem Modell aber zumindest. Die Beziehung Staat-Zivilgesellschaft muss also mehrfach differenziert werden. Das gleiche gilt für die relevanten Macht-Beziehungen. Nicht nur auf staatlicher, gouvernementaler Ebene muss differenziert werden, sondern auch hinsichtlich privater Strukturen und Akteure – es geht um Global Governance. Was bedeuten die Veränderungen in der »neuen To415

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pographie des Politischen» (Leibfried) für die »politische Förderung« bestimmter gesellschaftlicher Statusgruppen durch privatisierte Apparate des Governance-Staates? Unabhängig von dem Problem, ob Privatisierung bzw. Vergesellschaftung von Politik einen sich selbst verstärkenden Prozess darstellt, stellt sich die Frage hinsichtlich möglicher Bedürfnisse privater Governance-Akteure nach einer Einbindung bislang nicht beteiligter zivilgesellschaftlicher Organisationen. Auch außerhalb des originär staatlichen Bereichs können also Machtstrukturen im Sinne Offes relevant werden, die bei der Untersuchung von Global Governance und Zivilgesellschaft zu berücksichtigen sind. Gerade aus dem Machtbegriff der »Strukturprobleme« lässt sich eine Reihe von Fragen ableiten, zuallererst natürlich danach, ob angesichts eines bestimmten empirischen Falles überhaupt von Machtausübung und Machtunterworfenheit sinnvoll gesprochen werden kann. Asymmetrische Reziprozität ist schließlich nur eine Möglichkeit unter vielen. Wenn es im zivilgesellschaftlichen politischen Engagement nicht allein um die Möglichkeit von Partizipation an sich geht, sondern auch um den Kampf um Alternativen und gegen Widerstände, dann gilt es auch nach den qualitativen Unterschieden in der Ressourcenausstattung konkurrierender gesellschaftlicher Statusgruppen zu fragen, die die jeweilige Organisation ins Spiel bringen kann. Über welches produktive Wissen verfügt die Organisation oder kann sie mobilisieren, über das Gegner oder Konkurrenten nicht verfügen? Welche zum Zwecke politischen Problemlösens hilfreichen sozialen Beziehungen lägen brach, wenn der Staat auf die Leistungen der Organisation verzichten müsste? Wie nutzt die Organisation ihren Wert aus? Stellt sie gegenüber dem Staat, der auf sie bzw. ihre Ressourcen politisch angewiesen ist, Forderungen oder macht im Sinne ihrer Interessen Einfluss geltend? Wie reagiert der Staat auf NGOs oder Netzwerke, deren Partizipation legitimierend auf seine Politik wirken kann, das Maß an »Förderung« bzw. »Ermächtigung«, das daraus erwächst aber politisch überstrapazieren? Wenn Global Governance mit Zivilgesellschaft Legitimationsprobleme eher kreiert statt politische Probleme zu lösen, welche strategische Wende vollzieht der Staat dann? Und welche Folgeprobleme entspringen aus den politischen Lösungen, die die Organisation anbietet oder einfordert? Anstatt die Einbindung der Zivilgesellschaft voreingenommen wohlwollend als Lösungsweg zu verstehen und bloß nach den Hindernissen einer solchen Einbindung zu fragen, müssen auch deren Folgeprobleme berücksichtigt werden. Wer verliert, wenn der zivilgesellschaftliche Governance-Partner politisch gewinnt? Auf seinen Internetseiten wirbt das Auswärtige Amt für eine stärkere Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure im Rahmen einer Global Governance und zitiert dabei Max Weber: Politik bedeute ein starkes langsames Bohren

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von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.35 Offes Ansatz aus den »Strukturproblemen« legt zumindest nahe, dass die Bretter, durch die man sich bohrt, zwar immer hart, aber je nach Ressourcenausstattung von ganz unterschiedlicher Härte sein werden. Um dieser Vermutung nachzugehen, könnte die politikwissenschaftliche Partizipationsforschung von Offes Strukturproblemeansatz durchaus anregende Impulse beziehen.

35 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/090311GovernanceSchool.html. Letzter Abruf vom 08.06.09. 417

Normative und empirische Demokratietheorie. Ein Vergleich der Stärken und Schwächen am Beispiel Rousseaus und Schumpeters MARIA KREINER Der Anspruch der „modernen politischen Theorie“ besteht darin, rein deskriptiv und wertneutral die Wirklichkeit zu beschreiben und jeglichen Weltverbesserungsbestrebungen und Vorstellungen, wie die Welt sein sollte und sein könnte, den Spiegel der Realität vorzuhalten. Dieser Anspruch richtet sich ausdrücklich gegen normative Theorien, die nicht induktiv aus empirischen Fällen, sondern deduktiv aus einem normativen Postulat abgeleitet sind. Während empirische Demokratietheorien bemüht sind, existierende Demokratien in ihrer tatsächlichen Funktionsweise zu erfassen und zu beschreiben, versuchen normative Demokratietheorien allgemein das politische Modell der Demokratie zu begründen und entwickeln dafür auf der Basis eines bestimmten Menschenbildes eine Idealform von Demokratie. Metatheoretisch betrachtet, handelt es sich bei empirischen und normativen Theorien um klar unterscheidbare Theorieansätze, die völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen. Dennoch versuchen empirische Theoretiker den normativen Theorieansatz zu diskreditieren und für die Politikwissenschaft als überholt abzutun. Theorieansätze wie der Behaviorismus, die Neue Politische Ökonomie und die Systemtheorie distanzieren sich ausdrücklich von normativer Theorie, die sie als ideologisch und dogmatisch abstempeln. Ihr wissenschaftstheoretisches Fundament ist die empirisch-analytische Schule, deren Ziel es ist, ein möglichst genaues Verständnis der realen Verhältnisse zu erzielen. Für die empirisch-analytische Schule gelten nur solche Aussagen als wissenschaftlich, die empirisch überprüfbar und somit falsifizierbar sind. Da normative Aussagen keine Aussagen über die Wirklichkeit, sondern über einen erwünschten Zustand sind, können sie nicht falsifiziert werden. Die Forderung nach wertneutraler Forschung und wertneutralen Forschungsergebnissen führte zum Positivismusstreit. Ein heimlicher Normativismus empirischer 419

