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German Pages 320 Year 2014
Tino Plümecke Rasse in der Ära der Genetik
Band 19
Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).
Tino Plümecke (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Tino Plümecke
Rasse in der Ära der Genetik Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Claire Horst Satz: Tino Plümecke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2145-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung Differenzierende Verhältnisse .......................................................................................... 9 Ungleichheit in den Lebenswissenschaften .............................................................13 Kapitel Eins Perspektiven und Grundlagen ........................................................................................19 Was ist Rasse? .........................................................................................................................19 Sozialität der Differenz ......................................................................................................23 Gesellschaftsforschung als Wissenschaftsforschung ...........................................25 Gesellschaftskritische Wissenschaftsforschung.......................................................28 Gesellschaftstheorie und Historisierung.....................................................................33 Rasse, Rassifizierung, Rassismus: Theorien ................................................................34 Bedingungen der Rassismusanalyse ............................................................................37 Dimensionen von Rassismen...........................................................................................39 Nichts ist wie es bleibt: Zur Fassung von (Dis)Kontinuitäten ............................46 Begriffe und Semantiken ..................................................................................................49 Kapitel Zwei Geschichte: Die Vergangenheit untersuchen, um die Gegenwart zu destabilisieren .......................................................................... 5 Gesellschaftliche Funktionalitäten von Rasse .........................................................59 Differenzen und Teilungen der Moderne ..................................................................61 Historie des Rassebegriffs und der Rassekonzepte ...............................................66 Wie Rassismus wissenschaftlich wurde ......................................................................69 Akademisierung und Naturalisierung: Boom der Rassen-Anthropologie ....75 Antirassismus: Von der Kritik an Rasse zur Zurückweisung des wissenschaftlichen Rassismus .......................................78 Kritiken: Gegen Bio-Essentialismus, Determinismus und Hierarchisierung der Rassen .................................................81 UNESCO-Statements zur »Rassenfrage« ....................................................................84 Kontinuitäten und Brüche seit 1945: Zur Gegenwart der Vergangenheit ....93 Weiterführung typologischer Rassekonzepte nach 1945 ...................................95
Kapitel Drei Genetifizierung .......................................................................................................................99 Genetische Verhältnisse ................................................................................................ 100 Problematisierungen: Gen-Determinismus, Genetischer Essentialismus, Genetifizierung ............ 102 Genetifizierung von Rasse – Rassifizierte Genetik .............................................. 105 Die Ära der Genetik ......................................................................................................... 108 Die Vererbung des Unterschieds ............................................................................... 111 Biopolitik der Vererbung: Die Erfassung des Lebens ........................................ 114 Genetifizierung der Lebenswissenschaften .......................................................... 118 Vom Phän zum Gen ......................................................................................................... 121 Verinnerlichung und Verkleinerung ......................................................................... 125 Knochen, Haut und Haare ............................................................................................ 129 Psyche – Das Seelenleben der Rasse ........................................................................ 134 Transfusionen zwischen Rasse und Blut ................................................................. 139 Proteine – Grundstoff des Lebens und der Differenz ........................................ 147 Populationsgenetik: Rasse als Merkmalsverteilungen und Frequenzunterschiede ....................... 152 Seroanthropologie als epistemische Schwelle .................................................... 156 Metamorphosen genetischer Rassekonzepte ...................................................... 161 Kapitel Vier Rasse in der Post/Genomik: Die neuen Differenzen der Lebenswissenschaften ............................................169 Differenzierende Genomik – Das Human Genome Diversity Project ......... 170 Von der Genetik zur Genomik zur Postgenomik ................................................. 178 Modernisierungslinien rassischer Differenz .......................................................... 180 Molekularisierung ......................................................................................................... 182 Die Sequenzierung des Lebens .................................................................................. 183 Genetische Marker der Differenz: Vom Blut zu Mitochondrien, Satelliten und repetitiver DNA ......................... 185 Der Junge aus Ghana und die Knochen von Mengele ..................................... 189 Einzelnukleotid-Polymorphismen und Admixture Mapping ......................... 191 Herkunfts-Marker und Phänotypisierung in der Molekularen Forensik ..... 193 Medikalisierung ............................................................................................................. 197 Rasse auf Rezept: BiDil ................................................................................................... 197 Gesellschaftliche Aushandlungen um Gesundheit und Krankheit .............. 200 Der lange Schatten rassistischer Medizin .............................................................. 203 Genetische Screenings als Mittler zur neuen Rasseforschung ...................... 206 Zensuskategorien und »Biomultikulturalismus« ................................................. 209 Differenzdilemma der Gesundheitsunterschiede .............................................. 211
Bio-Integrationismus ................................................................................................... 217 Genetische Herkunftstests ............................................................................................ 217 Differente Differenzierungen: Von der sozialen zur genetischen Ungleichheit .................................................. 223 Von Minderwertigkeit zu Diversity ............................................................................ 225 Diversity Marketing – Rasse© als Produkt ................................................................ 229 Humanitarisierung und rhetorische Adaptionen ................................................ 231 Kapitel Fünf Analytik rassifizierender Gesellschaften ................................................................ 237 Kontinuierungen kategorialer Differenz ................................................................. 238 Moderne gesellschaftliche Teilungen und moderne Genetik ....................... 242 Erfolge der Kritik… .......................................................................................................... 246 …und Erfolge der neuen Rassifizierungen ............................................................ 252 Resistenzen biologischer Rassekonzepte ............................................................... 255 Kontinuitäten rassifizierender Biopolitik ................................................................ 259 Radikalisierung sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik .......................... 264 Für eine postrassifizierende Wissenschaft vom Menschen ............................. 270 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 277 Register ....................................................................................................................................... 313
Einleitung
Differenzierende Verhältnisse Am 16. Juli 2009 kehrte Henry Louis Gates Jr. von einer Reise nach China zu seinem Wohnhaus in Cambridge, Massachusetts zurück und fand die Tür beschädigt vor. Da sie sich nicht öffnen ließ, betrat er sein Haus durch den Hintereingang und konnte schließlich mit Hilfe seines Fahrers die Eingangstür aufdrücken. Gates hatte auf seiner Chinareise als Teil seiner genetisch-genealogischen Nachforschungen die Familiengeschichte des Cellisten Yo-Yo Ma für die von ihm koproduzierte Fernsehserie »Faces of America« untersucht. In dieser wie auch in der ebenfalls von ihm produzierten Sendung »African American Lives« stellt er die Herkunftsgeschichten prominenter Afroamerikanerޚinnen vor. Er arbeitet dafür mit klassisch genealogischen Materialien ebenso wie neuesten genetischen Methoden. Gates popularisiert aber nicht nur moderne molekulargenetische Forschungsansätze, er ist auch Professor für Englische Literatur an der Harvard University sowie Direktor des W.E.B. Du Bois Institute for African and African American Research. Er ist bekannt für seine Arbeiten zu black literature, für seine Kritik an rassistischen westlichen Diskursen und für seine Argumentationen gegen »intellektuellen Rassismus« europäischer ästhetischer Normen. Das Magazin Time bezeichnete ihn 1997 als einen der »25 Most Influential Americans«. An jenem Tag, an dem Gates zurückgekehrt war, und sich schon einige Minuten in seinem Haus befand, stand plötzlich ein Beamter der örtlichen Polizei vor dem Eingang. Officer James Crowley forderte Gates auf, aus dem Haus herauszutreten. Jemand hatte, mit dem Hinweis auf einen möglichen Einbruch, die Polizei gerufen. Gates weigerte sich der Aufforderung des Polizisten Folge zu leisten, denn schließlich sei er der rechtmäßige Bewohner des Hauses und könne sich ausweisen. Nach einem Wortgefecht nahm ihn der Beamte jedoch fest und brachte ihn in Handschellen auf die Polizeiwache (Ogletree 2009).
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Der Vorfall erlangte schnell öffentliche Aufmerksamkeit und wurde in verschiedenen regionalen und landesweiten Medien als Beispiel für racial profiling debattiert. Auch Gates kritisierte die Festnahme als rassistische Ungleichbehandlung. Schon zwei Tage später äußerte sich Präsident Barack Obama auf einer Pressekonferenz zu der Angelegenheit und kommentierte, dass die Polizei »stupidly« (zit. nach McPhee 2009) reagiert habe, was wiederum weitere öffentliche Auseinandersetzungen hervorrief. Als Ergebnis lud Obama kurz darauf Gates und Crowley ins Weiße Haus zu einem »beer summit« ein, um über den Vorfall zu sprechen. Die Festnahme hat über die öffentliche Aufmerksamkeit und die Debatte um rassistische Polizeipraktiken hinaus noch weitere Bedeutungen. Gates betätigt sich seit dem Tod seines Großvaters im Jahr 1960 als Hobbygenealoge. Damals fand er ein Bild einer Vorfahrin, der 1819 geborenen Sklavin Jane Gates. Seitdem beschäftigt er sich mit seiner Familiengeschichte – zunächst per klassischer genealogischer Recherche in Akten, behördlichen Einträgen etc. Im Jahr 2000 ließ Gates dann einen der damals ersten genetischen Herkunftstests durchführen, mit dem Ergebnis, dass seine mütterliche Linie am ehesten nach Äthiopien, wahrscheinlich zu den Nubiern zurück zu verfolgen sei. Fünf Jahre später ließ er einen weiteren Test von einem anderen Gentest-Anbieter vornehmen, der allerdings herausfand, dass seine Vorfahren mütterlicherseits nicht von den Nubiern, nicht mal aus Afrika, sondern mutmaßlich aus Europa stammten (Nixon 2007). Dies hatte zur Folge, dass Gates sich seither genauer mit genetischen Testmöglichkeiten befasst. So genau, dass er mittlerweile Mitglied des Personal Genome Project an der Harvard Medical School ist. Er und sein Vater sind die ersten Afroamerikaner, deren Genom vollständig sequenziert wurde. Neben dem Harvard-Projekt ist Gates Partner des personal genomics-Testanbieters »23andme« und »AfricanDNA«, mit deren ancestry tests er die eben schon erwähnten Familiengenealogien prominenter Afroamerikanerޚinnen als genetische Geschichte(n) präsentiert. 1 Er selbst erfuhr durch den Gentest von »23andme«, dass sein Genom zu über 50% europäischer Herkunft sei und er zehn von elf Marker-Übereinstimmungen mit mutmaßlichen Abkömmlingen des irischen Königs »Niall of the Nine Hostages« (Niall Noígíallach) besitze (Bayton 2011). Dieselbe Markerkombination wie der im vierten Jahrhundert geborene König besitzt auch der Polizeibeamte Crowley, weshalb er und Gates entfernte genetische Cousins sind. Aber das ist noch nicht alles: Diese »irischen Gene« verbinden beide auch mit Präsident Obama (O'Dowd 2009). Die DNA des Afro-Amerikaners Gates besteht also zu mehr als 50% aus europäischen Genen? Kann er dann überhaupt Opfer einer rassistisch motivierten Polizeibehandlung werden, wie Bloggerޚinnen im Kontext der Festnahme fragten? Was macht Gates zu einem Schwarzen? Die Hautfarbe, die Gene, wie viele Gene, 1
Siehe www.23andme.com/partner/foa und http://www.africandna.com, Stand 24.12.2012.
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die ›one-drop rule‹ 2, Politiken der Segregation oder die Erfahrung rassistischer Handlungen? Wieso sollte eine Einteilung von Genen in europäisch, afrikanisch, asiatisch und Native American überhaupt sinnvoll sein? Obwohl Gates, wie auch Obama, aufgrund ihrer Abstammung ebenfalls sowohl als »multiracial« wie auch als »weiß« klassifiziert werden könnten, scheint ihre Zugehörigkeit im Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft nur mit dem Label »schwarz« richtig benannt zu sein. Die Gene, deren rassifizierte Zuordnung den Anbietern und Konsumentޚ innen von genetischen Herkunftstests vernünftig erscheint, sind offenbar als Faktum genealogischer Herkunft dienlich, können gleichzeitig aber die politische Bedeutung rassischer Zuordnungskategorien wenig erschüttern. Zwar eignen sich die genetischen Marker offenbar gut dazu, eine Herkunft zu einem »Ursprungsvolk« zu enthüllen und damit die eigene Familiengeschichte in eine Zeit zurückzuverfolgen, für die es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt. Gegen die ›harten‹ sozialen Einteilungspraktiken kommen sie offensichtlich aber nicht an. Die mehr als 50% europäischen Gene und die ›irische Markerkombination‹ seines Y-Chromosoms machen Gates nicht zu einem Irish American, genauso wenig wie Obama als Sohn einer weißen Amerikanerin (überwiegend englischer Herkunft) und eines Kenianers kaum als Angloamerikaner wahrgenommen wird. Die als Fakten präsentierten rassifizierten Ergebnisse der Gentests erlangen also vor dem Hintergrund der Bedeutung alltäglicher wie institutionalisierter rassifizierender Zuordnungen wenig Wirkmacht. Selbst die Macht der Zahlen von ›über 50% Gene europäischer Abstammung‹ scheint in diesem Fall nicht relevant. An anderer Stelle werden ›große‹ Zahlen aber mit allerlei Bedeutung aufgeladen. So schaltete das Monatsmagazin »U.S. News & World Report« zwei Tage nach dem Vorfall am 24. Juli 2009 eine Onlineumfrage: »Wer hat recht: Henry Louis Gates oder Officer James Crowley? Spielte Rasse eine Rolle bei dem Vorfall?« Das Ergebnis war, dass 17,88% Gates und 82,12% Crowley glaubten (U.S. News Staff 2009). Nach Obamas Äußerungen zu dem Vorfall auf der Pressekonferenz fiel die Zustimmung weißer Wählerޚinnen zu seiner Politik innerhalb von zwei Tagen von 53 auf 46% (Harnden 2009). Was aus all dem deutlich wird, ist zunächst, dass rassische 3 Einteilungen in Politik und Alltagssituationen mit Machtverhältnissen, sozialer Ungleichheit, mit Politiken des Empowerment, mit Hierarchisierungen, Wertungen und mit Geschichte(n) verwoben sind. Darüber hinaus zeigt der Fall Gates, dass Rasse ein 2
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Die ›one-drop rule‹ beschreibt die historischen und kulturell auch heute gängigen Praktiken zur Einteilung von Schwarzen und Weißen in den USA, bei der etwa eine Person mit einer/m schwarzen Vorfahrޚin in der Urgroßelterngeneration ebenfalls als schwarz gilt. Ein Tropfen »schwarzes Blut« wird zum ausschlaggebenden Merkmal. Zur umfangreichen Debatte um die Verwendung und Schreibung des Begriffs »Rasse« siehe die Ausführungen unter »Begriffe und Semantiken« ab Seite 49.
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heikles und brisantes Thema ist – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Gates’ Geschichte verdeutlicht vor allem die Verwicklung von biologischen Aussagen mit sozialen Kategorien. Die öffentliche Aufmerksamkeit rund um seine Verhaftung zeigt zuallererst eine politische Bedeutung rassischer Zuordnungen in Alltagsinteraktionen und institutionalisierten Settings wie etwa Polizeikontrollen auf. Was ist aber mit Gates’ genetischem Engagement? Viele Menschen entrüsteten sich über seine Festnahme und werteten sie als Indiz einer rassistischen Exekutive. Aber maßen sie den von Gates durchgeführten rassifizierten Gentests eine ähnliche Bedeutung zu? Wie sind die Gentests im Kontext rassifizierend segregierender Verhältnisse zu bewerten? Welche Rolle könnte ein Fall wie der von Gates im deutschsprachigen Kontext spielen? Der Begriff »Rasse« ist im Deutschen nur wenig gebräuchlich. Rasse ist vielmehr das Unwort der letzten 60 Jahre, semantisch verknüpft mit der auf Reinheit und Vernichtung ausgerichteten eugenischen Politik der Nazis. Nicht einmal rassistische Schmähschriften wie Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« dürfen dieses Wort enthalten, weil es ihm im Verlagslektorat durch den Begriff »Ethnie« ersetzt wurde (Broder 2010). Trotz solcher Vermeidungen des Begriffs Rasse im öffentlichen Raum sind rassi(sti)sche Zuordnungen omnipräsent. Wenn Gates oder Obama nach Deutschland kommen, werden sie nicht nur als Bürger eines anderen Landes, sondern zudem als Schwarze wahrgenommen. Auch wenn Sarrazins Buch nicht den Titel »Das weiße Deutschland schafft sich ab« trägt, so enthält es dennoch diese Bedeutung. Denn der Autor geht wie selbstverständlich von einem Deutschland aus, zu dem Migrantޚinnen, Muslimޚ innen, People of Color und Schwarze nicht gehören. 4 Obwohl der Begriff Rasse also vergleichsweise wenig in Erscheinung tritt, trifft das für Rassismus und Rassifizierungen keinesfalls zu. Ausgangspunkt für die weiteren Erörterungen ist deshalb, dass es sich bei Rasse, Rassismus und Rassifizierung um verwickelte Verhältnisse handelt, in denen biologische und politische Bedeutungen miteinander verwoben sind, sich erst gegenseitig Sinn verleihen und entsprechend schwer zu entwirren sind. Der Frage, was dies mit Genen und mit neuesten genetischen Forschungen zu tun hat, widmet sich dieses Buch. Eine Grundannahme ist dabei, dass Macht und Wissen konstitutiv aufeinander bezogen und moderne Gesellschaften durch eine In-FunktionSetzung insbesondere lebenswissenschaftlichen Wissens gekennzeichnet sind. Um diese Verwicklungen von Politik und Wissen zu entwirren, gilt es zunächst einige Ausgangspunkte des Blicks auf diese Verhältnisse zu besprechen. Denn Rasse ist 4
Das amerikanische Pedant zu Sarrazins Buch ist wohl Patrick J. Buchanans »Suicide of a Superpower: Will America Survive to 2025?«, in dem er im 4. Kapitel mit dem Titel »The End of White America« über die Gefährdung des »weißen Amerikas« schreibt.
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kein sachliches Objekt in einem neutralen Kontext, weshalb es nicht ausreichen kann, von einem vermeintlich unbeteiligten Standpunkt aus Gebrauchsweisen der Kategorie Rasse zu beobachten. Für die Untersuchung des Inhalts aktueller biologischer Rasse-Verständnisse ist entsprechend eine gesellschaftstheoretische Grundlegung und eine Perspektivierung der hier zu erörternden Fragen notwendig.
Ungleichheit in den Lebenswissenschaften Eigentlich schienen sich doch fast alle einig zu sein: Rasse, dieser Begriff zur biologischen Kategorisierung von Menschen, der wie kaum ein anderer äußerst negative Assoziationen zu wecken vermag, ist überholt. Dieser Annahme, die sich aus einer antirassistischen Hoffnung und einem sozialwissenschaftlichen Basiswissen speist, steht jedoch eine Persistenz biowissenschaftlicher Forschungspapieren, Studien und Untersuchungsansätzen entgegen, die in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden. Keinesfalls gehört also die rassische Einteilung von Menschen der Vergangenheit an. Dabei sind es aber nicht etwa nur jene vermeintlich Ewiggestrigen, jene Nazis, Rassistޚinnen oder Populistޚinnen, die sich immer wieder rassifizierender Taxonomien bedienen. Nein, Unterteilungen der Menschheit in Rassen anhand biologischer Merkmale sind enࣟvogue, auch und gerade in den produktivsten wissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart. Rassekonzepte finden in den hochtechnisierten Laboren der Lebenswissenschaften 5 Verwendung, sowohl als Untersuchungsobjekt, als Erkenntnismittel sowie als Resultat der Forschung. Biologische Rassemodelle und verschiedene Formen von Rassifizierung sind in der Mitte der lebenswissenschaftlichen Disziplinen, in diversen gesundheitsrelevanten Forschungen, in medizinischen, pharmakologi-
5
In Anlehnung an den angloamerikanischen Sammelbegriff life sciences ist der Terminus »Lebenswissenschaften« in den letzten beiden Jahrzehnten geläufig geworden. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff mittlerweile oft als Eigenbezeichnung synonym zu Biowissenschaften verwendet und bezeichnetௗallgemein die Wissenschaften vom Leben wie die Genetik, Medizin, Forensik, Pharmakologie, Neurowissenschaften, häufig auch die Psychologie, Anthropologie usw. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden im Kontext einer epistemischen Verschiebung zum Lebensbegriff die Lebenswissenschaften zu einer Chiffre innovativer, zumeist genetischer oder neurobiologischer Forschung sowie für anwendungs- und marktorientierte Bereiche der Biowissenschaften. Vor der Biologisierung des Begriffs umfasste dieser auch geisteswissenschaftliche Zugänge: »Was ist das Leben?« war zur Mitte des 20. Jahrhunderts keine Frage, die sich auf die kleinsten Einheiten von Leben und dessen Dispositions- und Determinationsverhältnisse, sondern vielmehr auf Kultur und Gesellschaft richtete. Im Folgenden werden die Begriffe »Bio-« und »Lebenswissenschaften« zumeist synonym verwendet, wobei mir für historische Ausführungen der Begriff »Biowissenschaften« angemessener erscheint.
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schen, epidemiologischen und forensischen Studien zu finden. Zudem wird Rasse in kommerziellen genetischen Abstammungstests konstruiert und vermarktet sowie in der biologischen Anthropologie unter Zuhilfenahme genetischer Marker neu formiert. Eine über die letzten beiden Jahrzehnte steigende Anzahl an Forschungsprojekten postuliert die Brauchbarkeit rassischer Einteilungsmodelle unter der Annahme einer genetischen Bestimmbarkeit menschlicher Differenz. Rassekonzepte zur Einteilung von Menschen besitzen also wissenschaftliche Aktualität. Dennoch bleibt die Verwendung rassischer Kategorien hoch umstritten – sowohl innerhalb wie außerhalb lebenswissenschaftlicher Disziplinen. Um die Bedeutung von Rasse in den heutigen Lebenswissenschaften zu untersuchen, sind also auch die Kritiken, Infragestellungen und begrifflichen Ersetzungen des Terminus »Rasse« in die Analyse einzubeziehen. Es geht somit darum, den konstitutiven Nexus von Macht und Wissen in den spezifischen Verknüpfungen von rassischen Kategorien mit Wissenschaft als Teil von Gesellschaft zu untersuchen. Rasse kann dabei nicht aus sich heraus bestimmt oder als rein wissenschaftlicher Gegenstand verstanden werden. Vielmehr muss für ein Verständnis von Rasse in der Gegenwart die Geschichte des Konzepts in den Biowissenschaften einbezogen werden. Es ist zu rekonstruieren, warum rassifizierende Konzepte bis in die heutige Zeit Bestand haben, wie sie reformuliert und modifiziert werden, und schließlich, welche Auseinandersetzungen und Kämpfe um Deutungsmacht im Konglomerat aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ausgetragen werden. Ansatzpunkt dieser Untersuchung ist die Persistenz rassischer Konzepte und die Konjunktur der Rassifizierung menschlicher Differenz in aktuellen Forschungen. Hierzu lässt sich eine Reihe von Fragen stellen, denen aus verschiedenen Perspektiven nachgegangen wird. Leitend ist die Frage, warum es noch immer biologische Rassekonzepte gibt und wieso Rasse angesichts der massiven Kritik nicht schon längst ins Museum für Wissenschaftsgeschichte verabschiedet worden ist. Wie kommt es, dass stattdessen rassifizierte und rassifizierende Forschung in den letzten Jahrzehnten wieder eine Ausweitung erfährt? Aufbauend auf diesen Leitfragen wird die gesellschaftliche Verfasstheit menschlicher Unterschiede und wissenschaftlicher Differenzierungen in den Blick genommen: Wie erlangen lebenswissenschaftliche Forschungen zu Rasse trotz aller Kritik den Status seriöser Wissenschaft? Um dies zu klären, ist dem Bedeutungswandel wissenschaftlicher Rassekonzepte von ihren Ursprüngen über ihre Genetifizierung bis in die Gegenwart zu folgen. Die hieran geknüpften Fragen lauten: Warum sind in modernen, demokratischen und liberalen Gesellschaften rassische Taxonomien (noch immer) relevant – und nicht völlig andere oder gar keine? Welche Rolle nehmen die verschiedenen Wissenschaften dabei ein? Inwiefern wirken sie an der Reproduktion rassischer Differenz und der (Re)Formulierung kate-
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gorialer Einteilungen von Menschen oder aber an der Kritik rassistischer Zuschreibungen und rassifizierender Konzepte mit? Auf welches ›Problem‹ suchen die vielfältigen Rasseeinteilungen zu antworten? Welche Effekte erzeugt ein Liberalismus, der das Leben und das Wissen um dieses ins Zentrum von Regierungshandeln setzt? Und letztlich, wieso wird überhaupt nach biologischen Erklärungen für ein zuallererst soziales Phänomen gesellschaftlicher Stratifizierung gesucht? Zu ergründen ist also, wie Rassekonzepte immer wieder mit neuem Leben erfüllt, in je aktuellen Modellen reformuliert werden, und in welchen Bedingungsgefügen dies geschieht. Die theoretische Rahmung der Untersuchung bildet ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Rasse, mit dem davon ausgegangen wird, dass rassische Kategorisierungen Resultat sozialer Sinnproduktion und institutionalisierter (Zu)Ordnungen sind, durch die menschliche Heterogenität anhand kontingenter Unterscheidungen (meist nach Hautfarbe, Augenform, Haarstruktur, Herkunft, Genen, aber auch kulturellen und sozialen Attribute wie Religion, Staatszugehörigkeit, Sprache) auf eindeutige Differenzen festgeschrieben wird. Um die Funktionen und Wirkungen rassifizierter Taxonomien zu erfassen, bedarf es einer gesellschaftstheoretischen, mithin gesellschaftskritischen Perspektive. Die damit verbundene Ausgangsthese lautet daher, dass Rasse eine gesellschaftliche Teilungspraxis ist, deren lebenswissenschaftliche Konzeptionen keinesfalls aus der Biologie heraus erklärt werden können, sondern im Kontext einer gesellschaftlichen Legitimationsordnung und – im Konkreten – als Praxen der Rassifizierung zu begreifen sind. Rassifizierte Konzepte in den Lebenswissenschaften sind, entgegen der Darstellung mancher kulturalistischer Ansätze, keinesfalls allein aus den gesellschaftlichen Bedingungen heraus zu bestimmen. Weder sind biologische Rassekonzeptionen von gesellschaftlichen Mythen oder rassistischen Stereotypen determiniert, noch reicht ein ideologietheoretischer Zugang aus, der Rassifizierungen lediglich als pseudowissenschaftliche Versuche der Rechtfertigung bestehender UngleichheitsVerhältnisse zu fassen versucht. Vielmehr unterliegt Gesellschaft – und in ihr Wissenschaft – mit ihren rassifizierenden Teilungskonzepten jeweils eigenen, spezifischen Dynamiken. Die wissenschaftlichen Akteure betreten eigene, den gesellschaftlichen und politischen Anrufungen oft nicht bzw. nicht in Gänze entsprechende Wege. Zudem beugt sich menschliche Differenz immer nur bedingt den theoretischen Entwürfen und gesellschaftlichen Kategorisierungen. Rasse und lebenswissenschaftliche Rassifizierungen sind deshalb als komplexe Konfigurationen mit spezifischer Dynamik zu begreifen, für deren Analyse ein multiperspektivischer Ansatz erforderlich ist. Insbesondere bedarf es für die neue, modernisierte Rasseforschung in der gegenwärtigen Ära der Genetik, Genomik und Postgenomik einer aktuellen sozialwissenschaftlichen Analyse und Kritik.
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Die hier aufgeworfenen Fragen werden in fünf Schritten bearbeitet: Im ersten Kapitel erfolgt eine gesellschaftstheoretische und historiologische Einordnung der Teilungsdimension Rasse und der wissenschaftlichen Rassekonzepte in Relation zu außerwissenschaftlichen sozialen Praktiken, ökonomischen Bedingungen und politischen Deutungsmustern. Hierfür werden somit zunächst gesellschafts- und rassismustheoretische Dimensionen, die Heuristik der Wissenschaftsforschung und das begriffliche und konzeptionelle Vorgehen erläutert. Das zweite Kapitel erkundet mittels einer Historisierung den Rassebegriff und die Rassekonzeptionen in Relation zur Entstehung der europäischen Moderne. Ziel dieses Vorgehens ist es, eine Grundlegung für die Ausgangsthese zu erarbeiten, mit welcher die Gesellschaftlichkeit rassifizierender und rassifizierter Teilungskonzepte verstanden werden kann. Der Fokus liegt dabei auf biowissenschaftlichen Konzeptualisierungen von Rasse und deren stetigen Veränderungen und Erneuerungen. Daher werden die wechselnden Bedeutungen, Funktionalitäten, aber auch Kontinuitäten von Rasse mit Blick auf deren Verwissenschaftlichung und die damit verbundenen (Aus)Wirkungen beleuchtet. Besondere Beachtung erhält darin die Entstehung der Kritik und der Absagen an Rassevorstellungen. Bedeutungsvoll für die Erörterung von Kontinuitäten und Brüchen in der Rasseforschung der letzten Jahrzehnte sind insbesondere die Nachkriegsdebatten um die Validität von rassischen Einteilungen. Während die Historisierung im zweiten Kapitel weitgehend einem linearen Muster folgt, aus dem die gesellschaftlichen Bedingungen, die Auseinandersetzungen um Rasse und die wissenschaftliche Produktion rassischer Konzepte deutlich werden sollen, geht es im dritten Kapitel vor allem darum, den stetigen Wandel bei gleichzeitigem Bestand rassischer Konzepte anhand verschiedener Forschungsstränge herauszuarbeiten. Rassekonzepte zeichnen sich von Anfang an durch eine koproduktive Bindung an Vererbungsmodelle aus, die sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen genetischer Vererbungstheorien und Untersuchungsmethoden massiv verstärkt. Rekonstruiert wird deshalb, wie Rassemodelle in Relation zur Entwicklung der Genetik (und genetischer Narrative) fortgeschrieben wurden. Neben den Kontinuitäten rassifizierter Differenzforschung stehen dabei auch die Brüche in den Konzepten, d.h. die Veränderungen der Erzählungen über die ›Natur der Differenz‹ und die Wechsel in deren Signaturen – Knochen, Psyche, Blut, Proteine, Gene und Punktmutationen – im Fokus. Aufbauend auf der Analyse zunehmender Genetifizierung von Rasse im 20. Jahrhundert werden im vierten Kapitel die aktuellen Rassifizierungen der Genomik und Postgenomik untersucht. In den Blick geraten die mit der technischen Darstellbarkeit von Nukleotidbasensequenzen der DNA (ab Mitte der 1980er Jahre) im Zusammenhang stehenden Transformationen lebenswissenschaftlicher Rasse-
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konzepte. Die Reform(ul)ierungen rassifizierender Differenz sind dabei als Modernisierungen entlang den Prozessen der Molekularisierung, Medikalisierung und des Bio-Integrationismus zu untersuchen. Im Schlusskapitel werden die vorgenommen Analysen, die historischen Erörterungen und die Modernisierungen rassischer Kategorien, ihre Beständigkeit und Wandlungsfähigkeit diskutiert sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse und Potentiale einer Radikalisierung sozialwissenschaftlicher Kritik nochmals in den Fokus gesetzt. Für die Bearbeitung der aufgestellten Fragen wird nun zuerst eine Klärung der sozialwissenschaftlichen Perspektive und theoretischen Grundlagen der Gesamtuntersuchung vorgenommen.
Kapitel Eins
Perspektiven und Grundlagen Despite public declarations of the end of biological race, however, the concept refuses to die. Anne Fausto-Sterling 2004, S. 2
Was ist Rasse? Die Einteilung von Menschen in Rassen ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachtet ein Tun, eine Praxis kategorisierender Zuordnung von Individuen zu Gruppen. Eine solche Praxis der Unterscheidung und Zuordnung kann der Sichtbarmachung von Gleichheit, Ähnlichkeit und Unterschieden dienen. Über eine solche Zwecksetzung hinaus ist die Einteilung von Menschen in Rassen zumeist mit weiteren Bedeutungszuweisungen und Wertungen sowie mit Hierarchisierung, Privilegierung und Deprivilegierung verbunden, wie in zahlreichen Studien herausgearbeitet wurde. 6 Mithin wird Rasse in Interaktionen und wissenschaftlich-technischen Handlungen erzeugt. Rasse ist dabei nichts Statisches, dessen Faktizität erschlossen werden kann, sie wird vielmehr hergestellt und in unterschiedlichen Praxen mit biologischen, kulturellen, politischen, religiösen und psychischen Eigenschaften verknüpft. Dabei ist das Zuordnungs- bzw. Teilungskonzept Rasse nicht nur durch eine Fülle an Bedeutungen, sondern vor allem – wie auch der Gates-Fall verdeutlicht – durch eine grundlegend unentwirrbare Verschränkung sozial-kultureller, politischer und biologischer Sinnstiftungen gekennzeichnet. Sowohl historisch wie aktuell oszilliert Rasse deshalb immer wieder zwischen sozial-kulturellen sowie naturalisierenden Zuschreibungen und verbindet diese miteinander. Zusammen mit weiteren Differenzdimensionen wie 6
Herauszuheben aus der Fülle von Studien sind Fanon 1961; Omi/Winant 1986; Poliakov/ Delacampagne/Girard 1992; Hall 1994.
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Geschlecht, Sexualität, oder Behinderung ist Rasse dabei immer wieder Gegenstand von Debatten über Natur versus Kultur (nature-nurture) und über das Biologische versus das Soziale. Seit der Verwissenschaftlichung rassischer Konzepte wurde versucht, die konstitutive Verwobenheit biologischer und sozialer Dimensionen mittels der Behauptung eines natürlichen Unterschieds zur biologischen Seite hin aufzulösen. Für die Rechtfertigungsordnung der westlichen Moderne schien der Nachweis natürlicher Unterschiede zwischen den Rassen das Mittel der Wahl. Zwar erzeugten die biologischen Merkmale immer auch Probleme bei der Suche nach kategorialen Unterschieden, sodass nie ein allgemeiner Konsens über eine ›Ordnung der Natur des Menschen‹ erlangt werden konnte. Der Erfolg dieser naturalisierenden Einteilungsweise liegt aber darin, ein Konzept erschaffen zu haben – wie die Rassismustheoretiker Michael Omi und Howard Winant herausarbeiteten – »mit dem soziale Konflikte und Interessen durch eine Referenz auf verschiedene Arten des menschlichen Körpers benannt und symbolisiert werden können« 7 (1994: 55). Der Rekurs auf die Biologie des Menschen hat sich seit seiner Entstehung als sehr funktional erwiesen, gerade weil er soziale Konflikte und Herrschaft hinter einer vermeintlich nicht hinterfragbaren Natur verbergen kann. Bis heute hat dieses Konzept trotz vielerlei Kritiken und erheblicher Veränderungen kaum an Wirkmacht verloren, sodass weiterhin biologisch rassifizierte Einteilungen von Menschen konzipiert werden, etwa in klinischen Studien, bei Medikamententests, bei Screenings für genetische Erkrankungen, in Samenbanken oder in Kliniken, die Eizellspenden vermitteln, in forensischen Datenbanken, bei genetischen Abstammungstests oder in verschiedenen Projekten der Humanevolutionsforschung. In den verschiedenen Anwendungen und unterschiedlichen Kontexten werden Rassenkategorien mit sehr differenten Anforderungen belegt. Die Unterschiedlichkeit zeigt sich in der Vielzahl an Zuordnungspraktiken und Benennungen sowie in der Feingliedrigkeit der unterteilten Gruppen. Mal wird für eine Zuordnung die Selbstbezeichnung der Individuen verwendet, mal werden historische Begriffe verwendet, ethnische oder kontinentale Zuordnungen von Forschenden ›nach Augenschein‹ vorgenommen, mal geht es um binäre Einteilungen etwa in »schwarz« und »weiß«, mal finden bürokratisch-administrative Zensuskategorien in biowissenschaftliche Untersuchungen Eingang. Innerhalb der jeweiligen Forschungskontexte unterliegen die Anforderungen an die Einteilung von Menschen ständiger Umarbeitung und Veränderung. Diese Unterschiedlichkeit rassischer Zuordnungen in den verschiedenen Anwendungspraxen wird noch Gegenstand der weiteren Analyse sein.
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Übersetzung von mir, wie bei weiteren Zitaten, wenn keine deutsche Übersetzung vorliegt.
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Die konzeptionelle und inhaltliche Vielfalt rassifizierter Einteilungen steht zwar der innerbiologischen Programmatik vom Auffinden einer eindeutigen Ordnung entgegen. Doch trotz dieser Widersprüchlichkeiten konnten sich Rassekonzepte bisher in den unterschiedlichen Feldern – von der Wissenschaft über das Alltagsverständnis bis zu administrativen Politiken – immer wieder als nützlich und letztlich produktiv erweisen. Diese Nützlichkeit und Produktivität diente jahrhundertelang zur Rechtfertigung von Privilegiensicherung, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, heute legitimiert sie molekulargenetische Forschungen zur Differenz oder die Regulierung und Optimierung des Lebens durch zeitgenössische Regierungspraktiken. Dieser Funktionalität der Rassekonzepte steht jedoch die weitgehend enttäuschte Hoffnung der Rasseforscher 8 entgegen, jemals eine überzeitliche bzw. mindestens mehrere Jahrtausende zurückreichende Ordnung der Menschheit auffinden zu können. Kennzeichnend für die Rasseforschung ist vielmehr, dass im Laufe ihrer Geschichte eine Unzahl an Systematiken aufgestellt wurde, und auch heutige Konzepte keinesfalls die Forschung einigen, sondern vielmehr heftig umstritten sind (vgl. Kattmann 2002). Biologische Vorstellungen von Rasse sind also trotz einer mittlerweile mehr als zwei Jahrhunderte währenden biowissenschaftlichen Forschung zu diesem Ordnungsmodell nach wie vor außerordentlich unklar. 9 Aber auch diese Unklarheit hat bisher nicht zu einem Ende biologischer Rassekonzepte geführt. Stattdessen werden weiterhin immer neue Untersuchungsmethoden angewandt und Klassifikationsmodelle überarbeitet, mit dem gleichgebliebenen Ziel, eine endgültig zutreffende Einteilung zu finden. Damit stehen wir also vor der paradoxen Situation, dass trotz der Fülle an biologischen, sozialwissenschaftlichen und politischen Kritiken, dennoch weiterhin rassifizierende Differenzforschung betrieben wird und damit über die Kritik hinaus nach Antworten für die Weiterverwendung und Reformulierung von Rasse in den Lebenswissenschaften gesucht werden muss. Während in den letzten Jahrzehnten verhältnismäßig viele historische Arbeiten zu wissenschaftlichem Rassismus oder zu Verknüpfungen von biologischen 8
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Naheliegenderweise gab und gibt es auch Forscherinnen, die sich mit der Einteilung von Menschen in Rassen anhand biologischer Merkmale beschäftigten. Bis in die 1970er Jahre finden sich jedoch nur vereinzelt Wissenschaftlerinnen, sodass ich in den historischen Ausführungen die männliche Form wähle, um nicht die Dominanz von Männern in der Wissenschaft zu verschleiern. Flexibilität und Bedeutungsweite finden sich auch bei anderen Konzepten der Biowissenschaften. Paradigmatisch ist etwa die Unschärfe des Gen-Begriffs, die noch Gegenstand des Kapitels zur »Genetifizierung« sein wird. Die Besonderheit solcher Bedeutungsweite besteht in einer Ambivalenz, in der die Bedeutungsfülle einerseits mit der biowissenschaftlichen Vorstellung materialer Konkretheit der Untersuchungsobjekte bricht, andererseits aber auch eine außergewöhnliche Produktivität des Begriffs bzw. Konzepts bewirkt. Vgl. hierzu Arbeiten zu boundary objects (Star/Griesemer 1989; Löwy 1993).
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Rassevorstellungen und staatlichen Handlungen vorgelegt wurden und auch ein Spektrum an Untersuchungen zu Rassekonstrukten im Alltag, in den Medien, zu staatlichen, strukturellen, kulturellen und alltäglichen Rassismen existiert, 10 gibt es zu gegenwärtigen Rassifizierungen in den Lebenswissenschaften (insbesondere im deutschsprachigen Raum) nur wenige Analysen. Das liegt vor allem daran, dass einem Großteil gegenwärtiger Analytikerޚinnen biologische Rassekonstrukte als ausreichend ›wissenschaftlich widerlegt‹ gelten, vor allem, weil sie auch innerhalb der biologischen Disziplinen massiv kritisiert worden sind und weil heute in antirassistischen Ansätzen »symbolischer Rassismus« (Sears/Henry 2005), »racism without racists« (Bonilla-Silva 2003) sowie deterministische Kulturkonzepte, ein »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1990), als dominante Probleme angesehen werden. Viele sozialwissenschaftliche Autorޚinnen sprechen daher in Bezug auf Rasse von einer »biologischen Bedeutungslosigkeit«, »genetischen Widerlegtheit«, einem »retreat of scientific racism« oder einer »Crisis of ›Race‹ and Raciology«. 11 Solchen Darstellungen vom ›Ende biologischer Rassekonzepte‹ stehen allerdings vielfältige Analysen vor allem aus dem englischsprachigen Raum gegenüber, in denen die Zunahme und Ausweitung bzw. ein Wiederauferstehen, eine Renaissance der Rasseforschung seit den 1990er Jahren und vor allem im letzten Jahrzehnt, untersucht und skandalisiert werden. 12 Die neue biowissenschaftliche Beschäftigung mit Rasse stellt die kritische Untersuchung allerdings vor einige Probleme. Die mit klassischen Mitteln vorgenommen sozialwissenschaftlichen Analysen tendieren zu linearen Interpretationen, die aktuelle biowissenschaftliche Rassifizierungen entweder in Kontinuität mit rassistischen und eugenischen Konzepten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sehen oder sie als vollkommen neue Zugänge wahrnehmen. Fragen nach den Gründen für die anhaltende biowissenschaftliche Beschäftigung mit Rasse und nach den Auswirkungen auf alltagsrelevante Vorstellungen oder auch nur eine Analyse der Sinnproduktion in lebenswissenschaftlicher Forschung können dabei nicht hinreichend mit allein internalistischen, institutionen- oder akteursfokussierenden Untersuchungen beantwortet werden. Ebenso wie nicht bereits aus den einzelnen lebenswissenschaftlichen Projekten heraus über die Sinnhaftigkeit von Rasseeinteilungen entschieden werden kann, sind auch Untersuchungen, die lediglich auf einzelne Aspekte rassifizierter Differenz eingehen, dem Problem Rasse 10 Siehe etwa Balibar/Wallerstein 1990; Delacampagne 2005; Fredrickson 2002; Hannaford 1996; Hund 2007; Kerner 2009a.; Priester 2003; Weingart/Kroll/Bayertz 1992. 11 Siehe Arndt 2002; Barkan 1992; Degele 2008, Eggers etௗal. 2005; Gilroy 2000, 2001; Gissis 2008; Guillaumin 2000. 12 Siehe etwa Duster 1990; Wade 2002; Fausto-Sterling 2004; Fujimura/Duster/Rajagopalan 2008; Gissis 2008; Koenig/Lee/Richardson 2008; Müller-Wille/Rheinberger 2008; Whitmarsh/ Jones 2010; Roberts 2011; Morning 2011; Bliss 2012; Wailoo/Nelson/Lee 2012.
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nicht angemessen. Denn rassische Teilungskonzepte und -praktiken sind mit einer Reihe von Aspekten verbunden, wie denen nach der Unterschiedlichkeit von Menschen und menschlichen Lebensweisen, nach Vielfalt, aber auch sozialer Ungleichheit, nach der Rechtfertigung für die ungleiche Verteilung beschränkter Güter, nach gesellschaftlichen Produktionsformen und deren Aufteilung sowie der Vorenthaltung von Lebensgestaltungsmöglichkeiten. Rasse ist jedoch nicht ›einfach nur‹ eine soziale Teilungspraxis, sondern wird immer wieder biowissenschaftlich begründet. Rassische Zuordnungen finden diskursiv statt, sind materiell an Praxen auf der Ebene von Interaktionen sowie auf gesellschaftsstruktureller Ebene in Institutionen, Subjektivierungen, Rechten und Zugangsregulierungen zu sozialen Positionen und Gütern verortet. Zugleich sind rassifizierte Identitätskategorien aber auch Ansatzpunkt für Antidiskriminierungspolitiken, für die Darstellung und Benennung sozialer Ungleichheit sowie für Empowermentpolitiken. Rasse ist – das liegt auf der Hand – eine zutiefst problematische aber auch ambivalente Kategorie, der es sich in Reflexion dieser Ambivalenz, ihrer Entstehung im Kontext der westlichen Moderne und deren Postulat der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu widmen gilt.
Sozialität der Differenz Klassische sozialwissenschaftliche Theorieansätze waren zuallererst mit Fragen nach gesellschaftlicher Stabilität und Kohäsion beschäftigt und fassten in dieser Ausrichtung auch gesellschaftliche Entwicklungen, indem sozialer Wandel von sogenannten traditionalen zu entwickelten Gesellschaften in Form von Stufenoder Stadienmodellen dargestellt wurde. Kennzeichnend für diese frühen Sozialtheorien sind etwa teleologische Entwicklungsmodelle, wie Auguste Comtes’ Dreistadiengesetz, das Modell naturgeschichtlicher Entwicklungsstufen ökonomischer Gesellschaftsformationen bei Karl Marx oder Émile Durkheims Darstellung der gesellschaftlichen Erscheinungsformen, der zufolge mechanische durch organische Solidarität abgelöst werde. Gleich sind sich alle klassischen Theorien darin, dass sie je einer Triebkraft einen Vorrang als Kausalgrund von Veränderung einräumen. Die Unterschiede zwischen den Positionen bestehen dagegen darin, welche Ursache für die historischen und aktuellen Transformationen als zentrale angenommen wird: kapitalistische Warenproduktion und der Kapitalzyklus Investition-Profit-Investition, komplexe Arbeitsteilung in der industriellen Ordnung oder technologische Rationalität sowie Organisierung und Versachlichung von Herrschaft. Auch die später aufgestellten, als »moderne soziologische Theorien« bezeichneten Ansätze beschäftigen sich größtenteils mit ähn-
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lichen Fragen gesellschaftlicher Ordnung: der Erfassung, Beschreibung und Erklärung von Operationen sozialer Stabilität, jedoch mit einer Ausdifferenzierung der untersuchten und als relevant angesehenen Aspekte sozialer Kohäsion, Formen von Macht, Herrschaft und Regierung. In neueren Sozialtheorien entstanden demgegenüber Ansätze, mit denen die Binnendifferenzierungen und der Wandel moderner Gesellschaften sowie Soziales nicht lediglich als inkludierende, Ordnung erschaffende Prozesse, sondern ebenso als klassifizierendes, normierendes und normalisierendes Gebilde zu verstehen sein sollen. Analysen zur ›Totalität instrumenteller Vernunft‹ oder zu den ›Rissen, Brüchen und Dysfunktionen‹ gesellschaftlicher Institutionen, der Rationalität, und der Ordnung ermöglichen einen quasi konträren Zugang zur Gesellschaft. Nicht die faustische Frage nach dem ›was die Welt im Innersten zusammenhält‹, sondern die Frage nach der Dynamik, nach ›jener Kraft‹, die mit einer stetigen Grenzarbeit erst ein Inneres von Gesellschaft schafft, rückt damit ins Zentrum. Gesellschaft ist demnach nicht als Konglomerat aggregierter Handlungen auf der Ebene von Individuen und Gruppen und auch nicht als integrierende, Gemeinschaft erzeugende Entität zu fassen. Vielmehr zeigen solche Analysen die Herstellung von Gesellschaft durch Ausgrenzung sowie die Be- und Umgrenzungen von Handlungsmöglichkeiten durch ideologische Anrufungen, Praxen der Unterwerfung, des Verwerfens sowie durch Techniken der Führung und Kontrolle auf. Wenn etwa Foucault die »Rationalität des Abscheulichen« als eines Faktums zeitgenössischer Geschichte oder Judith Butler die »Grenzen der Intelligibilität«, das abject, ins Zentrum ihrer sozialtheoretischen Ansätze stellen, werden sowohl Undenk- wie Unlebbares – etwa Handlungsoptionen, Körper, Begehrensweisen etc. – als auch Genealogien und eine historische Ontologie Gegenstand herrschaftskritischer Analyse (Dreyfus/Rabinow 1987: 163; Butler 1997: 280, 1991). Doch geht es bei solcherart Fokus auf Begrenzungs- und Segregationsmechanismen sozialer Formierung nicht einfach ›nur‹ um Nichtdenk- oder Nichtlebbares, sondern gerade um die Analyse jener Gleichzeitigkeit und prinzipiellen Unentwirrbarkeit von In- und Exklusion, in der sich Sozialität demnach gerade aus der Relevanz des Abwesenden herstellt. Foucaults Begriff der Biomacht verdeutlicht diese Simultanität, in der die Potenzierung des Lebens ebenso mit Eliminierung einhergeht. Derartige Analysen geben letztlich die Gesellschaft selbst in die Mühle historischkritischer Untersuchungen und nehmen diese ob ihrer spezifischen Regierungsformen unter die Lupe. Mithin erscheinen das Konzept und der analytische Begriff der Gesellschaft selbst in eine bürgerlich-kapitalistische Form der Herrschaft (mehr oder weniger) fest eingebunden. Die Wandelbarkeit sozialer Gebilde wird in Theorietraditionen des Poststrukturalismus und in dekonstruktivistischen Ansätzen vornehmlich von jenen eben
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erwähnten ›Rändern‹ des Gesellschaftlichen her konzipiert. Sei es in Foucaults Strategien der Kritik, der Entunterwerfung/Desubjektivierung, Derridas Entwürfen zur Differenzialität von Bedeutungen, von Verschiebungen in Iterationen, aber auch den von Butler umrissenen subversiven Optionen performativer Aneignungen und Rekonstruktionen – allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie Veränderung als konstitutiv für Stabilität ansehen und die Auseinandersetzungen an vielfältigen Orten (und damit nicht nur in einem vermeintlichen Zentrum der Macht) ausfindig machen. Diese Stränge sozialphilosophischer Theorien erzeugten auch eigene Modernisierungsvorstellungen, in denen erkenntnistheoretische Begründungsversuche und Vernunftentwürfe der Aufklärung selber dekonstruiert werden. Die Postmoderne von Jean-François Lyotard etwa führt demnach weg von einer auf Fortschritt hoffenden Emanzipation des Menschen, weg von den ›großen Erzählungen‹, weg von einer alles umgreifenden ›Geschichte‹, mit der letztlich die allgemein verbindlichen Rationalitäten der Aufklärung und des Humanismus legitimiert werden sollten (Lyotard 2009). Plausibel wird damit die Behauptung der Postmoderne, dass wir uns von der Vorstellung einer fortschreitenden rationalen Erkenntnis und vernünftig geordneten Welt verabschieden müssen. Statt dass sich die Hoffnung der Aufklärung auf eine zunehmend durchschaubarere Welt erfüllen würde, ist im Gegenteil die grundsätzliche ›Ambivalenz alles Menschlichen‹ (Bauman 2005), die Kontingenz sozialer Existenz bestimmende Grundlage dieses sozialwissenschaftlichen Zugangs zum Verständnis der Welt.
Gesellschaftsforschung als Wissenschaftsforschung Wissenschaft machte Rassismus historisch und bis in die jüngere Vergangenheit theoretisch verfügbar und stellte nicht etwa eine Barriere für die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus dar, sondern war schließlich maßgeblich an ihrer Operationalisierung und Exekution beteiligt. Ruth Stiasny 1998, S. 45f.
Rasse ist zusammen mit Klasse und Geschlecht eine der zentralen, alle modernen 13 Gesellschaften strukturierenden Ungleichheitsdimensionen. Zwar entstanden
13 Der Begriff modern beinhaltet in sich nicht nur eine Epochenbezeichnung, die durch Industrialisierung, Entstehung der Nationalstaaten, Säkularisierung und die wissenschaftlichtechnische Beherrschung der Natur gekennzeichnet ist, sondern lässt auch eine Abgrenzung zu »unmodern«, »vormodern« bzw. »rückständig« assoziieren. Hier sollen jedoch jene Verän-
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rassische Gruppenkategorien bereits bevor sich Wissenschaftler mit menschlichen Varietäten beschäftigten; sie wurden herangezogen für die Abwertung, Ausbeutung, Ermordung und Vertreibung verschiedener Menschengruppen (siehe Ausführungen zur Geschichte im Kapitel 2). Doch entstand mit der Verwissenschaftlichung von Rasse eine Verbindung zwischen dieser Ordnungsform und wissenschaftlichem Wissen, die bis in die heutige Zeit anhält. Neben den Differenzen, die Aufklärer wie Montesquieu oder Kant am Menschen feststellten, hatten insbesondere die Rassekonzeptionen der Naturforscher, Mediziner und Anthropologen, wie Blumenbach, Linné, Bernier und Darwin, an der Konsolidierung von Rasse als omnipräsenter Strukturdimension quasi aller moderner Gesellschaften einen maßgeblichen Anteil. Mit biologischem Wissen über die Unterschiede ließ sich die bestehende soziale Ordnung, die ständische Schichtung mit ihrer religiös abgesicherten Zuteilung neu begründen. Darüber hinaus konnten damit jene mit der Säkularisierung und Industrialisierung intensivierten Teilungspraktiken (vor allem Geschlecht/Sexualität, Klasse, Krankheit/Behinderung) mit einem neuen, sich auf Natur stützenden Klassifikationssystem legitimiert und konsolidiert werden. Die wissenschaftlichen Differenzierungen waren nicht lediglich ein Versuch, Ordnung in die ›Natur der Gesellschaft‹ zu bringen, sondern dienten ebenso der Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten, die mit den kolonialen Eroberungen sowie der durch geschlechtliche Arbeitsteilung und kapitalistische Produktionsverhältnisse erzeugten Ungleichverteilung gesellschaftlicher Güter entstanden. Die Relation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist in Bezug auf die Legitimationsfunktion gesellschaftlicher Teilungsdimensionen aber keinesfalls ein unidirektionales Verhältnis. Wissenschaftliche Wissensproduktion über ›natürliche Differenz‹ ist kein verlängerter Arm bestehender gesellschaftlicher Ungleichheiten, sondern produziert jene Verhältnisse mit, in die sie selber eingebunden ist. Wissenschaft kann aus diesem Grunde niemals als unabhängige Instanz, keineswegs als unschuldig gelten. Andererseits wäre es jedoch auch falsch, wissenschaftlicher Wissensproduktion, mithin den Biowissenschaften, eine einseitige Verantwortung für die Konstruktion von Differenz im Kontext sozialer Ungleichheiten zuzuweisen. Stattdessen bedarf es einer Analyse, die von der prinzipiellen Reziprozität von Wissenschaft und Gesellschaft ausgeht und das Spektrum der gesellschaftlichen Kräfte, die an der (Re)Produktion von Rassekonzepten beteiligt sind, aufzeigt.
derungen benannt werden, die mit der Entstehung der westlichen Moderne verbunden sind und sich in den spezifischen Ausprägungen von Teilungskonzepten ausdrücken. In dieser Perspektive sind in der heutigen (globalisierten) Welt fast alle Gesellschaften nach Maßgabe der Moderne durch die zentralen Ungleichheitskategorien Rasse, Klasse und Geschlecht strukturiert.
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Biowissenschaften tragen somit eine Verantwortung für rassifizierende Praktiken, da sie ebenso wie nicht-wissenschaftliches Wissen, politische Regulationen, institutionalisierte Stratifizierungen und alltägliche Interaktionen Rassifizierungen erzeugen und perpetuieren. Bei der Analyse biowissenschaftlicher Forschung über Differenz ist zudem zu beachten, dass das erzeugte Wissen gleichzeitig für rassistische Argumentationen und als Quelle der Kritik, Infragestellung und Widerlegung von Rassekonzepten verwendet wird. Von beiden Argumentationspolen in den Auseinandersetzungen um Rasse – für deren Begründung ebenso wie für deren Widerlegung – eingesetzt. Diese Besonderheit macht es umso notwendiger, die Verwicklungen von Wissenschaft, rassischen Gruppenzuordnungen und Gesellschaft zu analysieren. Darüber hinaus begründen die Wirkungen biologischen Differenzwissen und deren Verquickung mit gesellschaftlichen Teilungspraxen einen sozialwissenschaftlichen Analysebedarf. Erklärungsnotwendig sind zudem, die Resistenzen und stetigen Modifikationen von Differenzkonzepten im Kontext der gegenwärtigen Autorität lebenswissenschaftlicher Aussagen. Wenn die »Praktiken des Lebens […] gegenwärtig das bedeutendste Feld von Macht und Wissen bilden«, wie der Anthropologe und Analytiker kontemporärer Biowissenschaften Paul Rabinow (2004: 131) konstatiert, dann ist eine kritische Analyse vorherrschender lebenswissenschaftlicher Wissensproduktionen zur Kategorisierung des Menschen umso dringlicher. Rabinows These folgend muss eine Untersuchung biowissenschaftlicher Wissensproduktion zu Rasse bei jenen Praktiken der Forschung, Konzeptualisierung und Sinnstiftung ansetzen, die autorisiert sind »im Namen der Wahrheit über das Leben zu sprechen« (ebd.: 155), und sie muss jene Disziplinen befragen, die derzeit die bedeutungs- und machtvollsten Aussagen zum Wesen des Menschen, seinem Innersten, seinen Bestimmungen und seinem Wert produzieren. Obschon sich die Inhalte lebenswissenschaftlicher Differenzkonzepte stetig verschoben haben, sind auch heutige wissenschaftliche Diskurse weiterhin in die Rechtfertigung gesellschaftlicher Teilungen verstrickt. Entsprechend steht wissenschaftliches Wissen in Relation zu sozialer Ungleichheit, nicht nur, »weil die Wissenschaft die herrschende Form des legitimen Diskurses darstellt; sondern auch und vor allem deshalb, weil eine Macht, die meint, sie habe eine wissenschaftliche Grundlage, von der Wissenschaft natürlich verlangt, daß sie dieser Macht die Grundlage liefert« (Bourdieu 1993: 235). »Die Wissenschaft« so vermerkt Bourdieu »ist verbunden mit dem, dessen Legitimierung von ihr verlangt wird« (ebd.: 253). 14 Dies ernst genommen, besteht kritische soziologische Analyse darin, eine »umsichtige Darstellung der Strukturen, die ein Objekt des Wissens erzeugen« (Spivak 14 Leicht korrigierte Übersetzung des Originals: »La science a partie liée avec ce qu’on lui demande de justifier.«
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2003: 28) indem eine ›historische Ontologie der Gegenwart‹ herausgearbeitet wird. Im Sinne Michel Foucaults ist damit eine Ausgrabung der »Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems« und (1992: 35) vorzunehmen. Hierfür bedarf es – neben den Untersuchungen zu verschiedenen Formen von Rassifizierungen, zu staatlichen, institutionalisierten oder alltäglichen Rassismen, zu Stereotypisierungen und individuellen Vorurteilen – einer Untersuchung der lebenswissenschaftlichen Wissensproduktion, um die gesamte Realität von Rasse, ihrer Strukturen, Effekte und Wirkungen sichtbar und damit anfechtbar zu machen.
Gesellschaftskritische Wissenschaftsforschung Entgegen mündlichen Überlieferungen, bei denen es vor allem um die Weitergabe von Traditionen, um die Erhaltung des Wissens und der mit ihr verbundenen Werte und Normen geht, steht bei Wissenschaften konstitutiv das Innovative im Vordergrund (vgl. Steinert 2010: 315). Da sich im Niedergeschriebenen Erkenntnisse, Sicht- und Denkweisen festhalten lassen, bedarf Wissenschaft im Unterschied zur Traditionspflege eines stetigen Erschaffens von Neuem, einer Neuinterpretation des schon Vorhandenen, einer entdeckenden, erfindenden Praxis und des Neudenkens von Noch-nicht-Dagewesenem. Zwar werden in der Wissenschaft ebenso Werte und Normen vermittelt und festgeschrieben, dennoch entstand gerade in der Anwendung von Schrift ein Primat (vor allem, aber nicht nur) der Hervorbringung von Neuem. Wissenschaft ist somit an und für sich eine auf Dauer gestellte Praxis der Erneuerung. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Rasse ist entsprechend perse stetigen Reinterpretionen, Überarbeitungen und Modifikation unterworfen. Denn von da an, wo Rasseforschung nur das Althergebrachte erörtern würde, geriete sie zur reinen Nacherzählung und verlöre die Legitimation zu weiteren Forschungen. Zwar ließe Rasse als Gegenstand der Biowissenschaften zunächst Konstanz erwarten, da das Konzept in diesem Zusammenhang für eine zehntausende bis Millionen Jahre zurückreichende Teilung der Menschheit in differente Gruppen steht. Entgegen dieser fachinternen Grundannahme ist die Rasseforschung jedoch durch sehr unterschiedliche Gruppierungsformen und eine Fülle an Einteilungen (von drei bis mehreren Hundert) gekennzeichnet. Diese stetige Wandlung wissenschaftlicher Rassekonzeptionen liegt im Sinne der hier vertretenen These in deren gesellschaftlicher Bedingtheit begründet. Mit dem Fokus auf den gesellschaftlichen Bedingungen der Wissensproduktion bietet die folgende Untersuchung eine weitere Antwortperspektive auf die eröffnete Frage nach der Aktualität von Rasse. Ansätze der Wissenschaftsforschung
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ermöglichen mit ihren relationalen Perspektivierungen, mit ihrem Methodenrepertoire eine weitreichende Analyse der Verquickungen von Gesellschaft und Wissenschaft, von Wissen und Macht, von als »wahr« autorisierten Aussagen und gesellschaftlicher Ordnung. Die diversen Zugänge der Wissenschaftsforschungௗ– Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftssoziologie sowie Erkenntnis-, Wissenschafts- und Technikkritik – stellen vielfältige Mittel zur Verfügung, um Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis und realitätsschaffende Macht zu untersuchen. Entgegen dem üblichen Selbstbild der Wissenschaften als lediglich beschreibende, objektives Wissen schaffende Unternehmungen, deren Repräsentation der ›Natur‹ unabhängig von Geschichte, Kultur und Gesellschaft sei, entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Wissenschaftswissenschaft, mit der diese Sonderstellung hinterfragt und die sozialen Bedingungen von Wissenschaft untersucht werden können. Die Sozialisierung der Wissenschaften ist eine Perspektive, deren Grundsteine zunächst in den 1920 und 30er Jahren mit Arbeiten der frühen Wissenssoziologie und Wissenschaftsforschung (z.B. Fleck 1935; Mannheim 1931; Scheler 1926) gelegt wurden. Statt die Wissenschaften weiterhin als Ideal einer objektiven, die ›Geheimnisse der Natur‹ entdeckenden Kunde zu verstehen, begann eine neue Sichtweise, die wissenschaftliches Wissen als gesellschaftlich eingebundene, an Denkstile und Denkkollektive gebundene Wissensform fasst. Wissenschaft wurde mit dieser Sichtweise perspektivisch und relational. Zu einem weiteren Bruch mit dem bis dahin vorherrschenden Idealbild von Wissenschaft kam es in Folge der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, indem diese politische Problematisierungen von Wissenschaft und Technik und deren negativen Auswirkungen auf gesellschaftliche Verhältnisse nach sich zogen. Wissenschaft und Technik wurden seitdem nicht mehr nur als Heilsbringende einer fortschreitenden Emanzipation des Menschen angesehen. Vielmehr ließen die oftmals gravierenden Auswirkungen wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen vermehrt Fragen nach den Gefahren und nach den politischen Indienstnahmen von Wissenschaft aufkommen. Debatten über die Auswirkungen wissenschaftlichen Forschens, um Ethik, Risiken und normative Fragen wie ›Welche Wissenschaft brauchen wir?‹ führten, wie Nico Stehr formuliert, auch dazu, ausgehend von der Besorgnis »über die destruktiven Konsequenzen von Wissenschaft und Technik […] den Weg zu Diskussionen über die konstruktiven Konsequenzen von Wissenschaft und Technik« zu eröffnen (1994: 548). In den 1970er Jahren wurden die Perspektiven der Wissenschaftsforschung auf Wissenschaften als soziales Feld erheblich erweitert. Aufbauend auf Ludwik Flecks zuerst 1935 erschienener Monographie »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache«, in der er seine Argumentationen zur Kollektivität
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von Wissenschaft, zum »Denkstil« und der Bestimmung von Wissenschaft durch externe Faktoren entwickelte, löste die Arbeit des Wissenschaftsphilosophen und -historikers Thomas Kuhn, »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1976), heftige Debatten darüber aus, ob Erkenntnisprozesse ›durch die Natur geleitet‹ seien oder sich bestenfalls ›der Natur annäherten‹. Kuhn vertritt die Auffassung, dass Erkenntnis- und Wissensbildung nicht im fortschreitenden kumulativen Entdecken und Verstehen bestehe. Stattdessen sei der Prozess von aufeinander folgenden Paradigmen geprägt, das heißt von der sozialen Konstellation von »Meinungen, Werten, Methoden usw.« sowie von – in der gegebenen wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilten – »Problemlösungen«, die regelten, welche Aussagen als wahr anerkannt würden (ebd.: 186). Die Repräsentationen der Natur seien bedingt und zudem begrenzt durch die von vornherein paradigmatisch eingeschränkten Theorien, Methoden und Problemlösungsansätze. Kuhns Arbeit sowie der in derselben Zeit formulierte Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann 1966) stimulierten Forschungsansätze, die sowohl die Praktiken als auch die Inhalte der Wissenschaften immer weiter sozialisierten. So entstand als ein neues Forschungsfeld die Sociology of Scientific Knowledge, als deren bekanntester Ansatz das sogenannte strong programme entwickelt wurde. Mit diesem Ansatz konnten wissenschaftliche Aussagen als durch vielfältige Faktoren geformt (kulturelle Kontexte und individuelle wie Gruppeninteressen) verstanden werden (Bloor 1991). Statt die Wirkung des Sozialen nur in der Verzerrung der Wissenschaft zu sehen, bei der von außen an diese herangetragene politische Interessen zu ›falschen‹ Theorien und schließlich deren ›Scheitern‹ führen, fordert das strong programme, alle wissenschaftlichen Praktiken und Aussagen unabhängig von deren nachträglicher Bewertung zu untersuchen und Wissenschaft in ihrer Verwicklung mit gesellschaftlichen Verhältnissen (und nicht nur als Opfer politischer Instrumentalisierungen) zu fassen (vgl. Kaufmann 1998). Dieser Ansatz provozierte eine Reihe von Fragen: Wie wird wissenschaftliches Wissen und Technologie konstruiert, wenn nicht die Natur die Erkenntnisse leitet und Wissen statt ›entdeckt‹ vielmehr umkämpft ist? Wie kommt es, dass (Labor-)Experimente zur wichtigsten Methode der (Natur)Wissenschaften wurden? Welchem epistemischen Wandel unterliegen scheinbar eherne Vorstellungen von Objektivität, Wahrheit und Evidenz? (vgl. Shapin/Schaffer 1985; Fujimura 1992; Daston/Galison 2007) Während sich die Wissenschaftsgeschichte damit befasst, wann und wie die vorherrschenden Formen der Erkenntnisproduktion aufkamen, bildete sich zudem ein praxeologischer Ansatz der Wissenschaftsforschung heraus, der Wissenschaft als Gefüge von Handlungen fasst, von Praktiken in den Laboren oder in den Besprechungsräumen sowie von lokalen Aushandlungen über die Inhalte des Wissens (Knorr Cetina 1984; Law 1986; Latour/Woolgar 1979). Ebenfalls ab Mitte der
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1970er Jahre entwickelten feministische Wissenschaftstheoretikerinnen einen wissenschaftskritischen Zugang, demzufolge »die gesellschaftliche Struktur der Wissenschaft nicht nur sexistisch, sondern auch rassistisch, kulturfeindlich und von der herrschenden Klasse bestimmt ist« (Harding 1990: 7). Sowohl die Problemstellungen, Begriffe, Theorien und Methodologien, als auch die mit diesen erzeugten Wahrheiten seien von ihren kollektiven und individuellen Entstehungsbedingungen geprägt. Daher versprächen eine »wertabhängige Forschung«, worunter antisexistische Forschungsvorhaben verstanden wurden (ebd. 11 u. 20), sowie eine »partiale Perspektive«, die den »Standpunkten der Unterworfenen« geschuldet ist, bisweilen ein höheres Maß an Objektivität als der vermeintlich wertfreie und neutrale Blick der Mächtigen, die sich als »bescheidene Zeugen« darstellen würden (Haraway 1997, 1991). In Anlehnung an die Ansätze des strong programme und an marxistische Standpunkttheorien kritisiert die feministische Wissenschaftsforschung an der vorherrschenden Forschung, dass allein die ›Wissenden‹ und ihre Institutionen sowie ›Irrtümer‹ der Wissenschaft untersucht würden. Diese Herangehensweise könne weder den erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, noch allgemein das Wissen – auch die als »wahr« und »korrekt« anerkannten Erkenntnisse – als sozial determiniert erkennen (Felt/Nowotny/Taschwer 1995: 123 u. 129). So greife, wie die Wissenschaftstheoretikerin Sandra Harding herausstellt, eine Kritik an »schlechter Wissenschaft« zu kurz. Stattdessen müsse Wissenschaft als »science-as-usual« in ihrer herrschaftsstützenden Verfasstheit untersucht werden (1991: 51ff.). Für die hier vorgenommene Untersuchung bedeutet dies, dass die untersuchten Begriffe, Konzepte und wissenschaftlichen Praktiken nicht als vermeintlich wertfreie, lediglich analytische oder beschreibende angesehen werden können und dass der Fokus nicht auf dem (alleinigen) Nachweis »schlechter Wissenschaft« liegt. Vielmehr sollen die typischen, aktuellen und modernsten wissenschaftlichen Arbeiten in den Blick genommen werden. Wissenschaft, die »Entzauberin der modernen Welt« (Weber 1995; vgl. Felt/Nowotny/Taschwer 1995: 8), muss selber entzaubert, d.h. hinsichtlich ihrer Bedingungen, Zusammenhänge und Wirkungen befragt werden. Aus den bisherigen Ausführungen darf jedoch nicht missverstehend geschlossen werden, dass Wissenschaft ein bloßes Anhängsel kultureller, politischer, sozialer Mythen und weiter nichts als eine Autorisierungsinstanz der Macht sei. Wissenschaftliche Wissensproduktion ist nicht durch gesellschaftliche Verhältnisse determiniert. Biowissenschaftliche Differenzforschungen sind aber andererseits nicht losgelöst von gesellschaftlichen Problemstellungen und entsprechend nicht ohne eine gesellschaftstheoretische und gesellschaftskritische Perspektive zu verstehen. Ebenso schreibt umgekehrt biowissenschaftliche Wissensproduktion trotz aller
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Autorität die alltagsweltlichen Vorstellungen auch nicht einfach fest. Stattdessen ist Wissenschaft als »agonistisches Machtfeld« (Haraway 1995: 77) zu analysieren, in dem wie in allen sozialen Gefügen um Deutungsmacht gerungen wird und in dem sich Aushandlungs- und Anerkennungskämpfe abspielen. Wissenschaftliches Wissen ist damit als eigene, gesellschaftsgestaltende Kraft zu verstehen, durch deren Streben nach Hegemonie ambivalente Wirklichkeiten produziert werden. Trotz ihrer gesellschaftlichen Grundlegung geht Wissenschaft eben nicht glatt in den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen auf, sondern kann auch dazu dienen, diese herauszufordern. Diese Ambivalenz wissenschaftlichen Wissens arbeiteten insbesondere marxistische, poststrukturalistische und feministische Wissenschaftsforschung und -kritik heraus, in dem sie einerseits zeigten, dass Wissenschaft in Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse eingebunden ist, andererseits aber auch deutlich machten, wie in und mit den Wissenschaften ebenso Widerständigkeiten, Subversionen und eigensinnige Begründungs- und Bedeutungsstrukturen erzeugt werden. Entsprechend wird Wissenschaft in neuen Ansätzen nicht länger darauf reduziert, die »Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln« zu sein (Latour 1993: 229). Stattdessen liegt der Fokus nunmehr darauf, die Fähigkeit von Wissensobjekten, Bedeutungen hervorzubringen und ›performativ‹ zu wirken, zu untersuchen (Hammer/Stieß 1995). Die Eigendynamik der Materialität, die ›Widerständigkeit‹ der Dinge, d.h. der Untersuchungsobjekte, Apparaturen und Experimentalsysteme (Palm 2007), dient auch der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt für die Analyse von Kontinuitätslinien und Brüchen wissenschaftlicher Rassekonzeptionen. Im Sinne eines praxeologischen Zugangs ist Rasse quasi als Verb zu betrachten, als ein Tun, als erzeugte, gemachte Relation, als währender Prozess, der verdinglicht, verstetigt, institutionalisiert, zu Struktur wird. Auch wenn im Folgenden vor allem Texte als Untersuchungsobjekte dienen, gilt es über den Blick auf Zeichen- und Sinnsysteme, Normen und Semantiken hinaus ebenso auf die Dynamik, Vieldeutigkeit und Veränderbarkeit kultureller Phänomene zu fokussieren. Wie zu zeigen sein wird, sind biowissenschaftliche Differenzforschungen in diesem Sinne Schauplätze sehr unterschiedlicher, oft konträrer Erkenntnisbildung, die durchaus auch als Quelle wirkmächtiger Kritiken an rassischen Einteilungen der Menschheit dienen können. Zur Annäherung an diese Argumentation werden nun die zentralen Vorgehensweisen sowie die für die Analyse notwendigen rassismustheoretischen Ansätze und Begriffe einer Klärung unterzogen.
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Gesellschaftstheorie und Historisierung Wie schon Gates’ Verhaftung deutlich machte, ist Rasse keine Entität, die mit ausreichend feingeschliffenen mikrologischen Analyseinstrumenten aus der sozialen Situation heraus seziert werden könnte, genauso, wie kein biologischer ›Urgrund‹ übrigbliebe, wenn die kulturellen Wertungen extrahiert würden. Rasse kann nicht mit monokausalen Ansätzen oder einseitig strukturalen Zugängen ausreichend analysiert und verstanden werden. Statt also nur von einem Punkt aus zu blicken, muss Rassifizierung hier in jener Verwobenheit körperlicher und kultureller Zuschreibungen, biologischer, genetischer und sozialer Bestimmungen untersucht werden. Eine solche Analyse macht eine historische und gesellschaftstheoretische Einbettung notwendig, die einerseits die Gewordenheit rassifizierter Ordnungskonzepte im Blick behält, andererseits die Erzeugung neuer Konzepte insbesondere mithilfe molekulargenetischer Ansätze verstehbar macht. Dies erfolgt ausgehend von der These, dass lebenswissenschaftliche Rassekonzeptionen und deren zeitgenössische Aktualisierungen nur mit einem gesellschaftliche Verhältnisse einbegreifenden Ansatz, also aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive begriffen werden können. Die Analyse von Rasse bedarf einer kritischen Gesellschaftstheorie – und umgekehrt ist für eine zeitgemäße Gesellschaftstheorie und -kritik sowohl ein Verständnis von lebenswissenschaftlicher Wissensproduktion als auch von Rassismus (und weiteren Teilungsdimensionen) in der westlichen Moderne Voraussetzung. Es bedarf einer Analyse der Moderne, in der trotz ihres Freiheitsund Gleichheitsversprechens keinesfalls alle Menschen gleichermaßen in den Genuss der postulierten Gleichheit und Liberalität kommen. Auf der Grundlage ungleicher gesellschaftlicher Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten einer stratifizierten Gesellschaft können rassifizierende Einteilungen von Menschen niemalsௗ– auch nicht in ihren wissenschaftlichen Formulierungen – unschuldig sein. Sie können nicht neutral, wertfrei oder unpolitisch sein, da sowohl die verwendeten Bezeichnungen als auch die Einteilungskonzepte bei rassischen Taxonomien immer in Relation zu gesellschaftlichen Wertungen, Stereotypisierungen, Hierarchisierungen sowie zu Identitäts- und Subjektivierungsformen stehen. Der hier bisher als Verwicklung und Verwobenheit benannte Untersuchungszusammenhang ist dabei nicht in einzelne Stränge sinnvoll aufzulösen. Bei der Analyse biologischer Rassekonzeptionen geht es nicht im Wortsinne um eine Auflösung aller einzelnen Bestandteile, die dann den »wahren Gehalt« von Rasse zum Vorschein bringen würden, sondern um die Klärung der einzelnen Bestandteile, aus denen rassische Gruppenzuordnungen gebildet werden und die sich gegenseitig begründen und zugleich bestärken. Historisierende und gesellschaftstheoretische Perspektiven sind deshalb notwendig, um Rasse als ein komplexes
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Konglomerat in den Blick zu bekommen. Rasse ist, wie die sozialen Strukturdimensionen Geschlecht und Klasse, nur als vielfältiges und widersprüchliches Ensemble analysierbar, in dem Diskurse, Institutionen, Gesetze, moralische und normative Regelungen, wissenschaftliche Aussagen sowie Nichtdiskursives wirken (vgl. Foucault 1978: 118f.). Eine Untersuchung der Elemente dieses Ensembles soll dazu dienen, die Entstehung, Konstanz und Veränderung von Rassekonzeptionen verstehbar zu machen. Rasse kann in diesem Sinne nur als komplexes Phänomen verstanden werden, in welchem divergente, sich gegenseitig unterstützende und infrage stellende Elemente, biologische wie soziale, historische, kulturelle wie technische Bestimmungen aufeinander treffen. Nur unter dem Einbezug mehrerer Perspektiven kann erklärt werden, warum Rassekonzepte in einer »funktionalen Überdeterminierung« (ebd.: 121) trotz aller Kritiken nicht verabschiedet, sondern bisher immer wieder erneuert wurden. Für eine solche Bestimmung werden die Entstehungsbedingungen rassischer Einteilungen in der europäischen Moderne und deren Legitimationsfunktion bei der Kolonisierung der »Neuen Welt« erörtert. Nachverfolgt wird ebenfalls die Verwissenschaftlichung rassischer Einteilungen der Menschheit und deren jeweilige Erneuerungen entlang vorherrschender biowissenschaftlicher Methoden und Forschungsparadigmen. Zu klären ist auch das Verhältnis von Kritik an biologischen Rassekonzeptionen und deren produktiver Wendung und Einmündung in neue Modelle. Erforderlich ist aus diesem Grund zunächst eine Erörterung der Ansätze einer Untersuchung rassifizierender Verhältnisse.
Rasse, Rassifizierung, Rassismus: Theorien »Das Grundprinzip von Rassismus ist der Glaube an Rassen« postuliert die Historikerin Barbara Fields (2003: 1405) und die Fachkollegin Michelle Brattaine präzisiert, dass »ein Konzept von Rassen als natürlich, zeitlos und außerhalb menschlichen Einwirkens unzweifelhaft einer der hartnäckigsten Rückstände des Rassismus« ist (2007: 1412). Beide Aussagen stellen den Glauben an bzw. die Existenz des Konzepts Rasse in eine enge Beziehung zu Rassismus – erstens als Grundprinzip und zweitens als Überbleibsel (residue) rassistischer Verhältnisse. Für beide stellt die Einordnung von Menschen in rassifizierte Gruppen ein zentrales Element des Rassismus dar. Aus einer analytischen Perspektive ist einem Bedingungsverhältnis zwischen Einteilungen von Menschen und Rassismus zunächst leicht zuzustimmen. Aber was ist mit dem umgekehrten Blick auf die verschiedenen Thematisierungen von Rasse? Sind alle Verwendungen des Rassebegriffs perse rassistisch, weil Rasse als ein Residuum des Rassismus zu verstehen ist?
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Tatsächlich plädier(t)en viele Rassismus-Analytikerޚinnen und -Theoretikerޚinnen für eine Abschaffung der Begriffs Rasse, um dem Rassismus die biologische bzw. biologisierte Basis zu entziehen und um alternative, mit einer sozial konnotierten Bedeutung versehene Begriffe für die gesellschaftlich konstruierte Einteilung von Menschen zu verwenden. 15 Andere sprechen sich vehement für die Verwendung des Begriffs Rasse bzw. der englischen Vokabel race aus, um soziale Ungleichheit und Diskriminierung entlang von Gruppeneinteilungen klar in der gebotenen Deutlichkeit benennen zu können. 16 Erschwert wird die Analyse des Begriffs und die Entscheidung über seine sinnvolle Verwendung oder Nicht-Verwendung dadurch, dass er in sehr unterschiedlichen Diskursen auftaucht und häufig nur unscharf definiert wird. Zur Systematisierung dieser Unschärfe unterscheidet z.B. der Soziologe Robert Miles den Gebrauch des Rassebegriffs im Englischen in den drei (miteinander interagierenden) Diskursen der Biologie (Genetik), der Sozialwissenschaften und des Alltags (1991: 94). Diese mit Blick auf die Bedeutungsunterschiede sinnvolle Aufteilung muss hier unter der Frage nach dem rassistischen Gehalt noch weiter differenziert werden, da etwa ein sozialwissenschaftlicher Gebrauch zur Kennzeichnung von Diskriminierung oder die analytische und antirassistische Verwendung im Zusammenhang mit Empowerment-Politiken sowie im Kontext postkolonialer Theoriebildung eine völlig andere Bedeutung erhält als im rassistischen Alltagsdiskurs. Damit ist auch die Unterscheidbarkeit in affirmative und kritische Bedeutungen angesprochen, wobei jedoch auch die antirassistischen und analytischen – also die Rassifizierungen kritisierenden – Gebrauchsweisen selbst Gegenstand von Kritiken sind. Denn auch ein kritischer Gebrauch des Begriffs oder von Ersatzbegriffen wie »Ethnie« läuft Gefahr, rassistische Kategorisierungen gerade durch die Abfrage, Benennung und Zuordnung zu reifizieren. 17
15 Zum Beispiel verwendet Max Weber in seinen Ausführungen zur »Rassenzugehörigkeit« zwar auch den Begriff »Rasse«, bevorzugt aber die Bezeichnung »ethnische Gruppen«, da er »ständische, also anerzogene Unterschiede und […] Bildung« (1922: 235) gegenüber »ererbten und vererblichen Anlagen« (ebd.: 234) als bedeutender einschätzt. Ebenfalls für den Begriff Ethnizität votiert etwa das erste UNESCO-Statement »The Race Question« von 1950. Hier wird konstatiert: »it would be better when speaking of human races to drop the term ›race‹ altogether and speak of ethnic groups« (1950: 6). Seitdem gab es eine Reihe von Vorschlägen zu Alternativen zum Rassebegriff und auch heute wenden sich viele Akteurޚinnen mit guten Gründen gegen seine Verwendung etwa in Gesetzestexten (Cremer 2008; Liebscher etௗal. 2012) oder innerhalb der Biologie und Genetik (Freeman 1998; Fullilove 1998; Kattmann 2002; UNESCO 1996a). 16 Barskanmaz 2011; vgl. hierzu sowie zu den Begriffsdifferenzen zwischen Rasse und race die Ausführungen unter »Begriffe und Semantiken«. 17 Mit Blick auf die Reifizierung ethnischer Differenz durch Forschung weisen beispielsweise Diehm/Kuhn/Machold (2010) darauf hin, dass auch kritische, etwa sozialkonstruktivistische
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Mit solchen Unterscheidungen und Problematisierungen der Gebrauchsweisen von Rasse ist noch keinesfalls die oben formulierte Frage beantwortet, ob der Rassebegriff perௗse und ob biowissenschaftliche Rassekonzeptionen notwendigerweise rassistisch sind. Zwar haben Theorien, die rassische Einteilungen als Ergebnis von Rassismus auffassen, auf diese Frage folgerichtig eine bejahende Antwort. In der vorliegenden Studie wird zwar auch davon ausgegangen, dass eine enge Beziehung zwischen Rassekonzepten und Rassismus besteht, jedoch nicht einer einfachen Ableitungslogik gefolgt. Stattdessen wird hier eine praxeologische und gesellschaftstheoretische Perspektivierung vorgenommen, mittels derer eine Untersuchung der Inhalte, also ein Blick auf das Was und Wie sowie auf die jeweiligen Wirkungen rassifizierter Differenzforschung erfolgen kann. Eine soziologische Beschreibung und Kritik, die sich bloß an die Nutzung des Rassebegriffs wendet, reicht angesichts der zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen und Verwendungsformen nicht aus. Statt eines deduktiven Vorgehens, bei dem schon die Wirkverhältnisse feststehen und in der Empirie Fälle aufgefunden werden müssen, die die Theorie bestätigen, gilt es folglich, das Wie und die inhaltlichen Bedeutungen jener Konzeption von und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Rasse zu klären. Zu dem schon erörterten sozialwissenschaftlichen Analysebedarf bezüglich der neuen lebenswissenschaftlichen Rasseforschungen kommt also noch hinzu, dass den jeweiligen Projekten und ihren spezifischen Bedeutungsproduktionen zu folgen ist, um biologische Rassekonzeptionen in all ihren Formen zu verstehen. Eine Voraussetzung für eine solche Klärung ist zunächst die nähere Bestimmung von Rassismus anhand einer Erörterung relevanter Aspekte bestehender Rassismustheorien.
Perspektiven von diesem Problem der Reifizierung betroffen sind und dies eben schon allein aufgrund der sprachlichen Möglichkeiten der Benennung von diskriminierungsrelevanten Dimensionen und Kategorien. Mithin besteht stets jene auch von der feministischen Theorie hinsichtlich der Kategorien Geschlecht und Frauen umfangreich diskutierte Gleichzeitigkeit von Analyse und Konstruktion des beforschten und analysierten Gegenstandes. D.h. »Forschung über soziale Differenz ist immer auch eine Forschung unter Bedingungen von sozialer Differenz« (ebd.: 84). Die damit aufgeworfenen nicht nur forschungsethischen, sondern wissenschaftstheoretischen Fragen machen es, wie auch Sabine Hark (2007) mit Blick auf die Sozialfigur der »Überflüssigen« einwendet, notwendig, soziologische Analyse und wissenschaftliches Wissen kritisch auf seine Bedeutungsambivalenzen hin zu hinterfragen. Denn soziologische Beschreibungen nehmen ihrerseits stets Bezug auf gesellschaftliche Stereotype, die sich als »kulturelles Sediment« in sozialwissenschaftliche Aussagensysteme einschleichen und Herrschafts- und Ausschließungswissen produzieren (ebd.: 153).
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Bedingungen der Rassismusanalyse Der Bestand an theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Rassismus ist sehr divers. In Bezug auf die hier gestellten Fragen divergieren die einzelnen Ansätze so stark, dass sie nicht zu einer Rahmentheorie zusammengefügt werden können. Fundamentale Differenzen zeigen sich etwa in den Annahmen zum Ursprung des Rassismus, den einige Theoretikerޚinnen in der Antike, andere erst in den Aus- und Einschlüssen der Moderne verorten oder in der Reichweite der theoretischen Ansätze, in denen sehr unterschiedliche Kriterien angelegt werden, wer als Objekt bzw. Opfer des Rassismus anzusehen und welche Diskriminierungen als rassistisch zu bezeichnen seien. Unterschiede bestehen auch hinsichtlich des Status einzelner Abwertungs- und Vernichtungsideologien. So werden Antisemitismus und Antiromanismus teilweise als Formen von Rassismus definiert, in anderen Theorien kategorisch davon abgegrenzt. Diese Differenzen sind so fundamental, dass aus ihnen kein Basistheorem extrahiert werden kann, das der vorliegenden Arbeit als Ausgangstheorie dienen könnten. 18 Schon über die Akteure rassistischer Handlungen besteht große Uneinigkeit, da Rassismus entweder als Problem individueller Einstellungen und Vorurteile sowie Ängste (Xenophobie) oder als strukturelles, institutionalisiertes und in der ›Mitte der Gesellschaft‹ 19 verankertes Problem gefasst wird. Die große Unterschiedlichkeit der verschiedenen theoretischen Ansätze mag zum einen an den historisch und kontextuell verschiedenen sowie auf unterschiedliche Gruppen gerichteten Ausprägungen von Rassismen liegen, begründet sich aber auch in einem bisher schwierigen Verhältnis zwischen dem Mainstream sozialwissenschaftlicher Forschung und den darin eher randständigen Rassismusanalysen und -theorien. Zwar hat sich vor allem im angelsächsischen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten eine relativ umfangreiche Rassismusforschung etablieren können. Diesem Forschungs- und Theoretisierungsfeld kommt im internationalen, insbesondere kontinentaleuropäischen Soziologiediskurs jedoch nach wie vor eine marginale Position zu, sodass Rassismus und Rassifizierungen statt als zentrale Dimension 18 Eine Vielfalt an Theorien an sich ist nicht überraschend. Aber im Vergleich zum Theorienbestand etwa im Bereich der Geschlechterforschung, bei dem so unterschiedliche Ansätze wie das sex/gender system, doing gender, Dekonstruktion, Klassen-Geschlechts-Hypothese, zumindest zueinander in Beziehung gesetzt werden können, sind viele der rassismustheoretischen Ansätze entschieden differenter und weniger kompatibel. 19 Ansätze, die rassistische und antisemitische Einstellungen in typischen, ›normalen‹ Persönlichkeitsstrukturen verorten, existierten auch schon in den psychoanalytisch inspirierten Untersuchungen zur »autoritären Persönlichkeit« (Adorno etௗal. 1993/1950). Vorherrschend in der deutschsprachigen Forschung waren aber bis in die 1990er Jahre Untersuchungen zu sogenannter »Fremdenfeindlichkeit«, zu Vorurteilsmustern oder Desintegrationsphänomenen (vgl. Institut für Sozialforschung 1992).
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zur Analyse von Gesellschaft eher als Randphänomen behandelt werden. So haben sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu rassistischen Ausgrenzungen nach wie vor zumeist einen Nischenstatus und werden nicht in den Kanon zentraler gesellschaftstheoretischer Fragestellungen aufgenommen. Zudem beschäftigen sich die bestehenden Studien eher mit den offensichtlichsten Auswirkungen von Rassismus, mit historischen Erklärungen zum ›Rassenwahn‹ der Nazis, dem eliminatorischen Antisemitismus sowie mit Lynchmorden und »Rassengesetzgebungen«, die Schwarze von gesellschaftlicher Teilhabe ausgrenzten und Weiße privilegierten. Mit der Analyse dieser Ausbeutungs-, Gewalt- und Vernichtungspraktiken wurden zwar wichtige und zum Teil noch immer relevante Erklärungen vorgelegt, die Untersuchung der alltäglichen ›Normalität‹ rassistischer Verhältnisse blieb aber lange auf psychologische und ideologietheoretische Zugänge beschränkt. Diese Situation spiegelt sich deutlich in den kanonischen Lehrbüchern, Lexika und Einführungsbänden der deutschsprachigen Soziologie wider, in denen in aller Regel nur marginale Beiträge zu Rasse, Rassismus oder ethnischer Diskriminierung zu finden sind. 20 Mit Ausnahme der Forschungen zu »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« (Heitmeyer 2008) und einigen Ansätzen der Vorurteilsund Ungleichheitsforschung, die im Mainstream sozialwissenschaftlicher Analysen mittlerweile einen akzeptierten Platz eingenommen haben, werden Forschungen zu Rassismus, Rassifizierung und Diskriminierung bisher nicht zu denjenigen sozialtheoretischen Analysen gezählt, die für das Verstehen von Gesellschaft unerlässlich sind. »Während die Rassenforschung in Deutschland zu ihrer mörderischen Blüte gelangte, ist es mit der Rassismusforschung hierzulande nicht weit her«, kommentiert treffend die Antirassistin Lou Sander den bisherigen Stand sozialwissenschaftlicher Theoriebildung (2008: 26). Rassismus ausschließlich im Sinne individueller oder kollektiver Vorurteile, Stereotype und intentional-ideologischer Konstrukte zu fassen, verfehlt zentrale gesellschaftliche Dimensionen und bedeutende Bereiche alltäglicher Diskriminierung, von denen jene betroffen sind, die nicht zur Mehrheitsbevölkerung zählen. Für die bisherige Marginalisierung der Rassismusforschung gibt es mehrere Gründe: Erstens wird in den Sozialwissenschaften Rassismus als ein Phänomen an den Rändern der Gesellschaft, etwa als extremer Ausdruck einiger weniger Altnazis oder desintegrierter Jugendlicher verortet, dass in allen demokratischen Staaten mehr oder weniger zum ›Normalzustand‹ gehöre. Zweitens sehen manche 20 Siehe etwa Farzin/Jordan 2008; Fuchs-Heinritz/Barlösius 2007; Hillmann 2007; Joas 2007; Korte/Schäfers 2010. Neben dem Fehlen von Analysen und theoretischen Bearbeitungen in den kanonischen Werken deutschsprachiger Soziologie zeigt sich der Stellenwert von Rassismus, Rassifizierungen und Ethnisierung auch an den thematischen Untergruppen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in der sich keine der 33 Sektionen explizit mit Rassismus oder der gesellschaftlichen Segregation entlang der Teilungsdimension Rasse beschäftigt.
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Sozialwissenschaftlerޚinnen Rassismus als ein vormodernes Phänomen an, als Atavismus, der sich in Prozessen der Globalisierung, Individualisierung oder unter der sich ausweitenden kapitalistischen Verwertungslogik auflösen werde. Drittens verlangt eine Analyse, die Rassismus in der Mitte der Gesellschaft verortet, auch die kritische Beschäftigung mit sich selbst, mit der Wissensproduktion der eigenen Disziplin und den eigenen Verflechtungen in rassistischen Strukturen und Privilegiensystemen. Und zuletzt gilt die Beschäftigung mit Rassismus oft als politisch anrüchig und moralisch motiviert. Analysen der rassistischen Verhältnisse werden vom Mainstream mit einem Ideologieverdacht belegt, oder den Wissenschaftler ޚinnen selbst wird eine problematische Nähe zum Gegenstand unterstellt, um ihnen damit die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Trotz der Randlage und der beschriebenen Schwierigkeiten besteht mittlerweile ein Spektrum verschiedener Ansätze, die Rassismen sowie die mit ihnen zusammenhängenden Wirkverhältnisse erklären. Diese dienen im Folgenden der weiteren Erarbeitung eines Verständnisses der Dynamiken zwischen biowissenschaftlichen Rassifizierungen und Rassismus.
Dimensionen von Rassismen Für die gesellschafts- und rassismustheoretische Grundlegung der weiteren Überlegungen ist eine Systematisierung der bestehenden Zugänge und Analyseansätze anhand ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf die Untersuchung von Rassismus sinnvoll, um sich den Problematiken von Rassismus, Rassifizierung und modernen biologischen Rassekonzepten zu nähern. Eine erste Unterscheidung lässt sich anhand des Ziels der Rassismusanalysen vornehmen, die entweder den Kerngehalt verschiedener Ausprägungen von Rassismen suchen, oder aber die Funktionen von Rassifizierungen bestimmen wollen. Viele Ansätze fokussieren nach diesem Unterteilungsschema auf die Gemeinsamkeiten von Rassismen, auf eine Grundstruktur, die hinter den unterschiedlichen historischen und aktuellen Ausprägungen bestehe. Andere fokussieren dagegen vor allem auf gesellschaftliche und individuelle Ursachen und versuchen daraus Rassismus zu bestimmen. Der ersten Bestimmung entsprechend fasste die Anthropologin Ruth Benedict schon 1940 Rassismus als ein »Dogma, wonach eine ethnische Gruppe von Natur aus zu erblicher Minderwertigkeit verdammt ist, während einer anderen erbliche Überlegenheit bestimmt ward« (1947: 132). Benedict stellt also zur Bestimmung von Rassismus die Behauptung erblicher Wertigkeit von Gruppen als Gemeinsamkeit aller Rassismen und damit als Merkmal heraus.
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Andere heben statt der Wertungen und erblichen Zuschreibungen die »Verbindung von Vorurteilen und Macht« hervor, aus der etwa weiße Vorherrschaft (white supremacy) als Essenz der Konstruktion von Differenz zusammen mit Hierarchisierungen und Macht hervorgehe (Kilomba 2008: 42; vgl. bell hooks 1989) oder stellen heraus, dass Rassismus dort anfange, wo für »gesellschaftliche Unterschiede eine naturbedingte Rechtfertigung« gesucht (Delacampagne 2005: 60) bzw. ein unlösbarer Zusammenhang von »somatischen und psychischen, körperlichen und seelisch-intellektuellen Eigenschaften oder Fähigkeiten« angenommen werde (Priester 2003: 7). Anhand der Funktion(en) wird Rassismus etwa als »machtvolles, mit Rassekonstruktionen operierendes […] System von Diskursen und Praxen« definiert, »mit welchen Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden« (Mecheril/ Melter 2009: 15f. oder Rommelspacher 2009: 29). Ähnlich argumentieren auch Untersuchungen, die Rassismus als »ideologische Formation« (Demirović 1992: 21) fassen und herausstellen, dass etwa »körperliche Merkmale zur Klassifizierung« benutzt werden, die »dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen« (Hall 2000: 7). Selbstverständlich lassen sich nicht alle Theorien zum Rassismus entlang der Zielrichtung der Rassismusanalyse – gerichtet auf die Gemeinsamkeiten der Rassismen oder auf deren gesellschaftliche Funktion – zuordnen. Insbesondere werden in einigen Analysen die beiden Perspektiven miteinander verglichen und zusammengebracht und Rassismus etwa als »verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers« definiert (Memmi 1992: 151; vgl. auch Hall 2000: 7; Räthzel 2004). Entsprechend könnten Rassismustheorien auch anders systematisiert werden, z.B. entlang der Pole psychologisch-individueller versus gesellschaftlicher Erklärungsansätze, hinsichtlich intentionaler versus struktureller Dynamiken oder aber anhand der Reichweite sehr enger Definitionen (die den Rassenrassismus des NS erklären) versus sehr weiten (die jegliche Differenzzuschreibung als Rassismen fassen). Für die hier vorgenommene Untersuchung ist es sinnvoll, an das Analysepotential von Ansätzen anzuschließen, die Rassismus als eine soziale Praxis betrachten, »bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden« (Hall 2000: 7) und die auf Prozesse der »Hervorhebung von Unterschieden« (Memmi 1992: 44) und der »Signifizierung« (Miles 1991: 9) fokussieren. In diesem Sinne bieten sich für eine Analyse gegenwärtiger biowissenschaftlicher Differenzforschungen Ansätze an, die sowohl die Inhalte und historisch sowie kulturell spezifischen Ausprägungen als auch die gesellschaftliche Funktionalität von Rassifizierungen in den Blick nehmen. Als Rah-
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mung der Erörterungen dienen somit immer wieder auch Theorien, die nach dem »Willen zur« und der »Legitimation von Vorherrschaft« (Priester 2003: 8 u. 11), nach der »Erklärungs- und Rechtfertigungsideologie« (Geiss 1988: 15) und nach ihren Verknüpfungen mit der Kolonialisierung, mit Macht und Herrschaft sowie schließlich mit zentralen Entwicklungen der westlichen Moderne fragen. Als Referenzpunkt einer solchen Analyse, die nach den Verwicklungen von Rassismen mit der Moderne fragt, sind Michel Foucaults Untersuchungen hilfreich, in denen er Rassismus als Teil der ›Normalisierungsgesellschaft‹ fasst, deren Ziel die Regelung, Kontrolle und letztlich Steigerung des Lebens ist. Eine wichtige Grundlage für die Untersuchung biowissenschaftlicher Rassifizierungen bieten also jene Analysen, die qualitative Veränderungen von Rassismen in der Herausbildung der Moderne in Europa in den Fokus rücken. Diese betrachten Rassismus im Zusammenhang mit biowissenschaftlichen Rassekonzepten, mit der kolonialen Expansion Europas, mit der Herausbildung von Nationalstaaten und Staatsbürgerrechten, mit der Entstehung kapitalistischer Ökonomien und mit dem Wechsel von einer theologisch abgesicherten zu einer auf Natur rekurrierenden Rechtfertigungsordnung (Fanon 1980; Hannaford 1996; Kerner 2009a; Kilomba 2008; Müller 2003; Priester 2003). Die hier hervorzuhebende heuristische Stärke derartiger Analyseansätze besteht darin, die Bedeutung von Rasseklassifikationen für die Legitimierung sozialer Ungleichheit ergründen zu können. So lässt sich etwa fragen, inwiefern das othering, die naturalisierende Veranderung von Personen, diese zu unterdrückbaren Subjekten macht. Können die ›Anderen‹ beherrscht, entmenschlicht, ausgebeutet und vernichtet werden, weil in der bestehenden Rechtfertigungsordnung ihre soziale Ungleichheit als biologische Differenz begründet werden kann? Einer der Ansätze, mit dem aus einer gesellschaftskritischen Perspektive die Dynamiken und Funktionalitäten der Moderne in den Blick genommen werden können, ist Foucaults Analyse der Biomacht. Seine Studien bilden in den folgenden Erörterungen einen wichtigen Referenzrahmen, um etwa das produktive Verhältnis moderner Gesellschaften zu Rasseeinteilungen und Rassismus als das Gegenüber der Optimierung des Lebens fassen zu können. Foucault ermöglicht mit dem Begriff der Biomacht oder auch Biopolitik eine Schärfung des Blicks für moderne Regierungstechniken sowohl der Überwachung und Kontrolle als auch der Liberalisierung, Verschiebung von Verantwortlichkeit vom Staat auf die Individuen und der Regierung des Selbst. Ab dem 18. Jahrhundert ging laut Foucault mit dem ›Eintritt des Lebens in den Bereich der bewussten Kalküle‹ einher, dass neue bzw. intensivierte Praktiken der Subjektivierung, Unterwerfung und Kategorisierung entstanden, deren produktive Seite notwendigerweise auch die andere Seite des Ausschlusses, der Umgrenzung, Normierung und Eliminierung, mithin
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den Tod, erzeugte (Foucault 1975). Rassismus versteht Foucault im Anschluss daran als das notwendige Gegenüber biopolitischen Kalküls, das vordringlich die Vermehrung des Lebens zum Ziel hat. In seinen Untersuchungen zur »Vereinnahmung des Lebens durch die Macht«, zur »Verstaatlichung des Biologischen« (Foucault 1975: 282), arbeitet er heraus, wie im 17. und 18. Jahrhundert Machttechniken entstanden, die sich auf den Körper richteten, der im doppelten Sinne, nämlich als individueller und als Gattungs-Körper, zum Zielpunkt von Regierungstechniken wurde (ebd. 286). Als »Biopolitik der menschlichen Gattung« seien die Lenkung der Geburten- und Sterberaten sowie die Verbesserung der Gattung zum Bestandteil rationaler Führung geworden; die Optimierung des Lebens geriet zum Credo der Regierung. Für das Leben interessiert sich Foucault nicht etwa im Sinne eines biologischen Substrats, sondern er untersucht dieses als Korrelat historischer Formationen von Macht und Wissen. In diesem Korrelat sei auch der Tod von vornherein schon eingeschrieben, da die Feststellung des Lebens, die Heraushebung dessen aus dem Reich des Anorganischen, die Entstehung der Wissenschaften vom Leben auf Grundlage eines »Mortalismus« (Foucault 1963/ 1988: 159) vor sich gehe. Foucault hebt dabei auf die Bedeutung der Pathologie und der ›Öffnung der Leichen‹ für die Bestimmung des Lebens ab, geht aber darüber hinaus, indem er ein in den Lebenswissenschaften verortetes »fundamentales Band zwischen dem Leben und dem Tod« (ebd.) sieht. Seit dem 18. Jahrhundert definierten die Lebenswissenschaften das Leben über seine grundlegenden Prozesse der Ernährung und Atmung, also über die Zusammenführung von toter Materie und Organischem. In der Konzeption des Tieres verkörpere sich genau diese Manifestation des Lebens, es »erscheint als Träger jenes Todes« indem »[e]s tötet, weil es lebt« (Foucault 1966: 339). Die Bestimmung des Lebens in Relation zum Tod greift Foucault in seinen Analysen der modernen Regierungskünste auf. So folgert er, dass mit der Politisierung des Gattungswesens Mensch in Form eines auf den Volkskörper gerichteten Verbesserungsgebots notwendigerweise zugleich ein »Staatsrassismus« als Gegenüber entstanden sei. Mit dem Aufkommen der Biomacht ziehe nicht nur das Leben, sondern mit ihm auch der Tod, »der Rassismus in die Mechanismen des Staates ein«. Dieser werde notwendig, um Gruppen innerhalb der menschlichen Spezies gegeneinander zu differenzieren und zu hierarchisieren sowie den »Tod des Anderen […], der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse« in Kauf zu nehmen, um »das Leben im allgemeinen […] gesünder und reiner« zu machen (ebd.: 291 u. 302). Fortan obliege es dem Rassismus, eine Zäsur innerhalb des biologischen Kontinuums vorzunehmen, mit der die Verbesserungsfähigen von den Aussätzigen, Kranken, Minderwertigen, Anormalen und damit Gefährlichen zu unterscheiden sind, bevor sich (und hier wird die Verbindung
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mit einer Theorie der Vererbung bedeutsam) diese Eigenschaften fortpflanzten und zu einer Degeneration der Gattung führten. Foucaults Bestimmung von Rassismus als notwendige Bedingung der Biomacht für die »Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft« (ebd.: 302) bietet eine Ausgangsbasis, mit der moderne Gesellschaften und deren lebenswissenschaftliche Konzeption von Rasse in den Blick genommen werden können. Mit der Akzeptanz des Tötens ist von Foucault nicht lediglich der direkte Mord gemeint, sondern jener Gegensatz der Steigerung, Privilegierung und Bevorzugung, der sich ausdrückt in der Bereitschaft, »jemanden der Gefahr des Todes auszuliefern«, das Risiko, den politischen Tod, Vertreibung, Abschiebung usw. zu erhöhen also dem ›sozialen Tod‹ auszuliefern (ebd: 303). Aber statt mit diesem Ansatz immer schon zu wissen, welche Rolle und Funktion Rassemodelle einnehmen können und müssen, soll mit ihm vielmehr nach dem Verhältnis zwischen heutigen Rassifizierungen und biopolitischen Anforderungen gefragt sowie aktuelle Reaktivierungen und Erneuerungen von Rasse als fortwährende biologische Wahrheit in den Blick genommen werden. Als Leitfaden für diese Perspektivierung dienen die folgenden Fragen: Wie sind also die Wissenschaften vom Leben mit einer Macht verbündet, die das Leben in Beschlag nimmt? Welche sozialen und politischen Folgen zeitigt ein Diskurs, der sich medizinisch, biologisch und in den letzten Jahrzehnten vor allem genetisch formiert, wenn er menschliche Differenz entlang gesellschaftlicher Stratifizierungslinien reproduziert? Welche Wirkung besitzen Aussagen zur Wahrheit über Rassen, die in den Praktiken und Interpretationen der Differenzforschung produziert werden? Die Lebenswissenschaften nehmen derzeit, besonders mit der Wissensproduktion der Genetik, eine Rolle als Leitwissenschaft 21 ein, wodurch ihre Narrative für viele über den Bereich der Wissenschaft hinausgehende gesellschaftliche Bereiche organisierende und formierende Kraft erzeugen. Entsprechend dieser Vorrangstellung lebenswissenschaftlicher Aussagen über das Sein, über die Bedingtheiten lebender Materie und biologische Prädispositionen des Menschen liegt es zunächst nahe, dass sich auch Rassismen solcher Diskurse zur Ontologie des Lebens bedienen müssen, um nicht als überholt zu gelten oder gar widerlegt zu werden. Rassismus bedarf, dass muss klargestellt werden, nicht unbedingt eines biologischen Konstrukts, um Menschen zu kategorisieren und zu hierarchisieren. Aber die biowissenschaftlichen, naturalisierten Konzepte von Rasse hatten historisch eine bedeutungsvolle Rolle, und biologische Modelle zeitigen auch heute weitreichende Effekte für gesellschaftliche Teilungspraxen. Kulturalisierende Konzepte bestehen bisher gerade in einer – nicht stets expliziten – Verwicklung mit naturalisierten 21 Die Funktion der Leitwissenschaft ist ausführlicher Gegenstand unter »Die Ära der Genetik« im Kapitel »Genetifizierung«.
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biologischen Ansätzen. »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1990: 28) ist entsprechend kein neues Phänomen, da kulturelle und soziale Merkmale seit Beginn moderner Teilungen in die Konstruktion kategorialer Differenz eingewoben sind, und auch heutige Ausprägungen kultureller und sozialer Gruppenzuordnungen rekurrieren vielfach auf biologische Signifikationen wie Hautfarbe, Physiognomie, Haare, Augen etc. Ob biowissenschaftliche Differenzforschungen deshalb rassistisch sind, ist damit allerdings nicht abschließend zu klären. Hinderlich ist für das Verständnis der derzeitigen Rassifizierungen zudem, dass sich viele Debatten zu Rassismus um die Intentionalität (Ist der Rassist bewusst oder strukturell rassistisch?) und um Werturteile (Ist schon die Einteilung von Menschen in Gruppen oder erst die hierarchisierende Wertung einer gruppenbezogenen Differenz rassistisch?) drehen. Die gesellschaftlichen Dimensionen, sozialen Hintergründe und Effekte biowissenschaftlicher Differenzforschung sind mit derartigen Auseinandersetzungen kaum zu erhellen. Gerade zeitgenössische Rassifizierungen sind – wie sich im Weiteren zeigen wird – dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr vorrangig für den Beweis der Minderwertigkeit der ›Anderen‹ oder zur Erzeugung von Ungleichheiten verwendet werden. Entsprechend wäre die Beschreibung heutiger biowissenschaftlicher Konzeptionen als »Wissenschaftlicher Rassismus« zwar prononciert, in Bezug auf die Unterschiede zu wissenschaftlichen Rassekonzeptionen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber undifferenziert und entsprechend ineffektiv in ihrer kritischen Schärfe. Neben einigen eben angerissenen rassismustheoretischen Unzulänglichkeiten erschwert zudem der Rassismusbegriff mit seinen differenten Bedeutungen die Beantwortung derartiger Fragen. Zu einer Klärung von rassistischen Verhältnissen jenseits von nazistischen Ideologien, diskriminierenden Aussagen und gewalttätigen Angriffen sind viele Rassismustheorien nur begrenzt einsetzbar. Hintergrund dieser Begrenzung ist über die schon beschriebene marginale Stellung der Rassismustheorie im Kanon der Sozialwissenschaften hinaus, dass der Begriff »Rassismus« lange Zeit auch in den kritischen Analysen umstritten war. Befürchtet wurde, dass sein Gebrauch auch die Behauptung einer Existenz von Rassen verfestigen könne. Überdies schien er vielen – nicht nur im deutschsprachigen Kontext – mit dem Rassenrassismus des Nationalsozialismus semantisch verknüpft und entsprechend nicht für aktuelle Gesellschaftsanalysen und -kritiken verwendbar. Aus eben diesem Grund benutzte z.B. die Frankfurter Schule den Begriff zunächst nicht, und deshalb dauerte es noch bis in die 1990er Jahre, bis er sich im deutschsprachigen Raum nach umfangreichen Debatten allmählich etablierte (Demirović 1992; Räthzel 2000).
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Es steckt also eine Problematik im Diskurs um Rassismus, welche die Verwendung des Begriffs für eine Untersuchung der Formen, Veränderungen und Kontinuitäten von Rasse in der Ära der Genetik kompliziert macht. Das heißt keinesfalls, dass die Bezeichnung in Bezug auf die hier vorgenommene Untersuchung nicht sinnvoll wäre und schon gar nicht, dass dem Rassismusbegriff entsagt werden sollte – im Gegenteil. Jedoch bietet sich als analytische Perspektive der hier schon mehrfach verwendete Begriff Rassifizierung an. Dieser ermöglicht es, von den inhaltlichen Debatten über die Einordnung spezifischer Individuen, Aussagen, Behauptungen, Theorien und Meinungen als rassistisch oder nicht abzusehen und darüber hinaus die verschiedenen Prozesse der Rassifizierung, die Dynamiken und Wirkungen mit in die Analyse einzubeziehen (vgl. Rattansi 2007: 107). Als analytische Bezeichnung, der in Relation zu Rassismus steht, dient der Begriff Rassifizierung 22 dazu, die Praxen der Unterscheidung, hier vor allem die vielfältigen Prozesse der wissenschaftlichen Herstellung von Rassen, zu ergründen. Das Gemachtsein von Rassen wird mit diesem Terminus am deutlichsten, aber auch der Begriff Rassismus enthält diese konstruktivistische Bedeutung, da er eine soziale Strukturdimension beschreibt, die als Verhältnis sowohl auf das Verhalten einzelner Individuen wirkt, als auch institutionell spezifische Ungleichheit und Ungerechtigkeit erzeugt. Der Begriff Rassismus prononciert somit einen doppelten Einspruch gegen die Konstruktion von Rasse und gegen die damit verbundenen Hierarchisierungen und Beschädigungen. Rasse, Rassifizierung und Rassismus sind hier also immer mit dem Fokus auf ihre Prozesshaftigkeit, auf ihr Gewordensein und bisher währendes Werden zu verstehen. Wenn Rassismus also (und darin stimmen alle theoretischen Ansätze überein) ein Versuch ist, gesellschaftliche Teilungen zu rechtfertigen, Attribute von Menschen entlang von Gruppenzugehörigkeiten zu ordnen und die Unmöglichkeit der Überwindung dieser Grenzen zu behaupten, dann dient die Untersuchung von Prozessen der Rassifizierung dazu, den ›Erfolg‹ jener Versuche, die Formen ihrer Argumentation, ihre Mittel zur Autorisierung und ihre Wirkungen sichtbar zu machen und zu kritisieren. Für ein Verständnis von Rasse in der Relation Wissenschaft–Gesellschaft ist es somit notwendig, der Wissensproduktion in den
22 Zur Untersuchung wurden in der internationalen Rassismustheorie Begriffe wie »racial formation« (Omi/Winant 1994), »racialisation« (Miles 1991), »race creation« (Goldberg 1993) oder »fabrication of race« (Jacobson 1998) gesprochen. Am gebräuchlichsten sind die Begriffe »raciation« und »racialization« (vgl. Miles 1991; Hannaford 1996: 5; Hund 2010: 21). Im deutschen Sprachraum werden entweder Begriffe wie »Rassenkonstruktion«, etwa in der Übersetzung von Miles 1990, verwendet oder Rassialisierung bzw. Rassifizierung übernommen. Während Rassialisierung sich an den englischen Begriff anlehnt und analog zu Ethnisierung steht (vgl. Arndt 2011), greift Rassifzierung eine Konnontation des lateinischen ficare = machen, tun auf.
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Biowissenschaften zu folgen. Hierfür bedarf es aber zunächst der Klärung des Instrumentariums zum Umgang mit Veränderung und Konstanz des Wissensfeldes rassifizierender Differenzforschung.
Nichts ist wie es bleibt: Zur Fassung von (Dis)Kontinuitäten Der Gates-Fall machte deutlich, wie rassifizierende Zuweisungen in einem Konglomerat aus biologischen Deutungen physischer Marker, sozialen und politischen Bedeutungen sowie Status- und Privilegienzuweisungen erzeugt werden. Weitere aktuelle Thematisierungen biologischer Rassekonzepte wie die von James Watson, einem der bekanntesten Genetiker, zu angeblichen Intelligenzunterschieden von Schwarzen und Weißen (siehe Kapitel »Analytik rassifizierender Gesellschaften«) oder jenen von Thilo Sarrazin machen eine kritische Analyse gegenwärtiger lebenswissenschaftlicher Differenzkonzepte kaum leichter. Zwar besteht in Bezug auf völkische und intentional rassistische Rassekonzepte ein Repertoire an sozial- und politikwissenschaftlichen Analyseansätzen, die auch deren Skandalisierung ermöglichen. Für ein Verstehen und Bewerten neuer Thematisierungen von Rasse in den Lebenswissenschaften lassen sich diese Analysemittel aber höchstens beschränkt einsetzen. Reformulierungen rassifizierender Differenzkategorien, wie sie im Human Genome Diversity Project, bei genetischen Abstammungsanalysen, oder in forensischen, medizinischen und pharmakologischen Forschungen Anwendung finden, (siehe Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«) sind oftmals gerade durch die Inklusion von Kritik gekennzeichnet. Die Ambivalenz und Komplexität aktueller Rassifizierungen zeigt sich an der schon ausgeführten gleichzeitig bestehenden Überzeugung von der »biologischen Bedeutungslosigkeit«, »genetischen Widerlegtheit«, mithin vom ›Ende biologischer Rassekonzepte‹ und dem Urteil jener, die eine Zunahme und Ausweitung bzw. ein Wiederauferstehen, eine Renaissance der Rasseforschung festzustellen meinen. Die divergierenden Einschätzungen zur Aktualität von Rasse erzeugen natürlich Fragen nach der Richtigkeit bzw. Angemessenheit der jeweiligen Zeitdiagnosen. Welche Analyse trifft die Realität am genausten? Welche Rolle spielen Rassekonzeptionen derzeit tatsächlich in den Lebenswissenschaften? Wird in den Wissenschaften ein neues Rasseverständnis konzipiert oder sind die Entwicklungen besser als Veränderungen zu verstehen, in denen es zur Absage an Rasse bzw. mindestens zu grundlegenden Veränderungen des Verständnisses von biologischer Differenz kommt? Zu fragen ist auch, warum aktuell derart gegensätzliche Einschätzungen formuliert werden. Was macht biowissenschaftliche Differenzfor-
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schungen so speziell, dass sie offensichtlich nicht einfach in den bekannten Bildern von Kontinuität, Brüchen oder Veränderungen beschreiben werden können? Für die hier vorgenommenen Erörterungen wäre es möglich, sich auf eine Seite der bestehenden Interpretationen – der Erklärung vom Ende oder der Erneuerung der Rasseforschung – zu schlagen und dann zu versuchen, die ›Richtigkeit‹ dieser jeweiligen Position nachzuweisen. Denkbar wäre auch, beide Positionen auf ihre Vor- und Nachteile, ihre Einsichten und Blindstellen hin zu überprüfen, um schließlich eine mittlere bzw. vermittelnde Position einzunehmen. Erörterungen im Feld der Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte wählen üblicherweise chronologie-fokussierte Darstellungen, in denen entweder wissenschaftlichen und politischen Institutionen gefolgt wird oder aber entlang einzelner Akteure die Tradierung des Untersuchungsgegenstandes und der mit ihm verbundenen Theorien, Ideen und technischen Möglichkeiten erörtert werden (so etwa Kay 2005; Kröner 1998). Vor allem angesichts der Beobachtung, dass die aktuellen Thematisierungen von Rasse mehrere Interpretationen und mit diesen verknüpfte politische Einschätzungen ermöglichen, scheint ein Instrumentarium angebracht zu sein, welches Dynamiken und Veränderungen als ambivalente Prozesse erfassbar macht. Statt etwa akteurszentrierte oder allzu starre strukturfunktionalistische Modelle in Anwendung zu bringen, bieten sich mit der zusätzliche Fragerichtung nach den Gründen vielmehr kontextualisierende interaktionistische und praxeologische Analyseansätze an. Im Folgenden geht es somit darum, sowohl rassifizierende Differenzkonzepte zu beschreiben, als auch den aufgeworfenen Fragen nach Kontinuitäten, Veränderungen und Brüchen zu folgen. Als Bearbeitungsmittel dient dabei ein soziologisches Verständnis, mit dem Rasse als konstitutiv wandelbares Konzept in den Blick genommen wird. Zugegebenermaßen mutet Wandelbarkeit als Konstitutivum von Rasse zunächst paradox an, da sich lebenswissenschaftliche Forschungen zu Rasse doch scheinbar gerade mit den stabilen, in den jeweiligen Menschengruppen gleich geblieben biologischen und insbesondere genetischen Merkmalen beschäftigen. Die Natur biowissenschaftlicher Rassekonzepte soll ja gerade in deren Statik bestehen, d.h. in der Annahme, dass Rasse den kulturellen Wandlungsprozessen nicht (oder kaum) unterliege. In der historischen Perspektive wird jedoch deutlich, dass Rassekonzepte seit ihrer Verwissenschaftlichung und insbesondere seit ihrer Genetifizierung vielfältigen Veränderungen unterlagen. Entsprechend bedarf es einer Analyse, die jene stetigen Veränderungen der als konstant konzipierten rassischen Differenz in den Blick nimmt. Zu untersuchen ist, aus welchem Grund und in welcher Weise die lebenswissenschaftliche Ordnung der Menschen ständigen Wandlungen unterliegt und wie die jeweiligen Konzepte mit einer statischen Kultur kategorialer Unterscheidung zusammenhängen. Die Wandelbarkeit rassi-
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fizierter Differenzkonzepte darf dabei nicht als eine Kontinuitäten negierende Erneuerung missverstanden werden. Vielmehr besteht ein Kopplungsverhältnis zwischen beiden, indem der Neuerungsdrang eine beständige Rekonzeptualisierung von Rasse als biowissenschaftliches Objekt produziert. Entgegen dem üblichen Verständnis von Kontinuität als etwas substanziell Unverändertem, das entlang einer Zeitlinie gleich bleibt, ist ein naiv statisches Verständnis in Bezug auf wissenschaftliche Konzepte und im Besonderen auf Rasse kaum sinnvoll. Konzeptualisierungen unterliegen schließlich in wissenschaftlichen Praktiken einer immerwährenden Reinterpretation. Konstanz und Kontinuität von Konzepten entstehen somit erst in einer stetigen Neukonfiguration unter zeitlich, örtlich und kontextuell wechselnden Bedingungen. Kontinuität ist also immer nur in Relation zu prinzipiell nichtstatischen Bedingungen sozialer Prozesse zu verstehen. Kurz gesagt ist Kontinuität ein Interpretationsergebnis, dessen konstanter Gehalt erst durch variierende Bedingungen und diese Bedingungen und Gehalte vergleichende Analysen erfasst werden kann. Leider wird in vielen bestehenden Analysen und Kritiken zu Rasse nicht von einem analytisch differenzierenden Verständnis von Kontinuitäten ausgegangen, sondern stattdessen eher punktuell etwa der Fortbestand von Ideologien, mit denen eugenische, nazistische oder völkische Verständnisse in Rassenbegriffe tradiert werden, untersucht. Derartig pragmatisch vorgenommene Bewertungen geraten allerdings bei populations- und molekulargenetischen Rassekonzeptionen und umso mehr unter den Bedingungen der Genomik und Postgenomik an ihre Grenzen. Besonders mit den seit während des Zweiten Weltkriegs wirkmächtig formulierten Infragestellungen biologischer Rassekonzeptionen und den in den letzten Jahrzehnten auch innerhalb der Lebenswissenschaften formulierten Absagen an rassische Einteilungen der Menschheit scheinen Weiterführungen von biologischen Rasseverständnissen nunmehr nur unter der Bedingung entschiedener konzeptioneller Veränderungen und Implementationen der Kritiken möglich zu sein. 23 Die sehr unterschiedlichen Einschätzungen zum Stand gegenwärtiger Rassifizierungen resultieren somit – so ist zu resümieren – vor allem in jeweils sehr unterschiedlichen Verständnissen von Kontinuität. Für die Erklärung aktueller Entwicklungen rassifizierter Konzepte ist es deshalb notwendig, statt den Disziplinen, einzelnen Akteuren oder Institutionen zu folgen, vielmehr auf die Dynamiken – also kontingente Bedingungen, nichtdeterminierte Wirkungen, Bewegungen, Verschiebungen – in mehreren Disziplinen, verschiedenen wissenschaftlichen Feldern und an unterschiedlichen Gegenständen zu fokussieren. Somit gilt es, die Modernisierungen von Rasse aus möglichst vielen Perspektiven in Relation zu politischen und Alltags-Thematisierungen zu betrachten. 23 Siehe hierzu auch die Ausführungen im Kapitel »Analytik rassifizierender Gesellschaften«.
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Zur Debatte steht in der Rekonstruktion rassifizierender Differenzforschung deshalb auch, wie Dis/Kontinuitäten von wissenschaftlichen Konzeptualisierungen, Forschungspraxen und deren Verwobenheit mit sozialpolitischen Kontexten erfasst werden können. Als fehlenden Teil der hierfür notwendigen Grundlagen und Perspektiven bedarf es noch einer Klärung semantischer Aspekte.
Begriffe und Semantiken »Rasse ist ein böses Wort«, pointiert der Sozialwissenschaftler Paul Mecheril: »es sticht, es tut weh, kein anderes Zeichen, das besser paßte«, um die Realität rassistischer Ordnung zu benennen und deren Hierarchie und Gewalttätigkeit nicht zu unterschlagen (1997: 198). »Rasse« – um diesen gewaltvollen Begriff, der in der vorliegenden Arbeit im Zentrum steht, kreisen alle hier vorgenommenen Thematisierungen, Problematisierungen, Analysen und Kritiken. An ihn heften sich die hier verhandelten Fragen nach seiner Aktualität in den Lebenswissenschaften, nach seiner Persistenz trotz vielfältiger Einwände und nach seinen konzeptionellen Veränderungen. Unübersehbar ist, dass dieser Terminus in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedliche Bedeutungen hat. Aus den Erörterungen zu Rassismustheorien, der Geschichte und Modernisierung von Rassekonzepten sowie der Soziologie von Rassifizierung und Rassismus wird deutlich, dass er in unterschiedlichen Disziplinen als beschreibender, als politischer und als skandalisierender Begriff verwendet wird. Die offensichtliche Unmöglichkeit einer beständigen und klaren Definition hat ihn auch historisch außerordentlich wandelbar gemacht. Diese Unklarheit bestärkte den Gebrauch des Begriffs eher, als ihn zu beschränken, seine Offenheit für allerlei soziale und politische Zuschreibungen hat ihn schließlich zur Kategorie einer der zentralen Teilungsdimensionen der westlichen Moderne werden lassen und nach wie vor zirkuliert er sowohl im Alltagswissen als auch in biowissenschaftlichen Disziplinen. Darüber hinaus findet er sich aber auch in postkolonialen Interventionen und kritischen Studien zu Weiß-Sein, in sozialwissenschaftlichen Analysen zur Benennung von rassifizierten und rassistischen sowie zur Benennung und Bekämpfung von (de-)privilegierenden Strukturen bis hin zu juristischen Einlassungen zur Gleichstellungsgesetzgebung. Trotz seines Alters ist Rasse ein äußerst unklarer Begriff: Was bezeichnet er? Eine Menschengruppe? Wozu? Ist der Begriff Ergebnis oder Ursache sozialer Teilungspraktiken, von Ungleichbehandlung, Unterdrückung, Ausbeutung und Exklusion? Repräsentiert Rasse die mörderische Seite der europäischen Moderne, des Kolonialismus, Kapitalismus und der fortbestehenden Segregation sozialer Gruppen? Rasse ist umstritten, gerade weil der Begriff sticht, weil er verletzt, weil er
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ein beschädigender und herrschaftlicher Begriff ist. Und weil er trotz seines so umfangreichen Bedeutungsgehaltes für viele Gebrauchsweisen nicht richtig passt. Insbesondere in den emanzipativen Debatten und Kämpfen erscheint dieser Begriff oft unzureichend und ambivalent. Anschaulich wird dies unter anderem in der Äußerung ›Rassen gibt es nicht!‹ Diese wird vielstimmig konstatiert, ist aber nahezu kontrafaktisch mit einer Gesellschaft konfrontiert, die nach Rassen unterteilt und damit verkoppelter Diskriminierungen, Angriffe und Missachtungen ausübt. Mithin gibt es gute Argumente sowohl für, als auch gegen die Verabschiedung des Rassebegriffs. Schon der Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld meinte 1938, dass »wir gewiß gut daran täten, den Ausdruck ›Rasse‹ zu streichen« (1938: 57), da er Differenzen zwischen Menschen behaupte, die inakzeptable Wirkungen hätten. Seitdem gab es vielfältige Versuche, den Begriff durch andere wie etwa »Ethnizität« zu ersetzen oder aber ihn durch analytische Vokabeln und Konzepte wie »Rassismus« und »Rassifizierung« abzulösen, die der Behauptung von Rassen widersprechen und zugleich rassistische Verhältnisse kritisieren (siehe UNESCO 1950: 6). Doch trotz aller Kritik persistiert der Begriff in alltagsweltlichen ebenso wie in bio- und sozialwissenschaftlichen Debatten und Praxen. Dem Hinweis von Mecheril – dass Rasse ein böses, aber passendes Wort sei – ist somit zuzustimmen: Kein anderer Begriff vermag bisher so deutlich auszudrücken, welche Probleme Segregation anhand von Konzepten wie Herkunft, Abstammung und physischer Marker erzeugt. Rasse sticht, das Wort tut weh, aber es bezeichnet etwas, dessen adäquate Bezeichnung für eine Analyse dieser Situation unabdingbar und für eine Überwindung dieser Verhältnisse notwendig erscheint. Auch in dieser Untersuchung geht es um eine solche Benennung und damit Sichtbarmachung, nämlich jener Bereiche der Lebenswissenschaften, die aktuell mit Rassemodellen hantieren, rassifizierende Forschungen betreiben sowie Rasse als wissenschaftliches Konzept entwickeln und modernisieren. Dem Rassebegriff wird also in dieser Arbeit ein analytischer Wert zugesprochen, mit dem die Brisanz lebenswissenschaftlicher Forschungen zu biologisch-hereditären Gruppenzugehörigkeiten verdeutlicht wird. Bei aller Unklarheit aufgrund seiner Bedeutungsvielfalt besticht der Begriff dennoch aufgrund dessen, dass er eben kein rein beschreibender, analytischer oder gar abstrakter ist. Neben der heuristischen und skandalisierenden Anwendung des Begriffs geht es im fünften Kapitel zur »Analytik rassifizierender Gesellschaften« auch um eine Erörterung der Auseinandersetzung um Potentiale und Gefahren des sozialwissenschaftlichen Gebrauchs des Rassebegriffs und seines englischen Pendants race. Rasse (und ebenso race) nehmen somit auch in dieser Arbeit mehrere Bedeutungen und Funktionen an, die im Kontext der weiteren Erörterungen deutlich werden. Der hauptsächliche Zweck der Verwendung des Begriffs liegt dabei in der Heraus-
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stellung seines problematischen biologistischen und kategorialen Bedeutungsgehaltes. Rasse dient in dieser Untersuchung zuallererst als Bezeichnung für jene Unterscheidungen menschlicher Gruppen anhand biologischer Merkmale, die mit erblicher Stabilität und geographischer Herkunft verknüpft wurden. Entsprechend ist er zum einen ein Diskurszitat aus lebenswissenschaftlichen Konzepten mit einem biologischen Sinngehalt. Zum anderen dient er als kritische Analysekategorie, mit der die soziale Bedeutungszuweisung – in diesem Fall die biowissenschaftliche Produktion von rassifizierter Differenz – kenntlich gemacht werden kann. Kurz gesagt: Rasse ist als durch Rassifizierung und Rassismus hervorgebrachte soziale Kategorie zu verstehen. Der Begriff benennt also die Ergebnisse wirkmächtiger gesellschaftlicher Prozesse der Teilung und Zuweisung und macht deren Realitäten beschreibbar und analysierbar. Um das soziale Hergestelltsein in Schriftform zu verdeutlichen, existieren verschiedene Vorschläge. Die meisten kritischen und antirassistischen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum setzen den Begriff Rasse in doppelte oder einfache Anführungszeichen. Andere, vor allem sich auf postkoloniale und Critical Race Studies beziehende Publikationen verwenden die englische Vokabel race, da diese – gegenüber dem deutschen Begriff Rasse – einen haltbareren sozialen, kulturellen und politischen Bedeutungsgehalt habe (vgl. bspw. Arndt 2002; Arndt/Hornscheidt 2004b; Tischleder 2001; vgl. auch U.S. Census Bureau 2001). Analog zum englischen Begriff gender, der zur Verdeutlichung der sozialen Dimensionen von Geschlecht auch in der deutschen Wissenschaftssprache etabliert wurde, wird mitunter gehofft, eine solche Begriffstransformation auch für »Race« vornehmen zu können (vgl. Arndt 2004; Dietze etௗal. 2007b). Weitere Autorޚinnen kritisieren dagegen den Gebrauch des Begriffs race wegen seiner nach wie vor immanenten »Naturalisierungsanfälligkeit« und der konstitutiv mit ihm verbundenen Rekurse auf körperliche und vermeintlich natürliche Evidenzen, wodurch unproblematische Bezugnahmen auf race ebenso wie auf Rasse nicht möglich seien (Kerner 2009b). Der Begriff beinhalte die »Gefahr der Verharmlosung«, da »Race als einen kritischen Terminus zu deklarieren«, die in ihm steckenden Ambivalenzen verwische und eine Neutralität suggeriere, die er niemals besessen habe (Wollrad 2005). In den deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und Interventionen, in denen der Begriff Rasse als Analysekategorie oder deskriptiver Terminus verwendet wird, sind weder der Gebrauch noch die Schreibung einheitlich. Zwar überwiegt die Verwendung von Anführungszeichen, aber ohne eine allgemeine Einigkeit. So kritisiert etwa die feministische Philosophin Cornelia Klinger neben terminologischen Ausweichmanövern wie der Verwendung der Begriffe Ethnie/Ethnizität statt Rasse auch die Verwendung von Anführungszei-
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chen, da diese »bloß kosmetischen Wert« hätten und lediglich geeignet seien, die »zugrunde liegenden sachlichen Härten sprachlich zu mildern und zu vertuschen« 24 (2003: 38). Manche Sozialwissenschaftlerޚinnen argumentieren ähnlich, wenn sie die Strukturkategorie Rasse als »enorm wirksam« und »Tag für Tag verantwortlich für großes Leid« ausweisen und fragen: »Wieso sollten wir diesen brutalen Begriff mit Anführungszeichen relativieren und damit banalisieren?« (Winker/Degele 2010: 9; vgl. Degele 2008: 96). Die Soziologin Manuela Boatcă problematisiert darüber hinausgehend die paradoxe Situation, in der sich die Phänomene wie Rassismus und soziale Prozesse wie Rassifizierung scheinbar gegenstandslos ereignen, da ihre Grundkategorie unaussprechlich bleibe. Als Effekt dieser scheinbaren Unausprechlichkeit sei der Begriff »Rasse« im deutschsprachigen Diskurs unterthematisiert und untertheoretisiert (Boatcă 2010: 125). Einige Sozialwissenschaftlerޚinnen andere verwenden die Schreibung ohne Markierungen, begründen dies aber nicht weiter, sondern weisen den Begriff inhaltlich als soziale Konstruktion, politische Kategorie oder als Strukturbegriff aus (Becker 2005; Bös 2005; Geulen 2007, 2004). Vorherrschend ist im Deutschen jedoch die Schreibung in Anführungsstrichen, die von Hirschfeld bereits Mitte der 1930er Jahre vorgeschlagen wurde, »um zu zeigen«, dass das Wort und Konzept »fragwürdig sind« (Hirschfeld 1938: 57). Von antirassistischen Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1980er Jahre wurde der Rassebegriff zumeist nicht als analytische Kategorie gefüllt und entsprechend vermieden oder lediglich historisch gebraucht. 25 In Referenz auf kritische Texte, insbesondere der Cultural Studies etablierte sich ab Anfang der 1990er Jahre auch im Deutschen die Schreibung in Anführungsstriche als Abgrenzung zur biologischen/biologisierenden Bedeutung. Dies erfolgte auch aufgrund eines »Übersetzungsproblems« die bei der Übertragung etwa von Texten Stuart Halls oder Étienne Balibars auftraten. So wurden auch Texte, in denen im Original race ohne Hervorhebung Verwendung fand, im Deutschen mit doppelten oder einfachen Anführungsstrichen versehen (Hall 1989, 1994). 26 Später kamen noch die Kursivschreibung sowie die Beibehaltung der englischen Vokabel hinzu.
24 In späteren Publikationen ändert Klinger diese Ansicht wieder. So verwendet sie in einem Text von 2007 wieder Anführungsstriche (Klinger/Knapp 2007), während sie in einer Publikation von 2008 (bis auf eine Ausnahme) wieder verschwunden sind (Klinger/Knapp 2008; Knapp 2008a). 25 Ein analytischer Gebrauch von Rasse ohne Anführungsstreiche findet sich beispielsweise in Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986). 26 Das ›Übersetzungsproblem‹ besteht nach wie vor, wie etwa eine Übersetzerin ausführt, dass im Deutschen »im Allgemeinen in einem beinahe automatisierten Reflex mit der Setzung obligater Anführungszeichen« auf die Schwierigkeiten mit dem Begriff reagiert werde (In: Mbembe 2008: 90).
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Aktuell wird im Kontext kritischer Arbeiten mit Bezugnahmen auf postkoloniale Ansätze der critical race- und critical whiteness-Analysen, ›Rasse‹ üblicherweise mit einfachen Zeichen ausgewiesen (vgl. z.ȺB. Eggers etௗal. 2005; El-Tayeb 2003; Dietze etௗal. 2007a; Ha 2009; Hutson 2009, 2007). Angelehnt wird sich dabei zumeist an die Schreibweisen in vielen (linken) englischsprachigen Publikationen, in denen eine Apostrophierung von ’race’ vorgenommen wird (z.ȺB. Gissis 2008; Gilroy 2000; Kilomba 2008; Miles 1991; Reardon 2005; Wade 1993 27). In einigen Texten versuchen die Autorޚinnen mit einer Unterscheidung zwischen einem in doppelte Anführungszeichen zu setzenden Diskurszitat »Rasse« und der kritischen Analysekategorie ›Rasse‹, die in Ermangelung eines besseren Begriffs mit einfachen Anführungsstrichen als problematisch gekennzeichnet werde, die Schwierigkeiten des Begriffs differenzierter zu kennzeichnen (AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften 2009: 17), oder sie setzen Rasse in der biologistisch konstruierten Bedeutung von der kursiv gesetzten kritischen Wissens- und Analysekategorie Rasse ab (Solomos 2002; Eggers etௗal. 2005: 12Ⱥf.). Wieder andere sprechem dem Begriff grundsätzlich einen analytischen Status ab und schreiben ihn aus diesem Grund in Anführungszeichen, da »Rasse« nicht zugleich Objekt und konzeptuelles Werkzeug der Analyse, explanandum und explanans, sondern nur ein zu konstruierendes Objekt sein könne (Wacquant 2001: 61; vgl. auch 1997). Auffällig ist, dass es vielmals dieser »diskurstechnischen Absicherungen« (Ha 2009: 204) bedarf, um herauszustellen, dass es keine menschlichen Rassen gebe (Arndt 2004: 200) oder um zu betonen, dass es sich um eine »soziale Konstruktion«, um das »Ergebnis gesellschaftlicher Bedeutungszuweisung« handele (Dietze etal. 2007b: 16). Beachtenswert erscheint, dass Rasse bisher zumeist dieser zusätzlichen Zeichen bedarf, während andere Begriffe als wissenschaftliche Termini (wie etwa Geschlecht, Sexualität, Körper etc. 28) ohne derartige institutionalisierte Disclaimer auskommen. Aber Rasse ist keinesfalls der einzige Begriff, dem spezielle Markierungen zugewiesen werden. Vor allem im Kontext poststrukturalistischer Theorieansätze existiert eine Reihe semantisch orientierter und repräsentationskritischer Ausweisungen, mit denen etwa der politische Gehalt von Begriffen wie Schwarz sowie die »Konstruktionshaftigkeit« der Bezeichnung weiß durch Kursivsetzung oder Großschreibung dieser Adjektive hervorgehoben wird (Arndt/ Ofuatey-Alazard 2011; Arndt/Hornscheidt 2004a; Eggers etௗal. 2005: 13; Wollrad 2005: 20). Andere Begriffe werden mit Sternchen * oder Unterstrich ޚversehen,
27 In seinem gleichnamigen, aber neun Jahre später erschienen Buch setzt Wade nur noch selten Anführungsstriche (2002: 4ff.). 28 Diese Unterscheidung findet bisweilen sogar in einem direkten Zusammenhang statt. So schreiben etwa Dietze etௗal. »Analog zu unserem Verständnis von Gender begreifen wir auch ›Rasse‹ als Ergebnis gesellschaftlicher Bedeutungszuweisung« (2007: 16).
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um Repräsentationsräume schriftsprachlich sichtbar zu machen (sޚhe 2003; Hermann 2004; Baumgartinger 2008; sowie verschiedene Beiträge in NdukaAgwu/Hornscheidt 2010). Neben der Problematisierung und Distanzierung, die mit den Anführungszeichen vorgenommen werden, gibt es noch eine weitere Funktion, nämlich die noch nicht ausreichende wissenschaftlich-analytische Etablierung einer Bezeichnung anzuzeigen. Eine solche Markierung wird insbesondere bei wissenschaftlichen Begriffen vorgenommen, die sich im Übergang von einem Alltagsgebrauch in wissenschaftliche Kontexte befinden. Diese ›szientifische Aneignung‹ wird zunächst durch das In-Anführungszeichen-Setzen vorgenommen (vgl. Bachelard 1974: 208f.) 29. Wieder weggelassen werden diese Zeichen dann, wenn die Übersetzung des umgangssprachlichen Begriffs in eine wissenschaftliche Sinngebung vollzogen wurde. Entsprechend ist »Rasse« etwa in Max Webers Ausführungen zur »Rassenzugehörigkeit« in seinem Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« (1922) zunächst in Anführungsstrichen gesetzt und wird im Weiteren von ihm ohne diese verwendet. Dieser »Bruch«, diese »Reform des Wissens«, die der Philosoph Gaston Bachelard in Bezug auf die Verwissenschaftlichung von Begriffen beschreibt, konnte mit dem Wort »Rasse« bisher anscheinend nicht wirklich vollzogen werden. Rasse steht also – so lässt sich an dieser Stelle zunächst resümieren – für die Behauptung einer »ultimativen, nicht reduzierbaren Differenz« zwischen Menschengruppen (Gates 1993: 5), als eines Produkts darauf beruhender vielfältiger Praktiken der Kategorisierung und Zuweisung vermeintlicher Andersheit, der Hierarchisierung und Ausbeutung aber auch der Benennung und Identifizierung sozialer Ungleichheit reichen. Daraus folgt, dass dieses »stechende Wort« – dessen Sinngehalt historisch mit unermesslichem Leid und Tod und aktuell mit rassistischen Verhältnissen verbunden ist – weder ein herkömmlicher, unkomplizierter wissenschaftlicher Begriff noch ein harmloses Analyseinstrument sein kann. Diese Problematik und gewaltige Ambivalenz des folgenreichen Begriffs und seiner aufgeladenen Verwendungen wird auch in den weiteren Erörterungen immer wieder deutlich. Die Bedeutungsschwere des Begriffs steckt jedoch in ihm, in seiner Konzeption, der wissenschaftlichen wie institutionellen und interaktionellen Füllung. Da sich die Studie genau diesem Inhalt in seinen verschiedenen Facetten widmet, ist es hier angebracht, auf die stetig alarmierende Apostrophierung zu verzichten. Statt eine vorsichtige Distanz zu versuchen, wie sie sich auch in der englischen Formulierung scare quotes ausdrückt, geht es hier gerade darum, dem verschreckenden Gehalt des Begriffs, der verschiedenen Konzeptionen und der mit ihnen verbundenen Argumentationen auf den Grund zu gehen. Hierfür ist den Seman29 »Der Ausdruck in Anführungszeichen erhebt die Stimme. Er nimmt, oberhalb der Umgangssprache, den wissenschaftlichen Ton an.« (Bachelard 1974: 209)
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tiken sowohl durch die Geschichte als auch in den einzelnen ReKonzeptionen zu folgen. Statt eine mögliche »falsche« Begriffsbedeutung mit Anführungsstrichen zu kennzeichnen, sollen somit vielmehr in einer gesellschaftskritischen Perspektivierung die Gebrauchsweisen von Rassekonzepten sichtbar gemacht werden. Zur Artikulation gesellschaftlicher Stratifizierung und zur Sichtbarmachung von Materialisierungen sozialer Ungleichheit muss der Rassebegriff als sozial manifester verwandt werden. Eine Apostrophierung symbolisiert dagegen die Abgrenzung von einem biologischen Gebrauch und steht damit in der Gefahr, die Debatte in der Biologie zu belassen. Doch die gesellschaftlich erzeugten Ungleichheiten lassen sich ebenso wenig wie rassifizierende und rassistische Praktiken durch Anführungsstriche entschärfen. Gerade weil Rasse eben kein objektiver Klassifikationsbegriff, sondern »in Wirklichkeit aber eine gefährlich Trope« (Gates 1993: 5) ist, muss sich ihr mit all ihren Problemen gestellt werden. Vor diesem Hintergrund nimmt die Gesamtargumentation nunmehr ihren historisierenden Faden auf, um dem Begriff Rasse in seinen veränderlichen Konzeptualisierungen, Ausprägungen, Anpassungen und Bedeutungsgehalten durch die Zeit bis hin zu seinen aktuellen Modernisierungen zu folgen und ihn abschließend einer substanziellen sozialwissenschaftlichen Kritik zu unterziehen.
Kapitel Zwei
Geschichte: Die Vergangenheit untersuchen, um die Gegenwart zu destabilisieren What race was is not what race is, but understanding how it has been constructed in the past is essential to understanding and contributing to debate about its current construction. Michelle Brattain 2007: 1413
Rasse hat Geschichte. Durch die Zeiten steht der Begriff für barbarische Konzepte, die an wissenschaftlichen Rassismus, die Vernichtung der europäischen Jüdޚinnen sowie die Versklavung, Ausbeutung und Ermordung der Kolonisierten denken lassen. Zwar sind die Konnotationen des Terminus je nach geopolitischer Verortung unterschiedlich in ihrer Gewichtung: So schultert das englische »race« vor allem die Semantik des Kolonialismus, die Verschleppung und Versklavung von Schwarzen, die Ermordung und Vertreibung der Einwohnerޚinnen der Amerikas sowie die rassistischen Lynchmorde Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA. Darüber hinaus ist der Begriff assoziiert mit der bis 1994 bestehenden Apartheitspolitik in Südafrika sowie rassistischen Diskriminierungen, die Ausgangspunkt zahlreicher bis zur Gegenwart andauernder Kämpfe der Befreiungsund Bürgerrechtsbewegungen von Schwarzen und People of Color waren. Demgegenüber ist »Rasse« im deutschen Kontext vordringlich mit dem Nationalsozialismus, mit Politiken der Sterilisierung, Deportierung und Ermordung von Millionen nicht dem imaginierten Typus der »arischen Rasse« entsprechenden Menschen und erst in zweiter Hinsicht mit kolonialistischen Konnotationen verknüpft. Gemein haben diese unterschiedlichen Bedeutungen von Rasse jedoch, dass sie eine spezifische historische Belastung des Begriffs kennzeichnen.
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Für eine Klärung der heutigen Verwendungsweise, Bedeutungen und Effekte von Rasse in den Lebenswissenschaften ist es aufgrund dieser Last des Begriffs und der damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Konzepte notwendig, sich mit der Entstehungsgeschichte, mit dem Gewordensein dieser Ordnungs- und Teilungsdimension zu befassen. Entgegen der Vorstellung von Rasse als einem neutralen und die Natur lediglich beschreibenden Begriff soll hier vielmehr das gesellschaftliche Eingebundensein solcher Kategorisierung mit dem Fokus auf wissenschaftliche Aussagesysteme in den Blick genommen werden. In dieser Perspektive ist Rasse nicht ohne eine Erörterung der Geschichte des Rassismus und die aktuelle Realität nicht ohne ein Verständnis der Geschichte nachvollziehbar. Kurz gesagt: Um die Aktualität von Rasse erklären zu können, ist eine Beschäftigung mit der Geschichte des Rassismus unentbehrlich. Dabei ist für die Analyse gegenwärtiger Konzepte rassifizierter Differenz zu rekonstruieren, wie Rasse welche Wirkungsmacht innerhalb von wissenschaftlichen Erörterungen erlangen konnte, welche Relationen zu Alltagsmythen und -praktiken bestanden und umgekehrt, welche Auswirkungen wissenschaftliche Rassismen auf Politiken sozialer Stratifizierung hatten. Die Erörterung der Historie von Rasse von der Entstehung der europäischen Moderne bis in die Auseinandersetzungen um das Konzept nach dem Zweiten Weltkrieg dient also dem Verständnis aktueller Rassekonzeptionen. Geklärt werden kann mit dem Blick auf die Geschichte von Rasse, welche Funktionen das Teilungskonzept übernahm und welchen Wandlungen es dafür unterzogen wurde. Für eine solche Klärung sind vor allem folgende Fragen wesentlich: Wie entstanden rassis(tis)che Teilungen? Welche Bedeutungen hatte die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Taxonomiekonzept? Welche Auseinandersetzungen wurden um die jeweiligen Konzeptionen geführt? Darüber hinaus ist mit zu klären, welche Wirkungen wissenschaftliche Rassekonzepte auf stratifikatorische Praktiken erzeugten sowie welche Relationen zwischen gesellschaftlichen Teilungen und wissenschaftlichen Konzepten bestanden. Die folgende Historisierung fußt dabei auf zwei scheinbar konträren Basisannahmen: erstens einer Kontinuität und zweitens einer emergenten Neuordnung von Rasse in den zeitgenössischen Ansätzen. Die erste These entspricht eher den klassischen historischen Vorstellungen einer (in Teilen gebrochenen) Konstanz, die zweite folgt einer in poststrukturalistischen Zugängen verbreiteten Herausarbeitung der Brüche und sich verändernder und reorganisierender Strukturen. Während unter der Konstanzannahme vor allem bestehende Wirkungen von Rassekonzepten untersucht werden können, reicht eine solche Perspektive aber nicht aus, um neben der Konstanz auch die Erneuerungen zu erklären. Hierfür ist es notwendig, die aktuellen Rassemodelle auf ihre ›historische Hypothek‹ hin zu
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befragen und darüber hinaus die Eigendynamiken der jeweiligen Kämpfe um Rasse zu analysieren. Grundlage dieser Historisierung ist zum einen die Verortung von Rasse und Rassismus in der europäischen Moderne, zum anderen die These, dass es für die Erklärung der Entwicklung und Persistenz rassifizierter Differenz gesellschaftstheoretischer Instrumentarien bedarf. Entsprechend ist gerade eine historische Analyse notwendig, welche die Wandelbarkeit bei gleichzeitiger Beständigkeit von Rassemodellen untersucht. Dafür werden nun zunächst die Geschichte des Rassebegriffs sowie dessen Verwissenschaftlichung erörtert und im Anschluss mit den verschiedenen Entwicklungen nach 1945 sowohl die Brüche, Kritiken und Absagen als auch die Weiterführungen von Rassekonzepten nachgezeichnet.
Gesellschaftliche Funktionalitäten von Rasse Ein wichtiger Zugangsweg zur Erklärung von Rassismus ist, dessen historische Ausprägungen zu untersuchen. In diesem Sinne verfahren viele Ansätze, indem sie anhand der vermeintlich transhistorischen und transkulturellen Gemeinsamkeiten von Rassismen eine allgemeine Geschichte des Rassimus (im Singular) rekonstruieren. In einer Reihe historischer Arbeiten wurden in dieser Weise rassifizierte Teilungs- und Unterdrückungspraktiken, die Zuordnung von Menschen zu hierarchisch geordneten Gruppen sowie die damit verbundene Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung untersucht. 1 Mit den in diesen Arbeiten aufgefundenen Übereinstimmungen verschiedener zeitlich und örtlich auftretender Rassismen wird deutlich, dass Machtstrategien der Absonderung und Hierarchisierung von Menschengruppen keine Erfindung neuerer Zeit sind. Vielmehr ist für alle Epochen seit der Antike gezeigt worden, dass die Verbindung von Herrschaft und Teilungs- und Hierarchisierungspraktiken sehr funktional und produktiv für die Aufrechterhaltung der jeweiligen hegemonialen Strukturen war. Demgemäß argumentieren manche Rassismustheoretikerޚinnen dafür, die Ursprünge von Rassismus schon in den ersten schriftlichen Überlieferungen, wie etwa in der Sonderung und Abwertung der Barbaren durch die Griechen zu verorten (Detel 1995; HeringௗTorres 2006; Hund 2007). Zweifellos lassen sich einige Faktoren rassistischer Praktiken sowie die antijudaistische Ausgrenzung als konstitutive Merkmale insbesondere für die europäische Geschichte belegen. Ebenso lassen sich schon für die Antike und alle 1
Grundlegende Arbeiten, die über eine Historisierung gegenwärtige Rassismen zu verstehen suchen sind z.B. Fredrickson 2004; Geulen 2007; Gilroy 2000; Hering Torres 2006; Hund 2007, 2006; Koller 2009; Memmi 1992; Priester 2003.
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nachfolgenden Zeiten philosophische bzw. in einem weiten Sinne wissenschaftliche Rechtfertigungen von Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung finden. Den dabei verwendeten Argumentationsmustern ist bei allen Differenzen gemein, dass den ›Anderen‹ Triebhaftigkeit und Mangel an Vernunft zugeschrieben sowie die Herrschaftsfähigkeit abgesprochen wurde und damit die Versklavung oder der Ausschluss der so konstruierten Gruppe legitimiert werden konnte. Außerdem sollten schon frühzeitig zahlreiche Analogien zwischen verschiedenen (teil)ausgeschlossenen Gruppen wie Frauen, Barbaren, Kindern und Tieren die zugeschriebene Inferiorität der jeweiligen Gruppenmitglieder anhand der schon allseits anerkannten Unterlegenheit anderer verdeutlichen. So herrschen bei Aristoteles (384322 v.u.Z.) »von Natur aus« die Älteren über die Jüngeren, die Männer über die Frauen und die Griechen über die »Barbaren« – über »Barbaren« u.a. weil bei jenen »das Weibliche und das Regierte denselben Rang« einnähmen und diese somit nicht zu einer differenzierenden Herrschaft, sondern nur zu einem Dasein als Sklaven befähigt seien (1998: 1252a). Die jeweilige Form der Wissensproduktion hat somit schon in der Frühzeit ihrer schriftlichen Überlieferung dazu gedient, abwertende Zuschreibungen zu untermauern und damit Herrschaftsansprüche zu legitimieren. Bis in die Neuzeit diente dieses Wissen etwa dazu, die bestehenden gesellschaftlichen Stratifizierungen als »gottgegeben« zu rechtfertigen. Allerdings tendieren solche historisierenden Arbeiten, die nach antiken Formen gegenwärtiger Rassismen und dem Ursprung rassischer Teilungen forschen, oftmals dazu, (Herrschafts-)Praktiken der Antike, des Mittelalters und der Moderne unter derselben Folie zu betrachten und damit Unterschiede einzuebnen. Missdeutungen wie die einer teleologisch linearen Entwicklung von der Antike bis zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden während des deutschen Nationalsozialismus werden damit möglich. Eine solche Darstellung impliziert eine logische, unabwendbare Entwicklung und vernachlässigt so die jeweiligen Kontexte, die sozialen Kämpfe und sehr unterschiedlichen Machtstrategien, die mit rassistischen und antisemitischen Praxen verbunden sind und waren. Außerdem werden Besonderheiten sowie die Brüche und Unvereinbarkeiten einzelner Ausprägungen von Rassismus tendenziell unsichtbar. Die Spezifika des wissenschaftlichen Rassismus sowie der eugenischen und auf Vernichtung zielenden Rassismen bis hin zum Neorassismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich damit kaum ausreichend beschreiben und aktuelle Rassismen und Rassifizierungen in ihrer Spezifik nicht adäquat erfassen. Im Folgenden wird deshalb auf die Besonderheiten der europäischen Neuzeit und westlichen Moderne fokussiert – und zwar aus dem Grund, dass sich mit der Moderne eine Zäsur in den Formen und den Dimensionen der Machtstrategien und Teilungspraktiken vollzog, die es für ein Verständnis von Rasse zu klären gilt.
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Die Veränderungen in der Produktionsweise, die kolonialen Eroberungen, die Nationalstaatenbildung und die Herausbildung der sich disziplinär aufgliedernden Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hatten, so die hier verfolgte These, derart bedeutende Auswirkungen auf die Denk- und Handlungsweise zu Rasse, dass sie nicht von diesem Kontext losgelöst und nicht ohne diesen verstanden werden können. Die Revolutionierung der Wissenschaften ab dem 17. Jahrhundert ist für diese Studie von besonderem Interesse, denn mit der Entwicklung der Wissenschaften zu einer der tragenden Institutionen säkularer Herrschaft wurden auch rassistische Strukturen und Praktiken immer mehr durch (bio-)wissenschaftliche Erklärungen gerechtfertigt. Die rassistische Stratifizierung der Welt wurde im Zuge einer Ausweitung und schließlich dem Erreichen einer Vorrangstellung wissenschaftlicher vor religiöser Welterklärung ebenfalls verwissenschaftlicht. Kurz: Rassismus wurde wissenschaftlich und Rasse zu einem wissenschaftlichen Konzept. Dass diese Neuerung zu einer substanziellen Veränderung rassistischer Theorien und Praktiken führte, wird im Folgenden dargelegt.
Differenzen und Teilungen der Moderne Mit den europäischen Eroberungen auf dem afrikanischen Kontinent ab Beginn des 15. Jahrhunderts und der Kolonialisierung der gesamten Welt entwickelte sich eine neue Qualität und Quantität an Auseinandersetzungen über die Unterschiede der Menschen. Diese Gleichzeitigkeit ist nicht lediglich eine Koinzidenz, sondern steht in unmittelbarer Verbindung mit veränderten gesellschaftlichen Anforderungen, in denen kolonialistische Eroberungen und damit verknüpfte Praktiken gerechtfertigt werden mussten und ständische Sozialordnungen allmählich durch neue sozioökonomische Ordnungen und soziale Mobilitätsanforderungen verschoben wurden. Mit der kolonisierenden ›Entdeckung‹ wurden Ausbeutung, Ermordung und Versklavung von Menschen allgegenwärtig, kollidierten jedoch mit den bestehenden christlichen Schöpfungsvorstellungen sowie schließlich mit den universalistischen Idealen der Aufklärung und den damit verbundenen Gleichheitspostulaten, wie sie etwa im Zuge der französischen Revolution kodifiziert wurden. Waren soziale Hierarchien bis in die Frühe Neuzeit durch eine göttliche oder ständische Ordnung feudaler Systeme legitimiert, bedurfte es infolge des Widerspruchs zwischen Kolonialismus und seinen Folgen und der Proklamierung aufklärerischer Freiheitsrechte eines neuen Rechtfertigungssystems. Während die jüdisch-christliche Religion eine Rechtfertigung des Leidens auf Erden angesichts von Gottes Allmacht und Güte benötigte, erfordert eine Gesellschaft, die Gleichheit und Gerechtigkeit zum Credo macht, der Rechtfertigung ihrer Un-
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gleichheiten und Ungerechtigkeiten. Das, was Pierre Bourdieu in Anlehnung an Max Webers religionssoziologische Arbeiten zum Theodizeeproblem (Rechtfertigung Gottes) als »Soziodizee« benennt, macht deutlich, welche inneren Probleme die Neuordnung der Moderne erzeugte (Bourdieu 1993: 252). »Dem Selbstanspruch nach darf die ›moderne Gesellschaft‹ nicht auf Verhältnissen basieren, die ihrem eigenen Begriff widersprechen.« (Knapp 2010: 239) Unrecht und Ungleichheit sind in der Ordnung der Moderne entsprechend Unmöglichkeiten und nur auf Basis meritokratisch erlangter Unterschiede legitimierbar. Die Widersprüche innerhalb dieser neuen Ordnung und zwischen traditionalen und neuen bzw. ausgeweiteten Machtformen trieben dazu an, eine neue, diesen Antagonismus umgehende Rechtfertigungsordnung zu installieren und abzusichern. Somit ist die immense Erweiterung und Wirkungsmachtzunahme des Rassediskurses als Teil der umfangreichen gesellschaftlichen Veränderungen in der Herausbildung der europäischen Moderne zu sehen. Denn Rasseeinteilungen und rassische Hierarchisierungen konnten einen Großteil der Unvereinbarkeiten zwischen aufklärerischen Gleichheitspostulaten und christlichen Moralkodizes auf der einen Seite und den Praktiken in den Kolonien auf der anderen produktiv auffangen. Wenn rassische Ordnungssysteme auch nie das Ungleichheitsproblem der Moderne lösen konnten, so entstand doch mit der Unterteilung und Hierarchisierung der Menschheit in verschiedene Rassen ein funktionaler Umgang mit der Problemstellung, die aus der idealistisch-formalen Gleichheit und der faktischen Unterdrückung und Ermordung der ›Anderen‹ entstand. Ob nun alle Menschen vor Gott durch ihren Glauben gleich sein sollten 2 oder die Gleichheit der Menschen sich aus der 1789 deklarierten »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« in Bezug auf unveräußerliche Rechte und Freiheit ergebe (Art. I der Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen) – beides konnte mit dem Verweis auf eine alles erklärende Differenz negiert werden. So zählten Frauen nicht zu den »mündigen Bürgern« der ersten Französischen Republik, und die Bevölkerung der Amerikas bekam vielfach den Besitz einer Seele und damit einhergehend des Menschheitsstatus abgesprochen (vgl. Todorov 1985). Als sich im Kontext von Aufklärung, Säkularisierung und Kolonialismus die modernen Naturwissenschaften herausbildeten, wurden ihre wissenschaftlichen 2
Die Gleichheitsbegründungen im Christentum beziehen sich auf ein Gleichsein aller Christen vor Gott, die aufgrund ihres Glaubens am Tag des Jüngsten Gericht nicht zur Strafe zu ewigem Feuer verurteilt, sondern als Gerechte in das ewige Leben gehen werden (Johannes 5, 24). Außerdem legte die christliche Kosmologie in der Genesis fest, dass alle Menschen von Adam und Eva bzw. von Noah und Naama abstammten. Siehe zur Gleichheitsbegründung den Brief des Paulus an die Galater 3, 28: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« sowie hierzu auch Römer 3 und Johannesevangelium 3.
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Modelle zu einer bedeutenden Stütze rassistischer, sexistischer und ausbeuterischer Herrschaft. Vor allem der wissenschaftlichen Konstruktion von ›Andersheit‹ kam dabei eine tragende Rolle zu, da die moralische Berücksichtigung und die Zusicherung von Rechten verstärkt an exklusive, ausschließende Aspekte des ›Gleichseins‹ gekoppelt wurden. Die Naturwissenschaften lieferten nun anstelle der Religion als bisher zentraler gesellschaftlicher Funktionsträgerin die Erklärung der Welt und die Rechtfertigung der weltlichen Stratifikations-Ordnung. Entsprechend dieser Verschiebung der Rolle der Religion als ordnungsstiftender Instanz zur naturwissenschaftlichen Wahrheit über die Welt und den Menschen veränderten sich auch die erklärungstragenden Objekte. War bisher die gesellschaftliche Ordnung als göttliche mittels Bibelexegese fundiert und durch das machtvolle Wort von Kirchenoberhäuptern verkündigt worden, so geriet im Wechsel der Legitimation die Natur selbst zur neuen Wahrheitsträgerin. Die Wahrheit der Natur konnte fortan von Wissenschaftlern an den Körpern und ihren Signaturen der Differenz aufgeklärt werden. Massive Veränderungen vollzogen sich aber nicht nur in Bezug auf die Träger der Wahrheit und deren Verkündigungsinstanzen, sondern auch in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung, epistemische Rationalität und gesellschaftlichen Institutionen: Mit dem Bruch in der Rechtfertigungsordnung wurde die Legitimierung gesellschaftlicher Schichtung über Standesordnung und Religionszugehörigkeit abgelöst von einer im Körper, im Gattungswesen, im Genus und in der Rasse verorteten sowie an die Stellung im Produktionsprozess gekoppelten Wertigkeit. Für die epistemische Rationalität entstand eine Fülle von Differenzierungen, die nur noch die Wissenschaften – und auch die nur durch Aufspaltung in Disziplinen und Subdisziplinen – gewährleisten und verarbeiten konnten. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen ging damit eine enorme Ausweitung des differenzierenden Zugriffs auf Individuen, Körper, die Seele, das Verhalten einher; das Leben von Menschen geriet umfassend in den prüfenden Blick und wurde mit der Moral und der Hygiene viel weitgehender als bisher Teil herrschaftlich-regulativer Handlungen. Divide et impera bekam die neue Bedeutung einer kategorialen Einteilung von Menschen, die in immer weitere Untergliederungen in Sexualitäten, unzählige Formen des Wahnsinns, der Aufteilung in verschiedenste Rassekonstrukten, verschiedene Körperkonstitutions- und Temperamentstypen und Syndrome der Devianz mündeten. Mit den Verschiebungen, die den Körper zum Ort der Differenz werden lassen und der Stellung im ökonomischen Verwertungssystem Bedeutung zuweisen, entstehen im Zuge der Herausbildung der europäischen Moderne Geschlecht, Klasse und Rasse als die drei universalisierenden Ordnungsprinzipien. Diese drei Teilungsdimensionen waren und blieben nicht die einzigen, die gesellschaftlich wie
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individuell relevant wurden, doch können sie, wie etwa die Philosophin Cornelia Klinger und die Soziologin Gudrun-Axeli Knapp (2007) argumentieren, als die drei wirkmächtigsten gesellschaftlichen Kategorien sozialer Hierarchisierung und Ausbeutung gelten. Gesellschaftliche Ungleichheiten entlang der bis heute wirksamen Achsen von Klasse, Rasse/Ethnizität und Geschlecht/Sexualität bilden sich in eben jenem historischen Zeitraum als die wirkmächtigsten Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse heraus, in welchem ein religiös hierarchisch gestuftes Weltbild an Macht verliert und dessen Formen von Ungleichheit bzw. deren Legitimationen außer Kraft gesetzt werden (vgl. ebd.: 20). Dementsprechend bezieht sich die in dieser Studie unternommene Analyse von Rasse auf die Einsicht, dass die Herausbildung der westlichen Moderne nicht ohne ihre wirkmächtigen Teilungspraktiken zu verstehen und diese Teilungspraktiken nicht ohne ihre Bedeutung und Funktion in der Entwicklung der Moderne zu erklären sind. Entgegen der in den Sozialwissenschaften lange Zeit dominanten und noch immer beliebten Annahme, dass diese Dimensionen mit zunehmender Modernisierung, Säkularisierung, juridischer Gleichstellung und allgemeinem Anwachsens des Wohlstandsniveaus irrelevant werden bzw. sich auflösen würden, wird hier vielmehr angenommen, dass die Kategorien Geschlecht/Sexualität, Klasse, Rasse/Ethnizität weiterhin die Basis aktueller Vergesellschaftungsformen bilden. Gegen eine solche These zur spezifischen Funktionalität dieser gesellschaftlichen Teilungskategorien für westliche Gesellschaften gibt es zwei zunächst naheliegende Einwände: Zum einen bestanden gesellschaftliche Teilungen und Wertigkeiten anhand geschlechtlicher Unterschiede schon mindestens seit der Antike. Rasse ist als Begriff zur Bezeichnung von Menschengruppen keine Erfindung der Moderne, und Klassenwidersprüche lassen sich seit den Sklavenhaltergesellschaften ausmachen. Zum anderen mutet es paradox an, dass ausgerechnet mit der Moderne, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mit einem allseitigen universellen Gleichheitsversprechen argumentiert wurde, die beschriebenen Differenzdimensionen erst entstanden sein sollen. Zeichnet sich die europäische Moderne nicht vielmehr durch eine rationale soziale Schichtung anhand meritokratischer Ideale, durch Humanismus, Freiheit, Brüderlichkeit und eben Gleichheit aus? Sind nicht insbesondere in den letzten Jahrhunderten auf dieser Basis immense Entwicklungen in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter, auf Bürgerޚinnen- und Minoritätenrechte und die Umsetzung sozialstaatlicher Ansprüche erreicht sowie durch die Anhebung des Wohlstandsniveaus in den Industrieländern Klassengegensätze entschärft worden? Und ist die Moderne in diesem Sinne nicht mindestens auf dem Weg ihr Gleichheitsversprechen einzulösen? Aus der Perspektive der gängigen Gesellschaftstheorien – von System-, Wohlfahrtsstaats- bis hin zu Modernisierungstheorien – erscheinen rassifizierte und
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geschlechtliche Stratifizierungen auch als weitgehend dysfunktional und damit anachronistisch. Klassenanalysen galten im Kanon des soziologischen Mainstreams der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist als unangemessen und erlangen erst mit der Finanzkrise und der weltweiten Zunahme von Einkommensungleichheiten wieder analytische Wirkmacht. Statt mit Klassenmodellen werden gesellschaftliche Verhältnisse aber nach wie vor dominant in Schichtmodellen und ästhetischen Milieus unterscheidend beschrieben (Beck 1983; Geiger 1962; SinusMilieu-Studien; für einen grundlegenden Überblick siehe Burzan 2011). Aber nicht nur konservative Sozialtheoretikerޚinnen oder Fortschrittsapologetޚ innen stellen Ungleichheiten und Klassenlagen in den westlichen Gesellschaften als zunehmend nivelliert oder hinter kulturalisierten Gruppenzugehörigkeiten sowie Individualisierungsanforderungen zurücktretend dar. Auch kritische Analysen sehen vorausschauend eine Auflösung von rassischen und ethnischen Klassifizierungen. So strebt doch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nach antidiskriminatorischen Praktiken, sind Gleichstellungsprogramme erfolgreich, etwa auf der Ebene des Zugangs von Frauen zu beruflichen Bereichen und Positionen, oder führte die feministische Kritik am Modell des male breadwinner zu dessen (Teil)Ablösung durch das Doppelverdiener-Modell 3. Allerdings kann schon überraschen, wie einig sich sowohl die affirmativen Beschreibungen der bürgerlichen Gesellschaft als auch einige der kritischen Untersuchungen mit ihren Mutmaßungen über den zukünftigen Bedeutungsverlust der Kategorien Geschlecht und Rasse sind. Zwar glauben die einen an Fortschritt und Individualisierung, die anderen an eine zermalmende Kraft des Marktes als notwendige Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Beide sozialtheoretischen Zugänge gleichen sich aber zuweilen in ihrer generalisierenden Einschätzung, dass sich mindestens Rasse/Ethnizität, zum Teil aber auch Geschlecht unter den Bedingungen allgemeiner Arbeitskraftverwertung bald auflösen würden. Einhergehend mit der These, dass Kategorien sozialer Ungleichheit wie Rasse/Ethnizität, Klasse und Geschlecht/Sexualität keineswegs ihre gesellschaftsstrukturelle Bedeutung verloren haben, wird nun – für die hier angestrebte Analyse des Gewordenseins – zunächst eine Historisierung des Rassebegriffs und der Rassekonzeptionen notwendig.
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Auch dieses Modell soll hier nicht Lösung der Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit missverstanden werden, da es als rassifiziertes und klassenspezifisches Emanzipationsmodell vor allem für »die weiblichen [weißen] Kader der berufstätigen Mittelschichten mit ihrer Entschlossenheit, the glass ceiling […] zu durchbrechen« weitere Probleme erzeugt (Fraser 2009: 52).
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Historie des Rassebegriffs und der Rassekonzepte Der Begriff Rasse als Bezeichnung zur Kategorisierung von Menschengruppen trat erstmals im 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit der christlichen »Reconquista« der letzten von muslimischen Mauren regierten Gebiete der Iberischen Halbinsel auf. Den ersten schriftlichen Beleg weist der Historiker Max Herring Torres (2006) für das Jahr 1438 aus, wo der Terminus »rraça« im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Familie von »edlem Geschlecht«, vor allem zu königlichen und adligen Familien, gebraucht wurde. 4 Gegen Ende des Jahrhunderts findet er sich neben der Verwendung zur Bezeichnung familialer Herkunft zur Kennzeichnung eines Unterschieds zwischen sogenannten »Altchristen« und jüdischen sowie maurischen (Zwangs-)Konvertiten (conversos), denen auch dann, wenn der Religionswechsel von lediglich einem der Großeltern vollzogen wurde, eine jüdische bzw. maurische Rasse 5 zugeschrieben wurde. In diesem Sinne findet sich der Begriff in amtlichen Anordnungen der spanischen Königshäuser nach der Eroberung der letzten muslimischen Hochburg des Emirats von Granada am 2. Januar 1492 durch die vereinigten spanischen Truppen. Kurz darauf ordneten die Königin von Kastilien und der König von Aragón im »Alhambra-Edikt« die Vertreibung aller Jüdޚ innen aus allen spanischen Territorien an. Sofern sich diese nicht zum Christentum bekehren ließen, mussten sie bis zum 31. Juli desselben Jahres das Land verlassen. Im Zusammenhang mit dem Zwangsbekehrungsedikt und antijüdischen Pogromen verwendete die christliche Aristokratie den Begriff »race« bzw. »raza« zur Bezeichnung von Menschen jüdischer oder maurischer »Abstammung«. Damit waren nicht die Jüdޚinnen und Muslimޚinnen gemeint, die Ziel der Vertreibung und Ermordung waren, sondern jene conversos, die im Laufe des 15. Jahrhunderts infolge vorheriger Zwangsbekehrungen zum Christentum übergetreten waren,
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Den Begriff weist Herring Torres in einem Text des Priester Alfonso Martínez de Toledo nach: »Man nehme zwei Söhne an, den eines Bauern und den eines Ritters: Beide wüchsen im Gebirge unter der Erziehung eines Mannes und eines Weibes auf. Du wirst sehen, dass der Bauer sich weiterhin über die Dinge eines Dorfes, so wie ackern, graben und Holz mit dem Vieh einsammeln, erfreuen wird; und der Sohn des Ritters wird sich nur dann erfreuen, wenn er reitend Waffen zu horten vermag und Messerstiche erteilen darf. Dies beabsichtigt die Natur, so wirst Du dieses in jenen Orten, in denen Du leben wirst, Tag für Tag beobachten können, so dass der Gute einer guten Rasse [rraça] von seiner Herkunft angezogen wird und der Benachteiligte, einer gemeinen Rasse [rraça] und Herkunft angehörig, unabhängig wer er ist und wie reich er sein mag, sich niemals von einer anderen Herkunft angezogen fühlen wird, als woher er ursprünglich stammt.« (zit. nach Hering Torres 2006: 219, vgl. auch Hannaford 1996). Die Etymologie des Begriffs ist umstritten. Vermutet werden einerseits Ableitungen vom lateinischen radix = Wurzel oder ratio im Sinne von Wesen eines Dings sowie vom arabischen rás für Kopf, Ursprung (vgl. Conze/Sommer 1984 u. Hannaford 1996: 5).
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denen die Aristokratie aber ein heimliches Festhalten am Judentum unterstellte. Bereits 1449 wurden deshalb die ersten »Estatutos de limpieza de sangre«, Statute über die Reinheit des Blutes, eingeführt, um die sogenannten »Kryptojuden« und »-moslems« (marranos und moriscos 6) von den aristokratischen Ämtern fernzuhalten. Neuchristen konnten hiernach keine öffentlichen Funktionen mehr bekleiden und waren nicht mehr für Zeugenaussagen vor Gericht zugelassen. Bei Abstammung von jüdischen oder maurischen Ahnen bis in die Großelterngeneration führte dies zum Ausschluss aus dem Staatsdienst. Dies zunächst auf dem Gebiet der spanischen Königshäuser, mit der Eroberung der »Neuen Welt« konnten aber auch dort nur Altchristen Regierungsposten übernehmen. Hinzu kam, dass ab 1478 mit einer von Rom weitgehend unabhängigen spanischen Inquisition überall im Land Verfolgungen mit dem Ziel der Ausrottung des »Kryptojudentums« stattfanden. So wurden in den ersten Jahren bis 1490 ca. 13ௗ000 conversos wegen vermeintlichen »Judaisierens« verurteilt, von denen etwa 700 auf dem Scheiterhaufen endeten. Ergebnis dieser Vertreibung und Ermordung war, dass es 1492 in den Spanischen Königreichen keine offen praktizierenden Jüdޚinnen mehr gab, und alle Konvertierten dem Zugriff der Inquisition schutzlos ausgeliefert waren (Bossong 2008: 51 u. 60) 7. Mit diesen Ausgrenzungspraktiken erreichten die antijudaistischen Zuschreibungen eine neue Bedeutung, indem nicht mehr die Religion als Ausschlussgrund herhalten musste, sondern von nun an die Herkunft zu einer unveränderlichen, Generationen überdauernden und vor allem für die Christenheit »schädlichen« Eigenschaft wurde. Nicht mehr die richtige (mit der Taufe zu erlangende) Religion galt als Eintrittskarte in die Gemeinschaft, sondern die »Reinheit des Blutes« (limpieza de sangre) wurde zur notwendigen Voraussetzung, womit ein vorher mittels Konvertierung veränderbarer Zustand zu einem fixierten (später biologisch genannten) Merkmal mutierte. 8 Mit den Statuten zur Blutreinheit wurde aus dem Religionsproblem eine Rassenfrage, die die Bevölkerung Spaniens schließlich in »alte« und »neue« Christen aufteilte und eine Wertigkeit einführte, nach der nur derjenige ein richtiger Christ sein konnte, der reines altchristliches Blut in den
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Der Begriff marrano hat im Spanischen die Doppelbedeutung »Abtrünniger« sowie »Schwein« (Herring Torres 2006: 16; Bossong 2008). Letztere Begriffszuweisung für Jüdޚinnen blieb in vielen europäischen Staaten, wie auch in Deutschland, bei antisemitischen Diffamierungen in dem Schimpfwort »Judensau« erhalten. Die Kryptomoslems wurden nach der Reconquista morisco (spanisch: »maurisch«) genannt. Bossong (2008: 57) gibt folgende Gesamtzahl von vertriebenen Juden an: 80ௗ000 bis 110ௗ000 Jüdinnen und Juden, die aus Kastilien flohen (von ca. vier Millionen Einwohnerޚinnen insgesamt) und 10ௗ000 bis 12ௗ000, die aus dem Königreich Aragón vertrieben wurden. Zur weiteren Genese des Rassebegriffs siehe die Ausführungen in Bossong 2008; Conze/ Sommer 1984; Fredrickson 2004; Hering Torres 2006; Terkessidis 1998.
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Adern hatte. (vgl. ebd.: 50). Derartige Nachweise über das ›richtige Blut‹ blieben als Ahnennachweise auf der Grundlage der Limpieza-Statute bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im spanischen Königreich Voraussetzung für den Zugang zu Staatsämtern, zu Universitäten, Ritterorden, religiösen Orden etc. (Hering Torres 2006; vgl. Priester 2003). Der Umgang mit den spanischen Muslimޚinnen unterschied sich in den ersten Jahren der Reconquista noch von der Behandlung der Jüdޚinnen. Bei der Eroberung der letzten maurischen Bastion Granada sicherten die Christen den Mauren bei Kapitulation das Recht auf die weitere Religionsausübung und Beibehaltung ihrer Traditionen zu. Diese Zusicherungen wurden jedoch nicht eingehalten, und nach einem Aufstand der moriscos um1499 dienten die Statuten zur »Reinheit des Blutes« und Vertreibung der Jüdޚinnen schließlich als Vorlage für die Enteignung muslimischer Institutionen und führten zum Verbot der maurischen muslimischen Religion, der arabischen Namen und des Tragens maurischer Gewänder. Auf die entsprechende Zwangsbekehrung folgte ab Anfang des 16. Jahrhunderts ebenfalls die Vertreibung der noch auf der Iberischen Halbinsel verbliebenen conversos muslimischer Abstammung. Analog zur Verweisung der Jüdޚinnen zwangen bis 1614 die katholischen Könige ca. 300ௗ000 moriscos Spanien zu verlassen (vgl. Harvey 2005). Der Rassebegriff fand neben der Funktion zur Aufteilung von Alt- und Neuchristen in Spanien auch im Wandel der Adelsvorherrschaft in Frankreich Verwendung. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts hatte dort der alte Geburtsadel (frz. noblesse de race) versucht, durch die Berufung auf seine Abstammung, die mit dem Begriff race belegt wurde, den Aufstieg des Amtsadels (noblesse de robe) und damit des Bürgertums zu verhindern (Conze/Sommer 1984: 140). Von diesem Ursprung breitete sich der Begriff in den europäischen Sprachen mit einer Breite an Bedeutungen aus, die sich in Bezeichnungen wie »christliche Rasse«, »Adelsrasse« oder »menschliche Rasse« belegen lassen (Geulen 2007: 36Ⱥf.). Diese weiterreichende Bedeutung erlangte der Rassebegriff, indem er in der Aufklärung zu einer Brücke wurde, die zwei gesellschaftlich wichtige Bereiche – die Legitimation hierarchischer sozialer Teilungen und daran gekoppelte ungleicher Privilegien- und Ressourcenverteilung sowie die wissenschaftliche Ordnungssuche – zur rationalen Aufteilung der Menschheit vereinen konnte. Zum Verständnis dieser Bindefunktion ist dem Rassebegriff nun in seiner Verwissenschaftlichung weiter zu folgen.