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Theorien ist die Folge des Postulates der wertfreien Forschung. Wie Empiriker in ihren Theorien Normen verstecken, wird bei Anthony Downs deutlich. In der Einleitung zur „Ökonomischen Theorie der Demokratie“ erläutert er die Vorgehensweise seiner Theoriebildung: „Obwohl unser Modell mit dem Grundproblem der Wohlfahrtsökonomik […] zusammenhängt, ist es kein normatives Modell. […] Das einzige normative Element, das es enthält, liegt in der Annahme, daß jeder erwachsene Bürger eine und nur eine Stimme hat. Eigentlich ist es sogar so, daß diese Voraussetzung zwar letztlich nur durch ein ethisches Werturteil zu rechtfertigen ist, daß wir sie aber in unser Modell einfach als faktischen, nicht als normativen Parameter einführen. Daher ist die Beziehung, die wir zwischen individuellen und staatlichen Zielsetzungen konstruieren, eine Beziehung, die unserer Ansicht nach unter bestimmten Umständen existiert, nicht eine, die existieren soll, weil sie irgendwelchen idealen Forderungen entspricht.“1 Normen werden also als Faktizitäten in die Theorie eingeführt, wodurch es möglich wird, Funktionsdefizite zu identifizieren, zu kritisieren und Problemlösungen vorzuschlagen, wozu reiner Empirismus nicht in der Lage wäre. Reese-Schäfer ist der Auffassung, dass sich inzwischen zumindest bei der jüngeren Wissenschaftlergeneration die Abneigung gegenüber normativen Theorien gelegt hat. „Die heutige Generation selbstreflektierter Empiriker hat die uralten Frontstellungen des Positivismusstreits produktiv überwunden. Empirie und Kritik können wieder Hand in Hand gehen.“2 Beinahe jeder könne nun Fakten und Normen unterscheiden.3 Sein und Sollen würden konsequent voneinander geschieden. Aus einer Seinsaussage folge nur dann eine normative Forderung, wenn mindestens ein normativer Satz hinzugenommen werde.4 „Zur Wissenschaftlichkeit gehört es, den heimlichen Normativismus der gängigen Praxis auf dem Wege der Explizitmachung und rationalen Durchstrukturierung vorgegebener normativer Vorstellungen durchschaubar zu machen. Es kommt also darauf an, Normen zu reflektieren, nicht so sehr, diese zu postulieren.“5 Dieser Beitrag möchte diesen Trend unterstützen, indem er versucht, die Stärken und Schwächen empirischer und normativer Demokratietheorie aufzuzeigen, um deutlich zu machen, dass es fruchtlos ist, beide Theorieansätze gegeneinander auszuspielen.

1 2 3 4 5

Downs, A. (1968): Ökonomische Theorie der Demokratie, hg. v. Wildenmann, R., Tübingen, S. 18f. Reese-Schäfer, W. (2007): Politisches Denken heute. Zivilgesellschaft, Globalisierung und Menschenrechte, 2. überarb. Aufl., München; Wien, S. 3. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Ebd.

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Ein prominenter Vertreter der „modernen politischen Theorie“ ist Joseph A. Schumpeter, der in seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ ein empirisches Demokratieverständnis vertritt. Die einschlägigste normative Demokratietheorie ist der „Gesellschaftsvertrag“ von Jean-Jacques Rousseau. In den ersten beiden Kapiteln werden die Grundzüge beider Demokratietheorien dargestellt, um im dritten Kapitel die Stärken und Schwächen beider Theorieansätze herauszuarbeiten.

I.

Die Demokratietheorie Rousseaus als Exempel einer normativen Theorie

„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“6 Es ist die Herrschaft von Menschen über Menschen, die Rousseau als freier Bürger der Stadt Genf beschäftigt. Ziel seiner Abhandlung ist es, sich eine gesellschaftliche Ordnung auszudenken, die gerecht ist. Dabei möchte er die Menschen so nehmen, wie sie sind und die Gesetze, wie sie sein können. Gerechtigkeit und Nutzen sollen miteinander verbunden werden.7 Unter Gerechtigkeit versteht Rousseau, dass alle Menschen frei geboren sind und den gleichen Wert haben. Deshalb habe jeder ein natürliches Recht darauf, in der Gesellschaft als Gleicher anerkannt zu werden und in Freiheit zu leben. Die Einrichtung einer gerechten Gesellschaft könne nur auf Übereinkunft und nicht auf Zwang beruhen. Rousseau formuliert einen fiktiven Gesellschaftsvertrag, der einer gesellschaftlichen Ordnung zugrunde liegen müsste, wenn es die Möglichkeit einer freien Gesellschaftsgründung gäbe. „‚Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.‘ Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt.“8 Diese Gesellschaftsordnung muss demnach so eingerichtet sein, dass kein Gesellschaftsmitglied ein Recht hat, ein anderes Gesellschaftsmitglied zu töten und dass jeder Eigentum besitzen darf, das von der Gemeinschaft geschützt wird. Zudem darf sich keiner über den anderen stellen und über seinen Willen bestimmen. Wie lassen sich diese Bedingungen einlösen? „Diese Bestimmungen lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes. […] [D]enn wenn den Einzelnen einige Rechte blieben, würde jeder – da es keine 6 7 8

Rousseau, J. J. (1996): Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart, S. 5. Vgl. ebd. Ebd., S. 17. 421

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allen übergeordnete Instanz gäbe, die zwischen ihm und der Öffentlichkeit entscheiden könnte – bald den Anspruch erheben, weil er in manchen Punkten sein eigener Richter ist, es auch in allen [Punkten] zu sein; der Naturzustand würde fortdauern, und der Zusammenschluß wäre dann notwendig tyrannisch oder inhaltslos.“9 Weil alle ihre natürliche Freiheit an das Gemeinwesen entäußerten, erhielte jeder das Recht, über die gesellschaftlichen Angelegenheiten persönlich mitzubestimmen und seine Stimme zu erheben. Das Ziel der Erhaltung der persönlichen Freiheit im Zustand der Vergesellschaftung wird institutionell im Modell der direkten Volksregierung, in der Identität von Regierenden und Regierten, umgesetzt. Zur Entäußerung aller Rechte an die Gemeinschaft gehört bei Rousseau zudem die Unterordnung des egoistischen Willens unter die Richtschnur des Gemeinwillens, damit die Volksversammlungen nicht zu Kampfarenen von Sonderwillen verkommen und sich lediglich der mächtigste Sonderwillen durchsetzt, unter dem wiederum ein Teil der Gesellschaftsmitglieder zu leiden hätte. Die Differenzierung in Sonderwillen und Gemeinwillen ist eine Besonderheit der Rousseauschen Demokratiekonstruktion, mit der das Ziel von Herrschaftsfreiheit in der Gesellschaft begründet werden soll. Um eine Herrschaft von Sonderwillen zu vermeiden, ist Rousseau strikt gegen das Modell der Repräsentation und gegen die Existenz von Parteien. Die Repräsentation birgt die Gefahr der Überordnung des Willens einer politischen Klasse über den Willen des Volkes. Die Parteien repräsentieren und organisieren Sonderwillen und tragen für Rousseau weder zur Bildung des Gemeinwillens bei, noch dienen sie dem Gemeinwohl. Eine solche gesellschaftliche Ordnung hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben und sie ist die unwahrscheinlichste Form des Zusammenlebens schlechthin. Obwohl vermutlich jeder zustimmen würde, dass eine solche gesellschaftliche Ordnung die denkbar gerechteste wäre, ist sie schwer zu realisieren. Denn sie setzt vernünftige Menschen voraus. Die Vernunft ist offenbar keine geistige Haltung, die das Handeln des Menschen unmittelbar bestimmt. Ihre Herausbildung beim Individuum ist eine Erziehungsleistung, die nicht bei allen gleichermaßen Wirkung zeigt. Vernünftig zu handeln, ist eine Selbstüberwindung und erfordert die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse aus Rücksichtnahme auf andere zurückzuhalten. Die Vernunftfähigkeit und den Vernunftwillen beim Menschen als natürlich vorauszusetzen, entspricht keinem realistischen Menschenbild, wie es Rousseau eigentlich annehmen wollte. Er geht zwar zunächst vom eigennutzorientierten Menschen aus: „Dessen oberstes Gesetz ist es, über seine Selbsterhaltung zu wachen, seine erste Sorge ist diejenige, die er sich selber schuldet“10 und versucht diesen zu überzeugen, dass er durch den Gesellschaftsvertrag den größten persönlichen 9 Ebd. 10 Ebd., S. 6. 422