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Wie Rassismus wissenschaftlich wurde Medizinische, naturforscherische und philosophische Akteure und darunter insbesondere die Aufklärer griffen ab Ende des 17. Jahrhunderts bereitwillig den Rassebegriff zur ordnenden Beschreibung und Hierarchisierung der Menschheit auf. Sie begegneten damit zum einen den Legitimationsproblemen, die im Zusammenhang mit den Eroberungen und damit einhergehenden theologischen und philosophischen Debatten um den Status der eroberten und versklavten Menschen entstanden, und unternahmen zum anderen den Versuch, die Ordnung der Natur in ihren Formen und Spezies aufzudecken. Die Suche nach einer rationalen Ordnung der Natur darf hierbei nicht als Selbstzweck missverstanden werden. Denn die Bedeutung der Aufklärung liegt vor allem in einer Emanzipationsbewegung, die eine erweiterte Naturbeherrschung zum Ziel hat. Die rationale Erfassung der Komplexität natürlicher Erscheinungen in einer der Natur selbst inne liegenden Ordnung ließ eine Kontrollierbarkeit der Natur erhoffen. Was die beiden Sozialkritiker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (1947) mit der mimetischen Annäherung an die Natur als ersten Versuch des gleichzeitigen Verstehens und Beeinflussens natürlicher Vorgänge beschreiben, wandelt sich in der Aufklärung zur Zielsetzung eines Wissens über die Natur als zentrales Mittel ihrer Beherrschung. Das Ringen mit der Natur findet fortan wesentlich durch den Versuch statt, sie kategorial ordnend zu ›besiegen‹. Das Ordnen der Natur wurde damit zur Grundlage wissenschaftlichen Agierens schlechthin. Fachdisziplinen wie die Anthropologie, Statistik, Soziologie entstanden im Sinne dieser Ordnungssuche und Problemlösungsstrategie. Aber nicht nur die Natur als äußere Umgebung und inneres Wesen des Menschen sollte mit der Suche nach Ordnung kontrolliert werden, auch modernen Regierungsformen sollte die Zuordnung des Menschen in Kategorien dienen. Die Ordnung im Sinne von »identifiziere, teile und herrsche« wurde zum Prinzip souveräner Herrschaft und damit Grundlage moderner Menschenführung. Verbunden mit den Ordnungsversuchen war stets eine Hierarchisierung der Lebewesen, die in wirkmächtige Konstrukte zur Behauptung der Unterentwicklung der ›Anderen‹ und der europäischen Überlegenheit umgesetzt wurde. Als zweckdienlich für diese Verschränkung von vertikalem Ordnen und horizontalem Hierarchisieren erwiesen sich die naturphilosophischen Fortschritts- und Entwicklungstheorien. Mit der Vorstellung einer göttlichen oder natürlichen Ordnung im Sinne einer Stufenleiter der Lebewesen ließen sich ebenfalls Entwicklungsstufen der »Völker« vom »primitiven Naturzustand« über verschiedene Zwischenstufen bis zur kulturellen Höhe der europäischen »Zivilisationen« imaginieren. Die Einteilung von Menschen in Rassen lag entsprechend nahe, da mit dem in verschiedenen
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europäischen Sprachen vorhandenen Begriff trotz aller Unterschiedlichkeit der Bedeutungsvarianten eine grundlegende und nicht überwindbare kategoriale Trennbarkeit menschlicher Gruppen begründbar wurde. Die wahrscheinlich erste Verwendung von Rasse als wissenschaftlichem Klassifikationsbegriff findet sich in dem von dem französischen Arzt François Bernier 1684 anonym publizierten Aufsatz »Neue Einteilung der Erde anhand der verschiedenen Arten oder Rassen der Menschen, die sie bewohnen«. 9 Dieser Text Berniers wird von Rassismushistorikern am »›Beginn‹ einer langen und komplexen intellektuellen Bewegung modernen rassischen Denkens« gesehen (Stuurman 2000: 2). Bernier berichtet darin von seinen Reisen, den Unterschieden der Menschen in den verschiedenen Teilen der Erde und nimmt eine »Einteilung der Menschen in vier oder fünf Spezies oder Rassen« vor, »deren Differenzen so auffallend sind, dass sie zur Begründung einer neuen Einteilung der Erde geeignet wären« (1684: 133f.). Beschreibungen und Zuordnungen ›anderer Völker‹ waren zu dieser Zeit keinesfalls unüblich. Vor allem in Form von Reisebeschreibungen finden sich im 16. und 17. Jahrhundert vielerlei Darstellungen der Einwohnerޚinnen ferner Länder hinsichtlich deren Religion, Sitten und Gebräuchen, Sprache und Staatsformen, jedoch selten zu körperlichen Merkmalen. Bernier, im Besitz eines Doktortitels in Medizin, nahm seine Einteilung hingegen anhand physischer Merkmale vor, wie der Form der Lippen, der Nase, der Stärke der Bartbehaarung sowie der Färbung von Haaren, Zähnen und Zunge. Die beiden zentralen Merkmale waren für ihn die Hautfarbe, deren Ausprägung er mit Vererbungsvorstellungen koppelte, sowie die »Schönheit der Frauen«, die er in sexualisierender Weise beschrieb. Mittels dieser Merkmale unterschied er vier »races«: Zur »ersten Spezies«, zählte er alle Länder Europas sowie Teile von Nordafrika, Kleinasien, Indien und einige Länder in Südostasien; zur zweiten zählte er alle Länder in Afrika mit Ausnahme Nordafrikas; die dritte umfasste die Länder Ost- und Nordasiens und zur vierten Spezies erklärte er die Lappen 10. In seinen weiteren Ausführungen ordnete er auch die Einwohnerޚinnen der Amerikas der ersten Rasse zu, von denen die meisten zwar »olivfarben« 11 und ihre Gesichter zu »unseren« unterschiedlich
9
Originaltitel: »Nouvelle Division de la Terre, par les differentes Especes ou Races d'hommes qui l'habitent, envoyée par un fameux Voyageur à M. l'Abbé de la *****, à peu prés en ces termes«. 10 Bernier berichtet, in Danzig zwei Lappen gesehen und darüber hinaus Berichte von Reisenden aus Lappland gehört zu haben, die die Einwohner als »abscheuliche Tiere« beschrieben hätten (Bernier 1684: 136). 11 Die Beschreibung »olivfarben« (bei Bernier olivastres) war im 16. und 17. Jahrhundert üblich. Erst im 18. Jahrhundert verbreitete sich die Farbzuweisung »rot« für die Haut von Amerikanerޚinnen.
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seien, die aber »nicht ausreichend different zu uns sind, um sie zu einer eigenen Spezies zu machen« (ebd.: 136). Bernier konstituierte aber nicht nur eine neue Taxonomie anhand jener physischen Unterscheidungsmerkmale, sondern wich auch von den sonstigen Erklärungen ab, welche etwa menschliche Unterschiedlichkeiten anhand der biblischen Genesis, der Abstammung von den Söhnen Noahs oder der »Verlorenen Stämme Israels« zu belegen suchten (vgl. Stuurman 2000: 2). Neu war aber vor allem, dass er mit den üblichen Darstellungsformen der früheren Naturforscher brach. Diese hatten sich auf die Variabilität und Monstrosität der Natur konzentriert und waren damit nicht in der Lage gewesen, eine allgemeine Ordnung der natürlichen Vielfalt zu entdecken (vgl. Daston/Galison 2007: 62). Bernier ermöglichte demgegenüber mit seinem Klassifikationsentwurf jene Probleme zu lösen, die mit der kolonialen Expansion und der damit einhergehenden explodierenden Vielfalt an in Europa bekannten Gesteinsformationen, Pflanzen, Tieren und Menschen entstanden waren. Die Erkundungen der ›Neuen Welt‹, Afrikas und Asiens brachten eine Fülle an Materialien und Untersuchungsgegenstände nach Europa, die von den Wissenschaftlern nicht mehr sinnvoll mit den alten Beschreibungs- und Ordnungsprinzipien zu bearbeiten waren. Allein die Beschreibung der diversen Wunder und Varietäten führte die Naturforscher an eine Grenze des noch Bearbeitbaren und Darstellungsfähigen (Lestringant 1994). Für diese Fülle und ebenso für die Debatten um den Status von Sklaven bot Bernier eine Ordnungsform an, mit der zum einen die vorfindliche Vielfalt gebändigt und zum anderen grundlegende, kategoriale Unterschiedlichkeit zwischen Menschen konstatiert werden konnte. Seine »neue Einteilung« erschien zu einer Zeit, als der französische Sklavenhandel massiv zunahm. 1685, ein Jahr nach dem Erscheinen von Berniers Text, verabschiedete der französischen König ein umfangreiches Gesetz zum Sklavenhandel und zur Ordnung in den Kolonien. In diesem Dekret, dem »Code Noir«, einer »Sammlung der Erlasse, Anweisungen und Urteile über die Negersklaven von Amerika«, wurden ähnliche Vorgaben wie in den spanischen Statuten über die Reinheit des Blutes festgelegt. So durften etwa Jüdޚinnen sich nicht in den Kolonien aufhalten und allen Menschen, inklusive der Sklaven, war nur die römisch-katholische Religion erlaubt. Bernier bot mit seiner neuen Systematik ein Ordnungssystem an, das physische Unterschiede als Zeichen einer weitreichenden Differenz einsetzte und erzeugte schließlich einen Wechsel im Diskurs um menschliche Unterschiedlichkeit. Er begründete damit jene bis heute gültige Suche nach einer einfachen Aufteilung und Klassifizierung der Menschheit in Rassen. Einer der Rezipienten Berniers war der deutsche Anatom und Wegbereiter der Anthropologie Johann Friedrich Blumenbach, der mit seinen Erweiterungen
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der Rassen-Konzeptionen als eine zentrale Figur für die Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus bezeichnet werden kann. Einen nachhaltigen Einfluss erreichten vor allem Blumenbachs umfangreiche schädelkundliche Untersuchungen, seine Typologie physischer Differenzen und die 1775 eingereichte Dissertation »Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte«. Sein Klassifikationsschema, mit dem er die Menschheit in »fünf festgesetzte Hauptvarietäten« bzw. »Rassen« 12, und zwar die »kaukasische, mongolische, äthiopische, amerikanische, malayische« (Blumenbach 1798: 204) unterteilte, wurde zum Grundmodell vieler nachfolgender Rasse-Kategorisierungen. Zudem findet der von ihm geprägte Begriff »caucasische Rasse« als Bezeichnung für die »Europäer mit Ausnahme der Lappen« (1782: 67) noch immer Verwendung als Umschreibung für europäische Abstammung, etwa im US-amerikanischen Zensus sowie in der Medizin und der Psychologie. Blumenbachs Systematik und die sich daran orientierenden schädelkundlichen Untersuchungen begründeten schließlich die Entstehung einer eigenen Disziplin, der Craniometrie bzw. Craniologie, die über mehr als ein Jahrhundert das wichtigste Untersuchungsfeld rassenkundlicher Forschung blieb, und seine Arbeiten waren für die vergleichenden Anthropologen des 19. Jahrhundert immer wieder ein wichtiger Referenzpunkt. Große Bedeutung für die weitere Verwendung und den Ausbau der Rassekonzepte hatten darüber hinaus die Schriften Carl von Linnés, einige Texte Immanuel Kants sowie die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Schon vor Blumenbach teilte der schwedische Naturforscher Linné in seiner biologischen Taxonomie »Systema Naturæ« von 1735 die Menschheit in vier Varietäten (homo variat) ein, denen er in späteren Auflagen des Werkes spezifische körperliche, charakterliche und sittliche Merkmale, bezogen auf Hautfarbe, Haare, Charakter, Temperament, Geist sowie Kleidung zuordnete. Linnés Innovation war es, die gesamte Natur anhand von wenigen gemeinsamen physischen Charakteristika hierarchisch in Gruppen anzuordnen. Auch die Menschen fasste er wie die Pflanzen und Tiere anhand von Merkmalsbeschreibungen in Variationen zusammen. Unter Zuhilfenahme der vorherrschenden medizinischen Viersäftelehre wies er dem Homo europæus positive Bewertungen als »weiß, heiter-lebhaft, muskulös, durch Gesetz regiert und zu Erfindungen geschickt« zu und versah die nichteuropäischen Varietäten mit deutlich abschätzigen Wertungen, indem er diese als »gallig, cholerisch, melancholisch, steif, boshaft, faul, lässig, phlegmatisch und schlaff« beschrieb 13 (Linné 1758: 20f.).
12 In den verschiedenen »durchgehend verbesserte[n]« Auflagen seines »Handbuchs der Naturgeschichte« findet ein Wechsel von der Bezeichnung »Varietät« über »Raçe« zu »Rasse« statt. 13 Siehe Abbildung 1. Schon in der ersten Auflage der »Systeme naturae sive tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera et species« von 1735 nimmt er eine viergliedrige
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Für den deutschsprachigen Diskurs um die Rassen des Menschen sind die Arbeiten des Aufklärers Kant von besonderer Relevanz. Er verwendete den Begriff »Race« in mehreren seiner Vorlesungen und Aufsätze 14 und erzeugte eine nachhaltige Wirkung, weil er über die Klassifikation und Wertung der Menschengruppen hinaus auch Spekulationen über die »unausbleibliche erbliche Eigenthümlichkeit« (Kant 1788: 165) anstellte und die Hautpigmentierung zur Unterteilung der von ihm konstatierten vier »Abartungen« bzw. »Racen« verwendete. Er konstatierte die Überlegenheit der Menschen des »gemäßigten Erdstrichs«, welche er »in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen« sah (Kant 1802: 316) und spekulierte über die Auswirkungen der »Rassenmischung«, die »Halbschlächtige« oder »Blendlinge« erzeuge (1785: 94ff.; vgl. auch Eisler 2008: 439). Als Aufklärer ging es ihm um die Bestimmung des Menschen (Was ist der Mensch?) und um die Begründung einer Ethik (Was soll ich tun?). Sein Menschenbild formierte sich um den Besitz der Vernunft, die nur den Menschen kennzeichne und die sich in seiner zentralen Definition der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« ausdrückt. Während er als allgemeinen Wahlspruch der Aufklärung ausrief: »Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Kant 1784: 481) sprach er »Schwarzen« den Besitz eben jenes Verstandes ab und folgerte, dass diese »keine Menschen« seien. 15 Kants Rassebegriff, inklusive der damit verknüpften Bedeutungskonstruktionen, fand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im europäischen Raum weite Verbreitung. Darwin griff die bestehenden Rassevorstellungen auf und verband den Begriff in seinem 1871 publizierten Werk »Die Abstammung des Menschen« mit Spekulationen über dessen Entstehung in Afrika. Von einer linearen evolutionären Fortentwicklung ausgehend formulierte er, dass in »einer künftigen Zeit […] die zivilisierten Rassen der Menschheit wohl sicher die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet und ersetzt haben« werden. Dann werde der Abstand zwischen dem zivilisierten »kaukasischen« Menschen und dem Affen vergrößert sein und nicht mehr, »wie jetzt zwischen einem negro oder australian und dem Gorilla« liegen (Darwin 1871: 203f., Hervorh. und Übers. aus dem engl. Original TP).
Einteilung vor, benennt diese jedoch erst in der Auflage von 1740 (S. 34) als homo variat und fügt in der zehnten Auflage 1758 somatische Kriterien und geistig kulturelle Eigenschaften hinzu. In der 1746 veröffentlichten Aufstellung »Fauna Suecica« nimmt er außerdem eine Einteilung der Schweden in »Gothen, Finnen, Lappen und Mannigfaltige« (Gothi, Fennones, Lappones, Varii & Mixti) vor, die er ebenfalls anhand physischer Merkmale des Körpers, der Haare und der Augen unterscheidet (Linné 1746: 1). 14 »Physische Geographie« (Kant 1802); »Von den verschiedenen Racen der Menschen« (Kant 1775) und »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace« (Kant 1785). 15 Zitiert nach Monika Firla (1997: 12), die hierfür auf Johann Gottfried Herders Mitschriften von Kants Vorlesungen über »Physische Geographie« im Wintersemester 1763/64 verweist.
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Abbildung 1: Vier Varietäten der Menschen (mit einer fünften Sonderform)
Seitenausschnitt aus Carl von Linnés »Systema Naturæ«, 12. Auflage von 1758. Die in den Beschreibungen enthaltenen Wertungen werden an der auf der Temperamentelehre basierenden Zuordnung der Hautfarben »rufus, albus, fuscus (später luridus), niger [rot, weiß, braun (fahl), schwarz]« zu »cholerisch, sanguinisch, melancholisch, phlegmatisch« deutlich: »Europæus: albus, sanguineus, torosus [weiß, leichtblütig, muskulös] … Regitur Ritibus [wird regiert durch Regeln, Bräuche].« Linné beschrieb noch eine fünfte Variante, die er Montrosus nannte und in der er eine Sammlung mythischer Erzählungen zusammenfasst.
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Die angeführten frühen wissenschaftlichen Kategorisierungen aller möglichen Erscheinungen der Natur und mit ihr der menschlichen Vielfalt erzeugten eine nachhaltige Wirkung auf die Ordnung des Menschen in der Moderne. In Nachfolge dieser ersten Ordner und Systematisierer der Aufklärung werden bis heute menschliche Gruppen konstatiert, die anhand äußerer Merkmale und geographischer Herkunft zugeordnet werden. Diese Merkmale werden zudem mit Vererbungskonzepten zu einer biologisch-körperlichen Statik (»unausbleibliche erbliche Eigenthümlichkeit«) verbunden und mit hierarchisierenden Wertungen versehen. Die Kategorisierung der Aufklärung war nicht nur bedeutungs- und effektvoll, insofern mit ihr die beobachtbare Vielfalt entlang einer rationalen Logik sortiert werden konnte, sondern zudem Ansatzpunkt für neue Legitimationspraxen und Ausgang immer wieder neuer wissenschaftlicher Erkundungen.
Akademisierung und Naturalisierung: Boom der Rassen-Anthropologie Ausgehend von den ab Ende des 17. Jahrhunderts entwickelten Grundkonzepten zur Systematik menschlicher Vielfalt und den ersten typologischen Forschungen entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine umfangreiche Rassen-Anthropologie, die mit verschiedensten Klassifikationsmodellen, diversen Messmethoden und einer Fülle von Differenzmarkern eine schier gigantische Menge von Studien und Daten erzeugte. Mit diesen Daten sollte die kategoriale Unterschiedlichkeit der Rassen und die Minderwertigkeit der ›Anderen‹ – insbesondere von Schwarzen, aber auch von Frauen, Juden/Jüdinnen etc. – bewiesen werden. Für die Konstruktion ›natürlicher Differenz‹ und den daran gekoppelten wissenschaftlichen Nachweis einer Hierarchie zwischen den konstituierten Gruppen erwiesen sich Rassentheorien als besonders ergiebig, sowohl in Bezug auf politische Funktionalität als auch als Mittel wissenschaftlicher Forschung. Mit dem Rassebegriff konnten sich immer wieder unterschiedliche Ansätze der Differenzforschung zum Menschen formieren, die einerseits wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse erzeugten, andererseits allerdings immer auch neue Fragen und weitere Forschung inspirierten. Rasse avancierte damit nicht nur zu einem Leitbegriff der Rechtfertigung von Ausbeutung und Beherrschung, sondern darüber hinaus zu einem wirkungsreichen wissenschaftlichen Konzept, um das sich immer wieder entscheidende Fragen des Menschlichen, von Zugehörigkeit und Ausschluss, Privilegien oder Diskriminierung, Leben und Tod drehten. Die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Rasse bestimmte in den Kolonien wie in den europäischen Nationalstaaten über den Besitz oder den Entzug grundlegender Rechte. Die Selbstkonstruk-
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tion der europäischen Moderne auf Grundlage eines rationalen Weltverständnisses, politischer Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit erfolgte in Abgrenzung und Gegenüberstellung zu dem Konstrukt der ›Anderen‹, denen die Fähigkeit zu Rationalität, Selbstregierung und Zivilisation abgesprochen wurde. Neben ihrer politischen Dimension als exklusiver Begriff der Zugehörigkeit oder des Ausschlusses wurde Rasse in wissenschaftlichen Erörterungen zu einem Forschungsmotor, mit dem immer wieder neue Ordnungen erzeugt wurden. Über diese Ordnungsfunktion hinaus hatten die Forschungen aber nicht nur Variationen des Menschen, sondern grundlegende Differenzen zu belegen. Die aufwendigen Vermessungen tausender und abertausender Schädel, die Berechnung des Gehirngewichts mit unterschiedlichen Verfahren, die Intelligenzquotient-Tests dienten jeweils der Bestätigung der implizit oder explizit vorausgesetzten und mit den Untersuchungen wissenschaftlich zu bestätigenden Inferiorität der Anderen (Gould 1988). Mit der Bestätigungsforschung zum wissenschaftlichen Nachweis kategorialer Unterschiede und einer Hierarchisierbarkeit menschlicher Gruppen entstand ein hochproduktives Wissensfeld, das immer wieder in andere Bereiche hineinwirkte, auch von außerwissenschaftlichen Annahmen angetrieben wurde und wieder auf außerhalb liegende Domänen ausstrahlte. Am Kulminationspunkt imperialistischer Eroberungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichten auch die wissenschaftlichen Ausarbeitungen zu Rasse ihren Zenit (vgl. El-Haj 2007). Verwendungsweisen und Funktionen des Begriffs in Wissenschaft, Politik und Alltagsmythen wurden derart eng verknüpft, dass sie sich seit dieser Zeit kaum mehr sinnvoll voneinander trennen lassen. Alltagsweltliche Rassismen sowie staatliche Ausbeutungs- und Exklusionspraktiken wurden mit einem biologischen Rassebegriff fest verknüpft und umgekehrt Rasse zu der Chiffre wissenschaftlicher Verbesonderung, deren Differenzproduktion weitere Ungleichbehandlung sicherte. Über diese Verwicklungen von Rasse hinaus konsolidierten die aus ihr entwickelten Argumentationsmuster eine Legitimationsordnung, in der auch verschiedene weitere Diskriminierungsformen wie Sexismus, Antisemitismus, Imperialismus und Nationalismus wirkten und sich diskursiv gegenseitig stützten. Es ist dieses Konglomerat aus der Erzeugung natürlicher, objektiver Faktizitäten, der Erschaffung und Fortschreibung von Normen anhand statistisch ermittelter Standards und einer wissenschaftlichen, gesellschaftlichen autorisierten Wirkmacht, das naturwissenschaftliche rassifizierte Differenzproduktion zu einer der zentralen Voraussetzungen des eliminatorischen Rassismus machte. Innerhalb der Disziplinen, die sich mit Menschenrassen beschäftigten, bewirkte diese Verknüpfung von politischer und allgemeingesellschaftlicher Relevanz sowie wissenschaftlichem Drang, menschliche Variabilität zu ordnen, einen immensen Professionalisierungsschub und eine Ausweitung der Forschungspraktiken und
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Theorien. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich eine Unmenge von Forschern mit Rassen und brachte dabei eine Unzahl verschiedener Klassifikationen zustande. Teilten Bernier, Linné und Kant die Menschheit in vier Rassen ein (wenn auch mit sehr unterschiedlichen Zuordnungen), so hielt schon Blumenbach fünf für richtig. Georges-Louis de Buffon entdeckte sechs, Oscar Peschel fand sieben, Louis Agassiz ermittelte acht, Charles Pickering schließlich elf. Samuel G. Morton sah schon 22, Jean Baptiste Bory 24, John Crawfurd zählte 60, George Gliddon kam auf 159 und Joseph Deniker allein in Europa auf 29 in 17 Gruppen (vgl. Grimm 1990). Zur Klassifizierung erfanden die Forscher eine Reihe von Messinstrumenten wie spezielle »Tast- und Gleitzirkel«, Farbkarten und Skalen, nutzen elaborierte statistische Methoden und erstellten Unmengen an Datenkolonnen, Tabellen und Diagrammen. Für diese Messungen wurden verschiedene Indizes zu Längen- und Größenrelationen, dem Längen- und Breitenverhältnis des Gesichts, der Gesichtswinkel etc. ersonnen. Doch auch mit den neuen Bestimmungsmitteln und den aus den erzeugten Daten ermittelten Gruppen stellten die Systematiker stetige Vervielfältigungen ihrer Rasseneinteilungen her. In der Anthropologie wurde dieses Problem gesehen, und darauf zumeist mit einer Ausweitung der Untersuchungen, mit neuen Messmethoden und neuen Indizes reagiert. Diese Ausweitung und Vervielfältigung der anthropologischen Studien erzeugte schließlich gegen Ende des 19. Jahrhundert eine wahre »Erhebungswut« (Hanke 2007), in der Unterschiede der Menschen – neben rassischen auch geschlechtliche, sexuelle, charakterliche und mentale – mit einer nie dagewesenen Akribie angesammelt wurden. Als markanter Ausdruck dieser Entwicklung können die Untersuchungen des Anthropologen Aurel von Török gelten, der 1890 allein für den Schädel 5ௗ317 Einzelmaße vornahm (vgl. ebd.: 14 u. Massin 1996: 108). Auf dem Höhepunkt der Schädelvermessung und Erstellung von Indizes konnte also keine einheitliche Einteilung der Rassen in klar abgegrenzte Gruppen erzeugt werden. Für die Untersuchungsmöglichkeiten bedeutete das jedoch keine Einschränkung. Stattdessen schien vielmehr alles, was sich messtechnisch erfassen oder auszählen ließ, wert, registriert zu werden. Über die Messungen am Schädel und anderen Knochen hinaus waren das fortan vor allem Farbbestimmungen von Haut, Haaren und Augen, aber auch weniger naheliegende Merkmale wie die Gestalt der Handfalten (sog. Fingerbeerenmuster), die Form der weiblichen Brust, die Konsistenz des Ohrenschmalzes oder die Defäkationsdauer, von denen schließlich viele bis zu ihrer Ablösung durch populationsgentische Untersuchungen an Proteinen und den molekularbiologischen Methoden Bestand haben sollten. 16 Unzäh16 Knußmann führt in seinem Lehrbuch der Anthropologie (1980: 94, 328) zur Übersicht über die »Merkmalsbilder der 6 rassischen Hauptgruppen« noch über 40 Merkmale von Mess-
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lige Messpunkte auf den Körpern dienten zur Erfassung, und aus ihnen ließen sich weitere Verhältniswerte und Mittelmaße errechnen. Mit den Hilfsmitteln der »mechanischen Objektivität« (Daston 2001) erzeugten die Anthropologen eine weitreichende Instrumentalisierung und Quantifizierung ihrer Disziplin. Wissenschaftliche Wahrheit über menschliche Differenz sollte fortan durch Messung und Berechnung und mittels mathematischer Verfahren erzeugt werden (El-Haj 2007; Rheinberger/Müller-Wille 2009). Für den damit einhergehenden Prozess der Professionalisierung der Wissenschaften vom Menschen wurde der Rassebegriff und die um ihn entwickelten Konzepte ab dem 18. aber vor allem im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Antriebe des Forschens und Theoretisierens. Seine wissenschaftlich produktive und darüber hinaus politisch und gesellschaftlich integrierende Kraft ist nicht zuletzt einer der gewichtigen Gründe, weshalb Rasse bisher nicht einfach aus den Wissenschaften verabschiedet wurde. Jedoch bewirkten wissenschaftliche Taxonomien anhand rassischer Modelle nicht nur die Produktion ordnungsstiftender Kategorien, sondern erzeugten schon bald auch Gegenbewegungen, die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen zu Antirassismus stehen.
Antirassismus: Von der Kritik an Rasse zur Zurückweisung des wissenschaftlichen Rassismus Die wissenschaftliche Aufteilung der Menschheit in Rassen konnte von Anfang an keine rein ›objektiv wissenschaftliche‹ bzw. unpolitische Ordnungssuche sein, da alle Bemühungen schon in die Debatten über den Status des Menschseins der ›Anderen‹ in den Kolonien, die Abstammung der Menschen und die göttliche Schöpfungsgeschichte verstrickt waren. Während der Schriftsteller und Philosoph Johann Gottfried Herder als Schüler von Kant in dessen Vorlesungen 1763/64 noch jene Einteilungen und Hierarchisierungen der »Racen« und sein Negieren des Menschseins von Afrikanerޚinnen mitschrieb, äußerte er sich zwei Jahrzehnte später in seinen eigenen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« aber klar gegen eine Rasseneinteilung: »[W]eder vier oder fünf Racen, noch ausschließende Varietäten giebt es auf der Erde« (1887: 258) Als Humanist ist er fortan von einer fundamentalen Einheit des »Menschengeschlechts« überzeugt, stellt die Vernunft als Charakteristikum menschlicher Natur heraus und weist die Bedeutung
punkten an Rumpf und Gliedern, Hinterkopf und Gesicht, Haar, Hautleisten, Blutmerkmalen, PTC-Schmeckfähigkeit, Ohrenschmalzkonsistenz und Hautgeruch aus. Siehe zu verschiedenen Differenzmerkmalen auch Schwidetzky 1962 sowie die Ausführungen im Kapitel »Genetifizierung«.
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von Hautfarben für die Einteilung von Menschen zurück, da diese lediglich oberflächliche Erscheinungen seien (ebd. 233 u. 405; vgl. Löchte 2005). Entgegen der verbreiteten Historisierung, in der die frühen Rassentheoretiker als im Zeitgeist verfangen dargestellt werden, ist hervorzuheben, dass auch in der Frühzeit der Rassenkunde von verschiedener Seite umfangreiche Kritiken formuliert wurden, begründet etwa mit der christlichen Schöpfungslehre, mit einer humanistisch inspirierten Einheit sowie mit aufklärerischen Gleichheitsvorstellungen. Entsprechend können die Rassentheoretiker nicht pauschal entschuldigt werden. »Kant entschloss sich ganz bewußt zu seinen rassistischen Thesen«, schlussfolgert in diesem Sinne die Geisteswissenschaftlerin Monika Firla (1997: 13), und es ließe sich hinzufügen: wie die anderen Rasseapologeten auch. Da Rasse von Anbeginn an eine umstrittene Kategorie, ein umkämpftes Wissensfeld zur Ordnung menschlicher Natur war, war es immer auch eine politische Entscheidung, ein bestimmtes Rassekonzept als wissenschaftliches zu propagieren. Zur politischen Aufladung kam noch hinzu, dass die Kriterien zur Definition von Rassen umstrittener waren (und nach wie vor sind) als etwa der (auch immer wieder strittige, aber letztlich konsensuellere) Artbegriff. Nichtsdestotrotz gelang es den Aufklärern, Naturphilosophen und Anthropologen, den Rassebegriff als wissenschaftlich zu etablieren. Insbesondere für die Konstituierung und Außenwirkung des Fachs Anthropologie spielten die Forschungen zu den Rassen der Menschheit eine zentrale Rolle. Mit der politischen Funktionalität des Wissens über die Differenz zwischen den Rassen und besonders des Wissens über die Inferiorität der ›Anderen‹ konnten zudem Regierungshandlungen ausgeweitet werden, die auf die Bevölkerung, ihre Vermehrung sowie die Verbesserung ihrer Gesundheit und Produktivität zielten. Im Rahmen dieser Funktionalität konnten Rassevorstellungen weitgehend sowohl als populäres Allgemeingut als auch in Form wissenschaftlicher Konzepte stabilisiert werden. So gingen wissenschaftliche Rassekonzepte zum Ende des 19. Jahrhunderts in vielfältige politische Vorgaben und legislative Ordnungen zur Regulierung der Menschen in den Kolonien wie in den Kolonialländern ein. Ab 1876 verankerten die Südstaaten der USA die »Rassentrennung« gesetzlich für öffentliche Bereiche, Schulen, Restaurants etc. In zahlreichen Kolonien nahmen die Kolonialregierungen rassische Unterteilungen der Bevölkerung vor. Ausgrenzungspolitiken unter Verweis auf Rassentheorien gingen mit Antisemitismus und im beginnenden 20. Jahrhundert schließlich mit Eugenik eine immer engere Verbindung ein. An dieser Ausweitung und Einbindung von Rasse auf vielfältigen Ebenen sowie an ihrem Eingang ins Allgemeinwissen waren aber nicht nur die Biowissenschaften, sondern auch die Geistes- und die im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaften maßgeblich beteiligt.
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Im Zuge der immer stärkeren Verwicklung von Rassekonzepten mit antisemitischen und eugenischen Ideologien sowie mit politisch-legislativen Ordnungsund Ausschlusspraktiken kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch zur Ausweitung jener Kritikformen, die nicht lediglich auf eine »Verbesserung« der Untersuchungen oder auf die »richtigen« zu messenden Merkmale zielten. In Auseinandersetzung mit den vielfältigen politischen Implikationen entwickelte sich in jener Zeit eine grundlegende Kritik, die zunächst aus einer fachexternen Position – insbesondere aus den Sozialwissenschaften – formuliert wurde. Mit dieser wurden die biowissenschaftlichen Einteilungen der Menschheit in Rassen und deren Definition über psychische, moralische, charakterliche und ähnliche Eigenschaften massiv infrage gestellt. Zwar lässt sich ein Anfangspunkt für das Einsetzen derartiger Kritiken nicht klar festlegen, da der Rassebegriff und die Einteilungen der Menschheit zum einen von Beginn an in kontroverse Auseinandersetzungen um die Implikationen der Aufteilungen und um die ›richtige‹ Behandlung der ›Anderen‹ eingebunden war. Zum anderen sind viele der frühen Einwände aus heutiger Sicht als äußerst ambivalent zu werten, da sie oft selber rassistisch argumentierten. 17 Ein Großteil der kritischen Argumentationen agierte zunächst nur gegen einige Aspekte der vorherrschenden Rassentheorien und verblieb in anderen Gesichtspunkten im rassistischen Diskurs, indem etwa Theorien der »Reinerbigkeit«, der »Degeneration durch Rassenmischung« oder der »Minderwertigkeit« der ›Anderen‹ bekämpft, dennoch aber unterschiedliche Rasseneigenschaften z.B. im »Temperament«, »Charakter« oder in »geistigen Eigenschaften« angenommen wurden. So übte etwa der Pfarrer und Publizist Carl Jensch mit seinem Essayband »Sozialauslese: Kritische Glossen« von 1898 eine verhaltene Kritik an den biologischanthropologischen Ideologien der »Rassenverbesserungen«, »Auslese« und rassischen Klassifikation der »Lang- und Rundköpfigkeit«, rückte aber dennoch ein Verständnis von Rassen als kulturell und von der Umwelt determiniert in den Vordergrund. In vergleichbarer Weise übte auch der Anthropologe Léonce Manouvrier 1899 Kritik an Einteilungen von Rassen anhand des »Schädelindex«
17 Eine historische Bearbeitung und systematische sozialwissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte, Inhalte und Ausdrucksformen des Antirassismus existiert bisher nicht. Statt die konkreten Beiträge zur Entwicklung des Wissens über Rasse, die Prozesse der Rassifizierung zu untersuchen, wird in vielen existierenden historischen Arbeiten Rasseapologeten ein Persilschein ausgestellt oder sie gelegentlich sogar zu Antirassisten uminterpretiert, weil bei ihnen etwa partialen Kritiken an Ansätzen ihrer Kollegen zu finden sind. Für die hier vorgenommene Untersuchung nehmen die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstehenden Kritiken eine wichtige Rolle bei der weiteren Entwicklung biowissenschaftlicher Rassekonzepte ein. Siehe hierzu die Ausführungen im Kapitel »Genetifizierung« sowie »Analytik rassifizierender Gesellschaften«.
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und sprach sich gegen biologisch determinierte Vorstellungen und für eine Sozialphilosophie aus, die Persönlichkeit und Charakter als durch die Umwelt beeinflusst begreift. Als einer der ersten sozialwissenschaftlichen Kritiker griff der Soziologe William Isaac Thomas 18 1896 in dem Artikel »The Scope and Method of Folk-Psychology« die Praktiken rassischer Klassifikationen an, vor allem jene, die Hirnvolumen mit Intelligenz in Verbindung brachten (vgl. Bös 2005: 83). Dieser Perspektive der kritischen Einlassungen ist nun weiter zu folgen, indem sie zunächst inhaltlich und analytisch skizziert wird, um darauf folgend auf eine wesentliche Intervention – die UNESCO-Statements zur Rassenfrage – zu sprechen zu kommen.
Kritiken: Gegen Bio-Essentialismus, Determinismus und Hierarchisierung der Rassen Auf Basis der genannten Ansätze entwickelten sich um die Jahrhundertwende neue umfassendere Kritikperspektiven, die über Einzelaspekte sowie religiös oder humanistisch inspirierte Argumente hinausgingen. Diese stellten die bestehenden »Rassentheorien« mit wissenschaftlichen Mitteln bezüglich ihres biologischen Determinismus und daran geknüpfte Ableitungen zur Weltgeschichte, zur Entwicklungsfähigkeit von Nationen sowie zu Wertsetzungen und Hierarchisierungen in Frage. Jene Kritiken entwickelten sich in drei zwar unterschiedlichen, aber an einigen Punkten miteinander verbundenen Kontexten: Erstens im Zusammenhang mit einer ausgreifenden Debatte um Antisemitismus in Frankreich und Deutschland, zweitens im Rahmen einer Auseinandersetzung um die Anwendbarkeit biologischen Wissens auf gesellschaftliche und politische Fragen, letztlich in Bezug auf Determination, Degeneration, Ungleichheit, Moral und Solidarität und drittens in Verbindung mit Kontroversen um die »race question« in den USA. Vor dem Hintergrund sowohl der Auseinandersetzungen um Antisemitismus, insbesondere in Folge des von Heinrich von Treitschke entfachten »Berliner Antisemitismusstreit« von 1879-81, als auch im Kontext der wissenschaftlichen Erörterungen zur Anthropologie der »jüdischen Rasse«, entstand um 1900 eine umfängliche Kritik an Antisemitismus, an hierarchischen Zuordnungen und vermeintlich wissenschaftlich belegten Unterschieden zwischen Jüdinnen/Juden und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung (Deutschen, Französޚinnen etc.). So klagte beispielsweise der Jurist Ludwig Fuld in der 1899 erschienen Streitschrift »Antisemitismus in der Wissenschaft« eine Reihe von Wissenschaftler an, die ihm 18 Jener Thomas, der 1929 gemeinsam mit Dorothy Thomas das ›Grundgesetz der Soziologie‹, das Thomas-Theorem formulierte.
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zufolge ihre Arbeit in den »Dienst von Parteiungen« stellten und mit der von ihnen vorgenommenen »Rassen- und Religionsverhetzung nicht die Objektivität« der Wissenschaft wahrten (1899: 404ff.; vgl. Lipphardt 2008b). Der Diplomat Heinrich von Coudenhove-Kalergi veröffentlichte 1901 die Abhandlung »Das Wesen des Antisemitismus«, in welcher er verschiedene Argumente gegen einen »Rassenantisemitismus«, gegen die Vorstellung einer sich von »Ariern« unterscheidenden »semitischen Rasse« sowie gegen die verbreitete Lehrmeinung, dass »Rassenmischung« schädlich sei, anführt (Coudenhove-Kalergi 1901). Eine dezidierte Auseinandersetzung mit einem Großteil der zu seiner Zeit vorherrschenden Rassekonzepte veröffentlichte 1904 der österreichische Soziologe und Nationalökonom Friedrich Otto Hertz in den beiden Bänden »Moderne Rassentheorien. Kritische Essays« sowie »Antisemitismus und Wissenschaft«, in welchen er gegen die These vom »Rassenkampf« als Hauptfaktor der Geschichte, gegen die angebliche »Affenähnlichkeit Schwarzer« und gegen die Degeneration durch »Rassenmischung« vorgeht und den »Rassentheorien« die Wissenschaftlichkeit abspricht: »Der Rassentheoretiker hat ein Leitprinzip mit dem sich eigentlich alles beweisen und erklären lässt. Er lehnt die Einflüsse der Aussenwelt ab und erklärt alles aus ›Rassenzügen‹« (Hertz 1904a: 336). Gegen die verbreiteten Methoden der Anthropologie, die Vermessung der Schädel, Gehirngewichte und Untersuchungen zur Pigmentierung der Haut und Haare, wendet er ein, dass »[s]owohl die Grösse, als die Konstanz der Rassenmomente unglaublich übertrieben« würden. Stattdessen plädierte er für ein »soziales Schauen« und formulierte eine Kritik an Differenz-Essentialisierungen, da die »zwischen den entferntesten Gliedern einer Sprachfamilie oder Rasse bestehenden Kulturunterschiede grösser sind als die zwischen zwei beliebigen Rassen als Ganzes« (ebd.: II, 184 u. 301f.; siehe auch Hertz 1904b). Der zweite Strang dieser neuen Kritikform entwickelte sich in den Auseinandersetzungen um die Relevanz biowissenschaftlichen Wissens für gesellschaftliche und politische, moralische bzw. ethische Fragen und Probleme. So veröffentlichte der Soziologe Jean Finot 1905 den Band »Le préjugé des races«, in welchem er gegen die Existenz vererbbarer biologischer Charaktereigenschaften und intellektueller Fähigkeiten argumentierte. Statt auf Rasse begründete er die »organische Ungleichheit unter den Menschen« auf der individuellen Ebene und hielt den Begriff »Rasse« für »ungeeignet, den spezifischen Charakter der in ewigem Fluß befindlichen Verschiedenheiten zwischen den Gliedern der menschlichen Einheit zu umgrenzen« (Finot 1906: 38; 418). Die Bezeichnung Rasse sei »ein Erzeugnis unserer Geistesgymnastik, der Tätigkeit unseres Intellekts außerhalb der Wirklichkeit«, sie bestünde lediglich als »eine Fiktion unseres Gehirns« (ebd). In ähnlicher Weise argumentierte der Anthropologe Franz Boas in verschiedenen Studien
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(1903 u. 1911) zur Vererbung der Kopfform, in denen er physische Merkmale der Kinder von Immigrantޚinnen vermaß und nachwies, dass die als »Rassenmerkmale« verwendeten Kopf- und Körpermaße nicht über die Generationen stabil waren und dass es keinerlei physische Differenzen zwischen sogenannten »Primitiven« und »Zivilisierten« gebe. Boas stellte mit seinen Forschungen nicht nur die Vermessungen der Rassenanthropologen in Frage, sondern ebenso jenen Nachweis der Minderwertigkeit der ›Anderen‹, der in der vergleichenden Schädelvermessung eingeschrieben war, da der Sitz des Gehirns schon als Ort der Vernunft galt und ein vermeintlich kleinerer Schädel der nichteuropäischen Rassen (wie auch von Frauen) im Rahmen der vorherrschenden Basisannahmen rassistische Mythen bestätigten. 19 Zu den ersten Arbeiten der Kritik aus dem Kontext der Debatte um die »Race Question« zählen die Texte des US-amerikanischen Bürgerrechtlers und Soziologen W.E.B. DuௗBois. Im Jahr 1904 argumentierte DuௗBois in dem Artikel »Heredity and the Public Schools«, dass »keine Abweichung vom europäischen Typus« hinreichend sei, um auch nur irgendeine »Theorie grundlegender menschlicher Differenzen darauf zu stützen«. Seine Arbeiten begründeten eine antiessentialistische und kritische Race Theory, mit der schließlich ein Wechsel von den Biowissenschaften zur Politik, von der biologischen Taxonomie zur Thematisierung von Ausbeutung und Unterdrückung vollzogen werden konnte (DuௗBois 1986: 50, siehe auch DuௗBois 1915 u. vgl. Bös 2010). In den folgenden Jahren erschienen weitere Kritiken einer Reihe von Akteurޚ innen, die sich gegen die Unwissenschaftlichkeit und Unangemessenheit der Rassentheorien wandten. Ab den 1930er Jahren kamen außerdem Kritiken aus der im Entstehen befindlichen Populationsgenetik und der Kulturanthropologie hinzu, die vehement Vorstellungen wie die von vermeintlich angeborenen Charaktereigenschaften oder vom »Rassenkampf« ablehnten (Huxley/Haddon 1935; Haldane 1938; Dahlberg 1943; Dunn/Dobzhansky 1946; Benedict 1947). In diese Zeit fallen auch Interventionen, die mit den neuerschaffenen Begriffen »rassistisch« und »Rassismus« agieren sowie Vorschläge, den Begriff »Rasse« aufgrund seiner wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten durch »Ethnie« oder »ethnische Gruppe« zu ersetzen. Als Buchtitel erschien der Begriff Rassismus Weltweit erstmals in dem in den 1930er Jahren vom Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld geschriebenen (und posthum 1938 veröffentlichten) Buch »Racism«,
19 Bezeichnend ist jedoch, dass die Grundannahme – die generationale Stabilität der Schädelgröße (und damit zusammenhängend der Hirnmasse) vor Boas offensichtlich keiner Untersuchung wert war. Die Materialität der Knochen schien den Forschern offensichtlich so mächtig, dass eine Änderung innerhalb einer Generation nicht denkbar sein konnte.
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in welchem er gegen die in Deutschland vorherrschende Nazidoktrin des »Rassenkampfes« anschreibt. Wie die Wissenschaftshistorikerin Veronika Lipphardt (2008a,b) zeigt, waren mit den Kritiken an den vorherrschenden Rassekonzepten im Wesentlichen Absagen an biologisch deterministische Vorstellungen und an die Werturteile, mit denen Rassen in höher und niedriger stehende eingeteilt wurden, verbunden, während gleichzeitig, zumindest in den biowissenschaftlichen Kritiken, in aller Regel dennoch von der Existenz biologischer Rassen ausgegangen wurde. Mit der Politisierung und Sozialisierung des Rassebegriffs durch die Kritik an biowissenschaftlichen Festschreibungen rassischer Charakteristiken und den damit verbundenen Wertungen entstanden jedoch zunehmend wirkmächtige Absagen an Rasse. Diese mündeten zum einen in eine sozialwissenschaftliche Kritik an rassistischen Verhältnissen und zum anderen in die biowissenschaftlichen Infragestellungen der Taxonomiekategorie selbst. In den bisherigen Darstellungen zur Geschichte sozialwissenschaftlicher Kritiken an Rasse bleibt deren Bedeutung in der weiteren Entwicklung meist unterbelichtet, weshalb es notwendig wird, die Kritiken nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere die Statements der UNESCO näher zu beleuchten.
UNESCO-Statements zur »Rassenfrage« At mid-century, social scientists believed that they had won the battle with hereditarians over who could better explain the great human concerns of our era. Troy Duster 1990: VII
Eine neue Qualität der Kritik erreichten zwei Statements zur »Race Question« sowie zur »Nature of Race and Racial Differences« (UNESCO 1952a, UNESCO 1952b), die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Dach der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) mit dem Ziel ausgearbeitet wurden, das »Rassenvorurteil« zu beseitigen. Für das Verständnis der heutigen Relationen von Kritik an Rassekonzepten und biowissenschaftlicher Rasseforschung nehmen die Statements eine besondere Rolle ein, denn mit ihnen wurden die Kritiken auf eine sozialwissenschaftlich und zugleich politisch wirkmächtige Bühne gehoben. Besondere Bedeutung erlangte das erste Statement aufgrund der sofort einsetzenden internationalen Debatte. Beide Erklärungen erhielten darüber hinaus in den 1990er Jahren einen zusätzlichen
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Bedeutungszuwachs, indem sie häufig als Marksteine einer Zäsur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Rasse dargestellt und oft auch als schlussendlich verfasster Beweis der wissenschaftlichen Widerlegtheit von Rasseunterteilungen aufgeführt werden. Bemerkenswert sind die beiden UNESCO-Statements daher nicht nur, weil damit erstmals eine einflussreiche politische Institution eingesetzt wurde, um »wissenschaftliche Fakten zu verbreiten«, die »rassische Vorurteile« (UNESCO 1952: 6) demontieren könnten, sondern weil diese von vielen Kommentatorޚinnen mit einer hohen Wirkmacht und wissenschaftlichen Aussagekraft versehen werden. Nicht selten wird dabei der tatsächliche antirassistische Gehalt der Texte überbewertet, wenn etwa die Erklärungen so resümiert werden, als hätten diese »festgestellt, dass es keine wissenschaftliche Basis für die Einteilung der Menschheit in Rassen gebe« (Räthzel 2004: 249). 20 Aus der Bedeutung, die die Statements aktuell haben und aus der Besonderheit ihres Entstehungszusammenhangs ergeben sich zwei Gründe für die dezidiertere Betrachtung: Zum einen ist es notwendig, die Rolle sozialwissenschaftlicher Kritik und deren Wirkung auf die weitere biowissenschaftliche Beschäftigung mit Rasse in den Blick zu nehmen, um die Dynamik von Rasseforschung seit den 1950er Jahren zu verstehen. Zum anderen zeigen die UNESCO-Statements bei einer näheren Betrachtung auch auf, welche Interventionen mit der gewählten Form der Kritik möglich wurden und die weitere Geschichte von Rasse bis in die Gegenwart beeinflussten. Zwar sind in den letzten Jahren auch einige detaillierte Fallstudien 21 durchgeführt worden, aber in den bisherigen Darstellungen zu den UNESCO-Statements wird meist nur auf die Rolle einzelner Akteure oder die Auseinandersetzungen in den Biowissenschaften, aber nicht ausreichend auf die Rolle sozialwissenschaftlicher und politischer Intervention und deren Inhalte eingegangen. Das Besondere der UNESCO-Erklärungen ist jedoch nicht deren Kritik an vorherrschenden Rassekonzepten, sondern ihre Intervention in politische, wissenschaftliche und rechtliche Bereiche zu Fragen um rassifizierende Teilungen. Anlass dieser expliziten 20 Tatsächlich findet sich in keinem der beiden UNESCO-Statements aus den 1950er Jahren eine solche oder ähnliche Feststellung, und die dort vorgenommen Ausführungen lassen sich auch nicht derart zusammenfassen. Jedoch laden die Dokumente offenbar dazu ein, antirassistische Positionen als wissenschaftlich belegt zu sehen. Jedenfalls wäre so zu erklären, wie etwa Thomas Becker behaupten kann, »nach dem Schock des Holocaust« sei »im Auftrag der UNESCO bewiesen« worden, »dass über 99% des Genmaterials zwischen den unterschiedlichen Rassen identisch ist« (2005: 9f.) oder Nina Degele, die die Einschätzung von Räthzel aufgreift und dabei ähnlich wie Becker eines der Ergebnisse des Humangenomprojekts (Venter 2002) 50 Jahre vorverlegt: »denn 99,9% der DNA aller Menschen ist identisch« (2008: 96). 21 Siehe etwa Provine 1982, 1986; Weingart/Kroll/Bayertz 1992; Shipman 1994; Müller-Wille 2003; Reardon 2004; Brattain 2007.
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Politikanbindung waren allerdings kaum neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern Veränderungen in der Rolle und Funktion gesellschaftlich-politischer Problematisierungen. Wissenschaft konnte in Folge ihrer Verwicklung in die Vernichtungspolitiken des Nationalsozialismus nicht mehr als völlig eigenständige und nur neutralem Wissen verpflichtete Institution gesehen werden. Das eingedenkend wurde ihr nun dementgegen die Fähigkeit zugeschrieben, insbesondere mit sozialwissenschaftlichen Kritiken und mit »wissenschaftlichen Fakten« zu verdeutlichen, dass – wie im ersten Statement formuliert – Rasse »weniger ein biologisches Phänomen als vielmehr ein sozialer Mythos ist« (UNESCO 1950: 101). Hintergrund des ersten UNESCO-Statements von 1949 ist die historische Situation des am 22. Juni 1941 erfolgten Angriffs des Deutschen Reichs auf die UdSSR. Kurz darauf fanden am 14. August 1941 Verhandlungen zwischen den Regierungschefs der USA und Großbritanniens statt, bei denen neben Waffenlieferungen der USA an Großbritannien und die UdSSR auch ein Nachkriegsprogramm, die sogenannte »Atlantik-Charta«, vereinbart wurde. In dieser schrieben die beiden Großmächte unter anderem den »Verzicht auf territoriale Expansion« sowie die Friedenssicherung und den Verzicht auf Gewaltanwendung und Abrüstung fest (Office for Emergency Management etௗal. 1941). Die Atlantik-Charta wurde Grundlage der 1942 verabschiedeten »Deklaration vereinter Nationen« der 26 Staaten der Anti-Hitler-Koalition. Auf deren Basis wurde schließlich im Februar 1945 die UNO, sowie im selben Jahr die UNESCO als Sonderorganisation der UNO gegründet, um die »Zusammenarbeit der Völker der Welt auf den Gebieten der Erziehung, der Wissenschaft und der Kultur« sowie »internationalen Frieden und gemeinsame Wohlfahrt der Menschheit zu verwirklichen« (United Nations 1945). In der Verfassung der UNESCO wird erklärt, »dass der grosse und schreckliche Krieg […] nur dadurch möglich wurde, dass das demokratische Ideal der Würde, der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung des Menschen verleugnet wurde, um an seine Stelle, unter Ausbeutung von Unwissenheit und Vorurteilen, die Lehre von der Ungleichheit der Rassen und der Menschen zu setzen« (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung 1945). Zur Umsetzung der Ziele gegen eine Lehre von der Ungleichheit der Rassen und für demokratische Ideale, der Würde, Gleichheit und gegenseitigen Achtung verstand sich die UNESCO selbst als die international am besten gerüstete Institution, insbesondere zur Leitung einer »Kampagne gegen Rassenvorurteile« und zur »Beseitigung dieser gefährlichsten Doktrin« (Métraux 1950: 384). Gegen den »Rassenhass«, der vor allem durch »wissenschaftlich falsche Ideen gedeiht und durch Ignoranz genährt wird«, sah die UNESCO »die Mittel und Methoden der Bildung, Wissenschaft und Kultur« als geeignet an (ebd.). Entsprechend galten schon auf den ersten Treffen der Organisation drei Bereiche – Bildung, Wissenschaft und Kultur – als befähigt, einen Beitrag
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zur Sicherung des Friedens und zur Förderung des Gemeinwohls der Menschheit zu leisten, aber auch als Interventionsebenen gegen jedwede »philosophy of racialism« und »Vorstellungen von Überlegenheit einer Nation oder einer ethnischen Gruppe« (UNESCO 1946: 21). Auf Vorschlag des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC) sollte die UNESCO ein effektives Bildungsprogramm erarbeiten sowie eine Sammlung von Material und wissenschaftlichen Fakten vornehmen, die geeignet wären, »rassische Vorurteile abzubauen«. Außerdem empfahl der Rat, ein Komitee von internationalen Persönlichkeiten zu bilden, in welchem »grundlegende Prinzipien von demokratischer und allseitiger Bildung zur Abwehr jeglicher Form von Intoleranz und Feindschaft zwischen Nationen und Gruppen« erstellt werden sollten (UN Economic and Social Council 1948: 17). Diesem Aufruf folgend berief die UNESCO unter ihrem Dach schließlich jenes Komitee von Wissenschaflerޚinnen ein, »deren Aufgabenstellung es war, das Konzept der Rasse zu definieren und dafür eine Darstellung in ›klaren und leicht verständlichen‹ Begriffen, […] bezüglich des hoch kontroversen Problems rassischer Differenzen, zu formulieren« (UNESCO 1952b: 6). Die dafür gewählte Strategie war, mit »wissenschaftlichen Fakten« gegen das »gefährlichste Dogma« der »Rassenvorurteile« sowie gegen »rassische Propaganda« vorzugehen (UNESCO 1952b: 5). Für das Expertentreffen am 12. bis 14. Dezember 1949 lud Arthur Ramos als Vorsitzender des Fachbereichs Sozialwissenschaften der UNESCO Personen ein, die international relevante ethnologische Arbeiten, Analysen zu »Rassenbeziehungen« sowie kritische Texte zu rassistischem Vorurteilsdenken oder ähnlichem veröffentlicht hatten. Offenbar erschien es der UNESCO im Sinne ihrer Ziele völlig legitim, die Organisation in die Hände eines Sozialwissenschaftlers zu geben (und nicht den Fachbereich Naturwissenschaften zu beauftragen), so wie es auch Ramos angebracht schien, für das Komitee nur einen physischen Anthropologen und ansonsten ausschließlich Sozialwissenschaftler zu berufen. 22 Wie der Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille darstellt, ging es der UNESCO offenbar darum, »sich mit einer klaren Position aktiv einzumischen«, wofür sie »zunächst Experten auf diesem Gebiet ein[lud], die sich, wenig überraschend, überwiegend aus den Sozialwissenschaften rekrutierten« (Müller-Wille 2003: 84). Allerdings ist es sowohl aus heutiger Sicht als auch im Kontext der damaligen Auseinandersetzungen sehr wohl überraschend, dass Sozialwissenschaftler für sich die wissenschaftliche Auto22 Die Teilnehmer waren die Soziologen Prof. Edward Franklin Frazier (USA) und Prof. Morris Ginsberg (Großbritanien), der Psychologe und Ethnologe Prof. Ernest Beaglehole (Neuseeland), der physische Anthropologe Prof. Juan Comas (Mexico), der Bildungspolitiker und Philosoph Dr. Humayun Kabir (Indien), die Sozialanthropologen Prof. Claude LeviStrauss, (Frankreich) und Prof. Luiz de Aguiar Costa Pinto (Brasilien) sowie der Kulturanthropologe Prof. Ashley Montagu (USA).
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rität in Anspruch nahmen, Erklärungen zu Rassefragen abzugeben, die auch für die Biowissenschaften und darüber hinaus international Gültigkeit besitzen sollten. Überraschend, weil angesichts der zu dieser Zeit schon bestehenden innerbiologischen Kritiken aus strategischem Kalkül eine aus verschiedenen Disziplinen besetzte Kommission nahegelegen hätte. Sinnvoll konnte ein solcherart zusammengesetztes Expertentreffen nur unter der Bedingung sein, dass wenigstens die Planer die race question als eine politische Frage sahen, die nicht von den Biowissenschaften bzw. nicht von diesen allein zu klären sei. Der bis dahin vor allem biologisch gefüllte Begriff Rasse wurde damit als politischer Begriff sozialisiert. Die Biowissenschaften bedurfte es dann nur noch als Unterstützung der politischen Interventionen. Um dies Unterstützung zu erlangen wurde das von der Kommission erstellte Statement schließlich auf Betreiben Montagus an 13 namhafte Wissenschaftler, vor allem Professoren der Genetik und der Biologie, zur Unterzeichnung gesandt. 23 In dieser Fassung erschien es im Juli 1950 als UNESCO-Dokument, das weltweit an Presseorgane gesandt wurde, die es in vielen Ländern im Volltext oder in Zusammenfassung veröffentlichten. Die London Times druckte eine Kurzfassung ab, auf die mit zahlreichen Briefen reagiert wurde, und in der Zeitschrift Man des »Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland« entbrannte eine Jahre anhaltende Debatte. Wie einer der Herausgeber der Zeitschrift kommentierte, waren »gewisse Textteile« des Statements »weit davon entfernt, allgemeine Übereinstimmung zu erzeugen« (zit. nach Shipman 1994: 163). Dem entsprechend erreichten die UNESCO sofort nach der Veröffentlichung eine Fülle von disparaten Kommentaren, Kritiken, Ergänzungen und Abänderungen von verschiedenen Seiten. Neben Beschwerden von Anthropologen, nicht in die Erstellung des Textes involviert worden zu sein, wurde angemerkt, dass die genetischen Ursachen für spezifische Charakteristiken noch nicht geklärt seien und somit mehr zu Rassen geforscht werden müsse. Andere stellten heraus, dass menschliche Gruppen –entgegen den Darstellungen des Statements – sehr wohl in den ihnen angeborenen Möglichkeiten zur intellektuellem und emotionalen Entwicklung differieren würden oder sahen eine Nähe der Erklärung zur Verfälschung wissenschaftlicher Daten, wie es »die Russen« oder Hitler täten. 24 Die deutschen Kommentatoren hofften auf weiteres biologisches Wissen, welches die 23 Dies waren der Zoologe Edwin Grant Conklin, die Genetiker Gunnar Dahlberg, Hermann J. Muller, Curt Stern und Leslie C. Dunn, die Biologen Theodosius Dobzhansky und Julian S. Huxley, der Wirtschaftswissenschaftler Gunnar Myrdal, der Anthropologe Donald Hager, der Soziologe Wilbert Moore, der Biochemiker Joseph Needham und sowie die Sozialpsychologen Hadley Cantril und Otto Klineberg. 24 Carleton S. Coon antwortete z.B. »…I do not approve of slanting scientific data to support a social theory, since that is just what the Russians are doing, and what Hitler did.« (zit. in UNESCO 1952b: 28; Hervorhebung i.O.).
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von ihnen als falsch angesehenen Konzepte der Gleichheit zerstören werde, und kritisierten die Missachtung der von ihnen angenommenen enormen angeborenen Differenzen und der Wissenschaft der Eugenik, da es bei einer fehlenden Selektion zu einem Zivilisationsverfall kommen werde (UNESCO 1952b: 17ff.). Offenbar trafen diese Reaktionen die UNESCO massiv, sodass von dieser schon wenige Monate nach der Veröffentlichung ein neues Meeting einberufen wurde, diesmal unter der Federführung von zwölf Humangenetikern und physischen Anthropologen. Für die Erstellung einer besser abgesicherten Fassung ging das erste Statement zur Kommentierung an über 100 prominente physische Anthropologen und Genetiker (darunter auch bekannte Rasseforscher 25). Ergebnis der Auseinandersetzungen und Überarbeitungen war eine im Juni 1951 erstellte zweite Fassung, welche die UNESCO im Sommer 1952 publizierte. In dieser versuchte die UNESCO die »dürftige Beteiligung« von Vertretern der Biowissenschaften eher als ungewollt, mit dem plötzlichen Tode des Organisators Ramos am 31. Oktober 1949 sowie mehreren kurzfristigen Absagen zusammenhängend, zu rechtfertigen, statt als intendiert darzustellen (UNESCO 1952b: 6). 26 Im zweiten Statement wurden schließlich bedeutungsvolle Umformulierungen vorgenommen. So löschte das neue Gremium die in der ersten Fassung enthaltenen sozialwissenschaftlich und politisch inspirierten Passagen, in denen Rasse als »weniger ein biologisches Phänomen« denn vielmehr als »sozialer Mythos« (UNESCO 1950: 101) definiert und die Ersetzung des Rassebegriffs durch »ethnische Gruppen« angeregt wurde (ebd.: 99). 27 Außerdem wurden Umdeutungen vorgenommen, wie etwa in der Einleitung zum neuen Statement, in der der Ethnologe Alfred Métraux die erste Fassung so darstellt, als seien sich die beteiligten 25 Neben den Rassetypologen wie Ernest A. Hooton oder Coon auch die deutschen Rassenkundler und Eugeniker Eugen Fischer, Fritz Lenz, Karl Saller, Hans Weinert und Egon von Eickstedt, die alle auch Antwortbriefe verfasst hatten. 26 Unerwähnt blieb, wer als Vertreter der Biowissenschaften noch zum Gremium geladen worden war. Weder aus den recherchierbaren Dokumenten noch aus den mir zugänglichen historischen Arbeiten zur UNESCO wird dies ersichtlich. Bemerkenswert ist an der Darstellung allerdings, dass der Eindruck vermittelt wird, Ramos habe als Repräsentant der Biowissenschaften zählen können. Tatsächlich hatte dieser als ehemals klinischer Psychiater eine medizinische Ausbildung erlangt, und in den 1920ern und 30ern mehrere psychiatrische und psychoanalytische Arbeiten verfasst. Ab Mitte der 1930er Jahre arbeitete er jedoch nur noch im Bereich der Sozialpsychologie und Anthropologie. Er war Vorsitzender der Sozialpsychologie der Universität Rio de Janeiro, Gründer und erster Präsident der Brasilianischen Anthropologischen und Ethnologischen Gesellschaft und verfasste mehrere ethnologische Bücher wie etwa »O Negro Brasileiro: etnografia religiosa e psicanálise« (UNESCO 1949). 27 Gelöscht wurden außerdem Passagen, denen zufolge individuelle Differenzen und jene, die durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden, bedeutender seien als Gruppendifferenzen sowie die Aussage, dass Persönlichkeit und Charakter als »rassenlos« zu betrachten seien (UNESCO 1950: 101).
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Soziologen darin einig gewesen, »dass Rasse biologisch definiert werden muss« (UNESCO 1952b: 6f.). Aber auch wenn in der zweiten Fassung des Statements die politischsozialwissenschaftliche Grundlegung zur ›Natur der Rasse und rassischer Differenzen‹ weitgehend umgearbeitet wurde, hatte der Text dennoch nachhaltige Wirkung. Mit den Statements trat die Kritik an Rassekonzepten aus einem bis dahin vor allem innerbiowissenschaftlich wirkenden Rahmen heraus und erreichte politische und zugleich internationale Aufmerksamkeit. Kritik an biowissenschaftlichen Konzepten konnte mit den Erklärungen zum ersten Mal nicht mehr pauschal als unwissenschaftlich oder als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit abgewehrt werden. Das UNESCO-Treffen stellt hierin eine bedeutungsvolle Verschiebung im Komplex Wissenschaft/Politik/Gesellschaft dar, da sozialwissenschaftlich ausgebildete Akteure erstmals sowohl in wissenschaftliche Konzeptualisierungen als auch in politische Bereiche einwirkten, und das zudem auf transnationaler Ebene. Die Strategie, mit »wissenschaftlichen Fakten« gegen »Rassenvorurteile« und »rassische Propaganda« vorzugehen (UNESCO 1952b: 5) wandelte sich im zweiten Statement weitgehend zu einer Auffassung von Rasse im Sinne eines biologischen Verständnisses statt sozialer Strukturen und Praxen. Mit Bestimmungen wie »race had to be defined biologically« verblieb die Debatte im Rahmen einer naturalistischen Bestimmung, in der »›Rasse‹ für Menschengruppen reserviert bleiben sollte, welche offensichtliche und primär vererbte physische Differenzen zu anderen Gruppen aufweisen« (UNESCO 1952b: 7 u. 11). Mit einer solchen Definition verharrte die Argumentation aber innerhalb der Biowissenschaften, denen damit zudem die wichtigste Position einer erklärenden und zur Bekämpfung von Rassismus und »Rassenvorurteil« geeigneten Instanz zukam. Anscheinend unbemerkt blieb dabei das Problem, dass ein soziales Bewertungssystem und gesellschaftliche Praxen der Unterteilung und Hierarchisierung nicht biologisch widerlegt werden können. Stattdessen wurde die Hoffnung gehegt, dass mit biowissenschaftlicher Expertise die Bedeutungsweite von Rassekonstrukten eingeschränkt werden könne. Damit agierten sowohl die Apologetޚinnen als auch die Kritikerޚinnen der Rassekonzepte mit denselben Mitteln biologischer Begründungen, um ihre jeweilige Position zu stützen. Die Debatte um Rasse verblieb somit weitestgehend auf der Ebene der Biowissenschaften, obwohl die Fragen um Rassekonzepte für den gesellschaftspolitischen Bereich zu klären waren. Trotz des weitgehenden Verbleibens der beiden UNESCO-Statements im biowissenschaftlichen Diskurs stellen diese eine Besonderheit dar, da sie als Marksteine einer Veränderung im Verständnis von Wissenschaft gesehen werden können. Wissenschaft wurde als ein Mittel erachtet, das intervenierend zur Erlangung bzw. Förderung des internationalen Friedens und für das »demokratische Ideal der
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Würde, der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung des Menschen« gegen eine »Lehre von der Ungleichheit der Rassen und der Menschen« eingesetzt werden könne (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung 1945). Insbesondere aufgrund dieser Zuweisung von Wirkmacht an die Wissenschaft stehen die UNESCO-Statements für viele Kommentatorޚinnen als Umschlagpunkt, in dessen Folge es zu einer Absage an rassifizierte Differenzkonzepte gekommen sei. Und tatsächlich beflügelten die beiden Erklärungen in rascher Folge weitere ähnliche Publikationen mit dem Ziel, in den Alltags- und Wissenschaftsdiskurs einzugreifen. Ab 1951 gab die UNESCO die Publikationsreihe »The Race Question in Modern Science« heraus, in der in den folgenden Jahren zehn kurze Bände zu »Race and Culture«, »Race and Psychology«, »Race and Biology«, »Racial Myths«, »The Roots of Prejudice«, »Race and History«, »Race and Society« u.a. von prominenten Autoren wie Otto Klineberg (1951), Leslie Dunn (1953) oder Claude Lévi-Strauss (1952) erschienen. 1952 publizierte sie das Buch »What is Race? Evidence from Scientists«. Kurz darauf entstand eine Reihe mit dem Titel »The Race Question and Modern Thought«, in der Texte wie »The Catholic Church and the Race Question« (Congar 1953), »Buddhism and the Race Question« (Malalasekera/ Jayatilleke 1958) u.a. herausgegeben wurden. In späteren Jahren veröffentlichte die UNESCO außerdem eine Reihe von weiteren Texten, Büchern und Sammelbänden, in denen es immer wieder um die Legitimität von Rasseneinteilungen und damit verbundenen Wertungen, um die Vermittlung der ›neuesten‹ wissenschaftlichen Erkenntnisse vor allem der Populationsgenetik und um die Zurückweisung von typologischen Rassekonzepten sowie der Annahme psychischer bzw. Intelligenz-Unterschiede oder von Problemen bei »Rassenmischung« ging. 28 Neben der Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen über Differenz in Verbindung mit humanistischen Werten wurden außerdem immer wieder weitere Treffen auf Initiative der der UNESCO anberaumt, bei denen der Status von Rasse verhandelt und Interventionen gegen Rassismus, Vorurteile, Diskriminierung besprochen wurden. Auch aus diesen Meetings gingen kontinuierlich Statements wie z.B. »Proposals on the Biological Aspects of Race« (UNESCO 1965), »Statement on Race and Racial Prejudice« (UNESCO 1967), »The Declaration on Race and Racial Prejudice« (UNESCO 1978), »Declaration Against Racism, Violence, and Discrimination« (UNESCO 1996a) und »Report of the World Conference
28 »Race, Prejudice, and Education« (Bibby 1959), »Race and Science: The Race Question in Modern Science« (UNESCO 1961), »Race, Science and Society« (UNESCO 1975), »Sociological Theories. Race and Colonialism« (UNESCO 1980), »Racism, science and pseudo-science« (UNESCO 1983) sowie »The Roots of Racism« (UNESCO 1996b). Die einzelnen Texte und die Beiträge in den Reihen wurden zumeist in mehrere, auch Nicht-Weltsprachen übersetzt.
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against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« (UNESCO 2001) hervor. Tatsächlich erzeugten die Erklärungen eine immense Wirkung, riefen eine umfangreiche Debatte innerhalb der mit Rasse beschäftigten Disziplinen hervor und wurden wie erwähnt in vielen internationalen Medien aufgegriffen. Dennoch zeitigte die mit dem zweiten Statement verstärkte biologische Verortung derartige Effekte, dass sich aus den Statements sehr unterschiedliche, mithin konträre Schlussfolgerungen ziehen ließen und nach wie vor lassen. Aufgrund der biologischen Bestimmung von Rasse waren weiterhin naturalistische Bestimmungen möglich, die eine weitere Klärung rassischer Differenzen als notwendig erachten ließen. Gleichzeitig wurden mit biologischen Forschungsergebnissen Vorstellungen von »reinen Rassen« sowie angeblichen negativen Effekte der »Rassenmischung« bekämpft. Entsprechend konnten die Statements den Einen als Beleg der »wissenschaftlichen Widerlegtheit« von Rasse gelten, während sie für Andere Anlass weiterer, aber nunmehr ›besserer‹ Rasseforschung sein sollten. Die verschiedenen Interpretationsvarianten der UNESCO-Statements spiegeln damit aber letztlich etwas, was als geradezu paradigmatisch für den Rassediskurs in Reaktion auf Kritik gelten kann: Die Debatten um rassifizierte Differenzen gestalten sich bisher als extrem interpretationsoffen, sodass Infragestellungen sowohl zur Absage an als auch zur Modernisierung von Rassekonzepten nutzbar sind und beides gleichzeitig dynamisieren können. Anhand dieser Ambivalenz sind die weiteren Entwicklungen von Rasse nach dem Zweiten Weltkrieg keinesfalls nur als allgemeine Durchsetzung der Kritiken zu lesen, sondern ebenfalls als Modernisierungsbewegungen und Persistenz biowissenschaftlicher Rasse-Konstruktionen zu interpretieren.
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Kontinuitäten und Brüche seit 1945: Zur Gegenwart der Vergangenheit Wir leben in einem feinfühligeren Jahrhundert, doch die grundlegenden Argumentationen scheinen sich nie zu wandeln. Die Plumpheiten des Schädelindex haben der Komplexität des Intelligenztests Platz gemacht. Stephen Jay Gould 1988: 153
Kann die Fülle der seit Ende des Zweiten Weltkriegs erschienenen Statements als Erfolg der UNESCO gewertet werden? Zunächst sicher ja, insofern sie auf breite Resonanz in Populärmedien stießen, in Lehr- und Bildungsmitteln thematisiert und in Policy-Vorgaben implementiert wurden. Wie in den ersten Statements ging es in den meisten weiteren Texten zunächst um die Zurückweisung nazistischer und eugenischer Vorstellungen, jedoch nicht um eine allgemeine Absage an Rassekonzepte. Stattdessen wurde Rasse, wie z.B. im »Proposal on the Biological Aspects of Race« (1964) populationsgenetisch als Ergebnis von »hereditary physical traits« beschrieben, und konstatiert, dass »[n]early all classifications recognize at least three major stocks« (S. 243). Dennoch zeichnete sich eine Entwicklung innerhalb der Texte ab, indem die in den 1950er und 60er Jahren vorherrschende Verwendung und Rechtfertigung populationsgenetischer Rassekonzeptionen ab den 1970er Jahren einer zunehmenden Beschäftigung mit Rassismus, Vorurteilen und Diskriminierung weicht. Die letzte Stellungnahme, die sich mit dem biologischen Rassebegriff beschäftigte, ist 1995 im Kontext der UNESCO-Konferenz »Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung« verabschiedet worden. In dieser formulieren Biologen, Anthropologen und Genetiker 29 entgegen den populationsgenetischen Verständnissen zu Rasse in den vorhergehenden Statements nun deutlich, dass Rasse ein völlig obsoletes Konzept sei und es »keinen wissenschaftlichen Grund [gibt], den Begriff ›Rasse‹ weiterhin zu verwenden« (UNESCO 1996a: 72). Auf der 2001 von der UNESCO ausgerichteten »World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« ging es nicht mehr um den biologischen Rassebegriff, sondern ausschließlich um soziale und politische Strategien gegen Rassismus. Über die Zeit der wiederholten Veröffentlichung von Statements zur Race Question ist also eine Zuspitzung der Kritik zu verzeichnen, von einer Absage an 29 Auf dem Treffen war unter den 19 Beteiligten keine Frau. Irenäus Eibl-Eibesfeld nahm an der Debatte teil, unterzeichnete aber das Statement nicht (Quelle: Interview mit Ulrich Kattmann).
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typologische und völkische Rassekonzepte und damit verbundenen hierarchisierende Wertungen hin zu einer allgemeinen Absage an Rasse als eines ›völlig obsoleten Konzepts‹. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass mit den ersten Statements keinesfalls eine ausreichende Absage erreicht war (zumindest nicht aus Sicht der UNESCO), es vielmehr regelmäßig weiterer Erklärungen bedurfte und biologische Rasseverständnisse damit weiterhin als Interventionsfeld angesehen wurden. Rasse war aus dieser Perspektive mit den ersten Erklärungen nach dem Zweiten Weltkrieg somit keinesfalls erledigt. Vielmehr sind die Statements als Ausgangspunkt der seit dieser Zeit anhaltenden Verhandlungen um den wissenschaftlichen Status von Rasseforschungen und der naturwissenschaftlich ›richtigen‹ Bedeutung von Rasse auszumachen. Aus dieser Beobachtung heraus stellt sich die Frage, wie die Kritiken innerhalb der Biowissenschaften auf die weitere Produktion von Differenzwissen wirkten sowie welche Aspekte konkret weitergetragen und mit welchen Formen rassischer Differenz gebrochen wurde. Schon aus den bisherigen Erörterungen zur Breite, Unschärfe und Wandelbarkeit von Rasse wird deutlich, dass Kontinuitäten in Bezug auf Rassekonzeptionen nicht im Sinne eines ›es bleibt wie es ist‹ verstanden werden können, sondern dass die Frage analytisch, mit einem Blick auf das ›Was bleibt?‹ und ›Was verändert sich wie?‹ angegangen werden muss. Kontinuitäten sind somit in Bezug auf biowissenschaftliche Rasseverständnisse nach dem Zweiten Weltkrieg als partielle Persistenzen, als Konzepte, die konstitutiv Veränderung unterworfen sind, zu verstehen, in deren Gehalt es aber ebenso um die Beständigkeit von Differenz geht. Die Teilungskategorie Rasse ist somit als ein Gegenstand zu fassen, in welchem eine konzeptionelle Wandelbarkeit mit als überdauernd angenommenen Differenzen verbunden ist. 30 Diese Gleichzeitigkeit von Wandel und Konstanz biologischer Rasseverständnisse wird in bisherigen Untersuchungs- und Darstellungsformen zur Kontinuität von Rasse und rassistischer Wissenschaft wenig beachtet. Das liegt m.E. vor allem daran, dass Kontinuitäten meist schematisch ermittelt werden, in aller Regel hinsichtlich der Fortdauer von rassistischen Bedeutungen, die mit Konzepten des Nationalsozialismus sowie mit dem Faschismus und mit eugenischen Ideen verknüpft sind. Historische Kontinuitätsbeschreibungen bedienen sich dabei zumeist dreier Mittel: Erstens wird Kontinuität anhand einzelner Personen, die schon in der Zeit des NS arbeiteten, oder anhand einer ›Schule‹, also der Weitergabe von rassistischen Vorgehensweisen von einzelnen Akteurޚinnen an die ›Schüler ޚinnen‹ aufgezeigt. Zweitens wird nazistisches oder extrem rechtes Gedankengut in wissenschaftlichen Forschungen, Aussagen und Konzepten ›aufgedeckt‹, und drittens 30 Die konstitutive Wandelbarkeit von Rasse wird in den beiden folgenden Kapiteln »Genetifizierung« und »Rasse der Post/Genomik« wieder aufgegriffen.
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werden Analogien zwischen einerseits neueren Forschungen und Konzepten und andererseits klassischen Modellen der Rassenanthropologie und Vorstellungen der Eugenik vorgenommen. Diese enge Form der kritischen Untersuchungs- und Darstellungsform ist für den Gegenstand Rasse sowie der Frage nach Kontinuitäten rassistischer bzw. rassifizierender Wissensproduktion sehr wichtig und liegt zudem nahe, da schon der Begriff Rasse primär mit Nationalsozialismus und Kolonialismus verknüpft ist. Doch so unerlässlich solcherart Kontinuitätsuntersuchungen sind, so begrenzt ist ihre Analysekraft, da der Fokus dieser Untersuchungen üblicherweise auf intentional rassistischen Rassekonzepten liegt, also auf Forschungen und Aussagen, bei denen von einem bewussten Bezug auf typologische, wertende und hierarchisierende Modelle auszugehen ist. Um die Fortschreibungen klassischer Rasseforschung, typologischer und hierarchisierender Konzeptionen aufzuzeigen, wird im Folgenden das Verständnis von Kontinuität erweitert und über intentional rassifizierende Arbeiten hinaus auch die aktuelle Produktion von Differenzwissen und damit zusammenhängende bzw. koproduzierte Kategorien, deren Ambivalenzen, Effekte und Wirkungen in den Blick genommen. So wie Wissenschaften gerade durch Weiterentwicklungen, Veränderungen und Neukonzeptionen gekennzeichnet sind, können Kontinuitäten rassifizierter Modelle prinzipiell nicht als einfache Fortschreibung immer gleicher Ansätze erfasst werden. Allzu oft sind Kontinuitäten auf derartige Formeln reduziert worden. Effekt dieses engen Verständnisses ist, dass aktuelle Forschungen, wenn sie nicht auf klassische typologische Modelle rekurrieren, als wertneutrale, nicht- bzw. gar antirassistische Unternehmungen dargestellt werden können. Statt ausschließlich auf die Weiterführung der NS-Ideologie zu fokussieren, ist von einem prozessfokussierenden Verständnis von Kontinuierungen als partieller ReProduktion auszugehen, in denen Persistenzen und Veränderungen verwoben sind. Im Weiteren geht es somit um eine analytische Klärung der ReProduktion rassifizierter Differenzkonzepte in unterschiedlichen Forschungsbereichen sowie um sich verändernde Objekte der Differenzbestimmung.
Weiterführung typologischer Rassekonzepte nach 1945 Schon aus den Ausführungen zu den UNESCO-Statements wurde deutlich, dass es nach dem zweiten Weltkrieg keinesfalls zu einem Ende biowissenschaftlicher Rasseforschung kam. Zwar wandten sich die an den Erklärungen beteiligten Biowissenschaftler gegen klassische typologische Rassekonzeptionen und damit einhergehende Vorstellungen von unterschiedlichen geistigen Entwicklungsmöglichkeiten der Rassen sowie gegen Wertungen und Hierarchisierungen und
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vermeintlich negative Auswirkungen von »Rassenmischung«. Rassische Einteilungen von Menschen lehnten sie aber zunächst nicht prinzipiell ab. Freilich hatten einige sozialwissenschaftlich und politisch argumentierende Kritikerޚinnen den Rassebegriff und die rassische Unterteilung der Menschheit grundlegend infrage gestellt, die meisten biowissenschaftlichen Kritiker hielten aber trotz ihrer Ablehnung einiger Aspekte der überkommenen Rassemodelle weiterhin sowohl am Begriff als auch an kategorialen Aufteilungen der Menschheit in Rassen fest. Viele der Kritiker forschten auch unter dem Paradigma populationsgenetischer Ansätze weiterhin zu rassischen Differenzen. Statt einer Beendigung der Rasseforschung bewirkte die Kritik an den alten Modellen in Verbindung mit dem neuen populationsgenetischen Forschungsansatz und neuen technischen Mitteln vielmehr eine Dynamisierung neuer Forschungen zu den vermeintlich dem Körper innenliegenden Wahrheiten über physische Differenzen zwischen menschlichen Gruppen. 31 Kontinuierungen finden aber nicht nur auf der Ebene der Weiterführung des Rassebegriffs statt, sondern lassen sich darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen – im personellen, institutionellen, konzeptuellen Bereich sowie in den Forschungstätigkeiten und dem Einfluss auf die Scientific Community – nachweisen. Die personellen Kontinuitäten werden schon anhand der Wiederanstellungen der Rasseforscherޚinnen im Gebiet der späteren Bundesrepublik 32 deutlich. Allerdings existiert bisher keine umfassende historische Aufarbeitung der personellen und institutionellen Kontinuitäten der NS-Rasseforschung. Ein Blick auf die Biographien der bekanntesten Rasseforscherޚinnen im »Dritten Reich« macht deutlich, dass trotz der mit dem Ende des Nationalsozialismus möglich gewordenen Entlassung von NS-Täterޚinnen aus den deutschen Universitäten nahezu alle in den 1930er und 40er Jahren als Professoren oder wissenschaftliche Assistentޚinnen tätigen Rasseforscherޚinnen – wenn sie nicht vor Kriegsende starben (Alfred Ploetz) oder emeritierten (Eugen Fischer 33, Otto Reche) – nach 1945 wieder eine wissenschaftliche Anstellung erhielten. Selbst die berühmtesten Rasseforscher blieben entweder in ihren Anstellungen oder wurden nach kurzer Zeit neu berufen. So erhielt etwa Fritz Lenz, Mitverfasser des Standardwerks »Menschliche Erblich31 Ausführlicher werden die hier angesprochenen Entwicklungen im Kapitel »Genetifizierung« erörtert. 32 Zum Verbleib von bzw. zum Umgang mit Rasseforscherޚinnen und Eugenikerޚinnen in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR besteht eine erhebliche Forschungslücke. Die bisher weitestreichende Untersuchung von Uwe Hoßfeld stellt lediglich exemplarische Weiterbeschäftigungen vor und belässt es ansonsten bei dem Allgemeinplatz, »daß die Mehrheit der in der nationalsozialistischen Zeit tätigen und belasteten Anthropologen in der BRD lebte« und »wieder eine akademische Position […] bekam« (2005: 367). 33 Der Rassenhygieniker Fischer kam auch in der Bundesrepublik zu Würden, indem er z.B. 1952 zum Ehrenmitglied der »Deutschen Gesellschaft für Anthropologie« und 1954 zum Ehrenmitglied der »Deutschen Gesellschaft für Anatomie« ernannt wurde.
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keitslehre und Rassenhygiene«, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Rassenhygiene und Beteiligter an der Erstellung der Euthanasiegesetze im Nationalsozialismus, 1946 ein Extraordinariat für Menschliche Erblehre in Göttingen. Otmar Freiherr von Verschuer, vor 1945 Direktor des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« sowie Gutachter für rassenhygienische Zwangssterilisationen und Profiteur der Versuche seines Assistenten Josef Mengele in Auschwitz, wurde 1951 erster Lehrstuhlinhaber für Humangenetik an der Universität Münster. Hans Weinert, Apologet der Rassenhygiene und Leiter des »Instituts für menschliche Erblehre und Eugenik« in Kiel, blieb nach 1945 Lehrstuhlinhaber am umbenannten »Anthropologischen Institut«. Die Vertreterޚinnen der »Breslauer Schule«, die Ost-Rasseforscherޚinnen Egon Freiherr von Eickstedt und Ilse Schwidetzky, verloren mit dem Heranrücken der Roten Armee zwar ihre Arbeitsplätze, gingen jedoch beide nach einer kurzen Anstellung in Leipzig 1946 an das Anthropologische Institut in Mainz. Die einzigen, die nicht zeitnah weiterbeschäftigt wurden, blieben Josef Mengele, der Rassenanthropologe und -Psychologe Friedrich Keiter und der Rasseforscher Hans F.ௗK. Günther. Mengele, KZ-Arzt und Assistent von Verschuer, wurde nicht wie üblich durch einen sogenannten Persilschein (vgl. Sachse 2002) seiner Kollegޚinnen »entnazifiziert«, sondern floh 1949 über die »Rattenlinie« nach Südamerika. 34 »Rassen-Günther«, von den Nazis 1935 auf eine Professur für Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie an der Universität Berlin berufen, wurde zwar nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem »Entnazifizierungsverfahren« als »Mitläufer« eingestuft, von der Universität Freiburg aber schließlich 1951 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, den er als Autor weiterer Bände zu »Vererbung und Umwelt« sowie zum »Begabungsschwund in Europa« beging. Keiter, Mitarbeiter des Rassenbiologischen Instituts in Hamburg, hatte Ende der 1930er Jahre aufgrund seiner Abstammung von einem jüdischen Großvater Probleme mit den Nazis bekommen. Diese behob er mit einer Erklärung der Großmutter, in der sie versicherte, dass statt des jüdischen Großvaters ein »Deutschblütiger« Vater ihres Kindes gewesen sei, und mittels eines erbbiologischen Gutachtens des »KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik«. Nicht sofort fand Keiter nach 1945 eine Anstellung an einer Universität und arbeitete deshalb zunächst als anthropologischer Gutachter in Vaterschaftsgutachten und für Gerichte. Erst 1958 verlieh ihm die Universität Würzburg den Titel »außerplanmäßiger Professor«, in der Folge hielt er dort und später in Hamburg anthropologische Vorlesungen und publizierte weiter zu rassenanthropologischen Themen (Klee 2007: 303). 34 Mengele lebte weitgehend unbehelligt in Südamerika und verstarb 1979 in Brasilien. Seine Knochen werden in den 1980er Jahren Gegenstand molekulargenetischer Untersuchungen zur Identifizierung der Person. Siehe hierzu im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«.
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Die Weiterbeschäftigung der deutschen Akteurޚinnen der Rassenanthropologie und Eugenik macht deutlich, dass es nach 1945 keinesfalls zu einem deutlichen Bruch kam. Entsprechend kam es auch nicht zu einer klaren Distanzierung von Rassekonzepten. In den Debatten der deutschen Wissenschaftlerޚinnen in den 1940er bis 1980er Jahren finden sich kaum Auseinandersetzungen mit der eigenen Täterschaft im Nationalsozialismus, mit den erb- und rassenbiologische Gutachten, der Mitarbeit bei Zwangsterilisationen oder allgemein mit der Verwicklung von NS-Politik und anthropologischen Forschungen. Stattdessen werden in den Publikationen fast ausschließlich Abwehrstrategien in Form der Missbrauchsthese, der angeblichen Unterdrückung der Genetik durch die Nazi-Politik und einer Täter-Opfer-Verkehrung bemüht. In Selbstdarstellungen und historischen Erörterungen der damaligen Anthropologie, Genetik und Humanbiologie finden sich in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus die immer gleichen Mythen. 35 Entsprechend erfolgte im Nachkriegsdeutschland zunächst statt einer Auseinandersetzung eher eine Verhärtung der Positionen und damit eine weitgehende Beibehaltung der bisherigen Modelle. Zwar kam es international zu einer Isolierung der deutscher Rasseforschung, im deutschsprachigen Raum wurden aber bis in die 1980er Jahre eine Fülle von Texten und Bücher zu »Menschenrassen« veröffentlicht sowie weitere Forschungen angestrengt. Vor dem Hintergrund der Sichtung von Persistenzen, Kontinuitäten und Brüchen werden diese Publikationen und Forschungsaktivitäten nun im Folgenden mit Blick auf internationale Entwicklungen, Prozesse und Modernisierungslinien analysiert und hierfür zunächst die Entwicklung der Genetifizierung von Rasseforschung in den Blick genommen.