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Nutzen hätte und dass er sich durch den Beitritt zum Gesellschaftsvertrag zu einem vernünftigen, zivilisierten Menschen wandeln würde. Er gibt jedoch dieses Menschenbild bei der Entwicklung seiner Theorie wieder auf, weil ihm Zweifel an seiner Tauglichkeit zur Begründung seiner Gesellschaftstheorie kommen. „Damit ein werdendes Volk die gesunden Grundsätze der Politik schätzen und den grundlegenden Ordnungen der Staatsraison folgen kann, wäre es nötig, daß der Gemeinsinn, der das Werk der Errichtung sein soll, der Errichtung selbst vorausgehe und daß die Menschen schon vor den Gesetzen wären, was sie durch sie werden sollen.“11 Dieser Widerspruch der unterschiedlich zugrunde gelegten Menschenbilder wird in der Theorie nicht aufgelöst, weil Rousseau dann hätte erkennen müssen, dass er entweder seine Theorie doch auf einem unrealistischen Menschenbild – dem Vernunftmenschen – aufgebaut hat oder seine Theorie auf der Annahme eines realistischen Menschenbildes – dem eigennutzorientierten Menschen – in dieser Form nicht hätte entwickeln können. Die Verwirklichung einer demokratischen Ordnung ist also hoch voraussetzungsvoll. Rousseau war es vollkommen bewusst, dass es unwahrscheinlich ist, sie zu verwirklichen: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“12

II.

Die Demokratietheorie Schumpeters als Exempel einer empirischen Theorie

In der Philosophie der Demokratie im achtzehnten Jahrhundert bestehe die Auffassung, „daß es ein Gemeinwohl als sichtbaren Leitstern der Politik gibt, das stets einfach zu definieren ist und das jedem normalen Menschen mittels rationaler Argumente sichtbar gemacht werden kann“.13 Für Schumpeter ist diese Auffassung die klassische Lehre der Demokratietheorie, die er zum Anlass nimmt, eine „andere Theorie der Demokratie“ zu entwickeln, „die viel lebenswahrer ist und gleichzeitig viel von dem vor dem Untergang bewahrt, was die Paten der demokratischen Methode mit diesem Ausdruck wirklich meinen.“14 Schumpeter bezweifelt, dass der rationale Wille des Bürgers auf politischer Ebene tatsächlich existiert. Aus der Sozialpsychologie weiß er, dass die Menschen nur zu bestimmten und rationalen Entscheidungen fähig sind, wenn es sich um Dinge handelt, die sie unmittelbar berühren, wie ihre

11 Ebd., S. 46. 12 Ebd., S. 74. 13 Schumpeter, J. A. (1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. erw. Aufl., Tübingen; Basel, S. 397. 14 Ebd., S. 427. 423

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Geschäfte, ihre Liebhabereien, ihre Freunde, Klasse, Kirche, Gemeinde, etc. „So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven.“15 Wie in der Werbepsychologie nachgewiesen, ist es Produzenten möglich, durch Reklame den Willen der Käufer zu beeinflussen, wenn nicht gar zu erzeugen. Entsprechend sähen wir uns bei der Analyse politischer Prozesse nicht einem ursprünglichen, sondern einem fabrizierten Willen gegenüber. Der sogenannte „Wille des Volkes“ sei das Erzeugnis, nicht die Triebkraft des politischen Prozesses.16 Schumpeter räumt zwar ein, dass das Volk langfristig nicht zum Narren gehalten werden könne, aber dies änderte nichts an der Tatsache, „daß in Wirklichkeit das Volk die Streitfragen weder stellt noch entscheidet, sondern daß diese Fragen, die sein Schicksal bestimmen, normalerweise für das Volk gestellt und entschieden werden.“17 Die klassische Lehre, die so offenkundig im Gegensatz zu den Tatsachen stehe, konnte sich bislang nur halten, weil sie einen Religionsersatz darstelle. Wenn aber Demokratie zur Religion wird, dann könne sie nicht mehr kritisch überprüft werden und auch Missstände würden unter ihrem Namen hingenommen werden. „Wir können unser Problem auch anders stellen und sagen, daß die Demokratie, wenn sie auf diese Weise motiviert wird, aufhört, eine bloße Methode zu sein, über die man rational wie über eine Dampfmaschine oder ein Desinfektionsmittel diskutieren kann. Sie wird nun tatsächlich zu etwas, wozu ich sie von einem Standpunkt aus für unfähig hielt, nämlich zu einem idealen oder richtiger zum Teil eines idealen Schemas der Dinge. Allein schon das Wort kann zu einer Fahne, zu einem Symbol all dessen werden, was dem Menschen teuer ist, was er an seinem Lande liebt, ob es nun rational dazu gehört oder nicht.“18 Politiker würden in die Lage versetzt, den Massen zu schmeicheln und bekämen die Gelegenheit, „nicht nur der Verantwortung auszuweichen, sondern auch die Gegner zu zerschmettern – im Namen des Volkes.“19 Für Schumpeter ist die Demokratie eine Methode: „Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben.“20 Mit dieser Demokratieauffassung stärkt er das, was bei der klassischen Demokratietheorie in den Hintergrund gedrängt wurde: die politische Führung. Kollektive handelten fast 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 416. Vgl. ebd., S. 418. Ebd., S. 420. Ebd., S. 423. Ebd., S. 426. Ebd., S. 428.

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ausschließlich dadurch, dass sie eine Führung akzeptierten. In den Kollektiven seien zwar klare Sonderwillen vorhanden, jedoch bedürfe es eines politischen Führers, der sie organisierte, in politische Faktoren verwandelte und zum Leben erwecke. Schumpeter favorisiert das Mehrheitsprinzip gegenüber dem Proporzprinzip, um die Führung zu stärken.21 Die Hauptaufgabe des Wählers besteht also darin, eine Regierung hervorzubringen. Dies geschehe in der Praxis entweder direkt, wie z. B. in der Präsidentenwahl der USA oder über den Weg des Parlaments, wie beispielsweise in Großbritannien. Keiner der eingesetzten Führer könne allerdings völlig frei tun und lassen, was ihm beliebte, da er zum einen unter Konkurrenzdruck mit anderen Führern stehe und zum anderen es innerhalb seiner Partei auch immer Führer zweiten und dritten Ranges gäbe, die Auflehnung und passiven Widerstand gegen die Führung des Führers zeigten, was zum Wesen der demokratischen Methode gehöre.22 Das erste und höchste Ziel jeder politischen Partei sei es, über die anderen den Sieg davonzutragen, um Macht zu bekommen oder zu erhalten. Der beherrschende Faktor des Parlaments sei es nicht, Gesetze hervorzubringen, die gingen in der Regel auf Regierungsinitiativen zurück, sondern die Führung auszuwählen.23 Worauf es Schumpeter bei seiner Theoriebildung ankommt, ist die Unterscheidung von sozialem Sinn und treibendem Motiv. Man könne die Tätigkeiten in einer menschlichen Gesellschaft nicht erklären, wenn man nur ihre sozialen Ziele oder Bedürfnisse analysiere. „Zum Beispiel ist der Grund, warum es so etwas wie eine ökonomische Tätigkeit gibt, natürlich der, daß die Menschen sich nähren und kleiden usw. wollen. Die Mittel zur Befriedigung dieser Wünsche zu liefern, ist das soziale Ziel oder der soziale Sinn der Produktion. Trotzdem sind wir uns alle einig, daß diese These ein sehr wirklichkeitsfremder Ausgangspunkt für eine Theorie der wirtschaftlichen Tätigkeit in der kommerziellen Gesellschaft wäre und daß wir besser vorwärtskommen, wenn wir von Thesen über Profite ausgehen.“24 Für die Wählerschaft in der Demokratie gelte, dass ihre Entscheidung nicht aus ihrer eigenen Initiative erfolge, sondern von den Politikern geformt werde. Die Wähler beschränkten sich darauf, das Angebot eines Führers, ihn zu wählen, anzunehmen oder abzulehnen oder sich für das Angebot eines konkurrierenden Führers zu entscheiden.25 „Parteipolitiker und Parteimaschinen sind nur die Antwort auf die Tatsache, daß die Wählermasse keiner andern Haltung als der Panik fähig ist, und sie bilden einen Versuch, den politischen Konkurrenzkampf genau gleich wie die entsprechenden Praktiken eines Wirtschaftsverbands zu regulieren. Die 21 22 23 24 25