35 Die gängigen Mythen sind: 1. die Missbrauchsthese: Die eigene Disziplin sei von den Nationalsozialisten instrumentalisiert worden, mithin war man mit der eigenen Arbeit selbst Opfer des NS. 2. Unterdrückungsthese: Während des NS sei es zu keiner Weiterentwicklung der eigenen Disziplin gekommen, die Forschungsergebnisse waren lediglich pseudowissenschaftlich. 3. Schwarze-Schafe-These: Nur einige aus der Disziplin hätten mit den Nazis kollaboriert und konnten nach 1945 aus der Wissenschaft entfernt oder für die »richtige« Wissenschaft wiedergewonnen werden. 4. Widerstandsthese: In den nachträglichen Erzählungen werden diverse Nationalsozialisten und Rasseapologeten in einer Art »Selbstmutation« (Kühl 1997: 180) zu Widerständlern gegen den NS.
Kapitel Drei
Genetifizierung There are an unlimited number of ways to tell stories […]. Yet today, an increasing number of these stories are being told in the same way and with the same language: genetics, genes and genetic technologies. Abby Lippman 1991, S.ௗ44
Seit der Erfindung rassischer Unterschiede stand die Vorstellung einer generational stabilen Weitergabe von menschlichen Eigenschaften im Zentrum aller Rassekonzepte. Die »Unreinheit des Blutes« spanischer Jüdޚinnen und Muslimޚinnen war auch durch die Taufe nicht zu beheben und übertrug sich auf die folgenden Generationen; die »unausbleibliche erbliche Eigenthümlichkeit« (Kant 1788) galt den Aufklärern als Grund, den ›Anderen‹ den Verstand und mithin das Menschsein abzusprechen. Rasse war somit von Anbeginn mit Ideen von Vererbung, Essentialität und Vorbestimmtheit verbunden, und das obwohl unklar blieb, auf welche Weise die Eigenschaften weitergegeben wurden. Als im Jahr 1900 Mendels Erbregeln einen intensiven wissenschaftlichen Diskurs hervorriefen, begann damit die Geschichte einer umfangreichen und bis heute anhaltenden Forschungsanstrengung zur Klärung der generationalen Weitergabe von Merkmalen, der Vererbung. Die Geburtsstunde der (wenig später so benannten) Genetik zeitigte verständlicherweise auch Wirkungen auf die Forschungen zu Rasse. Den schon deutlich gewordenen widersprüchlichen Entwicklungen, dem stetigen Wandel der Konzepte und den massiven Kritiken an den verschiedenen Rassekonzeptionen ist nun auf anderer Weise zu folgen. Zur Klärung der Frage, warum Rasse sich auch in die modernen genetischen Biowissenschaften integrieren
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konnte, werden im Weiteren die Bedingungen für die Prozesse der Genetifizierung und allgemein die Entwicklungen rassifizierter Differenzmodelle in den Blick genommen. Ging es in den vorhergehenden Betrachtungen vor allem darum, gesellschaftliche Hintergründe für Rasseklassifikationen und deren wissenschaftliche Ausgestaltungen sowie ihre vielfache Streitigkeit herauszuarbeiten, sind nun die Entwicklungen der Rassekonzeptionen anhand der Praxen ihrer Veränderungen, Brüche und Modernisierungen sowie die Dynamiken der Verbindung von Rassekonzeptionen und Genetik seit der Entstehung der empirischen Vererbungswissenschaft um 1900 Gegenstand der Untersuchung. Dabei wird den Fragen nachgegangen, wie Rassekonzeptionen in Verbindung mit genetischen Forschungsund Theorieansätzen weiter entwickelt sowie welche Veränderungen und Neukonzeptionen in aktuellen Rassifizierungen vollzogen wurden. Was ist Rasse in der Ära der Genetik? Welche Merkmale werden zu Objekten der Rassifizierung und was beinhalten die jeweiligen Konzepte? Ziel dieser Erörterungen ist es, die Besonderheiten der Verknüpfung rassifizierter Konzepte mit der Genetik und verschiedenen Bereichen biowissenschaftlicher Forschung nachzuvollziehen sowie zu klären, aufgrund welcher Praktiken und konzeptuellen Umbauten das Konzept Rasse bis heute Bestand hat.
Genetische Verhältnisse Die Genetik wird von Wissenschaftshistorikerޚinnen und innerhalb der eigenen Disziplin meist in drei Epochen periodisiert, in denen unterschiedliche Methoden benutzt und verschiedene zentrale Ansätze verfolgt wurden. Diese Einteilung, nach der die klassische Genetik von der Populationsgenetik und diese wiederum von der Molekulargenetik abgelöst wurde, ist auch für die folgende Untersuchung sinnvoll, da unter den jeweiligen Paradigmen genetischer Forschung je spezifische Ausprägungen rassifizierender Modelle entstanden. In der klassischen Genetik (seit 1900) war die vorherrschende Forschungsmethode die Durchführung von Kreuzungsexperimente, anhand derer die Vererbung auffälliger physischer Merkmale nach dem Schema der Mendelschen Erbregeln untersucht wurde. Kennzeichnend ist der Rekurs auf eindeutige, kategorial trennbare Eigenschaften sowie das Fehlen einer einheitlichen Vorstellung von der Beschaffenheit der vererbenden Einheiten (Gene). Seit den 1930er Jahren erweitern Ansätze der Populationsgenetik bisherige Forschungen durch die umfangreiche Erhebung einzelner Merkmale, mit der Untersuchung des Vorhandenseins der Merkmale und deren Ausbreitung in Populationen. Einen paradigmatischen Bruch vollzog die Populationsgenetik mit einem grundlegend anderen Verständnis
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von Varianz. In der Folge rücken Frequenzunterschiede von Genen in Populationen und die kontinuierliche und diskordante Verteilung von Genhäufigkeiten in den Fokus. Die Molekulargenetik schließlich arbeitet seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst vor allem zur Chemie der Gene und der Umsetzung von Erbinformation in Proteine. Ihre Grundlage ist die Erfindung des DoppelhelixModells, die Entschlüsselung des ›genetischen Codes‹ und schließlich die Sequenzierung der menschlichen DNA im Humangenomprojekt ab 1990. Innerhalb dieser drei aufeinanderfolgenden Perioden genetischer Forschungsansätze erlangte die Genetik die zentrale Deutungshoheit für viele Bereiche des Wissens über den Menschen. Mit dem Rekurs auf Vererbung und der Erstellung eines kausalen Modells, das unidirektional von den vererbenden Einheiten aus wichtige menschliche Eigenschaften – mithin den Menschen – bestimmt, erzeugte die Genetik eine Umgestaltung im »Wahrheitsregime« (Foucault 1978: 51) 1. Für das Verständnis der Ordnung des Menschen und allgemein des Lebens kam es im Zuge einer Genetifizierung zu bedeutungsvollen Verschiebungen in den Objekten der Wahrheitssuche und zu Veränderungen sowohl in den Argumentationsmustern als auch in der Legitimationsfunktion wissenschaftlichen Differenzwissens. Einhergehend mit dieser Umgestaltung der Wahrheit über Differenz wurden die autorisierten Formen des Sicht- und Sagbaren geändert sowie nichtgenetische – sowohl biologische als auch soziologische – Erklärungen abgewertet (vgl. Lemke 2000 u. 2010). Für eine Klärung dieser Genetifizierung ist es zunächst notwendig, das Verhältnis von Rasse und Genetik nicht als einfache Verbindung oder einseitige Übernahme von Methoden und Darstellungsformen zu sehen. Vielmehr gestaltet sich die Beziehung als eine ambivalente und bezüglich der schon in den historischen Ausführungen benannten Kritik gar prekäre. Rasse wird somit im Prozess zunehmender Referenz auf Gene nicht nur einer Veränderung unterzogen, sondern auch aus demselben Bereich der Genetik massiv infrage gestellt, wodurch sie sich eben nicht einfach nur unter neuen Vorzeichen regenerieren kann. Stattdessen müssen zeitgenössische genetische Rassemodelle zum einen diesen (genetischen) Infragestellungen begegnen und zum anderen eine überzeugungsfähige neue Legitimation liefern, warum Rasse noch, oder schon wieder, ein aktuelles Konzept der Biowissenschaften sein sollte. Um das plausibel machen zu können, reicht es eben nicht, die alten Konzepte einfach genetisch zu labeln. Hingegen muss das überkommene Taxonomiekonzept immer wieder so hergerichtet werden, dass an ihm und mit ihm auch immer wieder neue Wahrheiten zu entdecken 1
In der deutschen Fassung wird »régimes de vérité« als »Ordnung der Wahrheit« (S. 51) und »Herrschaftssystem der Wahrheit« (S. 54) übersetzt (vgl. Foucault 1977: 25). Lemke (2000 u. 2006) verwendet in seinen Arbeiten den umfassenderen Begriff »Wahrheitsregime«.
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sind und sein neuer wissenschaftlicher Mehrwert glaubhaft gemacht werden kann. Bevor aber die jeweilig vorherrschenden Taxonomien untersucht werden, ist zunächst der heuristische Zugriff zu klären. Verdeutlicht wird somit zuerst der analytische Blick auf die gesellschaftlichen Prozesse, in denen die Wissensproduktion der Genetik und letztlich die Gene entscheidend für die Ordnung des Menschen werden.
Problematisierungen: Gen-Determinismus, Genetischer Essentialismus, Genetifizierung Der Begriff Genetifizierung ist Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre von verschiedenen Wissenschaftlerޚinnen eingeführt worden, um, wie etwa der Mediziner Gordon Edlin 1987 in einem Artikel bemerkt, jene in der klinischen Forschung zu beobachtende Schwerpunktverlagerung auf »vererbte (genetische) Komponenten für Herzkrankheiten, Krebs, Schizophrenie und eine Unzahl anderer Krankheiten statt auf Umweltfaktoren« zu bezeichnen (Edlin 1987: 47) 2. Edlin bemängelt diesbezüglich eine »unangebrachte ›Genetifizierung‹ von Krankheiten beim Menschen« obwohl es keine ausreichende genetische Evidenz gebe (ebd.: 48). Auch wenn seinerzeit noch keine Gene für diese Krankheiten identifiziert waren, fänden sich in Forschungsartikeln vielfach Begriffe wie »›genetic vulnerability‹, ›genetic factors‹, ›genetic basis‹, ›genetic predisposition‹ oder ›genetic tendency‹« (ebd.) 3. Wenig später, Anfang der 1990er Jahre, führt die Epidemiologin Abby Lippman den Terminus geneticization ein, um »den dominanten Diskurs über Gesundheit und Krankheit zu markieren«, der »sowohl in Wissenschaftsmagazinen als auch in Populärmedien zunehmend in der Sprache der Genetik geführt wird« (1991: 15 u. 17f.). 4 Genetifizierung beschreibe einen »Prozess, durch den die Unterschiede 2 3
4
Edlin nennt diese Verlagerung »geneticizing«. Semantisch ist dieser Begriff sehr ähnlich zu geneticization und genetization (vgl. auch Lippman 1991). Als Problem sieht Edlin aber nicht nur die Schwerpunktverlagerung ohne empirische Evidenz. Vielmehr beunruhigt ihn, dass »the increased overemphasis on ›genetic factors‹ and ›genetic tendencies‹ in human disorders has serious consequences in allocating federal research funds and in formulating public health policies«. »[C]ontinued speculation and emphasis on the genetic basis of human disorders […] are not only scientifically inaccurate but jeopardize the very real progress that can be made in public health by modifying human behavior and improving the environment.« (Edlin 1987: 48 u. 55) Erstmalig verwendet Lippman den Begriff »Geneticization« im Titel des unveröffentlichten Vortrags »La ›Geneticization‹ de la Vie« aus dem Jahr 1990. Der Text von Edlin war ihr zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht bekannt. Sie verweist aber auf den frühen Gebrauch des Begriffs »geneticism« in einem Text von Peter Medawar aus dem Jahre 1969 (Lippman 1991: FN 16).
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zwischen Individuen auf deren DNA-Codes reduziert werden« (ebd.: 19). Dabei handele es sich laut Lippman um mehr als nur rhetorische Verschiebungen: Es gehe vielmehr darum, Änderungen in den Denk- und Handlungsweisen (a way of thinking and a way of doing) wahrzunehmen, durch die die Genetik aus mehreren »konzeptuellen Modellen« herausgestellt und »zunehmend als der Zugangsweg gelte, mit dem Krankheit und Gesundheit, Normalität und Abweichung« untersucht und erklärt werden können (ebd.: 17 sowie Lippman 1998: 64). Lippman versucht mit dem Neologismus auf den Begriff zu bringen, welche Veränderungen sie als Epidemiologin im Diskurs um Krankheit und Krankheitsursachen wahrnimmt. Trotz der prinzipiell unendlichen Möglichkeiten, Erzählungen über Gesundheit und Krankheit sowie allgemein das Verständnis von physiologischen Unterschieden und menschlichen Verhaltensweisen zu gestalten, werde heutzutage ein Großteil dieser Geschichten in gleicher Weise und mit derselben Sprache – der Genetik, der Gene und der genetischen Technologien – erzählt, und andere Narrative gerieten durch die Diskursveränderung in den Hintergrund. Der Prozess der Genetifizierung führe neben einer allgemeinen Veränderung des Gesundheitsverständnisses zu einer Zurückdrängung der Beschäftigung mit anderen, auch sozialwissenschaftlichen Deutungen von Krankheitsursachen. Zu den vernachlässigten Aspekten gehörten etwa soziale und physische Einflüsse, sozio-ökonomische Bedingungen, individuelle Verhaltensvariablen, der Zugang zu Gesundheitsversorgung etc. (ebd.: 17 u. 44). Lippman arbeitet an der semantischen Füllung des Neologismus Genetifizierung, um damit einen probaten Begriff zur Analyse und Kritik gegenwärtiger Entwicklungen zu erlangen. Sie entwickelt dabei keine völlig neuen Einwände, sondern greift jene unter anderen Begriffen bestehenden und von verschiedenen Analystޚinnen der genetischen Ära formulierten Problematisierungen auf. Im Kontext des startenden Humangenomprojekts 5 existierte schon eine Reihe von Positionen, die den bestehenden genetischen Diskurs und die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Verheißungen von einer ›genetischen Zukunft‹ aufgrund reduktionistischer und deterministischer Vorstellungen und Darstellungsweisen analysierten und kritisierten. So wurden etwa in der feministischen Naturwissenschaftsforschung oder in der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikkritik, in antirassistischen und soziobiologiekritischen Texten der »reduktio5
Das internationale Humangenomprojekt wurde 1990 mit dem Ziel begonnen, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln, d.h. die Abfolge der Nukleotidsequenz festzustellen. An dem Projekt beteiligten sich über 1000 Wissenschaftlerޚinnen in über 40 Ländern. Für die Analyse wurden die Spermien von fünf männlichen und die weißen Blutzellen von zwei weiblichen anonymen Spenderޚinnen verwendet, die jeweils »europäischer, afrikanischer, nord-, mittel- und südamerikanischer sowie asiatischer Abstammung« zugeordnet wurden (www.ornl.gov/sci/techresources/HumanޚGenome/faq/seqfacts.shtml#whose, 28.9.2012).
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nistische Glaube« an das »Primat der DNA« (Hubbard 1990: 70f.), an Gene als »Bauplan des Lebens« (DeLisi 1988) kritisiert und der »naive genetische Determinismus« (Levins/Lewontin 1985: 180 u. Lewontin/Rose/Kamin 1984) oder die »Genetifizierung menschlicher Sozialität« durch die Soziobiologie problematisiert (Noske 1989: 99). Troy Duster verwendet in dem 1990 erschienenen Buch »Backdoor to Eugenics« die Metapher vom »genetischen Prisma« 6. Mit ihr beschreibt er jene Erkenntnis- und Wahrnehmungsform, mit der Vererbungstheorien die Hauptdeutungskraft menschlicher Merkmale und Verhaltensweisen zugesprochen wird (Duster 1990: 164, Fußnote 2). So würden etwa genetische Screeningprogramme dazu führen, »menschliche Merkmale, Charakteristika, Verhaltensvariablen, Krankheiten und Behinderungen durch ein ›genetisches Prisma‹« wahrzunehmen (ebd.: 3). Reflexive und differenzierende Bearbeitungen zur Ausweitung genetischer Ontologien existierten also bereits im Diskurs, als Lippman die Kritiken an genetischem Determinismus und an Reduktionismen aufgriff und diese unter dem Begriff der Genetifizierung vereinte. Darüber hinaus ermöglicht ihr der Begriff Genetifizierung, die genetische Erkenntnisform (»Genetik als Quelle der Sichtbarmachung«), die über eine Verschiebung der Darstellungsweisen hinausgehe, als »Prozesse der Kolonisierung« zu fassen, in welchen »genetische Betrachtungsweisen und Technologien […] über Bereiche übergestülpt werden, die nicht notwendigerweise genetisch sind« (Lippman 1991: 19; Lippman 1998: 70). Der Begriff vermag somit einige der spezifischen Charakteristika in der Zeit der Ausweitung genetischer Forschungsprojekte, den noch weiter zunehmenden und in neue Bereiche vordringenden Diskurs um Vererbung, Gene und genetische Anlagen auf den Punkt und verschiedene Problematiken dieser Entwicklungen in den Blick zu bringen. Wenige Jahre später wird als weitere kritische Benennung zudem »genetischer Essentialismus« in einigen Arbeiten verwendet, um eine Verschiebung von allgemeinen biologischen Naturalisierungen zu genetischen Determinismen herauszustellen. So beschreibt bspw. die Wissenschaftsforscherin Sarah Franklin 1993 mit dem Begriff genetic essentialism, wie »ein wissenschaftlicher Diskurs […] soziale Kategorien auf Basis einer essentiellen Wahrheit über den Körper zu begründen vermag« (1993: 34). Diese Bestimmung greifen auch die Wissenschaftssoziologinnen Dorothy Nelkin und Susan Lindee in ihrem 1995 veröffentlichten Buch »The DNA Mystique: The Gene as a Cultural Icon« auf, um zu benennen, wie wissenschaftliche Konzepte der genetischen Determination und der Vererbung zu allgemein anerkannten Annahmen und für viele soziale Insti6
Im englischen Original »prism of heritability« und »genetic prism« (Duster 1990: 2 u. 3, siehe auch Duster 1996).
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tutionen zu einer Problemlösungs-Ressource werden (1995: 150). »Genetischer Essentialismus« sei somit – wie etwa Joseph Alper und Jon Beckwith 1998 konkretisieren – »jene Idee, dass wir durch unsere Gene definiert werden« sowie »dass unser Genotyp die ultimative Determinante unseres Seins ist« (1998: 146). Zu Beginn der 1990er Jahre wurde es somit für verschiedene Akteurޚinnen in unterschiedlichen Feldern der Wissenschaftsforschung, der Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso wie für populärwissenschaftliche und journalistische Kommentatorޚinnen offenbar notwendig, die neueren Entwicklungen in der Ausweitung genetischer Wirkungsmacht und den populären Darstellungen der Grundeinheiten des Lebens mittels analytischer und zugleich problematisierender Termini zu fassen. Von den verwendeten Begriffen kristallisierte sich vor allem jener der Genetifizierung als brauchbarer Ausdruck zur Beschreibung der aktuellen Veränderungen heraus. Insbesondere mit dem Humangenomprojekt und der neuen Forschungsrichtung der Postgenomik veränderte sich das Feld der Genetik insofern, als die bisherigen Kritiken an gen-deterministischen und reduktionistischen Modellen nicht mehr adäquat zu sein schienen. Der Begriff der Genetifizierung ist dagegen in der Lage, jene durchaus nicht überholten Kritiken an essentialisierenden und deterministischen Konzepten der Genetik weiterhin zu ermöglichen, darüber hinaus aber auch die Ausweitung genetischer Erklärungsansätze, die nicht mehr rein deterministisch fundiert sind, zu umgreifen. Entsprechend etablierte sich der Begriff in den letzten Jahren sowohl im englisch- als auch im deutschsprachigen Diskurs in zeithistorischen, analytischen und kritischen Arbeiten zur Genetik und den Folgen einer »Genetifizierung der Gesellschaft«. 7
Genetifizierung von Rasse – Rassifizierte Genetik Die Unterscheidungen in der zeitgenössischen biowissenschaftlichen Differenzforschung werden zwar nach wie vor anhand von Zuordnungen zu Herkunft, Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit etc. präsentiert, jedoch aktuell so gut wie immer mit genetischen Modellen und Methoden erzeugt. Entsprechend ist es wichtig, genau diese Verknüpfung von Rasse und Genetik zu erfassen, wenn Erklä7
Siehe etwa Porta »A Dictionary of Epidemiology« (2008) sowie das Schwerpunktheft des Gen-ethischen Informationsdiensts (GID) »Genetisierung der Gesellschaft« (2002, Nr. 150). Thomas Lemke ist einer der aktivsten deutschsprachigen Akteurޚinnen bei der Füllung und Ausdifferenzierung des Begriffs der Genetifizierung. Die »Genetifizierung der Gesellschaft« analysiert er z.B. unter dem theoretischen Fokus der »Regierung genetischer Risiken« als Wahrheitsregime, Machtstrategien und Selbsttechnologien (Lemke 2000). Für weitere Ausarbeitungen hierzu siehe auch Bock Wülfingen 2007; Ebeling/Schmitz 2006; Ellison/Goodman 2006; Fagot-Largeault/Torres/Rahman 2007; Lock/Nguyen 2010.
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rungen für die Persistenz wissenschaftlicher Rassekonzepte gefunden werden sollen. Als Grundlage dient die Beobachtung, dass zwischen Rasse und Genetik eine im 20. Jahrhundert immer intensivere Bindung hergestellt wird, die auf dem derzeitigen Höhepunkt genetischer Wirkungsmacht auch als Antrieb für eine Erneuerung rassifizierter Konzepte dient. Mit der These einer engen Bindung von Rasse und Genetik ist es möglich, die Bandbreite der Dynamiken in der Entwicklung von Rassekonzeptionen in den Blick zu nehmen und somit von einem komplexen Gefüge als Movens der Modernisierung und Stetigkeit auszugehen. Gleichzeitig wird so die Rückführung auf eine einzige Ursache vermieden, (wie etwa der gesellschaftlichen Anrufung, wissenschaftsinternen Triebkräften, technischen Mitteln oder Objekten der Genetik als Agenten). Mit dieser These erscheinen beide Seiten – Rasse und Genetik – zunächst als symmetrische Bereiche, die in spezifischen Prozessen aufeinander einwirken und sich dabei enger miteinander verknüpfen. Die konkreten Praktiken dieser Verwicklung lassen sich aber auch sinnvoll analytisch trennen, sodass zwei verschiedene Elemente bzw. Wirkmechanismen der Verbindung – die Genetifizierung von Rasse sowie die Rassifizierung der Genetik – benennbar werden. Mit dem ersten Element, der Genetifizierung von Rasse, kann in Anlehnung an die Ausarbeitungen von Lippman, Duster oder Lemke jene Ausweitung genetischer Ansätze (auch in der Untersuchung menschlicher Differenz) bezeichnet werden, die sich seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vollzieht. Allerdings entsteht die Verbindung von Rasse und Genetik keinesfalls erst in den 1990er Jahren, sondern besteht in verschiedenen je charakteristischen Ausprägungen seit Begründung der Genetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sodass auch diese Verbindung – bzw. besser: die Prozesse dieser Verbindung – als Genetifizierung in einem weiteren Sinne beschreibbar sind. Als Genetifizierung von Rasse lässt sich also jenes Phänomen bezeichnen, dass sich rassifizierte Differenzkonzepte in der Ära der Genetik immer enger mit Genkonzepten, genetischen Untersuchungsmethoden und genetischen Argumentationsmustern in Beziehung setzen und auch setzen müssen. Denn angesichts der Deutungshoheit genetischer Modelle hätte es ein aktuelles Rassekonzept, das nicht auf Genetik verweisen würde, schwer, da wirkmächtige Kritiken an Rasse auch aus genetischer Forschung formuliert werden. Mit der Genetifizierung von Rasse ist also in einem weiteren Sinne jenes Bestreben zu benennen, welches bis heute immer wieder Neukonzeptualisierungen von Rasse mittels genetischer Methoden, Darstellungsweisen und genetischer Konzepte bewirkt. Mit dem zweiten Element, der Rassifizierung der Genetik, lassen sich dagegen jene Prozesse charakterisieren, in denen die Genetik immer wieder auf Rassekonzepte zugreift und diese als heuristisches Mittel oder als Erkenntnisobjekt benutzt.
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Trotz ihrer wichtigen Funktion der Formulierung machtvoller Absagen an biowissenschaftliche Rassemodelle behält die Genetik gleichzeitig immer den Status als die letztlich begründende Disziplin, der die Deutungsmacht zur Ermittlung ›wahrer‹ rassischer Teilungen zukommt. Genetische Modelle bleiben so bis in unsere Zeit die zentralen Ansätze zur Erklärung menschlicher (Gruppen-)Varianz. Insbesondere der Aufschwung an neuen Forschungen seit den 1990er Jahren ist entsprechend als Rassifizierung genetischer Untersuchungen zu charakterisieren. Während die erste Begriffskombination, Genetifizierung von Rasse, auf die Dynamik zielt, in der ein zeitgemäßes biowissenschaftliches Rassekonzept genetisch unterfüttert wird, soll die Rassifizierung der Genetik vor allem die gesellschaftlichen Anrufungen an die Genetik als Antwortgeberin für das ›Problem‹ Rasse fassen. Dementsprechend wird die Genetik immer wieder von Rassistޚinnen, aber auch von Antirassistޚinnen, von Politikerޚinnen, Juristޚinnen, Sozial- und Geisteswie von Biowissenschaftlerޚinnen eingesetzt, um die Faktizität von Rasse oder das Gegenteil, ihre wissenschaftliche Widerlegtheit zu beweisen. Die Rassifizierung der Genetik wird somit dadurch vollzogen, dass einerseits immer wieder die Anforderung an die Genetik herangetragen wird, sich mit dem Problem der Rasse zu beschäftigen und andererseits in der Genetik eine Affinität besteht, zu den gesellschaftlich aktuellen Fragen gruppenbezogener Differenzen Stellung zu beziehen. Für eine Untersuchung der veränderlichen Rassekonzepte ist es also notwendig, die Dynamiken von deren Entwicklung zu analysieren, und zwar in Anbindung an verschiedenste Untersuchungsobjekte. Hinzu kommt, dass die Verbindung der Rassekonzepte mit der Genetik keine eindeutigen Resultate hervorbringt, weder in Form einer Stützung genetifizierter Rassekonzepte noch als genetische Absagen an Rasse. Vielmehr sind in den Entwicklungen Aussagen, die sich als Absagen werten lassen und solche, die zur Kontinuierung dienen, derart ineinander verwoben, dass sie zumeist nicht ohne weiteres voneinander zu trennen sind und darüber hinaus oftmals auch gleichzeitig, also in einer Konzeption zusammen, auftreten. Es gehört eben gerade zum Kennzeichen der Rassekonzepte seit Mitte des 20. Jahrhunderts, dass sie mindestens mit Teilen der genetischen Kritiken produktiv umzugehen vermögen. So müssen sich die aktuellen Reformulierungen von Rasse zu den Infragestellungen durch die Populationsgenetik und den Aussagen aus dem Humangenomprojekt zur genetischen Gleichheit in Beziehung setzen lassen können. Neue rassifizierte Differenzen in der Genetik können dabei aber nicht einfach als alte Konzepte mit nunmehr neuem genetischen Anstrich auftreten, sondern das wissenschaftliche Objekt Gen hat in der Verbindung mit Rassifizierungen auch zur Modernisierung zeitgenössisch verwendbarer Rassekonzepte geführt. Die Besonderheit der Verbindung von Rasse und Genetik besteht somit gerade darin, dass in dieser Verbindung immer wieder Erneuerungen
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von Rasse erzeugt werden, und die differenten Effekte der Genetifizierung wie der Rassifizierung letztlich eine Persistenz von Rasse bewirken. Aus diesem Problemaufriss resultieren verschiedene Fragen, die in einer Untersuchung der Relation von Rasse und Genetik zu bearbeiten sind. Im Folgenden werden diese Veränderungen in den Darstellungsweisen, Untersuchungsformen und Konzeptualisierungen von Rasse mit Blick auf ihren Gehalt an genetischen Narrativen sowie die genetischen Forschungen auf ihre Verquickungen mit Rassifizierungen hin rekonstruiert. Zur Klärung und Erklärung der Persistenz von biologischen Rassekonzeptionen muss dabei auf die genannten Veränderungen, die Metamorphosen und Anpassungen in den Rassifizierungsformen fokussiert werden – und zwar sowohl im Rahmen zeitlicher Vergleiche als auch mittels Analysen unterschiedlicher disziplinärer Paradigmen. Hierfür werden die Historie der Genetifizierung im weiteren Sinne sowie die Bedeutungsgeschichte der genetischen Essenz des Menschen und der Entwicklung der jeweiligen Rasseverständnisse dechiffriert. Ziel ist es, ein ausreichend komplexes und zugleich strukturiertes Bild der zugrunde liegenden Prozesse in den Besonderheiten kontemporärer Biowissenschaften nachzuzeichnen und Erklärungsansätze für die Entwicklungsdynamiken von Rasse wie auch für die Stabilität von Rassekonzepten zu erarbeiten. Das Konzept Genetifizierung dient dabei als eine heuristische Folie, mit der die Veränderungen, die Brüche und Kontinuitäten sichtbar gemacht werden können. Dafür werden nun zunächst die Besonderheiten der Verbindung von Rasse und Vererbungswissenschaft entwirrt und einzelne Stationen der Modifikation von Rasse in der Ära der Genetik nachvollzogen.
Die Ära der Genetik …the idea of ›the gene‹ has been the central organizing theme of twentieth century biology. Lenny Moss 2003, S. xiii
»Jahrhundert des Gens« nennt die Wissenschaftsphilosophin Evelyn Fox Keller (2001) das 20. Jahrhundert. Tatsächlich spricht vieles für diese Charakterisierung, begann doch das letzte Jahrhundert gleich mit der dreifachen ›Wiederentdeckung‹ der (30 Jahre lang kaum beachteten) Schriften Gregor Mendels und es endete mit dem Humangenomprojekt als einem der größten internationalen Wissenschaftsunternehmungen aller Zeiten. Die von Mendel formulierten Vererbungsregeln und sein Experimentalsystem – die Kreuzung von Individuen einer Art,
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die sich in einem Merkmal unterscheiden – entwickelte sich ab 1900 sehr schnell zu einem Standardansatz für Biologޚinnen, die sich mit der generationalen Weitergabe physiologischer Eigenschaften an die Nachkommen beschäftigten. Die Vererbung und die Kausalität von Entwicklungsvorgängen im Organismus, die Ausbildung spezifischer Merkmale und die Unterschiede zwischen Individuen gerieten in jener Zeit ins Zentrum biowissenschaftlicher Untersuchungen der Grundfesten des Lebens. Die Vorgehensweise, mit der Mendel eine Ordnung in die Konstanz und Veränderung von Eigenschaften zwischen Eltern und mehreren Folgegenerationen brachte, wurde zur disziplinbildenden Methode. Fortan wurden in der Vererbungskunde allerlei Hybride aus verschiedengestaltigen Sorten mehrerer Modellorganismen (Erbse, Bohne, Linse, ab der Jahrhundertwende Löwenmäulchen, Mais und Taufliege) erzeugt, um anhand der Merkmalsverteilung in der Generationenfolge Regeln von Erbgängen und Merkmalsausprägungen aufzustellen sowie Theorien über die Physiologie der Vererbung, ihre materiellen Einheiten, über Mutationen, Merkmalsausprägung, deren Konstanz, Veränderlichkeit und Beeinflussbarkeit zu induzieren. Zur Benennung dieses neuen wissenschaftlichen Bereiches, jener »Erforschung der Vererbung« schlug William Bateson 1905 den Begriff »Genetik« 8 vor. 1909 wurde der Terminus »Gen« von Wilhelm Johannsen eingeführt, um dieses »›etwas‹ in den Gameten«, das »eine Eigenschaft des sich entwickelnden Organismus bedingt oder mitbestimmt«, zu bezeichnen (1909: 124). Schon 1908 gründeten Erwin Baur, Carl Correns und Valentin Haecker das erste genetische Fachmagazin, die Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre, und im Frühjahr 1911 erschienen die ersten drei Lehrbücher der Genetik. Johannsens Gen startete seine Existenz allerdings weder als experimentell abgesicherte noch als klare Entität, sondern als theoretischer Begriff. Sein Erfinder wollte einen Begriff schaffen, der völlig frei von jeder Hypothese sei, um den nach seiner Auffassung schlechten und mehrdeutigen Begriff »Anlage«, aber auch die schon verwendeten Termini wie »Pangene«, »Keimchen« und dergleichen zu ersetzen und sich gegen die üblichen Spekulationen über die morphologische Struktur zu wenden. Damit begründete er zwar keinen hypothesefreien Begriff – und sein »Gen« war keinesfalls weniger mehrdeutig als die zuvor verwendeten Termini. Im Gegenteil, das von ihm entworfene und in den folgenden Jahrzehnten ausgefüllte Gen-Konzept war gerade deshalb so erfolgreich, weil es durch seine Offenheit und terminologische Unterbestimmtheit von vielen Seiten
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1905 benutzte Bateson den Begriff in einem Brief an Alan Sedgewick. Die erste öffentliche Benennung nahm er 1906 auf der »3rd International Conference on Hybridisation and Plant Breeding« vor, weshalb in historischen Arbeiten zumeist von der Prägung des Begriffs in diesem Jahr berichtet wird (Bateson 1907; vgl. z.B. Müller-Wille/Rheinberger 2009: 47).
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her belegt und benutzt werden konnte. Denn gerade weil es weder genauere Vorstellungen von der Struktur und dem Ort, noch experimentelle Absicherungen zur chemischen Zusammensetzung von Genen gab, gewannen genetische Modelle schnell an Einfluss. Allein die Imagination einer materiellen Vererbungseinheit, die jedoch experimentell noch sehr offen war und konzeptionell mit allerlei Vorstellungen verkoppelt werden konnte, erwies sich als äußerst produktives Mittel, das inter- und transdisziplinär Forschungen, Experimente wie theoretische Weiterentwicklungen erzeugte und diese bis in die heutige Zeit antreibt. So konnte der Genbegriff lange vor einer stofflichen Klärung, ein halbes Jahrhundert vor dem ersten Strukturmodell der DNA und der ersten Sequenzierung, den unterschiedlichsten Modellen von vererbenden Einheiten dienen. Die heute vorherrschende Vorstellung ist somit sehr jungen Datums und wurde erst mit den automatisierten Sequenziermethoden der 1980er Jahre möglich. Die Produktivität des Gen-Begriffs wirkte dabei auf die Rassekonzeptionen der jeweiligen Zeit. Vor allem die Grundvorstellungen der im Entstehen begriffenen Mendelschen Genetik wurden zügig übernommen und somit Unterschiede zwischen den Rassen in den Genen anhand von offensichtlichen äußerlichen Merkmalsunterschieden (ähnlich wie bei den Erbsen) angenommen. Diese Indienstnahme des Gen-Begriffs lag jedoch nicht nur in seiner Offenheit begründet, sondern erklärt sich auch aus der Wahlverwandtschaft des Rassekonzepts mit den bestehenden Konzeptionen zu Anlagen und Vererbung. Wie sich im Weiteren zeigen wird, konnten diese ebenso wie die zu jener Zeit gängigen eugenischen und sozialdarwinistischen Ansichten ohne Probleme mit dem innovativen GenBegriff sowie mit den neuesten genetischen Forschungen verbunden werden. Auch in heutiger Zeit erfreuen sich sowohl der Vererbungsdiskurs wie auch die Disziplin Genetik trotz einiger Vorhersagen zum baldigen oder schon begonnenen Ende des Genkonzepts nach wie vor außerordentlicher Vitalität. Auch im 21. Jahrhundert steht die Genetik als organisierende und methodisch wie konzeptionell die Lebenswissenschaften umgreifende Disziplin im »Mittelpunkt der Biowissenschaften« (Lemke 2006: 25). Mit der Genetik ist auch das Gen als »kulturelle Ikone« mehr denn je gewissermaßen, wie es Dorothy Nelkin und Susan Lindee (2004) in ihrem Band »The DNA Mystique« ausdrücken, ein »molekularer Spiegel«, in dem sich – ausgestattet mit wissenschaftlicher Macht – allgemeingesellschaftliche Erwartungen, soziale Spannungen und politische Programmatiken zeigen (1995: XI u. 199). In diesem ›Spiegel‹ umkreisen das Gen seit Beginn des 20. Jahrhunderts unablässig Fragen zu den Grundlagen des Lebens, allgemein zu Differenz, Entwicklung, Evolution und im Speziellen auch zu Merkmalen von Menschen. Bis heute fungiert das Gen in lebenswissenschaftlichen Erzählungen entsprechend als Basismetapher, mit der vermeintlich alle möglichen Eigenheiten des Men-
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schen zu fassen seien. Grundlage für diese Bedeutungskarriere des Gens und mit ihm der Rasseforschung bildet die Idee der Weitergabe naturhaft feststehender Eigenschaften.
Die Vererbung des Unterschieds Genetik und Rassenkunde verbindet ihr gemeinsamer Bezug auf Vererbung. Was schon für die Rassekonzepte konstitutive Grundlage war, jene Vorstellung einer generationenübergreifenden, nicht überwindbaren ›(Un)Reinheit des Blutes‹ und ihre ›unausbleibliche erbliche Eigenthümlichkeit‹, wurde allmählich im 19. Jahrhundert, aber vor allem vom Beginn des 20. Jahrhunderts an, zu einem alle biowissenschaftlichen Disziplinen miteinander verbindenden Unterbau. Dabei existierten Erzählungen zur Abstammung und über die generationale Weitergabe von Merkmalen schon in den Kosmologien der frühesten erhaltenen Schriften. Geschlechtliche Unterscheidungen wurden beispielsweise in religiösen Weltdeutungen häufig als Generaldifferenz dargestellt. Daneben boten religiöse Weltverständnisse jedoch immer auch Auswege an, mit denen durch gottesfürchtiges und Gebote befolgendes Leben Einfluss auf das eigene Schicksal genommen werden könnte oder, wie in der christlichen Lehre durch Taufe, soziale Stellungen teildurchlässig wurden. Die Vorstellung einer über Generationen vermeintlich konstanten Andersheit ganzer Bevölkerungsgruppen entstand im europäischen Kontext bereits in Spanien des 15. Jahrhunderts (siehe Kapitel »Geschichte«) und war Grundlage des sistema de castas in den spanischen und portugiesischen Kolonien des 17. Jahrhunderts (Katzew 2004). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiteten sich derartige Themen jedoch im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen aus, und mit dem Begriff der Vererbung avancierte die generationale Weitergabe von Merkmalen zu einem der wichtigsten biowissenschaftlichen Themen. Die eigentümliche Konstanz charakteristischer Merkmale geriet dabei zu einem Problem, das es mit den Mitteln der noch jungen Wissenschaft der Biologie zu ergründen galt. Das Neue war die Verbindung dieser Erörterungen mit systematischen Untersuchungen und letztlich der Ausweitung des Denkens von Vererbung auf allgemeine Prozesse der Entwicklung von Zellen über Organe bis zu Individuen, Reproduktion von Organismen und der Evolution. Mit der Entstehung der Genetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Vererbung schließlich zu einer die Lebenswissenschaften durchdringenden Angelegenheit und zu einem äußerst produktiven Gegenstand, mit dem umfangreiche Forschungsvorhaben auf den Weg gebracht und eine immense Ausbreitung biowissenschaftlicher Deutungsmacht erlangt wurden. Unter dem Begriff der Vererbung konnten fortan die Merkmalsweiter-
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gabe, die Konstanz von Charakteristiken über Generationen, die Andersheit hinsichtlich körperlicher und geistiger Merkmale, Pathologien, Intelligenz, Sexualität etc. sowie die Differenz verschiedener Rassen verhandelt werden. Genetik und Rasse wurden jedoch nicht nur durch ihre gemeinsame Grundlegung im Paradigma der Vererbung zu Wahlverwandten. Vielmehr konnte die neue biowissenschaftliche Disziplin auch deshalb für die Bearbeitung von Rasse dienlich werden, weil die Geschichte der Genetik als Lehre von der Vererbung des Unterschieds – und zwar des kategorialen – begann. Während die Genetik heute gemeinhin als die Lehre vom Aufbau, der Funktion und der Weitergabe von Erbanlagen gilt, befassten sich die ersten Vererbungsforscher weniger mit allgemeiner Vererbung, sondern mit auffälligen Abweichungen, krankhaften sowie ungewöhnlichen Eigenschaften. Zunächst waren also Ausnahmen statt Regelhaftigkeiten von Interesse, wenn Vererbungswissenschaftler das Auftreten von Charakteristika bei Eltern und ihren Kindern oder die Reproduzierbarkeit untypischer Eigenschaften von Pflanzen untersuchten. Derartige Ausnahme-RegelKonstruktionen sind wissenschaftsgeschichtlich als übliche Vorgehensweisen bei der Herausbildung neuer Forschungsfelder herausgearbeitet worden. Ausnahmen werden darin oft als theorieninduzierende Abweichungen genutzt, da sie bestehende Erklärungsformen herausfordern und zu einem Problem gemacht werden können, für dessen Klärung weitere Forschungen und ggf. konzeptuelle Anpassungen notwendig werden. Anschaulich haben Wissenschaftshistorikerޚinnen diese Nutzbarmachung von Abweichung etwa anhand der Problematisierung des Wahnsinns oder des Hermaphroditismus aufgezeigt (siehe z.B. Foucault 1998; 1984; Klöppel 2010). Auch für die Erfindung der Vererbung als Phänomen, das es biowissenschaftlich zu erörtern gelte, waren auffällige Abweichungen Kondensationskerne wissenschaftlicher Betrachtungen. Zwar waren Erörterungen zur Abstammung und Weitergabe von Eigenschaften schon in antiken Texten, in genealogischen Erzählungen wie in philosophischen und medizinischen Besprechungen typisch, aber über viele Jahrhunderte waren die bestehenden Erklärungen für auffällige Abweichungen – wie die Lehre von der Erbsünde, die Berufung auf Einflüsse während der Schwangerschaft oder auf die Phantasievorstellungen der Mutter bei der Empfängnis – ausreichend. Erst im 19. Jahrhundert setzte schließlich in mehreren sehr verschiedenen Bereichen – in der Medizin, Naturphilosophie, Anthropologie, Züchtungskunde sowie in den gärtnerisch-botanischen Praktiken – ein umfangreiches Räsonieren über die Weitergabe charakteristischer Merkmale bei Pflanzen, Tieren und Menschen ein. Der Begriff Vererbung taucht in diesem Kontext ab dem 16. Jahrhundert in mehreren europäischen Sprachen (zuerst im Französischen) als Entlehnung aus dem Rechtswesen auf (vgl. López-Beltrán 2004). Als Benennung für die Wei-
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tergabe von Besitz und Titeln fand er zunächst ab den 1830er Jahren in der Medizin Verwendung. Beispielsweise wurde für die nähere Bestimmung von Krankheiten, die sich innerhalb einer Familie bei mehreren Personen zeigten, der Begriff morbis haereditarii eingeführt. Der Vererbungsbegriff wurde also zunächst bei Ärzten populär und um den Wechsel zum 19. Jahrhundert in einer Fülle an Abhandlungen, Essays, Artikel und Lexikoneinträgen zu »maladies héréditaires«, »Erbkrankheiten« und »hereditary diseases« benutzt (ebd.: 44). Zuerst stellte sich also in der Medizin jene intensivierte Frage nach der Weitergabe von Phänomenen, die sie als eigentümliche generationenübergreifende Gebrechen beschrieb und schließlich problematisierte. Jedoch entstand diese neue Frage nicht aufgrund einer umfassenden Suche nach Erklärungen für wahrgenommene Kuriositäten, sondern bildete sich im Kontext einer allgemeinen Politisierung der Gesundheit der Bevölkerung heraus. Die Medizin wurde mit den beiden Konzepten Hygiene und Vererbung einerseits zum Mittel des wissenschaftlichen Zugriffs auf die biologischen und organischen Prozesse des individuellen Körpers und zum anderen zu einer politischen Technik der Intervention in den Bevölkerungskörper (Foucault 1975: 298). Erbliche Krankheiten ließen sich etwa für eine Kritik an der aristokratischen Familie auf politischer Ebene instrumentalisieren und darauffolgend in den Politiken der Bevölkerungslenkung, des Diskurses über ›Degeneration‹, Krankheiten, Geburtenrückgang sowie für die Stigmatisierung der Besitzlosen als ›Gefahr für die soziale Ordnung‹ funktionalisieren (vgl. Rheinberger/Müller-Wille 2009: 83). Sogenannte degenerative Erbkrankheiten und mit ihnen die Vererbung wurden gleichzeitig zu einem besonderen wissenschaftlichen wie zentralen politischen Thema. Die Erörterungen einzelner individueller Auffälligkeiten hatten dabei immer auch schon für die Ebene der Bevölkerung, also für den ›politischen Körper‹, Relevanz. Die Suche nach Kausalursachen für das Auftauchen von (unheilbaren) Krankheiten war neben der Frage individueller Schuld ebenso eine Frage der erfolgreichen Regierung der Bevölkerung. Von Anbeginn an hantierten die (zuerst medizinischen und politischen) Akteure der Sinnstiftung des Vererbungsbegriffs dabei mit einem konzeptuellen Konglomerat aus biologischen und politischen Aspekten, sodass beide Bedeutungen im Vererbungsbegriff schwer entwirrbar verschmolzen. Ausgangspunkt für die Bearbeitung des Problems der Vererbung waren aber nicht Fragen zur Konstanz, sondern jene zu Ausnahmen, Krankheiten, Auffälligkeiten, Kuriosem, mit einem Wort: Unnormalem.
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Biopolitik der Vererbung: Die Erfassung des Lebens Über die antiken Vorstellungen und ersten medizinischen Theorien zur Übertragung von Merkmalen auf die Nachkommen hinausreichende Ansätze entwickelten sich bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Relativ gleichzeitig entstanden allgemeine Fragen zur Züchtung, Veränderung von Zuchtlinien und Erhaltung von gewünschten Merkmalen in verschiedenen Bereichen der Naturphilosophie, der Züchtungskunde und Anthropologie sowie in Anwendungsbereichen von botanischen Gärten und Menagerien (vgl. Rheinberger/Müller-Wille 2009). Jene die Ära der Genetik beschäftigende Fragen wurden somit schon vor dem 20. Jahrhundert in mehreren biowissenschaftlichen Fachgebieten erörtert. Aufgrund der offensichtlich unmittelbar politischen Brisanz der Vererbungsfrage wurden auch allgemeinere Untersuchungen der Züchtungskunde schon früh immer wieder auf den Menschen, insbesondere auf die Differenz zwischen menschlichen Gruppen und auf die Weitergabe von Eigenschaften bezogen. Diesen Übertragungen auf den Menschen hing allerdings weiterhin derjenige Vererbungsbegriff an, der in der Medizin erste Bedeutung erlangt hatte und dessen spezifische Zugänge auf die beiden Dimensionen von Individuum und Bevölkerung ausgerichtet blieben. Die Idee der Vererbung beim Menschen fokussiert damit seit ihrer Entstehung immer auf die Weitergabe der Differenz und steht damit in einem engen Verhältnis zu pathologisierenden Konzepten. Deutlich trat diese Bindung in der Formierung der Eugenik in den 1880er Jahren hervor sowie in den negativen Konnotationen, mit denen ebenfalls im späten 19. Jahrhundert Kinder von Eltern verschiedener Rassen, sogenannte »Mischlinge«, versehen wurden. Dieses Konglomerat aus Rasse, Erblichkeit und Krankheit entstand schon zu Beginn des modernen Rasseverständnisses im 15. Jahrhundert in Spanien, indem die Ausgrenzung und Verfolgung der ehemals jüdischen (und muslimischen) conversos unter anderem dadurch gerechtfertigt wurde, dass diese, wie Jüdޚinnen allgemein, für Krankheiten wie die Pest verantwortlich seien (Hannaford 1996; Hering Torres 2006). Mit der Übernahme des Vererbungsbegriffs in die Medizin, mit seinem politischen Gebrauch sowie mit der Entstehung der Erbforschung wurde diese Verknüpfung weiter fortgeschrieben und, wenn auch in veränderter Form, bis heute immer wieder erneuert. 9
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Aktuell zeigt sich die Verwobenheit des Vererbungsdiskurses mit Rasse und Krankheit etwa in der Darstellung der Sichelzellenanämie als »schwarze Krankheit« oder der Erfindung des »rassespezifischen« Medikaments BiDil. Siehe hierzu die weiteren Ausführungen zu »Medikalisierung« im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik« sowie zu Praktiken gesellschaftlicher Exklusion im Zusammenhang mit Sichelzellenanämie Duster 1990; Wailoo/Pemberton 2006 und allgemein zur Rassifizierung von Krankheit Hutson 2009.
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Der über die Medizin hinaus erweiterte Vererbungsbegriff ermöglichte aber nicht nur ein umfangreicheres Räsonieren, sondern ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Herausbildung eines neuen epistemischen Feldes, auf dem die bisherigen eher randständigen und spezifischen Erörterungen zur Weitergabe von Merkmalen schließlich zu einer eingehenden Suche nach den Grundlagen biologischer Eigenschaften und Entwicklungsprozesse wurde. Eine derartige Veränderung, die Entstehung eines umfassenden, für fast alle lebenswissenschaftlichen Bereiche relevanrelevanten Vererbungskonzepts, provoziert die Frage, weshalb die seit der Antike bestehenden genealogischen Erörterungen und Erklärungen nun, im Diskurs des 19. Jahrhunderts, nicht mehr genügten. Die sozialwissenschaftlich naheliegende These lautet, dass sich etwas im Gesellschaftsgefüge jener Zeit zu ändernd begann, wodurch die generationale Weitergabe von Eigenschaften und Merkmalen zu einem drängenden und nicht mehr mit den tradierten Auslegungen zu beantwortenden Problem wurde. Auffällig am Vererbungsdiskurs ist, dass dieser sich nicht nur in den verschiedenen Feldern der Biowissenschaften ausbreitet und damit seine allgemeine Bedeutung als Grundlage des Lebens erhält, sondern auch auf der Ebene bevölkerungstechnokratischer Vorstellungen bedeutungstragend wird. Der Vererbungsbegriff wird im 19. Jahrhundert somit für beide Felder, die biowissenschaftliche Erforschung des Lebens und die politische Rahmung zur Verbesserung des Lebens, funktional. Für die Erklärung dieser Verschränkung biowissenschaftlicher und politischer Wissensordnungen bieten sich insbesondere Analysen zur Entstehung der Biopolitik, der Regulierung der Bevölkerung sowie der Selbstführung des Individuums an. Wie Foucault herausarbeitet, entstand mit dem »Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle« (1983: 170) ein weitreichender Bedarf an Wissen über das Leben und die politischen Möglichkeiten der Maximierung dieses Lebens. Die Kenntnis über die Natur des Lebens wurde mit der politischen Planung und Steuerung der Bevölkerung zu einer notwendigen Bedingung. Nur mit einem Wissen über die Grundlagen, die Bedingungen und Prozesse des Lebens schienen die verschiedenen sozialpolitischen Steuerungstechniken, wie Einflussnahmen auf Geburtenzahlen, die Anwendung von Hygienemaßnahmen, Kontroll- und Ordnungsgesetzgebungen und Instrumenten zur Verringerung von Krankheit oder Vermeidung vorzeitigen Todes möglich. Die eugenischen Planungen, die Aufwertung, Ausweitung und Veredelung der Art und Rasse konnten nur mit einer Intensivierung und Ausweitung biowissenschaftlicher Erkenntnisproduktion realisierbar werden. Für den bevölkerungstechnischen Eingriff war es somit zunächst notwendig, das Leben selbst zu erfassen. Die Idee einer Veränderung der Gattung bedurfte zunächst einer Erfassung ihrer grundlegenden Eigenschaften, und zwar im dop-
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pelten Verständnis des Erkennens und Fixierens. Mit der Erfindung der Bevölkerung wurde zwingend auch eine Beschäftigung mit Vererbung notwendig, denn die Steuerbarkeit des Lebens war erst auf Basis eines Wissens über die Begrenzung und Bedingungen des Lebens möglich. Um dieses Wissen zu schaffen, musste der Mensch als Lebewesen zunächst Objekt umfangreicher wissenschaftlicher Betätigung werden. Die politische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der generationalen Weitergabe von Eigenschaften erzeugte dabei eine zwar nicht gänzlich neue, aber nunmehr brennende Frage nach Konstanz und Differenz, die fortan auf einer neuen Ebene allgemeingültiger Gesetze zu verhandeln war. Für diese Entwicklung musste allerdings der Vererbungsbegriff einer Transformation unterzogen werden, die ihn vom metaphorischen Gebrauch juristischer Provenienz zu einem allgemeinen Erkenntnis- und Erklärungsmittel für Lebensprozesse schlechthin werden ließ (vgl. López-Beltrán 2004; Rheinberger/ Müller-Wille 2009). Diese Konzeption der Vererbung ließ die europäische medizinische und biowissenschaftliche Forschung schließlich eine Modernisierungsschwelle überschreiten, hinter der politische Strategien möglich wurden, in denen es um die Existenz der Gattung selbst geht (vgl. Foucault 1983: 170f.). Mit der Etablierung von Biopolitik als Mittel moderner Regierungspraxis setzte zum einen eine Politisierung des Individuums und gleichzeitig eine umfangreiche Biologisierung des Menschen, seines Körpers, seines Reproduktionsverhaltens und seiner Funktion als zu veredelndes und zu vermehrendes Wesen ein. In den auf diese Veränderung aufbauenden politischen Strategien – sowohl in den humanistisch-aufklärerischen Idealen als auch den eugenischen Züchtungsutopien – entstand ein nachhaltiges Begehren, sich mit der generationalen Kontinuität von Eigenschaften zu beschäftigen. Entsprechend war der Erfinder der Eugenik, Francis Galton, einer der ersten, die Vererbung ins Zentrum biowissenschaftlicher Arbeit stellten. 10 Sein Vorschlag zu einer Wissenschaft zur »Verbesserung des Stammes« bzw. der »Kultivierung der Rasse« bedurfte – um überhaupt für die Vorstellung eines verbesserungsfähigen, aber Generationen überdauernden organischen Gebildes zu funktionieren – eines entsprechenden Konzepts der Vererbung. Als Vision einer Höherzüchtung des Menschen erschien die Eugenik als die Methodik, mit der die Aufwertung der Art oder des Volkes bzw. der Rasse erreicht werden könnte. Fortan galt es, das Leben nicht mehr nur zu ordnen, wie es die Naturforschung vorher getan hatte, sondern es in den Signaturen zu erfassen, deren Kenntnis nötig ist, um es verbessern zu können.
10 Siehe Galton (1869, 1876). López-Beltrán (2004: 41) weist in seiner historischen Studie zum Vererbungsbegriff aus, dass Joseph de Maistre 1821 der erste war, der das Substantiv Vererbung (hérédité) verwendete.
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Als Basis dieser Zugriffe auf den einzelnen Menschen und auf die Bevölkerung diente fortan ein Verständnis von Vererbung, demzufolge spezifische Merkmale und Eigenschaften generational durch konkret-materiale Entitäten weitergegeben werden und somit die Stetigkeit dieser Charakteristika ermöglicht wird. Für diese konkrete Ausgestaltung von Vererbung als biologischem Unterbau aller Lebensprozesse waren naheliegenderweise die Biowissenschaften zuständig, die sowohl durch ihre neue biopolitische Funktion als auch durch das von ihr erschaffene Konstrukt der Vererbung nachhaltig verändert wurden. So geriet das Konzept der Vererbung zu einer alle biowissenschaftlichen Disziplinen miteinander verbindenden Grundlage, aber auch zu einer bis in die Gegenwart ersprießlichen Quelle für Forschungsfragen und Erkenntnismöglichkeiten. Mit den neuen biopolitischen Möglichkeiten konnten auch die wissenschaftlichen Erörterungen wie praktischen Maßnahmen zu Rasse leicht zusammengebracht werden. Die Verbindung von über Generationen fortdauernden und unabänderlichen Eigenschaften bestand ja schon seit der Inaugurierung der ersten Rassevorstellungen, auch ohne dass es ein genetisches Wissen über Vererbungsgesetze oder vererbende Einheiten gegeben hätte. Erinnert sei diesbezüglich noch einmal an die Entstehungszeit des Rassebegriffs in der Zeit der spanischen Reconquista, in der zum Zwecke der Ausgrenzung und Unterdrückung der zum Christentum konvertierten Jüdޚinnen und Muslimޚinnen ein Konstrukt der generationalen Weitergabe vermeintlich unreinen Blutes (impureza de sangre) geschaffen wurde (siehe die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel). Die Idee der Vererbung hatte also (auch ohne dass die Begrifflichkeit schon vorhanden gewesen wäre) für die Entstehung der rassifizierender Teilungskonzepte eine konstitutive Bedeutung. Für das Ziel der sogenannten Altchristen, die jeweiligen ›Anderen‹ aus gesellschaftlichen Bereichen auszuschließen, war die Behauptung von generationenübergreifenden Eigenschaften wirkmächtig. Für die Maximierung des Lebens im biopolitischen Zeitalter wurde jene Vorstellung von ›unausbleiblicher erblichen Eigenthümlichkeit‹ schließlich zum Nährboden für die Vorstellungen von der Züchtung des Menschen, die in der Verbesserung des Volkskörpers durch Förderung gewünschter Reproduktionen und der Ausmerzung »lebensunwerten Lebens« umgesetzt wurden. Rasse fungierte dabei als Verbindungsglied zwischen Vererbungsvorstellungen, eugenischen Züchtungsideen und allgemein biopolitischer Regulierung der Individuen und der Bevölkerung. Entsprechend war Rasse auch für die entstehende Genetik von besonderer Bedeutung. In der ›Verbesserung der Rasse‹ konnten beide Ebenen – die Erfassung des Individuums sowie die Vermehrung und Verbesserung der Bevölkerung – zusammengeführt werden: als Hygiene des Selbst in der Übernahme von Reproduktionsverantwortung und als »Rassenhygiene« in der Erhaltung der Art und
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seiner möglichen Weiterzüchtung als »Vitalrasse«. Ohne den Ordnungsdrang spanischer Kolonisatoren, ohne die rassebezogenen Erblichkeitsvorstellungen von Naturphilosophen wie Kant und Blumenbach und ohne die Reinzüchtung von Pflanzen- und Tierrassen in den mendelschen Experimenten hätte der Beginn der Genetik bedeutend anders ausgesehen. Im Schmelztiegel von Rasseanthropologie, Eugenik sowie biopolitischer Regulierung des Lebens wurde ein neuer Wissensbereich amalgamiert, den die Genetik als Vererbungskunde besetzte, aus dem sie dann aber von ihrer Entstehung an eigene, insbesondere ihr Verhältnis zu Rasse verändernde Aussagen erzeugte.
Genetifizierung der Lebenswissenschaften Obwohl sich die Genetik innerhalb weniger Jahre als eigenständiges Fach formierte, waren ihre Untersuchungsmethoden zunächst keinesfalls in einem heutigen Verständnis genetische, sondern ihre Forschungen waren ausschließlich an wenigen äußeren Merkmalen der Untersuchungsobjekte (Modellpflanzen und -tiere) ausgerichtet. Es bedurfte erst einiger theoretischer und technologisch-methodischer Weiterentwicklungen, bevor physisch-morphologische Untersuchungen (die für die Rasseforschung noch lange vorherrschendes Paradigma blieben) allerlei generational weitergegebener Merkmale von elaborierteren genetischen Methoden abgelöst wurden. Zwar lag die Vermutung vererbender Einheiten in den Zellen bzw. im Körper schon seit Beginn des Vererbungsdiskurses nahe und Gene etablierten sich als zentraler Gegenstand der Genetik spätestens im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit Johannsens Trennung in Genotyp und Phänotyp. Dennoch blieben äußerlich sichtbare Eigenschaften wie etwa die grüne und gelbe Farbe bei Erbsen, rote oder weiße Augen bei Fliegen oder große und kleine Nasen beim Menschen noch lange Gegenstand der genetischen Untersuchung. Rasseforschung und Genetik waren somit trotz sich scheidender Wissenschaftsbereiche über die physisch-morphologischen Untersuchungsmarker miteinander verbunden. Erst mit der Chromosomentheorie der Vererbung (ab 1904/05) und der GenKopplungsthese (ab 1910) konnten anhand mehrerer Generationen von Fruchtfliegen erste Genkarten für dieses Modelltier entwickelt werden, womit erste Schritte zu einer eigenständigen, nicht mehr ausschließlich auf morphologische Merkmale fokussierenden Methodik vollzogen wurden. 11 Darüber hinaus waren
11 Chromosomen als »Kernkörperchen«, »Kernsegment« oder »Zellkernschliefe« und deren Konstanz bei der Zellteilung waren seit den 1880er Jahren bekannt. 1903 beobachtete Walter Sutton und 1904 Theodor Boveri die Halbierung der Anzahl der Chromosomen bei der Bildung der Keimzellen und begründeten die Chromosomentheorie der Vererbung. Seit 1905 wurde die
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für die Entwicklung der Genetik im heutigen Verständnis noch viele grundlegende und bedeutungsverschiebende Schritte nötig. Erst die Entwicklung von Hypothesen zur Codierung von Proteinen durch Gene, der Nachweis, dass Chromosomen aus Nukleinsäuren aufgebaut sind, die Konzeption einer Mutationstheorie und darauf aufbauender experimenteller Anwendungen und einiges mehr waren nötig, um zu einer Genetik als einer die gesamten Biowissenschaften verbindenden Disziplin zu gelangen. Diese sukzessiven Entwicklungen brachten Anfang der 1940er Jahre die chemischen Grundbestandteile der DNA und deren erste Analysemöglichkeiten sowie 1953 die letztlich durchschlagende Idee von der Struktur der Doppelhelix hervor. Jedoch verlief die Entwicklung der genetischen Modelle langsamer, als es heute oft anhand des ›Durchbruchs‹ von 1953 dargestellt wird. So gab es zu dem Zeitpunkt lediglich eine höchst vage Vorstellung von der tatsächlichen Beschaffenheit eines Gens. 12 1956 war schließlich die Anzahl der menschlichen Chromosomen abschließend festgelegt, und 1959 die geschlechtlich differenten Chromosomen sowie die chromosomale Grundlage von Symptomen bestimmt, die mit Abweichungen von der üblichen Anzahl zusammenhingen (Weingart/Kroll/Bayertz 1992: 644). Die ›Übersetzung‹ der Basensequenz der DNA in die Aminosäuresequenz der Proteine brauchte noch bis in die 1960er Jahre. Die Erkenntnis, dass nur wenige Prozent der DNA Proteine codieren und damit im eigentlichen Sinne Gene sein können, stellte sich erst in den 1980er Jahren ein (Kay 2005). Außerdem bedurfte es noch verschiedener technischer Neuerungen, um über die Lokalisierung von mehr als nur ein paar Dutzend Genen hinauszukommen. Insbesondere die künstliche Erzeugung einer großen Menge Kopien von zu untersuchender DNA, die Polymerase-Kettenreaktion (PCR), ermöglichte ab Mitte der 1980er Jahre die Sequenzierung von ganzen Genomen, die schließlich ab 1990 im internationalen Humangenomprojekt für den Chromosomensatz des Menschen umgesetzt wurde. Nicht zuletzt aufgrund enormer Innovationen, Konzeptveränderungen und Entdeckungen, die zu einem exorbitanten Ausbau des Wissens über Vererbung, über mikrobiologische Zellprozesse, über die Entwicklung von Organismen und über evolutionäre Prozesse führte, geriet das Gen schließlich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer Ikone biowissenschaftlicher Forschungen insbesondere zur Erklärbarkeit des Lebens (Nelkin/Lindee 1995). Genetische Narrative haben sich dabei als äußerst nützlich sowohl für die Erneuerung vieler
Chromosomendifferenz mit einer Geschlechterdifferenz verbunden. Durch Arbeiten von Thomas H. Morgan gilt seit 1910 die Kopplung von Merkmalen (weißäugige männliche Drosophila) und Chromosomenbefund als bewiesen. 12 Siehe zur Produktivität des Fehlens einer umfassenden eindeutigen Definition des GenBegriffs Keller 2001 und Kay 2000.
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Forschungsbereiche als auch für populäre Fragestellungen und Alltagsprobleme etabliert. Im Zuge dieser Entwicklungen haben sich die Biowissenschaften zur Leitwissenschaft entwickelt und damit der Physik diesen Rang abgelaufen. 13 In der Breite der verschiedenen Bereiche – von der Biochemie über die Neuro-, Entwicklungs-, Verhaltens- und Zellbiologie, die umfangreichen Forschungsfelder der Medizin, Neurowissenschaften, Molekularbiologie bis hin zu Ökologie und systemischen Ansätzen – finden gewaltige Entwicklungen im Grundlagenwie im Anwendungsbereich statt, die fast alle anderen aktuellen Forschungsbereiche in den Schatten stellen. Entsprechend bilden die Wissenschaften vom Leben heute den innovativsten, publikationskräftigsten und forschungsintensivsten Bereich der wissenschaftlichen Disziplinen. 14 Zu der Rangverschiebung in den Wissenschaften haben genetische Ansätze maßgeblich beigetragen. Denn sie nahmen schon frühzeitig, aber vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Stellung innerhalb der Lebenswissenschaften ein – sowohl in Bezug auf Fragestellungen der Forschung und methodischen Entwicklung, als auch bei der Unterstützung der gesellschaftlichen Wirkmacht biowissenschaftlicher Erklärungsansätze. An der zeitgenössischen Bedeutung der Genetik haben die enormen technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sicher ihren Anteil; die Wirkung genetischer Erzählungen und die Laborverfahren selbst wären aber ohne die gesellschaftliche Bedeutungszuschreibung, die den Genen zuteilwird, nicht denkbar. Im gesellschaftlichen Rahmen verschafften Erzählungen über Gene den Biowissenschaften heute einen gewaltigen Bedeutungsgewinn als Antwortgeber auf so bedeutungsvolle Fragen 13 Was genau eine Leitwissenschaft kennzeichnet, ist umstritten. Allgemein kann aber eine Wissenschaft, die zu einer bestimmten Zeit aufgrund ihres theoretischen und technologischen Innovationspotentials sowie ihrer Sinnstiftung für Alltagsfragen gegenüber den anderen Disziplinen herauszuragen scheint und an deren Methodik und Forschungsergebnisse sich viele andere Wissenschaftsbereiche orientieren, als Leitwissenschaft bezeichnet werden (vgl. Engels 2000: 92). Entsprechend hatte die Physik vielleicht seit der Elektro- und Thermodynamik, spätestens aber seit der Relativitätstheorie und Quantenphysik den Status einer Leitdisziplin inne (und löste damit die Geisteswissenschaften in dieser Rolle ab). Der Aufstieg der Biologie zur Leitdisziplin kann zum einen mit der Evolutionstheorie angesetzt oder aber (wie hier verfolgt) mit dem Erfolg der Genetik als verbindender Disziplin zusammengebracht werden. Am Aufstieg der Biologie wirkten bemerkenswerterweise auch mehrere Physiker maßgeblich mit: So stammen wichtige konzeptuelle Arbeiten zur Genetik von Max Delbrück (in Zusammenarbeit mit dem russischen Biologen Nikolay Timofeeff-Ressovsky), für die Begründung der physikalischen Struktur genetischer Informationsträger waren Erwin Schrödingers Arbeiten wichtig, und Francis Crick, einer der Erfinder der DNA-Doppelhelix, war ebenfalls zunächst Physiker (vgl. Kay 2001). 14 Demgemäß fragt etwa der Biologe Paul Präve: »Welches ist die führende Wissenschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts?« und antwortet umgehend: »Kein Zweifel, es ist die Biologie« (1992: 2).
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wie die nach dem Menschen, seinem Wesen und seinen Bedingungen. Die Antworten auf derartige Fragen können sich im Gewand genetischer Analysen als vermeintlich neutrale, wertfreie und lediglich die Natur des Menschen beschreibende kleiden. Dieser Nimbus, den genetische Aussagen über den Menschen noch immer erfolgreich erzeugen, scheint aus einem sozialwissenschaftlichen Verständnis jedoch mindestens naiv, wenn nicht unverantwortlich und politisch gefährlich. Denn die im modernen westlichen Verständnis übliche Präsentation gesellschaftlicher Teilungen als »natürliche Ordnung« impliziert immer auch, dass diese als kaum veränderbar bzw. unvermeidlich scheinen. Für eine Klärung der Bedeutungen, mit denen genetische Darstellungen umzugehen haben und deren gesellschaftliche Rahmungen sie stützen, (re)produzieren oder konterkarieren, bedarf es zunächst eines weiteren Aufschlusses über die Ausprägungen genetifizierter Differenz. Mit dem Wissen um die Bedingungen einer nach Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Klasse und Behinderung stratifizierenden und diskriminierenden Gesellschaft werden nun zunächst verschiedene Formen genetischer rassifizierender Forschungen herausgearbeitet.
Vom Phän zum Gen Die Rasse ist Vererbung und nichts als Vererbung. Eugen Fischer 1942, S. 84
Seit Anbeginn der Genetik bedienten sich die Rasseforscher dieser neuen Disziplin, um ihre Rassekonzepte sowohl mit den Vorstellungen vom Untersuchungsobjekt Gen zu unterfüttern und damit zu erneuern, als auch um mit den neuen Ansätzen neue Forschungen zu legitimieren. Zwar sind die damaligen Gen-Konzeptionen vor allem als unterbestimmt zu bezeichnen, der Idee nach existierten Gene aber auch schon ohne empirische Belege in der Vorstellung von Biowissenschaftlerޚ innen als spezifische materiale Einheiten, die jene klar differierenden Merkmale im Phänotyp vorbestimmen bzw. determinieren. Zu beachten ist allerdings, dass die Vorstellungen von diesen vererbenden Einheiten sich von der heute vorherrschenden Denkweise deutlich unterschieden. Mit der heutigen diskursiven Vormachtstellung des Nukleotid-Modells und einer Informationstheorie lässt sich Vererbung fast nur noch gemäß dem Modell der DNA denken, auf der aneinandergereihte Codes zur Synthese für Proteine und zur Regulation anderer Gene liegen. Die Ideen von der Natur der vererbenden Einheiten waren bis in die Mitte
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des 20. Jahrhunderts jedoch sehr divers. Darwin ging z.B. von »Pangenen« aus, die sich aus allen Winkeln des Körpers kommend in den Keimzellen sammeln würden, und bis in die 1940er Jahre vermuteten die meisten Wissenschaftlerޚ innen die Grundmoleküle allen Lebens – die Proteine – als wahrscheinlichste Kandidaten für die Erbeinheiten. Insbesondere die kategoriale Trennbarkeit der einzelnen Eigenschaften, welche genetische Ansätze von jeher und nicht erst seit Mendel behaupten, entsprach auch dem Grundanliegen der Rasseforschung, in der ebenso nach klar zu unterscheidenden Menschensorten gesucht wurde. In den Forschungspraxen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hatten die typologischen Rasseanthropologen jedoch immer wieder damit zu kämpfen, dass die aufwendig erhobenen Differenzdaten diffuse, oftmals gerade nicht die erhofften kategoriale Differenzen zum Vorschein brachten. Da versprachen die als eindeutig unterschiedlich gedachten Gene eine Problemlösung, um endlich das wissenschaftlich trennen zu können, was nach Auffassung der Forscher von Natur aus getrennt gehörte. Das Problem, zu dessen Lösung das Gen beitragen sollte, war nichts weniger als das Grundproblem der typologischen Rasseforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Die in der Alltagsanschauung so unterschiedlich erscheinenden Rassen erwiesen sich in der wissenschaftlichen Differenzsuche oftmals als keinesfalls klar voneinander trennbar. Vielmehr scheiterten die Versuche der eindeutigen Unterscheidung in den vielfältigen Untersuchungen immer wieder an ausfransenden, überlappenden und graduellen Ergebnissen (Hanke 2007). In jener Zeit, in der sich bald alle Dinge der Welt in objektiven Zahlen ausdrücken lassen sollten, schien noch nicht die beste Methode gefunden, um auch die vermeintlich so differenten Rassen in einer wissenschaftlich-positiven Rationalität aufteilen zu können. Die Natur verschleierte ihr Differenzgeheimnis weiterhin vor den Rasseforschern. Aber die Schwierigkeiten erwiesen sich zugleich auch als Antrieb für ein produktives Weiterforschen. So wurden verschiedenste Methoden angewandt, um die Daten dennoch als kategoriale Differenzen interpretieren und darstellen zu können; und statt einer Absage an die bisherigen Konzepte fungierten die Probleme in aller Regel eher als Anlass zu neuen Untersuchungen. Eine Antwort auf das Problem mit der Empirie war entsprechend dem Differenzierungsoptimismus des späten 19. Jahrhunderts die Durchführung einer Unzahl umfangreicher Erhebungen und Messungen. Wie die Wissenschaftshistorikerin Christine Hanke in ihrer Studie zur »Konstruktion von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie um 1900« herausarbeitet, wurden die beiden Differenzobjekte im Eifer der objektiven Erfassbarkeit des Menschen zu den Produktionsorten der biologischen Forschung zum Menschen. Die physische Anthropologie befand sich zur Entstehungszeit der Vererbungskunde und Genetik
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entsprechend in einer wahren Erhebungswut, in der mittels metrisch-statistischer Verfahren ungeheure Mengen an Daten gesammelt wurden. Deutlich macht dies etwa die Vermessung menschlicher Schädel, für die schließlich nahezu 6000 Einzelmaße vermessen wurden (Hanke 2007) oder die unter Leitung Rudolf Virchows durchgeführte Schulkinderstudie, in der ab 1874 die Augen-, Haut- und Haarfarbe von fast sieben Millionen Kindern anthropometrisch erfasst wurde, um die rassische Zusammensetzung des deutschen Volkes zu bestimmen (Geulen 2000). 15 Die Propagierung intensiverer Detailmessungen mit einer Unmenge von Messpunkten führte zwar zu immer breiteren Differenzierungsversuchen und meterlangen Zahlenkolonnen, aber die unverkennbaren Unterschiede konnten dennoch nur aufwendig durch Bereinigungen, Glättungen und Ausnahmeregelungen hergestellt werden. Die Rassen ergaben sich eben nicht, wie erhofft, aus den Daten selbst; vielmehr produzierten auch die immer wieder erneuten Forschungsbemühungen neben den immensen Datenwolken vor allem Überlappungen, Inkongruenzen, fließende Übergänge und Verteilungshäufigkeiten (vgl. Hanke 2007 sowie auch die Ausführungen in den Kapiteln »Geschichte« und »Genetifizierung«). Mit der Erfindung der Genetik als Vererbungskunde bot sich eine noch bessere, die anderen Ansätze integrierende Lösung des Empirieproblems an. Statt die Differenzen der Rassen anhand morphologisch-physischer Merkmale festzustellen, versprachen die Erbanlagen – jene Entitäten der neuen Wissenschaft – ein neues, kategoriales Klassifikationsmittel zu sein. Die verschiedensten Klassifizierungen und unterschiedlichen Gewichtungen einzelner Merkmale könnten sich, so die Hoffnung der Rasseforschung, unter einem genetischen Paradigma zu einer einheitlichen Taxonomie vereinen lassen. Da die Vererbungswissenschaft nach der Wiederentdeckung der mendelschen Arbeiten methodisch wie konzeptionell mit
15 Neben der Ausweitung der Messungen durch mehr Objekte und durch mehr Messpunkte pro Objekt schien außerdem eine weitere Strategie hilfreich, um die Probleme mit den anthropometrischen Differenzdaten zu beheben. So gingen mehrere Anthropologen in ihren Forschungen dazu über, nicht mehr von reinen Rassen auszugehen. Der Topos von der »Rassenmischung« wurde schon häufig und gern bemüht, wenn die Forscher innerhalb der untersuchten Population zu viel Varianz auffanden. Nun wurde er zum Allgemein-Postulat bezüglich der untersuchbaren Völker und Ethnien (siehe z.B. Deniker 1900). Gleichzeitig wurde mit dieser Denkweise keinesfalls die Unterteilung in Rassen aufgehoben – wie es hätte naheliegen können – sondern vielmehr eine Rekonstruktion der »Stammrassen« anhand der morphologisch-typologischen Kriterien propagiert. Diese Reinheitsimagination eines rassischen Ursprungs, der nun in Form einer Mischung die einzelnen Völker kennzeichnete, wurde seit dem 19. Jahrhundert immer wieder bemüht, in einigen populationsgenetischen Studien wieder aufgewärmt und findet sich noch heute in mehreren ancestry-Projekten (dort zumeist in ethnisch diversifizierter oder kontinental verorteter Form). Eine Vereinigung dieser Problemlösungsstrategien in einer umfassenderen Veränderung der Rasseforschung sollte sich jedoch erst mit der Inklusion genetischer Narrativen ergeben.
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eindeutig distinkten Merkmalen hantierte, die eben auch Rassenmerkmale waren, lag es nahe, die Konzepte der neuen Disziplin auch für die Rassenkunde zu verwenden. Entsprechend schien vielen Rasseforschern ab der Wende zum 20. Jahrhundert die Mendelsche Genetik das Mittel der Wahl. Mendels Forschungen waren neben der Arbeit mit eindeutig distinkten Merkmalen (und damit konzeptioneller Nähe zu den Methoden der Rasseanthropologen) auch in dem verwendeten Ordnungs- und Trennverfahren überzeugend: Wie wohl seit einigen Jahrzehnten jedeޚr im Biologieunterricht vermittelt bekommt, hat Mendel in den 1850er und 60er Jahren unter anderem verschiedene Erbsenrassen bzw. -sorten 16 miteinander gekreuzt und die aus den Kreuzungsexperimenten gewonnene Saat nach ihrem Aussehen sortiert und gezählt. Mendel (1866) wählte für die Unterscheidung »constant differirende merkmale« aus, wie die Gestalt der Erbsensamen (kugelrund oder tief runzlig) und deren Farbe (gelb oder grün). In der Regel wird im Schulunterricht nicht gelehrt, dass Mendel neben diesen Merkmalen noch eine Reihe weiterer Differenzierungen vornahm und Versuche mit anderen Unterscheidungen anstellte, etwa hinsichtlich der »Länge und Färbung des Stengels, in der Grösse und Gestalt der Blätter, in der Stellung, Farbe und Grösse der Blüthen, in der Länge der Blüthenstiele, in der Farbe, Gestalt und Grösse der Hülsen, in der Gestalt und Grösse der Samen, in der Färbung der Samenschale und des Albumens« (Mendel 1866: 7). Aus den aufgeführten Merkmalen wählte er jedoch nur sechs aus, und zwar jene mit einer sicheren und scharfen Trennung: »Charactere (…), die an den Pflanzen deutlich und entschieden hervortreten« (ebd.). Die für den erbsenzählenden Mendel so wichtige Auswahl von Merkmalen, die eine »sichere und scharfe Trennung« (ebd.) zuließen, machte die Mendelsche Genetik auch so produktiv für die Rasseforschung. Ebenso wie Mendel suchte letztere nach Merkmalen in der Fülle an Differenzen, anhand derer sich die zu bildenden Gruppen leicht und sicher unterscheiden ließen. Da die typologischen Forschungen diese Anforderung höchst widerwillig und oft nicht ausreichend erfüllten, lag die Hoffnung der Rasseforscher nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Erbregeln auf derartigen eindeutigen und konstanten Unterscheidungen. Außerdem waren die genetischen Narrative auch in der Lage, die beiden Strategien der typologischen Rasseforschung zur Lösung ihres Empirieproblems 16 Während heute für die taxonomischen Bezeichnung von Pflanzengruppen unterhalb der Art die Begriffe Sorte, Subspezies und Variation vorherrschen und nur noch selten der Begriff Rasse vorkommt, war zur Zeit Mendels und der Entstehung der Genetik auch Rasse eine übliche Bezeichnung für Pflanzenvarietäten. Als seltener heutiger derartiger Gebrauch sei bspw. auf das »Botanische Wörterbuch« von Schubert/Wagner verwiesen, in welchem »Rasse« definiert wird als »besondere pflanzengeographische Ausbildung einer Pflanzengesellschaft, die durch Differenzialarten gekennzeichnet ist« (2000: 462).
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zu integrieren: Unter dem Label genetischer Forschung konnte einerseits eine Fülle an morphologisch-physiologischen Messungen weiter durchführen und bestehende erweitert werden. Andererseits ließ sich die genetische Basismethodik heranziehen, um die schon ältere Behauptung zu stützen, dass in den anthropologischen Daten Mischungen von ehemals reinen menschlichen Rassen vorzufinden seien. Zwar hantierten die Rasseforscher mit verschiedenen Modellen und unterschiedlichen Prädispositions- und Präformationsvorstellungen sowie in der Regel mit unbestimmten Ideen zur Natur der vererbenden Einheiten, dennoch vollzog sich die Verbindung zwischen Rasse und der Vererbungswissenschaft äußerst schnell, und genetische Verschiedenheit gilt seither für alle Rasseforschungen als ursächlicher Grund rassischer Differenz. Weil Gene weder in ihrer stofflichen Beschaffenheit geklärt, noch direkt darstellbar waren, bemühten sich nunmehr verschiedene Forschungsbereiche darum, nicht nur die physischen Differenzen zu erfassen, die aus der genetischen Verschiedenheit herrühren, sondern den Erbeinheiten selbst näher zu kommen.
Verinnerlichung und Verkleinerung Die Genetik bot für die Rasseforschung neben der Möglichkeit, ihre Forschungen nun als genetische und damit modernere zu labeln, noch weitere wichtige Anknüpfungsmöglichkeiten. So ließ sich mit der Übernahme der genetischen Methoden und Narrative eine konzeptionelle und schließlich forschungspraktische Verlagerung auf die Erbeinheiten vollziehen. Bisher hatten die Rasseanthropologen ihre Vermessungen unter der Prämisse vorgenommen, dass die physischen Merkmale durch generational weitergegebene Anlagen determiniert würden. Die Vererbungskonzepte der Forscher unterschieden aber nicht scharf zwischen diesen Merkmalen und den Anlagen. Vielmehr bestand keine konzeptuelle Trennung von Merkmalen und Vererbungseinheiten. Das heutige hegemoniale Verständnis von Genen als Informationsträger, die für physische Merkmale codieren vollendete sich erst im Kontext von Kybernetik und Nukleotid-Theorien, sodass es in der zeitgenössischen Deutung ein Produkt der Nachkriegszeit ist (vgl. Kay 2005). Ermöglicht wurde der heute vorherrschende Denkstil, bei dem Gene im Zentrum stehen, durch die von Johannsen 1909 eingeführte Trennung von Phän und Gen. Konzeptionell fassbar waren damit unterschiedliche Formen der Merkmalsausprägungen (dominant, rezessiv, homozygot, Überspringen einer Generation etc.), und gleichzeitig konnten Umwelteinflüsse von diesen Phänomenen abgetrennt werden. Effekt dieser Trennung ist schließlich die Fokussierung biologischer Forschung auf Erbeinheiten, die damit zum Urgrund von Entwick-
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lung und den Merkmalsausprägungen der Art, der Rasse wie des Individuums gerieten. Zwar ließen sich genetische Anlagen noch lange nicht bzw. nur vermittelt in experimentellen Anordnungen erreichen, weshalb phänotypische Daten weiterhin das Mittel der Genetik und der Rassenkunde blieben; aber die Gene bildeten von in der Folge das Ziel der Forschungen und den Ort, dem die entscheidende Differenz zugeschrieben wurde. Die Verlagerung auf die Erbanlagen als Untersuchungsgegenstand ermöglichte der Rasseforschung, von den oft unklaren anthropologischen Vermessungen (mit denen kaum präzise Trennungen erzeugbar waren) abzusehen und stattdessen von eindeutigen Differenzen der kategorial unterschiedlich gedachten Erbeinheiten auszugehen. Dies wirkte sich außerdem produktiv im Sinne der Disziplinierung der Rasseforschung aus: Rasse wurde nun zu etwas, was wissenschaftlich fortan innerhalb des Körpers zu verorten war. Im Gegensatz zur physiologisch ausgerichteten Rassenanthropologie sollte mit den Vererbungseinheiten ein wissenschaftliches Objekt ins Visier genommen werden, das in den Tiefen des Körpers einen Ort eindeutiger Differenz versprach und zudem nur über elaborierte wissenschaftliche Methoden auffindbar und sichtbar zu machen war. Die Schwierigkeiten, die mit einer solchen Fokusverschiebung vom Außen des Körpers in dessen Innenraum entstanden – nämlich, dass es keine klare Vorstellung von den Untersuchungsobjekten gab und die technischen Möglichkeiten zur Sichtbarmachung der Objekte sehr begrenzt waren – bewirkten jedoch keine ernsten Probleme für die Rasseforschung. Im Gegenteil: Mit der Verinnerlichung der Differenzsignaturen konnte Rasse einer weiteren Verwissenschaftlichung unterzogen werden, mit der letztlich eine Entwicklung weg von den physiologischtypologischen Messungen der Anthropologie einsetzte. Die schon in den vergangenen Jahrhunderten angewandten Methoden – etwa die Vermessung und Typisierung allerlei körperlicher Charakteristika sowie die Erstellung von Ahnenreihen – konnten mit der Attribuierung als genetische Forschung nunmehr als äußerst moderne, an der Speerspitze biowissenschaftlicher Forschung agierende Arbeiten ausgegeben werden. Die Verlagerung der Differenzforschung in den Körper hinein ermöglichte neue Forschungen und mit diesen die Erweiterung der technischen und methodischen Ansätze. Rassewissenschaft erfuhr mit der Genetifizierung also einen zweifachen Modernisierungsschub. Erstens kam es zu einer Ausweitung der Untersuchungen und zu einer Weiterentwicklung der Methodik, und zweitens wurde Rasseforschung zu einer ressourcenintensiven technischen und laboranalytischen Arbeit, die damit dem geübten Blick, zu dem auch Laien und fachfremde Forscherޚinnen in der Lage sein könnten, entzogen wurde. Mit der technischen Entwicklung ging somit eine
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Professionalisierung der Rassenkunde einher, deren Praktiken fortan nur noch von laboranalytisch ausgebildeten Personen auszuführen waren. Gleichzeitig vollzog sich mit dieser Inversionsbewegung ebenso eine Verkleinerung der Differenzmarker, indem statt der physischen Merkmale die Anlagen für die Merkmalsausprägung Zielpunkt der zukünftigen Untersuchungen wurden. Damit konnte eine epistemische Verschiebung erzeugt werden, deren Ergebnis eine weitere Professionalisierung der Rasseforschung war. Mit dem Fokus auf Gene als Urgrund phänotypischer Merkmale, mit der Bewegung von außen nach innen und vom Makro zum Mikro wurde auch der Status der Rassenkunde als erkenntniserzeugende Instanz gefestigt und eine Stabilisierung der Konstruktion des Expertenwissens von Anthropologen und Medizinern auf diesem Gebiet erreicht. 17 Allerdings sind die Veränderungen in der Rasseforschung asynchron verlaufende Prozesse, in denen sich diese analog zur Genetik als Leitdisziplin entlang der klassischen Genetik, über die Populationsgenetik zur Molekularbiologie und Genomik entwickelte. So vollzogen sich diese Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst lediglich ideell, also auf der Ebene theoretischer Entwürfe und der Darstellung von Forschungsergebnissen, da weder eine einheitliche Vorstellung noch die technischen Voraussetzungen zur Beforschung von Genen vorlagen. So wurde üblicherweise auch vermutet, dass Proteine die vererbenden Einheiten, gleich Gene sein müssten. 18 Die Rasseforschung modernisierte sich mit den Bewegungen in den Innenraum des Körpers und mit der Verkleinerung der Differenz zunächst lediglich mit der Inbesitznahme eines epistemischen Objekts, das noch mit keiner experimentell-empirischen Evidenz ausgestattet war. Nicht trotz, sondern gerade wegen des Fehlens einer einheitlichen Vorstellung von der Natur der Erbeinheiten und einer methodischen Zugriffsmöglichkeit oder technischen Sichtbarmachung erwiesen sich die kleinen Unterschiede im Innern der Körper als äußerst produktiv und sollten fortan als Signaturen für die großen Unterschiede zwischen den Rassen gelten. Somit kam es zwar recht schnell zu einer Verbindung von Genetik und Rasse, zunächst jedoch, ohne dass gravierende konzeptuelle Veränderungen am Rasse-
17 Die Zunahme an wissenschaftlicher Wirkungsmacht der Rassenkunde und Eugenik lässt sich sehr gut an der Zunahme an rassenanthropologischen Zeitschriften im deutschen Sprachraum ablesen. Existierten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts lediglich das Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschaftshygiene (1904 gegründet) und Beiträge zur Rassenkunde (ab 1906), so entstanden in den Folgejahren eine ganze Reihe neuer Fachmagazine wie Anthropologischer Anzeiger (1923), Bulletin der Schweizer Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie (1924), Volk und Rasse (1926), Archiv für Rassebilder (1926), Zeitschrift für Rassenphysiologie (1928/29), Rasse (1934), Zeitschrift für Rassenkunde und ihre Nachbargebiete (1935). 18 Siehe weiter unten die Ausführungen zu Proteinen.
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konzept oder der Rasseforschung vorgenommen werden mussten. Die Verknüpfungen, die zwischen Rassekonzepten schon aus der Vorgeschichte der Genetik und den Grundkonzepten vererbender Einheiten bei verschiedenen Forschern bestanden – wie »Anlagen«, »Keimchen«, »Biophoren« oder »Pangene« – ermöglichten entsprechend auch eine Anpassung an die modernen genetischen Vorstellungen. Mit der Entstehung der Vererbungswissenschaft konnte die Rasseforschung ohne weiteres an diese neue Disziplin andocken, da sie schon in Relation zum Gegenstand der Genetik stand. Das Bindeglied zwischen Genetik und Rasse war deren beider Basisannahme, nämlich die Vererbung unabänderlicher Merkmale über Generationen hinweg. Darüber hinaus konnte jene Anbindung von Rasse an genetische Vorstellungen nicht nur deshalb so schnell erfolgen, weil die Fachgrundlagen der Vererbungsforschung so nah zu Konzeptionen und Vorgehensweisen der Rasseforschung waren, sondern auch weil die vererbenden Einheiten in beiden Disziplinen lediglich in Form von Hypothesen bestanden. Da Gene zwar als Hypothese, aber nicht als empirisch bzw. experimentell gesicherte Entität vorlagen, war auch keine Unterscheidung zwischen den Erbeinheiten, die die Genetik untersuchte und jenen, auf die die Rassenkundler hofften, vorzunehmen. Der Vorteil der Unbestimmtheit bzw. empirischen Unzugänglichkeit des Gens war, dass die Rasseforscher auf den modernen und wissenschaftlich verheißungsvollen Begriff zugreifen, aber dennoch die typologischen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts weiterführen und sogar weiter ausbauen konnten. Auch für die Vererbungsforschung war das Fehlen von direkt auf genetische Wirkmechanismen (ganz zu schweigen von den zugrunde liegenden Molekülen) schauenden Instrumenten und Apparaturen kein Problem, da stattdessen, genau wie Mendel es getan hatte, zuallererst mit phänotypischen Merkmalsuntersuchungen vorgegangen und von diesen aus auf genetische Konstitutionen geschlossen wurde. Derartige Vorgehensweisen in der Genetik entsprachen im Übrigen weitgehend der üblichen Methodik der zeitgenössischen Rassenkunde. Die empirische wie auch theoretische Unklarheit des Gen-Begriffs führte also keinesfalls zu konzeptionellen oder forschungspraktischen Schwierigkeiten. Eher scheint das Zusammentreffen von Genetik und Rasseforschung insbesondere für Letztere ein Glücksfall gewesen zu sein. Denn mit der Aufnahme genetischer Narrative und der damit einhergehenden Bewegung in die Tiefen des Körpers und zu den kleinsten Bausteinen des Lebens als Orte der Differenz wurden nach und nach zwar einzelne Bereiche typologischer rassenkundlicher Untersuchungen abgelöst, als Grundmethodik der Rasseforschung und Eugenik blieben physiologische Typologien jedoch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bestehen und wurden in den ersten Jahrzehnten noch mittels genetischer Darstellungen weiterentwi-
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ckelt. Sowohl in den extensiven Studien zu den »Rehobother Bastards« (Fischer 1913) wie in den millionenfachen Rassenuntersuchungen während des Nationalsozialismus fanden typologische Forschungen schließlich ihre wissenschaftliche Kulmination. Dennoch gingen mit der Ankopplung an die Genetik Prozesse einher, die letztlich zu bedeutungsvollen Veränderungen der Rasseforschung und der von ihr verwendeten Konzeptionen führten. Da die jeweiligen Veränderungen zur forcierten Genetifizierung von Rasse führten und ein Einblick in die einzelnen Entwicklungsschritte notwendig ist, um auch die Entwicklungen zu den aktuellen Rassekonzeptionen zu verstehen, sind diese Prozesse weiter zu rekonstruieren. Anhand von vier verschiedenen Untersuchungsobjekten – den Knochen, Haut und Haaren, der Psyche, den Blutgruppen und den Proteinen – ist nun den jeweiligen Signaturen der Differenz zu folgen.
Knochen, Haut und Haare In der Rassenkunde vollzogen sich der Wechsel vom Phän zum Gen und die Bewegung ins Innere und zum immer Kleineren allerdings nicht sofort mit der Entstehung der Genetik, sondern die Genetifizierung von Rasse fand zunächst nur auf der Ebene der Narration statt, etwa zur Forschungslegitimation in den Darstellungen physiologisch-typologischer Studien als genetische. Es wurden also die Darstellungsformen der Genetik, der Gen-Begriff sowie die Postulate zur Vererbung von Differenzen der experimentellen mendelschen Forschung aufgenommen, ansonsten aber weitestgehend mit den vorgenetischen Standard-Methoden der Anthropologie weiter geforscht. Ungeachtet der rhetorischen Verschiebung, in deren Folge allerlei Forschungsergebnisse als genetische ausgeben wurden, behielt die Rasseforschung die Grundannahme bei, dass rassische Differenzen wissenschaftlich identifizierbar seien und nunmehr anhand der aufgefundenen physischen Differenzen eine genetische Taxonomie der Rassen ermittelt werden könne. Die Standard-Methoden der Kraniologie und Anthropometrie blieben daher vorerst bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten. Im Gegensatz zu den Verlautbarungen der Rassenanthropologie – nunmehr genetische Forschung zu betreiben – hatten die Vermessungen allerlei äußerer Merkmale und deren Umsetzung in kategoriale Unterscheidungen mit den Mitteln der mechanischen Objektivität also weiterhin Bestand. Insbesondere die Vermessung der Schädelform (sowohl am lebenden Menschen als auch an Knochen von Verstorbenen), der Körpergröße und -proportionen, der Feststellung der Pigmentierung von Haut, Haaren und Iris sowie weiterer physischer Merkmale wie der
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Abbildung 2: Mendelsche Genetik anhand von Meerschweinchen-Rassen
Darstellung der Mendelschen Genetik eines dominant-rezessiven Erbgangs bis zur F2Generation mittels der phänotypischen Merkmale Fellfärbung und Fellform (Angora) beim Meerschweinchen. Wandtafel im Besitz des Instituts für Biologie, Vergleichende Zoologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Abruck mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Gerhard Scholtz.
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Nasen-, Lippen-, Lidform, der Haarstruktur etc. wurden auch in der beginnenden Ära der Genetik noch lange fortgeführt. Doch darf aus der Fortführung der etablierten Forschungsmethoden nicht geschlossen werden, dass die Inkorporation genetischen Wissens in die physische Anthropologie und Rassenhygiene nicht viel bewegt habe. Keinesfalls war dies nur eine marginale Entwicklung, denn auf anderen Ebenen profitierte die Rasseforschung reichlich von dieser Ankopplung an die Genetik. So konnte die bestehende rassenanthropologische Arbeitsweise – also die physiologisch-anatomischen Studien sowie die Familien- und Stammbaumforschung – mit der Modernität der Vererbungsforschung aufgewertet und allgemein der Rassenkunde mit dem genetischen Narrativ ein innovativ glänzender Anstrich verliehen werden. Zwar war es in der Rassenkunde nicht wie in der Genetik möglich, mit Kreuzungsexperimenten und vielen Generationen von Modellorganismen zu arbeiten, da Menschenversuche nicht in vergleichbarer Weise durchführbar waren. Dennoch stellten die Rassenkundler ihre Generationenforschungen und Stammbaumanalysen ähnlich wie die Experimente der Genforscher mit Drosophila und Co. als genetische Untersuchungen dar. Mit dieser Analogisierung zu Experimenten mit Modelltieren wie beispielsweise Taufliegen und Meerschweinchen (vgl. Abbildung 2), wurden auch die Forschungen in der Rassenanthropologie immens ausgeweitet, weil eine immer größer werdende Fülle von Merkmalen erfasst werden musste. Die Diversifizierung der Untersuchungsmerkmale war allerdings weniger im Einfluss der Genetik auf die Rasseforschung begründetௗals vielmehr im schon benannten Empirieproblem. Dennoch stützten die genetischen Ansätze eine Ausweitung der Datenerhebung, da wie bei den Untersuchungen an den Modelltieren prinzipiell jedes Merkmal bedeutend sein konnte. Da jedes Merkmal sowohl als Ausdruck der Vererbungseinheiten (Gene) als auch als Signatur der Rasse gelesen werden konnte, lag es zweifach auf der Hand, die Unterschiede einer genetischen Untersuchung zu unterziehen. Die Extensivierung der Studien auf eine Vielheit zu untersuchender Merkmalen war für die weitere Etablierung der genetischen Rasseforschung somit funktional, weil erwartet wurde, so eindeutigen rassischen Unterschieden (wie etwa die zwischen den Meerschweinchenrassen) auf die Spur kommen zu können und weil man hoffte, die unklaren Messergebnisse durch ein Mehr an Daten beheben zu können. Beide Entwicklungen der frühen genetifizierten Rassenkunde – die Ausweitung der zu untersuchenden Merkmale und die Darstellung der etablierten Forschung als nunmehr genetische – werden beispielsweise an der genannten Forschung des Rassenhygienikers Eugen Fischer zu den »Rehobother Bastards« deutlich. In dieser 1908 durchgeführten Studie zu »Rassenkreuzungen« in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, vermaß, rechnete, typisierte und ordnete er in extenso,
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um die »Mischung der Erbeinheiten« an Haar- und Nasenform, Nasenindex, Lidspalten, Augen-, Haar- und Hautfarbe, Körpergröße und -proportionen, Kopfform, Gesichtsindex, Stirnbreite, Fruchtbarkeit, Menarche usw. als mendelnde Merkmale nachzuweisen (Fischer 1913). Beeinflusst vor allem von den Arbeiten des Genetikers Erwin Baur und dessen Forschungen zu Farb- und Formausprägungen am Löwenmäulchen, meinte er das Mendeln mittels seiner anthropologischen Messungen und statistischen Berechnungen nachweisen zu können. Dafür wurde es natürlich notwendig, wie Mendel (und Baur) von »reinen Stammrassen« auszugehen und die Merkmalsausprägungen in F1- und F2-Generationen durch vermeintlich rezessive, dominante und intermediäre Erbgänge zu erklären. 19 Nach Erscheinen der Studie 1913 wurde sie von Fachkollegen als erste große anthropologische Untersuchung, welche die neue Vererbungsforschung berücksichtige, angepriesen (Baur 1913: 280). Diese gaben der Hoffnung Ausdruck, dass in Zukunft »[j]eder Rassenbiologe und Eugeniker« Fischers »Tatsachen und Schlußfolgerungen auf das eingehendste berücksichtigen« müsse (Allers 1913: 796). Fischer profitierte sowohl in seinen Forschungen als auch in seiner Karriere enorm von der Wirkmacht, die durch die Verbindung von Rasse und Genetik erzeugt wurde. Als einer der Vorreiter der genetifizierten Rassenanthropologie konnte er in den folgenden Jahrzehnten eine Fülle von Artikeln veröffentlichen und sich als Experte für die Verschränkung von bevölkerungspolitischen Fragen, Erbforschung und Eugenik produzieren. 1921 veröffentlichte er zusammen mit Erwin Baur und Fritz Lenz den zweibändigen »Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene«, welcher für über zwei Jahrzehnte nicht nur im deutschsprachigen Raum zum wichtigsten Standardwerk über menschliche Vererbung und Rassenhygiene avancierte. 1927 wurde Fischer schließlich erster Direktor des (zeitgleich zum »V. Internationalen Kongreß für Vererbungsforschung« in Berlin eröffneten) »Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik«, das er bis zu seiner Emeritierung 1942 leitete. Insbesondere für die Einführung des vererbungswissenschaftlichen Zugangs in die Anthropologie wurde er seit den 1920er Jahren, zur Zeit des Nationalsozialismus und bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik immer wieder geehrt. Ebenso wie die anthropologische Rasseforschung war auch die Eugenik Nutznießerin eines Verbindungprozesses mit der Genetik und der daraus folgenden 19 Die Vererbung dieser Merkmale nach Mendelschen Regeln gilt heute als widerlegt (vgl. Lenz 1968: 93 u. Weiss 2006). Die »Rehobother Bastards«-Studie hatte jedoch bis in die Bundesrepublik hinein Wirkung. 1961 wurde der Band in einem »unveränderten Nachdruck« wiederaufgelegt und vom Verlag mit einem Vorwort versehen, in dem die Studie als »zum bleibenden Bestand der niemals veraltenden wissenschaftlichen Literatur« gehörig beschrieben wurde. (vgl. Lösch 1997: 80f.).
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Ausweitung der rassentypologischen Forschungen. Auch ihre Grundideen und Forderungen entstammten im Wesentlichen den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, erfuhren aber einen vergleichbaren Schub in den 1920er und 30er Jahren, indem rassenhygienische Vorstellungen als der »neuesten Biologie« entsprechend ausgewiesen wurden. Mit einer Extensivierung der Forschungsunternehmungen konnte sie sich in der Weimarer Republik, in vielen anderen Staaten Europas und in den USA als wichtiger, staatlich massiv unterstützter Forschungsbereich etablieren. Zwar sind die Bereiche der Anthropologie und Eugenik keinesfalls identisch, aber insbesondere in ihrer großen Schnittmenge – der rassischen Grundlegung – konnten beide von der Übernahme genetischer Motive profitieren. Zusätzlich zahlte sich diese Verknüpfung auch für die Genetik aus, denn die Popularität der Rassemodelle und der Eugenik sowie die staatliche Unterstützung ihrer wissenschaftlichen Etablierung waren auch für die Vererbungswissenschaft von beträchtlichem Nutzen. Besonders die Mitwirkung von Rasseanthropologen und Eugenikern war für die Etablierung der Vererbungswissenschaft sehr wichtig. Auf personeller Ebene gab es vielfältige Verschränkungen, sodass es zu Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer kaum überblickbaren Verbindung der Bereiche Genetik, Rassenkunde, Anthropologie und Eugenik kam. Die Zeugen dieser Verbindung finden sich in großer Zahl unter den Gründern der Fachgesellschaften, den Herausgebern von Fachzeitschriften und den Teilnehmern an Kongressen. Auch die wechselseitig aufeinander verweisenden Definitionen der Fachgebiete machen die enge Verknüpfung der Bereiche deutlich: So bestimmte etwa Wilhelm Schallmayer die Rassenhygiene 1918 als »Hygiene der Erbverfassung« (1918), und Fischer erklärte 1926, dass die Anthropologie untrennbar mit der Erblichkeitslehre verbunden sei (1926: 749). 20 20 Um nur ein paar wichtige Verquickungen zu nennen: Der schon erwähnte Biologe Erwin Baur, der 1908 das weltweit erste Journal für Genetik, die Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre, mitbegründete, gab zusammen mit Fischer und Lenz den »Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene« heraus. Der Schweizer Professor für Anthropologie und Ethnologie, Otto Schlaginhaufen war außerdem 1921 Mitbegründer der »Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene«, die ab 1925 die Annalen für Vererbungsforschung herausgab. An der Gründung der »Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft« 1921 wirkten ebenfalls mehrere Rassenhygieniker mit und umgekehrt konnten mehrere (vor allem) Mediziner, die sich etwa als Erbärzte sahen, auf der Welle staatlich sanktionierter Rasseforschung mitschwimmen. Unterzeichner des Gründungsaufrufs der Gesellschaft waren u.a. Eugen Fischer, Max von Gruber, Fritz Lenz, Friedrich Martius, Ernst Rüdin und Robert Sommer. Mehrere andere Rasseforscher wurden später Mitglieder der Gesellschaft (vgl. Weingart/Kroll/Bayertz 1992: 351f.). Die Zeitschrift Der Erbarzt, die ab 1934 von Ottmar von Verschuer herausgegeben wurde, erschien in den ersten Jahren als Beiheft des Deutschen Ärzteblattes. Verschuer baute ungeachtet seiner Rolle im Nationalsozialismus in den 1950er Jahren die Humangenetik in der Bundesrepublik mit auf. Es ließe sich insgesamt eine Fülle von Verbindungen und Interdependenzen
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Der »ungeheure Siegeszug der Genetik« (Fischer 1930: 129) wirkte sich somit nicht einfach unterstützend auf die Bereiche Rasseforschung und Rassehygiene aus, sondern bewirkte letztlich ein Konglomerat aus diesen drei Feldern. Ohne diese Verbindung hätte sich weder die Genetik in dieser Form und Geschwindigkeit etablieren können, noch wäre Rasseforschung ohne die Vererbungswissenschaft zu einem politisch derart einflussreichen Wissenschaftsfeld geworden. Die gängigen Ideen zur Eugenik bzw. Rassenhygiene und zur Rassenanthropologie konnten mithilfe der Genetik in einer solchen Weise dargestellt werden, dass sie den aktuellsten Forschungen zu entsprechen schienen. Damit wurde es möglich, sehr unterschiedliche rassistische, eugenische und völkische Ideen aus dem 19. Jahrhundert – von der »Volksaufartung« über die »Herrenrasse« bis zu Plänen zur Vernichtung »Minderwertiger« – mit genetischen (und darüber hinaus mit evolutionstheoretischen) Ansätzen wissenschaftlich zu unterfüttern. Die physiologischen Typologien sowie die anthropologische Familienforschung konnten unter genetischen Vorzeichen sogar ausgeweitet werden. Knochen- und Schädelvermessung und allgemein die statistische Erfassung aller möglichen Variablen des menschlichen Körpers waren als Methoden der nunmehr neuesten genetischen Wissenschaft mit allgemein hoher wissenschaftlicher Anerkennung praktizierbar. Ein weiterer Effekt der Ausweitung sowie der Verinnerlichung und Verkleinerung von Messungen und Messbereichen war die Erschließung neuer Felder rassetypologischen Zugriffs. Die Signaturen der rassischen Differenz wanderten nicht nur mit der Verkleinerung in den Körper hinein, sondern breiteten sich auch auf neue Untersuchungsorte kategorialer Unterscheidbarkeit wie etwa die Bereiche der Proteine und Nukleotide wie auch des Psychischen aus.
Psyche – Das Seelenleben der Rasse Zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitete sich die Rasseforschung auf den Bereich der Psyche aus. Zwar war die Behauptung rassischer Unterschiede in psychischen Variablen keinesfalls etwas Neues – vielmehr bezogen sich Rassekonzepte seit ihrer Verwissenschaftlichung neben dem Verweis auf körperliche immer auch auf Verhaltens- und Temperamentsunterschiede. Erinnert sei hier an Linné, der in seinem Werk »Systema Naturæ« eine Einteilung der Menschheit vornahm, in der zwischen den einzelnen Bereichen aufzeigen, dennoch bestanden immer auch Absetzbewegungen. Insbesondere die Herausbildung einer eigenen Disziplin Genetik (mit der Gründung eigener Fachzeitschriften, der Institutionalisierung einer eigenen Fachgesellschaft, eigener Institute, Professuren und Fachausschüsse) führte vermehrt zu Abgrenzungen gegenüber einigen rassenbiologischen und eugenischen Vorstellungen, die schließlich auch zu den bekannten Kritiken aus der Genetik führten (siehe Kapitel »Geschichte«).
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er jeder der vier »Varietäten« des Menschen anhand der damals vorherrschenden medizinischen Humoralpathologie (Viersäftelehre) je eine der vier HauptCharaktereigenschaften cholerisch-gallisch, sanguinisch, melancholisch sowie phlegmatisch zuwies (Auflage von 1758: 29; vgl. Kapitel »Geschichte«). Mit dem Aufkommen der mechanischen Objektivität, der quantifizierenden Messungen und statistischen Vergleiche von Bevölkerungsgruppen wurden auch Unterschiede in Psychiatriedaten (bzgl. Aufnahmezahlen und Diagnosestellungen) zwischen Weißen und Schwarzen (in den USA) sowie zwischen Jüdޚinnen und Christޚinnen (in Frankreich und den deutschsprachigen Ländern) relevant. Insbesondere die Behauptung eines geringeren Intellekts der ›Anderen‹ hatte eine wichtige Funktion für die weitere Legitimierung von Ausbeutung und Unterdrückung. Im 19. Jahrhundert geriet die Ungleichstellung von Menschen immer wieder zu einer heftig debattierten Frage. Mit dem allmählichen Verbot der Sklaverei in den Kolonien (England 1833, Frankreich 1848) und der Einführung bürgerlicher Rechte für alle Menschen wurde der wissenschaftliche Nachweis, dass die ›Anderen‹ den europäischen Eroberern in körperlicher und geistiger Hinsicht unterlegen seien, zu einem weiterhin wichtigen Unterfangen zur Begründung der dennoch weiterbestehenden Benachteiligung, Diskriminierung und Beherrschung der ›Anderen‹. Dazu konnte deren vermeintlich geringere Intelligenz gut herhalten. Bereits im 19. Jahrhundert hatte sich mit der Intensivierung und Innenwendung der Rasseforschung eine qualitative Veränderung des Zugriffs auf psychische Differenzen im Sinne einer weiteren Verwissenschaftlichung derartiger Differenzen vollzogen, die schließlich in einer »Rassepsychologie« institutionalisiert wurde. Diese Grundlegung einer Rassenpsychologie entwickelte sich in Verbindung mit dem Konzept Krankheit (psychiatrisch-statistische Forschungen) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und schließlich mit der entstehenden Genetik zu einem neuen Feld der Verinnerlichung rassischer Forschung. Die »seelischen Rassenunterschiede« (Baur/Fischer/Lenz 1923: 407) erhielten den Status eines der wichtigsten Felder der Rasseforschung, deren Ausläufer bis in die gegenwärtigen Publikationen rassischer psychischer Differenzierung reichen. 21 Rasse konnte im frühen 20. Jahrhundert also im Feld der Psyche als wissenschaftliches Objekt erweitert und beide zusammen durch die Verbindung mit der Erbforschung intensiviert werden. 1917 wurde mit der Gründung der »Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie« in München auch eine Abteilung für »Psychiatrische Erblichkeitsforschung« unter Leitung von Ernst Rüdin 22 etabliert und 1924 21 Bspw. Jensen 1969; Herrnstein/Murray 1994; Rowe/Cleveland 1996; Rushton 2000; Rowe 2002. 22 Rüdin war 1905 Gründungsmitglied der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene« sowie Eugeniker und Vordenker der NS-Rassenpolitik. 1933 wurde er Kommissar des Reichsin-
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schließlich an die »Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften« angegliedert. Die psychologische Typenforschung auf Grundlage »rassisch bedingter Anlagen« entwickelte sich darüber hinaus zum üblichen Gegenstand der damaligen Psychologie. Sowohl die Konstitutionstypologie des Psychiaters Ernst Kretschmer als auch die »seelischen Stilformen« des Psychologen Ludwig Ferdinand Clauß bauten auf »rassisch-eugenischen« Annahmen auf, in denen Rassen jeweils eigene und typenbildende Eigenschaften zugesprochen wurden. In der »Rassenseelenkunde« von Clauß (1932) oder der »außen- und innenintegrierten« Typologie des Psychologen Erich Jaensch wurden etwa »nordische Seelen« und ein vermeintlicher »Gegentypus« dazu imaginiert. Jaensch, einer der bekanntesten Psychologen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus (unter anderem war er 1936/37 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie), prägte einen bedeutenden Bereich der psychologischen Typenlehre jener Zeit, in der zwischen »gesunden, starken und aufsteigenden oder aber […] kranken, entarteten und niedergehenden« Grundformen eines Volkes unterschieden wurde (Jaensch 1937: 3). Letzterer »biologisch-psychologische« Typus sei von »Labilität und Haltlosigkeit« sowie einer Neigung zu politischem Liberalismus und einem unorganischen Gesellschaftsstaat gekennzeichnet. Diesen »Auflösungstypus« sah er entsprechend des Nazi-Ideologems im Judentum am häufigsten vertreten. Seine »Grundformen menschlichen Seins« (Jaensch 1929) fanden Verwendung in Forschungsprogrammen der »industriellen Standortlehre«, bei der die Verteilung der verschiedenen Arbeitsaufgaben etwa in der Schwerindustrie oder der feinmechanischen Industrie auf rassisch bedingte Anlagen der Arbeiterschaft zurückgeführt wurden (vgl. Geuter 1984: 205ff. u. Geuter 1985). Psychische Merkmale waren sehr leicht als Differenzobjekt einsetzbar, da das Konzept der »Rassenseele« reichlich unklar war und somit leicht allerlei Unterschiede etwa zwischen »außen- und innenintegriertem« Typus behauptet werden konnten. Doch die Psyche hatte als Differenzobjekt zugleich einen entscheidenden Nachteil, da sie sich aufgrund ihrer subjektiven Verortung und des Fehlens metrisch quantifizierbarer Zugänge bedeutenden wissenschaftlichen Autorisierungsverfahren entzog. 23 Damit waren psychische Eigenschaften prekäre wissenschaftliche Objekte, deren wissenschaftliche Unzulänglichkeiten zwar allerlei Typologisierungen zuließen, sich aber kaum mit dem Willen zur kategorialen Einteilung von Menschen in Rassen vertrugen. Entsprechend konnten die Typonenministeriums für die Gesellschaft für Rassenhygiene und war Mitverfasser des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes (vgl. Klee 2007; Becker 1988). 23 Zwar waren seit den 1860er Jahren statistische Vergleiche zwischen psychischen Krankheiten bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen bekannt und somit rassische Teilungen möglich. Die ›normale‹, nichtkranke Psyche konnte aber damit noch nicht in Form quantifizierter Gruppendifferenz dargestellt werden.
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logisierer »Charaktere« und »seelische Stilformen« nur bedingt in rassische Zuordnungen überführen. So unterscheidet Kretschmer in seinem Beitrag »Konstitution und Rasse« (1923) z.B. die beiden »Hauptrassen des deutschen Volkes« (nordische und alpine) anhand der Kontrastierung des »schlanken Hochwuchses« versus eines »pyknischen Konstitutionstypus« und meint, dass sich anhand dieser Unterscheidung auch ein durchschnittlich »schizothymerer« versus »cyclothymerer Volkscharakter in seelischer Hinsicht« ergebe (Kretschmer 1923: 145f.). Dennoch wird an seiner Zuordnung auch offenbar, dass Rassen nicht nach Konstitutionen einteilbar sind, sondern von ihm durch ein Vorherrschen jeweiliger Charaktere zugeordnet werden. An anderer Stelle verneint er dann auch eine einfache Übereinstimmung von Konstitutionstypus und Rasse, indem er von einer Mischung der Konstitutionstypen in den Rassen ausgeht (ebd.: 146). Ähnliche Probleme mit rassisch-psychischen Zuordnungen schien auch Jaensch zu haben. Er suchte seinen Ausweg aber nicht in der Behauptung von Mischungen reiner »Seelentypen«, sondern indem er auf »tierpsychologische Vergleichsuntersuchungen innerhalb der Lehre von den menschlichen Grundformen« (Jaensch 1936: 37) auswich und den »Hühnerhof als Forschungs- und Aufklärungsmittel in menschlichen Rassenfragen« (Jaensch 1939) proklamierte. Die Unterschiede im Pickverhalten zwischen »nordischen und südländischen« Hühnern zeigten, so Jaensch im Sinne seiner Integrationstypologie, dass erstere einen festeren »Integrationskern« besäßen, da die Hühner dieser Rasse zwar langsamer, aber zielsicherer und gleichmäßiger picken und sich besser in Gruppen einordnen würden. 24 Den Tier-Mensch-Vergleich erachteten Jaensch etௗal. für zulässig, da »die Formen der Integrationstypologie nicht eine willkürlich bestimmte Klassifikation darstellen, sondern echte Grundformen sind, […die] auch schon in der Tierwelt vorhanden sind« (1936: 37). Die Produktion vermeintlich einleuchtender Ergebnisse dieser tierpsychologischen Rasseforschungen und Behauptung ihrer scheinbar ebenso überzeugenden Übertragbarkeit auf den Menschen können jedoch als eine Schwäche der psychologischen Forschungen zu Rasse gewertet werden. Rasse und Psyche waren 24 Was heute vielen abstrus erscheint, wurde von den Fachkollegen offensichtlich als wissenschaftlich korrekt erachtet und in eigenen Arbeiten aufgegriffen. So stellt Ermisch in seiner Dissertationsschrift »Psychophysische und psychologische Untersuchungen an verschiedenen Hühnerrassen« fest, dass die »südlichen Hennen […] weit labiler, sprunghafter und wendiger als die Hennen der nördlichen Gruppe« seien und dass »ihrem Verhalten die innere Stabilität der nördlichen Rassen« fehle. Die Unterschiede bei den Hennen seien ein »neuer Beweis dafür, daß die Integrationstypen echte und biologisch tief verankerte Grundformen sind« (Ermisch 1936: 243). Dies weist auch Arnhold im dritten Beitrag der Reihe »Menschentypus und Tierrasse« aus und verkündet, aus den Ergebnissen der Forschungen gehe hervor, »daß die Gruppe des nördlichen Typus der Hühner der nördlichen Gruppe beim Menschen entspricht« (Arnhold 1938: 88, im Orig. teilweise gesperrt).
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trotz der Ausweitung auf das Gebiet psychischer Krankheiten ein aus Sicht der Rasseforschung (die nach einer kategorialen Teilbarkeit anhand weniger Merkmale suchte) wie auch aus Sicht der Typologisierungs-Lehren (die Menschen anhand von überwiegenden psychischen, seelischen, charakterlichen Eigenschaften aufteilen wollten) für beide Seiten zunächst keine zufriedenstellende Verbindung. Trotz vielfältiger Versuche – etwa mittels Schädelmessungen – ließ sich nicht einmal mentale Leistungsfähigkeit in signifikante Daten umsetzen. Die Schwächen bzw. Lücken quantifizierender psychologischer Leistungsfähigkeitsforschung wurden mit der Erfindung des Intelligenzquotienten im Jahr 1905 durch Alfred Binet zu beheben versucht. Nach mehrfachen Weiterentwicklungen und Modifikationen führte der Psychologe Henry Goddard den IQ-Test schließlich als Maß einer angeborenen Wesenheit in den USA ein, wo er schnell weitgreifend in Institutionen zur Einwanderungsregulierung zur Abwehr der vermeintlichen »Schwachsinnigengefahr« eingesetzt wurde. So diente der Test ab 1913 im Einwanderungs-Lager auf Ellis Island dazu, sogenannte »Feeble-Minded« zu erkennen (und ihnen ggf. die Einreise zu verweigern) 25 und wurde im Ersten Weltkrieg an über 1,7 Millionen Männern zur Überprüfung ihrer »angeborenen Fähigkeiten« durchgeführt (vgl. Gould 1988). 26 Die Weiterentwicklungen des IQ-Tests in den USA fanden im Kontext der heftig geführten Diskussion um die ›education question‹, also der Frage nach getrennten Schulformen für Schwarze und Weiße, statt und standen im Zusammenhang mit der zunehmenden Industrialisierung im Norden und der verstärkten Einwanderung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Mit der ansteigenden Einwanderungszahl vor allem aus Ost- und Südeuropa sowie Irland verschärften sich Debatten um Restriktionen, die sich mit rassistischen Argumentationen gegen diese Einwanderޚinnen richteten. Im Rahmen derartiger rassistischer Debatten schien eine psychologische Methode zur Messung der Intelligenz ein zweckdienliches Mittel zu sein, um die Inferiorität der ›Anderen‹ nachzuweisen. Da die Tests zudem als ›ideologisch neutral‹ galten, erlangten sie auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die »race question« umgehend den Nimbus, ein seriöses Mittel zu sein. Entsprechend schnell führten verschiedene USBehörden IQ-Massentests durch und produzierten mit diesen rassifizierte Unter25 Goddards Mitarbeiterޚinnen testeten auf Ellis Island 152 Personen. In seiner Publikation der Studie (1917) ermittelte er, dass 80% der Einwanderޚinnen »feeble-minded« seien, darunter 83% der Juden/Jüdinnen, 80% der Ungarޚinnen, 79% der Italienerޚinnen und 87% der Russޚinnen (vgl. Gould 1988). 26 Markanterweise hatte Binet den Test jedoch nicht für eine derartige Feststellung von angeborenen Fähigkeiten konzipiert, sondern ihn für die Bestimmung des pädagogischen Unterstützungsbedarfs entwickelt. Zur Klassifizierung feststehender geistiger Fähigkeiten eignete sich der Intelligenzquotient erst nach einigen Weiterentwicklungen des Tests.
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scheidungen anhand von durchschnittlichen Intelligenzquotienten von Schwarzen und Weißen, von Angehörigen verschiedener Herkunftsnationen wie Russland, Italien, Polen oder verschiedener Religionszugehörigkeit, insbesondere von Jüdޚinnen. Nach seiner Weiterentwicklung als Stanford-Binet-Test durch Lewis Terman (1916) etablierte sich der IQ-Test vollends zur Begutachtung individueller kognitiver Leistungsfähigkeit. Seither wird er bis in die heutige Zeit für rassische Unterscheidungen verwendet. Die Intelligenz wurde damit in jener Ausweitung und Verinnerlichungsbewegung der Rasseforschung zu einer bis heute gültigen, aber auch kontinuierlich überaus umstrittenen Maßeinheit, um rassifizierte Differenz auszuweisen. Seit der Erfindung der quantifizierenden Intelligenztests werden diese immer wieder in Studien als Faktum gruppenspezifischer biologischer Differenz reproduziert. Aber die Psyche ist keinesfalls die einzige ›innerer Wahrheit‹, die in der Verinnerlichungsbewegung zu einem Ort rassischer Differenz auserkoren wurde. Auch der schon früher mit Rasse verbundene Stoff Blut wurde Anfang des 20. Jahrhunderts wieder zum einem Signum menschlicher Unterschiedlichkeit.
Transfusionen zwischen Rasse und Blut Das Jahr 1900 markiert mit der Anerkennung der Mendelschen Erbregeln nicht nur das Gründungsdatum der Genetik, sondern auch das Entdeckungsjahr, in dem der Wiener Bakteriologe Karl Landsteiner erstmals die »agglutinierende Wirkung« von Blutseren sowie unabhängig von ihm der Mediziner Samuel G. Shattock die »Verklumpung von Chromocyten«, also des Blutes unterschiedlicher Personen, beschrieben (Landsteiner 1900; Shattock 1900). Blut ist historisch wie aktuell ein symbolisch überaus aufgeladener Stoff. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass diese Substanz immer wieder auch Gegenstand und Signum wissenschaftlicher Erörterungen zum Menschen wurde und insbesondere zur Differenzbestimmung zwischen Menschen und Menschengruppen diente. Erinnert sei nochmals an die Bestimmungen zur »Reinheit des Blutes« im Spanien des 15. Jahrhunderts, an Linnés Taxonomie menschlicher Varietäten und der Beschreibung des Homo europaeus mit einem sanguinischen (also entsprechend der Viersäftelehre durch das Blut bestimmte), eben leichtblütigen Temperament oder an die Verbindung von Blutmetaphorik und Rassekonzeption der Aristokratie in Frankreich des 18. Jahrhunderts. Das Blut hat bis heute nicht seine Bedeutung für die Teilung von Menschen in differente Gruppen und für die Bestimmung von Verwandtschaftsbeziehungen
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verloren, wie etwa die Debatten um das Human Genome Diversity Project 27 oder die medizinischen Debatten in den USA um Antikörperdifferenzen im Blut von Schwarzen und Weißen zeigen (vgl. Duster 2003). Blut wurde und wird immer wieder mit allerlei Differenzbestimmungen beim Menschen entlang unterschiedlicher Teilungsdimensionen assoziiert. So konnte es dem im Kontext christlicher Lehre entstammenden Postulat des unreinen Blutes von Frauen ebenso dienen wie als Klassenabgrenzung in Rassekonzeption der französischen Aristokratie, die sich in der noch heute bestehenden Metapher des ›blauen Blutes‹ von Adligen findet. Zwar lässt sich eine grundsätzliche Kontinuität des Zusammenhangs von Blut und Kategorisierung von Menschen darstellen, die jeweiligen Ausprägungen sind jedoch sehr verschieden. So beinhaltete die Blutmetaphorik in der Zeit der Viersäftelehre andere Bedeutungen als nach der Etablierung der Zellularpathologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Linnés »sanguinische« Europäerޚinnen oder Kants Spekulationen über den höheren Eisengehalt des Blutes von Afrikanerޚ innen (Kant 1775: 438) beruhten auf anderen Klassifizierungs-Schemata als etwa die Vorstellungen des völkischen Politikers Arthur Dinter, der 1917 den antisemitischen Bestseller »Die Sünde wider das Blut« verfasste, oder der Rasseforscherin Ilse Schwidetzky, die 1982 meinte, dass die Blutgruppenforschung wie keine andere Disziplin »die enge Beziehung zwischen moderner Anthropologie und (Normal-)Humangenetik« verkörpere (Spiegel-Rösing/Schwidetzky 1982: 173). Immer wieder wurde Blut angeführt, um kategoriale Differenzen zwischen Menschen zu belegen. 28 Allerdings ist im 19. Jahrhundert, also zur Zeit der typologischen Rassekonzepte, eine relative Ruhe in das Konglomerat von Rasse und Blutmetaphorik eingekehrt, die, so lässt sich vermuten, mit der medizinischen Dezentrierung des Blutes durch die Zelllehre und der Bedeutung, die Proteine ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erlangten, zusammenhing. Blutunterschiede zwischen Menschen waren zwar bekannt, aber zur Unterscheidung von Menschengruppen wurden sie erst wieder durch die Entdeckungen Landsteiners und Shattocks verwendbar, da von nun an Gruppen anhand der ›Blutballung‹ gebildet werden konnten. Das Wissen über solche Verklumpungserscheinungen im Blut war schon vorher vorhanden, wurde von den sich damit beschäftigten Ärzten aber als krankhafte Erscheinung oder als Abwehrreaktion
27 Siehe die Ausführungen im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«. 28 Blut ist noch immer ein mit allerlei Abstammungs- und Vererbungs-Bedeutungen aufgeladener Stoff. Das zeigt sich zeitgenössisch etwa im »Certificate of Degree of Indian or Alaska Native Blood«, jenem offiziellen US-Dokument, das die Zugehörigkeit zu Native Americans zertifiziert oder in der Untersuchung von Neckel/Sutterlüty (2008) zur Blutspende einer türkischen Gemeinde in Deutschland.
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gegenüber krankheitserzeugenden Reagenzien gedeutet.29 Bei den ersten serologischen Untersuchungen sahen die Forscher zunächst kein Ordnungsprinzip, da die vier Blutgruppen alle bestehenden Klassifikationen spalteten und sie sogar innerhalb von Familien gemischt vorkamen. Wie die Wissenschaftshistorikerin Myriam Spörri (2009) herausarbeitet, stellte sich eine erneute enge Anbindung von Rasse an Blut erst ein, nachdem die beiden Bakteriologen Emil von Dungern und Ludwik Hirschfeld 1910 mit einer Forschungsarbeit zur Vererbung von Blutgruppen einen Mendelschen Erbgang anhand von drei Blutgruppen nachwiesen (Dungern/Hirschfeld 1910 30). Die beiden Forscher schlossen aus ihrer Studie, dass die »Verwandtschaft der verschiedenen Menschenrassen« mittels der Blutgruppenforschung weiter zu untersuchen sei (Dungern/Hirschfeld 1910: 742). Zwar bestätigten erste Blutuntersuchungen bei Hunden verschiedener Rassen die These von rassisch differenten Blutgruppen nicht, was jedoch Hirschfeld keinesfalls von weiteren Forschungen zur Unterscheidung von Menschengruppen abhielt. Vielmehr unternahmen er und seine Frau Hanna Hirschfeld 31 während des Ersten Weltkriegs eine umfangreiche Studie mit Bluttests zur Bestimmung der Blutgruppen von 8000 Soldaten unterschiedlicher Nationen. Ergebnis ihrer Untersuchungen war eine Teilung der Menschheit in drei Gruppen anhand eines sogenannten »biochemischen Index«, der ähnlich wie der Schädelindex eine Maßzahl des prozentualen Anteils der Blutgruppen A und B für die untersuchten Nationen abbilden sollte. Anhand der festgestellten Häufigkeitsunterschiede von serologischen Gruppen bei den verschiedenen Nationen konstatierten die Hirschfelds zwei »Urrassen« der Blutgruppen A und B, die sie in Form einer dreigliedrigen Typisierung, »europäisch, intermediär und asio-afrikanisch« darstellten (Hirschfeld/Hirschfeld 1919: 678). 32 Zwar waren die Ergebnisse der Studie im serologischen Bereich eher dürftig, denn die Gruppen A und B waren bei allen untersuchten Rassen vorzufinden, die
29 Bluttransfusionen wurden schon seit dem 17. Jahrhundert durchgeführt, allerdings in der Regel mit tierischem Blut. Die meist tödlichen Komplikationen waren in der Medizin spätestens ab dem 19. Jahrhundert allgemein bekannt, sodass unter anderem Milch und Kochsalzlösung als Blutersatz eingesetzt wurden. Eine Vorstellung von verschiedenen unter Umständen inkompatiblen Blutgruppen bestand nicht. 30 Die polnische Schreibung des Namens ist Hirszfeld. In den hier erwähnten Publikationen ist der Name jedoch als Hirschfeld angegeben. 31 Der Vorname von Hanna Hirszfeld (bzw. Hirszfeldowa) wird in der Publikation von 1919 zudem im Dimunitiv Hanka angegeben. 32 Landsteiner hatte 1901 nur die Blutgruppen A, B, C (letztere trägt heute die Bezeichnung 0) festgestellt. Schon 1902 beschrieben Decastello und Sturli eine vierte, später AB genannte Blutgruppe. Zum Zeitpunkt von Hirschfelds Studie war also schon bekannt, dass es neben den untersuchten Blutgruppen noch eine weitere geben müsse. Sie nahmen dennoch nur A und B in ihre Darstellung auf.
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Abbildung 3: Häufigkeitsunterschiede der Blutgruppen A und B sowie typologische Aufgliederung der Rassen anhand des »biochemischen Index«
Diagramm aus dem von Ludwik und Hanna Hirschfeld 1919 publizierten Band »Serological Differences Between the Blood of Different Races. The Result of Researches on the Macedonian Front«, S. 678.
Publikation vermochte aber dennoch offensichtlich durch ihre neue rassentypologische Darstellung zu überzeugen, sodass die Forschung sehr schnell zur Grundlegung der Seroanthropologie, der rassischen Blutgruppenforschung, avancierte (Spörri 2009: 76f.).33 1 Das Ziel der Serologie, Rassebeziehungen anhand der Blutgruppen bestimmen zu können, versprach auch eine Lösung für die nach wie vor bestehende Problematik
33 Spörri (2005, 2009) stellt in detaillierten Untersuchungen dar, wie die aufgestellte Ordnung nur mittels einiger mathematischer und darstellerischer Kniffe erzeugt werden konnte: Mit der Ausrichtung an der Blutgruppe B als Ordnungskriterium und mit der Quantifizierung im »biochemischen Index« erzeugten die Hirschfelds aus dem Datenkontinuum eine Dreiteilung, mit der sie die großen Differenzen innerhalb der Gruppen vernachlässigten und Nationen entlang der Teilung in christlich vs. islamisch reproduzieren. Mit dem Index konnte darüber hinaus eine Hierarchisierung ausgedrückt werden, in der die »niederen Rassen« anschaulich gegen null strebten, während der »europäische Typus« Ziffern zwischen 2,5 und 4,5 zugewiesen bekam.
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der typologischen Messungen. In ihrer Gleichsetzung von Blutgruppen und Rassen bestätigten die Hirschfelds einen beträchtlichen Teil sowohl wissenschaftlicher Unterscheidungshoffnungen als auch rassistischer Differenzmythen. Entsprechend einleuchtend erschien vielen Anthropologen ihre Darstellung mit den Deutschen und Österreichern an der Häufigkeits-Spitze der »europäischen« Blutgruppe A und den höchsten Indexzahlen bei Engländern, Franzosen und Italienern sowie dem Abfallen der Messzahl zur »asio-afrikanischen Rasse« hin. Die Serologie schien die alte Hoffnung, die Menschheit nach einem einfachen Prinzip ordnen zu können, endlich zu erfüllen. Darüber hinaus erschien die neue Ordnungsmöglichkeit als wissenschaftlicher Fortschritt, da sie nur mit labortechnischen Methoden zu erlangen war und scheinbar eine versteckte Wahrheit zum Vorschein brachte, die den bisherigen typologischen Messungen verborgen bleiben musste. Mit der Hypothese einer ursprünglichen »Reinheit«, also rassischen Unterschiedlichkeit des Blutes konnte nun auch jene überkommene Vorstellung von der multiregionalen bzw. polygenetischen Entstehung der Menschenrassen wieder aufgefrischt und darüber hinaus ein Sammelsurium weiterer rassistischer Mythen wissenschaftlich bestätigt werden. Blutgruppe B galt nun als »Urrasse B«, die mit allerlei negativ attribuierten Eigenschaften verknüpft und zu einem Gegenbild der »europäischen Urrasse A« stilisiert wurde: So seien Personen mit der Blutgruppe B eher kurzköpfig, dunkelhaarig, impulsiv, degeneriert und entartet, B sollte unter Schwerverbrechern und rückfälligen, unverbesserlichen Verbrechern besonders häufig vorkommen sowie bei Psychopathen, Hysterikern und Alkoholikern und generell bei als »minderwertig« bezeichneten Personen vorherrschen. Im Gegensatz dazu sei die Blutgruppe A überproportional bei Akademikern vorzufinden (Steffan 1926). Wie sich daraus schließen lässt, wirkte die Serologie unmittelbar als produktiver Forschungsmotor, mit dem nicht nur Differenzen zwischen Menschen aufgezeigt werden konnten, sondern überdies vielfältige soziale Teilungen durch ›harte Fakten‹ labortechnischer Forschung biologisch belegbar schienen. Die Differenzen fanden sich also auch in den Petrischalen der Serologie und waren damit, so glaubten die Forscherޚinnen, erwiesenermaßen keinesfalls bloß gesellschaftlicher Art. Zusammen mit statistischen Methoden dienten die Ergebnisse außerdem dazu, mittels sogenannter »serologischer« oder »blutartlicher« Indizes Hierarchisierungen zwischen Völkern und Rassen vorzunehmen (vgl. Spörri 2009). Da jeder identifizierte Unterschied als Hinweis auf eine tiefergehende Verschiedenartigkeit dienen konnte, galt ungeachtet z.B. der medizinischen Relevanz eine Fülle von Differenzen als erforschenswert. Auch skurril anmutende Untersuchungen etwa zur Dauer der Darmentleerung produzierten Unterschiede: So daure bei A die Defäkation durchschnittlich nur wenige Minuten, bei B hingegen 20 bis 40 Minuten (Thomsen 1932: 250; vgl. Spörri 2009: 91).
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Über die Einteilung von Menschenrassen anhand von Blutgruppenanalysen hinaus hatte die biowissenschaftliche Forschung mit den serologischen Methoden ein Instrument zur Verfügung, mit dem auch die Schichtung der Gesellschaft und allgemein der Menschheit ›blutartlich‹ festzustellen sei. Entsprechend ließen sich allerlei Sonderungen, etwa zwischen nordischer, alpiner und mediterraner Rasse, zwischen Stadt und Land, Unter- und Oberschicht, gesund und krank, jüdisch und nicht-jüdisch durchführen (Spörri 2009: 94), und es konnten darüber hinaus Beziehungen der Blutgruppe zu vererbten Konstitutionstypen, zu Homosexualität, Sadismus und weiteren Eigenschaften angenommen werden. 34 Allgemein erzeugte der neue Wissenschaftszweig unverzüglich eine enorme Forschungsdynamik. So führte der Rassenanthropologe Otto Reche 1928 bereits rund 1000 Publikationen zum Thema auf, und der Mediziner Paul Steffan listete in seinem 1932 erschienen Beitrag »Die Bedeutung der Blutgruppen für die menschliche Rassenkunde« fast 3000 serologische Arbeiten. 1926 wurde eine eigene Fachgesellschaft, die »Deutsche Gesellschaft für Blutgruppenforschung« (DGB), 35 und 1927 deren Publikationsorgan Zeitschrift für Rassenphysiologie gegründet. Diese rief dazu auf, die geographische Verbreitung der Blutgruppen zu erforschen, um »endlich einmal einen zuverlässigen Überblick über die rassische Zusammensetzung der europäischen – und später auch anderer – Völker« geben zu können (DGB 1926: 447). Bis in die 1930er Jahre wurde entsprechend das Blut von hunderttausenden Personen seroanthropologisch analysiert (Boaz 2009: 231). Aufgrund der Darstellung und des Eigenverständnisses der Serologie als genetischer Forschung konnte diese sich als wissenschaftlich aktuell gerieren und mit ihrer fachlichen Expertise eine Fülle von vermeintlich objektiven Unterscheidungen erzeugen. Dennoch blieb die Blutgruppenforschung vor allem ein deutsches und schweizerisches Unterfangen. Zwar führten auch andere Länder serologische Studien durch (vgl. Schneider 1996) und eine mit der DGB vergleichbare Forschungsgesellschaft gründete sich auch in Russland, aber der Wirkungsbereich des neuen anthropologischen Faches blieb im globalen Maßstab doch eher mäßig. Schon bald wurde die Aussagekraft der Untersuchungen für wissenschaftliche Rasseeinteilungen wieder in Frage gestellt oder nur noch in Verbindung mit anderen anthropologischen Daten als relevant erachtet. Insbesondere ereilte die Serologie dasselbe Schicksal wie die Kraniologie und allgemein die typologische Rasseforschung: Mit der Ausweitung der Studien erzeugten die immensen Daten-
34 Siehe die diversen Publikationen hierzu: (Hilgers/Wohlfeil/Knötzke 1928; Hirszfeld 1928; Gundel 1926; Warnowsky 1927; Böhmer 1927; Steffan 1928). 35 Die DGB wurde von Steffan und Reche gegründet. In der Mitgliederliste tauchen auch die schon erwähnten Erwin Baur und Eugen Fischer sowie die Rassenkundler Theodor Mollison und Otto Schlaginhaufen auf.
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mengen keinesfalls mehr die erwünschten klaren rassischen Differenzen, sondern verunklarten die Ergebnisse der ersten Studien zunehmend. Entsprechend erledigten sich die »Urrassen« schon ab Mitte der 1920er Jahre durch die Entdeckung weiterer Blutgruppen, und die Gruppierung, die noch in der Studie der Hirschfelds erzeugt werden konnte, musste bald einer Vielzahl von Untergliederungsversuchen und der Forschungsoptimismus einer massiven Ernüchterung weichen. 36 Je mehr empirische Daten vorlagen, desto weniger konnten eindeutige Trennungen wissenschaftlich korrekt vollzogen werden. Diese durch die Empirie erzeugte Diffusität der Kategorien wirkte sich allmählich auch auf die Serologie als Fach aus, indem jene an wissenschaftlicher Aussagekraft verlor. Dies führte unter anderem dazu, dass einer der Gründer der DGB, Otto Reche, in den 1940er Jahren immer mehr von der Verknüpfung von Blutgruppen und Rasse abwich, um mit den unklaren Daten nicht seine eigene Wissenschaft zu diskreditieren (Boaz 2009). Dennoch hielten vor allem Rassenanthropologen noch Jahrzehnte an der Serologie fest. Insbesondere nationalsozialistische Ärzte und Wissenschaftler gingen mit der Blutgruppenforschung eine besondere Allianz ein. Bekanntermaßen war die politische Rhetorik des Nationalsozialismus eng mit Blutmetaphern wie »Blut und Boden«, »Blutgemeinschaft«, »Sünde wider das Blut«, »Blutschande« etc. verknüpft. Die Trope stand dabei als Synonym für rassische Differenzen. Das 1920 aufgestellte Parteiprogramm der NSDAP (»25-Punkte-Programm«) forderte neben dem »Zusammenschluss aller Deutschen« und der Eroberung neuer Kolonien auch, dass »Volksgenosse« nur sein könne, »wer deutschen Blutes ist«. Zu den 1935 verabschiedeten »Nürnberger Gesetzen« gehörte auch das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, welches die Eheschließung zwischen »Deutschblütigen« und »Juden, Mischlingen, Zigeunern, Negern oder Bastarden« verbot und im »Reichsbürgergesetz« regelte, dass nur Reichsbürger sein könne, wer »deutschen oder artverwandten Blutes« sei. Auch wenn der Blutbegriff eher auf politisch-juristischer Ebene bestimmt wurde, wirkte sich seine politische und alltagssprachliche Popularität offensichtlich auch auf den wissenschaftlichen Bereich aus. Forscher wie Emil Abderhalden, Hermann Gauch oder Theodor Mollison arbeiteten auch in den 1930er und 40er Jahren weiter an den Zusammenhängen zwischen Blutgruppen und Rasse, etwa um die Unterschiedlichkeit von deut-
36 Bis heute wurden mehrere hundert Blutgruppen-Antigene beschrieben, und um die drei Dutzend Blutgruppen-Systeme sind international anerkannt (vgl. Daniels 2002). In den 1920 bis 40er Jahren wurden weitere Blutgruppen wie MNS, Rhesus, Kell u.a. beschrieben. Nach der Entwicklung des Antiglobulin-Tests 1945 stieg die Anzahl der festgestellten Blutgruppen rapide an, sodass Anfang der 1960er Jahre mehr als 30 Blutgruppen bekannt waren.
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schem und jüdischem Blut nachzuweisen. Auch Otmar von Verschuer, Direktor des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik«, ließ nicht von der Serologie ab und besprach noch 1940 sehr positiv die Arbeit des Erbarzts Abderhalden als eine »Methode zur Feststellung der Rassenspezifität von Eiweißstoffen« (Verschuer 1940: 91). Während Abderhalden jedoch hauptsächlich an Tieren hantierte, da im nunmehr (aufgrund der DeportaDeportation und Ermordung der als »Nicht-Arier« klassifizierten Menschen) fast »reinblütigen« Deutschland das Blut von anderen Rassen rar wurde, arbeitete Verschuer in seinem Berliner Institut mit Blutproben »verschiedenster Rassegruppen« aus Auschwitz, die er von seinem Doktoranden Josef Mengele bekam (vgl. Trunk 2003: 37). Mit dem Projekt »Experimentelle Forschung zur Feststellung der Erbbedingtheit spezifischer Eiweißköper als Grundlage von Erb- und Rassenforschung« versuchte er in den letzten Jahren des Dritten Reiches doch noch eine serologische Abstammung- und Rassendiagnose anhand spezieller Proteine im Blut zu entwickeln (Trunk 2003). 37 In der Gesamtschau bot die Serologie gegenüber den typologischen Vermessungen entscheidende Vorteile, denn, wie es etwa der Populationsgenetiker Leslie Dunn sah, »die Blutgruppen lassen die genetische Konstitution der untersuchten Person unmittelbar erkennen, so daß mit Hilfe des Blutgruppenvorkommens die Verteilung dieser Gene innerhalb einer Bevölkerung ganz deutlich wird« (Dunn 1953: 41). Trotz der Unzulänglichkeiten bei der einfachen Zuordnung von Rassen, wie es die Seroanthropologie versuchte, blieb das Blut als Objekt rassifizierter Differenzbestimmung bestehen und avancierte mit seinen Proteinvarianten für die Populationsgenetik gar zu dem Grundstoff, an dem diese bis in die 1980er Jahre immer wieder ihre genetischen Untersuchungen zu den Unterschieden zwischen Menschengruppen durchführten. Damit bildete Blut ein Transportund Vitalisierungsmittel, an dem und mit dem rassische Differenzforschung immer wieder dynamisiert werden konnte. Anhand von Blutuntersuchungen bei verschiedenen Populationen führte der Genetiker Richard Lewontin Anfang der 1970er Jahre den Nachweis der bedeutend größeren Innergruppenvarianz gegenüber der Intergruppenvarianz 38 (Lewontin 1972). Gleichzeitig wurden mit Häufigkeitsunterschieden von Blutgruppen immer 37 Die genauen Ziele des Projekts sind nicht eindeutig geklärt, da der Forschungsantrag nicht mehr auffindbar ist und Verschuer nach dem Krieg die »serologische Rassendiagnose« nicht mehr weiter verfolgte (Trunk 2003). Interpretationen zu den vorliegenden Dokumenten und Aussagen werden in Klee (2001) sowie Massin (2003) vorgenommen. 38 Das Argument der größeren Unterschiede innerhalb der Gruppen als zwischen den Gruppen war für antirassistische Positionen sehr wirkmächtig und ist nach wie vor eines der häufigsten Kritikpunkte an Rasseeinteilungen und daran ausgerichteter lebenswissenschaftlicher Forschung. Für eine Übersicht über diese Argumente vgl. Brückmann/Maetzky/Plümecke 2009.
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wieder Differenzen zwischen verschiedenen Populationen, Ethnien und Rassen begründet. Schließlich bildeten molekularbiologische Untersuchungen an Proteinen der roten Blutkörperchen den Türöffner zur neuen Welt der Molekulargenetik und Genomik (siehe die Ausführungen unter »Molekularisierung« im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«). Auch in den 1990er Jahren und bis heute spielen Blutuntersuchungen und Blutproben immer wieder eine Rolle in der lebenswissenschaftlichen Differenzforschung (siehe etwa die Untersuchungen im Rahmen des Human Genome Diversity Projects). Doch vor einer Darstellung dieser Arbeiten wird nun zunächst den Entwicklungen der Rasseforschung anhand der Differenz der Proteine gefolgt.
Proteine – Grundstoff des Lebens und der Differenz Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerannen die Eiweiße in der Verstellung der Forscher zu einem besonderen Stoff; einem nur in lebenden Organismen und dort universell vorkommenden Material. Forschungen zur embryonalen Entwicklung und die Beobachtung, dass Eiweiße in der Lage sind, Kristalle zu bilden (was den Stoff zudem mit nichtlebender Materie verbindet) ließen sie als Formbildner sichtbar werden und chemische Analysen lebender Materie offenbarten sie als offensichtliche Grundsubstanz des Lebens. Da der Stoff in allen lebenden Geweben vorhanden und in allen Naturvorgängen relevant schien und darüber hinaus nicht weiter aufzuspalten war, drängte sich die besondere Relevanz des Stoffes den damaligen Naturforschern geradezu auf. Um dieser Bedeutung Ausdruck zu verleihen, schlug der schwedische Chemiker Jöns Jakob Berzelius im Jahr 1838 vor, diese Stoffklasse als »Protein« zu benennen (Vickery 1950). Abgeleitet aus dem griechischen Wort proteios (πρωτεῖος) mit dem Wortstamm protos, das Erste, sollte der Terminus fortan jene Substanz bezeichnen, die in allen Geweben, allen Tieren und Pflanzen auffindbar war und sich offensichtlich von Substanzen unterschied, die in der anorganischen Natur zu finden waren. Das »räthselhafte Bioplasma« (Preyer 1871: III) blieb jedoch nicht nur der universelle, allen Lebewesen gemeinsame Stoff, sondern geriet auch zum Untersuchungsobjekt der Unterschiede zwischen den Lebewesen und ihren Ordnungseinheiten. Für diese Forschung zur Differenz der Stoffe bot sich das Blut aus verschiedenen Gründen an: Es stand in Beziehung sowohl zu wichtigen Vitalfunktionen als auch zu Krankheiten, war verhältnismäßig leicht zugänglich und zeigte in verschiedenen Versuchen mit chemischen Reagenzien charakteristische Eigenschaften. Entsprechend begann Mitte des 19. Jahrhunderts eine umfangreiche
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Erforschung der Proteine des Blutes unterschiedlicher Tierarten, indem z.B. dessen »Krystallisirbarkeit« und die Form der gebildeten Kristalle, aber auch die verschiedenartige Löslichkeit und Härte beschrieben und klassifiziert wurden (vgl. ebd.). Die »merkwürdigen Eigenschaften des Blutroths« gaben den Anlass zu einer »vergleichenden Biochemie, welche Differenzen einzelner organischer Verbindungen die Thierreihe hindurch zu untersuchen haben wird, und im Gegensatz zu den bisherigen chemischen Anschauungen neben die Constanz der Proportionen die Veränderlichkeit setzt« (ebd.: u.S.ௗIV). Konstanz und Veränderlichkeit wurden somit in diesen Untersuchungen der Blutproteine zu Eigenschaften des Lebens, anhand derer sich einerseits die Verwandtschaftsverhältnisse und andererseits die Unterschiede der Arten auch in chemischen Reaktionen sichtbar machen ließen. »Der Chemismus in der thierischen Organisation« (Hünefeld 1840) bestätigte damit nicht nur eine Verschiedenheit der Arten, sondern die Chemie der »complizierteren chemischen Bestandtheile« ließ Eigenschaften erscheinen, die auch auf eine evolutionäre Ahnenreihe hindeuteten, und zwar, wie Preyer annimmt, »in demselben Grade, wie die zoologischen Artcharaktere« einer Metamorphose unterzogen wurden (Preyer 1871: IV). Die Proteine konnten damit als Mittel eingesetzt werden, um die Verwandtschaft der Tiere und, nach Erscheinen von Darwins Buch »Die Entstehung der Arten« von 1859, auch die Evolution der Arten zu untersuchen. Nachdem 1850 erstmalig Blutkristalle auch bei Menschen (durch Ludwig Budge) und in der Folge bei einer Reihe anderer Tiere nachgewiesen wurden, ermöglichte dies, chemische Merkmale sichtbar zu machen, anhand derer sich die tieferen ›Geheimnisse‹ äußerlich kaum unterscheidbarer Köperflüssigkeit in Form ihrer molekularen Strukturen zum Vorschein bringen ließen. Preyer gruppierte 1871 anhand der »Krystallformen des Blutroths« 50 Tierarten, und 1909 hatten der Physiologe Edward Reichert und der Geologe Amos Brown die Hämoglobinkristalle von ca. 200 Sägetierarten untersucht und eine Taxonomie der Hämoglobine erstellt, die mit den bestehenden Differenz-Klassifikationen im Einklang waren (Preyer 1871; Reichert/Brown 1909). Die physiologischen Unterschiede befanden sich also in Deckung mit den chemischen. Reichert meinte damit ein »grundlegendes Prinzip allergrößter Wichtigkeit« zu erkennen, anhand dessen »Vererbung/Mutation, die Einflüsse von Ernährung und Umwelt, die Differenzierung der Geschlechter und andere große Probleme der Biologie, des Normalen wie Pathologischen« geklärt werden könnten (Reichert/Brown 1909: IV; vgl. Kay 2005: 72).
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Während es heutzutage schwerlich möglich ist, Vererbung nicht assoziiert mit DNA und Nukleotid-Komplexen 39 bzw. Genen zu denken, wurden Letztere allerdings bis in die 1960er Jahre vor allem als Proteine vorgestellt und entsprechend wissenschaftlich konzeptualisiert. Diese Vorstellung war hegemonial, obwohl schon seit Ende des 19. Jahrhunderts Nukleinsäuren von Eiweißen zu trennen und seit Anfang des 20. Jahrhunderts die fünf Nukleotide biochemisch analysierbar waren (Sturtevant 2001). Dass die Nukleotide zu dieser Zeit aber nicht als die zentralen Erbeinheiten angesehen wurden, hatte verschiedene Gründe. So zeigten die damaligen Untersuchungsmethoden Proteine als Grundstoff allen Lebens und in einer großen Vielfalt vorliegend: Alle bekannten Prozesse, wie Entwicklung, Wachstum, Fortpflanzung, Krankheit, Resistenz etc., schienen mit ihnen in Verbindung zu stehen. Nukleotide ließen sich dagegen nur in fünf Varianten (Adenin, Guanin, Cytosin, Thymin, Uracil) aufteilen, weshalb sie als nicht geeignet galten, Vererbungsträger und Ursache biologischer Spezifität zu sein. Außerdem zeigten Analysen des Chromatins (also vor allem der Chromosomen), dass diese aus Nukleinsäure und Eiweißen bestünden (Edmund Wilson zit. n. Sturtevant 2001: 104), und letztlich schien auch eine Reihe von Forschungen die Proteinthese zu bestätigen. 40 Ein großer Teil der damaligen Akteure in Biologie, Medizin, Anthropologie etc. wandte sich forschend den Proteinen zu. Diese Stoffgruppe hatte entsprechend im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Art Schlüsselfunktion; es wurde gehofft, mit der Aufklärung der Bedeutung und Eigenschaften der Eiweiße die bedeutendsten biowissenschaftlichen Fragestellungen bearbeiten und lösen zu können. Die Unterschiede zwischen den Arten (und auch zwischen Individuen) sahen die meisten damaligen Biowissenschaftler in Unterschieden in den Proteinen und ihrer Struktur begründet, und mit der Erforschung der Proteine im Blut stellten sich diesbezüglich bemerkenswerte Erfolge ein. So ließ sich anhand der Blutkristalle und mittels der um die Jahrhundertwende begonnenen Versuche an »Fermenten« im Blut verschiedenster Tiere die evolutionäre Verwandtschaft der Arten sowie höherer taxonomischer Einheiten, wie Gattung, Familie, Ordnung etc. biochemisch abbilden. Das heißt, Differenzen in den Blutkristallen und in der Reaktion des Blutes verschiedener Tierarten konnten experimentell nachgewiesen und darüber hinaus anhand der Relativität der Unterschiede 39 Nukleotide (auch Nukleinbasen) bezeichnen die Grundbestandteile der DNA und RNA. Die fünf Varianten werden als Adenin, Guanin, Cytosin, Thymin, Uracil benannt und mit ihren Anfangsbuchstaben als Zeichen des genetischen Codes verwendet. In der DNA kommen nur die ersten vier vor, während die RNA statt Thymin Uracil enthält. 40 Z.B. stützte die durch den Biochemiker Wendell Stanley 1935 durchgeführte Kristallisierung des Tabakmosaikvirus die Enzymtheorie (= Proteine) des Lebens. Für diese Forschung erhielt Stanley 1946 den Nobelpreis für Chemie (vgl. Kay 2005: 79 u. 240).
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sogar Verwandtschaftsverhältnisse aufgestellt werden. Die Tierarten (oder -Gattungen etc.) wurden dabei nach dem Prinzip gruppiert, dass größere Unterschiede in der Reaktion des Blutes eine größere evolutionäre Entfernung zwischen den Arten bedeuteten. Mit dieser Methodik ließ sich unter anderem die Abstammung des Menschen von den Altweltaffen auf dem afrikanischen Kontinent (und entschiedene Unterschiede zu den Affen des amerikanischen Kontinents) belegen (Nuttall 1904: 2). Unterhalb der Art und insbesondere beim Menschen führten die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendeten Untersuchungsmethoden aber noch zu keinen Ergebnissen, mit denen sinnvoll menschliche Gruppen unterschieden, geschweige denn Unterschiede zwischen Individuen hätten aufgefunden werden können. Rassische Differenzen ließen sich deshalb erst mit der Erfindung der Blutgruppen herstellen. Die Verfahren zur Agglutination unterschiedlicher Blutgruppen beruhen zwar auch auf Proteinen, die Vorgehensweise ist aber völlig anders als bei den beschriebenen Bestimmungsmethoden der Kristallformen des Blutes. Wie schon erörtert, dienten die Blutgruppen dennoch sehr schnell als Mittel umfangreicher anthropologischer Sortierungs-Versuche (siehe voriges Kapitel). Für die rassische Differenzforschung bekamen Proteine zudem noch darüber hinausgehende Relevanz, als ihnen im Zuge ihrer Sonderstellung als »ausschließlich lebenden Naturkörpern eigenen Stoffe« (Preyer 1871: III) auch die die Rolle des Vererbungsträgers zugesprochen wurde. Proteine galten neben ihrer Bedeutung als Grundeinheit des Lebens somit auch als Träger der Weitergabe und damit ebenso der Differenz spezifischer Merkmale. Die Spezifität der Proteine war dabei einer der Eintrittswege der oben herausgearbeiteten Verinnerlichungsbewegung von Rasse in den Körper. Ihre Omnipräsenz und Omnirelevanz in Prozessen des Lebens, ihre Eigentümlichkeit und ihre chemisch darstellbaren Differenzen machten sie verständlicherweise zu besonderen Kandidaten für die Vererbungs- wie für die Differenzforschung. Insbesondere für die Weitergabe charakteristischer Merkmale über Generationen hinweg wurde die Spezifität des Protos der organischen Stoffe zur entscheidenden Eigenschaft. Hinzu kam noch, dass Eiweiße im Zuge der immensen Forschungsbemühungen im Laufe des 20. Jahrhunderts technisch immer besser erfass- und differenzierbar wurden und die Forschungsthesen zu den Vererbungsträgern damit weitgehend bestätigten. Die Proteine waren damit im Denkkollektiv der Lebenswissenschaften nicht nur ein wichtiges wissenschaftliches Objekt geworden, sondern mit der technischen Entwicklung und den Erfolgen der Darstellungsformen wurde ihr paradigmatischer Charakter auch zu einem die Lebenswissenschaften verbindenden Organum. Davon war die zeitgenössische
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Rasseforschung nicht ausgeschlossen, sondern auch ihr galten die Proteine als die grundlegenden Stoffe, die es mit der Forschung zu ergründen gelte. Für den Paradigmenwechsel, durch den Gene statt als Proteine nunmehr als Nukleotide konzipiert wurden, bedurfte es erst Experimente zur sogenannten Bakteriensexualität, bei denen die Nukleinsäure als stofflicher Mittler und damit als Entität der Vererbung angesehen wurde. Möglich wurden mit diesen Experimenten Theoretisierungen zur Codierung von Proteinbauplänen durch Nukleotide, die schließlich seit den 1950er und 60er Jahren zu den hegemonialen biowissenschaftlichen Konzepten zu Vererbung und Proteinsynthese – und damit auch für die Rassemerkmale – avancierten. 41 Für die Rasseforschung sowie im weiteren Sinne für die populationsgenetische Differenzforschung blieben Proteine trotz dieses Paradigmenwechsels aber noch lange Zeit zentrales Forschungs- und Darstellungsmittel. Zwar wurden Gene fortan als DNA-Teile gedacht und die Untersuchungsergebnisse als genetische dargestellt. Proteinanalysen blieben aber noch bis in die 1980er Jahre Untersuchungsmittel, da die Gene selbst in aller Regel nicht darstellbar waren, 42 die Eiweiße aber labortechnisch vergleichsweise leicht zu handhaben und damit als Differenzobjekt bis zu den Sequenzierungen mit den Mitteln der Genomik überdauerten (siehe auch die Ausführungen zur Serologie). Den Höhepunkt erlebten Proteinanalysen zur Darstellung genetischer Differenz erst mit den Forschungen der Populationsgenetik in den 1960er und 70er Jahren. Standen seit der Erfindung 41 Als Wendepunkt zwischen Protein- und DNA-These der genetischen Replikation und Steuerung des Zellstoffwechsels weist Kay (2005: 88) einen Artikel aus dem Jahr 1944 aus, in dem anhand von Versuchen zu Typ-Transformationen von Pneumokokken-Bakterien behauptet wurde, dass Nukleinsäure das transformierende Agens sei. Dennoch war mit dieser Forschungsarbeit keinesfalls das Proteinparadigma sofort gebrochen. Vielmehr bedurfte es weiterer Forschungsergebnisse, mit denen die DNA und RNA in den Fokus der Genetik rückten. Erst mit der Darstellung der Doppelhelixstruktur der DNA 1953 mehrten sich die Hinweise, dass die (schon länger bekannte) RNA ein Zwischenglied in der Proteinsynthese der Zellen darstelle, und mit dem ›Knacken‹ des »Codes des Lebens« ab 1961 (also der Kopplung von je drei Nukleotidbasen in unterschiedlicher Anordnung mit je einer der 20 Aminosäuren, den Grundbestandteilen der Proteine) wurde Proteine in der Genetik vollständig durch die DNA als Trägerin der Vererbung abgelöst (siehe Kay 2005). 42 Auch wenn die Gene nicht darstellbar waren, dienten sie dennoch als forschungslegitimatorisches Mittel und wirkten als epistemisches Objekt, indem von den Proteinmerkmalen im Blut auf Gene in der DNA geschlossen wurde. Entsprechend sprach etwa Dunn von Einteilungen der Menschheit auf der Basis der Genhäufigkeiten in den untersuchten Bevölkerungsgruppen, obwohl mit den zugrunde gelegten Daten lediglich Proteindifferenzen in Form von Blutgruppen vorlagen (Dunn 1953). Auch die Dendrogramme von Cavalli-Sforza und anderen wurden mittels statistischer Analysen anhand von Proteinunterschieden in Blutproben verschiedener Populationen erstellt, dann aber als »genetische« bzw. »genotypische« Differenzen bezeichnet, deren Abstand zueinander anhand »genetischer Distanz« dargestellt wird (siehe etwa Cavalli-Sforza/Bodmer 1999).
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der Blutgruppen ab 1910 die Proteine im Zentrum der Rasseforschung, blieben diese auch in der Populationsgenetik (über den Paradigmenwechsel zur DNA als Informationsträger der Vererbung hinaus) das Mittel der Wahl und somit Zielpunkt rassifizierender Differenzforschungen. Von den Untersuchungen der Blutkristalle über die Blutgruppen der Serologie, die Erb- und Rasseforschung, welche Verschuer anhand der »spezifischen Eiweißkörper« mit Blutproben aus Auschwitz betrieb, bis zu den Untersuchungen der Evolutionsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Forschungsansätze auf Proteine als Untersuchungsgegenstand bezogen. Mit dem Aufkommen der Molekulargenetik in den 1950er Jahren endet die Bedeutung der Proteine für die Differenzforschung allerdings nicht, sondern wechselt während der Kanonisierung der DNA als Trägerin der Vererbung und Urgrund der Differenz lediglich ihren Status. Statt von der DNA sofort abgelöst zu werden, gerannen die Proteine zu Markern für die tieferliegenden, von den Genen hervorgerufenen Unterschiede. Bis die Gene selbst technisch erreichbar wurden, blieben sie somit der zentrale Untersuchungsgegenstand rassifizierter Differenzforschung. Erst mit der Sequenzierung der DNA seit Ende der 1980er Jahre wurden Proteine als Untersuchungsgegenstand in der Differenzforschung am Menschen weitestgehend abgelöst. Heute dienen Blutgruppen nur noch selten in anthropologischen Beiträgen als Differenzmittel, jedoch bleibt das Blut auch noch für die aktuellen Differenzuntersuchungen ein wichtiges Untersuchungsobjekt. 43 Die besondere Bedeutung der Proteine für die Rasseforschung liegt aber nicht nur in ihrer Produktivität für neue Unterscheidungen, sondern ist in jenem mit ihnen vollzogene Paradigmenwechsel von den typologischen zu populationsgenetischen Untersuchungsmethoden und Differenzkonzepten begründet, die nun weiter auszuführen sind.
Populationsgenetik: Rasse als Merkmalsverteilungen und Frequenzunterschiede In historischen Darstellungen wird die Genetik zumeist in eine klassische, eine populations- und eine molekulargenetische Phase eingeteilt. Zwar ist diese Periodisierung für die hier erfolgende Darstellung der Veränderungen und Kontinuitäten von Rassekonzeptionen oft etwas formal und ungenau, da sowohl in der Genetik als auch in der Rasseforschung vielfach Überlappung vorliegen. Mit dieser Einteilung kann der Blick aber auf die Transformationen gelenkt werden. Ein solcher 43 Zur aktuellen Nutzung von Blut als Untersuchungsmittel siehe die Ausführungen unter »Human Genome Diversity Project« und für die weitere Thematisierung von Blutmerkmalen zur Differenzierung von Rassen etwa Hamel 2007; Vonderach 2008.
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Blick bringt zum Vorschein, dass mit der Einrichtung der Frequenzunterschiede als zentralem Forschungsmittel auch eine Verschiebung einsetzte, die weg von umfangreichen typologischen Bestimmungen am Individuum hin zu ebenfalls umfangreichen, aber nun an Gruppen, Völkern, Populationen vollzogenen Messreihen und schließlich zum Wechsel von Ansätzen der klassischen Genetik zu jenen der Populationsgenetik führte. Mit der Aufnahme der Mendelschen Genetik in die Rasseforschung ab 1900 war zunächst eine Stützung der typologischen Modelle verbunden, die mit ihren (klassisch-genetischen) Rassevorstellungen auf einem Verständnis von eindeutigen Unterschieden zwischen den Rassen beruhten, die letztlich auch einen je unterschiedlichen Genbestand voraussetzten. Diese Differenzen versuchte die Rassenanthropologie nicht nur an einzelnen äußeren Merkmalen der Knochen, der Haut, den Haaren oder Augen, sondern ebenso in anderen Eigenschaften, wie dem Charakter, dem Verstand, der Intelligenz sowie im Innern der Muskeln, des Gehirns und allen möglichen Teilen der Eingeweide aufzufinden. Doch die Darstellung eindeutiger Differenzen zwischen den Rassen erzeugte in der Empirie immer wieder massive Probleme, worauf in der Forschung mit der Suche nach der ›Natur der Differenz‹ in immer tiefer reichenden Signaturen geantwortet wurde. Im Kontext der Ausweitung der Datenmenge entstand mit den neuen Methoden der Häufigkeitsverteilung aber auch eine Veränderung der Forschung, die schließlich von der klassischen Genetik zur Populationsgenetik und von den physiologischen Messungen der Rassenanthropologie zu Frequenzanalysen populationsgenetischer Differenzforschung führte. Möglich wurde die Transformation durch jene Ausweitung der Forschungen auf eine Vielzahl von Messpunkten, eine große Anzahl von vermessenen Individuen und der aus dieser Ausweitung erzeugten Infragestellung von Diskontinuitäten zwischen Rassen, Nationen etc. Insbesondere ging es verschiedenen Akteuren der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – wie dem Genetiker und Evolutionstheoretiker Ronald A. Fisher (nicht zu verwechseln mit dem Rassenhygieniker Eugen Fischer) sowie kurze Zeit später John B.ௗS. Haldane und Sewall Wright – darum, die Mendelschen Regeln mit den Daten von größeren Populationsforschungen zusammenzubringen. So sollte der Befund kontinuierlicher Variationen in die Konzepte integriert und die sich allgemein durchsetzende Theorie Darwins von der ›natürlichen Zuchtwahl‹ mit den Ansätzen der Mendelschen Genetik synthetisiert werden. 44 Aus heutiger Sicht lässt sich eine Divergenz der beiden theoretischen und forschungspraktischen Ansätze der Mendelschen Genetik und der Darwinschen Evolutionstheorie kaum mehr nachvollziehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand aber keine theoretische und forschungspraktische Verbindung zwischen 44 Siehe Fisher 1918, 1930; vgl. Provine 1971.
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beiden Grundkonzepten. Erst im Zusammenhang mit mehreren mathematischstatistischen Ansätzen bildete sich ein neues Verständnis von menschlichen Gruppen heraus. Diese wurden fortan nicht mehr als genetisch homogen verstanden, sondern als Fortpflanzungsgemeinschaften, in denen zufällige Mutationen weitervererbt würden und zu einer Variabilität an Merkmalen innerhalb aller Gruppen führten, die damit nun als originär genetisch variabel zu verstehen seien. Während Fischers »Rehobother Bastards«-Studie oder der »biochemische Index« der Hirschfelds nur mit klar zu scheidenden, als reinerbig imaginierten Rassen funktionieren konnte, ändert sich mit der populationsgenetischen Zusammenführung von mendelscher und darwinscher Theorie die Sicht auf Fortpflanzungsgruppen und individuelle Differenz grundlegend. Mit dieser Synthese wurde gleichzeitig ein auf Reinerbigkeit fixiertes Verständnis abgelöst von einem neuen Konzept der Varianz, von kontinuierlicher Veränderung und Frequenzunterschieden. Neben den immer größer werdenden Datenmengen der Rasseforschung bildeten auch das theoretische Konstrukt vom Gen, das aufgrund der beschränkten technischen Möglichkeiten noch nicht direkt erreichbar war, sowie die Untersuchungen an Proteinen zusammen mit statistischen Häufigkeitsverteilungen die Basis, von der ausgehend ein neues Paradigma rassifizierter Differenzbestimmung entstehen konnte. Als in den 1930er Jahren die neuen Ansätze populationsgenetischer Differenzforschung entstanden, war weder die Idee des Gens, noch waren die Proteinuntersuchung oder die statistischen Methoden neu. Die Untersuchung von Häufigkeits- bzw. Frequenzunterschieden innerhalb von Bevölkerungsgruppen und zwischen diesen waren schließlich schon in kraniologischen und physiologischen Untersuchungen im 19. Jahrhundert durchgeführt worden. Zur umfangreichen Anwendung geriet sie allerdings erst mit den Untersuchungen der Seroanthropologie, wo die in Reihenuntersuchungen an Rekruten ermittelten Häufigkeitsunterschiede der Blutgruppen dem Ziel dienten, eindeutige Differenzmarker zur Unterteilung von Rassen und Völkern zu finden. Für die Seroanthropologie war die Untersuchung von Häufigkeiten innerhalb von Volksgruppen das Mittel der Wahl, weil die begrenzte Anzahl der Blutgruppen (bis in die 1920er gab es nur drei) und deren kategoriale Teilbarkeit (eindeutig A, B oder 0) zur Untersuchung rassischer, nationaler, Stadt-Land- und weiterer Gruppenunterschiede einluden. Jedoch führte die Anwendung statistischer Methoden der Seroanthropologie eher zum Scheitern des Ziels, eindeutige Unterschiede zu finden, da keine den Rassevorstellungen entsprechenden Trennungen dargestellt werden konnten. Genau für dieses Problem bot nun die Populationsgenetik eine neue Darstellungsweise rassischer Differenz an, mit der schließlich nicht mehr nach reinerbigen Unterscheidungsmerkmalen zu suchen war, sondern anhand
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von Verteilungshäufigkeiten einzelner (genetischer) Merkmale zu differenzieren sei. Der neue Ansatz zur Konzeptualisierung biologischer Differenz zwischen menschlichen Gruppen bildete sich also aus einer Kombination der Untersuchung von Proteinen auf Basis eines theoretischen Genmodells und mathematischer Methoden zur Bearbeitung größerer Datenmengen mit einem neuen theoretischen Zugang zum Verständnis von Varianz. Gene galten darin nicht mehr wie in der klassischen Genetik als in der jeweiligen »Population« 45 gleichmäßig verteilt bzw. reinerbig vorhanden, sondern Bevölkerungsgruppen wurden zu komplexen genetischen Entitäten. Aufgrund von zufälligen Mutationen, allmählicher Gendrift 46, natürlichen und kulturellen Barrieren usw. wurden Populationen fortan nicht mehr als homogen, sondern als Gruppen verstanden, in denen Gene in sehr verschiedenen Häufigkeiten vorkommen müssen. Differenz ließ sich somit nicht mehr an einzelnen Individuen, sondern mittels extensiver Untersuchungen an einer Vielzahl von Personen und daran erzeugten Verteilungshäufigkeiten konzipieren. Da nach diesem Ansatz innerhalb jeder Population Ungleichverteilungen von Genen vorhanden sein mussten, wurden sie von den Forscherޚinnen auch zwischen den Rassen, Nationen und anderen Gruppen vorausgesetzt. Mit den neuen epistemischen Möglichkeiten der Populationsgenetik waren einzelne Merkmale nun nicht mehr wie mit der klassischen Genetik und der typologischen Rasseforschung nur durch ihr Vorhandensein oder Fehlen für die Einteilung der Rassen von Interesse. Mit der Umsetzung der evolutionstheoretischen Annahmen zur Bedeutung von Varianz vollzog sich schließlich die Ablösung von den auf Reinerbigkeit innerhalb der Gruppen beruhenden Ansätzen, und die statistische Unterscheidbarkeit von Populationen wurde zum wichtigsten Mittel genetischer Rasseforschung. Begann sich die Populationsgenetik ab den 1930er Jahren allmählich zu etablieren, avancierte sie letztendlich in der Nachkriegszeit zum vorherrschenden Paradigma genetischer Differenzforschung und ist bis heute Grundlage moderner evolutionstheoretischer Ansätze. Insbesondere mit dem Blick auf als Fortpflanzungsgemeinschaften imaginierte Gruppen mit diversem Genbestand formierte sich die Populationsgenetik damit als neuer Zweig der Vererbungs-, Evolutions- und Differenzforschung. Fortan ermöglichte diese Populationsgenetik die Reformulierung rassischer Differenz als Unterschiedlichkeit in der Verteilung der Gene, die statistisch anhand von Frequenzunterschieden und Unterscheidungen der Häufigkeitsverteilungen zwischen den Gruppen ermittelbar
45 Das Konzept »Population« ist in vielerlei Hinsicht zu problematisieren. Zur Darstellung einiger Kritikpunkte und einem Überblick über verschiedene Populationsmodelle siehe M'charek 2000, 2005 u. Gannett 2003. 46 Die im Laufe mehrerer Generationen in der Regel zufällige Häufigkeitsveränderung einzelner Gene innerhalb einer Population.
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sei. Damit veränderten die populationsgenetischen Ansätze auch das Denken über Differenz: von der Gruppe als Einheit von Individuen mit essentiell gleicher genetischer Ausstattung zu einem der Varianz, deren Ähnlichkeit innerhalb der Gruppe nur noch statistisch im Durchschnitt und einer Varianzbreite dargestellt und deren Unterschiedlichkeit lediglich anhand von Frequenzunterschieden ermittelt werden könne. Für die Rasseforschung bedeutete das einen entscheidenden Wechsel: Statt am Individuum nach typischen Merkmalen einer Rasse zu suchen, wurde nun von einer an der Gruppe ausgerichteten und damit statistisch erfassbaren Rasse ausgegangen. Statt individuelle Differenzen zu typisieren, wurde nun die allgemeine durchschnittliche Differenz zum Forschungsziel. Differenz wandelte sich damit von einer homogenen Norm zu einer normalisierten Abweichung.