Ebd., S. 433. Vgl. ebd., S. 440. Vgl. ebd., S. 445. Ebd., S. 448. Vgl. ebd., S. 449. 425

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Psychotechnik der Parteileitung und der Parteireklame, der Schlagworte und der Marschmusik ist kein bloßes Beiwerk. Sie gehören zum Wesen der Politik. So auch der politische ‚boß‘.“26

III. Stärken und Schwächen normativer und empirischer Demokratietheorie Während Rousseau nach einer gerechten Gesellschaftsordnung sinnt und ein Ideal konstruiert, versucht Schumpeter ein Bild der politischen Realität zu zeichnen, um das Ideal zu dekonstruieren. Worin liegt der Nutzen, ein Ideal zu konstruieren? Ein Ideal formuliert einen erwünschten Zustand, der realistisch und erstrebenswert erscheint. Ideale stehen für die Vorstellung, dass eine andere Welt möglich ist, dass die Menschen in der Lage sind, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wer Ideale formuliert, glaubt an die Macht der Politik, an die menschliche Freiheit. Rousseaus demokratietheoretisches Ideal geht von der Möglichkeit aus, dass es eine Gesellschaft ohne Herrschaft geben könnte. Es eröffnet theoretisch Handlungsspielräume und motiviert, die gesellschaftspolitischen Verhältnisse zu verändern und Institutionen zu schaffen, welche die Werte von Freiheit und Gleichheit aller ermöglichen sollen und als politische Rechte einklagbar machen. Mit dem Ideal setzt er einen Maßstab, um die herrschenden Verhältnisse als Missstand zu kritisieren. Das Problem normativer Theorien ist allerdings, dass sie prädestiniert sind, für ideologische und propagandistische Zwecke von Politikern missbraucht zu werden, weil sie eine legitimierende Funktion haben. Unter dem Deckmantel hehrer Ideale wird dann eine Politik betrieben, die den Idealen geradezu ins Gesicht schlägt.27 Die demokratietheoretischen Überlegungen Schumpeters setzen aus diesem Grund bei den Idealen der Aufklärungsphilosophie an, die er als verfehlte Realbeschreibungen kritisiert und hält ihnen die Verfassungswirklichkeit etablierter Demokratien entgegen. Er setzt die Ideale mit Ideologie gleich und zieht daraus den Schluss, dass es am besten gar keine Ideale geben sollte, um eine Verblendung der Menschen zu vermeiden. Empirische Demokratietheorie ist insofern ideologiekritisch, als sie in der Lage ist, die Differenz von Ideal und Wirklichkeit zu beschreiben. Sie stellt allerdings nur den Status quo der demokratischen Praxis fest und eignet sich nicht, die Demokratie als Staatsform zu begründen. Der Status quo ändert sich dauernd und beinhaltet keine Entwicklungsmöglichkeit, sondern er zeigt den tatsächlichen Zustand an. Wenn Demokratie allgemein das sein soll, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, dann wird sie auf diesen Stand normativ festgeschrieben, weil 26 Ebd., S. 450. 27 Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Kraiker in diesem Band. 426

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das Allgemeine zeitunabhängig ist. Das auf einem Status quo beruhende Demokratieverständnis ist zwar realistisch und entzieht Träumern, Phantasten und Ideologen die Basis, aber es enthält kein Potential, über den Entwicklungsstand jenes Zeitpunktes hinauszukommen. Würde der Status quo des Schumpeterschen Demokratiemodells gelten, müssten die Wähler politisch irrational und infantil bleiben und sich damit begnügen, einen Führer auszuwählen. Die Parteien müssten sich immer so verhalten, dass sie den Sieg über die anderen Parteien hinwegtragen und koste es auf Dauer die Glaubwürdigkeit. Diese wäre aber ohnehin nicht in Gefahr, weil der Wähler offenbar schnell vergisst und sowieso über keinen anhaltenden politischen Willen verfügt. Und die Führer müssten sich artig dem Wettbewerb stellen und mit Psychotechnik, Reklame und Marschmusik die hysterische Masse bändigen. Empirische Theorien können ihrem Wesen nach keine dauerhafte Gültigkeit beanspruchen. Sie sind Momentaufnahmen und haben so lange ihre Richtigkeit, wie sie sich empirisch verifizieren lassen. Charakteristisch für „moderne“ Demokratietheorien ist allerdings, dass sie sich als Alternativen zu normativen Theorien gerieren und sich als realistische allgemeine Theorien ohne normative Prämissen verstehen. Diesem Anspruch wird die empirische Demokratietheorie Schumpeters nicht gerecht. Wenn es so ist, wie Schumpeter behauptet, dass die Wähler unfähig sind, eine rationale Meinung über die politischen Sachfragen zu entwickeln und sich die demokratische Methode faktisch auf die Führerauswahl reduziert, dann stellt sich die Frage, weshalb sich die Führer überhaupt dieser Methode aussetzen und sich von einer dummen, hysterischen Masse wählen lassen? Nur aus Legitimitätsgründen macht es Sinn, sich der demokratischen Methode zu stellen. Legitimität wird jedoch nicht durch die bloße Anwendung eines Verfahrens hergestellt. Legitimität wird erzeugt durch Zustimmung einer Mehrheit, die Urteilskraft besitzt. Die Zustimmung von Schwachsinnigen und Willenlosen ist kein überzeugendes Argument, den Machtanspruch eines politischen Konkurrenten zurückzuweisen. In diesem Fall ist es viel realistischer anzunehmen, dass politische Gegner eher über das Mittel der Gewalt als über demokratische Wahlen in Konkurrenz treten. Wenn die Wirkung der Berufung auf die Unterstützung von Schwachsinnigen als gering eingeschätzt werden kann, stellt sich zudem die Frage, warum sich ein politischer Führer um das Wohl der Wähler verdient machen soll? Aus Idealismus? Ohne die normative Prämisse der Anerkennung der demokratischen Methode mangelt es den Schumpeterschen Überlegungen an Plausibilität. Normativen Demokratietheorien wird fehlender Realitätssinn und ein Mangel an praktischen Umsetzungsvorschlägen nachgesagt. Ihre Funktion besteht allerdings darin, moralische Erwartungen zu begründen. Das normative Postulat der Volkssouveränität im Gesellschaftsvertrag Rousseaus erfordert nicht in erster Linie, dass technisch das ganze Volk regiert, sondern dass poli427

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tische Entscheidungen und die aus ihr resultierenden gesellschaftlichen Verhältnisse allgemeine Zustimmung erfahren. In einer repräsentativen Demokratie schreibt es der politischen Elite Verantwortlichkeit ihres Handelns gegenüber den Bürgern vor. Die Regierung wird öffentlich danach beurteilt, ob ihre Politik dieser Verantwortlichkeit Rechnung trägt. Die Bürger können die Regierung bei der nächsten Wahl abwählen und durch Machtentzug für unverantwortliches Handeln sanktionieren und sich für die Unterstützung einer alternativen Politik entscheiden. Diese Demokratieauffassung setzt den politischen Wettbewerb voraus, aus dem die verantwortlichsten politischen Köpfe gewählt werden können, kritische und unabhängige Medien, die in der Lage sind, über verantwortliches und unverantwortliches politisches Handeln zu berichten sowie Bürger, die vor allem ihr Wahlrecht wahrnehmen, um ihrer Souveränität Ausdruck zu verleihen. Demokratie setzt voraus, dass die politische Elite die Bürger ernst nimmt, weil sie ansonsten keinen Grund hätte, responsive Politik zu betreiben. Dies können die Bürger in einer repräsentativen Demokratie nur erreichen, indem sie wählen gehen. Diese Bedingungen sind in der Praxis oft nicht erfüllt. In Deutschland beispielsweise ist der politische Wettbewerb Verzerrungen ausgesetzt, weil die Hürden, sich dem politischen Wettbewerb zu stellen, relativ hoch sind. Ohne Parteimitgliedschaft und Ochsentour gelingt kaum der Einstieg in eine politische Karriere und bei der Wahl gibt es auf allen politischen Ebenen einen Amtsbonus. Die Medien überschreiten ihre Aufgabe der kritischen und neutralen Berichtertattung und versuchen gezielt öffentliche Meinung zu produzieren und den Wählerwillen zu beeinflussen. Die Bürger nehmen immer weniger an Wahlen teil und verzichten auf ihre Souveränität. Dies lehrt uns die empirische Demokratieforschung. Sollen nun die Erwartungen, die sich am demokratischen Ideal orientieren, aufgegeben werden, weil sie derzeit nicht erfüllt sind? Der Appell der Empiriker, die Demokratie nicht mit überzogenen normativen Erwartungen zu überfordern, ist durchaus berechtigt und zwar vor allem dann, wenn es sich um logisch unerfüllbare Erwartungen handelt, wie zum Beispiel die Gewährleistung zunehmender wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bei gleichzeitig sinkenden Steuereinnahmen und abnehmender Erwerbsquote. Politiker sehen sich genötigt, derartige Erwartungen zu erzeugen, um ihre Wiederwahl zu sichern. Dies ist tatsächlich ein strukturelles Problem von Demokratien. Um die Macht zu erringen und zu erhalten, ist die politische Elite bereit zu versprechen, was gar nicht in der Macht des Staates liegt. Es gibt keinen verlässlichen institutionellen Kontrollmechanismus, dieses Problem einzudämmen. Für den Machterhalt versucht die Regierung unerwünschte Ergebnisse ihrer Politik zu verschleiern, die Opposition lockt, um die Macht zu gewinnen, mit Versprechungen, die sie nach Regierungsübernahme nicht einhalten könnte, die Medien verfolgen ihre eigenen Interessen und versuchen die Parteien und Personen medial zu unterstützen, die ihnen nützen und die 428

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Wähler lassen sich erfahrungsgemäß von einfachen Politikparolen blenden. Das Problem der Täuschung in der Politik lässt sich nicht beheben, indem auf Ideale verzichtet wird. Ganz allgemein würde ohne das Hochhalten von Idealen und die Existenz allgemein verbindlicher Normen, die als gegenseitige Erwartungen Verhaltenssicherheit geben und das Fehlverhalten der politischen Akteure reklamierbar machen, der Anlass zur Verbesserung der Verhältnisse entfallen. Ideale und Werte garantierten keine vernünftigen Verhältnisse, aber sie sind die Bedingung für die Möglichkeit. Wer nicht mal die Möglichkeit zur Verbesserung einräumt, schreibt den Status quo als die einzige Möglichkeit fest und nimmt dem Menschen die Freiheit und die Hoffnung auf bessere Verhältnisse. Würden die Sozialwissenschaften auf normative Theoriebildung verzichten, überließen sie die Formulierung von Werten, Normen und Idealen den politischen Ideologen und religiösen Predigern, also jenen, denen es zuvörderst um Macht und nicht um diese Verwirklichung von Volkssouveränität geht. Die Politik bestimmt, wie die Menschen zu leben und die Religion, wie sie zu denken haben. Normative Theorie ist jedoch nicht Ideologie und nicht Religion. Sie ermöglicht gerade einen rationalen und machtfreien Diskurs über Werte und Ideale zu führen, so wie über Dampfmaschinen und Desinfektionsmittel. Diese Funktion können empirische Theorien nicht übernehmen, weil sie die Normen, die sie voraussetzen, nicht reflektieren, sondern an ihre Stelle eine schlechte Praxis setzen. Eine normative Demokratieauffassung gibt ein allgemein begründetes Handlungsziel an, erzeugt Handlungsmotivation und ist handlungslegitimierend. Eine empirische bzw. realistische Demokratieauffassung ermöglicht Handlungsergebnisse in Bezug auf das Machbare angemessen zu beurteilen. Das Machbare steht allerdings immer in Beziehung zum Wünschenswerten und umgekehrt. Ein normatives und realistisches Demokratieverständnis schließen sich nicht aus, weil sie völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen. Beide Ebenen und Funktionen nicht auseinanderhalten zu können und eine einseitige Sichtweise einzunehmen, stellt eine Gefährdung der Demokratie dar, weil entweder zu hohe Erwartungen erzeugt werden, die nicht erfüllt werden können und folglich zu Enttäuschungen und einer Abkehr von der Demokratie führen oder die Beurteilungskriterien wünschenswerter gesellschaftlicher Verhältnisse verloren gehen und die Verantwortlichkeit der politischen Elite nicht mehr eingefordert werden kann.