Seroanthropologie als epistemische Schwelle Ging es den ersten genetischen Rasseforschern darum, eindeutige Differenzen und ›Urrassen‹ anhand einzelner physischer Messpunkte und der Konstruktion von allerlei Indizes aufzudecken, die sie entsprechend der im 20. Jahrhundert vorherrschenden Darstellungsform als genetische Erkenntnisse ausgaben, wurden mit den Forschungen der Seroanthropologie schließlich statistische Gruppendifferenzen erzeugt, die zwar, wie in der Studie der Hirschfelds (siehe »Transfusionen zwischen Rasse und Blut«), keine eindeutigen, dafür aber relative Rassendifferenzen sichtbar machen sollten. Außerdem griff die Seroanthropologie auf Merkmale zurück, die gegenüber den Messungen am Schädel oder der Bestimmung der Haar-, Augen- und Hautfarbe mehr Eindeutigkeit versprachen und zudem verhältnismäßig einfach festzustellen waren. In dieser Weise versprach der von den Hirschfelds 1919 anhand der Blutgruppen A und B erfundene »biochemische Index« näher an der Wahrheit zu sein. Jener entstammte zwar noch den typologischen Grundvorstellungen voneinander klar zu trennender »Urrassen A und B«, aber mittels der statistisch erzeugten Maßzahl konnten nunmehr Aussagen über Menschengruppen, Populationen, Völker etc. erzeugt werden, die wiederum in einem zweiten Schritt Rassengruppierungen zuließen (von den Hirschfelds als »europäischer, intermediärer und asio-afrikanischer Typus« benannt). Ein Ausweichen auf Häufigkeitsunterschiede und deren Darstellung als Frequenzdifferenzen lag also in der Rasseforschung Anfang des 20. Jahrhunderts schon nahe, weil sich auch mit den bisherigen Forschungen keine eindeutigen Trennungen der Rassen vornehmen ließen. Was anfangs noch als Schwierigkeit verhandelt wurde, bereitete aber schließlich eine Abkehr von der üblichen Suche nach eindeutigen Trennungen vor, die in den Messpunkten bzw. den ermittelten
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Daten selber zu finden sein müssten, und versetzte die Differenzforschung in die Lage, Gruppenunterschiede mittels statistisch erzeugter Frequenzdifferenzen darzustellen. Die rassen- und seroanthropologischen Untersuchungen an einer großen Personenanzahl bereiteten somit in gewisser Weise dem Übergang zur Populationsgenetik den Weg. Die Frequenz, also die Häufigkeitsverteilung von Merkmalen (in der Populationsgenetik fortan in der Regel von Blutproteinen) konnte nun auf der Ebene von Gruppen wie Völkern, Nationen, Sprachgruppen, Populationen, kontinentalen Zuordnungen als zwar statistische, aber wissenschaftlich abgesicherte Unterschiede gedeutet werden. In den erste Darstellungsformen dieser Frequenzunterschiede wurden noch jene Balkendiagramme benutzt (siehe Abbildung 3), die schon vorher in der vergleichenden physischen Anthropologie üblich gewesen waren. Möglich wurde aber auch, mit den großen Datenmengen, die auch von anderen Forschungsgruppen erhoben wurden, Verteilungshäufigkeiten auf einer Landkarte als geographisch verteilte Frequenzdifferenzen zu visualisieren (siehe Abbildung 4). Nötig waren für die Etablierung der neuen, auf Häufigkeitsunterschiede von Merkmalen aufsetzenden Methoden noch weitere Veränderungen im theoretischen Grundgebäude, die vor allem durch die Integration neuer Vorstellungen von evolutionären Vorgängen vonstattengingen. Im Ergebnis änderten sich die Forschungsansätze und die Vorstellungen von den zu untersuchenden Einheiten. Mit den populationsgenetischen Ansätzen wurden die Frequenzdifferenzen schließlich neben ihrer Nutzung für die Erforschung menschlicher Entwicklung und der Verwandtschaft menschlicher Gruppen auch zu einem produktiven Mittel für die rassifizierende Differenzforschung. Der markanteste Unterschied zwischen den vorhergehenden rassenanthropologischen Forschungen, den damit verknüpften Differenzmodellen der klassischer Genetik und den populationsgenetischen Ansätzen ist die Rolle, die Individuen und aggregierte Gruppendaten sowie die Konzeptualisierung von Varianz in den Untersuchungen einnehmen. In den populationsgenetischen Forschungen ab den 1930er Jahren waren Daten von Individuen nicht mehr als repräsentativ für eine Gruppe zu bewerten, sondern die Gruppenunterschiede erschienen erst in der Zusammenführung größerer Datenmengen, indem die Durchschnittswerte und die Varianzbreite der Daten unterschiedener Gruppen miteinander verglichen wurden. Für eine Darstellung von Gruppenunterschieden musste auf eine Vielzahl von Daten zurückgegriffen und ein Vergleich von statistischen Häufigkeiten zwischen den Gruppen vorgenommen werden. Wenn auch die Darstellung von Häufigkeitsunterschieden keine Innovation war, so war allerdings neu, dass Frequenzunterschiede nicht mehr als unerfreuliche – weil keine eindeutigen Trennungen
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Abbildung 4: Karte mit Differenzlinien des »Blutartlichen Rassenindex«
Zeichnung von Paul Steffan 1928 zur Verteilung der Blutgruppen in Europa unter Zuhilfenahme des »Blutartlichen Rassenindex« des Serologen Sigmund Wellisch und der »Dreirassentheorie« von Felix Bernstein. Dargestellt sind laut Steffan das »›Atlantische Hochgebiet‹ für die dominant verebende Bluteigenschaft A« in »Berührung mit der gegenpolaren BMenschheit und dem »Einbruch gegenpolaren B-Blutes«. Anhang aus »Die Beziehung zwischen Blutgruppe, Pigment und Kopfform« In: Zeitschrift für Rassenphysiologie 1 (2), S. 83-84a.
erzeugende – Ergebnisse wahrgenommen, sondern fortan zu wissenschaftlich aussagekräftigen Befunden wurden. Zur produktiven Veränderung rassifizierter Forschungskonzepte diente die Serologie also als epistemische Schwelle, an der zwar mit dem Paradigma reiner, genetisch differenter Rassen hantiert wurde, sich aber über die Methodik gleichzeitig Verzahnungen mit den populationsgenetischen Vorgehensweisen ergaben. Die neuen Forschungen beschäftigten sich aber keinesfalls nur mit der Verteilung von Blutgruppen in unterschiedlichen Bevölkerungen.472Blutgruppen waren allerdings im Bereich der populationsgenetischen Differenzforschung insbesondere 47 Neben den Blutuntersuchungen beschäftigte sich die Populationsgenetik mit weiteren aus zoologischer Sicht interessanter Populationen wie bspw. dem Birkenspanner und dessen
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für die Beschäftigung mit der Evolution, den Verwandtschaftsbeziehungen und den Wanderungsbewegungen des Menschen besonders gut geeignet. Der serologische Untersuchungsgegenstand Blut und die Methodik der Darstellung von Häufigkeitsunterschieden brachte mehrere für die Durchsetzung der Populationsgenetik sehr hilfreiche Eigenschaften mit, die gleichzeitig für manche Probleme der bisherigen Rasseforschung als geradezu erlösende Vereinfachung, und zwar gleich in dreifacher Weise erschienen: Erstens wartete die ›Natur‹ des Blutes mit einer scheinbar geringen Anzahl an Differenzen auf, die im Vergleich zu den Mengen an Messpunkten der physischen Anthropologie leichter erfassbar und auszuwerten waren. Zweitens lagen die Proteine (bzw. Blutgruppen) als eindeutige Unterscheidungsmerkmale vor, anhand derer ein Individuum klar zugeordnet werden konnte und mittels derer kein Kontinuum wie bei den physischen Messdaten mehr bewältigt werden musste. Drittens glaubten die Serologen mit ihrer Forschung näher an den Genen zu sein, denn bei den Messungen der physischen Merkmale hatten die genetischen Rassenanthropologen schließlich auch immer mit dem Problem zu kämpfen, dass die gemessenen Merkmale von Umweltwirkungen beeinflusst sein könnten und damit dem Grundsatz der Vererbung von Rasse widersprechen würden. Die Blutproteine versprachen demgegenüber, also im Gegensatz zu Farbbestimmungen von Haut, Haaren, Augen sowie Größenund Längenmessungen von allerlei Körperteilen, einen entscheidenden Vorteil zu bieten: Sie schienen jeweils von einzelnen Genen bestimmt zu werden, darüber hinaus nicht von Lebensweise, Ernährung etc. beeinflussbar und über das ganze Leben stabil zu sein. Mit der Darstellung von Frequenzunterschieden zur Differenzierung von Gruppen konnte aber nicht nur ein neues Mittel für die Differenzforschung etabliert, sondern darüber hinaus auch das Problem der »Rassenmischung« produktiv gewendet werden. Während Rudolf Virchow in der oben erwähnte Schulkinderstudie von 1874 noch eine Rassenmischung der Deutschen erzeugte, mit der verschiedene Akteure der physischen Anthropologie immer wieder ihre Schwierigkeiten hatten und entsprechend versuchten, diese etwa mit einer Gesamterfassung des typologischen und erbbiologischen Bestands des deutschen Volkes zu bändigen, so konnte die Seroanthropologie die Mischung der Deutschen – wie auch der anderen europäischen Nationen – bestätigen und sich nun umso mehr mit Häufigkeitsverteilungen beschäftigen. Die Seroanthropologie stellte hiermit einen Anwendungsfall dar, in dem Mischungsverhältnisse in Populationen quanti-
Auftreten in verschiedenen Farbvarianten. Darüber hinaus erweiterte die Genetik seit den 1930er Jahren ihre Methodik um mathematische Modelle, um die sogenannte natürliche Auslese, die Ausbreitung von Mutationen, der Gendrift sowie Mutationsraten im menschlichen Genom zu berechnen. Siehe etwa Haldane 1924 und Fisher 1925.
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tativ dargestellt waren und damit theoretische Modelle zur Entstehung und Ausbreitung von Mutationen als sogenannte genetische Drift empirisch bestätigt und als räumlich kontinuierliche Verteilung auf einer Weltkarte dargestellt werden konnten (siehe Abbildung 4). Dieser Übergang vollzog sich trotz der Infragestellung des Reinheitsprinzips der Rasse relativ rasch: Während Fischer bei der Untersuchung der »Rehobother Bastards« 1908 noch von reinen »Ursprungsrassen« ausging, war bei den Anthropologen der 1920er und 30er Jahre mittlerweile die Vorstellung einer Rassenmischung innerhalb Europas weitgehend anerkannt. 48 An der Durchsetzung dieser Ansicht hatten die serologischen Untersuchungen einen gewichtigen Anteil, denn verschiedene Blutgruppen waren selbst zwischen Geschwistern auffindbar und mussten – so die Annahme – auch in den unterschiedenen Völkern, Nationen und Rassen als unterscheidbare BlutgruppenMischungen vorliegen. Angesichts all jener schon in den Untersuchungen der Serologie angelegten Veränderungen ist nicht verwunderlich, dass der renommierte Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza die Geburtsstunde der genetischen Anthropologie auf die Publikation der hirschfeldschen Studie von 1919 datiert (Cavalli-Sforza 1999: 28). Die erste Studie der Seroanthropologie sieht er als Beginn der neueren genetischen Untersuchungen, weil mit den Forschungen dort eben jene statistische Unterscheidung von Menschengruppen anhand einzelner genetischer Merkmale einsetzte. 49 Für Cavalli-Sforza ebenso wie für einen Großteil der führenden
48 Das galt natürlich nicht für alle Rasseforscher und insbesondere nicht für die populären Darstellungen oder politischen rassentheoretischen Umsetzungen. Trotz der weitgehenden Anerkennung der »Mischung« war der Umgang der Rasseforscher damit uneinheitlich. Fischer ging bspw. noch in der 1936er Auflage des »Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene« davon aus, dass Rasse »eine Mehrzahl von Genen homozygot besitzen, welche Nachbargruppen fehle« (S. 250). In der Seroanthropologie wurde dagegen von einer »Verschmelzung zweier Rassen […] der eiszeitlichen langschädligen, aber breitgesichtigen Cromagnonrasse und der späteiszeitlichen langschädeligen schmalgesichtigen nordeurasischen Rasse« ausgegangen (Hilgers/Wohlfeil/Knötzke 1928). Auch danach tauchen derartige Vorstellungen immer wieder einmal auf. So weist etwa die 263. Auflage des medizinischen Wörterbuchs »Pschyrembel« als eine Definition von Rasse aus: »Population innerh. einer Species, die […] mind. einen gemeinsamen reinerbigen Unterschied besitzt«. Die Vorstellung von »Rassenmischung« erscheint in diesem Zusammenhang als fortschrittlicheres Konzept, verbleibt aber in der Vorstellung ursprünglich reiner Rassen, die sich vor einiger Zeit vermischt hätten. Zudem wird von vielen Vertreterޚinnen der ›Mischungsthese‹ eine weiter fortschreitende Vermischung als problematisch erachtet. 49 Zwar hätte Cavalli-Sforza auch typologische Untersuchungen oder Fischers »Rehobother Bastards«-Studie als Beginn der genetischen Anthropologie ausweisen können, doch er wählte wohl diese Datierung, weil seine Karriere als Genetiker auch mit Untersuchungen an Blutgruppenverteilungen begonnen hat und vermutlich um eine Abgrenzung zu typologischen und völkischen Rassemodellen (und den entsprechenden Forschungen) vornehmen zu kön-
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Populationsgenetikerޚinnen war Blut eine wissenschaftlich sehr fruchtbare Untersuchungssubstanz, mit der schließlich jene Bewegung ins Innere des Körpers und der Verkleinerung der Untersuchungsobjekte weiter vollzogen wurde, die für die Genetifizierung von Rasse so charakteristisch ist. War es die Hoffnung der Rassenanthropologie, einfach zu messende und klare Unterscheidungen abbildende Merkmale zu finden, so wurde diese Hoffnung in Form von Frequenzunterschieden der Blutgruppen zumindest teilerfüllt. Die Häufigkeitsverteilungen nur weniger, dafür aber eindeutig distinkter und sich nicht überschneidender Merkmale gerieten damit zu einer Signatur der Differenz zwischen den untersuchten Gruppen.
Metamorphosen genetischer Rassekonzepte Der Analysefokus der vorangegangenen Überlegungen richtete sich auf die Verinnerlichung und Verkleinerung als Hauptrichtungen von Veränderungen der Rasseforschung im 20. Jahrhundert. Movens dieser Bewegung der Rasseforschung ist jene Vorstellung von einer natürlichen kategorialen Trennbarkeit der Rassen anhand eindeutig disparater Merkmale. Der Zweck immer wieder erneuerter Reformulierung rassischer Differenz unter verschiedenen methodischen Zugriffen blieb bei allen Bestrebungen gleich, nämlich der genetischen Differenz zwischen den Rassen näher zu kommen und sie letztendlich aufzufinden. Die Suche nach den Genen der Differenz gestaltet sich wie die Suche nach dem heiligen Gral, der als mythischer Gegenstand für profane Zugriffe unerreichbar bleibt und deshalb in verschlüsselten Signaturen decodiert werden muss, aber immer das eigentliche Ziel der Suche ist. 50 Bei allen Veränderungen der Rasseforschung blieb die Bestimmung einer Differenz, die in den Erbeinheiten vorliegt, konstant. Auch als die Substanz der Gene noch unklar war, ihre Sichtbarmachung noch in weiter Ferne lag oder diese noch als Proteine imaginiert wurden, bildeten sie dennoch das Telos rassifizierender Differenzforschung. Rasse, so ließe sich verallgemeinernd sagen, findet bei allen Differenzen, die sich phänotypisch, physiologisch, psychisch und kulturell ausdrücken, ihren Urgrund in einer Genetik des Unterschieds. Wurde Rasse schon seit Gründung der Genetik als »Inbegriff der Erbanlagen« (Lenz 1916: 474) verstanden, so befindet sich die biowissenschaftliche Rasseforschung seit Beginn der Vererbungskunde in einer stetigen, wenn auch diskonti-
nen (siehe auch die Ausführungen unter »Genetische Herkunftstests« im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«). 50 Der Ausdruck »Gral des Lebens« wurde vom Molekulargenetiker Scott Gilbert auch für die DNA verwendet (zitiert nach Schwerin 2009: 33).
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nuierlichen Annäherung an die Gene. Dafür werden die Rassekonzepte seit ihrer Verwissenschaftlichung immer wieder neu an den jeweilig vorherrschenden Paradigmen biowissenschaftlicher Forschung, an die neuesten technischen Möglichkeiten sowie an vielversprechenden theoretischen Entwicklungen angepasst. Die typische Darstellungsform ist dabei der Ausdruck einer Zuversicht, bald die Gene der Differenz zu erreichen. In diesem Sinne werden die jeweiligen Erneuerungen mit dem Grundrepertoire aufklärerischer Wissenschaft ausgestattet: Die neuen Forschungen und neuen Konzeptionen werden dabei immer wieder von Neuem als nunmehr wahre, die Begrenzungen und Fehler der früheren Forschungen endlich und abschließend überwindende präsentiert. Darüber hinaus werden die neuen methodischen und konzeptuellen Veränderungen nicht nur als fortschrittlicher ausgegeben, sondern zumeist auch mit einer distinktiven und abwertenden Abgrenzung gegenüber den vorhergehenden Ansätzen versehen. So werden die früheren Forschungen nicht nur – wie innerfachlich üblich – als überholt und falsch, sondern auffällig emphatisch als unwissenschaftlich und seit den 1920er/ 30er Jahren zunehmend auch als ideologisch und rassistisch dargestellt. Gerade letztere Darstellungs- und Abgrenzungsform neuer gegenüber alter Differenzforschung ist nach wie vor weit verbreitet und vor allem aufgrund der Legitimationsfigur – neue Rasseforschung mit dem Rassismus der vorhergehende Ansätze zu begründen – herauszuheben. Einen wichtigen Aspekt dieser Abgrenzung der je aktuellen Forschungsansätze gegenüber den älteren beschreibt die Soziologin Jenny Reardon als »closer to the genes, closer to reality«-Argument. Neuere Forschungen wurden, wie sie zeigt, schon lange vor der Sequenzierbarkeit von Genen und damit vor einer Gewissheit über die ›Natur der Gene‹ immer wieder als näher an ebendiesen präsentiert. Mit dieser Argumentation glaubten die Seroanthropologen die Vererbungseinheiten schon fast entschlüsselt zu haben, und auch die Populationsgenetik konnte damit ihre Proteinuntersuchungen als den alten anthropometrischen Studien überlegen und sich selbst und ihre Rassemodelle als modern ausgeben (Reardon 2004). Dementsprechend beschrieben etwa die beiden Mediziner und Serologen Fritz Schiff und William Boyd 1942 die Untersuchung von Blutgruppen als sehr geeignetes Mittel für genetische Rassenuntersuchungen, weil diese genetisch determiniert, »rein objektiv«, von Umwelteinflüssen völlig unabhängig und damit wissenschaftlicher als frühere anthropologische Untersuchungen seien (S. 135 u. 198). Und auch die Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza und Walter Bodmer äußerten in ihrem Standardlehrbuch der Populationsgenetik »The genetics of human populations«, dass im Gegensatz zu den üblicherweise genetisch komplexen und umweltbeeinflussten physischen Merkmalen, die »biochemischen Variationen […] viel näher am Ursprung der langen Kette von
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Ursachen und Wirkungen sind, die bei den Genen beginnt und mit messbaren Merkmalen endet« (1971: 704). Dieses Näherrücken wurde zumeist als Durchbruch zu einer abschließend richtigen, die natürlichen Teilungen abbildenden Rassekonzeption dargestellt. Entsprechend meinte etwa der Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky mit der Erhebung von immer mehr Proteinmerkmalen eines Individuums umso präziser auf dessen Herkunft schließen zu können (Dobzhansky 1950: 116f.), und Berenice Kaplan fasst in ihrem 1951 erschienen Bericht vom »Sixth Annual Summer Seminar in Physical Anthropology« zusammen: »Wir hoffen in fünf Jahren über eine genetische Klassifizierung menschlicher Gruppen zu verfügen, welche nicht mehr zu scheitern droht« (Kaplan 1951: 30). Die Gene verkörperten somit seit ihrer Inaugurierung Anfang des 20. Jahrhunderts jene Orte der objektiven Wahrheit, auf die sehnsuchtsvoll hingearbeitet wurde. Genetische Forschungsergebnisse waren damit immer auch als die ›Wahrzeichen der Natur‹ abbildend verstanden worden. Bis zur Sequenzierbarkeit der DNA mussten für diese Abbildbarkeit jedoch die Umwelteinflüsse als Beteiligte an der Ausbildung spezifischer Merkmale wenn nicht ausgeschaltet, so doch mindestens minimiert werden. Da die Rasseforschung mit ihrem Ziel der Darstellung kategorialer Differenz auf die Differenz der Erbeinheiten verwies, konnte sie einerseits immens von den Methoden der Genetik profitieren und in der Verwendung der neuesten Ansätze genetischer Forschung kontinuierlich neue Rassekonzeptionen entwerfen. Andererseits erzeugten die genetifizierten Rasseuntersuchungen stetig Probleme, da die genetischen Forschungsergebnisse keinesfalls einfach die Grundannahme eindeutig trennbarer Gruppen bestätigten. Statt der erhofften natürlichen Ordnung brachten die Forschungen vor allem unklare Ergebnisse hervor, ließen die Unterschiede eher marginal erscheinen und machten typologische Forschungsmethoden damit immer fraglicher. Bald waren schon mit einem Laienverständnis Unterschiede der Forschungen Fischers zum Experimentalsystem der Genetik erkennbar. Während Mendels Erbsen klar zu unterscheidende Merkmale und kein Kontinuum zeigten, waren die untersuchten Merkmale bei Fischer und den typologischen Rassenanthropologen von kontinuierlichen Merkmalsübergängen, Zwischenstufen und Merkmalmischungen gekennzeichnet. Diese Probleme erzeugten zwar auch Infragestellungen von biologischen Rassekonzepten (vgl. z.B. in den Schriften von Friedrich Hertz), bewirkten aber mit dem Nimbus moderner, innovativer Forschung eher eine Extensivierung von Forschungen, die als genetische gerahmt wurden. Die Expansion rassifizierender Forschungen auf Bereiche der Psychologie, Serologie und Populationsgenetik ging dabei einher mit einer Verinnerlichung und Verkleinerung jener Objekte der Differenzsuche. In allen neuen Unternehmungen bewegte sich die Rasseforschung zwar immer weiter in den Körper hinein, fand
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aber dennoch lediglich die schon von der physiologischen Rassenanthropologie zum Vorschein gebrachten Merkmalskontinua, Überlappungen und eben nicht die erwünschten eindeutigen Unterschiede zwischen den Rassen. Die serologischen Untersuchungsmethoden versprachen da, wie alle vorhergehenden Verfahren, eindeutigere Daten über menschliche Differenzen. Zwei Blutproben verklumpen oder sie verklumpen nicht. Keine Übergänge, keine Mittel- und Randbereiche; und zudem ein Stoff, der schon mit Bedeutungen zu Herkunft, Unreinheit, Hoch- und Minderwertigkeit aufgeladen ist. Entsprechend zeichneten sich die Blutuntersuchungen von vornherein durch eine Nähe zu den vererbten Differenzen aus, wie etwa Leslie Dunn die Blutgruppen als jene Merkmale bestimmte, an denen am deutlichsten die »Verteilung der Gene« anhand von »vier verschiedenen Arten von Menschen […] A, B, AB und 0« festlegbar sei (1951: 37). 51 Doch auch die Blutgruppenhäufigkeiten ermöglichten schließlich keine Klärung der Ordnung der Menschheit. Daher versprachen sich die Rasseforscher mit den Proteinen, die als erste (protos) Stoffgruppe alles Lebendige vereinten, das Trennende sichtlich machen zu können. Proteine sollten als manifestes und lebenslanges Merkmal der ersehnte umweltunabhängige Untersuchungsgegenstand der Vererbung und der Differenz sein. Mit Hilfe der statistischen Differenzierung von Proteinhäufigkeiten im Blut von Angehörigen verschiedener Bevölkerungsgruppen wurden von der Populationsgenetik fortan bis in die 1980er Jahre unablässig Einteilungen der Menschheit produziert. Somit blieben von den Forschungen der Hirschfelds während des Ersten Weltkriegs über die Verteilung von Blutgruppen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen bis zu den umfangreichen Proteinuntersuchungen der Populationsgenetik in den 1970er Jahren Eiweiße ein besonderes Untersuchungsmittel der Biowissenschaften und das wichtigste Mittel der Differenzforschung am Menschen. Mit der These, dass anhand der Unterschiede und Ähnlichkeiten der Proteinzusammensetzungen Verwandtschaftsverhältnisse menschlicher Gruppen abzubilden seien, wurden die erhobenen Daten zur Darstellung der Humanevolution, aber auch zur Unterscheidung von Rassen verwendet. 52 Doch auch mit den Ableitungen aus den populationsgenetischen Untersuchungen an Blutgruppen bzw. Blutproteinen konnten letztlich keine eindeutige Differenzordnung, sondern erneut vor allem Unklarheiten, Überlappungen und Kontinua sowie die vorherrschenden Rassekategorisierungen in Frage stellende Ergebnisse 51 Dunn nutzte die durchschnittlichen Blutgruppenverteilungen auch zur Differenzierung von Rassen und Völkern, stellt an anderer Stelle aber auch dar, dass ähnliche Differenzen auch zwischen indischen Kastengemeinschaften zu finden seien, die nur mit »großem Zögern […] als verschiedenen Rassen zugehörig« zu erklären wären (1951: 39 u. 42f.). 52 Siehe Dunn/Dobzhansky1946; Dunn 1951; Schwidetzky 1962; Cavalli-Sforza/Edwards 1967; Cavalli-Sforza/Bodmer 1971; Bodmer/Cavalli-Sforza 1976; Cavalli-Sforza etௗal 1988; SpiegelRösing/Schwidetzky 1982.
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erzeugt werden. Die Ausdehnung der Differenzsuche mit allerlei Mitteln und auf unterschiedlichsten disziplinären Feldern führte letztlich nicht dazu, dass ein Rassemodell allgemeine wissenschaftliche Anerkennung erlangt hätte. So blieb die Suche nach einer Signatur der Differenz bestehen, aber die Ausweitung der wissenschaftlichen Rassekonzeptionen und deren stetiges Scheitern der Suche nach den letztendlichen Differenzen induzierte eine Intensivierung der Kritik an Rasse. Jene zunächst in geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie politischen Bereichen formulierten Kritiken an den mit Klassifikationen verbunden Wertungen erfuhren ab den 1930er Jahren eine Ausweitung auch als innerbiowissenschaftliche Absagen an typologische und völkische Rassekonzepte. Mit den populationsgenetischen Ansätzen konnte Rasse somit als statistisch fassbare Gruppe weiterhin affirmiert werden, gleichzeitig entstand unter dem Paradigma genetischer Forschung ein nachhaltiger Kritikstrang, aus dem heraus nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit den 1960er Jahren immer wieder Absagen an Rassekonzeptionen artikuliert wurden. Jedoch bewirkten die Kritiken nicht einfach ein Ende biologischer Rasseforschung und entsprechender Rassekonstruktionen, sondern evozierten im Gegenteil immer wieder Modifikationen, in deren Folge wiederum die Verbindung zwischen Konzeptionen der Genetik und der Rasse weiter intensiviert wurde. Ersichtlich wurden in der Rekonstruktion der Genetifizierung von Rasse und der Rassifizierung der Genetik vor allem die umfangreichen Debatten um die biowissenschaftlichen Modelle zur Ordnung des Menschen. Die Marker der Differenz veränderten sich stetig und mit ihnen auch die Modelle, mit denen kategoriale Differenz konzeptualisiert wurde. Gleich blieb jedoch der Glaube an natürliche rassische Unterschiede zwischen Menschengruppen, und gleich blieb auch die intensive Suche nach den Signaturen dieser Differenz. Während also die Objekte der Differenzsuche und die Konzepte beständiger Veränderung unterlagen, blieb die kulturelle Sphäre des Glaubens an rassische Differenz und die Hoffnung ihrer wissenschaftlichen Ergründbarkeit weitgehend stabil. Die Kultur erweist sich hier als beständig, während die dargestellte Natur permanentem Wandel unterliegt. Deutlich wurde auch, dass sich Rasseforschung seit 1900 sehr schnell als originär genetische Forschung gerierte und ihre Ergebnisse, auch wenn sie zunächst noch mit herkömmlichen Methoden der Rasseanthropologie – mit der Vermessung äußerlicher physischer Merkmale – erzeugt wurden, als genetische darstellte. Aber nicht nur die Ergebnisse der Rasseforschung konnten mit der Bezugnahme auf die Gene und die Genetik als auf der Höhe der Zeit stehend ausgegeben werden, die Rassekunde selbst erlangte mit den immer intensiveren Referenzen eine weitere Autorisierung als moderne Wissenschaft. Die Ankopplung an die Genetik
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erwies sich damit als Forschungsmotor, da mit neuen genetischen Methoden ein stetiges Movens zur Erneuerung rassischer Modelle entstand. Besonders produktiv wirkte bei all den Entwicklungen und Veränderungen der Schlüsselbegriff Gen, der seit Beginn des 20. Jahrhundert sowohl allgemein die lebenswissenschaftlichen Forschungen als auch speziell die rassischen Einteilungskonzepte beförderte. Die Stärke des Konzeptes Gen liegt im wissenschaftlichen Kontext gerade in seiner enormen Wandelbarkeit bei gleichzeitigem Versprechen faktischer Stabilität. Zwei Eigenschaften, die es in der Verbindung mit den ebenfalls fluiden Rassekonzepten in sehr unterschiedlichen Bereichen anwendbar machten. Die Flexibilität der Begriffe Gen und Rasse war dabei weniger ein Problem – obwohl beide von Anfang an etwas mehr oder weniger Statisches bezeichnen sollten, geriet die Vielzahl und Fluidität der Bedeutungen eher zum Vorteil. Gen und Rasse agierten vielmehr als unscharfe Bindungsbegriffe, als »boundary objects« (Star/Griesemer 1989) und entfalteten sowohl im allgemeinen Gebrauch als auch im spezialisierten partikularen Einsatz, mit zum Teil erheblich divergierenden Bedeutungen, enorme Verknüpfungen miteinander in so unterschiedlichen disziplinären Zugängen wie der typologischen Rassenkunde, der Seroanthropologie, der Populationsgenetik, der Verhaltens- oder Intelligenzforschung sowie dem Alltagsverständnis. Die Gene waren dabei gerade auch für die Rasseforschung so produktiv, weil sie selbst über Jahrzehnte weitgehend im Bereich des Mythischen verblieben und als Meistermoleküle der Vererbung äußerst unterschiedliche Vorstellungen auf sich vereinigen konnten, obwohl oder gerade weil deren Stofflichkeit und Funktionalität lange unklar blieb. Beide Konzepte, Gen und Rasse, bewirkten aufgrund ihrer Unterbestimmtheit immer wieder neue Forschungsbemühungen und behaupteten sich für sehr diverse Fragen nach Unterschieden zwischen Menschen, nach dem Verhältnis von Natur und Umwelt (nature – nurture), nach individuellen, rassischen und gesellschaftlichen Bestimmungen immer wieder als die richtigen Orte für die Antwortsuche. Genetifizierung bezeichnetௗalso jenen fortlaufenden Prozess, im Zuge dessen eine kontinuierliche Transformation von Rassekonzepten vonstattenging, durch die die Untersuchung genetischer Differenzen immer intensiver und die Verbindung von Rasseforschung und Genen immer enger geriet. Im Überblick über die verschiedenen Etappen der Genetifizierung wurde ersichtlich, wie die jeweiligen Rassemodelle durch Kurzlebigkeit und einer damit zusammenhängenden Vielzahl verschiedenster Entwürfe zur wissenschaftlichen Teilbarkeit der Menschheit gekennzeichnet sind. Die Rekonstruktion der Zentrierung um das Gen und die Genetik machte dabei neben einer Vielzahl an synergetischen ebenso widersprüchliche und gegenläufige Prozesse deutlich. Trotz der in dieser Zeit entstandenen vielfältigen Infragestellungen und Kritiken wurde Rasse jedoch nicht verabschiedet,
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stattdessen profitieren auch in der Genomik und Postgenomik die mit aktuellen molekularbiologischen Mitteln erzeugten Differenzen von der Überzeugungskraft der Genetik. Rassifizierende Konzepte unterliegen somit weiterhin vielfältigen Mutationen in Form von Erneuerungen und Reformulierungen, denen im nächsten Kapitel zu folgen ist.
Kapitel Vier
Rasse in der Post/Genomik: Die neuen Differenzen der Lebenswissenschaften …the last great battle over racism will be fought not over access to a lunch counter, or a hotel room, or to the right to vote, or even to the right to occupy the White House; it will be fought in a laboratory, in a test tube, under a microscope, in our genome, on the battleground of our DNA. Henry Louis Gates 2008a
Ab Mitte der 1970er Jahre wurden innerhalb der Genetik die dominierenden Forschungszugänge der Populationsgenetik von molekulargenetischen Ansätzen abgelöst. Zwei Entwicklungen ermöglichten diesen Wechsel: Zum einen die immense Ausweitung technischer Möglichkeiten, zum anderen die Bedeutungserweiterung, die genetische Erklärungsansätze in den Lebenswissenschaften erfuhren. Plasmide, Werkzeugenzyme, Vervielfältigungs- und Sequenziermethoden, mit denen zunächst die Dekodierung einiger DNA-Bestandteile und ab Ende der 1980er Jahre die Entzifferung vollständiger Genome möglich wurden, markieren eine neue Genetik, in der nicht mehr nur einzelne oder wenige Gene, sondern fortan in der Genomforschung (alias Genomik) große Bereiche des Genbestandes untersucht werden. Die Einführung der neuen Methoden in den 1990er Jahren ermöglichte viele neue, an der Bestimmung der DNA ansetzende, Forschungen. Herausragende Stellung hat dabei das Humangenomprojekt zur Sequenzierung der menschlichen DNA. Der innergenetische Paradigmenwechsel und der damit einhergehende Schub an Forschungen erzeugten für den Bereich rassifizierter Differenzforschung allerdings widersprüchliche Effekte: So machten die neuen Methoden einerseits
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eine Verwendung für neue Rassifizierungen möglich, andererseits entstanden mit molekulargenetischen Forschungen auch intensivierte Kritiken an rassischen Einteilungen. Diese widersprüchlichen Entwicklungen werden in diesem Kapitel in den Blick genommen, mit dem Fokus auf Modernisierungen lebenswissenschaftlicher Rassekonzepte und somit auf der Dynamik von Kontinuierung und Veränderung. Das Ziel ist es, die Gründe für die Weiterentwicklung der lebenswissenschaftlichen Ordnungskategorie herauszuarbeiten. Für eine solche Analyse der Metamorphosen stehen die in der Post/Genomik einsetzenden Forschungen und Projekte im Vordergrund. Diese Dynamiken werden hierfür an exemplarischen Projekten veranschaulicht und entlang von Entwicklungslinien strukturiert.
Differenzierende Genomik – Das Human Genome Diversity Project Das Lebenswerk des Genetikers Luigi Cavalli-Sforza ist die Untersuchung der genetischen Diversität des Menschen und die Rekonstruktion des »evolutionären Stammbaumes« menschlicher »Populationen«. Seit Anfang der 1950er Jahre untersucht er dafür mit populationsgenetischen Methoden die Verteilung bzw. die proportionalen Häufigkeiten mehrerer Blutgruppen (zunächst AB0, MN, Rhesus, später weitere) und erstellt »phylogenetische Stammbäume« der untersuchten Gruppen unter Verwendung statistischer Modelle der »genetischen Distanz«. 1 Wie zu den Differenzuntersuchungen am Blut im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, ist er einer der bekanntesten und renommiertesten Lebenswissenschaftler und forscht seit mehreren Jahrzehnten zu Differenzen zwischen Populationen, zu evolutionären Zusammenhängen zwischen menschlichen Gruppen, zu Wanderungsbewegungen des Menschen und weiteren populationsgenetischen Fragestellungen. 2
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Zunächst untersuchte Cavalli-Sforza zusammen mit seinem Studenten Antonio Maroni die »genetische Drift« und die Häufigkeit sogenannter blutsverwandter Eheschließungen anhand der Proportion von Blutgruppen in verschiedenen Gemeinden der Region um Parma. Später erweiterten er und seine Mitarbeiter diese Arbeiten um weitere statistische Methoden, mit denen sie schließlich bis zu 120 verschiedene Merkmale (die damals lediglich auf der Ebene von Proteinen untersuchbar waren, aber von ihnen dennoch »genetische Unterschiede« genannt wurden) in einem Modell zur »Kalkulation von Genfrequenzvariationen« zwischen untersuchten »Populationen« vereinten. Mit diesem Ansatz konnten sie statistische Differenzen zwischen Populationen auf einer Landkarte oder die »genetische Distanz« bzw. »genetische Verwandtschaft« zwischen unterschiedlichen »Populationen« darstellen (siehe Barrai/Cavalli-Sforza/Moroni 1962; Cavalli-Sforza 1992; Cavalli-Sforza/Bodmer 1999; Bodmer/Cavalli-Sforza 1976; vgl. Stone/Lurquin 2005). Siehe etwa Cavalli-Sforza/Bodmer 1971; Bodmer/Cavalli-Sforza 1976; Cavalli-Sforza etௗal. 1988.
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Als gegen Ende der 1980er Jahre die Möglichkeit zur Sequenzierung gesamter Genome greifbar und das Humangenomprojekt mit massiven Geldmitteln als internationales Forschungsprojekt installiert wurde, schien für Cavalli-Sforza auch die Zeit für die weitere Erforschung der Diversität der menschlichen Populationen reif, da die Untersuchungen nun nicht mehr nur anhand von Eiweißen im Blut, sondern mittels Bestimmungsmethoden direkt auf der Ebene der DNA greifbar wurden. Im Vergleich zu den Blutproteinen gelten viele Genomdaten als differenzierender und zudem in Bezug auf die evolutionäre Geschichte der Menschheit weniger beeinflusst, sodass er erwartete, mittels dieser Methode seine mit Blutuntersuchungen und linguistischen Analysen erzeugten Stammbäume menschlicher Evolution zu validieren und weiter zu verfeinern. Mit dieser Zielsetzung erschien 1991 in der Zeitschrift Genomics ein erster Aufruf zur »weltweiten Erfassung der menschlichen genetischen Diversität«. Aufgerufen wurde jedoch keinesfalls – wie der Titel vielleicht vermuten ließe – zu einer Erforschung der genetischen Diversität der gesamten Menschheit. Stattdessen wurde der Plan verkündet, das »genetische Erbe« einzelner Populationen zu sammeln und deren genetische Distanzen zueinander zu vermessen (CavalliSforza etௗal. 1991). Mit einer »Sammlung und Konservierung« von Blut und Mundschleimhautabstrich mehrerer Hundert 3 »isolierter indigener Populationen« sollte ein besseres Verständnis der Evolution der Spezies Mensch ermöglicht werden. Das Human Genome Diversity Project (HGDP) 4 ist entsprechend dieser Ziele nicht zu verwechseln mit dem Humangenomprojekt. Im Gegensatz zum Humangenomprojekt setzt das HGDP nicht an der Ähnlichkeit aller menschlichen Genome, sondern an der Unterschiedlichkeit in den Nukleinbasen-Sequenzen innerhalb menschlicher Gruppen an. In Umkehrung der mit der Populationsgenetik
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Die Anzahl der zu untersuchenden »Populationen« variiert in verschiedenen Papieren zwischen 50 und über 700. Cavalli-Sforza (1993: 409) und die Homepage des HGDP geben als vorläufiges Ziel die Sammlung von 500 der ca. 4ௗ000 bis 8ௗ000 anhand von Sprachgruppen unterscheidbaren Populationen an (http://hsblogs.stanford.edu/morrison/human-genomediversity-project/ Stand 20.8.2012). Der Beginn des HGDP wird in unterschiedlichen Berichten verschieden dargestellt. Jenny Reardon legt in ihrer Studie dar, dass die ersten Ideen und Entwürfe zum Projekt im Rahmen des zweiten Meetings des Humangenomprojekts entstanden. So habe Robert Cook-Deegan (Mitarbeiter von James Watson, Direktor des Humangenomprojekts) auf dem Treffen einen ersten Aufruf zur »Sammlung« genetischen Materials von »indigenen Populationen« gestartet und schließlich zusammen mit der Genetikerin Mary-Claire King einen Entwurf des 1991 erschienenen Artikels erarbeitet (Reardon 2005: 49ff.). In der von Linda Stone und Paul Lurquin verfassten Biographie von Cavalli-Sforza wird eine Entstehungsgeschichte erzählt, in der der Präsident der Humangenomeorganisation, Walter Bodmer, 1991 Cavalli-Sforza für den Vorsitz eines Projektkomitees anfragte, das Cavalli-Sforza schließlich mit dem Namen »Human Genome Diversity Project« versah (Stone/Lurquin 2005: 81, 161; vgl. Cavalli-Sforza 2005).
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sich durchsetzenden Konzeption von Varianz, mit der die Unterschiede vor allem innerhalb von Populationen als relevant gesetzt werden, wird mit dem DiversityProjekt auf die genetischen Differenzen zwischen menschlichen Gruppen geblickt. 5 Der erste Aufruf für das Projekt von Cavalli-Sforza etௗal. (1991) demonstriert die Projektziele in Form von Mahnungen an die vermeintlich schwindende Möglichkeit, die Belege »unseres genetischen Erbes« zu sichern, da diese »einst stabilen Populationen« durch Hunger, Kriege etc. »beeinträchtigt« und deren Geninformationen durch »Vermischung« mit Nachbarpopulationen »unwiderruflich zerstört werden«. Es gelte deshalb schnell zu sein: »Wir müssen jetzt handeln, um unser gemeinsames Erbe zu bewahren« (ebd.: 490). Aus den gesammelten Blutproben sollen die weißen Blutkörperchen in Zelllinien überführt und schließlich deren DNA extrahiert werden, um – wie Cavalli-Sforza etௗal. unterbreiten – »prähistorische Migration, natürliche Selektion, die soziale Struktur von Populationen […] und Formen von Mutationen, die unsere Spezies erfahren hat« zu dokumentieren (ebd.). In Anlehnung an die Popularität des Humangenomprojekts und dessen 3,3 Milliarden Dollar umfassende Förderung wurde das HGDP ebenfalls als big science konzipiert. Doch das Projekt wurde zu einer Zeit lanciert, in der weitgehende Kritiken an biologischen Differenzkonzepten sowohl innerhalb der lebenswissenschaftlichen Disziplinen als auch in politischen und sozialwissenschaftlichen Kontexten vorherrschten. Während in der Anthropologie, Genetik und Soziologie klare Absagen an biologische Rassekonzepte formuliert und in einer Reihe von Lehrbüchern und Lexika die Einträge zu Rasse umgeschrieben werden, stellt ein neues auf ›Differenzen zwischen Populationen‹ zielendes Forschungsprojekt eine Besonderheit dar. 6 Es muss mit den Infragestellungen biologischer Rassifizierungen umgehen können und, um nicht zu scheitern, auch neue plausible Sinnproduktionen zur Erfassung von Differenzen zwischen menschlichen Gruppen anbieten. Zunächst entbrannte schnell eine innerfachliche Kritik am Projektansatz, vor allem zu den Probeentnahmen und dem verwendeten Populationskonzept. So diskreditierte beispielsweise der Anthropologe Alan Swedlund auf einer Konferenz zu »Anthropologischen Perspektiven auf das HGDP« das Projekt als »eine
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Die Auffassung, dass genetische Differenzen zwischen Individuen innerhalb von Populationen weit größer als die durchschnittliche Differenz zwischen Populationen seien, ist kanonisiertes Wissen innerhalb der Populationsgenetik. Das Argument entstammt schon den Anfängen der Populationsgenetik und wurde 1972 zuerst von Richard Lewontin empirisch untersucht und durch weitere Studien gestützt (siehe Latter 1980; Jorde etௗal. 2000; Hinds etௗal. 2005). Auch Cavalli-Sforza stützt sich auf dieses Verständnis von Varianz, wie er bspw. in seinem Buch »Verschieden und doch gleich« (1994) ausführt. Siehe die Ausführungen zu »Erfolge der Kritik« im Kapitel »Analytik rassifizierender Gesellschaften«.
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21.-Jahrhundert-Technologie angewandt auf eine 19.-Jahrhundert-Biologie« (zit. nach Lewin 1993: 25; vgl. auch Reardon 2005: 92). Mit dieser Äußerung verweist er auf eine Biologie, in der von klarer Unterscheidbarkeit der Rassen ausgegangen wurde und in der die Wissenschaft dazu diente, diese Unterschiedlichkeit zu objektivieren. Andere Anthropologޚinnen kritisierten die Vorgehensweise, mit einem top-down Konzept von Population und rein genetischen Methoden Unterschiede zwischen menschlichen Gruppen zu untersuchen. Eine solche Forschung habe das »Potential, in rassistischer Weise interpretiert zu werden« (Moore 1996: 228, vgl. auch Lewin 1993). Die schärfste Kritik kam jedoch nicht aus dem wissenschaftlichen Bereich, sondern von Indigenous People und globalisierungskritischen NGOs. Schon in der Ausarbeitungsphase des Diversity-Projekts im Mai 1993 veröffentlichte eine Aktivistޚinnen-Gruppe, die sich vor allem gegen Saatgut- und Sortenpatentierung von Nahrungspflanzen in der südlichen Hemisphäre sowie gegen Gentechnik in der Landwirtschaft engagierte, eine ausführliche Auflistung von Problemen und Gefahren der Sammlung von genetischem Material durch das HGDP. Die Gruppe namens Rural Advancement Foundation International (RAFI) 7 stellte die Sammlung von Genen in einen Zusammenhang mit Biokolonialismus, da die Gene von Menschen, deren Überleben oftmals in Frage stehe, in den Industrieländern (vor allen den USA) patentiert und kommerzialisiert werden könnten. Außerdem problematisierten sie die immensen Kosten des Projekts, 8 kritisierten die Darstellung von Indigenen als »Isolates of Historic Interest« und spekulierten, dass es theoretisch möglich sein könne, aus den Gendaten ethnisch spezifische BioWaffen herzustellen (RAFI 1993). Die Kritik von RAFI fand international Beachtung und wurde von weiteren Gruppen aufgegriffen. Vor allem Initiativen und Verbände des Indigenous Rights Movement machten im breiten Umfang auf Probleme des HGDP öffentlich aufmerksam, indem ethische Belange ausgeführt, die mögliche Patentierung von Genen angeprangert und die sofortige Einstellung des Diversity-Projekts verlangt wurde. 9 Im gleichen Jahr 1993 trugen auch verschiedene Vertreterޚinnen
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Die Gruppe änderte 2001 ihren Namen in ETC Group (Action Group on Erosion, Technology and Concentration). Für die ersten fünf Jahre war für die Sammlung und Präparierung von 10ௗ000 bis 15ௗ000 individuellen Proben ein Gesamtbudget von 23-35 Millionen Dollar veranschlagt worden. Das beliefe sich auf 2ௗ000 bis 3ௗ000 Dollar pro Probe. RAFI problematisiert, dass diese Summe höher sei als das Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen der ärmsten 110 Länder. Die Organisation Indigenous Peoples Council on Biocolonialism (IPCB) gibt auf ihrer Homepage einen Überblick über die verabschiedeten Resolutionen und Statements verschiedener indigener Gruppen gegen das HGDP (siehe www.ipcb.org/resolutions/htmls/ summaryޚindigޚopp.html sowie Commission on Human Rights 1993). Einen Überblick über
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indigener Gruppen 10 auf der 45. Sitzung der Menschenrechtskommission des United Nations Economic and Social Council ihre Einwände gegen das »Vampire Project« vor (ECOSOC 1993: 25). In der weiteren Auseinandersetzung wurden schließlich die Ziele und Vorgehensweisen des HDGP als »neue Welle des Kolonialismus«, »Biokolonialismus«, »Biopiraterie« und »genetischer Rassismus« bezeichnet (Harry/Howard/Shelton 2000; Guerrero 2003, Guerrero 2004; vgl. auch Reardon 2001, Reardon 2005; M'charek 2005). Beide Interventionen – die Kritik von Anthropologޚinnen und die breite Absage an das Projekt durch Indigenous People – bewirkten, dass das HGDP zunächst nicht in der konzipierten Fassung umsetzbar war. Weder konnten die benötigten Forschungsmittel eingeworben werden, noch waren genug Kooperationen mit Forschenden, geschweige denn mit den anvisierten Blut- und Gewebespenderޚ innen erlangt worden. Der verwendete Ansatz ließ sich offenbar eher analog zu den in klassischen Rassemodellen unternommenen Teilungen interpretieren. Insbesondere die Vorstellung, mittels Proben von wenigen Individuen der einzelnen Populationen (zunächst wurden 25 Proben angegeben), ausreichend Informationen über die gesamte Populationen zu erlangen, können wie die Systematisierungsversuche der Rassenanthropologie anmuten und übergehen etwa Populationsgenetikerޚinnen, die angesichts der Wanderungsbewegungen des Menschen die Idee von biologisch isolierbaren Populationen und damit bedeutungsvollen diskontinuierlichen Merkmalsverteilungen zwischen unterschiedenen Gruppen in Frage stellen (siehe etwa Livingstone 1962; vgl. auch King 2005). In einer umfangreichen Studie hat die Soziologin Jenny Reardon die Entstehung des Diversity-Projekts und die weitreichenden Kontroversen um das Vorhaben analysiert. Neben den problematischen Grundannahmen zu »Gruppen« oder »Populationen« wird in der Untersuchung außerdem ein massives Unverständnis der Interdependenzen zwischen lebenswissenschaftlicher Differenzforschung und sozialen Denk- und Handlungsformen offensichtlich. Deutlich wird dies an dem Paradox, das zwischen dem Projektansatz (der auf kategoriale Differenzierung zielt) und den Arbeiten der Protagonistޚinnen (die sich vielmals gegen Rassismus wenden) besteht und kaum spannungsreicher sein könnte: Sowohl Cavalli-Sforza als auch Mary-Claire King, eine der Mitautorޚinnen des ersten die Kritiken am HGDP bieten zudem Harry 1994, Harry/Howard/Shelton 2000; Gannett 2001; Reardon 2001, 2005; Guerrero 2003, 2004. 10 An dem Treffen nahmen Repräsentantޚinnen folgender Gruppen teil: Grand Council of the Crees of Alberta (Quebec), Indian Council of South America, Indian Law Resource Center, Indigenous World Association, International Indian Treaty Council, International Organization of Indigenous Resource Development, National Aboriginal and Islander Legal Service Secretariat, Nordic Sami Council and World Council of Indigenous Peoples. Repräsentiert wurden darüber hinaus über 100 weitere Gruppen.
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Projektentwurfes, sind für ihr humanistisches und Menschenrechtsengagement bekannt. King arbeitete bspw. für ein Projekt, das die Madres de Plaza de Mayo unterstützte, die argentinischen Mütter, die Ende der 1970er Jahre jeden Donnerstag auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires gegen das »Verschwinden« ihrer Familienangehörigen, Söhne und Männer, protestierten (vgl. Reardon 2005). Cavalli-Sforza ist ebenfalls über seine Disziplin hinaus gerade für seine Aussagen gegen wissenschaftlichen Rassismus bekannt. Er wandte sich in mehreren Veröffentlichungen gegen typologische Rassekonzepte und brachte sich in die Debatten ein, die durch den Rasse-Psychologen Arthur Jensen und die eugenischen Vorschläge des Physikers William Shockley 11 angeheizt wurden (z.B. Cavalli-Sforza/Cavalli-Sforza 1994). Seine Zurückweisung von klassischen Rassekonzepten ist vielmals als Widerlegung von Rassen interpretiert und auch von antirassistischen Akteurޚinnen aufgegriffen wurden (z.B. Stone/ Lurquin 2005; Arndt/Hornscheidt 2004b). Auch sein 1994 auf Deutsch erschienenes Buch »Verschieden und doch gleich« trägt als Untertitel die Aussage »Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage«. Manchen Meldungen vom Ende des Projekts zum Trotz konnte sich dieses schließlich nach mehreren Jahren relativer Ruhe und spezifischen Ausarbeitungen zu ethischen Fragen mit etwa zehn Jahren Verspätung im Pariser Centre pour l'Etude du Polymorphism Humaine (CEPH), einer Forschungsinstitution zur Untersuchung der Varianz menschlicher Genome, instituieren. Im April 2002 erschien die erste Studienpublikation, in der die DNA von 1056 Personen aus 52 Populationen anhand von 377 DNA-Markern auf ihre Unterschiede hin verglichen wurde. Die Studie fand Differenzen in den Genomdaten vor allem zwischen Individuen innerhalb der Populationen. Ca. 93 bis 95% aller genetischen Unterschiede seien innerhalb der jeweiligen Gruppen und nur 3 bis 5% zwischen »major groups« zu finden. Dennoch reichten die wenigen Differenzdaten aus, um mittels einer statistischen Analyse Gruppierungen vorzunehmen, mit denen sich sechs »genetische Hauptcluster« abbilden ließen, von denen fünf mit »geographischen Hauptgruppen korrespondieren« 12 (Rosenberg etௗal. 2002: 2381). Mit dieser Forschung ließ sich also aufzeigen, dass die wenigen Unterschiede zwischen menschlichen Gruppen mittels eines »clustering algorithm« so aufbereitet werden können, dass sie – wenn auch mit einigen Ausnahmen – kontinentalen Großregionen zuordbar sein sollen.
11 Jensen löste 1969 mit einer Publikation zu Unterschieden im Intelligenzquotienten zwischen Rassen und Klassen eine breite Debatte um die Validität von IQ-Messungen und Aussagen über soziale Gruppen aus. Der Nobelpreisträger Shockley hatte z.B. gefordert, dass Personen, deren IQ unter dem Wert von 100 liegt, eine Sterilisation bezahlt bekommen sollten. 12 Original: »major geographic regions«.
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Die Zuordnung zu sechs Gruppen entstammt dabei einer willkürlichen Eingabe der Gruppenanzahl in das verwendete Computerprogramm Structure. Durchgespielt wurden von der Forschungsgruppe auch Einteilungen in zwei, drei, vier und fünf Gruppen, die aber nicht so nah an die traditionellen Rasseneinteilungen heranreichten. Bei einer höheren Anzahl von Gruppen teilen sich erstens mehr Ausnahmegruppen ab, wie im oberen Bild die Gruppe der Kalash, einer Ethnie in Pakistan, die bei Anwendung der erwähnten Algorithmen eine eigene »major group« bildet. Zweitens verlaufen die Gruppenzuordnungen dann innerhalb der als Population identifizierten Gruppen. Während sich also einige Akteurޚinnen des Diversity-Projekts gegen Rassismus und typologische Rassekonzepte aussprachen, präsentierte die erste Publikation des Projekts unter dem Dach des Pariser Zentrums dennoch eine genetische Ordnung der Menschheit, die gerade durch die Ähnlichkeit zu klassischen Rassekonzepten auffällt (siehe Abbildung 6, Seite 186).13 Die Gleichzeitigkeit von rassifizierenden Teilungen und gegen Rassismus gerichteten Aussagen wird mit einem Verständnis möglich, das Rassismus nur in den klassischen Rassekonzeptionen im 19. Jahrhundert, der Nazis und der Race Psychology am Werk sieht, die rassifizierenden Einteilungen der Populationsgenetik bzw. des HGDP aber als wissenschaftlich neutral darstellt. Für die Projektorganisatorޚinnen sei ihre Forschung reine Wissenschaft und habe nichts mit den sozialen Rasseverständnissen zu tun. Seit der ersten Publikation sind innerhalb des letzten Jahrzehnts unter dem Dach des
Abbildung 5: Sechs »genetische Hauptcluster« Grafik aus Rosenberg et al. 2002, S. 2382. Dargestellt wird die statistisch erzeugte Ordnung differenter genetischer Marker indem »Populationen« zu »geographischen Großgruppen« formiert werden. Die dünnen Linien repräsentieren Individuen aus den unten benannten Gruppen. Durch die unterschiedlichen Grautöne (im Original farbig) werden die sechs Cluster abgebildet.
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HGDP-CEPH über 150 weitere Arbeiten erschienen, die sich mit genetischen Differenzierungen anhand einer Reihe von Markern, wie Mikrosatelliten auf dem Y- und X-Chromosom, mitochondrialer DNA, mit Haplotyp-Frequenzen oder Linkage Disequilibrium beschäftigen. 14 Hinzu kommt, dass die Projektidee mehrere weitere genetische Differenzuntersuchungen mit ähnlichen Zielen induzierte. So sind das International HapMap Project, das 1000 Genomes Project und Genographics mehr oder weniger Folgeunternehmen des Diversity-Projekts und führen insbesondere die Vorstellung weiter, dass Menschen mittels Genanalysen eindeutig in distinkte Gruppen unterteilbar seien. Das HGDP steht damit paradigmatisch für eine Reihe neuerer Ansätze, mit denen Rassemodelle in lebenswissenschaftlichen Projekten weiter getragen und neu konzeptionalisiert werden. In ähnlichen aktuellen lebenswissenschaftlichen Rassifizierungen finden sich ebenso hoch widersprüchliche Aussagen, in denen Kritiken an Rassismus und überkommenen Rassemodellen mit neuen rassischen Einteilungen verbunden werden. Als ambivalentes Projekt der programmatischen Absagen an typologische Rassenkategorisierungen bei gleichzeitigem Weitertragen rassifizierender Vorstellungen von ursprünglich ›unvermischten Populationen‹, die durch ein paar Dutzend Proben repräsentierbar seien, zeigt das HGDP, wie vielschichtig Aussagen in den neuen Projekten der Rasseforschung sein können. Die populationsgenetischen Ergebnisse bedeutender Variabilität, kontinuierlicher und diskordanter Merkmalsverteilungen sowie die Kritiken und Absagen an überkommene Rassekonzepte führten letztlich keinesfalls zu einem Ende kategorial teilender Forschungen. Ausgehend von den im Diversity-Projekt deutlich gewordenen Widersprüchen aktueller Forschungen und Ambivalenzen von Kritik und Modernisierung werden im Folgenden Entwicklungsdynamiken aktueller lebenswissenschaftlicher Forschungen sowie Probleme der Analyse von Modernisierungsprozessen erörtert.
13 Die Widersprüchlichkeit der Arbeit des Diversity-Projekts wird auch schon in vorhergehenden Arbeiten Cavalli-Sforzas deutlich. So äußerte er sich bspw. in einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit, dass »Weiße, Schwarze oder Gelbe« keine Rassen bildeten, um im Weiteren dann als Ergebnis einen genetischen »Stammbaum der Menschheit« zu präsentieren, der es ermögliche, die »heutigen Völker in sieben große Gruppen einzuteilen: »Afrikaner, Kaukasier, Amerindianer, Nordasiaten, Südasiaten, Insulaner aus dem Pazifik und Australier« (Cavalli-Sforza 1992: 17). Somit gibt es für ihn nicht drei, sondern sieben Rassen, die jetzt jedoch »große Gruppen« genannt werden. Daran wäre allerdings nichts neu, sieben »Varietäten der menschlichen Rasse« sind schon 1775 von dem englischen Anatomen John Hunter verkündet worden. 14 Siehe www.cephb.fr/en/hgdp/diversity.php, Stand 21.8.2012
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Von der Genetik zur Genomik zur Postgenomik Die Genomik ist im engen Sinne ein Anwendungsfeld der Molekularbiologie, in welchem der gesamte Nukleotidbestand der DNA verschiedener Organismen sequenziert und einer funktionalen Analyse unterzogen wird. Kennzeichnend für die Genomik ist über die angewandten labortechnischen Untersuchungsmethoden zur Darstellung der Basenfolge großer Bereiche der DNA oder gesamter Genome hinaus ihre immense symbolische Aufladung als Entzifferin und Heilsbringerin des Lebens. Die Genomik ist dabei keinesfalls als völlig neue Genetik oder gar als Postgenetik zu verstehen, sondern bildet stattdessen eine Weiterführung der Ziele und Vorstellungen der Ära der Genetik. Entsprechend wird sie in vielen aktuellen Darstellungen als aktuellste Form der Genetik dargestellt. Als Modernitätssymbol lässt Genomik an große internationalen Forschungsunternehmungen wie das Humangenomprojekt denken und beinhaltet jene Fortschrittshoffnungen, die das »Knacken des genetischen Codes«, den Blick in das »Buch des Lebens« und damit ein Verständnis der Essenz des Menschen versprechen. Doch der dem Begriff inneliegende Modernismus hat schon in der Hochphase während des Humangenomprojekts zu seiner eigenen Überholung geführt. Schon während des Sequenzierungsprojekts zeichnete sich eine Ausweitung auf weitere Forschungsgebiete ab – wie etwa die Analyse des Proteinbestands und die Regulierung auf Zell-, Organ- u. Organismusebene. Mit diesen Ausweitungen einher ging auch die Infragestellung gendeterministischer und einseitig um Genetik zentrierter Ansätze, sodass über die Genomik hinaus heute auch von Postgenomik gesprochen wird. In der Transformation zur Genomik und Postgenomik etablierte sich die Molekulargenetik als hegemoniale Arbeitsform genetischer Wissensproduktion. Mit dieser Entwicklung wurde Leben zunächst noch enger um die DNA als zentrale und ursprüngliche Instanz herum angeordnet. Aber die Genomik bewirkte letztlich auch eine Öffnung dieser Zentrierung. So konnte mit der Lesbarkeit der einzelnen Nukleinbasen zwar einerseits der Traum von der Erkennbarkeit der Grundlagen des Lebens realisiert werden, andererseits traten aber in den Untersuchungsergebnissen schnell deren Begrenzungen zu Tage. Die Genomik erzeugte somit eine Ambivalenz, deren eine Seite die Fortführung gendeterministischer Ansätze vornimmt, indem sie sich um die Entzifferung genetischer Codes, die Differenz- und Funktionsbestimmung von DNA-Abschnitten sowie die Intervention mittels genetischer Therapien zur Korrektur ›krankmachender‹ bzw. ›dysfunktionaler‹ Gene dreht, und deren andere Seite für eine Überwindung derartiger Ansätze und für die Erweiterung der Forschungsansätze und für eine
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Postgenomik plädiert. 15 Die »intensive Neu- und Umgestaltung« der Lebenswissenschaften (Rabinow/Bennett 2009) blieb damit aber lediglich partiell, weil auch die postgenomischen Ansätze weiterhin in einer Relation zu den Kausal- und Determinismusmodellen stehen und bisher keinesfalls einen Bruch mit der Ikonisierung genetischer Forschung und ihren Erklärungen des Lebens herbeiführten. Beide Begriffe – Genomik und Postgenomik – bezeichnen damit im engen Sinne jene Laborpraxis zur Sequenzierung der DNA, stehen aber auch als Chiffre für aktuelle Denk- und Handlungsweisen zur Beschreibung sowie zur Normativität des Lebens und damit des Menschen. Die Post/Genomik ist somit als ein zwiespältiges Phänomen zeitgenössischer lebenswissenschaftlicher Forschung zu verstehen, in der einerseits um die Bestimmung des Lebens, der Differenz und die Möglichkeiten konstruktiver Eingriffe gerungen und anderseits versucht wird, über die Begrenzungen bisheriger genetischer Ansätze hinauszugehen. Auf Grundlage dieser Ambivalenz richtet sich der Blick im Weiteren neben den technischen Aspekten der Ausweitung von Analysemethoden auch auf die Verschiebungen, die mit der Post/Genomik einhergehen – nicht nur innerhalb der Biowissenschaften, sondern auch in Bezug auf politische, ethische bzw. gouvernementale Aspekte der Ideen, Standards und Praxen jener Relation zwischen den Lebenswissenschaften und rassifizierender Differenzkonzepte. 16 Denn mit der Entwicklung der Genetik zur Genomik und Postgenomik ging eine Veränderung des genetischen Wissensobjekts einher, die auch Auswirkungen auf die rassifizierte Differenzforschung hatte: Statt spezifischer Merkmale, wie wenige Proteine oder einzelne Gene, rückte mit den Sequenzierungstechnologien das gesamte Genom in den Möglichkeitsrahmen lebenswissenschaftlicher Forschung. Die DNA als Hoffnungsträgerin der Entschlüsselbarkeit des Lebens sollte nun endlich auch die Differenzen zwischen den Individuen in ihrer ganzen genetischen Fülle zugänglich werden lassen. Proteinbasierte Differenzanalysen wurden mit den genomischen Methoden weitgehend delegitimiert und fast vollständig durch die Darstellung von Genen und einzelnen Nukleinbasen verdrängt. Einerseits ermöglichte dies, rassifizierte Differenz auf der Ebene von Basensequenzen zu konzipieren. Andererseits gerieten die vorhergehenden Darstellungen typologischer, serologischer und proteinanalytischer Methoden mit der forcierten Molekularisierung von Differenz nicht nur außer Mode, sondern noch mehr in Kritik. 15 So gelte es epigenetische Phänomene, die Zellaktivität sowie den Organismus als Ganzes zu erfassen, und zwar mit systemischen Ansätzen, in denen Gene nur ein Faktor neben Umwelteinflüssen und Regulationen auf Protein-, Zell- und Organ- und Organismusebene seien (vgl. Müller-Wille/Rheinberger 2009). 16 Siehe zur Analyse der Genomik und Postgenomik und den damit einhergehenden Verschiebungen Rose 2001, 2007; Cooper/Kaufman/Ward 2003; Lemke 2004, 2007; Epstein 2007; Fujimura/Duster/Rajagopalan 2008; Lemke/Wehling 2009.
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Im Sinne postgenetischer Ansätze geht rassifizierende Differenzforschung jedoch mit den erweiterten forschungspraktischen Möglichkeiten über die Gene hinaus. Statt der Grundeinheiten der Merkmalsausprägung und Entwicklung geraten in aktuellen Projekten nunmehr einzelne Nukleinbasen und nichtcodierende Basenwiederholungen in den Fokus. Punktmutationen und Mikrosatelliten (die kleiner sind als Gene bzw. außerhalb dieser liegen und die nach derzeitigem Kenntnisstand der Genetik keinen Einfluss auf Merkmalsausprägungen haben) werden in aktuellen Projekten rassifizierter Differenzforschung zu den entscheidenden Signaturen der Differenz. Gleichzeitig kommt es sowohl in sozialwissenschaftlichpolitischen Analysen als auch in den genetischen Biowissenschaften zu weiter verstärkten Absagen an Rasse. Die rassifizierenden Differenzkonzepte geraten unter den neuen Forschungsmethoden ebenfalls unter Veränderungsdruck, der Remodellierungen in Rassekonzeptionen, in Forschungslegitimationen und in den Kritikformen erzeugt. Zur Frage steht angesichts der Neugestaltung rassifizierender Modelle und der Fortführung jener Suche nach der Natur der Differenz, wie aktuelle Entwicklungen gerade in ihrer Inklusion von Kritik und in ihren Modernisierungen analysiert werden können.
Modernisierungslinien rassischer Differenz Mit dem Begriff der Modernisierung sind in soziologischer Perspektive eine Reihe von Theorien verknüpft, mit denen historisch etwa die wissenschaftliche Revolution, der Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften, die Industrialisierung, aber auch Prozesse der Differenzierung, Mobilität, Demokratisierung, Verrechtlichung etc. beschrieben und erklärt werden sollen. Modernisierungstheorien brechen dabei meistens mit dem Geschichtsdeterminismus der klassischen soziologischen Stufen- und Stadienmodelle und betrachten stattdessen Entwicklungsdynamiken, Triebkräfte oder Hemmnisse der Entwicklung zeitgenössischer Gesellschaften. Die gängigen Modernisierungstheorien folgen zumeist affirmativen Konvergenzthesen und stellen mittels Schlagwörtern wie Globalisierung, Enttraditionalisierung, Pluralisierung vor allem integrative und Ungleichheit (tendenziell) nivellierende Wirkungen heraus. Im Unterschied zu diesen Verwendungen dient der Modernisierungsbegriff hier aber nicht dazu, Modernisierungstheorien zu folgen oder die Debatte um Postmoderne, radikalisierte, reflexive, Spät- oder zweite Moderne weiter zu führen. Vielmehr fungiert er für die weiteren Überlegungen als deskriptiver und heuristischer Begriff, mit dem die Wirkverhältnisse der Bereiche Wissenschaft und Gesellschaft sowie die Entwicklungsdynamiken von Rasseforschung beschreib- und
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verstehbar werden. 17 Ziel ist es, jene empirisch auffindbare Vitalität von Rasse theoretisch zu fassen und im Zusammenhang mit allgemeinen wissenschaftlichen Dynamiken zu analysieren. Folglich werden mit dem Fokus auf die Modernisierung von Rasse sowohl die Veränderungen und Persistenzen in den Blick genommen, als auch strukturbildende Entwicklungslinien rassifizierter Differenzforschung herausgearbeitet. Der Fokus auf den Erneuerungen von Rassekonzepten dient aber nicht nur dazu, die stattgefundenen Veränderungen hervorzuheben, sondern soll gerade auch deren Widersprüchlichkeiten, Entwicklungsdynamiken, mithin die Kämpfe um Veränderungen, Absagen sowie Reartikulierungen von Rassemodellen zum Vorschein bringen. Deutlich wurde schon, dass das verbindende Element der aktuellen Bezüge auf Rassekonzepte die Referenz auf Gene ist und dass sich diese Verbindung im gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr verdichtete. Auch unter dem Paradigma molekulargenetischer Methoden und Modelle wird diese Entwicklung weitergeführt. Mit der Möglichkeit, Gene und ganze Genome zu sequenzieren sowie Differenzen zwischen Menschen und Populationen anhand einzelner Nukleinbasen darzustellen, wurde Rasse weiter genetifiziert. Aber mit einer Beschreibung der intensivierten Genetifizierung ist noch nicht alles geklärt. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Rasseverständnisse stellt eben gerade keine gleichbleibende Erneuerungs- oder Fortschrittsbewegung dar. Vielmehr sind Konstanz und Veränderung von Rasse durch Binnendifferenzierungen in den einzelnen Konstrukten rassischer Differenz sowie durch Kontingenzen zu charakterisieren. Dafür wird an die bisherigen Rekonstruktionen der unterschiedlichen rassifizierten Modelle angeschlossen und der Blick auf die aktuellen Bewegungslinien und Entwicklungsdynamiken, auf das spezifisch Neue von Rasse in der Post/Genomik gerichtet. Während im vorhergehenden Kapitel die Genetifizierung von Rasse im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Verkleinerung und Verinnerlichung der Differenzobjekte hin zu den Genen beschrieben werden konnten, vervielfältigen sich mit der Darstellbarkeit von DNA-Sequenzen die Entwicklungsrichtungen. Dem spezifisch Neuen zeitgenössischer Rassekonzeptionen ist deshalb anhand mehrerer Stränge zu folgen, entlang derer sowohl neue rassifizierende Argumentationen auftauchen als auch bestehende Rassekonzepte reformuliert werden. Hierfür werden nun die Modernisierungen der Differenzforschung entlang von Prozessen der Molekularisierung, Medikalisierung und des Bio-Integrationismus analysiert.
17 Bereits im Kapitel »Geschichte« wurde auf Spezifika der Moderne eingegangen (siehe »Differenzen und Teilungen der Moderne«).
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Molekularisierung Wie im vorhergehenden Kapitel zur Genetifizierung herausgearbeitet, vollzieht die rassifizierende Differenzforschung im 20. Jahrhundert eine Bewegung in den Körper hinein. Von den Vermessungen äußerer physischer Merkmale über die Psyche, die Blutgruppen und Proteine näherten sich die Untersuchungsmethoden zur Entdeckung von Rassenunterschieden immer weiter den Genen an, die als Urgrund der Unterschiede zwischen Menschengruppen gelten. Die Ebene der Moleküle war mit den Forschungen zu den Eiweißen als Differenzmarker und vermutete Vererbungseinheiten schon erreicht, aber die Unterschiede wurden weiterhin auf makroskopischer Ebene sichtbar gemacht. Die auch mit dem bloßen Auge sichtbaren Agglutinationserscheinungen beim Mischen verschiedener Blutgruppen, Verschuers Forschungen zur rassischen Erbbedingtheit spezifischer Eiweißkörper an Blut aus Ausschwitz oder die Proteinuntersuchungen der Populationsgenetik zur Erforschung der Verwandtschaftsverhältnisse sind allesamt formal schon molekularbiologische Vorgehensweisen. Aber zwischen diesen frühen Zugängen molekularer Forschung und den späteren molekulargenetischen Untersuchungsmethoden bestehen beträchtliche Unterschiede. Dennoch, weil mit den Untersuchungen der Seroanthropologie bereits ein molekularer Prozess untersucht wurde, lässt sich kein wirklicher Anfangspunkt der Molekularisierung rassischer Differenz ausmachen. 18 Aber mit den neuen technischen Möglichkeiten der Differenzuntersuchungen auf molekularer Ebene und insbesondere der Sequenzierung von Genen gingen weitreichende Veränderungen in der Differenzforschung einher. Für die Untersuchung dieser Modernisierung bezeichnet der Begriff Molekularisierung also zweierlei: Erstens die Realisierung von Untersuchungsmethoden, die Moleküle wie Proteine und DNA darstellbar machten, sowie zweitens jene Bewegung, die parallel zur Herausbildung der klassischen Genetik zu einer Molekularisierung der Biologie, ihrer Untersuchungseinheiten und der Objekte ihrer Experimentalanlagen führte. Wie die Wissenschaftshistorikerޚinnen Lily Kay (2005) sowie Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille (2009) in Studien zur Vererbung und 18 Die in der innerdisziplinären Geschichtsschreibung der Molekularbiologie postulierten Anfänge scheinen eher willkürlich statt inhaltlich gesetzt. Der Begriff »Molekularbiologie« wurde 1938 von Warren Weaver, dem Direktor der Rockefeller Foundation, begründet, um die spezifische Kleinheit (minuteness) biologischer Entitäten hervorzuheben (vgl. Kay 1996: 4). 1949 beschrieben Linus Pauling und seine Kollegen die Sichelzellenanämie als »molekulare Krankheit«, da sie eine Trennung der Hämoglobin-Proteine von roten Blutkörperchen mit und ohne Veränderung durchführen konnten (Pauling etௗal. 1949).
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zum genetischen Code herausarbeiten, vollzog sich ein »gründlicher Wandel des klassisch-genetischen zum molekulargenetischen Dispositiv« (ebd.: 209), was zu einer Molekularisierung des Vererbungsdenkens und schließlich zu einer neuen Biologie führte, in der die Molekulargenetik zum Grundmodell der Biowissenschaften erkoren wurde (Kay 1996: 4, 2005: 363). Die Molekularisierung ist somit mehr als nur eine Verkleinerung der Untersuchungsobjekte, mehr als nur ein forschungsmethodisches Erreichen jener Orte der Differenz, die als ausschlaggebend, als Ursache aller weiteren biologischen Unterschiedlichkeiten angesehen werden. Die technischen Möglichkeiten führten zu einer, wie Kay es nennt, »neuen technologischen Landschaft« (1996: 5), in der Geräte wie Lichtmikroskope und Petrischalen etc. durch Elektronen-, Röntgen- und Interferenzmikroskope, Ultrazentrifugen, Elektrophorese-Apparaturen, Spektroskopie und Isotope ersetzt wurden. Auf Basis dieser umfangreichen Technisierung biowissenschaftlicher Experimental-Assemblages vollzog sich eine Umgestaltung, die zu einer neuen Qualität lebenswissenschaftlicher Forschung und zu einem »Übergang von einem organismischen und zellulären zu einem subzellulären und schließlich zu einem molekularbiologischen Wissensregime« führte (Rheinberger/Müller-Wille 2009: 220). Im Zuge dieses Übergangs von den Organismen zu molekularen Komponenten des Lebens wurde vor allem das Gen zu jenem ›Gral des Lebens‹, jener ›Ikone‹, um die biowissenschaftliche Erkenntnisproduktion seitdem kreist. Im Bemühen um diskursive und forschungspraktische Vorherrschaft obsiegte das Gen im 20. Jahrhundert über andere Differenzforschungsobjekte und nimmt gegenwärtig noch immer den zentralen Platz auf den Narrativen von der Wahrheit über die Essenz des Lebens ein. 19
Die Sequenzierung des Lebens Dass die Gene zu den Komponenten, zur Essenz des Lebens und der Differenz sowie mit ihnen die Molekularbiologie zur Molekulargenetik werden sollten, war im Vorhinein unabsehbar. Vielmehr war die Molekularisierung in ihren Anfangsjahren keineswegs nur auf die Erreichung der Gene ausgerichtet. Die ersten molekularisierten Untersuchungen in den 1930er und 40er Jahren fanden an Proteinen statt, und die Vorstellung von Vererbungseinheiten war aufgrund unterschiedlicher Konzeptualisierungen der Entitäten ebenfalls breiter als die heutige genzentrierte Geschichtsschreibung in Bezug auf die Entstehung der Molekularbiologie tradiert. Die erste Sequenzierung organischer Moleküle erfolgte in den frühen 1950er Jahren entsprechend auch nicht an Nukleinbasen, sondern am Protein Insulin (Kay 2005: 19 Siehe auch die Ausführungen im Kapitel »Genetifizierung«.
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25; vgl. Kay 1996 u. Rheinberger/Müller-Wille 2009). Erst allmählich wurden nach Etablierung der Nukleotidtheorie der Vererbung in den 1950er und 60er Jahren die Gene zu jenen zentral gesetzten Untersuchungsobjekten. Für die Rasseforschung wie für weitere Bereiche der biologischen Differenzforschung blieben jedoch die Proteine bis in die 1980er Jahre vorherrschend, da Gene nur schwerlich zugänglich waren. Erst mit den Methoden der Klonierung von DNA-Fragmenten in Bakterienzellen ab den 1970er Jahren rückten die Gene auch forschungspraktisch (theoretisch und in den Darstellungen der Proteinuntersuchungen waren die Forschungen schon als genetische ausgewiesen) in den Möglichkeitsrahmen rassifizierter Differenzforschung. Die erste quasi vollständige Genomsequenz (eines Bakteriophagen) realisierte 1977 das Forschungsteam um den Biochemiker Frederick Sanger, und ab Mitte der 1980er Jahre ermöglichte es die PCRTechnologie, große Mengen von DNA zu replizieren sowie schließlich das Humangenom und den DNA-Bestand weiterer Organismen zu sequenzieren (Rabinow 1996; vgl. auch Kapitel »Genetifizierung«). Mit der Aufklärung der DNA-Struktur, der ›Übersetzung‹ der Basenabfolge im Genom in eine Codierung für Proteine sowie schließlich mit der Einführung der PCR-Technologie wurde einerseits ein enormer Raum erschaffen, in dem Fragen zur Vererbung, zur Natur/Umwelt-Relation und zur Differenz neu angegangen und produktiv bearbeitet werden konnten. Die technische Seite der Molekularisierung ermöglichte somit einen neuen Zugriff auf das Lebendige und damit zugleich eine weitere Autorisierung biowissenschaftlicher Forschung als die Essenz des Lebens abbildendes Unternehmen. Die Zentrierung der biowissenschaftlichen Forschungspraxen und Theoretisierungen um das Gen begrenzte jedoch im Sinne einer Pfadabhängigkeit die experimentellen Settings sowie die theoretischen Konzeptualisierungen materialer Aspekte des Lebens. Andere Zugänge, etwa von nicht in Anlage und Umwelt trennenden Entwürfen oder auch nur andere Essentialisierungen wurden mit der Dominanz molekulargenetischer Ansätze nur noch marginal denkbar oder ganz ausgeschlossen. Für die rassifizierende Differenzforschung ließ jene Zentrierung um die Gene vielfältige Erneuerungsimpulse erwarten. Jedoch standen erst allmählich Methoden gruppendifferenzierender genetischer Forschung zur Verfügung, und zudem kam es mit den Ergebnissen der genomischen Forschung am Menschen zu weiteren entschiedenen Absagen an biologische Rassekonzepte. Wie diese gegenläufigen Effekte wirkten und wie Untersuchungsbemühungen zu rassischen Unterschieden mit den molekulargenetischen Settings produktiv umzugehen vermögen, wird im nächsten Schritt untersucht.
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Genetische Marker der Differenz: Vom Blut zu Mitochondrien, Satelliten und repetitiver DNA Schon die Seroanthropologie und die Populationsgenetik erzeugten eine Fülle von Studien, in denen etwa »rassische Differenzen in Genfrequenzen verschiedener polymorphischer Loci« (Nei/Roychoudhury 1974: 421) dargestellt oder die menschliche Stammesgeschichte mittels »genetischer Information« anhand der Analyse sogenannter »genetischer Distanz« zwischen Populationen bestimmt wurden (Cavalli-Sforza etௗal. 1988: 6002). Zwar waren keine Darstellungen dazugehöriger Gene auf der DNA möglich, aber mittels statistischer Verfahren und den Mendelschen Vererbungsregeln schlossen die Forscherޚinnen auf verursachende Gene und stellten ihre Untersuchungsergebnisse entsprechend – wie etwa Nei und Roychoudhury oder Cavalli-Sforza etௗal. – als genetische Forschungen dar. Aufgrund dieser schon üblichen genetischen Darstellungsform und wegen der Verwendung einer standardisierten Abbildungstechnik – der Elektrophorese 20 – lässt sich für beide Untersuchungsmethoden kein entschiedener Bruch im Übergang von Differenzuntersuchungen an Eiweißen und genetischen Unterschieden auffinden. Dennoch ändert sich mit der Erfindung von direkt an der DNA ansetzenden Nachweismethoden die rassifizierte Differenzforschung, wenn auch erst allmählich in einem fließenden Übergang von populationsgenetischer zu molekulargenetischer Differenzforschung. Türöffner für die genetische Darstellung von Differenzen waren Studien zum menschlichen Blut. In der Untersuchung jenes schon bekannten Stoffs der Seroanthropologie und Populationsgenetik wurden verschiedene Techniken verwendet, die schließlich die Darstellung genetischer Differenz auf der Ebene der DNA möglich machten. Mit dem Wissen um verschiedene Polymorphismen, die sich in den unterschiedlichen Blutgruppen-Proteinen sowie in verschiedenen Krankheitsbildern (wie der Sichelzellenanämie) ausdrücken, untersuchten die Molekularmedizinerޚinnen Yuet Wai Kan und Andrée M. Dozy Ende der 1970er eine Region des menschlichen Genoms, an dem Gene der menschlichen HämoglobinProteine aufgefunden wurden. 21 Die beiden griffen dabei ein Verfahren auf, das
20 Ab den 1950er Jahren wurde zunehmend die Gelelektrophorese als Verfahren zur Auftrennung unterschiedlicher Moleküle verwandt. Das Verfahren stammt aus den 1930er Jahren und spaltet verschiedene elektrisch geladene Bestandteile organischer Lösungen auf. Nach wie vor ist das Verfahren zur Protein- und DNA-Analytik im Gebrauch, und die erzeugten Bilder in Form von charakteristischen Bandenmustern gehören zum Standardrepertoire populärer Darstellungen der Gendiagnostik (siehe Abbildung 6). 21 Die Region für die Gene wurde mittels der für β-Globine codierenden RNA und daraus hergestellter Klone (cDNA) und einer sogenannten Southern blot hybridization analysis auf dem Chromosom 11 identifiziert (Jeffreys 1979: 1).
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Abbildung 6: DNA-Muster mittels Gelelektrophorese
Ausschnitt aus einem mittels Gelelektrophorese erzeugten Bandenmuster von DNAFragmenten. Je nach Höhe der Bande werden verschiedene Fragmentgrößen abgebildet, die Helligkeit ist relativ zur Konzentration. Foto von Mnolf, Wikimedia Commons, lizenziert unter GFDL & CC ShareAlike 2.0, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/60/Gel_electrophoresis_2.jpg.
mittels molekularer Scheren – sogenannter Restriktionsenzyme – DNA-Stücke unterschiedlicher Längen erzeugte und als restriction fragment length polymorphism (RFLP) sichtbar machen konnte (siehe Abbildung 6). Unterschiede in der DNA waren zu jener Zeit nicht anhand unterschiedlicher Basenabfolgen ablesbar. Stattdessen mussten mittels einiger Enzyme, die aus Bakterienzellen extrahiert werden konnten, Bruchstücke der DNA hergestellt werden, die dann mittels elektrophoretischer Trennverfahren anhand ihrer Anteile an unterschiedlichen Längen sortiert werden können. Da die jeweiligen Enzyme die DNA an sehr spezifischen Stellen, also an immer der gleichen Basenabfolge, zerschneiden, erzeugt jede kleine Änderung der DNA an dieser Stelle eine Störung des Schnitts, sodass verschieden lange DNA-Stücke entstehen, deren Unterschiede mit der Gelelektrophorese sichtbar gemacht werden konnten. Die Bestandteile der DNA wurden also nicht sequenziert, sondern lediglich die durch Enzyme aufgeteilten DNA-Fragmente ihren unterschiedlichen Moleküllängen nach aufgeteilt und das damit erzeugte Muster mit dem anderer Genome verglichen.223 22 Grundlage dieser Technik waren Beobachtungen aus den 1950er Jahren, dass einige Bakterienzellen pathogene Phagen-DNA durch Zerschneiden abwehren können. 1970 wurde darauf aufbauend das erste spezifische Schneide- bzw. Restriktionsenzym isoliert, mit dem DNA in immer gleiche Fragmente zerteilt werden konnte. Beispielswiese schneidet das Enzym »Endonuklease EcoRI« die Basenfolge G|AATTC zwischen den Nukleinbasen Guanin und Adenin. Die Anwendung der Restriktionsenzyme gilt zusammen mit der Elektrophorese und der
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Kan und Dozy (1978) bemerkten unter Nutzung dieser Restriktionsenzyme einen Polymorphismus der DNA, der mit Teilen des Hämoglobinmoleküls menschlicher Blutzellen zusammenhänge. In einer Untersuchung von »46 schwarzen Individuen«, von denen 16 rezessive Trägerޚinnen des Sichelzellen-Gens waren sowie »12 Caucasians und 15 Asians mit normalem Hämoglobin« stellten sie zwei durch die Enzyme in unterschiedliche Längen geschnittene DNA-Fragmentvarianten fest (ebd.: 5631). Die beiden Forscher erkannten schnell die Anwendungsmöglichkeiten ihrer Analysetechniken, die als »neue Klasse genetischer Marker« für Kopplungsanalyse und anthropologische Studien nützlich sein könnten. Aufbauend auf diesen direkt an der DNA ansetzenden Differenzstudien forschte zur selben Zeit der Genetiker Alec Jeffreys ebenfalls mit Restriktionsenzymen im Genbereich eines der Proteinteile des Hämoglobins. In seiner 1979 publizierten Studie an 60 Personen (davon »52 normale Individuen und acht Asiatic mit β-Thalassämie« 23) untersuchte er die DNA der weißen Blutzellen auf mit Schneideenzymen sichtbar zu machende Varianzen und konnte drei verschiedene Muster von Globin-DNA-Fragmenten feststellen (Jeffreys 1979: 1). Auch er sah offenbar sofort die Nutzungsmöglichkeiten seines Differenzierungsverfahrens und verkündete, dass die »DNA-Sequenz-Varianten nützliche Marker zur Untersuchung von Populationsstrukturen und dem Ursprung der menschlichen Rassen sein können« (ebd.: 8). Kurz nach den ersten Differenzierungsstudien anhand von Hämoglobingenen wurden in Untersuchungen der Mitochondrien-DNA 24 ebenfalls vielfältige Unterschiede nachgewiesen. Ausgehend von der These, dass mitochondriale DNA mit einer höheren Rate als Kern-DNA evolviere und zudem nur matrilinear 25 vererbt werde, begannen mehrere Evolutionsforscherޚinnen damit, mithilfe der Restriktionsenzyme stammesgeschichtliche Zusammenhänge zwischen verwandten Spezies z.B. bei Affen (Ferris etௗal. 1981) sowie innerhalb von Arten auf
Klonierung von DNA-Fragmenten in Bakterienplasmiden als technische Voraussetzung der Molekulargenetik (vgl. Roberts 2005). 23 β-Thalassämie ist wie die Sichelzellenanämie eine Erkrankung aufgrund veränderter roter Blutkörperchen. Unter den Ausführungen zum experimentellen Vorgehen konkretisiert Jeffreys die untersuchten Personen als: »50 normal North Europeans, one normal Asian, seven Asians having β-thalassemia minor, one Asian having β-thalassemia major and one normal Chinese.« (1979: 9) 24 Mitochondrien sind Zellorganellen, die vor allem für die Energieversorgung der Zelle eine wichtige Rolle spielen und über einen eigenen, von der Kern-DNA unabhängigen DNAStrang verfügen. Die erste Sequenzierung von mDNA wurde teilweise an sogenannten HeLa-Zellen, Karzinom-Epithelzellen von Henrietta Lacks durchgeführt (M’charek 2005: 95). 25 In der Forschungsliteratur wird fast ausschließlich von einer matrilinearen Weitergabe der Mitochondrien ausgegangen. Für einzelne Ausnahmen siehe etwa Bromham 2003.
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der Ebene von Populationen zu untersuchen (Avise/Lansman/Shade 1979; vgl. auch Johnson etௗal. 1983: 255). Ebenfalls in dieser Zeit beschrieben die beiden Molekularbiologޚinnen Arlene R. Wyman und Raymond White einen »hoch variablen Polymorphismus« (1980) in der Kern-DNA, den sie in einer Mormonen-Familie auffanden und mit dem DNA-Muster anderer Individuen verglichen. Unter Nutzung mehrerer Restriktionsenzyme konnten sie Regionen im Genom ausmachen, die zum einen in Form vielfacher Wiederholungen von Basenabfolgen, sogenannter Minisatelliten, vorlagen und zum anderen offensichtlich so schnell variierten, dass vielfältige Unterschiede zwischen Individuen sichtbar gemacht werden konnten. Da manche dieser Genom-Bereiche sogar innerhalb von Geweben variieren können und umso eher auch zwischen Generationen unterschiedliche Längen aufweisen, wurde es möglich, anhand derartiger Polymorphismen sowohl VerwandtschaftsBeziehungen als auch Differenzen zwischen Gruppen, Populationen, Völkern und Rassen zu untersuchen. 26 Nach den serologischen und elektrophoretischen Methoden zur Differenzbestimmung von Proteinen ermöglichten diese neuen Analyseansätze somit erstmals, Variabilität direkt auf der Ebene der DNA sichtbar zu machen. Allerdings waren die RFLP-Varianten fast ausschließlich in Bereichen aufzufinden, die als nichtcodierend gelten, weshalb sich die Unterschiede (nach vorherrschendem GenModell) nicht in physische Differenzen umsetzen. Dies widerspricht zwar den gängigen Rassevorstellungen, die von physischen in den Genen codierten Unterschieden ausgehen, aber dennoch wurden in derartigen vielfachen BasensequenzWiederholungen, verteilt auf dem gesamten menschlichen Genom, schnell Anwendungsmöglichkeiten für forensische Bestimmungen und für kommerzielle Verwandtschafts- wie Vaterschaftstests gesehen. In Bereichen der evolutionären Forschung und vor allem forensischen Identifikationsuntersuchungen entwickelten sich zudem schnell produktive Anwendungsfelder, die nun erörtert werden.
26 Das Abbildverfahren basiert auf der Darstellung der schon behandelten RestriktionsfragmentLängenpolymorphismen (RFLPs). Neu sind die als Minisatelliten benannten DNA-Teile, welche aus 5-100fachen Wiederholungen einer Basenabfolge von 10 bis z.T. mehr als 100 Basen wie z.B. ACAGTGGGGAGGGG bestehen. Unterschiede in diesen besonders anfälligen DNA-Bereichen entstehen, so wird angenommen, durch Veränderungen während der chromosomalen Rekombination (Crossing-over) bei der Bildung der Keimzellen. Die daraus resultierenden Längenunterschiede dieser DNA-Abschnitte können mittels Gelelektrophorese sichtbar gemacht und somit verschiedene Individuen miteinander verglichen werden (siehe Wyman/White 1980; Roberts 2005).