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Anhang

Auswahlbibliographie Antonia Grunenberg ZUSAMMENGESTELLT VON CHRISTINE HARCKENSEE Monographien Bürger und Revolutionär. Georg Lukács 1918 - 1928, Köln 1976 Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR (1971 - 1989), Bremen 1990 Antifaschismus – ein deutscher Mythos (Essay), Reinbek 1993 Der Schlaf der Freiheit. Von der Entgrenzung der Politik und der Bedrohung des Gemeinsinns, Reinbek 1997 Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart, Reinbek 2001 Hannah Arendt. In der Reihe Meisterdenker Spektrum, Freiburg 2003 Hannah Arendt und Martin Heidegger, Geschichte einer Liebe, München 2006 Rundfunkbeiträge/Interview/Fernsehsendung Massenaktionen, Parteibürokratie und Emanzipation des Proletariats. Zu einigen theoretischen Arbeiten Rosa Luxemburgs, SFB (Sender Freies Berlin) Die Abenteurer der Dialektik. Über die Philosophie Merleau-Pontys, WDR (Westdeutscher Rundfunk) 1970

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CHRISTINE HARCKENSEE

Die kommunistische Partei und die Intellektuellen in Frankreich. Zum Fall Garaudy, WDR 1970 Sternstunde Philosophie: Hannah Arendt – Handeln in Freiheit. Antonia Grunenberg im Gespräch mit Maria Trost, Schweizer Fernsehen, Sendung vom 14.12.2008 Aufsätze/Essays/Zeitungsartikel Zerstörung der sozialistischen Demokratie in der UdSSR. Materialien und Thesen zu den Säuberungen in den dreißiger Jahren, in: Berliner Hefte, Zeitschrift für Kultur und Politik, Jg. 1, H .3, 1977 Bahro gegen den Strich lesen. Anmerkungen (Thesen) zum entfremdeten Bewußtsein im real existierenden Sozialismus, in: Bahro-Kongreß. Aufzeichnungen, Berichte und Referate, Berlin 1978 Hat Karl Marx den Archipel Gulag erfunden? Zur Krise der linken Intellektuellen in Frankreich, in: Leviathan, Jg. 6, H. 1, 1978 Ein Grundgesetz kann sich nicht selber verteidigen. Ein Gespräch mit Fritz Eberhard (Mitglied des Parlamentarischen Rates). Das Gespräch führte Antonia Grunenberg, in: DIE ZEIT, Nr. 21, 18.5.1979 Polnische Wirtschaft? Zur Reformdiskussion in Polen, in: T. Gaehme (Hg.): Aber eines Tages war das nicht mehr so, Polen 1980, Köln 1981 Aufbewahren für alle Zeit. Leben und Denken v. L. Kopelew, WDR 1980 Die Krise und das Wunder. Propheten, Hellseher und Goldmacher als Teil einer krisenhaften politischen Kultur im Berlin der zwanziger Jahre, WDR 1982 Die gespaltene Identität. Gesellschaftliches Doppelleben in der DDR, in: W. Weidenfeld (Hg.): Die Identität der Deutschen, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, München, Wien 1983 und München 1984 „Das Zwiedenken habe ich richtig verinnerlicht“. Wie die Bürger der DDR mit ihrer Sprache umgehen. Eine Sprachanalyse, RB (Radio Bremen) 1984 „Ach ja, unser sozialistischer Konformismus…“, in der Reihe: Stipp-visiten im deutschen Vaterland (II), Deutschlandfunk 1985 434

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE ANTONIA GRUNENBERG

Die DDR. Ein Musterland?, in: anno 86, Jahrbuch, Gütersloh 1986 Die DDR. Ein Volk steht im Streß. Zwischen sozialistischem Fortschritt und industrieller Modernisierung, in: DIE ZEIT, 28.3.1986 Die DDR. Nichts ist mehr gültig. Der sozialistische Realismus ist out – alles ist erlaubt, in: DIE ZEIT, 4.4.1985 Jugend in der DDR. Zwischen Resignation und Aussteigertum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 36/1986 Kulturelles Erbe und Traditionsverständnis in beiden deutschen Staaten, in: P. Leidinger u. H.-G. Wolf (Hg.): Deutschland von Europa her denken, in: Geschichte und ihre Didaktik, Sonderheft 4, Paderborn 1986 „Ich wollte Montezumas Federhut nach Mexiko bringen“. Ein Gespräch mit Bruno Frei über das kommunistische Westexil und die Nachkriegszeit in Österreich, in: Exilforschung, Bd. 4, 1986 „Gemeine Systemverbrecher“? Der Fall Sklarek in Berlin 1929, in: Freibeuter, H. 31, Berlin 1987 Entgrenzung und Selbstbeschränkung. Zur Literatur der DDR in den achtziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37/1987 Zwei Deutschlands – zwei Identitäten? Über deutsche Identität in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, in: G.-J. Glaeßner (Hg.): Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft, Opladen 1988 Bewußtseinslagen und Leitbilder in der DDR, in: W. Weidenfeld, H. Zimmermann (Hg.): Deutschland Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989 und München,Wien 1989 „Ich finde mich überhaupt nicht mehr zurecht…“. Drei Thesen zur Krise in der Gesellschaft der DDR. Ein Staat vergeht, hg. v. Th. Blanke und R. Erd, Frankfurt/M. 1990 Das Ende der Macht ist der Anfang der Literatur. Zum Streit um die Schriftstellerinnen in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 40/1990 Antifaschismus – ein deutscher Mythos: Anmerkungen zu einem verdrängten Kapitel der Linken, in: DIE ZEIT, 26.4.1991 435

CHRISTINE HARCKENSEE

Keine Zeit für Geschichte? Zur neueren deutschen Geschichtsdiskussion, in: A. Grunenberg (Hg.): Welche Geschichte wählen wir? Hamburg 1992 Die Macht des Ganzen über das Individuum. Über Herbert Marcuse und seine Kritik der eindimensionalen Gesellschaft, in: DIE ZEIT, 11.12.1992, erschienen in: U. Greiner (Hg.): Revision. Denken im XX. Jahrhundert, Hamburg 1993 Intellektuelle IKEA-Kultur. Cora Stephans Polemik, in: DIE ZEIT, 8.10.1993 „Anders sein, anders scheinen…Wandlungen im Begriff des Politischen, in: M. Greven, P. Kühler und M. Schmitz (Hg.): Politikwissenschaft als kritische Theorie. Festschrift für Kurt Lenk, Baden - Baden 1994 Das Unglück der Literatur. Wer streitet? Antonia Grunenberg über den alten deutschen Konflikt zwischen Geist und Macht, in: DIE ZEIT, 8.4.1994 Deutschland und die Mythen des „Anti“, in: Schweizer Monatshefte. 74. Jg. H. 7/8, 1994 Demokratische Republik und Bürgerkultur, in: Dorstener Herbstgespräche 1994, Essen 1995 „Macht kommt von möglich…“. Macht und öffentlicher Raum bei Hannah Arendt, in: Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute, hg. v. A. Grunenberg und L. Probst, Bremen 1995 Dichotomous political paradigms in German political thinking before 1933, in: New German Critique, Nr. 67, 1995 Antifaschismus und politische Gegenwelten, in: PVS, Sonderheft Rechtsextremismus, Opladen 1996; in veränderter Fassung auch erschienen in: Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus. Geschichte und Neubewertung, hg. v. C. Keller und der literaturWERKstatt berlin, Berlin 1996 „He who may talk about fascism may not be silencing about capitalismus …”. Aspects of intellectual anti-liberalism in the Weimar republic and in post-war Germany, in: Critical Theory and Alternative Modernities, Ann Harbor 1996

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AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE ANTONIA GRUNENBERG

Antitotalitarianism Versus Antifascism – Two Legacies of the Past in Germany, in: German Politics and Society, special issue, ed. by Ch. Hoffmann, Vol. 15, Nr. 2, Berkeley 1997 „Politik entsteht im Zwischen…“. Zur politischen Übertragbarkeit des Arendtschen Denkens, in: Alte Synagoge (Hg.): Treue als Zeichen der Wahrheit. Hannah Arendt: Werk und Wirkung, Studienreihe der Alten Synagoge, Bd. 6, Essen 1997 Zum Tode des französischen Historikers Francois Furet. Die Arbeit der Desillusion, in: DIE ZEIT, 25.7.1997 Politologie am Ende? In: DIE ZEIT, 12.9.1997 Revolution und Reaktion. Das totalitäre Jahrhundert. Über den Briefwechsel zwischen Francois Furet und Ernst Nolte, in: DIE ZEIT, 26.2.1998 Der Staat, das sind die anderen. Vom langsamen Verschwinden der bürgerlichen Freiheit, in: FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), 27.3.1998 Das langsame Verschwinden der unsichtbaren Hand. Für ein neues Selbstbild des Bürgers. Eine Antwort auf Otto Graf Lambsdorff, in: FAZ, 6.5.1998 Public Spirit and Civil Society. How to Conceptualize Politics in an Globalizing World, in: International Review of Sociology, Vol .8, Nr. 3, 1998 Mit bloßem Dagegensein ist es nicht getan. Gespräch über den Streit zwischen Martin Walser und Ignaz Bubis für das Schwerpunktheft „Normales Deutschland?“ von Universitas, Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, 53. Jg. 12/1998 Ein Anfang immer überall. Wahrheit und Lüge in der Politik, in: Hannah Arendt. Mut zum Politischen, DU. Die Zeitschrift der Kultur, H. 710, Oktober 2000 Perspektiven einer europäischen Bürgergesellschaft, in: Th. Henschel und S. Schleissing (Hg): Europa am Wendepunkt, München 2000 Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit: Politisches Denken im Zivilisationsbruch bei Hannah Arendt, in: „The angel of history is looking back“, hg. v. Bernd Neumann, Würzburg, 2001

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CHRISTINE HARCKENSEE

Artikel Arendt, Hannah, in: International encyclopedia of social and behavioral sciences, ed. in chief: Neil J. Smelser, 1. ed, Amsterdam u. a. 2001 Das Scheitern der Moralisierung, in: Schluß mit der Moral, Kursbuch Bd. 136, 1999 Palimpsest deutscher Schuld. Ein Essay, in: NZZ (Neue Züricher Zeitung), 21.3.2002 Von Vagabunden und Bio-Mythen. Die Suche nach den wahren Biographien, in: Die Rückkehr der Biographien, Kursbuch Bd.148, 2002 Grautöne der Geschichte. Zum Beispiel Rosa Luxemburg, in: FAZ (Berliner Seiten), 28.2.2002 Totalitarian Lies and Post-Totalitarian Guilt: The Question of Ethics in Democratic Politics, in: Social research, Bd. 69, Nr. 2, 2002 „Das Absterben des Öffentlichen und die radikale Bedrohung des Privaten...“ Hannah Arendts Zwiegespräch mit Karl Jaspers über Öffentlichkeit und seine Folgen, in: Anton Hügli u.a. (Hg.) Karl Jaspers – Martin Heidegger und Hannah Arendt. Weisen der Öffentlichkeit, Basel 2004 Nur Dummköpfe lasten ihre Fehler dem Alter an, in: Kursbuch Band 151, 2003 Interview mit Antonia Grunenberg im Deutschlandfunk (vor der Bundestagswahl), Moderation: Christine Heuer, Sendung vom 12.9.2005 Die Figur des Paria zwischen Bohème und Politik – Überlegungen zu einer unterschätzten Denkfigur im Arendtschen Denken, in: POLIS 47, Analysen – Meinungen – Debatten, Themenheft „Denken ohne Geländer“. Hannah Arendt zum 100. Geburtstag, Hessische Landeszentrale für Politische Bildung, 2006 Die Hinwendung des philosophischen Denkens zur Welt, Gespräch mit Antonia Grunenberg, in: Universitas, 61. Jg., 12/2006 Hannah Arendts Jüdische Schriften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3/ 2006

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AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE ANTONIA GRUNENBERG

Hannah Arendt, Martin Heidegger and Karl Jaspers: Thinking Through the Breach in Tradition, in: Social Research, Bd. 74, Nr. 4, 2007 Risiken und Nebenwirkungen eines politisch bestimmten Nationenbegriffes in Europa, in: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur, 4/2007

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Autorinnen und Autoren

Stefan Ahrens, Dr. rer. pol., arbeitet als Lehrer an einer Hauptschule. Letzte Veröffentlichung: Die Gründung der Freiheit. Hannah Arendts politisches Denken über die Legitimität demokratischer Ordnungen. Frankfurt/M. 2005. Thomas Alkemeyer, Dr. phil., ist Professor für „Sport und Gesellschaft“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle, Thomas Pille (Hg.): Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung, Bielefeld 2009. Bethania Assy, PhD in Philosophie, ist Associate Law Professor an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro. Letzte Veröffentlichung: Hannah Arendt – An Ethics of Personal Responsibility, Frankfurt/M. 2008 Oliver Bruns, M. A., ist wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Sozialwissenschaft, Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie und Mitarbeiter des Hannah Arendt Archivs an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Vorbemerkungen zur politischen Dimension der Menschenrechte. In: Antonia Grunenberg, Waltraud Meints, Oliver Bruns, Christine Harckensee (Hg.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt/M. 2008, S. 133-152. Michael Daxner, Prof. Dr. Dr. h. c., ist Präsident a. D. und Leiter der Arbeitsstelle Interventionskultur am Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Michael Daxner, Thorsten Bonacker, Christoph Zürcher, Jan H. Free (Hg.): Soziologie von Interventionsgesellschaften und Interventionskultur, Wiesbaden 2009.

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RAUM DER FREIHEIT

Rainer Fabian, Dr., war von 1974-2007 Akademischer Rat/Oberrat an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Rainer Erd, Rainer Fabian, Eva Kocher, Eberhard Schmidt (Hg.): Passion Arbeitsrecht. Erfahrungen einer unruhigen Generation. Liber amicorum Thomas Blanke, Baden-Baden 2009. Bernd Faulenbach, Prof. Dr., lehrt Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Letzte Veröffentlichungen: Beiträge in Sammelbänden und Fachzeitschriften zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, zur Geschichtskultur und zur Geschichtspolitik. Wolfgang Heuer, Dr. habil., ist Privatdozent am Otto Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Letzte Veröffentlichung: Europe and Its Refugees: Arendt on the Politicization of Minorities, in: Social Research, 74. Jg. 2007, H. 4. II, S. 1159-1172. Thomas Kleinspehn, Prof. Dr., lehrt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Redakteur für Kultur und Wissenschaft bei Radio Bremen. Jerome Kohn, Prof., ist Trustee des Hannah Arendt Literary Trust und Direktor des Hannah Arendt Centers an der New School for Social Research in New York. Letzte Veröffentlichung: Jerome Kohn, Ron Feldman (Hg.): The Jewish Writings – Hannah Arendt, New York 2007. Gerhard Kraiker, Prof. em. Dr., lehrte bis zu seiner Emeritierung am Institut für Politikwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Hochschulpolitik auf Abwegen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 49. Jg. 2004, H. 4, S. 399-403. Maria Kreiner, Dr. rer. pol., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. Letzte Veröffentlichung: Rechtsradikalismus als Reaktion auf eine gesellschaftliche Krise. Ein Erklärungsversuch nach Hannah Arendt. In: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft: Konflikte auf Dauer? Rechtsradikalismus, Integrations-, Europa- und Nahostpolitik, Göttingen 2008, S. 145-166. Johann Kreuzer, Prof. Dr., ist Professor für Geschichte der Philosophie am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Mitglied des Beirats der Hölderlin-Gesellschaft. Letzte Veröffentlichung: Zeichen machende Phantasie. Über ein Stichwort Hegels und eine ursprüngliche Einsicht Hölderlins, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2. Jg. 2008, H. 2, S. 53-78. 442