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Der Junge aus Ghana und die Knochen von Mengele Eine der Anwendungen im Bereich der rechtsmedizinischen Identifikationsuntersuchungen ist das 1984 von der Arbeitsgruppe um Alec Jeffreys entwickelte Verfahren zu Erstellung eines »Genetischen Fingerabdrucks«. Dieses Verfahren wurde zu einer Standardanwendung DNA-basierter biologischer Identifikationen in der Forensik, in Verwandtschaftstests und anthropologischen Untersuchungen (Jeffreys/Wilson/Thein 1985a u. 1985b; vgl. auch Zagorski 2006). Unter Verwendung mehrerer auf dem Genom verteilter Minisatelliten (siehe Fußnote 26) und chemisch oder radioaktiv markierter Gensonden, die an diesen Stellen bei Passung anhaften, konnte ein hochindividuelles Muster erstellt werden, das zudem jeweils Teile des Musters der Eltern enthält. Der erste »Anwendungsfall« des Genetischen Fingerabdrucks wurde 1985 ein Junge, der mit seiner Mutter und Geschwistern in Großbritannien lebte. Nach einem Aufenthalt in Ghana wurde seine Identität von der britischen Einreisebehörde infrage gestellt und er dadurch unter dem »Verdacht auf illegale Einreise« von Abschiebung bedroht. Die Juristin Sheona York, die den Jungen und seine Familie in dem daraus entstehenden Rechtsfall vertrat, stieß in einer britischen Zeitung auf einen Bericht über einen möglichen Gentest, um Elternschaft nachweisen zu können. Die Forschungsarbeit, auf die der Bericht rekurrierte, war ein Artikel von Jeffreys zusammen mit den beiden Genetikerinnen Victoria Wilson und Swee Lay Thein, in dem sie die Anwendung des Genetischen Fingerabdrucks neben einem »allgemeinen Gebrauch in Segregationsanalysen beim Menschen« zur genetischen Bestimmung von Elternschaft beschreiben (1985a: 72). Die bis dahin üblichen Methoden wie der Blutgruppenvergleich und weitere serologische Methoden führten oftmals zu keinem hinreichend sicherem Ergebnis und hatten im Fall des Jungen die Verwandtschaft nicht eindeutig bestätigt (vgl. Jeffreys 2005). In Folge des Artikels fragte York die Genetikerޚinnen an, einen Gentest zur Feststellung der Verwandtschaft des Jungen durchzuführen. Der von der Forschungsgruppe durchgeführte Test zeigte schließlich ein genetisches Muster des Jungen auf, das mit dem der Mutter und den Vateranteilen im Genom der Geschwister übereinstimmte. Die britische Einwanderungsbehörde stellte den Fall daraufhin ein, und der Junge konnte bei seiner Familie in Großbritannien bleiben (Jeffreys 2005). Ab Ende der 1980er Jahre konnten weitere DNA-Bestandteile, die aus Wiederholungen weniger, nur noch zwei bis maximal sieben, Nukleinbasen bestehen und bis zu 100-mal aneinandergereiht vorkommen, für Differenzbestimmungen nutzbar gemacht werden. Diese auch als Mikrosatelliten (nicht zu verwechseln mit Minisatelliten) bezeichneten Basenwiederholungen bestehen aus sogenannten short tandem repeats (STRs), deren Anzahl an Wiederholungen mit den schon
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beschriebenen Verfahren festgestellt werden kann. 27 Derartige STRs sollen bedeutend häufiger als die Minisatelliten im Genom vorkommen, weshalb sie – so die Annahme – gegenüber den vorhergehenden Methoden die Darstellung viel individuellerer genetischer Muster ermöglichten (Patzelt/Schneider 2007). Insbesondere mit der PCR-Technologie ab Mitte der 1980er Jahre konnten von diesen Bereichen der DNA große Mengen an Kopien hergestellt und damit leichter einer Vergleichsuntersuchung unterzogen werden. Einen der ersten Fälle der Benutzung solcher Mikrosatelliten-DNA in der rechtsmedizinischen Identifikationsuntersuchung bearbeitete wiederum die Arbeitsgruppe um Jeffreys sowie die Molekularbiologin Erika Hagelberg, die 1990 begann, die Knochen eines als Wolfgang Gerhard verstorbenen Österreichers zu untersuchen. Der bei einem Badeunfall Ertrunkene wurde 1979 in Brasilien begraben, jedoch 1985 exhumiert, nachdem aufgrund einer internationalen polizeilichen und geheimdienstlichen Suche Informationen vorlagen, dass der Verstorbene Josef Mengele gewesen sein könnte (Jeffreys etௗal. 1992). Verschiedene forensische Untersuchungen wie Zahn- und Skelettvergleiche ergaben Übereinstimmungen mit Mengele, dennoch bestanden weiterhin Zweifel, die insbesondere von einem israelischen Militärarzt in Form von Inkonsistenzen in den forensischen Nachweisen aufgezeigt wurden. In Folge dessen wandte sich die hessische Staatsanwaltschaft (die den »Fall Mengele« bearbeitete) an Jeffreys, um mit einer DNA-Analyse der Knochen die Identität feststellen zu lassen. Die Arbeitsgruppe um Jeffreys und Hagelberg nahm die Untersuchung anhand zehn verschiedener Mikrosatelliten vor, die sie nach dem Kriterium ihrer möglichst geringen Verbreitung in der »Caucasian population« auswählten, und verglich die Ergebnisse mit den Genomdaten der Ehefrau und des Sohnes von Mengele. Der Vergleich ergab, dass das spezifische Mikrosatelliten-Muster mit dem der Knochen übereinstimmte und die exhumierten Überreste somit mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Mengeles seien. 27 STRs, short tandem repeats oder auch Mikrosatelliten sind Bereiche in der DNA, die als Block von zwei bis sechs Nukleinbasen mehrere Male nacheinander wiederholt auftauchen. Die Länge dieser Wiederholungen kann sehr viele Varianten aufweisen und divergiert entsprechend oft zwischen Individuen. Mit verschiedenen Methoden (wieௗz.B. Elektrophorese) schätzen Genetikerޚinnen die Länge derartiger DNA-Bereiche ab und nutzen diese Daten etwa für Vaterschaftsgutachten oder in forensischen Untersuchungen. Im Unterschied zu Minisatelliten besteht Mikrosatelliten-DNA aus weniger Basenpaaren, die repitiert vorliegen (ca. 100 im Vergleich zu mehreren 1000 Basen). Typisch sind Dinukleotidwiederholungen der Basen Cytosin und Adenin oder Folgen von drei Basen (wie z.B. TGATGATGATGA…). Beide repetitive Sequenzformen in der DNA gelten als hochvariabel). Die Begriffszuordnungen Mini- und Mikrosatelliten, STR sowie Variable Number of Tandem Repeats (VNTR) sind in der Literatur nicht immer einheitlich. (vgl. etwa Ali/Wallace 1988; Patzelt/Schneider 2007; Madea/Dettmeyer 2007; Turnpenny/Ellard/Emery 2005).
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Seit Ende der 1980er Jahre werden immer mehr STR-Untersuchungen für Identifizierungsverfahren und Differenzforschungsprojekte genutzt. Neben den forensischen Anwendungen und den Verwandtschaftstests werden die genetischen Bestimmungsverfahren vor allem für Untersuchungen zur Variabilität innerhalb von Populationen sowie zur Feststellung von genetischen Unterschieden zwischen menschlichen Gruppen angewandt. Bemerkenswerterweise wird mit dem erweiterten »genetischen Fingerabdruck« eine Vision des Erfinders der Eugenik, Francis Galton, realisiert. Dieser hatte Ende des 19. Jahrhunderts versuchte, Unterscheidungen von Rassen anhand von Fingerabdrücken vorzunehmen. Galton glaubte, »dass jedes vererbte Merkmal nahezu notwendigerweise zwischen verschiedenen Rassen variiert«, scheiterte aber in einer Untersuchung an Engländern, Walisern, Juden, Schwarzen und Basken mit einer Differenzierung der Gruppen (1892: 31 u. 173). Knapp 100 Jahre später rückte Galtons Vision mit immer neuen mitochondrialen Markern (z.B. Johnson etௗal. 1983; Cann/Stoneking/Wilson 1987), genetischen Differenzierungen im Y-Chromosom (Kayser etௗal. 1997) und Untersuchungen an im gesamten Kerngenom verteilten Markern (Bowcock etௗal. 1987; Cavalli-Sforza etௗal. 1988; Cavalli-Sforza/Menozzi/Piazza 1994) in greifbare Nähe.
Einzelnukleotid-Polymorphismen und Admixture Mapping In den 1980er Jahren erlebten die technischen Möglichkeiten zur Sichtbarmachung der Basenabfolge im Genom enorme Erweiterungen. Auf Basis der Revolutionierung genetischer Methoden und einer immensen Ausweitung der Wirkmacht genetischer Ansätze wurde im Herbst 1990 das internationale Humangenomprojekt mit dem Ziel gestartet, die Nukleinbasen der gesamten menschlichen DNA – jene ca. 3,3 Milliarden Basenpaare – zu sequenzieren. 28 Anders als die bisherigen Methoden zur Darstellung von DNA-Sequenzen, die mittels Restriktionsenzymen an den relativ seltenen Mini- und Mikrosatelliten ansetzen und damit ›nur‹ wenige Prozent der Varianzen im Genom abbilden konnten, ließ die Sequenzierung der Nukleinbasensequenz punktgenaue Vergleiche, und zwar im gesamten Genom, erwarten. Mit dem Erreichen der einzelnen Nukleinbasen (A,ௗC,ௗG,ௗT) wurden Vergleiche spezifischer Regionen des Genoms zwischen verschiedenen Individuen realisierbar. Varianten im Genom, sogenannte EinzelnukleotidPolymorphismen 29 (engl. single-nucleotide polymorphism, kurz: SNP), wurden damit zum Objekt differenzierender Untersuchungen. 28 Vgl. das Kapitel zur »Genetifizierung«. 29 Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNP – gesprochen Snips), bezeichnen Varianten von Nukleinbasen an einem spezifischen Ort in der DNA. Ein SNP kann im für Proteine codierenden
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Für die nach rassischen Differenzen suchende Forschung bewirkte das Auffinden derartiger ›kleiner‹ Differenzen im Genom zunächst aber vor allem weitere massive Kritiken und Absagen an die gängigen Rassekonzeptionen. Die im Rahmen des Humangenomprojekts formulierte Erkenntnis, dass nur ca. 20ௗ000 bis 25ௗ000 Gene (statt der vorher vermuteten 100ௗ000) im menschlichen Genom enthalten sind und dass verschiedene Individuen nur im Promillebereich unterscheidbare Nukleinbasen-Sequenzen aufweisen, stellt zumindest gewichtige Fragen an die Grundsätze biologischer Rassifizierungen. Allgemein wurden deterministische Konzepte durch die Existenz so weniger Gene erschwert, und im Besonderen können mögliche Differenzen zwischen Rassen zumindest auf der Genebene auch nicht gerade besonders groß sein. Von mehreren Interpretޚinnen vor allem im populärwissenschaftlichen, aber auch im sozialwissenschaftlich-antirassistischen Bereich wurde das Sequenzierungs-Projekt entsprechend emphatisch als weitere »Widerlegung biologischer Rassen« interpretiert. 30 Jedoch tauchten schnell auch Forschungsansätze auf, welche entgegen den egalitären Verlautbarungen des Humangenomprojekts zur 99,9%igen Gleichheit auf die verbleibende Differenz, jene damit festgestellten 0,1% Unterschiede, zielten und die Notwendigkeit der Erforschung von nun als relevant erachteten genetischen Besonderheiten hervorhoben (siehe z.B. Crow 2002). In aktuellen Annahmen der Genetik wird davon ausgegangen, dass in individuellen Genomen im Durchschnitt ca. pro 1000 Basenpaaren etwa ein SNP auftritt, was aufgrund der ca. 3,3 Milliarden Nukleotide umfassenden menschlichen DNA mindestens zehn Millionen SNPs im typischen gesamten Genbestand eines Menschen im Vergleich mit anderen Genomen entspräche. Die größten aktuellen Forschungsunternehmungen neben dem »Human Genome Diversity Project«, die gruppenbezogene Differenzen untersuchen, sind das »International HapMap Project, das »Genographics Project« sowie das »1000 Genomes Project«. All diese Projekte arbeiten mit unterschiedlichen Bezugskategorien und Samplingstrategien, setzen aber sämtlich auf Einzelnukleotid-Polymorphismen, um populationsspezifische bzw. rassifizierende Zuordnungen vornehmen zu können. Darüber hinaus finden SNPs in medizinischen Assoziationsstudien, etwa zur Identifizierung von Krankheitsgenen, sowie in Sequenzierungswie in nichtcodierenden Bereichen vorkommen. Als Beispiel könnte eine Person über eine Sequenz an einer bestimmten Stelle des Genoms von …ACTCGG…verfügen, während eine andere Person an derselben Stelle …ACTTGG… aufweist. 30 Als Beispiel kann auch die Aussage Präsident Clintons gelten, der im Jahr 2000 bei der offiziellen Vorstellung der ersten fast vollständigen Genomsequenz des Menschen aus den Ergebnissen des Humangenomprojekts schloss, es sei eine der »großen Wahrheiten, dass in genetischer Hinsicht alle Menschen, gleichgültig welcher Rasse, zu mehr als 99,9 Prozent gleich sind« (United States. Office of the Press Secretary 2000).
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Datenbankprojekten wie dem »DeCode Island« (vgl. Fortun 2008) Anwendung. Einzelnukleotid-Polymorphismen, vor allem jene, die aufgrund ihrer Seltenheit bisher in nur einer Gruppe oder Population (wenn auch dort nur sehr selten) aufgefunden wurden, werden deshalb für verschiedene rassifizierende Differenzforschungen in der Medizin, den genetischen Genealogie-Unternehmen oder den HapMap- Projekten genutzt. Der bisher bedeutendste Anwendungsfall der vorgestellten Differenzierungstechniken findet sich jedoch in der Gerichtsmedizin, die deshalb mit den dort vollzogenen Rassifizierungen eines gesonderten Blicks bedarf.
Herkunfts-Marker und Phänotypisierung in der Molekularen Forensik »Wenn Rassen gar nicht existieren, warum sind forensische Anthropologen dann so gut darin, sie zu identifizieren?« fragt der physische Anthropologe Norman J. Sauer 1992. Sein Artikel erscheint zu einer Zeit, als nach intensiven Debatten in allen biowissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit rassischer Differenz befassen, massive Kritiken formuliert werden. Aber tatsächlich, in der Praxis der Rechtsmedizin blieb die Verwendung von Rassekonzepten weitgehend wie selbstverständlich bestehen. Sauers Aussage in Frageform ist dennoch nur eingeschränkt wörtlich zu nehmen, denn auch innerhalb der Forensik finden zu dieser Zeit sehr wohl Auseinandersetzungen um die Validität rassischer Zuordnungen statt. Seine Thematisierung ist deshalb vielmehr innerhalb der Auseinandersetzungen zu verorten, die zwischen allgemeinen Absagen an Rasse und einer Weiterverwendung rassifizierender Zuordnungen changieren. Wie schon deutlich wurde, sind die in den 1980er Jahren neu entwickelten molekularbiologischen Identifizierungsverfahren in der Forensik schnell in praktische Anwendungen, etwa zur Identifizierung von mutmaßlichen Täterޚinnen (genetischer Fingerabdruck) oder zu Verwandtschaftsanalysen (siehe der »Junge aus Ghana und die Knochen von Mengele«), eingesetzt worden. Auffallend ist jedoch, dass jene Gen-Marker, mit denen individuelle Identitäts- und Verwandtschaftsbestimmungen vorgenommen wurden, auch sehr schnell mit den bestehenden Ansätzen der Populationsgenetik, wie der Feststellung von Häufigkeitsunterschieden in verschiedenen Populationen, verknüpft wurden (Baird etௗal. 1986). Neben den individuellen Identifizierungen, die mit den Längenpolymorphismen der Mini- und Mikrosatelliten möglich waren, beschäftigten sich einzelne Forscherޚinnen quasi sofort auch mit Häufigkeitsverteilungen der jeweiligen Allele (DNA-Varianten) in unterschiedlichen Rassen und Ethnien. So diskutierten etwa auf dem 1989er Treffen des Cold Spring Harbor Laboratory zu »DNA Technology
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and Forensic Science« der Humangenetik Kenneth Kidd und der Forensiker Jack Ballentyne über »Frequenzvariationen« repetitiver DNA-Sequenzen (Miniund Mikrosatelliten) »zwischen Populationen« und konstatieren, dass man mit mehreren solcher Marker anhand der Frequenzunterschiede beginnen könne »rassische Herkunft ableiten« könne (Track/Riccuti/Kidd 1989: 344f.). Im selben Jahr wie Sauers Artikel verkündeten Forensikerޚinnen in Großbritannien, dass sie anhand eines einzelnen Markers Individuen mit einer 85%igen Trefferwahrscheinlichkeit den binären Gruppenkategorien »Caucasian« oder »AfroCaribbean« (in der Bezeichnung der Autoren »ethnische Herkunft« 31) zuordnen könnten (Evett/Pinchin/Buffery 1992). Das war zwar für forensische Untersuchungen noch keine ausreichende Identifizierungsquote, da bei einer reinen Zufallsaufteilung in zwei Varianten die Chance einer richtigen Zuordnung schon bei 50% liegt, aber die Forschungsperspektive zur Bestimmung der »ethnischen Herkunft« einer Person anhand von »Wahrscheinlichkeitsverteilungen« genetischer Marker war damit eröffnet. In den folgenden Jahren entstand eine Reihe weiterer Studien, die nach dieser Idee arbeiteten, um mit unterschiedlichen genetischen Markern im gesamten Genom, in den Y-Chromosomen oder den Mitochondrien rassifizierende Zuordnungen vorzunehmen. Parallel zu der Hoffnung, die »Abstammung« einer Person mittels genetischer Daten ergründen zu können, kam zur selben Zeit auch die Vision auf, in »nicht allzu ferner Zukunft« über DNA-Tests für »Ethnizität, Haar- und Augenfarbe« zu verfügen (Jeffreys 1993: 210). Dafür wurde nach DNA-Bereichen gesucht, mit denen sogenanntes forensic DNA phenotyping (FDP), also die Vorhersage individueller Eigenschaften anhand der DNA-Spur einer unbekannten tatverdächtigen Person möglich wird. Im Fokus dieser Suche stehen allen voran Haut-, Haar- und Augenfarbe, untersuchenswert scheinen darüber hinaus aber auch jegliche weitere Information wie z.B. Prädisposition für Krankheiten, Neigung zu Linkshändigkeit, zum Rauchen etc. Zwar sind die Ergebnisse derartiger Forschungen noch keinesfalls so aussagekräftig wie dies etwa in Populärmedienformaten dargestellt wird, mittlerweile werden aber Marker, die mit einzelnen Merkmalen wie bestimmten Augen- und Haarfarben (Liu etௗal. 2009, Walsh etௗal. 2013) oder etwa roten Haaren und damit zusammenhängenden Hauteigenschaften (Rees 2004) korrelieren, forensisch genutzt. Weitere Zuordnungen gelten bisher eher als vage, wie etwa Studien zu »Hautfarbe und genetischer Herkunft in Brasi-
31 Vor allem in britischen Studien findet sich häufig die Ersetzung des Begriffs »Rasse« durch »Ethnie« oder »Population«. Allerdings werden die Ersatzbegriffe weitgehend synonym, also in derselben Bedeutung gebraucht, wenn die einzelnen Gruppen z.B. mit »Caucasian, Oriental, or Black« (Weir/Hill 1993) angegeben werden (siehe für weitere ähnliche Angaben Baird etௗal. 1986; Gill etௗal. 1991).
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lien« oder zur Vorhersagekraft von »herkunfts-informativen genetischen Markern« für ein Schließen auf die Hautpigmentierung verkünden (vgl. Ossorio 2006; Parra etௗal. 2003; Parra/Kittles/Shriver 2004). Als dritter Zugang zu genetischen Herkunftsdaten zur forensischen Nutzung wurde ebenfalls gegen Ende der 1980er Jahre unter Zuhilfenahme theoretischer Entwürfe aus den 1950er Jahren ein Verfahren entwickelt, das als admixture mapping bzw. in der Langform mapping by admixture linkage disequilibrium (MALD) bezeichnet wird. Diese genetische ›Mischungsanalyse‹ bzw. -kartierung beruht auf der These, dass während der chromosomalen Rekombination in der Reifeteilung der Keimzellen (Ei oder Spermium) nicht alle Teile des Genoms statistisch gleichmäßig einem Austauschprozess unterliegen, sondern an typischen Bruchstellen von Generation zu Generation miteinander rekombiniert werden (Smith/ O’Brien 2005; vgl. Bliss 2008, 2012). 32 Aufgrund der statischen Ungleichmäßigkeit jener ›Bruchstellen‹ blieben bestimmte Bereiche des Genoms eher zusammenhängend bestehen als andere und könnten deshalb über mehrere Generationen als verknüpfter Komplex im Genom detektiert werden (Smith etௗal. 2001). Um Populationen und Rassen genetisch unterscheidbar zu machen, bestimmten die Erfinderޚinnen der Methode DNA-Marker, die mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten in einzelnen Populationen vorkommen und damit solche »Mischungsanalysen« ermöglichen sollen (siehe hierzu die Abbildung 7, S. 220). In einer solchen Analyse werden also Häufigkeitsunterschiede in der Lokalisierung der Bruchstellen auf den Chromosomen im Prozess der Rekombination in der Entwicklung der Keimzellen mit Häufigkeitsunterschieden einzelner SNPs in spezifischen geographischen Regionen und Populationen zu verknüpfen versucht. Die auf dieser Verknüpfung zweier Wahrscheinlichkeiten aufsetzenden »herkunftsinformativen Marker« (Ancestry Informative Markers) sollen somit genomweite Tests z.B. für die Bestimmung der Herkunft einer Person etwa in forensischen Analysen oder in genetischen Herkunftstests ermöglichen (Shriver etௗal. 1997; Shriver/Kittles 2004). 33 Mit einigen Weiterentwicklungen werden die auf MALD-Technologien aufbauenden Mischungsanalysen vor allem in AncestryTests, in forensischen Analysen, aber auch in den genealogischen Gentests etwa von »23andMe« verwendet, etwa um DNA-Bereiche einer von »vier Hauptrassen bzw. ethnischen Gruppen« (White, African American, East Asian, Hispanic) zuzuordnen (Tang etௗal. 2005: 268).
32 Bei der chromosomalen Rekombination (Crossing-over) tauschen die beiden gleichartigen Chromosome (des doppelten, jeweils von der Mutter und vom Vater vererbten Chromosomensatzes) Teile ihrer Basensequenzen miteinander aus. 33 Siehe hierzu auch die weiteren Ausführungen unter »Bio-Integrationismus«.
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Als erste forensische Umsetzung solcher Analysen gilt der Kriminalfall des »Louisiana Serial Killers« 34, dessen DNA an den Tatorten von insgesamt sieben ermordeten Frauen aufgefunden und bei dem zunächst aufgrund von Zeugޚinnenaussagen ein weißer Mann verdächtigt wurde. Ein herkömmlicher genetischer Fingerabdrucks-Test führte zu keiner Übereinstimmung, weder in bestehenden Einträgen in Gendatenbanken noch bei weiteren DNA-Überprüfungen von etwa 600 Personen. Daraufhin griff die Ermittlungsbehörde auf einen der Anfang der 2000er auf den Markt gekommenen Gentests des Unternehmens »DNAPrint Genomics« zurück, um weitere Informationen zur Bestimmung des »personalisierten genetischen Hintergrunds« (estimation of personalized genetic histories, Shriver/Kittles 2004: 611) aus den DNA-Spuren zu erhalten. Mit seinem sogenannten »biogeographischen Abstammungstest« 35, der auf der MALD-Methodik aufbaut, bestimmte das Unternehmen, dass der Verdächtigte »hauptsächlich westafrikanischer Herkunft« (ebd. 614), nämlich zu 85% Sub-Saharan African und 15% Native American sei. Auf Basis dieses Ergebnisses wurde der Schwarze Derrick T. Lee verhaftet, mit einem weiteren DNA-Test als Täter identifiziert und wegen der Morde zum Tode verurteilt (vgl. Bliss 2008; Sankar 2010). Mit diesem Fall schien die Brauchbarkeit des Ansatzes zunächst bestätigt, doch erzeugte der Fall auch bedeutende Kritiken, da der Test keinesfalls nur valide Ergebnisse erzeugte. In den Kritiken derartiger Untersuchungen werden insbesondere die Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Zuordnung einzelner Marker und Markerkombinationen problematisiert, sowie die unzureichenden Samplings bei kleinen oder sehr spezifischen Populationen angeführt, deren Daten dann für größere Gruppen wie z.B. Afrikanerޚinnen generalisiert würden, und allgemein die geringe Anzahl der Marker, mit denen kategoriale Zuordnungen zu Kontinenten getroffen werden (vgl. Cho/Sankar 2004; Greely 2008). Eine Einordnung des admixture mapping in die Debatten um Rasse und deren genetische Bestimmbarkeit hat die Wissenschaftssoziologin Catherine Bliss (Bliss 2008) vorgenommen. Insbesondere analysiert sie, wie die MALD-Technologie weiterhin mit Rassekonzepten verknüpft ist und stellt resümierend eine »Wiedereinschreibung von ›Rasse‹« durch derartige Verfahren fest. So sei das Admixture Mapping in einer Allianz aus Medizin, Forensik und genalogischen DNA-Analysen entstanden und Rasse insbesondere in den ersten Studien expliziter Teil dieses Ansatzes (vgl. auch Chakraborty 1986 und Stephens/Briscoe/O'Brien 1994). Dennoch wurden seitdem dieses und ähnliche Testverfahren in mehreren hundert weiteren Fällen angewandt, von denen einige – insbesondere wegen der rassischen oder ethnischen Bestimmbarkeit von DNASpuren – breite mediale Aufmerksamkeit erlangten. So wurde »The Night Stalker« 34 Auch bekannt als »Baton Rouge Serial Killer«. 35 Siehe hierzu die noch folgenden Ausführungen zu »Genetischen Herkunftstests«.
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Delroy Grant anhand eines DNA-Tests ermittelt, bei dem DNAPrint Genomics die »ethnische Herkunft« des Täters auf den Karibischen Inseln vermutete (Jacobson 2005). Einer der ersten Fälle in Deutschland ist das im Frühjahr 2008 in einem Park in Berlin aufgefundene »tote Baby von Köpenick«, bei dem die DNA-Analyse eine »asiatische Herkunft« der Eltern nahzulegen schien. Wenige Wochen darauf konnte schließlich eine 26-jährige Thailänderin als Mutter und mutmaßliche Täterin ermittelt werden (Polizei Treptow-Köpenick 2008).
Medikalisierung Rasse auf Rezept: BiDil Eine der zurzeit bekanntesten Verknüpfungen von Medizin und Rasse stellt das weltweit erste »rassenspezifische« Medikament dar, das 2005 in den USA unter dem Namen BiDil – ausschließlich für Afroamerikanerޚinnen – auf den Markt kam. Seit der Zulassung ist das Präparat Gegenstand einer Kontroverse, in der zahlreiche Artikel und Kommentare das Widererstarken von Rasse in der Medizin und Pharmakologie und damit einhergehende Gefahren für die Patientޚinnen erblicken sowie vor einer »Vermarktlichung« von Rasse warnen. 36 Demgegenüber stehen Beiträge, die Unterscheidungen anhand von Hautfarbe und Herkunft im medizinischen Kontext als notwendig erachten und BiDil entsprechend als sinnvolles Mittel sehen, um Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung zu verringern. 37 Offensichtlich wird in der Debatte, dass sehr unterschiedliche Vorstellungen und Hoffnungen mit dem Begriff Rasse und mit Einteilungen von Menschen anhand oberflächlicher Merkmale oder identitärer Verortungen bestehen. 38
36 Siehe etwa Bloche 2004; Duster 2006a; Feuerlein 2006; Epstein 2007, Tutton etௗal. 2008; Winickoff/Obasogie 2008; Coons 2009; Feuerlein/Junker 2009 sowie die umfangreichen Kommentierungen von Kahn 2004, 2005, 2009. 37 Siehe Puckrein 2006; Satel 2002, Satel 2004; Temple/Stockbridge 2007; Wade 2004. 38 Die Geschichte des Medikaments ist schon für sich genommen verworren, was die Analyse der Verstrickung mit Rassekonstrukten und der Wirkung auf das zeitgenössische Verständnis von rassifizierter Differenz nicht einfacher macht. Aus den Studien, die sich den Hintergründen, den patentrechtlichen Zusammenhängen und den Implikationen für die Medizin wie für Fragen zu rassischer Stratifizierung und Rassismus widmen, sind die Texte von Jonathan
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BiDil ist ein Kombinationspräparat aus zwei Wirkstoffen (Isosorbiddinitrat und Hydralazin), die beide seit mehreren Jahrzehnten zur Blutdrucksenkung und Gefäßerweiterung bei Herzkreislauferkrankungen, insbesondere Herzinsuffizienz, verabreicht werden. Als neues Arzneimittel in einer feststehenden Zusammensetzung der beiden Stoffe kann dieses jedoch einen patentrechtlichen Schutz erhalten. Hierfür ist eine Arzneimittelzulassung notwendig, für die in klinischen Studien die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in Bezug auf mögliche Nebenwirkungen erwiesen werden muss. Hintergrund der Zulassung ist eine 1980 begonnene fünfjährige Studie, in der neue blutdrucksenkende Medikamente auf ihre Wirksamkeit getestet wurden, mit dem Ergebnis, dass die Verknüpfung der beiden Stoffe positive Effekte bei der Behandlung von Herzkrankheiten, insbesondere eine Verringerung der Mortalitätsrate, aufwies. In einer zweiten, ab 1986 durchgeführten Studie erwies sich aber ein damals ebenfalls neues Vergleichspräparat (ACE-Hemmer Enalapril) als deutlich effektiver, woraufhin ACE-Hemmer zu einer Standardtherapie bei Bluthochdruck und Herzinsuffizienz wurden. An beiden Studien nahmen sowohl weiße als auch schwarze Patientޚinnen teil, jedoch ohne dass Rasse als relevantes Kriterium angesehen wurde. Vielmehr gingen die beteiligten Medizinerޚinnen von einer allgemeinen, also in der Regel für alle Patientޚinnen zu erwartenden Positivwirkung bei der Behandlung von Herzerkrankungen aus, publizierten vielfach entsprechende Erfolge der Tests, und einer der Beteiligten, der Kardiologe Jay Cohn, beantragte 1987 ein Patent auf die Wirkstoffkombination (Cohn etௗal. 1986, 1988; vgl. auch Kahn 2004, 2005b). 1992 ließ Cohn schließlich für dieses Kombinationspräparat eine Markenanmeldung unter dem Namen BiDil registrieren, und ab 1994 begann die Firma Medco Research Inc. mit klinischen Tests des Medikaments für die Zulassung durch die oberste US-amerikanische Gesundheitsbehörde (Food and Drug Administration, FDA). Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Präparate in Kombination von verschiedenen Organisationen wie der WHO oder der American Heart Association als Therapeutikum empfohlen worden. Dennoch lehnte die FDA die Zulassung 1997 mit einer ultimativen Entscheidung ab, keinesfalls weil der Begutachtungsausschuss das Medikament als Kombination der beiden Präparate für unwirksam ansah, sondern weil die Studiendaten aus den 1980er Jahren keine signifikante Verbesserung im Vergleich mit anderen Wirkstoffen aufwiesen und zudem die Untersuchungsdesigns nicht den Qualitäts- und Sicherheitskriterien der Behörde zur Zulassung eines neuen Medikaments entsprachen (vgl. Sankar/Kahn 2005). Kahn 2009a, 2005b, 2004 und von Pamela Sankar (Sankar/Kahn) 2005 sowie die in deutscher Sprache erschienenen Beiträge von Monika Feuerlein 2006 und Carsten Junker (Feuerlein/ Junker) 2009 hervorzuheben.
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Dass an beiden Studien nicht nur wie vormals üblich hauptsächlich weiße Männer teilnahmen, ist den Auseinandersetzungen und Debatten um Repräsentanz von Frauen, älteren Menschen, Schwarzen und weiteren Minoritäten in den Medikamententests zu verdanken, die in den USA seit den frühen 1980er Jahren vermehrt geführt wurden. Derartige Beteiligungs- und Partizipationskämpfe entstanden vor dem Hintergrund eines zunehmenden Wissens über gruppenbezogene Differenzen in Krankheitshäufigkeiten. Ungleichheiten ließen sich sozialmedizinisch etwa zwischen Einkommensschichten, zwischen Wohngebieten, zwischen Alten und Jungen, aber auch anhand von Rasse, Ethnizität und Geschlecht feststellen. Die vor allem von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und von Feministinnen getragenen Auseinandersetzungen führten schließlich 1985 zur Gründung des »Office of Minority Health« und mündeten in mehrere Gesetzesnovellen für die Regelung von Medikamentenzulassungstests. So wurde 1993 eine US-Richtlinie zur Beteiligung von Frauen und Minoritäten in Studien, die vom National Institute of Health (NIH) mitfinanziert werden, erlassen und 1997 die Einbeziehung rassischer und ethnischer Gruppen in Medikamentenstudien verbindlich geregelt. 2000 und 2004 folgten darüber hinaus zwei weitere gesetzliche Regelungen, auf deren Grundlage rassische Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung festgestellt und untersucht werden sollen (Kahn 2005; Temple/ Stockbridge 2007). Jene Regulierungen zur Durchführung von klinischen Studien bildeten schließlich die Grundlage einer von Cohn zusammen mit drei Kollegޚinnen durchgeführten Revision der beiden ersten Studien, in der sie durch die Aufteilung der Studienteilnehmerޚinnen in Schwarze und Weiße Wirkungsunterschiede – die Schwarzen Patientޚinnen sprachen besser auf die Behandlung an als die Weißen – zum Vorschein bringen konnten. Die Ergebnisse dieser erneuten Überprüfung veröffentlichte die Arbeitsgruppe 1999, und kurz darauf reichten Cohn und Carson ein neues Patent ein, welches das Präparat als »rassenspezifisches« für die gewerbliche Verwertung rechtlich bis 2020 schützt, während das erste Patent 2007 auslief (Carson etௗal. 1999). Den nächsten Anlauf für die Zulassung startete Cohen mit der Pharmafirma NitroMed im März 2001 durch einen weiteren klinischen Test (AfricanAmerican Heart Failure Trail) mit 1050 Herzpatientޚinnen, die sich selbst als »African American« bezeichneten. Die Patientޚinnen wurden in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die eine mit BiDil, die andere mit Standardmedikamenten und einem Placebo behandelt wurden. Schon nach drei Jahren zeigte sich ein signifikanter Unterschied in der Mortalitätsrate in den beiden Gruppen (6,2% im Vergleich zu 10%), worauf die Studie abgebrochen wurde (Taylor etௗal. 2004; vgl. Feuerlein 2006). Dieses Ergebnis reichte nun für die Marktzulassung durch die
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oberste Gesundheitsbehörde. Seitdem können schwarze Amerikanerޚinnen BiDil verschrieben bekommen und damit die Symptome der Herzinsuffizienz erheblich mindern sowie das Risiko minimieren, an ihrer Herzerkrankung zu sterben. 39 Doch warum ist BiDil deshalb ein »rassenspezifisches« Medikament? Offensichtlich lassen die Studien selbst keine Aussagen darüber zu, wie das Präparat bei Menschen wirkt, die nicht African American sind. Da lediglich Afroamerikanerޚinnen an der Zulassungsstudie beteiligt waren, schreibt die Herstellerfirma des Präparats, dass die »Daten aus den klinischen Studien unzureichend sind, um Rückschlüsse für andere Populationen zu ziehen« 40. Selbst der Patentinhaber Cohn verlautbart, dass BiDil eigentlich von allen von der Krankheit Betroffenen angewandt werden sollte und er die beiden Präparate des Medikaments auch weißen Patientޚinnen, bei denen andere Medikamente nicht wirken, verschreibe (Kahn 2005: 106). Aus dieser Diskrepanz zwischen der Verschreibungspraxis, der öffentlichen Darstellung von BiDil als »Race Drug« und derartigen Verlautbarungen stellt sich unweigerlich die Frage nach den Gründen für das Labeling von BiDil als »rassenspezifisch« und allgemein für die Existenz von rassischen Medikamenten. Dafür lassen sich mehrere Ursachen auffinden, aus denen die historischen, ökonomischen, rechtlichen und methodischen als besonders bedeutsam hervortreten. Damit gilt es nun, einige historische Aspekte sowie allgemein die Anwendung und den Nutzen von Rasse, Ethnizität und Populationskonzepten in der Medizin zu erörtern.
Gesellschaftliche Aushandlungen um Gesundheit und Krankheit Gesundheit gilt als eines der Elemente gelingenden Lebens und die Möglichkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen, als eine der Grundfähigkeiten (capabilities) des Menschen (vgl. Nussbaum 1999). Gesundheit ist deshalb sowohl verbunden mit Handlungsmöglichkeiten und Verwirklichungschancen als auch mit ihrem Gegenüber, der Krankheit und dem Tod. Über die zuallererst individuelle Bedeutung hinaus ist Gesundheit auch ein sozialer Begriff, mit dem Normvorstellungen, Leistungserwartungen und die Verantwortung für die Selbstsorge verknüpft sind. Daraus leiten sich vielfältige politische Interventionen und allgemein gesellschaftliche Umgangsweisen mit Gesundheit und Krankheit ab. Gesundheit ist entsprechend symbolisch aufgeladen, sie wird vielmals als »höchstes Gut« bezeichnet, ist Feld der Auseinandersetzung um Teilhabe- und Teilnahmechancen und wird oft 39 www.bidil.com/pnt/questions.php#4. 40 www.bidil.com/pnt/questions.php#4 Frage 9 »What about claims that BiDil is a ›Race Drug‹?«
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als Gradmesser ›guter‹ Regierung verstanden. Doch Gesundheit ist nicht etwas, in dessen Besitz eine Person ist oder nicht ist, sondern vor allem ein Verhältnisbegriff, der am Individuum durch soziale Aushandlungsprozesse in Sinn gesetzt wird. Somit geht es bei Gesundheit nicht nur um subjektives Wohlbefinden und individuelle Lebensgestaltungsmöglichkeiten, die es zu erweitern gelte, sondern mit ihr zusammenhängend sind ebenso medizinische Zugriffe sowie soziale Teilungsmechanismen verbunden, entlang derer bemessen, begrenzt und verwehrt wird. Die Einbindung in Regierungskalküle erlangte die Medizin mit der europäischen Moderne. Hier wurde sie zu einer einflussreichen sozialen Institution und prestigeträchtigen Profession. Ausgestattet mit machtvollen und ordnungsschaffenden Arbeitsmitteln wie der Hygiene und der Prävention ist sie seitdem einerseits Hoffnungsspenderin, bei individuellen Leiden helfen zu können, andererseits zivilisatorisches Mittel, um die Bevölkerung wie generell das Leben zu organisieren. Nicht umsonst bezeichnete der Arzt und Politiker Rudolf Virchow schon Mitte des 19. Jahrhunderts die Medizin als »eine sociale Wissenschaft, und die Politik weiter nichts, als Medicin im Grossen« (1848: 125). Medikalisierung bezeichnet vor diesem Hintergrund jene Prozesse, in denen menschliche Eigenschaften systematisch eingeteilt sowie bestimmte Merkmale medizinisch erforscht und behandelt werden. Sie setzt dabei vor allem am Individuum normierend an, wirkt auf das politische Interventionsfeld aber zudem normalisierend. Als Prozessbegriff beschreibt Medikalisierung damit erstens eine Ausweitung der Medizin auf allerlei Bereiche menschlichen Lebens und zweitens jene Verschiebung in der Bedeutung von Krankheit, in der diese von einem allgemeinen, alle Menschen schicksalshaft treffenden Unheil zu kausal verortbaren und rational behandelbaren Komplex von Symptomen wird. 41 Neben dem deskriptiven Gebrauch wird der Begriff als Skandalisierungsmittel benutzt, um die Vermehrung politischer und speziell institutioneller Zugriffe zu bezeichnen, durch die menschliche Eigenheiten – von körperlichen über psychische bis hin zu Begehrensformen – zum Gegenstand medizinischer Erörterung und Eingriffe wurden und werden. In den 1970er Jahren problematisierte eine Reihe von Kommentatorޚinnen die Zunahme medizinischer Zuständigkeiten für viele Bereiche individueller Charakteristiken und sozial sanktionierter Verhaltensweisen. So kritisierten z.B. die Essayisten Ivan Illich (1977) und Irving Kenneth Zola (1972) die Ausweitung der Medizin, deren soziale Kontrollfunktionen und die Normierung von Individuen anhand von Durchschnittsmaßen und Idealvorstellungen. Dadurch habe sich die »etablierte Medizin zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit« 41 Siehe Foucault 1988: »Die Geburt der Klinik« sowie für eine aktuelle Analyse z.B. Conrad 2007: »The Medicalization of Society«.
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und die »Medikalisierung des Lebens« zur »Pestilenz« entwickelt (Illich 1977: 31). Ausgestattet mit einem mächtigen Legitimationsmittel – der Verhinderung und Heilung von Krankheiten – unterbreite sie schließlich als neue Wahrheitsverkünderin absolute und oftmals endgültige Urteile (Zola 1972). In den Analysen und Beschreibungen, die den Begriff Medikalisierung seitdem verwenden, geht es um vormals nicht sanktionierte oder mit anderen, z.B. erzieherischen Mitteln eingegriffene Aspekte. Die Behandlung von Arten der Lebensführung und sozialen Problemen, die vorher entweder nicht thematisiert oder als abweichend, deviant bezeichnet wurden, wechselte zu deren Klassifizierung als einem medizinisch diagnostizierbaren und therapeutischer Behandlung bedürfenden Verhalten (Hirschfeld 1995). Derartige Medikalisierungen sind in verschiedenen Arbeiten etwa zur Homosexualität, zur Entstehung der Gynäkologie sowie zur Hospitalisierung seelischer Eigenheiten untersucht worden. 42 Aktuell wird etwa die Vergabe von Ritalin an Kinder mit der Diagnose ADHS als Medikalisierung der sogenannten »Zappelphilippe« diskutiert, und die Geschichte der Intersexualität wäre ohne ein Verständnis der Medikalisierung und damit einhergehender Normierung eines Zweigeschlechtersystems nur unzureichend zu begreifen (vgl. Klöppel 2010, 2012). Für die hier behandelte Verknüpfung von Rasse und Genetik kennzeichnet der Begriff Medikalisierung einen Entwicklungsstrang, in dem sowohl bestehende Rassifizierungen in medizinische Bereiche übernommen, als auch neue Rasseverständnisse im Kontext der Medizin erzeugt werden. Mit Medikalisierung wird im Folgenden also erstens die Ausweitung medizinischer Rationalität auf Rasse und zweitens eine Veränderung in der Legitimierung rassischer Klassifikation bezeichnet. 43 Mit der Medikalisierung von Rasse geht eine Bedeutungsveränderung einher, in der Rasse vermehrt zu einer medizinisch relevanten und mit den Methoden dieser Profession zu erforschenden sowie therapeutisch zu behandelnden Entität wird. Ergebnis dieser Verschiebung ist unter anderem, dass der Forschungsbereich Medizin, Epidemiologie, Public Health aktuell die meisten Publikationen aufweist, in denen mit Rassekonzepten vorgegangen wird und darüber hinaus viele genetische Differenzforschungsprojekte mit einem erhofften Nutzen für medizinische Anwendungen legitimiert werden. Kristallisationspunkt dieser Thematisierungen sind somit therapeutische Anwendungen, deren Wirkungen und Verträglichkeit anhand rassischer und ethnischer Zuordnungen unterschieden werden. Im Weiteren werden zunächst einige diachrone Verknüpfungen von Rasse und Medizin nachvollzogen, um dann mit Blick auf die aktuelle Situation die Herausbildung einer neuen Medizin der Rassen analytisch zu umgreifen. 42 Foucault 1983, 1984; Honegger 1989. 43 Zur Veränderung der Legitimationsordnung s.a. die Ausführungen zur »Bio-Integrationismus«.
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Der lange Schatten rassistischer Medizin Rassifizierende Differenznarrative im Kontext von Krankheit finden sich schon seit Anbeginn biowissenschaftlicher Rasseforschung. So wurden neben physischen Differenzen auch schon unterschiedliche Krankheitswahrscheinlichkeiten bei den »Anderen« konstatiert und daraus folgend abweichende Behandlungen anempfohlen. Mit der Intention, biologische Differenzen zwischen Gruppen zu behaupten und biowissenschaftlich darzustellen, gehörte die klinische Beschreibung körperlicher Andersheit etwa in Bezug auf Schmerzempfindlichkeit, Lungenkapazität, die Dicke der Haut oder psychische Belastbarkeit schon zur Grundausstattung rassistischer Modelle im 19. Jahrhundert (Duster 1990). 44 Traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang das TuskegeeSyphilis-Experiment, das ab 1932 über einen Zeitraum von 40 Jahren an schwarzen Männern in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Alabama durchgeführt wurde. In dem medizinischen Versuch – offiziell als »Tuskegee Study of Untreated Syphilis in the Negro Male« bezeichnet – wurde bei 400 an Syphilis erkrankten Schwarzen im Alter von 25 bis 60 Jahren der Verlauf der Infektion und der körperlichen Symptome untersucht, jedoch ohne dass die beteiligten Ärztޚinnen die Krankheit behandelten. Mindestens die Hälfte der Männer starb an der Krankheit oder an damit zusammenhängenden Erkrankungen. Weder wurde den Versuchspersonen ihre Diagnose mitgeteilt (stattdessen sagten die Experimentatorޚinnen ihnen, dass sie »schlechtes Blut« hätten), noch wurden sie mit den vorhandenen Therapiemethoden behandelt. 45 Auch die nach 1945 etablierte Standardanwendung von Penicillin wurde den Erkrankten vorenthalten, ihnen aber mit dem Status als sogenannte »government patients« (Rivers etௗal. 1953) der Eindruck vermittelt, dass ihre Krankheit geheilt bzw. ihr Gesundheitsstatus verbessert werde. (Duster 1990: 84) Statt der notwendigen Behandlung wurde den
44 So wurde im medizinischen Diskurs etwa behauptet, Schwarze hätten eine dickere Haut als Weiße, seien schmerzunempfindlicher oder verfügten über eine geringere Lungenkapazität, weshalb sie bspw. anfälliger für Lungenentzündung seien (vgl. Duster 2006b). Dies führte zu vielfältigen unterschiedlichen Behandlungen in medizinischen Kontexten; von der Nichtanwendung von Anästhetika bis zu Unterschieden in der empfohlene Strahlungsdosis für Röntgenaufnahmen, die noch in den 1960er für Schwarze um 40 bis 60% höher lag als die für Weiße (Duster 1990: 274). Laut Fausto-Sterling (2008) wird auch heute von US-amerikanischen Ärztޚinnen das Normalmaß der Lungenfunktion von Afroamerikanerޚinnen als geringer als die von Weißen angesetzt, was bedeutet, dass Schwarze kranker als Weiße sein müssen, um für die Krankenversicherung als krank zu gelten. 45 Laut Brandt (1978) war es schon vor Beginn des Versuchs in den großen medizinischen Lehrbüchern der Zeit Standard, Syphilis zu behandeln, insbesondere auch weil die Gefahr der Ausbreitung der Infektion bestand. Präparate wie Salvarsan waren seit Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die Krankheit in Gebrauch.
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zumeist in ärmlichen Verhältnissen lebenden Patienten eine kostenlose Mahlzeit beim Klinikbesuch und 50 Dollar im Todesfall versprochen. 46 In der Klinik wurden an ihnen jeweils umfassende Leibesuntersuchungen, Röntgenaufnahmen des Brustkorbs, Elektrokardiogramme, Lumbalpunktionen (Entnahme von Nervenwasser aus dem Wirbelsäulenkanal) sowie jährliche Blutuntersuchungen vorgenommen. Nach Ansicht der Autorޚinnen eines Zwischenberichts nach 20 Jahren war »eine der wichtigsten Phasen der Studie […] so viel Patienten wie möglich bis zur postmortalen Untersuchung zu behalten, um die Prävalenz und den Schweregrad des syphilitischen Krankheitsprozess zu bestimmen« (Rivers etௗal. 1953: 391). Übergreifendes Ziel des Versuchs war es also, Wissen über die Entwicklung der unbehandelten Krankheit bei Schwarzen zu erlangen. Bezeichnenderweise wurde bereits 1928, also vier Jahre vor Beginn des Tuskegee-Experiments, eine norwegische Studie publiziert, in welcher der Krankheitsverlauf retrospektiv bei unbehandelten Syphilis-Patienten untersucht wurde (vgl. Jones 1981). Die TuskegeeStudie war also nicht nur ein auch nach den Maßstäben der Zeit massiv ethische Richtlinien übertretendes Experiment, sondern zudem nur unter der Annahme sinnvoll, dass auf Basis bedeutungsvoller Unterschiede zwischen Schwarzen und den bereits untersuchten weißen Norwegern körperliche Verschiedenheiten bestünden und mithin zu erwarten sei, dass die Krankheit bei Schwarzen anders als bei Weißen verliefe. In den verschiedenen Bereichen der Untersuchungen war im Laufe der 40 Jahre, die das Experiment andauerte, eine große Zahl von Ärztޚinnen involviert. Zu dem Experiment wurden von 1936 an bis in die 1960er alle vier bis sechs Jahre Beiträge publiziert. Trotz der Verletzungen von ethischen Prinzipien, die insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung mit den Menschenexperimenten der Nazis ausgearbeitet wurden, dauerte es bis 1972, bis das Experiment schließlich aufgrund von Hinweisen, die der Mitarbeiter Peter Buxtun an die Presse gab, eingestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren von den ursprünglichen 400 nur noch 74 Testpersonen am Leben. Mindestens 82 waren direkt an Syphilis, 100 an Folgeerkrankungen verstorben (Brandt 1978). 40 Frauen waren durch ihre Partner infiziert sowie 19 Kinder vorgeburtlich mit Syphilis infiziert worden. In Folge der Aufdeckung und öffentlichen Skandalisierung dieses Experiments an Menschen wurden mehrere Millionen Dollar für die Versorgung der 46 Offensichtlich hatten die Ärztޚinnen Schwierigkeiten, die 600 Teilnehmer zu Folgeuntersuchungen zu bewegen, deshalb wurden den Patienten neben der Pseudobehandlung »free hot meals on the days of examination, transportation to and from the hospital, and an opportunity to stop in town on the return trip to shop or visit with their friends on the streets« zugesagt (Rivers etௗal. 1953: 391). Zum Tuskegee Syphilis Experiment existieren zahlreiche Publikationen. Einen Überblick geben z.B. Brandt (1978); Duster (1990), ausführlich informieren Jones (1981) und Washington (2006).
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Überlebenden und deren Familien bereitgestellt, und 1997 entschuldigte sich Präsident Bill Clinton für die »rassistische Studie«. Das Tuskegee-Syphilis-Experiment ist vor allem deshalb im Kontext von Rasse, Genomik und Gesundheitsunterschieden relevant, weil seine Wirkungen bis in die heutige Zeit andauern und sich ein langer Schatten dessen noch in die aktuellen Debatten um Gesundheit und Krankheit zieht. Dies zeigt sich in einem in der Tuskegee-Syphilis-Studie begründeten und noch heute existierenden tiefgehenden Misstrauen von Schwarzen in den USA gegenüber Medizinerޚinnen, wie etwa Stephen Thomas und Sandra Quinn in einer Untersuchung zu AIDSPräventionsprogrammen in der schwarzen Community resümieren (Thomas/ Quinn 1991: 1499). Das Misstrauen zeige sich in geringen Beteiligungen an Präventions- und Routineuntersuchungen, an Knochenmarkspenden oder an der Teilnahme an medizinischen Studien. Neben der bedeutend geringeren Krankenversicherungsquote von Nicht-Weißen habe das geringere Vertrauen von Schwarzen in die Medizin auch Einfluss auf viele Krankheitsverläufe, da insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und andere sogenannte Zivilisationskrankheiten bedeutend bessere Behandlungserfolge erwarten ließen, je früher therapeutisch eingegriffen werde. Die anhaltende Wirkung des Experiments in einer Kleinstadt im Süden der USA ist in Hinblick auf gruppenspezifische Variablen zu Gesundheit und Krankheit somit vor allem als Beispiel zu verstehen, an dem sich drastisch zeigt, wie gefährlich die Verwicklung von rassistischen und klassistischen Praktiken mit der Medizin sein kann. Für die Untersuchung der Verwobenheit von Rassismus, rassifizierten Kategorien und Gesundheit/Krankheit macht es deutlich, auf welchen Problematiken die Verknüpfung von Medizin und Rassifizierungen aufbaut. Die Brisanz des Experiments liegt vor allem darin, dass es Auskunft über den gesellschaftlichen Rahmen gibt, in dem solche Forschung möglich wurde. Der Medizinhistoriker Allan Brandt formuliert diesbezüglich in seiner Studie zu Rassismus in der Forschung, dass »die Tuskegee-Studie mehr über die Pathologie des Rassismus als über die Pathologie von Syphilis offenbarte« (1978: 29). 47 Aber nicht nur Schwarze waren vielfältiges Objekt medizinischer Verbesonderungen, sondern allgemein schreiben sich die jeweilig vorherrschenden Vorstellun47 Duster macht ebenfalls die in der Studie offensichtlich werdende Verwicklung von Rassismus, sozialen Statusunterschieden und Medizin deutlich. Er stellt heraus, wie die sehr gut informierten und zur Bildungselite gehörenden Wissenschaftlerޚinnen, Medizinerޚinnen und Angestellten der Verwaltungsbehörde es 40 Jahre lang nicht für nötig erachteten, ihre Patientޚinnen über die Krankheit aufzuklären, bzw. stattdessen das Gegenteil taten: »We cannot even imagine that the Tuskegee syphilis experiment could have been the HarvardYale-Stanford syphilis experiment, carried out on upper-middle-class professors of medicine at Harvard and Stanford, or on corporation lawyers recently graduated from Yale« (1990: 86).
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gen von der Andersheit der ›Anderen‹ immer wieder auch in die zeitgenössischen medizinischen Ansichten ein. Sonderanthropologien entstanden dementsprechend entlang mehrerer Differenzkategorien. Die ›Anderen‹ – Frauen, Kolonialisierte, Jüdޚinnen, Angehörige unterer Klassen etc. – wurden seit Beginn der europäischen Moderne immer wieder zu Trägerޚinnen einer tieferliegenden und umfassenden Differenz, die in Charakter, Psyche und Physis verortet sei. Die Medizin nahm neben der physischen Anthropologie in der Erfassung dieser Differenzen immer wieder eine bedeutende legitimationsbeschaffende Rolle ein, indem mit dem Nachweis der Verschiedenheit immer wieder auch die Inferiorität der ›Anderen‹ aufgezeigt werden konnte. Jedoch war die Medizin dabei immer auch von Differenzkonstruktionen bestimmt, in denen von einer grundlegenden Ähnlichkeit der ›Anderen‹ (und damit Übertragbarkeit von klinischen Erkenntnissen) ausgegangen wurde. Somit bewegten sich die medizinischen Forschungen immer zwischen den beiden Polen von entschiedener Andersheit und systematischer Gleichheit. Die aktuelle Medizin hat sich zwar von derartigen Legitimationsfunktionen rassistischer Ideologien und Praktiken weit entfernt, dennoch oszillieren medizinische Differenzierungen weiterhin zwischen der Beachtung von Unterschieden in Krankheitsvariablen und einer Reifizierung kategorialer Andersheit. Nicht zuletzt bewirkten Auseinandersetzungen wie die Debatten der frühen Medikalisierungskritik auch eine Veränderung in der Bedeutung und ethischen Verantwortung der Medizin. Da rassifizierende Projekte nach wie vor fortbestehen, geht es im Weiteren darum, unter der Bedingung sich verändernder Medizin auch aktuelle rassifizierende Differenzierungen und die Medikalisierung von Rasse zu untersuchen.
Genetische Screenings als Mittler zur neuen Rasseforschung Der US-amerikanische Soziologe Troy Duster verweist in seiner Studie »Backdoor to Eugenics« (1990) auf einen Wendepunkt hin zur Wiederbeschäftigung biologischer Forschung mit Rasse in den Untersuchungen zu genetisch verursachten Krankheiten und deren Häufigkeitsunterschieden in ethnischen und rassischen Gruppen. So bemerkt er, dass, während die Sozialwissenschaften glaubten, den Kampf um die Bedeutung von Rasse gegen biologische Vererbungskonzepte gewonnen zu haben, ein neuer Forschungsbereich zur Verteilung von genetischen Krankheiten in verschiedenen rassischen und ethnischen Gruppen entstanden sei (ebd.: 2). Die neuen Methoden der Genetik hätten immense Effekte für das Verständnis rassischer Ungleichheit und würden einer langanhaltenden Debatte neue Nahrung geben. Denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Verteilung von
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genetischen Krankheiten in Rassen und Ethnien führe leicht zu der Frage, warum dies nicht auch für andere Eigenschaften und Charakteristiken gelten sollte (ebd.). Duster stellt aus den neuen genetischen Methoden vor allem genetische Screenings heraus und führt an, dass nach Einführung des ersten Neugeborenentests auf Phenylketonurie 1963 zügig zwei weitere genetische Testprogramme eingeführt wurden, die sich jedoch sowohl in der staatlich organisierten Umsetzung als auch in den Implikationen für die untersuchten Individuen wie für die betroffene Community unterschieden. Die beiden Tests – erstens auf das TaySachs-Syndrom 48 und zweitens auf Sichelzellenanämie 49 – richteten sich an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Der Test auf Sichelzellenanämie wurde ab Mitte der 1960er Jahre in einer Reihe US-amerikanischer Staaten als Zwangstest für die Trägerschaft des rezessiven Gens für Sichelzellenanämie bei Afroamerikanerޚ innen installiert, während der Anfang der 1970er Jahre eingeführte Test auf TaySachs immer freiwillig war. Duster macht anhand dieser Beispiele deutlich, dass zwei vergleichbare genetische Erkrankungen mit unterschiedlichen Betroffenengruppen mit sehr unterschiedlichen staatlichen Umgangsweisen einhergehen können. Wurde bei der Einführung des Tay-Sachs-Screenings mit der Zielgruppe, jüdischen Communities, zusammen gearbeitet, war der Test auf Sichelzellenanämie, der an Afroamerikanerޚinnen durchgeführt wurde, hingegen durch Kontrollphantasien und repressive Vorgaben geprägt. So forderte z.B. Linus Pauling, der zusammen mit seinen Kollegen die Sichelzellenanämie als »molekulare Krankheit« beschrieb und für seine Arbeit zweimalig mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, dass jede Person, die Träger des rezessiven Gens ist, ein Symbol dafür auf die Stirn tätowiert bekommen solle (Pauling 1968 zit. in Duster 1990: 46; vgl. auch Wailoo/Pemberton 2006). In einer rassisch und ethnisch stratifizierten Welt, so resümiert Duster diesbezüglich, könne nur aus einer »extremistischen Position« die »technische Neutralität« von genetischen Untersuchungsformen behauptet werden (ebd.: 82). Unterschiede in den Krankheitsvariablen bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen spielen noch immer eine bedeutende Rolle in der Debatte um die Realität 48 Die höhere Prävalenz von Tay-Sachs bei Aschkenasim bzw. bzw. allgemein bei Jüdޚinnen wird, obwohl es sich um eine Religionsgruppe handelt, immer wieder auch im Zusammenhang mit rassischen Zuordnungen angeführt (Siehe z.B. Crow 2002). 49 Sichelzellenanämie kommt in den USA vor allem bei Afroamerikanerޚinnen vor. Hintergrund ist die verringerte Anfälligkeit für Malaria bei heterozygoten (in aller Regel nicht erkrankenden) Trägern der Genvariante. Bei homozygoter Vererbung führt die Disposition zur Anämie. Die Genvarianten sind aufgrund des Schutzes vor Malaria häufiger bei Personen in Regionen Westafrikas, Indiens und am Mittelmeer vorhanden (Wailoo/Pemberton 2006). Die Krankheit wird oft in Argumentationen für rassenspezifische Medizin angeführt, da in den USA die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, für Schwarze sechsmal höher als für Weiße ist.
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von Rasse und die ›Natur‹ rassischer Differenzen. Standen zur Zeit der Rassenanthropologie Alkoholismus, Kriminalität, Epilepsie, Schizophrenie, sogenannte sexuelle Degeneration und andere Diagnosen hoch im Kurs zur Behauptung essentieller Unterschiedlichkeit zwischen Klassen, Geschlechtern und Rassen (vgl. Gould 1988; siehe auch Kapitel »Genetifizierung«), sind es heute vor allem monogenetische Erkrankungen, die rassisch und ethnisch zugeordnet werden. So wird Sichelzellenanämie vielmals als »schwarze Krankheit« apostrophiert (vgl. Wailoo 2001), Mukoviszidose und Phenylketonurie gelten vor allem als europäische Krankheiten (vgl. Duster 2003). Aber auch für sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, spezifische Krebserkrankungen etc. werden rassisch oder ethnisch unterschiedliche Prävalenzen in epidemiologischen Studien festgestellt (Duster 2003). Über die Feststellung derartiger Ungleichheiten hinaus kann die Darstellung von medizinisch relevanten Gruppendifferenzen allerdings immer auch zur Legitimation von Ungleichbehandlungen führen, die auf systematische Diskriminierungen hinauslaufen. Differenzen in Krankheitsvariablen werden dabei oft als genetische interpretiert, wodurch sie als ›natürlich‹ und damit nicht bzw. kaum beeinflussbar gelten. Sozialmedizinische Erklärungen und Interventionsmöglichkeiten drohen damit verdrängt zu werden (vgl. Fausto-Sterling 2009). Das rassische bzw. ethnische Labeling von genetischen Erkrankungen ist allerdings problematisch, da die Erkrankungen keinesfalls – wie die Rassifizierungen vermuten ließen – nur bei einer Gruppe vorkommen. Dennoch wurde seit Entstehung der Mendelschen Genetik immer wieder versucht, menschliche Gruppen anhand des Auftretens monogenetischer Krankheiten zu differenzieren. Trotz ihrer Seltenheit und der im Vergleich mit den Zivilisationskrankheiten geringen allgemeinen Bedeutung erzeugen sie immer wieder einen besonderen Sinngehalt, da mit ihrem übertragenen Gebrauch genetische Erklärungen gestützt werden können (vgl. Krieger/Bassett 1986). Über die rassifizierende Einordnung hinaus zeigen sich aber auch weitere Gefahren einer solchen Verknüpfung in der Behandlung von Betroffenen, wie beispielgebend am Umgang mit der üblicherweise mit Schwarzen assoziierten Sichelzellenanämie gezeigt werden kann: Zum einen werden in den Screenings zumeist alle Menschen mit dunkler Hautfarbe als vulnerabel angesehen, obwohl diese Gen-Variante auch in vielen Gebieten Afrikas selten ist und Afroamerikanerޚinnen nicht als typische oder durchschnittliche Repräsentantޚinnen des afrikanischen Kontinent angesehen werden können. Zum anderen besteht in verschiedenen Gegenden des Nahen Ostens, des Mittelmeerraums und Indiens ebenfalls eine erhöhte Frequenz an Sichelzellenanämie.
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Personen aus diesen Gegenden werden aber in einem rassisch organisierten Screening nicht erreicht (vgl. Braun etௗal. 2007 u. Fausto-Sterling 2004). 50
Zensuskategorien und »Biomultikulturalismus« Einige sozialwissenschaftliche Analysen stellen bezüglich aktueller Entwicklungen rassifizierender Medizin die in den letzten Jahrzehnten erfolgten rechtlichen Änderungen, Gesetzesinitiativen und daran gekoppelte Entwicklungen in den Grundlagen klinischer und pharmakologischer Tests in den Mittelpunkt. 51 Ähnlich Dusters Einschätzung von einem Wendepunkt hin zu neuen rassischen Kategorisierungen durch genetische Screenings verortet Catherine Bliss (2010) eine Zäsur in den 1980er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt begannen mehrere US-amerikanische Gesundheitsbehörden, die Inklusion von Minoritätengruppen in die klinische Forschung und Medikamententests zu propagieren. Neben dem Einbezug von Frauen, Älteren und Kindern waren mit der Forderung nach Repräsentanz vor allem auch rassische bzw. ethnische Gruppen gemeint. In einer umfangreichen Studie widmet sich auch der Soziologe Stephen Epstein (2007) der Debatte um die Inklusion von Minoritätengruppen zu zeitgenössischen Gesundheitspolitiken, den Denkkonzepten zu medizinisch relevanten Differenzen und deren Effekten auf die gesellschaftliche Wahrnehmung rassischer und ethnischer Kategorien. Epstein arbeitet anhand der Veränderungen in den 1980er und frühen 1990er Jahren einen Wechsel in den Wissensformationen heraus, der auf administrativer Ebene sowie in der Konstruktion von Identitäten und Differenzen stattfand. Diese zunächst in den USA vollzogene Entwicklung versucht er mit der Bezeichnung »inclusion-and-difference paradigma« zu fassen (ebd.: 18). Unter diesem »biopolitischen Paradigma« seien neue Praxen zum Verständnis, zur Klassifizierung, Verwaltung und Behandlung von Menschen entworfen worden, als deren Effekt sich die Biomedizin politisiert und Regierungsformen biomedikalisiert hätten. Außerdem sei im Rahmen dieser Debatten und verschiedener Gesetzesinitiativen ein neues medizinisches Grundmodell entstanden, welches zwar jene in den Sozialwissenschaften etablierten Zensuskategorien 52 zu Rasse
50 Duster führt als Beispiel die doppelt so hohe Trägerschaft des Sichelzell-Gens in der Bevölkerung der Stadt Orchomenos in Griechenland an, um aufzuzeigen, wie problematisch ein rassisches, auf Schwarze ausgerichtetes Screening nach diesen Genen sei (1990: 88). 51 Siehe z.B. Bliss 2010; Epstein 2007; Fausto-Sterling 2004; Fullwiley 2008b. 52 Die Zensuskategorien, werden vom U.S. Office of Management and Budget sozial und nicht biologisch, anthropologisch oder genetisch definiert: »a social definition of race recognized in this country« (U.S. Census Bureau 2009).
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kulturell und national definiere, diese in der klinischen Studienpraxis aber als biologische Kategorien reessentialisiere. Als Beginn der neuen, mit Differenz und Inklusion agierenden biomedizinischen Wissensproduktion arbeitet Epstein die Kämpfe um Frauengesundheitspolitiken in den 1980ern sowie Debatten um die Repräsentanz von Schwarzen, Latinoޚas und Drogenusern in staatlich finanzierten AIDS-Studien heraus (ebd. 55ff. u. 155). 1986 mündeten diese Auseinandersetzungen in neue Vorgaben der »National Institutes of Health« (NIH), der wichtigsten gesundheitspolitischen Verwaltungs- und Forschungsbehörden in den USA, zur Implementierung von Frauen und Angehörigen von Minoritäten in klinische Studien. Ab Ende der 1980er forderte die oberste Kontroll- und Zulassungsbehörde für Nahrungsmittel, Medikamente und medizinische Produkte (Food and Drug Administration), Subpopulationen-Differenzen (Geschlecht, Alter, Rasse/Ethnizität) in pharmakologischen Tests zu berücksichtigen, und 1993 resultierte diese Forderung schließlich in einem entsprechenden US-Bundesgesetz, in dem festgeschrieben wurde, dass »Frauen und Angehörige von Minoritätengruppen sowie deren Subpopulationen an allen von der NIH unterstützten biomedizinischen und psychologischen Forschungsprojekten, in die Menschen als Versuchspersonen involviert sind, beteiligt werden müssen« (National Institutes of Health 1994). Seit dieser gesetzlichen Verankerung habe sich das inclusion-and-difference paradigma auf weitere Behörden, Institutionen und Organisationen ausgeweitet und zu einer Art »Biomultikulturalismus« entwickelt (ebd.: 278). Gesundheitsunterschiede zwischen verschiedenen Minoritätengruppen werden seitdem zu einem vorrangigen Forschungsfeld, das mit bedeutenden Beträgen aus öffentlicher Förderung unterstützt wird. Die Wirkung dieser Kämpfe um Repräsentanz und angemessene Gesundheitsversorgung ist die fast vollständige Implementierung der Zensuskategorien in biomedizinische Studien, sodass es, wie Fausto-Sterling zurecht anführt, zu einer »Explosion« an mit Rasse hantierenden Forschungen gekommen ist und außerdem die Kategorien vielfältigen (Re)Naturalisierungstendenzen unterzogen wurden (Fausto-Sterling 2004: 5). Was Epstein für den US-amerikanischen Kontext beschreibt, erzeugt auch Wirkung in den Durchführungsbestimmungen klinischer Tests in anderen Ländern und lässt sich in abgeschwächter Form auch im deutschsprachigen Raum aufzeigen. So werden mittlerweile etwa bei einigen in Deutschland vertriebenen Medikamenten Vorgaben für »Patienten mit schwarzer Hautfarbe« gemacht. In der Gebrauchsinformation einiger Präparate werden entsprechende Hinweise gegeben, dass »der blutdrucksenkende Effekt bei Patienten schwarzer Hautfarbe etwas geringer« (Votum) sei, bei »Patienten schwarzer Hautfarbe […] die Anwendung vermehrt eine Wassereinlagerung im Körper« erzeugen könne (Lisodura)
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oder bei »Patienten mit dunkler Hautfarbe […] die Wirkung abgeschwächt« sei (Adocomp). In einer Zeit, in der Rasse durch Akteurޚinnen der Genetik immer mehr in Frage gestellt, aus Lexika und Fachtexten getilgt oder umgearbeitet wird, erhalten rassische und ethnische Kategorien in medizinischen Forschungen eine neue Legitimation. Gerade der Widerspruch zwischen den Verlautbarungen zur genetischen Gleichheit im Kontext des Humangenomprojekts und den ebenfalls auf genetischen Unterschieden basierenden Argumenten zur Differenzierung biomedizinischer Forschungen macht die Frage nach den Gründen für die Inklusionsentwicklung und umfangreiche Differenzierung besonders brisant. Neben der schon genannten Beschäftigung mit Häufigkeitsverteilungen seltener monogenetischer Krankheiten und den politisch-juristischen Repräsentationskämpfen sind noch weitere Antworten für diese Entwicklungen relevant.
Differenzdilemma der Gesundheitsunterschiede »Race does not exist. But it does kill people« schreibt die Soziologin Colette Guillaumin in ihrer Studie zu Rassismus, Sexismus, Macht und Ideologie. Sie wendet sich damit gegen einen Glauben an die biologische Natur rassischer Kategorien, macht aber deutlich, dass Rasse als »soziale Kategorie der Ausgrenzung und des Mordes« überaus wirksam ist (1995: 107). Was Guillaumin vor allem in Bezug auf die rechtlichen, politischen und historischen Realitäten von Rassekonstrukten herausarbeitet, lässt sich auch auf aktuelle medizinische Rassifizierungen übertragen: Die soziale Realität rassischer Ungleichheiten in der Häufigkeit und dem Verlauf von Erkrankungen, der Lebenserwartung und in unterschiedlichen Wirksamkeiten von Medikamenten steht Postulaten zur Bedeutungslosigkeit und Widerlegtheit von Rasse entgegen. Die Gleichzeitigkeit der Widerlegung essentiell biologisch konzipierter Rassen und der individuellen und strukturellen Realität rassifizierender Praxen zeigt ein Dilemma auf, das vor allem für die Frage nach einem angemessenen politischen Umgang mit Rassifizierungen besteht: Es gibt keine biologischen Rassen, aber in der Realität gesellschaftlicher Teilungspraxen spielen rassifizierende Zuweisungen, Ausgrenzungshandlungen und Praxen sozialer Schließung eine bedeutende Rolle. In Bezug auf Gesundheit und Krankheit äußert sich dieser Widerspruch etwa in dem Dilemma zwischen der Notwendigkeit, soziale Ungleichheiten auch auf der Ebene rassifizierender Gruppenzuordnungen sichtbar zu machen und dem Postulat, dass Rasse keine biologische Kategorie sei, respektive, dass durch die Benennung von Gesundheitsunterschieden Rasse als essentielle Differenz reifiziert werden könne.
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Nicht zuletzt aufgrund der oben beschriebenen politischen Kämpfe zur Erfassung von gesundheitlicher Ungleichheit liegt in den USA eine Fülle von Daten zu Gesundheitsunterschieden rassischer und ethnischer Gruppen vor. So wurden große Unterschiede in der Sterblichkeitsrate und damit in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen Schwarzen und Weißen aufgezeigt, die bei vier bis fünf Jahren liegen, außerdem liegt die Säuglingssterblichkeit bei Schwarzen bedeutend höher als bei Weißen, und bei einigen der häufigsten Erkrankungen bestehen signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Rassen und Ethnien (Anderson/ Moscou 1998; Berg etௗal. 2005; Krieger 2006; Epstein 2007). Im europäischen Raum bestehen zwar bisher keine gesetzlichen Regelungen zum Einbezug von Frauen und Angehörigen von Minoritätengruppen in klinische und pharmazeutische Studien. Aber auch ungeachtet derartiger Verregelungen bestehen informelle Erwartungen, Differenzen von ethnischen und rassischen Gruppen zu erfassen sowie diese Gruppen in größeren Studien zu repräsentieren (Tutton etௗal. 2010). In Deutschland sind Erhebungen von gesundheitsrelevanten Daten an unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auch keinesfalls neu, sondern werden zum einen – trotz einiger Infragestellungen nach dem Zweiten Weltkrieg – in Tradition der anthropologischen Vermessungen seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder im normalen Forschungsbetrieb erhoben. Zum anderen entstanden durch das Interesse verschiedener politischer und wissenschaftlicher Akteure in der letzten Dekade auch Studien, in denen gesundheitsrelevante Unterschiede zwischen der Gruppe der Mehrheitsangehörigen und jener mit sogenanntem Migrationshintergrund ermittelt werden. So stellt etwa der Soziologe Thomas Lampert in einer Untersuchung zur gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland fest, dass »Männer mit Migrationshintergrund« mit niedrigem Einkommen »ein um den Faktor 3,6 erhöhtes Risiko [haben], gesundheitlich beeinträchtigt zu sein« (2009: 32). Ähnlich weist das Robert-Koch-Institut in einer bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KIGGS) aus, dass für Kinder mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Adipositasrisiko bestehe, gleichzeitig litten sie aber im Vergleich mit Kindern ohne Migrationshintergrund weniger an Allergien (Hempel etௗal./Robert-Koch-Institut 2006). Auch im Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes mit dem Titel »Migration und Gesundheit« (Robert-Koch-Institut 2008) werden verschiedene Gesundheits- und Sterblichkeitsunterschiede festgestellt. In den benannten Studien werden auch Untersuchungen in Form klassischer anthropologischer Vermessungen vorgenommen. So sind in einer Teilstudie der KIGGS die Körpermaße von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund vermessen worden, mit dem Ergebnis, dass jene mit Migrationshintergrund im Mittel 1,5 cm kleiner seien als jene ohne, während jedoch »[k]eine Unterschiede zwischen beiden Gruppen […] bezüglich
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des Körpergewichtes und des Hüftumfangs« bestünden, aber beim »Taillenumfang (71,5 cm gegenüber 70,6 cm) sowie dem Körperfettanteil (20,7% gegenüber 19,7%) […] Migranten im Durchschnitt die jeweils höheren – und damit ungünstigeren – Werte« erreichen würden (Stolzenberg/Kahl/Bergmann 2007: 668). Die nach verschiedenen Herkunftsgruppen differenzierende Erfassung körperlicher Daten begründen die Forscherޚinnen damit, dass die bestehenden »Datensammlungen in Deutschland [...] durch aktuelle, repräsentative anthropometrische Messdaten ergänzt werden [müssen], da sie u.a. aufgrund der anhaltenden Migration und der beobachteten säkularen Akzeleration entweder veraltet oder für die derzeitige deutsche Wohnbevölkerung wenig aussagekräftig sind« (Stolzenberg/Kahl/ Bergmann 2007; vgl. weiterführend kritisch: Brückmann 2008). Erkenntnisse über gruppenbezogene Differenzen in Gesundheits- und Krankheitsvariablen sind auch in sozialmedizinischen Untersuchungen belegt und werden dort vor allem durch unterschiedliche Ernährungsformen, den ungleichen Zugang zu sauberem Wasser oder die Lebens- und Arbeitsverhältnisse erklärt. Mit der in den letzten Jahrzehnten entwickelten Vormachtstellung genetischer Verfahren und Deutungen haben sich jedoch auch die Ansätze zur Erklärung auffindbarer Differenzen verschoben. Mit einer allgemeinen Genetifizierung medizinischer Forschung fließen nun immense Mittel in Studien zur Klärung genetischer Ursachen von Krankheiten. In den letzten Jahrzehnten suchen so eine Fülle von Forschungen nach Genen für familial gehäufte Krebsformen, nach Genen für u.a. Diabetes, Alzheimer und Schizophrenie. Zudem wurden mehrere Projekte lanciert, in denen gesamte Genome von Kranken und Gesunden nach Genvarianten bzw. nach Einzelnukleotid-Polymorphismen gescreent (sog. Genome-Wide Association Studies, 1000 Genomes Project) oder die DNA-Sequenzen ganzer Bevölkerungen in Biobanken erfasst werden, um den genetischen Grundlagen von Erkrankungen auf die Spur zu kommen (z.B. deCODE Genetics). 53 In derartigen Projekten geraten jedoch die umweltbedingten und sozialkulturell verursachten Gesundheits- und Krankheitsunterschiede aus dem Blick. Dabei sind Ungleichheiten in Gesundheitsvariablen auf Gruppenebene sozialwissenschaftlich erwartbar, da Diskriminierung und Benachteiligung nachweislich gesundheitliche Negativeffekte haben. Insbesondere ist mit Gesundheitsunterschieden zu rechnen, wenn signifikante Differenzen im Einkommen, in Wohn- und Arbeitsverhältnissen, Erwerbslosigkeit, Ernährung, Freizeitgestaltung, sportlichen Betätigungsmöglichkeiten etc. bestehen. Demgemäß lassen sich Unterschiede auf Einkommens- bzw. (darüber hinausgehend) Klassendifferenzen zurückführen. Allzu leicht wird in aktuellen medizinischen Studien jedoch davon ausgegangen, dass Differenzen bei Krankheitshäufigkeiten oder Todesraten im Genom begrün53 Siehe hierzu Fortun 2008 u. Manolio 2010.
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det lägen, deren Differenzen sich wiederum nach rassifizierten Bevölkerungsgruppen clustern ließen. Krankheitsursachen werden damit aber als genetisch verursacht festgeschrieben und in der Verbindung mit Rasse und Ethnizität diese Kategorien allgemein als biologische reifiziert. Wie aus sozialen Ungleichheiten rassifizierende Differenzen werden, wird etwa an den Studien deutlich, die Gruppenzuordnungen eine Stellvertreterfunktion zusprechen, bis die eigentlich individuell festzustellenden genetischen Differenzen durch Genomscans erreichbar sind. Markant drückt das etwa NitroMed, der Hersteller des Medikaments BiDil, aus: »Rasse und Ethnizität sind zwar sehr unzureichende Bezeichnungen für genomische und andere physiologische die Unterschiede beim Menschen bewirkende Charakteristiken, aber sie können nützliche Stellvertreter [proxy] für diese Charakteristiken sein, bis die pathophysiologischen Grundlagen der beobachtbaren rassischen Differenzen besser verstanden werden«. 54 Ähnlich argumentieren auch Vence Bonham, Ester WarshauerBaker und Francis Collins in dem Artikel »Understanding Race and Ethnicity in the Genome Era«, indem sie vermerken, dass »Rasse ein Surrogat für die geographische Herkunft der Vorfahren […,] für Variationen im Genom [… und] für Unterschiede in krankheitsrelevanten Genvarianten ist, das schließlich ein Surrogat für individuelle Erkrankungsrisiken darstellt« (Bonham etௗal. 2005: 13). Und auch die Pharmakogenetikerin Sarah Tate und der Molekulargenetiker David Goldstein verkünden, dass Rasse und Ethnizität ein »nützlicher biologischer Anzeiger für die zugrunde liegenden genetischen Variationen« seien (2004: S.ௗ39). Die Argumentationsform, in der Rasse als Stellvertreterin oder Platzhalterin für genetische Differenzen und allgemein gesundheitsrelevante Unterschiede vorgestellt wird, führt in mehreren Beiträgen dazu, dass Krankheitsvariablen als hauptsächlich oder gänzlich genetisch verursacht imaginiert werden. Zwar finden sich Arbeiten, in denen mit der Frage nach genetischen Einflüssen auf Gesundheit und Krankheit und nach der Bedeutung von Rasse (z.B. Bamshad 2005; Ellison 2005; Braun etௗal. 2007) tendenziell oder ausdrücklich für eine sozial-kulturelle Analyseperspektive der Unterschiede plädiert wird. Auf der anderen Seite stehen jedoch Texte, in denen die Stellvertreterfunktion von Rasse bei der Beschäftigung mit Krankheitsunterschieden zu Gunsten deutlich genetisch verursachter Differenz aufgelöst wird. So macht etwa die Psychiaterin Sally Satel in ihrem Artikel »I Am a Racially Profiling Doctor« deutlich, dass sie in ihrer alltäglichen Verschreibungspraxis die Rasse ihrer Patientޚinnen mit in Betracht ziehe, da »Krankheiten und Behandlungserfolge sich entlang von Ethnizität clustern« und es nicht im Interesse der Patientޚinnen sei, »die Realität von Differenzen zu ver54 www.nitromed.com/pnt/questions.php; Question 9: What about claims that BiDil is a ›Race Drug‹?
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leugnen«. In Reaktion auf die Verkündungen des Humangenomprojekts zur 99,9%igen genetischen Gleichheit aller Menschen stellt Satel allerdings klar: »Es scheint einem kontraintuitiv, aber die 0,1% genetischer Variation des Menschen ist ein medizinisch bedeutungsvoller Fakt« (Satel 2002). In solchen Darstellungen gesundheitlicher Differenzen im Zusammenhang mit rassischen Unterschieden werden jene klassischen Rassifizierungen wiederholt, bei denen physische Merkmale stellvertretend für weitere Eigenschaften stehen. Trotz des innerhalb der Genetik und der biologischen Anthropologie als kanonisch geltenden Wissens, dass die meisten Differenzen innerhalb aller Gruppen aufzufinden sind, sollen Hautfarben und andere physische Merkmale mindestens Signaturen für tieferliegende genetische und zudem medizinisch relevante Differenzen sein. Bei der Beschäftigung mit Differenzen in Krankheitsvariablen liegt der Gebrauch von rassifizierenden genetischen Unterscheidungen aufgrund des biologischen Grundmodells von Rasse scheinbar nahe. Wenn Rasse vor allem an vererbbaren physischen Merkmalen, wie Haut- und Haarfarbe, Augen- und Nasenform festgemacht wird, ist die Annahme von vererbten Differenzen als Ursache von Krankheitsunterschieden offenbar ebenfalls schnell plausibel. Ergebnis dieser Sicht ist, wie die Wissenschafts- und Geschlechterforscherin Anne Fausto-Sterling (2009) herausstellt, dass Wissenschaftlerޚinnen glauben, einen gleichen Gesundheitszustand unterschiedlicher Gruppen über mehr wissenschaftliche Forschung statt über die Herstellung sozialer Gleichheit erreichen zu können. Statt einer Skandalisierung der in den Studien aufgefundenen Unterschiede und einer Argumentation für sozialpolitische Interventionen wird in vielen bestehenden Forschungsprojekten die aufgefundene Differenz naturalisiert und mit genetischen Unterschieden korreliert. Doch die genetifizierten Zugänge zu rassischen Differenzen in der Medizin bleiben nicht unwidersprochen. Beispielweise stellt der Epidemiologe Richard S. Cooper diese Ansätze massiv in Frage und kommentiert, es sei »unrealistisch zu erwarten, dass das ›Rassenproblem‹ mit Daten aus einer Sequenziermaschine gelöst werden kann« (2005: 71). Cooper weist außerdem auf die Diskrepanz von auffindbaren Unterschieden bei Krankheitsvariablen zwischen Schwarzen und Weißen und den bisher trotz intensiver genetischer Forschungen nicht aufgefundenen genetischen Ursachen hin. Obwohl zu Krankheiten wie Asthma, Nierenerkrankungen, Arteriosklerose, Übergewicht, geringes Geburtsgewicht, Demenz, Diabetes, Herzfehler, Schlaganfall, Krebs, Bluthochdruck erhebliche Anstrengungen zum Auffinden genetischer Polymorphismen unternommen wurden, seien jedoch bisher keine genetischen Varianten entlang rassischer Unterscheidungen gefunden wurden (ebd. 74).
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Auch am Beispiel des oben vorgestellten Herzmedikaments BiDil werden Kritiken an genetischen Ansätzen formuliert. Der Jurist Jonathan Kahn und die Bioethikerin Pamela Sankar hinterfragen etwa die Legitimation der Medikamententests, die ausschließlich an Afroamerikanerޚinnen durchgeführt wurden. In ihrer Metaanalyse stellten sie fest, dass die Unterschiede bzgl. Herzkrankheiten aus den existierenden Daten nicht derartig eindeutig seien. Strukturierend wirke nach ihrer Auffassung vielmehr, dass einmal behauptete medizinisch relevante rassische Differenzen nur schwer wieder aus der wissenschaftlichen Debatte zu entfernen seien, da sie trotz Widerlegungen weiter kursierten (Kahn/Sankar 2005). Diese Problematik erweitern auch Nguyen etௗal. (2009) in einer Metaanalyse rassischer Differenzen in der Wirkung von spezifischen Blutdruckmedikamenten (Kalziumkanalblocker) und stellen fest, dass zwar Unterschiede in der Medikamentenwirkung festgestellt werden konnten, aber für über 90% aller Betroffenen völlig gleiche Behandlungserfolge zu verzeichnen seien und damit »Rasse keine nennenswerte klinische Brauchbarkeit für Entscheidungen über die wahrscheinlichen Effekte dieser Therapie zur Blutdrucksenkung hat« (S. 911). In der Identifizierung der Unterschiede würden jedoch die variierenden Durchschnittswerte als bedeutungsvolle Differenzen präsentiert, deren Überlappungen in den Darstellungsformen jedoch zumeist verschwänden. In der Gesamtschau wurden mit der Medikalisierung von Rasse in aktuellen klinischen und pharmakologischen Forschungen genetische Erklärungen rassischer und ethnischer Ungleichheiten in Krankheitsvariablen dominant. Selbst Verknüpfungen zwischen Gesundheitsunterschieden und den in Mappingprojekten aufgefundenen Einzelnukleotid-Polymorphismen erschienen als sinnvoll, obwohl die Marker im nichtcodierenden Bereich der DNA liegen und somit der Logik der Biowissenschaften zufolge gar nicht für Krankheitsunterschiede verantwortlich sein können. In den aktuellen Forschungen werden entsprechend die bestehenden sozialmedizinischen und sozialepidemiologischen Erkenntnisse über die Auswirkungen von Diskriminierung, Segregation und sozialer Ungleichheit viel weniger beachtet und zumeist nicht erwähnt. Derartige Tendenzen der DeThematisierung sozialer Ungleichheit lassen sich weiterhin mit der nun vorzustellenden Modernisierungslinie des Bio-Integrationismus präzisieren.
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Bio-Integrationismus Genetische Herkunftstests »Entdecke Deine Familiengeschichte!«, »A New Way to Connect: Find genetic cousins and expand your family tree«, »See what global regions are reflected in your genes«, »Your ancestry discovered«, »Möchten Sie erfahren, woher Ihre genetischen Vorfahren stammen?«, »Erfahren Sie mit einem DNA-Test, woher Sie ursprünglich kommen.«, »Trace your DNA. Find your roots.« 55 Diese Aufmacher empfangen die Besucherޚinnen der zahlreichen Homepages, auf denen Tests zur Ergründung der eigenen – genetisch zu bestimmenden – Abstammung angeboten werden. Zurzeit offerieren zwischen zwanzig und dreißig Unternehmen weltweit genetische Abstammungstests (ancestry tests). 56 Alle diese kommerziellen Tests sind im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auf den Markt gebracht worden und preisen die Erkundung der eigenen »Abstammung«, des »Urvolks«, des »biogeographischen« Mischungsverhältnisses des individuellen Genoms oder der genetischen Zugehörigkeit zu einer Ethnie an. Mehrere Testanbieter sind Ausgründungen von Laboren und Forschungseinrichtungen, die sich forensischen oder anthropologischen Fragen anhand genetischer Variation widmen, andere sind private Unternehmen, die mit umfangreichen Webauftritten Auswertungsangebote gestalten, die Proben aber von anderen Laboren analysieren lassen. Einige haben sich dabei auf spezifische Zielgruppen ausgerichtet, wie African American, Native American/Peoples of the First Nations oder Europäerޚinnen. Wieder andere zielen auf einen Massenmarkt und verbinden ihre Angebote mit verschiedenen weiteren Analysekits, etwa um auf genetische Krankheitsdispositionen für Alzheimer, Krebs, Diabetes etc. zu testen. Mit den Tests werden anhand einzelner Marker oder bestimmter Markerkombinationen Aussagen über die geographische, rassische und ethnische (tribe, Volk, Nation) Herkunft der DNA eines Individuums erzeugt. Grundlage hierfür sind populationsgenetische Studien, die eine unterschiedliche Häufigkeit spezifischer 55 Zitate der Reihe nach aus: www.ancestry.de; http://dna.ancestry.com; www.23andme.com/ ancestry; www.rootsforreal.com/indexޚde.php; www.igenea.com; http://africanancestry.com 56 Die bekanntesten Angebote sind: 23andme, African Ancestry, Ancestral Origins™, AncestryByDNA™, Ancestry.com, Ancestry.de, deCODEme, DNA Consultants, DNA Heritage, DNAPrint Genomics, DNA Tribes™, Family Tree DNA, GeneBase, Gen by Gen, Gene Tree, Genelex, GeoGene, iGENEA, Niagen, Orchid Cellmark, Oxford Ancestors, Relative Genetics, Roots for Real, Trace Genetics.
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genetischer Marker und Markerkombinationen in verschiedenen Ethnien feststellten. Alle Tests basieren zwar auf der Analyse genetischer Marker, aber die diversen Tests arbeiten mit recht verschiedenen Bereichen des menschlichen DNA-Bestandes. Entsprechend lassen sich die Testverfahren in drei Varianten unterscheiden: Erstens die Analysen mitochondrialer DNA 57, zweitens die Tests für die Bereiche des Y-Chromosoms 58, die keiner Rekombination unterliegen und drittens jene Tests, die Marker im gesamten Genom 59 untersuchen. Die ersten beiden Testverfahren sind derzeit am weitesten verbreitet. In den letzten Jahren sind in verschiedenen Projekten jeweils mehrere Tausend sogenannter Ancestry Informative Markers (gelegentlich auch population-specific alleles, ethnic difference markers oder mapping by admixture linkage disequilibrium markers) 60 beschrieben worden. Die »Ancestry Informative Markers« (AIM) dienen dazu, individuelle Genome einer Ethnie oder einer »biogeographischen Herkunft« zuzuordnen. Biogeographical ancestry – ein von dem Anthropologen Mark Shriver eingeführter Begriff – meint die Verbindung von Gendaten mit einer (oder mehreren) geographischen Region(en) und einer angenommenen Gruppe von Vorfahren, die Jahrhunderte bis Jahrtausende in spezifischen Territorien gelebt haben soll.