AUTORINNEN UND AUTOREN

Dirk Lange, Prof. Dr., ist Professor für Didaktik der Politischen Bildung am Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: (Hg.): Migration und Bürgerbewusstsein. Perspektiven Politischer Bildung in Europa, Wiesbaden 2008. Kurt Lenk, Prof. em. Dr., ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Letzte Veröffentlichung: Kurt Lenk, Günter Meuter, Henrique Ricardo Otten: Vordenker der neuen Rechten, Frankfurt/M., New York 1997. Martine Leibovici, Dr. phil., ist Maître de conférence en philosophie politique an der Universität Paris Diderot (Paris 7) und Mitglied des Centre de Sociologie des Pratiques et des Représentations Politiques (CSPRP, Paris 7). Letzte Veröffentlichung: Hannah Arendt et la tradition juive. Le judaïsme à l'épreuve de la sécularisation, Genève 2003. Waltraud Meints, Dipl. Soz., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften und am Hannah Arendt-Zentrum an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Die gleichberechtigten Anderen und die »erweiterte Denkungsart«. Hannah Arendts Abschied von der traditionellen Philosophie, in: Antonia Grunenberg, Waltraud Meints, Oliver Bruns, Christine Harckensee (Hg.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt/M. 2008, S. 71-92. Horst Mewes, Prof. Dr., ist Professor for Political Theory am Department of Political Science der University of Colorado, Boulder. Letzte Veröffentlichung: Hannah Arendt’s Political Humanism, Frankfurt/M. (im Druck). Sven Rößler, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Anfragen aus der Gegenwart: Die Hochschulstrukturreform im Lichte der »Krise in der Erziehung«. In: Antonia Grunenberg, Waltraud Meints, Oliver Bruns, Christine Harckensee (Hg.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt/M. 2008, S. 201-217. Ulrich Ruschig, Prof. Dr. phil. habil. Dr. rer. nat., ist Hochschullehrer am Institut für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Simulierte Warenproduktion – ein akademischer Tanz ums goldene Kalb, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 49. Jg. 2007, H. 4, S. 509-524.

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RAUM DER FREIHEIT

Ole Schulz studiert an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg den Magister-Studiengang Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft. Reinhard Schulz, Prof. Dr., ist Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: (Hg.): Zukunft ermöglichen. Denkanstöße aus fünfzehn Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Zu Ehren des Initiators Rudolf zur Lippe, Würzburg 2008. Etienne Tassin, Prof. Dr. phil., ist Professeur de philosophie politique an der Universität Paris Diderot (Paris 7) und Mitglied des Centre de Sociologie des Pratiques et des Représentations Politiques (CSPRP, Paris 7). Letzte Veröffentlichung: Un Monde commun. Pour une cosmo-politique des conflits, Paris 2003. Christina Thürmer-Rohr, Prof. em. Dr. phil., Technische Universität Berlin, ehemaliger Fachbereich Erziehungswissenschafen. Letzte Veröffentlichung: Verstehen und Schreiben – unheimliche Heimat, in: Text und Kritik, 43. Jg. 2005, H. 166/167, S. 92-101. Martin Vialon, Dr. phil., ist Assistant Professor für Neuere deutsche Literatur und Philosophie an der Yeditepe Universität in Istanbul. Letzte Veröffentlichung: Vom Regenbogen der Wahrheit. Geschichtsbetrachtung bei Karl Jaspers und Giambattista Vico, in: Reinhard Schulz, Giovanni Bonnani, Matthias Bormuth (Hg.): „Wahrheit ist, was uns verbindet“. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophieren, Göttingen 2009, S. 230-247. Leiv Eirik Voigtländer, M. A., ist Mitarbeiter der Forschungsstelle Intellektuellensoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Veröffentlichung: Der Funktionär als Emanzipationsagent – Organische und traditionelle Intellektuelle im politischen Denken Antonio Gramscis, in: Thomas Jung, Stefan Müller-Doohm (Hg.): Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 19 Porträts, Frankfurt/M. 2009, S. 85-104. Idith Zertal, Professor Dr., israelische Historikerin und Essayistin, lehrt gegenwärtig an der Universität Basel. Letzte Veröffentlichung: Ein Buch über zivilen Ungehorsam (Englisch, Spanisch, Katalanisch; im Druck) und ihre Übersetzung ins Hebräische von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (im Druck).

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Edition Moderne Postmoderne Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen 2008, 244 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-694-6

Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹ Oktober 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-687-8

Alexander García Düttmann Derrida und ich Das Problem der Dekonstruktion 2008, 198 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-740-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Martin Gessmann Wittgenstein als Moralist Eine medienphilosophische Relektüre August 2009, ca. 216 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1146-5

Claus Pias (Hg.) Abwehr Modelle – Strategien – Medien Juli 2009, 230 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-876-6

Kurt Röttgers Kritik der kulinarischen Vernunft Ein Menü der Sinne nach Kant Mai 2009, 256 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1215-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Christine Abbt, Tim Kammasch (Hg.) Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung Juni 2009, 252 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-988-6

Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.) Nicht(s) sagen Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert 2008, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-828-5

Ralf Krause, Marc Rölli (Hg.) Macht Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart 2008, 286 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-848-3

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Dezember 2009, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Pravu Mazumdar Der archäologische Zirkel Zur Ontologie der Sprache in Michel Foucaults Geschichte des Wissens 2008, 598 Seiten, kart., 45,80 €, ISBN 978-3-89942-847-6

Maria Muhle Eine Genealogie der Biopolitik Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem

Peter Nickl, Georgios Terizakis (Hg.) Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit? Philosophische Ergründungen. Texte zum ersten Festival der Philosophie in Hannover 2008 November 2009, ca. 210 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1268-4

Ulrich Richtmeyer Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie Analysen zwischen Sprache und Bild Februar 2009, 250 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1079-6

Eckard Rolf Der andere Austin Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus April 2009, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1163-2

Mirjam Schaub (Hg.) Grausamkeit und Metaphysik Figuren der Überschreitung in der abendländischen Kultur September 2009, ca. 374 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1281-3

Jörg Volbers Selbsterkenntnis und Lebensform Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault Mai 2009, 290 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-925-1

2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-858-2

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