57 Mitochondrien sind Zellorganellen, die über eigene DNA (mtDNA) verfügen und vielfach in jeder Zelle vorkommen. Vom Spermium gehen diese in aller Regel nicht auf die Eizelle über, sodass Mitochondrien (bis auf wenige Ausnahmen) nur durch die Mutter auf ihre Kinder (und diese wiederum nur durch die Tochter auf ihre Kinder) vererbt werden. Veränderungen im Genom eines Mitochondriums werden an die folgenden Generationen weitergegeben (sofern sie keine nachteilige Wirkung auf den Organismus haben). Wenn diese Veränderung in den letzten Generationen stattgefunden hat, können hiermit Wahrscheinlichkeitsaussagen zu Verwandtschaft erstellt werden. 58 Das Y-Chromosom wird in der Regel vom Vater auf den Sohn und dessen Sohn usw. vererbt. Da sich – ähnlich wie beim Mitochondrium – Veränderung in der Abfolge der Nukleotide im Chromosom weitervererben, versuchen die Testanbieter Wahrscheinlichkeitsaussagen zur Herkunft bei Auftreten bestimmter Marker zu erzeugen. 59 Bei der Reifeteilung der Keimzellen (beim Menschen Eizelle und Spermium) findet eine Rekombination, also eine Neuzusammenstellung statt, bei der Teile der beiden elterlichen Chromosomen zu einem neuen Mischchromosom kombiniert werden. Aufgrund dieser Mischung, die in jeder Generation neu stattfindet, bestehen die Chromosomen aus einem neuzusammengesetzten Mosaik der DNA der Eltern, Großeltern und früheren Generationen. Die angebotenen Tests, die Marker im gesamten Genom untersuchen, weisen den Markern sowie umliegenden Genomabschnitten kontinentale Zuordnungen zu und fertigen daraus Prozentangaben über die vermutete »Mischung« der Herkunft (siehe Abb. 7 und die obigen Ausführungen zu Admixture Mapping). 60 Neben den kommerziellen Herkunftstest-Anbietern werden die ancestry-Marker auch in einer Fülle an Populationsstudien verwendet. Für einen Überblick über Veröffentlichungen, die mit den genannten Begriffen agieren, siehe Parra etௗal. 2001, 2004; Smith etௗal. 2001, 2004, Collins-Schramm etௗal. 2002; Shriver/Kittles 2004; Tian etௗal. 2006, 2007; Price etௗal. 2007, 2008; Baye etௗal. 2009.
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Die Testangebote der verschiedenen Unternehmen produzieren also prozentuale Zuordnungen von an Individuen erzeugten Gendaten zu rassifizierten menschlichen Großgruppen, um die »individuelle biogeographische Abstammung« festzustellen. Die Zuordnungen erfolgen dabei etwa anhand von Wahrscheinlichkeiten wie am Beispiel des Markers 1141, der mit 75,3% bei Native Americans, 5,4% bei African Americans, 51,1% bei European Americans bestimmt wurde (vgl. TallBear 2008: 240). Auf aggregierter Ebene mehrerer Marker führt das dann beispielsweise zu Ergebnissen wie dem, dass eine Person zu 64% Native American, 67% European, 0% East Asian und 9% Sub-Saharan African 61 sei oder wie der in Abbildung 7 dargestellten Mischungsanalyse von »23andMe« mit 64% europäischer, 33% afrikanischer und 4% asiatischer Genombestandteile. Derartige Zuordnungen scheinen vordergründig das in der Anthropologie verbreitete Ergebnis von der allgemeinen ›Mischung‹ der Menschen zu bestätigen. Mit dem Rekurs auf vermeintlich genetisch reine Ausgangspopulationen setzen die Testanbieter aber auf ein klassisches Model kategorialer Differenz und wiederholen aufgrund ihrer aggregierten Wahrscheinlichkeitsaussagen (der Wahrscheinlichkeit von Wahrscheinlichkeiten) die Annahmen der typologischen Rassenanthropologie. Zuordnungen wie »biogeographische Herkunft« oder »Hauptpopulationen-Gruppen« zu DNA-Bestandteilen tradieren damit überkommene klassische Rassekonzepte. Neben den kontinentalen rassifizierenden Zuordnungen werden mittels seltener Genvarianten regionale und ethnische Zugehörigkeiten zu tribes oder die Abstammung von einem »Urvolk« wie »Kelten, Germanen, Slawen, Wikinger, Hunnen« (www.igenea.com) etc. ermittelt. Die meisten der angebotenen Tests bestimmen dazu Einzelnukleotid-Polymorphismen und wiederholende Sequenzen der Mikround Minisatelliten 62 in der Mitochondrien-DNA sowie auf dem Y-Chromosom. Anhand von unterschiedlichen Auftretenswahrscheinlichkeiten (ähnlich dem eben besprochen Marker 1141) werden dann Zuordnungen der Marker zu einer Region, Ethnie, Nation oder einem Volk vorgenommen. Mit einem solchen Test meint etwa die Firma DNA Consultants individuelle DNA-Bestandteile auf native ancestry testen zu können, da der Test »besonders präzis in der Beurteilung ihrer gesamten Abstammungsgeschichte und Herkunftsmischung« sei. 63 Ähnlich verspricht der Test von African Ancestry, mit den analysierten Markern die Herkunft aus einem der jetzigen afrikanischen Länder sowie die Zugehörigkeit zu 61 Sample Report Kathryn Baker. Siehe www.ancestrybydna.com, Stand 15.9.2012. Weitere Beispiele für ähnliche Markertest-Ergebnisse finden sich auch auf den Webseiten von »AncestrybyDNA« oder »23andMe«. 62 Siehe Fußnote 27. 63 Siehe http://dnaconsultants.com/faqs.html unter der Frage: »I am Native American – can you tell me my original tribe?«, Stand 8.12.2012.
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Abbildung 7: Mischungsanalyse eines Beispielgenoms
Darstellung des von 23andme so bezeichneten »Ancestry painting« des Genoms eines Afroamerikaners. Die Balken auf der linken Seite symbolisieren die 22 autosomalen Chromosome. In einem Balken sind die beiden Chromosomen des doppelten Chromosomensatzes abgebildet. Die unterschiedlichen Grautöne (im Original farbig) stellen Genomabschnitte dar, die anhand von Auftretenswahrscheinlichkeiten einzelner Marker in diesen Bereichen einem der Kontinente Europa, Afrika, Asien zugeordnet wurden (siehe rechte Seite). Diese Darstellungen werden von 23andme für ihre Herkunftstest verwendet. Grafik von Cecemoore, lizensiert unter Attribution-NonCommercial-ShareAlike 3.0 http://www.isogg.org/w/images/f/f2/AfAmPaint.jpg, Stand 14.9.2012.
Ethnien, wie z. B. den »Mende von Sierra Leone« oder »Bubi von Äquatorialguinea« bestimmen zu können. 64 Alle derartigen Tests unterliegen systematischen Einschränkungen. Denn an der DNA des Y-Chromosoms oder der Mitochondrien können lediglich zwei Abstammungslinien aus einer großen Menge der tatsächlichen Vorfahren jeder Person untersucht werden. Die Mitochondrien werden fast ausschließlich über die mütterliche Linie (also von der Urgroßmutter auf die Großmutter auf die Mutter auf deren Kinder) vererbt und das Y-Chromosom nur innerhalb der väterlichen Linie (analog vom Urgroßvater auf den Großvater, Vater, Sohn) weitergegeben. 64 Siehe www.africanancestry.com/faq.html#Tribe, Stand 8.12.2012.
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Zu beachten ist dabei, dass die Mitochondrien auf der Ebene der Urgroßmütter lediglich von einer der vier Urgroßmütter stammen und analog das Y-Chromosom von nur einem der vier Urgroßväter weitergegeben wurde. Mit jeder Generation, der der Test in die Vergangenheit folgen soll, wird der Anteil der abbildbaren Vorfahren deshalb geringer. Das heißt, dass bei einer Abstammungsanalyse, wie sie etwa von African Ancestry angeboten wird, mit einem ›Blick in die Vergangenheit‹ von 500 Jahren (um zeitlich vor den Beginn der Verschleppung von Afrikanerޚinnen nach Amerika zu gelangen) ca. 20 Generationen vergangen sind. Pro Testperson ist in der Regel für zwei Generation vor ihr von vier Großeltern auszugehen. In der sechsten Generation sind dies schon 64 biologische Vorfahren und in der achten 265 solcher Ahnޚinnen. Für die anvisierten 500 Jahre und die im Durchschnitt anzunehmenden 20 Generationen macht das eine mögliche Gesamtzahl von 1ௗ048ௗ576 direkten Vorfahren, von denen lediglich die beiden Vererbungslinien der Mitochondrien und Y-Chromosomen mit den gewählten Testmethoden analysier- und damit repräsentierbar sind. Von der sehr großen Anzahl an Vorfahren ist damit nur ein geringer Anteil erfassbar. Über die testmethodischen Einschränkungen hinaus bestehen weitere Begrenzungen aufgrund der je nach Unternehmen sehr verschieden Referenzdatenbanken und verschiedenen Zuordnungen ein und derselben Markerkombination. In verschiedenen Berichten zu Abstammungstests wird über daraus entstehende ›Fehler‹ berichtet. Einen solchen Fall präsentierte etwa das US-amerikanische FernsehNewsmagazin 60 Minutes im Oktober 2007. Vy Higgensen, Afroamerikanerin aus Harlem/New York City, ließ bei mehreren Unternehmen mitochondriale Tests vornehmen, deren Ergebnisse sie den Mende in Sierra Leone (African Ancestry), den Wobe von der Côte d’Ivoire (Relative Genetics) und den Mendenka im Senegal (Trace Genetics) zuordnete (Stahl 2007; vgl. Duster 2009). Nun ließe sich mutmaßen, dass mit der zukünftigen Erweiterung technischer Möglichkeiten immer differenzierter in einzelne Genome geschaut werden könne und mit steigender Größe der Referenzdatenbanken bald alle Zuordnungsprobleme gelöst wären. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich, denn zum einen würde eine größere Anzahl der zu testenden Marker das Problem einer Individualisierung des Testergebnisses hervorrufen (je mehr Marker, desto differenzierter das Ergebnis, womit umso weniger Übereinstimmungen mit Beispielen in der Referenzdatenbank erzeugt werden können). Zum anderen lässt sich keiner der vermeintlich populationsspezifischen Marker(kombinationen) tatsächlich nur einer menschlichen Gruppe zuordnen. Die Begrenzungen aufgrund der geringen Anzahl von Testergebnissen sind vielmehr produktiv, sodass die bisher erzeugten Ergebnisse von eindeutigen Zuordnungen zu einzelnen tribes, Urvölkern und Nationen gerade
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deshalb möglich sind, weil die wenigen Vergleichsdaten nur wenige zuordenbare Übereinstimmungen liefern können. Trotz dieser Begrenzungen fabrizieren die Tests systematisch ›falsch positive‹ Ergebnisse, da aus den beiden Linien der Mitochondrien- und Y-Chromosomenmarker unglaubwürdige Vorfahren ermittelt werden. Deborah Bolnick, US-amerikanische Anthropologin, hat in ihren Untersuchungen diese Fehler etwa bei Bestimmungen der Abstammung von Native Americans aufgezeigt. So würden bei den angebotenen Tests die meisten Personen aus dem Nahen Osten, aus Indien oder der Mittelmeerregion Bestandteile vermeintlicher Native-AmericanDNA aufweisen (Bolnick 2007; vgl. auch TallBear 2008). Die umgekehrten Zuordnungen zeigt der Jurist und Genetiker Henry Greely (2008) anhand der Tests von AncestryByDNA, mit dem offenbar einigen Native Americans eine Abstammung aus Südeuropa oder dem Nahen Osten zugewiesen werde. In der Darstellung rassischer Unterschiede führen die einzelnen Unternehmen in ihren Testangeboten sehr unterschiedlichen Umgang. Fast alle äußern explizite Bezüge zu Rasse, jedoch reicht die Bandbreite dieser Thematisierungen von Zurückweisungen in Form von »Es gibt keinen Test für rassische Identifizierung. Rasse ist ein soziales Konstrukt und nicht genetisch determiniert« über rhetorische Anpassungen wie »wir messen die Abstammung einer Person, nicht deren Rasse« bis hin zu klaren Zusagen etwa auf die frequently asked question »Kann ich meine Rasse oder Ethnizität rausfinden?« mit der Antwort »Ja. Autosomale Tests sind dafür am besten geeignet«. 65 Aufgrund dieser Palette an unterschiedlichen Aussagen wären pauschale Bewertungen verfehlt. Ebenso reicht es nicht aus, nur auf die expliziten Rassethematisierungen einzugehen. Mit zu betrachten sind außerdem die Wirkungen derartiger Darstellungen von Differenz in populärwissenschaftlicher Übersetzung. Dies vor allem, weil rhetorische Absagen an Rassekonzepte keinesfalls bedeuten, dass mit den Darstellungen nicht dennoch Rassifizierungen produziert werden. So wiederholen Genomanalysen, die von einer Mischung unterschiedlicher Genombestandteile ausgehen, den Topos der »Rassenmischung«, den jene klassischen Anthropologen immer dann bemühten, wenn sie trotz (bzw. gerade aufgrund) großer Stichproben keine klare Trennung der mutmaßlichen Rassen vornehmen konnten. Die Testverfahren, die heutzutage Marker kontinental zuordnen, wählen dabei jene Bereiche aus einer geringen Anzahl von DNA-Proben aus, bei denen sich signifikante Unterschiede zu anderen Gruppen darstellen lassen. Da trotz intensiver Forschung keine Marker gefunden wurden, die eine eindeutige Zuord65 Die Zitate sind den folgenden Homepages in dieser Reihenfolge entnommen: http://africanancestry.com/faq.html#Race; www.ancestrybydna.com/ancestry-by-dna-faq.php; http://dnaconsultants.com/faqs.html (Stand 14.9.20012).
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nung zu einer Ancestry-Gruppe ermöglichen würden, müssen die Differenzforscherޚinnen stattdessen auf Wahrscheinlichkeiten und SNPs oder STRs zurückgreifen, die in einer Population häufiger, bei anderen aber seltener vorkommen. In den Abstammungsanalysen wird somit nicht die genetische Variabilität innerhalb der untersuchten Gruppen als Charakteristikum dargestellt, sondern es werden Differenzen herausgestellt und als ursprünglich und typisch für die jeweilige Gruppe bzw. deren Vorfahren gesetzt. Die genetischen Herkunftstests stehen aber nicht nur für eine Weiterführung rassifizierender Konzepte in biowissenschaftlichen Praktiken, sondern sie zeigen auch eine Ausweitung im Inhalt der erzeugten Differenzaussagen auf. Zwar produzieren viele der Tests nach wie vor eher klassisch rassifizierende Zuordnungen von Genombestandteilen zu kontinentalen Kategorien »biogeographischer Herkunft«. Angebote zur Ermittlungen des »Urvolks« oder der »clan mother« können leicht zur Identitätsbestätigung regionaler Herkunft und zur Distinktion interpretiert werden. Doch die unterschiedlichen Angebote ermöglichen ebenfalls die Aneignung genetischer Untersuchungstechniken durch Minorisierte. Die Vermarktlichung der Herkunft führt dabei zu einer Veränderung des Inhalts kategorialer Unterscheidung, der weiter zu folgen ist.
Differente Differenzierungen: Von der sozialen zur genetischen Ungleichheit Eine schon erörterte Verschiebung seit den 1990er Jahren fand mit den Infragestellungen gen-deterministischer Modelle durch Forschungen der Genomik statt. Trotz der Wirkungen, die auch diese Kritiken entfalten, findet jedoch die Zentrierung um die Gene kaum einen Abbruch, da mit diesen eine Fülle von Hoffnungen auf die Erkennbarkeit des Lebens, die Behandlung von Krankheiten, die genetische Verbesserung von Nahrungspflanzen etc. verbunden ist. Statt dass die Zurückweisungen monokausaler Ansätze zu einer Verringerung der Bedeutung der Gene führt, lässt sich in vielen Bereichen eher eine weitere Bedeutungsausweitung genetischer Ansätze in Forschung, medizinischer und technischer Intervention und in der Ursachensuche für spezifische Eigenschaften, Verhaltensmerkmale oder Krankheiten aufzeigen, die zudem oft mit einer Verringerung der Erklärungskraft sozioökonomischer, kultureller und umweltbedingter Ansätze einhergeht. In der Analyse zur Medikalisierung ist schon deutlich geworden, wie genetische Erklärungen im Bereich der Forschung zu Krankheitsunterschieden, trotz bestehender sozialmedizinischer und sozialepidemiologischer Ansätze, gegenwärtig zu einem Nonplusultra zeitgemäßer Wissenschaft wurden. Genetische
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Forschungsprojekte zu Gesundheitsunterschieden können entsprechend einen beträchtlichen Teil verfügbarer Forschungsmittel einwerben. Die Effekte von Unterschieden in Einkommen, Wohnverhältnissen, Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten, Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung bis zu alltäglichen Erfahrungen von Rassismus treten mindestens tendenziell hinter der Erklärungsmacht genetischer Ansätze zurück. Mit einer solchen Verringerung der Erklärungsmacht verändern sich auch Interventionsmöglichkeiten beispielsweise von ökonomischen Umverteilungsmaßnahmen hin zur Aufforderung, die individuelle Lebensführung in Reaktion auf die individuellen genetischen Risiken anzupassen. Während der »Lebensstil« bisher als bedeutendster Einfluss auf den sozialen Hintergrund chronischer Krankheiten beschrieben wurde, gerät die Änderung des Lebensstils nun zur Anforderung an die Individuen aufgrund eines Wissens um individuelle Prädispositionen. Die genetische Rassifizierung von Differenz erzeugt somit nicht nur Wirkungen auf das Verständnis gruppenbezogener Unterschiede, etwa in gesundheitsrelevanten Variablen. Einher geht damit vielmehr auch eine Individualisierung durch die Zuweisung von Verantwortlichkeit für den individuellen Körper. Rassifizierende Differenzzuweisungen korrespondieren somit mit einer allgemeinen Ausweitung individueller Eigenverantwortung unter den Vorzeichen einer Aktivierung der Individuen und einer Ökonomisierung des Sozialen. 66 Mit dem Fokus auf rassifizierte genetische Differenzen wird in der Bestimmung der Menschen, ihres Verhaltens oder ihrer Gesundheitsvariablen eine Reduktion auf den Körper als gruppenspezifischen und individuellen erzeugt. Durch diese Verschiebung der Wahrheit in den Körper wird soziale Gestaltbarkeit neu geordnet. Verantwortung für den Umgang mit rassifizierter genetischer Differenz hat, so paradox es anmuten mag, die individuelle Person als Repräsentant ethnisierter Risikowahrscheinlichkeit. Der Wechsel von der sozialen zur genetischen Ungleichheit lässt sich jedoch nicht nur aus den umfangreichen Hoffnungen ableiten, die mit den lebenswissenschaftlichen Forschungen einhergehen, Hoffnungen auf eine genetische Zukunft, in der Krankheiten leicht geheilt und mittels Genomsequenzierung und Gentherapien noch vor ihrem Ausbruch behandelt werden können. Die Erklärungsmacht wird auch durch die leichte Applizierbarkeit der mittlerweile zur Verfügung stehenden technischen Mittel gestützt. Die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny und der Mediziner Giuseppe Testa nehmen die heutigen Aussageproduktionen mit genetischen Ansätzen genau daraufhin in den Blick und 66 Zu den entsprechenden wohlfahrtsstaatstheoretischen und gouvernementalitätsanalytischen Untersuchungen dieser Prozesse siehe Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Bröckling 2007; Lessenich 2008.
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stellen heraus, dass die DNA »technisch als Text gelesen werden« könne, da die »DNA eine Anordnung von vier chemischen Einheiten ist, die in den bekannten Buchstaben A-, C-, T- und G(-Nukleotiden) ausgedrückt wird« (Nowotny/Testa 2009: 45). Die Autorޚinnen machen damit deutlich, wie DNA-Untersuchungen zum Mittel der Wahl werden, weil sich die genetische Konstitution unvergleichbar leichter erfassen lasse als die Vielfalt der Umweltfaktoren, die eine individuelle Biographie einzigartig machen. Effekt dieser relativ einfachen Applizierbarkeit ist, dass, obwohl der Einfluss von Umweltvariablen in den Modellen der Postgenomik (wieder) miteinbegriffen wird, sich der Schwerpunkt lebenswissenschaftlicher Forschung dennoch nur wenig von der genetischen Konstitution der Individuen als letzter Ursache wegverlagert. Das Deutungspotential sozialer Erklärungsansätze für Ungleichheiten in Krankheitsprävalenzen wird somit oftmals nicht mehr weiter in Erwägung gezogen oder tritt hinter dem der Genetik zurück. Da jedoch völlig unklar ist, ob ein umfassenderes Wissen über Gene überhaupt hilfreich ist, um Gesundheitsunterschiede zu bekämpfen und bisher in der Mehrzahl keine Therapiemöglichkeiten für genetische Erkrankungen vorliegen, hat eine Verschiebung von der sozialen Ursachensuche auf eine genetisch verortete Kausalität weitere Effekte. Genetische Erklärungen für rassifizierte Ungleichheit bewirken entsprechend auch eine Abkehr von sozioökonomischen Gegenstrategien. Statt strukturelle Ungleichheiten mit ihren Wirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden sichtbar zu machen, produzieren lebenswissenschaftliche Erklärungsmodelle einen Wandel der Interventionsformen und mit diesen auch der Interventionsadressatޚinnen. In der Verbindung differierender Krankheitshäufigkeiten rassisch zugeordneter Gruppen mit unterschiedenen genetischen Differenzen spitzen sich somit die genzentrierten Ansätze zu neodeterministischen Modellen zu. Genetische Erklärungen verleiten statt in die sozialen Mechanismen der Segregation und mithin in rassistische Verhältnisse sozialer Ungleichheit zu intervenieren, vielmehr Moleküle zu berichtigen.
Von Minderwertigkeit zu Diversity Die integrativen Momente in den Modernisierungsbewegungen sind schon mehrfach in den bisherigen Erörterungen aufgeworfen worden. Lebenswissenschaftliche Differenzforschungen in der Post/Genomik vollziehen dabei – wie etwa am Beispiel von BiDil oder der Suche nach den Molekülen der Differenz – auch inklusive Ziele, wenn Medikamente speziell für bisher minorisierte Gruppen entwickelt werden, oder genetische Herkunftstests als emanzipative Aneignung der eigenen Geschichte dargestellt werden.
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Die damit vollzogenen positivierenden Darstellungen genetischer Varianz lassen sich als Verschiebung in der Bedeutung kategorialer Differenzierungen deuten. Fand in den typologischen und bei populationsgenetischen Untersuchungen der ›Anderen‹ ein Zugriff zumeist weißer, der Mehrheitsbevölkerung angehörender Forscherޚinnen auf die Angehörigen der Untersuchungspopulationen statt, rücken mit der Medikalisierung rassifizierter Differenz weitere, über die üblichen Erklärungen der Differenzsuche hinausweisende Begründungen in den Vordergrund. Waren die rassenanthropologischen Untersuchungen bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der Regel durch den Versuch begründet, die Minderbegabung der ›Anderen‹ nachzuweisen, rekurrieren aktuelle Forschungen nunmehr vor allem auf eine medizinische, identitäre und bedarfsspezifische Relevanz der genetischen Differenzsuche. Zwar artikulierten auch die klassischen Rasseforschungen nicht alle das Ziel, die Entwickeltheit, Zivilisiertheit und die Fähigkeiten der eigenen Rasse anhand der Inferiorität der anderen nachzuweisen, jedoch waren die typologischen, mendelschen und völkischen Modelle mindestens mittelbar mit hierarchischen Über- und Unterordnungen verknüpft, indem die messbaren Differenzen als Zeichen vielfältiger Unterlegenheit gedeutet wurden. Erinnert sei an die kraniologischen Quantifizierungen zur Schädelgröße, die Vermessungen von Gehirnen, die Feststellungen durchschnittlicher Intelligenz verschiedener Gruppen oder die vielfältigen Mutmaßungen zu Unterschieden im »Volkscharakter«, in der Fähigkeit zur Regierung oder zu rationalem Denken. Diese anthropologischen Unterscheidungen standen in direktem Zusammenhang mit Modellen rassischer Differenzen, die in Binaritäten wie entwickelt/unterentwickelt oder normal/degeneriert dargestellt wurden. Als höherwertiger Maßstab wurden immer ›Weiße‹, ›Arier‹, ›Kaukasier‹ oder Angehörige der jeweiligen Nation des Rasseforschers gesetzt, und die hierarchische Anordnung der Rassen stand im Zusammenhang mit Rechtfertigungsstrategien für die zu legitimierende Ausbeutung der Menschen in den Kolonien (siehe auch die Ausführungen im Kapitel »Geschichte«). Auch heute rekurriert der rassistische Diskurs noch immer auf Ergebnisse lebenswissenschaftlicher Differenzforschung, und einige Akteurޚinnen der Race Psychology, der Intelligenzforschung oder der Anthropologie bringen weiterhin Ansichten über Differenzen in der Intelligenz und anderer psychischer und Verhaltensmerkmale in die Debatte ein (siehe etwa Herrnstein/Murray 1994; Weiss 2000, 2012; Sarich/Miele 2005; Vonderach 2008). Zeitgenössische rassifizierende Konzepte legitimieren sich dagegen in aller Regel nicht mit der Feststellung einer wie auch immer gearteten Minderwertigkeit der Untersuchten. Dennoch sind aktuelle Differenz-Kategorien lebenswissenschaftlicher Forschungen und die mittels dieser Kategorien erlangten Untersuchungsergebnisse keinesfalls wertfrei oder unbedenklich. Wie schon an den Ausführungen zur Medikalisierung rassifizierter
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Differenz gezeigt werden konnte, haben Aussagen zur Differenz zumeist auch wertend interpretierbare Komponenten, da beispielweise vermeintlich neutrale Untersuchungsergebnisse von Unterschieden in Krankheitshäufigkeiten in Verbindung mit Vererbungskonzepten als inhärente Inferiorität gelesen werden können. Aus der in dieser Studie eingenommenen Moderne-kritischen Perspektive trat die besondere Funktionalität lebenswissenschaftlicher Differenzaussagen für die in gegenwärtigen Gesellschaften bestehende grundlegende Spannung zwischen politischen Gleichheitsvorstellungen und der Faktizität sozialer Ungleichheit zutage. Der legitimatorische Stellenwert biowissenschaftlicher Differenzkonstrukte determiniert jedoch keinesfalls die Form der Differenzierungen etwa in statischen Argumentationsmustern. Auf Basis der notwendigen Rechtfertigung und Erklärung von Ungleichheit sind vielmehr verschiedene Konzeptionen und damit einhergehende Darstellungen von Differenz möglich. Während in klassischen Modellen die Unterscheidung vor allem der Rechtfertigung von Gewalt und Ausbeutung dienen konnte, kann sie heute in ihrer inhaltlichen Verschiebung als positiv codierte Differenz dargestellt werden. Auch in diesen integrativ intendierten Differenzierungen können kategoriale Unterschiede nach wie vor zur Erklärung sozialer Ungleichheiten herhalten. Die Prozesse der Aufwertung bzw. In-Wert-Setzung von Ungleichheit als mit lebenswissenschaftlichen Mitteln festgestellte rassische Differenz gehen mit einer De-Thematisierung sozialer Praktiken der Rassifizierung und Segregation einher. Die Aufwertung der Suche nach Differenz ist somit als ambivalente Entwicklung zu sehen, bei der einerseits explizit hierarchisierende Praktiken der klassischen Rassemodelle überwunden werden, andererseits jedoch genetische Unterschiede die Prozesse der sozialen Ordnung des Menschen weiterhin verschleiern. Hinter anerkennenswerter Differenz als kategoriales Konzept rückt die Thematisierung ebenso wie die Bearbeitung sozialer Ungleichheit und struktureller Benachteiligung diskursiv und politisch in den Hintergrund. Mit der Affirmation von Differenz muss somit keinesfalls eine Änderung der Rechtfertigungsordnung einhergehen. Inklusive Politiken, in denen mit genetischen Konzepten von Ungleichheit agiert wird, führen vielmehr jene Legitimierung einer Ordnung sozialer Ungleichheit weiter. Im Zentrum empowernder und inklusiver Politiken steht dann lediglich die Anerkennung der ›Anderen‹ in ihrer spezifischen Andersheit, wodurch die Differenzierungskategorien prinzipiell dieselben bleiben: Rasse, Klasse, Geschlecht, Behinderung, Sexualität werden lediglich unter veränderten Vorzeichen, nämlich nicht mehr als »abzuschaffende Ungleichheiten, sondern als aufzuwertende Differenzen« verhandelt (Heite 2010: 188). Dabei wird Differenz mit geradezu gegensätzlichen Bedeutungen versehen, die nunmehr den Wert der Unterschiede, statt die in ihnen materialisierten sozialen Ungleichheiten
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und Ungerechtigkeiten herausheben. Also »Anerkennung von Differenz statt Aufhebung von Ungleichheit« (ebd.). Eine Verschiebung in der Form der Differenzdarstellung lässt aber auch eine Veränderung von Rassekonzeptionen erwarten. In Verbindung mit den anderen Modernisierungslinien stellt lebenswissenschaftliches, insbesondere genetisches (aber auch hirnphysiologisches, neurologisches, hormonelles) Wissen einen wichtigen und wirkmächtigen Teil eines allgemein ausgeweiteten Diskurses um Differenz dar. Menschen sind doch unterschiedlich, spricht der Diskurs vielstimmig, und wer würde dem ernsthaft widersprechen wollen. Differenz, Vielfalt und der englische bzw. neudeutsche Begriff Diversity sind in manageriellen und politischen Programmatiken enௗvogue. Die Konjunktur dieser Begriffe ist verbunden mit einer allgemeinen, mit der Debatte um Integration verknüpften Aufwertung kultureller Vielfalt (sowohl in antirassistisch intendierten interkulturellen und Multikulturalismus-Ansätzen, als auch in neurechten Konzepten des »Ethnopluralismus«). Darüber hinaus finden sie vielfältig Eingang in die Debatte um den Bedeutungszuwachs von Identität seit den 1990er Jahren sowohl in Kämpfen um Anerkennung (vgl. Fraser/Honneth 2003) als auch in individualisierten Distinktionspraktiken (Jungwirth 2007) sowie in einer Veränderung auf der Ebene der Ökonomie, wo für die Produktion massenkultureller Güter eine Diversifizierung der Konsumtion, ein »Mainstream der Minderheiten« (Holert/ Terkessidis 1996) zu beobachten ist. Die Bedeutungsgehalte von Unterschiedlichkeit und Gleichheit unterliegen einem Wandel, aus dem nicht zuletzt verschiedene, heftig debattierte Diversity-Ansätze – wie Diversity Studies, Diversity Management, Pädagogik der Vielfalt, Mainstreaming Diversity – erwachsen, die als politische und zu managende Probleme formuliert und in Policystrategien umgesetzt werden. Für die Aufwertung von Differenz – nicht nur, aber auch als biologischer – bedürfte es allerdings keiner Referenz auf rassifizierende Modelle. Dennoch liegt die kategoriale Fassung von Variabilität in den Lebenswissenschaften vielmals nahe. Auch wenn mit der Populationsgenetik ein neues Verständnis von Diversität einsetzte, das genetische Vielfalt vor allem innerhalb von Gruppen verortete und dieser eine viel größere Bedeutung als den Unterschieden zwischen Gruppen zusprach, tendieren viele Projekte zur Fassung von Differenz immer wieder zu rassifizierenden Modellen. Auch die Aufwertung kategorialer Unterscheidungen in integrativer Zielsetzung bricht nicht mit dieser Neigung und bietet damit fortwährend naturalisierende Erklärungen sozialer Ungleichheit. Zur Analyse der beschriebenen Verschiebung in der Legitimationsordnung von der Inferiorität zur Diversity wird es notwendig, den Prozessen der In-Wert-Setzung von Differenz als Warenform zu folgen.
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Diversity Marketing – Rasse© als Produkt Für die Medikamentenstudie und die Markteinführung von BiDil, des oben vorgestellten ersten »rassenspezifischen Medikaments«, wurde nicht sozioökonomisch, sondern ausdrücklich genetisch argumentiert. »Nitromed«, die Herstellerfirma des Medikaments, forscht nach eigenen Angaben nach genetischen Ursachen der vermeintlich spezifischen Wirkung bei Afro-Amerikanerޚinnen und gründet diese auf der Hypothese eines Stickoxidmangels bei dieser Gruppe (Cohn 2005). 67 Das Präparat sollte nach Ansicht mehrerer Pharmaunternehmen und einiger wissenschaftlichen Kommentatorޚinnen nicht das einzige rassenspezifische bleiben, sondern ein neues pharmakologisches Marktsegment eröffnen, das auf gruppenbezogene Medikalisierung zielt: Statt einer universellen Medizin, die für viele oder möglichst alle Menschen wirkende Medikamente bereitstellt, entstand im Zuge der Post/Genomik ein neuer Diskurs um eine diversifizierte Medizin. Diese wird oft unter dem Stichwort »personalisierter Medizin« mit dem Versprechen verknüpft, bald auf Basis von Gendaten eine individualisierte Behandlung durchführen zu können, als Zwischenschritt jedoch noch auf rassische oder ethnische Gruppendifferenzierungen zurückgreifen zu müssen. Bisher sind neben BiDil lediglich Produkte wie rassenspezifische Vitaminkombinationen auf dem Markt. Eine im Jahr 2003 von dem Pharmaunternehmen »VaxGen« verkündete Impfung gegen das HI-Virus, die bei »Schwarzen, Asiat ޚinnen und anderen Minoritäten« wirken sollte, ist nach Prüfung der Studiendaten nicht zur Zulassung gekommen (Epstein 2007: 224). Jedoch werden ähnlich den auf spezifische Gruppen und Identitätsmarketing ausgerichteten genetischen Herkunftstests auch einzelne Produkte wie Schuhe und Hautpflegeprodukte für unterschiedliche Rassen an vermeintlich unterschiedlichen körperlichen Merkmalen ausgerichtet. So brachte z.B. die Firma »Nike« 2007 den Schuh »Air Native N7« »mit einer besseren Passung für die eigene Fußform von American Indians« auf den Markt (AP 2007), oder das Unternehmen »Black Opal« vermarktet eine Pflegeserie speziell für People of Color (www.blackopalbeauty.com). Weitere Medikamente sind seit der Einführung von BiDil noch nicht zugelassen worden, aber der Diskurs um gruppenbezogene, rassifizierende und ethnisierende Medizin ist dennoch produktiv. So berichten etwa die Pharmakogenetikerin Sarah Tate und der Genetiker David Goldstein in ihrem bereits erwähnten Überblicksartikel vom Nutzen rassisch differenzierender medizinischer Praxis. Für weitere 29 Medikamente listen sie ähnliche »rassespezifische« Wirkungen auf und postulieren, dass in der klinischen Praxis entsprechend unterschiedliche Mengen 67 Siehe auch: www.nitromed.com/pnt/questions.php; Question 9: What about claims that BiDil is a ›Race Drug‹? Stand 29.11.2012 sowie Taylor etௗal. 2004.
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dieser Medikamente je nach Rasse oder Ethnie verabreicht würden (Tate/Goldstein 2004). Zwar ist diese Auflistung in der Fachdebatte umfangreich kritisiert worden, in populärwissenschaftlichen Texten erschien sie aber vielmals als vermeintlicher Beweis für die Echtheit rassischer Differenzen. Die Marktstrategien und die Ökonomisierung von Rasse nehmen etwa der Anthropologe Ian Whitmarsh und der Wissenschaftshistoriker David S. Jones in Kritik und resümieren, dass rassische und ethnische Kategorien geradezu manisch zur Vermarktung von allerlei Produkten genutzt und gleichzeitig damit geworben werde, konsumierbare Lösungen für racial injustice zu suggerieren (2010: 1ௗu.ௗ7). Umfangreich kritisiert auch der Jurist Jonathan Kahn in mehreren Beiträgen (Kahn 2007, Kahn 2008, Kahn 2009b) die Kommodifizierung von ethnisch und rassisch gelabelten Therapien und Medikamenten. Seiner Untersuchung zufolge ist in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends ein bedeutender Anstieg von Patentanträgen zu verzeichnen, in denen rassische und ethnische Kategorien verwendet werden. Auf Basis des 1993 (NIH Revitatization Act) sowie 1997 (Food and Drug Modernization Act) gesetzlich vorgeschriebenen Einbezugs von Minoritätengruppen in klinische Tests und Medikamentenstudien habe sich eine medizinische Vorstellung von Rasse als genetische Kategorie verfestigt, die verschiedene Firmen für Patentschutzanträge auf ihre Produkte nutzten. So werde sich in vielen Patenten »auf Rasse berufen, wenn die Entwicklerޚinnen eine Abkehr von einer vermeintlichen weißen Norm konstruieren« (Kahn 2008: 141). Ob zum »Nachweis der Anfälligkeit für Autoimmunkrankheiten«, für »Methoden zur Identifizierung des Polymorphismus in CYP2D6«, »Genetische Diagnosen für Depression« oder für eine »Peptidbasierte Grippeimpfung«, in den Patentanmeldungen werden jeweils spezifische rassische Gruppen wie »Caucasian, Asian, North African, African American« etc. aufgerufen, bei denen genetische Besonderheiten vorlägen und die jeweiligen Produkte angewandt werden sollen. Auch ethnische Kategorien finden in Patentschutzanträgen Verwendung, etwa bei einer Anmeldung für einen »Genpolymorphismus zur Bestimmung der Krebsanfälligkeit«, in der »Hispanic« als genetische Entität angeführt wird (ebd.: 140ff.). In der Logik der kommerziellen Angebote rassifizierender Medikalisierung werden kategoriale Unterschiede zwischen den Gruppen als gegeben vorausgesetzt und Rasse in der Regel als genetische Differenz konzipiert. Strukturelle Ungleichheit, Diskriminierung und Rassismus tauchen in der aktuellen pharmakologischen Debatte um rassische Differenz bis auf einige Ausnahmen höchstens rhetorisch auf. Entsprechend werden Gesundheits- und Krankheitsunterschiede vor allem auf ihre Marktpotentiale hin herausgestellt. Bemerkenswerterweise wird diese Verschiebung unter einem humanitären Diskurs gesellschaftlichen Allgemeinwohls, inklusive der Minorisierten, kommuniziert. Rassifizierende Differenzen
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wechseln damit ihre moralische Codierung als nunmehr notwendige, gerechte und humanitäre Praxis.
Humanitarisierung und rhetorische Adaptionen Ein Großteil der rassenanthropologischen Arbeiten war in der Zeit der Verwissenschaftlichung von Rasse bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts direkt und indirekt mit Hierarchisierungen und Wertungen verknüpft. Allerdings gaben auch schon die frühen Rassenanthropologen ihre Forschungsergebnisse gerne als neutrale wissenschaftliche Beschreibungen aus. Auch die intentional pejorativen Beschreibungen der ›Anderen‹ wurden als wissenschaftlich wahre Erkenntnisse verstanden (siehe Kapitel »Geschichte«). Mit der Akademisierung rassifizierender Untersuchungen im 19. und 20. Jahrhundert vollzog sich auch ein Wandel in der Darstellungsweise, in deren Folge die ›natürlichen Unterschiede‹ zunehmend in Form vermeintlich neutraler Beschreibungen formuliert wurden, um noch als wissenschaftlich gelten zu können. Wissenschaft gab seitdem vor, rassische Differenz lediglich zu vermessen, zu beschreiben und kategorial zu ordnen. Negative Attribuierungen waren weiterhin möglich bzw. vielfach vorherrschend, mussten aber als wertneutral ausgegeben werden, wie es heute noch etwa in Aussagen zu IQ-Unterschieden zwischen den Rassen zu finden ist. Der Anspruch auf neutrale und im positivistischen Sinne beschreibende Forschung besteht auch in heutigen Differenzkonzepten, aber die meisten der vorgestellten Forschungen verfahren nicht mehr mit negativen und wertenden Konnotationen. Stattdessen legitimieren sich gegenwärtige Differenzforschungen mit einem geradezu entgegengesetzten Nutzenargument, demzufolge die rassifizierenden Ansätze dem Wohle insbesondere minorisierter Bevölkerungsgruppen und humanistischen Idealen dienten. Positive Zuschreibungen sind dabei keinesfalls das spezifisch Neue. Exotisierende Schilderungen und romantische Verklärungen existierten schließlich schon in den frühen Reiseberichten und ethnographischen Erzählungen über die ›Anderen‹. Auch Blumenbach hatte neben seiner Fünfer-Einteilung des »Menschengeschlechts« philanthropische Verweise auf Schriften von Afrikanern vorgenommen, um damit abschätzige Bewertungen zurückzuweisen. Gegenüber den klassischen rassischen Unterscheidungen weisen zeitgenössische Differenzforschungen jedoch eine neue Qualität in der Legitimationserzählung zur Bedeutung und den Zielen der Forschung auf. Neu ist dabei, dass die Vorteile von Differenzwissen für Alle und insbesondere für Minorisierte herausgestellt und vor dem Hintergrund der wirkmächtigen Kritiken als nunmehr ge-
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rechtfertigte Differenzforschung artikuliert werden. So finden sich beispielsweise Repräsentationsargumentationen sowohl in den meisten aktuellen lebenswissenschaftlichen Differenzstudien, in forensischen und pharmakologischen Projekten als auch in den evolutionsbiologischen Abstammungsanalysen. Ziel dieser Forschung ist nicht der Beweis der Überlegenheit der weißen Rasse, sind nicht Hierarchisierungen, sondern die Integration von Minderheiten als Forschungssubjekte in klinische Untersuchungen sowie als Kundޚinnen diversifizierter Medizin und genetischer Abstammungstests. Entsprechend argumentiert etwa das internationale »HapMap Project«, eines der Nachfolgeprojekte des Humangenomprojekts, mit dem Ziel, eine Kartierung haploider Genome (Haplotyp Map) vorzunehmen, um damit genetische Variation des Menschen zu bestimmen und die ermittelten genetischen Informationen für biomedizinische Forschungen zu Krankheitsdispositionen und Medikamentenverträglichkeit verwenden zu können. Dabei geht es jedoch nicht um individuelle genetische Differenz: Vielmehr sollen anhand großer Bereiche der Genome von 270 Personen aus vier sogenannten »MajoritätsPopulationen« – Yoruba aus Nigeria, Chinesޚinnen aus Beijing, Japanerޚinnen aus Tokyo und weiße US-Amerikanerޚinnen aus Utah – Unterschiede kartiert und für mehrere Dutzend häufige Krankheiten ausgewertet werden. 68 Auch das 2005 gestartete »Genographic Project«, weist seinen speziellen Nutzen für »indigene und traditionale Völker« aus, um die genetischen Variationen menschlicher Gruppen zu analysieren und anhand der Daten Migrationsbewegungen nachzuvollziehen. 69 Während das mit ähnlichen Methoden agierende »Human Genome Diversity Project« Anfang der 1990er seine Blut- und Gewebesammlungen von indigenen Populationen zunächst mit der Klärung menschlicher Evolution begründete, wechselte dies nach der umfangreichen Kritik ebenfalls zu einer Legitimierung mit dem Nutzen der vorgenommenen Differenzforschungen für medizinische Erkenntnisse (Cavalli-Sforza 2005: 333). Da die Probenentnahme jedoch ohne eine Erhebung medizinisch relevanter Daten erfolgt, bleibt die Begründung lediglich strategisch und verweist vielmehr auf die bestehenden Anforderungen zur Forschungslegitimation. Auch in anderen Bereichen, außerhalb des medizinischen Nutzens, entstand etwa mit der Ausweitung spezifischer Minderheitenrechte für indigene Gruppen auch ein Bedarf an einem genetischen Nachweis der »Abstammung«. Wurde in den USA und Kanada bisher mit einem Certificate of Degree of Indian Blood ausgewiesen, wer Native American oder Person of the First Nations ist, entstanden mit der Möglichkeit genetischer Herkunftstests neue Bedarfe an einer Zertifizie68 Siehe www.hapmap.org/thehapmap.html.en und www.hapmap.org/healthbenefit.html, Stand 29.11.2012. 69 Siehe https://genographic.nationalgeographic.com/faq/about-project, Stand 29.11.2012.
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rung rassifizierter und ethnisierter Zugehörigkeit einzelner Marker bzw. Markerkombinationen innerhalb des persönlichen Genoms. Mit der Verankerung spezifischer Rechte, die von antidiskriminatorischen Politiken über Minderheitenschutzbestimmungen bis zu exklusiven Rechten auf Steuererleichterungen etc. reichen, wird die Zuordnung anhand rassifizierender Differenzkategorien, die ehemals der Vorenthaltung von Rechten diente, zu einem humanisierten Begehren. Derartige Aufwertungen von Differenz entstammen keinesfalls nur rechtsstaatlichen Inklusionspolitiken, sondern sind vor allem durch Aneignungs- und Empowermentkämpfe minorisierter Gruppen erlangt worden. Dies gilt in Teilen auch für die Marktzulassung des »rassespezifischen Medikaments« BiDil, die von der Association of Black Cardiologists unterstützt wurde. Ebenso können genetische Herkunftstests identitätspolitisch genutzt werden, gerade von Personen, deren Vorfahren durch gewaltsame Verschleppung und Versklavung oder durch Kolonisierung anderer Herkunftserzählungen beraubt wurden. Jedoch stehen vermeintliche medizinische Nutzenlegitimationen für indigene bzw. minorisierte Gruppen, wie etwa vom HGDP geäußert, oder die Argumentation in der Forensik und für genetische Herkunftstests in einer problematischen Tradition, wenn damit die negativen Effekte von Rassifizierungen dethematisiert werden. Ungerechtigkeiten entlang struktureller Ungleichheitsdimensionen finden sich vielfach etwa bei der Festlegung, welche Normverstöße mit polizeilichen und juridischen Mitteln geahndet werden, darüber hinaus bei der Erfassung von Straftaten, der Verfolgung potentieller Straftäterޚinnen und bei der Repräsentanz von DNA-Proben in forensischen Biodatenbanken. Unterscheidungen nach rassischen und ethnischen Kriterien mit dem Nutzen für Minorisierte auszugeben, missachtet den rassistischen Bias von Strafverfolgungsbehörden und -institutionen (vgl. Duster 1990, 2006a; Kerner 2009a; Wacquant 2009; Wallace 2009). Neben der aufwertenden Argumentation rassifizierender Forschung lassen sich in vielen gegenwärtigen Projekten ebenfalls eine Vermeidung der Verwendung des Rassebegriffs sowie die Ersetzung von Bezeichnungen beobachten, die semantisch mit dem wissenschaftlichen Rassismus des 18. und 19. Jahrhunderts oder dem Nationalsozialismus verknüpft sind. So wird in Forschungsprojekten etwa statt von Rasse von »Population«, »Gruppe«, »Minderheit«, »Ethnie«, »Metapopulation«, »genetischen Großclustern«, »biogeographischer Herkunft« gesprochen, allerdings oft ohne dass konzeptuelle Veränderungen vorgenommen und Rassifizierungen vermieden wurden. Der Austausch findet in solchen Fällen auf der Begriffs-, aber nicht auf der Bedeutungsebene und in der klassifikatorischen Praxis statt. Begriffliche Anpassungen lassen sich beispielsweise anhand der oben beschriebenen Technik der »Mischungsanalysen« (admixture mapping) nachvoll-
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ziehen. 70 Bei der Entwicklung des Verfahrens durch den Genetiker David C. Rife zu Beginn der 1950er Jahre waren rassische Unterteilungen in Weiße und Schwarze Grundlage der genetischen Differenzierung sogenannter »Hybridpopulationen« (Rife 1954). Als die Methode Ende der 1980er Jahre erneut in die klinische Anwendung gebracht wurde, war auch der Rassebegriff nach wie vor üblicherweise in den Forschungspapieren vorhanden. Das änderte sich jedoch in den letzten 15 Jahren mit öffentlichen Förderungen der Studien, wie Bliss (2008) in einer Untersuchung zur Entwicklung des »admixture mapping« herausgearbeitet hat. Statt des Rassebegriffs wurden fortan meist »Ethnie«, »Population« und »Volksstamm« (tribe) üblich und statt kontinentaler oft kleinere »ethnische« Untergliederungen vorgenommen. Ähnlich vermeidet das schon erwähnte HapMap-Projekt zur Kartierung der Variation menschlicher DNA vordergründig rassische Benennungen, wiederholt mit der Auswahl von jeweils 30 bis 45 Probandޚinnen aus Ibadan, Nigeria, aus Tokio, Japan, Han-Chinesޚinnen aus Beijing, China und weißen Amerikanerޚinnen nord- und westeuropäischer Herkunft aber kategoriale Einteilungen, die in den Darstellungen des Projekts dann als »Majoritäts-Populationen« bezeichnet werden. 71 Auch das 2008 begonnene 1000 Genomes Project versucht rassische Zuordnungen zu umgehen, indem es Gendaten von zehn »Populationen« sammelt und sequenziert und diese »vier geographischen Hauptgruppen« zuordnet (Meeting Report 2007:ௗ4). Vergleichbare Kategorisierungen finden sich auch im Rahmen der Populationen-Zuordnungen forensischer Genanalysen, wenn neben lokalen Zuordnungen von Genmarkern (etwa anhand der Laborstandorte) die Daten in ähnlich rassischen Zuordnungen zu »Metapopulationen« geclustert werden. 72 Strategische Umgehungen in der Benennung der konstruierten Gruppen sind darüber hinaus in kommerziellen genetischen Herkunftstests prominent zu finden. So führt etwa das Testunternehmen AncestryByDNA aus, dass mit seinem Test »nicht Rasse«, sondern die »genetische Abstammung« gemessen werde. In der Selbstbeschreibung des Unternehmens wird diese Aussage jedoch konterkariert, indem im Weiteren die »biogeographische Abstammung« als die »biologischen oder genetischen Komponenten von Rasse« bestimmt wird und damit eine »einfache und objektive Beschreibung der Herkunft« einer Person, »in Hinblick auf die Hauptpopulationsgruppen« wie »Indigenous American, East Asian, European, Sub-Saharan African« möglich sein soll. 73 Ähnliche rein rhetorische Zurückweisungen des Rassebegriffs finden sich auch bei dem Testunternehmen Oxford Ancestors, das einerseits ausführt, dass es »keine genetische Basis für Ethnizität
70 71 72 73
Siehe auch die obigen Ausführungen zur »Molekularisierung«. http://hapmap.ncbi.nlm.nih.gov, Stand 16.9.2012. www.yhrd.org, Stand 17.9.2012. www.ancestrybydna.com/ancestry-by-dna-faq.php, Stand 29.11.2012.
DIE NEUEN DIFFERENZEN DER LEBENSWISSENSCHAFTEN | 235
oder Rasse gibt«, mit dem angebotenen MatriLine-Test aber den Kontinent, auf dem die »Clanmutter« lebte, herauszufinden meint. 74 Trotz der semantischen Anpassungen wird also konzeptionell an kategorialen rassifizierenden Zuordnungen festgehalten. Die gewählten Alternativbegriffe bezeichnen dabei in der Regel euphemistisch klassische kategoriale Unterscheidungen und verschleiern gleichzeitig die fortbestehenden Rassekonstruktionen. Die gesellschaftliche Relevanz der rassifizierenden Teilungskategorien und mithin rassistischer Verhältnisse scheint in solchen Darstellungen fast zu verschwinden. Mit der Dethematisierung geht also eine Verminderung sozialwissenschaftlicher Deutungsund Gestaltungsmacht einher. Gesellschaftstheoretische Analysen ebenso wie Kritiken und Interventionen werden damit unterminiert und in der Logik derartiger genetischer Erklärungen gar verunmöglicht. Den Modernisierungsbewegungen rassifizierender Kategorien in den Lebenswissenschaften muss deshalb ebenfalls mit einer Erneuerung und Radikalisierung sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik entgegnet werden.
74 www.oxfordancestors.com/content/view/22/40, Stand 16.9.2012.
Kapitel Fünf
Analytik rassifizierender Gesellschaften Verglichen mit der Revolution in der Physik birgt die neue Genetik vermutlich das größere Potential zur Umformung von Gesellschaft und Leben, da sie auf der Mikroebene vermittels einer Reihe biopolitischer Praktiken und Diskurse in das gesamte soziale Gefüge eingebunden sein wird. Paul Rabinow 2004, S. 138
Mit der Frage nach dem Wie und Warum der Aktualität von Rasse in den modernen Lebenswissenschaften konnten in den bisherigen Analysen vielfältige Kontinuitäten, Reformulierungen sowie Veränderungen rassifizierender Konzepte in der Ära der Genetik aufgezeigt werden. Deutlich wurde dabei, dass seit Beginn der Molekulargenetik zwar massive Absagen an biologische Rassekonzepte formuliert wurden, diese aber parallel zu einer Ausweitung und Erneuerung rassifizierender Forschungen in den Lebenswissenschaften vonstattengingen. Ausgangspunkt der Untersuchung war eine gesellschaftstheoretische Grundlegung von Rassifizierungen in den Lebenswissenschaften, um mit dem Blick auf wissenschaftliche Wissensproduktion zu menschlicher Differenz über die Eigenlogiken der Lebenswissenschaften hinauszukommen. Mit einer solchen Grundlegung ist es möglich mehr als die Forschungserzählungen, vielmehr auch die Funktionalitäten rassifizierender Ordnungsmodelle in einer stratifizierten Gesellschaft herauszuarbeiten. In Weiterführung der in den vorherigen Kapiteln analysierten Befunde wird nun erneut auf gesellschaftliche Verhältnisse fokussiert, nun aber um die Analyseergebnisse vor diesem Hintergrund zu bilanzieren. Diente zur
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Untersuchung der Aktualität lebenswissenschaftlicher Rassekonzepte vor allem die Frage, was diese über die sozialen Verhältnisse aussagen, wird es für die folgende Bilanz notwendig, die Perspektive auf die Sozial- und Gesellschaftstheorie und die Interventionspotentiale der Sozialwissenschaften zurück zu wenden. Zu fragen ist damit auch nach einer Wissenschaft, die Ungleichheitsverhältnisse erfassen kann, sich aber auch als gestaltender Akteur in diesen Verhältnissen begreift.
Kontinuierungen kategorialer Differenz Im Oktober 2007 führte der Molekularbiologe James Watson in einem Interview mit dem Sunday Times Magazin zu Intelligenzunterschieden zwischen Schwarzen und Weißen aus, dass es »keinen guten Grund gebe anzunehmen, dass sich die intellektuellen Fähigkeiten von geografisch getrennten Völkern gleich entwickelt hätten« (Hunt-Grubbe 2007). Solche Äußerungen sind keinesfalls neu. Sie erlangten jedoch weite Aufmerksamkeit, weil sie von einem der weltweit bekanntesten Genetikerޚinnen, eben jenem Watson, vorgebracht wurden, der 1953 zusammen mit dem Biochemiker Francis Crick das Doppelhelix-Strukturmodell der Desoxyribonukleinsäure vorstellte, das heute populär als Beginn der modernen Molekulargenetik angesehen wird. Der damals 25jährige Watson blieb auch in den folgenden Jahrzehnten Shootingstar der Molekularbiologie: Er erhielt für seine Arbeiten zur DNA (zusammen mit zwei Kollegen) den Nobelpreis für Medizin, wurde Professor in Harvard und Direktor einer der wichtigsten US-amerikanischen lebenswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen, dem Cold Spring Harbor Laboratory. Schließlich beteiligte er sich 1990 an der Gründung des Humangenomprojekts und wurde erster Direktor der Dachorganisation des Projekts. Für seine wissenschaftliche Arbeit erhielt er viele Ehrungen (darunter die »Freiheitsmedaille«, die höchste Auszeichnung der Vereinigten Staaten, sowie die Ehrenritterschaft von Großbritannien). Die Äußerungen des Molekularbiologen erschienen zu einer Zeit, als sich im Wechsel vom 20. zum 21. Jahrhundert die Kritik an biowissenschaftlichen Rassekonzepten auch innerhalb der Genetik auf ihrem Höhepunkt befand. Entsprechend ist zu fragen, wie einer der bekanntesten Genetiker angesichts der umfangreichen innerbiologischen Kritiken an rassifizierenden Einteilungen zu derartigen Aussagen gelangen konnte. Eine zunächst naheliegende Interpretation wäre, dass er einer jener Ewiggestrigen oder rechten Populisten sein könnte, die von der Realität grundlegender Differenzen zwischen menschlichen Gruppen überzeugt sind. Tatsächlich lassen sich dafür auch Hinweise finden, da seine Behauptungen keinesfalls ein Fehltritt einer sonst integren Persönlichkeit sind.
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Schon vorher fiel Watson des Öfteren mit diskriminierenden Äußerungen auf, so etwa mit Spekulationen zur Verknüpfung von dunkler Hautfarbe mit einer stärkeren Libido, mit Ausführungen zum Abtreibungsrecht bei mutmaßlich homosexuellen Embryos und zu eugenischen Argumentationen bezüglich Menschen mit geistiger Behinderung oder Demenz. Einzureihen wäre Watson auch zu anderen Rechtsaußen-Populist_innen wie die beiden Harvard-Professoren, der Psychologe Richard J. Herrnstein und der Politikwissenschaftler Charles A. Murray, die 1994 den Band »The Bell Curve« veröffentlichten, in welchem sie davon ausgehen, dass vererbte Intelligenzunterschiede zwischen den Rassen bestünden. Ähnliches führen auch die Psychologen Arthur R. Jensen und J. Philippe Rushton in mehreren Publikationen aus, in denen sie Unterschiede in »Intelligenz, Gehirngewicht, Penisgröße, Geschlechtsreife, Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, Aggressivität, Geselligkeit und Gesetzestreue, AIDS-Raten« etc. entlang rassischen Zuordnungen untersuchen und die Ergebnisse mit einem Vererbungsansatz erklären (Rushton 2000; Jensen/Rushton 2005). Auch in Deutschland finden sich ähnliche Akteure, wie etwa der Genetiker und Historiker Volkmar Weiss, der in seinen Büchern »Die IQ-Falle« (2000) sowie » Die Intelligenz und ihre Feinde« (2012) über vererbte »Intelligenzunterschiede zwischen den Völkern« schreibt, oder der Bildungsforscher und Psychologe Heiner Rindermann, der 2007 von genetisch bedingter unterschiedlicher Intelligenz von Rassen sprach. 1 Doch was wäre mit der Einordnung von Watson in diese Reihe von wissenschaftlichen Rassifizierungen und Eigenschaftszuordnungen von Rassen geklärt? Eher weniger – vor allem kann dadurch nicht erklärt werden, wie er zu solchen Aussagen kommt, wie er aktuelle genetische Forschungen mit rassistischen Behauptungen verbindet und warum er glaubt, sich damit im Bereich des ›Wahren‹ zu argumentieren. Ebensolche Fragen nach den Hintergründen der veröffentlichten Aussagen nachgehend, bat Henry Louis Gates Jr. – jener am Anfang dieser Studie erwähnte Professor für Englische Literatur – Watson um ein Interview. Der Antirassist Gates befragte diesen zu seinen Ansichten über Libido und Hautfarbe, über »jüdische Intelligenz«, Gene und Basketball sowie zu dem von ihm durchgeführten 1
Die Publikationen, die Intelligenzunterschiede zwischen Rassen behaupten, sind in den USA sehr schnell umfassend kritisiert worden (siehe etwa Fraser 1995; Marks 2008), und auch Watsons Aussagen führten letztlich zu seiner Suspendierung von dem Amt am Cold Spring Harbor Laboratory. Im deutschsprachigen Raum werden klassisch rassifizierende Texte wie die von Weiss in der wissenschaftlichen Community nur wenig, dafür aber umfangreich im Spektrum der Neuen Rechten und des Populismus aufgegriffen (siehe etwa Sarrazin 2010). Die Äußerungen Rindermanns zu Rasse und Intelligenz waren zwar auch kurzzeitig Gegenstand der Kritik, allerdings stellten Fachkollegen und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie seine Bezüge zu Arbeiten von Weiss, Rushton, Jensen sowie Murray/Herrnsteins als wissenschaftlich einwandfrei dar – eine Positionierung, die von US-amerikanischen Fachgesellschaften kaum in ähnlicher Form denkbar wäre.
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genetischen Herkunftstest (Gates 2008b). Deutlich wird in dem Interview, dass sich Watson zwar von Rechtsradikalen, die seine Äußerungen begeistert aufgriffen, abzugrenzen versucht, gleichzeitig aber Intelligenzunterschiede oder Differenzen in sportlichen Erfolgen aufgrund genetischer Unterschiede zwischen rassischen Gruppen für möglich erachtet. Gates resümiert in einem Bericht zu dem Gespräch: »Ich denke nicht, dass James Watson ein Rassist ist, aber ich denke, dass er ein Rassifizierer [racialist] ist« (Gates 2008a). Hier soll die Frage, ob Watson ein Rassist ist oder nicht, nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen dient Watson hier als Ausgangspunkt für die erneute Frage nach dem Warum von Rasse in der Ära der Genetik. Über den Nachweis hinaus, dass Watson typische Behauptungen des Alltagsrassismus und der Race Psychology wiederholt, wird es in dieser Perspektive wichtiger, seine Äußerungen mit aktueller Differenzforschung und die Bedeutung gesellschaftlicher Gruppenzuordnungen in Beziehungen zu setzen. Keinesfalls werden seine Aussagen dadurch weniger problematisch. Jedoch lassen sie sich durch die Verbindung zur aktuellen Genetik und damit zu der wohl modernsten und innovativsten Wissenschaftsdisziplin kaum mehr als anachronistisch, als einem überholten Verständnis folgend, bezeichnen. Watson kennt mindestens Teile der aktuellen Differenzforschungen. So greift er etwa populationsgenetische Aussagen auf, mit denen menschliche Gruppen auf der Ebene von DNA-Markern statistisch unterschieden werden, und verbindet diese mit zwei weiteren Ebenen von Ungleichheit: erstens mit Ergebnissen der Epidemiologie und differenziellen Psychologie und zweitens mit Stereotypen aus dem Fundus rassistischer Vorstellungen über die ›Natur der Unterschiede‹. Eine solche Verbindung scheint einem der bekanntesten Genetikerޚinnen offenbar einleuchtend, obwohl nach mehr als hundert Jahren Forschung zu psychischen Differenzen der Rassen keine Ergebnisse vorliegen, die Unterschiede in Intelligenz, Libido etc. entlang rassifizierender Teilungen aufzeigen könnten. Watson greift mit seinen Behauptungen auf ein seit den Anfängen der Rasseforschung bestehendes Narrativ von Unterschieden in der Vernunftbegabung menschlicher Gruppen zurück und wähnt sich wohl durch diesen Traditionsbezug in einem Wissenschaftsdiskurs. Denn mit der Aufklärung geriet die Ratio als das höchste menschliche Gut zum wichtigsten Merkmal kategorialer Unterscheidungen. An die Vernunft wurden die Zugehörigkeit zum Menschen und der Besitz von Rechten geknüpft. Der Wahnsinn sowie Aspekte von Sexualität, Weiblichkeit wurden demgegenüber in jener Zeit als Abgrenzungseigenschaften, als Antipoden zur Vernunft etabliert. Solche Entgegensetzungen dienten seit der Verwissenschaftlichung rassistischer Teilungen einer Vielzahl von Forscherޚinnen zunächst der physischen Anthropologie, später der Psychiatrie, Intelligenzforschung und schließlich der Genetik zur Begründung eindeutiger Differenz. Neben der Intelli-
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genz rückte eine Fülle weiterer Marker vermeintlich entscheidender Unterschiede in den Untersuchungsfokus der Lebenswissenschaften. Trotz des stetigen Scheiterns der Suche nach einer schlussendlichen biologischen Differenzsignatur, wurde sie jedoch auch mit der post/genomischen Differenzforschung nicht verabschiedet. Stattdessen hoffen die Forscherޚinnen die bedeutungsvollen Unterschiede der Ordnungsdimension Rasse in den kleinsten Einheiten im Körper, in den Molekülen der DNA, aufzufinden. Das Scheitern der vielfältigen Bemühungen zur Bestimmung biologischer Differenz bewirkt somit kein Scheitern des Konzepts einer kategorialen Ordnung der Menschheit. Da den Forschungen der Genetik bzw. Genomik ein hoher Faktizitätsstatus zugesprochen wird, erzeugen die Versuche, diese in den genetischen Einheiten aufzufinden für rassifizierende Differenzmodelle sogar einen Auftrieb. Dabei wirken die Differenzuntersuchungen der Post/ Genomik nicht nur kontinuierend auf die Konzeption rassifizierender Differenz, sondern gehen mit einer Verschiebung der Bedeutung von Differenz einher. Galten die Untersuchungsmerkmale der physischen Anthropologie noch als Marker einer eindeutigen Differenz in der Vernunft, erhalten die Differenzen in der Ära der Genetik immer mehr einen eigenen Stellenwert als Anzeiger des Unterschieds. Zwar verschwinden die Negativ-Attribuierungen von Unterschieden keinesfalls, wie u.a. Watsons Äußerungen zeigen, doch die molekularen Unterschiede erhalten auch eine Reihe positivierbarer Zuweisungen als Zeichen spezifischer Herkunft, Verwandtschaft und Geschichte. Differenz bedeutet in Zeiten einer weitreichenden Aufwertung und In-Wert-Setzung in Form von Diversity Management und »Mainstream der Minderheiten« (Holert/Terkessidis 1996) weniger eine negative Attribuierung, sondern kann als ambivalente Ressource auch die Grundlage für inklusive und affirmative Politiken bilden. Selbst Einzelnukleotid-Polymorphismen in nichtcodierenden DNA-Bereichen wird dabei die Fähigkeit zugesprochen, Zeichen der Unterschiedlichkeit von Menschen entlang kategorialer Zuordnungen zu sein. In den Vordergrund tritt damit die Rolle lebenswissenschaftlicher Differenzierungen in Relation zu gesellschaftlichen Teilungsdimensionen. Watsons Äußerungen sind aus dieser Perspektive weniger als Auslassungen eines am Rande des Diskurses stehenden Ewiggestrigen zu verstehen. Vielmehr lassen sie sich als Sinnbild für zweierlei deuten: Erstens dafür, welche Relevanz soziale Teilungen auch in den Bereichen der Lebenswissenschaften, in den Forschungen zu den kleinsten Einheiten des Lebens, in Nukleinbasen, Mikro- und Minisatelliten-DNA erzeugen können. Zweitens zeigen die Aussagen Watsons auch auf, welche beschränkte Wirkmacht lebenswissenschaftliche Ergebnisse, wie die von der genetischen Ähnlichkeit aller Menschen oder der Bedeutung von Variabilität innerhalb aller Gruppen innerhalb der Biodisziplinen, zu erreichen vermögen. Aussagen aus den Forschungen der aktuellen Leitwissenschaft können
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somit noch immer leicht mit rassistischen Vorstellungen verknüpft werden und die Lebenswissenschaften werden gern als Instanz herangezogen um natürliche Differenzen zwischen den Rassen zu belegen. Für Watson wird es dadurch möglich, an den in der Genetik weiterbestehenden Fragen nach der Essenz rassischer Unterschiede anzusetzen und diese mit jener Tradition rassistischer Narrative zu verbinden, die von Differenzen in grundlegenden Eigenschaften des Menschen ausgehen. Als berühmter Genetiker und Repräsentant einer der weltweit führenden lebenswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen scheint zumindest ihm kein Problem in der Verknüpfung dieser Diskursstränge zu bestehen.
Moderne gesellschaftliche Teilungen und moderne Genetik Die Untersuchung von Rasse in den Lebenswissenschaften erfolgte hier vor allem anhand von Fragen, mit denen die Aktualität rassifizierter Differenzforschung, der Inhalt und die Gründe zeitgenössischer biologischer Rassekonzeptionen erkundet wurden. Mit zwei historisierenden Perspektiven – zum einen auf die Geschichte von Rasse und deren Verwissenschaftlichung und zum anderen auf die Genetifizierung von Rasse im Verlauf des 20. Jahrhunderts – konnte sowohl ein ständiges Scheitern biologischer Modelle zur Einteilung von Menschen als auch eine unablässige, bis in die heutige Zeit andauernde Erneuerung rassifizierender und rassifizierter Konzepte herausgearbeitet werden. Deutlich geworden ist, dass wissenschaftliche Rassekonzepte im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten einem immensen Bedeutungswandel unterlagen und dass mit neuen technischen Apparaturen, wechselnden Forschungsparadigmen und unterschiedlichen Differenzsignaturen jeweils ebenso neue, angepasste Modelle entstanden. Zur Erfassung der Wirkverhältnisse und Bedingtheiten biowissenschaftlicher Differenzkonzeptionen in einem weiteren Blick auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Dynamiken ist in den vorhergehenden Kapiteln Rasse in einem Gefüge von Wissenschaft und Gesellschaft als ineinander wirkender Sphären verortet worden. Lebenswissenschaftliche Forschung ist mithin als gesellschaftlich eingebundene soziale Handlung zu verstehen, die mit vielerlei strukturellen Vorgaben, Umgrenzungen und Anrufungen verwoben ist. In diesen Verwobenheiten entstehen aus den modernen Teilungspraktiken heraus immer wieder auch Anforderungen an die Biowissenschaften. Originär soziale, kulturelle bzw. politischen Fragestellungen wirken so stetig auf lebenswissenschaftliche Untersuchungen ein, werden dort in Forschungsprojekte und entsprechend in biologischen Antworten übersetzt. Jedoch darf dieses Gefüge nicht als Ableitungsverhältnis gesellschaftlicher Fragen missverstanden werden. Stand hier zumeist die Bedeutung lebenswissenschaftlicher
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Forschung in ihrer Funktion zur Legitimierung von Ungleichheitsverhältnissen im Vordergrund, sind biowissenschaftliche Arbeiten allerdings keinesfalls als sozial determiniert zu begreifen. In der Rekonstruktion der Verwissenschaftlichung von Rassevorstellungen wurde ersichtlich, wie die Entstehung und der Bedeutungszuwachs der Teilungsdimension Rasse mit der Entstehung der europäischen Moderne und ihren Gleichheits- und Freiheitsversprechen zusammen hängen und dass trotz der Gleichheitsgebote sowie spezifischer individueller und ökonomischer Liberalität heutige Gesellschaften von Stratifizierungen entlang einiger omnipräsenter Kategorisierungen geprägt sind. Sichtbar wurde auch, dass in der bestehenden Rechtfertigungsordnung lebenswissenschaftliche Aussagen eine zentrale Rolle bei der Erklärung der sozialen Unterschiede entlang dieser Kategorien einnehmen. So werden sowohl für die Trias der strukturell gewichtigsten sozialen Ungleichheitsdimensionen Klasse, Geschlecht, Rasse als auch für weitere Bereiche, etwa Sexualität oder Behinderung, fortwährend essentialisierende Aussagen produziert, die jenen Kategorien einerseits eine Natürlichkeit der Unterschiede zusprechen, andererseits aber den negativen Auswirkungen eine Vermischung von Schicksalshaftigkeit und Eigenverantwortlichkeit zuschieben. Die soziale Gemachtheit und zuweisenden bzw. strukturierenden Aspekte dieser Ungleichheitsdimensionen werden in beiden Aussagevarianten verdeckt, wodurch Interventionen in die Verhältnisse gesellschaftlicher Teilung entweder als kaum möglich oder als lediglich auf individueller Ebene sinnvoll erachtet werden. Essentialisierende, auf die Biologie rekurrierende Aussagen wurden von zwei Einwicklungen unterstützt: Zum einen breitete sich ab den 1970er Jahren mit der Soziobiologie in einer Reihe von Publikationen die biologische Erklärbarkeit aller möglichen kulturellen und sozialen Phänomene durch genetische und neuronale (Prä)Dispositionen aus. Lebenswissenschaftliche Ansätze griffen damit weit auf das Gebiet sozialwissenschaftlicher Deutungsansprüche über.2 Zum anderen kamen mit der Molekulargenetik in den späten 1980er Jahren und den zunächst vorherrschenden gendeterministischen Ansätzen eine Fülle von Narrativen über die Steuerung aller möglicher menschlicher Eigenheiten auf. Mit Untersuchungen an Tieren, Beobachtungen an Primaten und mittels Methoden der Zwillingsforschung schien sich fast jedes Verhalten als wesentlich oder ausschließlich biologisch geprägt belegen zu lassen. Zwar haben sich die Visionen der Soziobiologie und des Gendeterminismus der Molekulargenetik letztlich nicht erfüllt, aber Versuche, soziale Verhältnisse aus biologischen Einheiten herauslesen zu können, gehören
2
Siehe etwa Wilson 1975; Dawkins 1976.
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dennoch weiterhin in vielfältigen Variationen zum Grundrepertoire etwa genetischer oder neurobiologischer Erzählungen. 3 Die letzten Jahrzehnte genetischer Forschung sind jedoch durch enorme Transformationen gekennzeichnet. In diesen mussten lebenswissenschaftliche Narrative Einbußen in Hinblick auf die Reichweite ihrer Erklärungsansätze hinnehmen, und das ›Biologische‹ wurde selber Gegenstand einer weitreichenden Kulturalisierung. Statt einer einseitigen Ausdehnung biologischer Erklärungsansätze sind vielmehr diverse, auch gegensätzliche Verschiebungen zu verzeichnen. Neben einem »biotechnologischen Angriff auf den Gesellschaftsbegriff« (Bude 2002: 171), der den »Lebensbegriff« als Ersatz für den des Gesellschaftlichen einzufügen vermochte, ist das Verständnis von Natur ebenfalls bedeutend in Richtung eines von Menschen gestalteten und in artifiziellen Kontexten wie Laboren untersuchten Hybridobjekts verschoben worden. Der Begriff des Lebens changiert nunmehr zumeist nicht mehr zwischen Natur und Kultur, sondern zwischen zwei Ansätzen, auf deren einer Seite klassische Kausalitätsmodelle stehen, in denen der Natur die Grund- und Lenkungsfunktion zugesprochen wird, und auf deren anderer Seite neue Rationalitäten entstehen, die sich als post-dualistische Naturkonzepte zusammenfassen lassen, mit denen eine Überwindung soziozentrischer und biodeterministischer Vorstellungen versucht wird (vgl. Lemke 2007). Unter den neuen Bedingungen der »Biosozialität« wird das Leben nicht mehr wie von der Soziobiologie oder den deterministischen Genmodellen als Ableitung aus der Natur konzipiert, sondern die Natur selbst als wesentlich kulturell bestimmt. Das Leben wird zu etwas, das mit Hilfe von Technik erkannt und neu hergestellt wird und schließlich in dieser Konzeption selbst als biosozial verstanden wird (Rabinow 2004: 139). Für die lebenswissenschaftliche Disziplin der Genetik zeitigten all diese Entwicklungen dynamisierende Effekte. Im Laufe der letzten etwas mehr als 100 Jahre erlangte die Vererbung eine enorme Bedeutungserweiterung, mit der sich die Genetik von der Eigenbezeichnung einer zunächst exotischen Disziplin schnell zu einem schließlich in aller Munde befindlichen Terminus entwickelte. In der Ausbreitung genetischer Erklärungsansätze im Rahmen einer allgemeinen Genetifizierung des Lebens entstand dabei eine Fülle von Ansätzen zur Bestimmung des Lebens. Parallel zum Aufstieg der Genetik zur Querschnittsdisziplin der Biowissenschaften wurden auch Rassemodelle einer Genetifizierung unterzogen. Rassekonzeptionen waren für diese Verbindung in gewisser Weise vorbestimmt, da die Rassekunde von jeher von einer generational fortbestehenden kategorialen Differenz ausging. Von Anbeginn an und lange bevor es überhaupt eine biowis3
Siehe die Sammlung von »Gen für…« des Gen-ethischen Netzwerks: www.gen-ethischesnetzwerk.de/gen-fuer, Stand 11.12.2012.
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senschaftliche Vererbungsforschung gab, war Rasse mit der Weitergabe von Eigenschaften, mit der »Unreinheit des Blutes« (limpieza de sangre), mit einer »unausbleiblichen erblichen Eigenthümlichkeit« (Kant 1788: 165) verbunden. Die Entstehung der Genetik, die technischen Fortschritte zur Abbildung der DNA und die Zunahme der diskursiven Wirkmacht der Gene dynamisierte auch die biowissenschaftliche Rasseforschung. Doch trotz weitgehender Modifikationen in den lebenswissenschaftlichen Konzepten, wie den Erweiterungen um systembiologische und dynamische Modelle, blieben Forschungen an sozial fundierten Phänomene, die mit genetischen Markern korreliert werden, nach wie vor bestehen. Insbesondere soziale Ungleichheitsdimensionen bieten immer wieder Anlass für lebenswissenschaftliche Untersuchungen, sodass biologische Darstellungen weiterhin eine besondere Rolle in der bestehenden Aussageordnung einnehmen und über den wissenschaftlichen Rahmen hinausgehende Wirkungen erzeugen. Für einige klassische Differenzierungen wie etwa Religion, Alter und Sprache finden sich zwar nur gelegentlich genetische Ansätze, Verknüpfungen mit Vererbungsmodellen bestehen dennoch, wenn Sprachgrenzen mit reproduktiven Grenzen gleichgesetzt werden oder über Gene für Religiosität spekuliert wird. 4 Auch zu genetischen Differenzen zwischen Klassen gibt es aktuell eher selten Aussagen und Forschungen. Diese finden jedoch zusammenhängend mit anderen Attributen (wie IQ, Aggressivität, Fettleibigkeit oder Promiskuität) als Zuschreibungen statt, die mit Klasse, Einkommen oder sozialer Schicht konnotiert sind. 5 Auch für die Ungleichheitsdimension Rasse/Ethnizität bestehen nach wie vor zahlreiche sozialtheoretische, sozialmedizinische, soziologische und kulturelle Erklärungen, doch mit dem »schal gewordenen Gesellschaftsbegriff« (Bude 2002: 173) lässt sich in der Ära der Genomik immer weniger wirkmächtig agieren. Die Genetifizierung 4
5
Siehe etwa »Das Gottes-Gen« von Dean Hamer (2006). Die Konzeption von Sprachgrenzen als rassische bzw. genetische Gruppengrenzen findet sich schon in den typologischen Vorstellungen der physischen Anthropologie im 19. Jahrhundert, in den Blutgruppenuntersuchungen der 1920er bis 1940er Jahre, ist darüber hinaus Grundlage der populationsgenetischen Analysen von Cavalli-Sforza etௗal. (siehe z.B. Cavalli-Sforza/Bodmer 1971) und spielt aktuell in forensischen Datenbanken eine Rolle. Der Glaube an die Vererbung der Klassen- bzw. Schichtposition war im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet (vgl. Gould 1988). Insbesondere in der Eugenik-Bewegung wurden Armut und geringer gesellschaftlicher Status als »genetische Belastung«, als »Degeneration« und »schlechte Erbmerkmale« gewertet. Heute finden sich gelegentlich Äußerungen wie die des Psychologen Heiner Rindermann, in einem Interview im Deutschlandradio Kultur: »Menschen mit bestimmter genetischer Ausstattung suchen sich eine andere Umwelt aus und beeinflussen auch ihre Umwelt in einer bestimmten Form, wie es ihren Genen eher entspricht und wie sie sich auch dann besser entwickeln können. Also, zum Beispiel Intelligentere gehen eher länger in die Schule, auf Universitäten, und die weniger Intelligenten, die meiden eher solche Umwelten.« (www.ifeas.uni-mainz.de/Presse/Interview+Rindermann ޚDRadioKultur Dez07.pdf, Stand 12.12.2012)
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von Rasse führte dagegen unablässig zu neuen Bearbeitungen der Frage nach der Differenz zwischen den menschlichen Gruppen. Jedoch entstanden in Folge der Genetifizierung nicht nur Erneuerungen, sondern ebenso auch die Möglichkeit umfangreicher innerbiologischer Kritiken. Ergebnisse der Populations- und Molekulargenetik sowie des Humangenomprojekts wurden etwa im Sinne einer viel bedeutenderen genetischen Gleichheit aller Menschen gelesen.
Erfolge der Kritik… Im Laufe dieser Studie ist in verschiedenen Bereichen die Rolle der Kritik an biologischen Rassekonzeptionen hervorgehoben worden. Zunächst war diese bis zur Wende zum 20. Jahrhundert vor allem im geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie politischen Kontext formuliert worden. Soziologen wie Friedrich Otto Hertz (1904aௗu.ௗb) oder Jean Finot (1905) sowie der Anthropologe Franz Boas (1903, 1911) sprachen den Rassetheorien ihrer Zeit die Wissenschaftlichkeit ab und argumentierten vehement gegen die mit diesen Theorien einhergehenden Wertungen. 6 Mit der Entstehung der Populationsgenetik hinterfragten ab Mitte des 20. Jahrhunderts auch immer mehr biowissenschaftliche Akteurޚinnen die Rassemodelle. Innerfachliche Kritiken waren bis dahin lediglich als methodische Auseinandersetzungen geführt worden, etwa weil morphologische Merkmale Probleme erzeugten, wenn sie von individuellen Einschätzungen abhingen und damit den Objektivierungsmaßstäben wissenschaftlicher Forschung entgegenstanden. Die Farbe von Augen, Haaren und Haut, aber auch die Längen- und Größenbestimmungen allerlei körperlicher Merkmale schienen methodisch einem gewissen subjektiven Empfinden zu unterliegen und mithin nicht wissenschaftlich eindeutig kategorisierbar zu sein. Von Beginn des 20. Jahrhunderts an kam hinzu, dass die als so konstant erhofften Merkmale wie Knochen und Schädel als Untersuchungsgegenstände in Frage gestellt wurden, da diese in unterschiedlichen Umwelten massiven Veränderungen unterlagen und somit kaum mehr als typische Rassemerkmale gelten konnten (Boas 1913). 7
6 7
Siehe hierzu die Ausführungen zu »Antirassismus« im Kapitel »Geschichte«. Bevor die Gene als Vererbungseinheiten hegemonial wurden, galten den Rassenanthropologen Knochen als manifeste Entitäten der Differenz, deren Charakteristika zudem intergenerational weitergegeben würden. Im Vergleich mit anderen körperlichen Merkmalen schienen sie den Forschern viel unabhängiger von kulturellen, Ernährungs- und anderen Umwelteinflüssen. Hinzu kam, dass Knochen im Gegensatz zu vielen anderen Merkmalen gesammelt werden konnten und sich auch durch Präparierungstechniken nicht entscheidend veränderten. Zudem lag es auch nahe, Differenzen mit vergleichenden Schädelvermessungen zu beweisen, da das Gehirn schon als Ort der Vernunft galt und der Nachweis eines vermeintlich kleineren Schädels
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Da auch die aufwendig erhobenen Daten und die mit neuesten mathematischen Methoden erstellten Matrizen und Indizes nicht die erhofften klaren Differenzen zum Vorschein brachten, konnten sich zusammen mit den methodischen Problematisierungen schließlich auch innerhalb der Biowissenschaften grundsätzliche Kritiken entwickeln. Entsprechend kann das Verhältnis zwischen Rassekonzepten und Kritiken nicht als unidirektional verstanden werden. So wie Kritiken nicht lediglich von außen kommende Interventionen in die wissenschaftliche Differenzforschung sind, stützten die rassifizierenden Forschungen nicht lediglich die bestehenden Rassekonzepte, sondern erzeugten selbst ambivalente Effekte: So produzierten Differenzforschungen nicht immer nur neue Klassifikationen, sondern riefen ebenso Infragestellungen kategorialer Aufteilungen der Menschheit in Rassen hervor. Beispielsweise boten sich Blutgruppen seit der ersten Reihenuntersuchung – von den Hirschfelds (Hirschfeld/Hirschfeld 1919) während des Ersten Weltkriegs durchgeführt – aufgrund ihrer exakten eindeutigen Gruppierbarkeit (A, B oder 0) an, um Unterschiede zwischen den Rassen zu konstatieren. Schnell wurde jedoch auch schon in den 1920er Jahren offensichtlich, dass sich anhand der Blutgruppen keine eindeutigen Unterscheidungen realisieren ließen (siehe im Kapitel »Genetifizierung« »Vom Phän zum Gen«). In diesem Sinne nutzte etwa die Kulturanthropologin Ruth Benedict die individuelle, aber nicht populations- oder rassespezifische Verteilung von Blutgruppen als Mittel der Kritik an rassistischen Einteilungsmodellen (Benedict 1947, Benedict/Weltfish 1943). Zwar blieben die Blutgruppen und allgemein die Untersuchung von allerlei Blutproteinen ein Transportmittel, mithin Transfusionsmittel für die populationsgenetische Rasseforschung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Forschungen der Molekularbiologie des Human Genome Diversity Projects. Doch die inhärente Instabilität aller noch so ausgeklügelten Rasseklassifikationen, blieb ebenso fortan Ansatzpunkt weiterer Infragestellungen. Die neuen Untersuchungsmethoden und -technologien der klassischen Genetik, der Populationsgenetik, Serologie, Molekulargenetik und Genomik boten also allesamt neue Mittel, um die Rasseforschung weiterzuführen, aber kein einziges Modell konnte als wissenschaftlich allgemein anerkanntes Rassekonzept stabilisiert werden und präsentierte damit auch Ansatzpunkte der Kritik. Mit den populationsgenetischen Ansätzen entstanden weitere, über die bisherigen Kritiken hinausgehende Infragestellungen, die, ausgestattet mit der Autorität lebenswissenschaftlicher Wissensproduktion, bis in die heutige Zeit eine hohe Relevanz besitzen. Bedeutende Teile der klassischen Rassemodelle, wie die Vorstellung von Reinerbigkeit sowie rassistische Wertungen und Hierarchisierungen, der nichteuropäischen Rassen (wie auch von Frauen) im Rahmen der vorherrschenden Basisannahmen sinnvoll erschien.
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wurden durch diese Kritiken seit den 1930er Jahren und mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein vollzogenen Paradigmenwechsel von der typologischen Anthropologie zur Populationsgenetik innerwissenschaftlich von vielen Wissenschaftlerޚinnen verabschiedet. Wie schon an der Wende zum 20. Jahrhundert mit den Kritiken gegen den grassierenden Antisemitismus entstanden seit den 1940er Jahren in Auseinandersetzung mit den Rassengesetzgebungen im nationalsozialistischen Deutschland schließlich immer mehr politische und sozialwissenschaftliche Kritiken an biologischen Einteilungen der Menschheit. Politische Debatten um die Sinnhaftigkeit biologischer Einteilungen und veränderte politisch-soziale Anforderungen erzeugten auch eine Anpassung lebenswissenschaftlicher Antworten auf Fragen nach der Differenz zwischen den Menschen. Die seit den 1950er Jahren international entstehenden Antidiskriminierungs- und Bürgerrechtsbewegungen brachten entschiedene Einwände vor, die letztlich auch in Gesetzgebungsinitiativen zur Gleichstellung und zur Implementierung von Minderheitenrechten mündeten. Diese Kämpfe bewirkten, dass Rassismus zunehmend als allgemeines gesellschaftliches und interventionsnotwendiges Problem wahrgenommenen und schließlich wirkmächtige allgemeine Absagen an biologische Einteilungen von Menschen in Rassen formuliert wurden. Die Bewegung hin zu immer weiteren Infragestellungen verstärkte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere von den 60er Jahren an innerhalb der fachinternen Debatte. Untersuchungen zur kontinuierlichen Variation bei verschiedenen Spezies (Marder, Schmetterlinge, Sperlingsvögel) wurden schließlich so interpretiert, dass mit diesen auch rassische Einteilungen beim Menschen infrage gestellt werden konnten. Gestützt auf solche populationsgenetischen Untersuchungen formuliert schließlich 1962 der biologische Anthropologe Frank B. Livingstone, »[e]s gibt keine Rassen, sondern nur Cline 8« (1962: 133). Mit dieser deutlichen Aussage verband er die Hoffnung, dass »unser neues genetisches Wissen und die Bestimmung von Genfrequenzen die Studien zur Natur bzw. Essenz von Rassen ablösen wird« (ebd.: 138). Biologische Forschungen dienten schließlich immer mehr auch der Absage an kategorialen Einteilungen der Menschheit. In ihrer Gesamtheit überschritten die Kritiken von den 1970er Jahren an allmählich die Wirksamkeitsschwelle. Dadurch verschob sich die Hegemonie des auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin bestehenden biologischen Verständnisses von Rasse zu Gunsten allgemeiner Absagen an rassische Einteilungen inner8
Der Begriff »Cline« wurde in den 1930er Jahren eingeführt, um kontinuierliche Veränderungen innerhalb einer Spezies zu beschreiben. Im genetischen Sinne dient der Begriff zur Kennzeichnung einer graduellen Änderung in der Auftretens-Wahrscheinlichkeit von Genen (Allelfrequenz innerhalb einer Art). Indem graduelle Unterschiede herausgehoben werden, wird genetische Differenz grundlegend anders verstanden, als in Rassekonzepten, in denen kategoriale Teilungen statt Übergänge im Zentrum stehen.
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halb der Lebenswissenschaften sowie einer sozialkulturellen Bestimmung rassifizierter Teilungen. Beispielhaft zeigt sich dies an der nachhaltig wirkenden Studie des Populationsgenetikers Richard Lewontin zur Bedeutung der Innergruppenvarianz, die mit dem Resümee endet, dass »menschliche Rassenklassifikationen« weder »sozialen Wert« noch eine »genetische oder taxonomische Bedeutung besitzen« und es deshalb keine Rechtfertigung gebe, sie weiterhin zu verwenden (1972: 397). Livingstone und Lewontin sind damit zu jener Kritikform zu rechnen, bei der Ergebnisse lebenswissenschaftlicher Differenzforschung nicht nur als Anlass für weitere, intensivere Forschungen gelesen, sondern als Argumente gegen rassifizierende Einteilungen eingesetzt wurden. Neben den bereits genannten Einwänden (wie dem Argument der größeren genetischen Diversität innerhalb der Gruppen als der zwischen ihnen und dem der Unmöglichkeit einer klaren Trennung zwischen den Gruppen aufgrund von Merkmalsüberlappungen und graduellen Übergängen) zeitigten vor allem die Ergebnisse zur ›Diskordanz der Merkmalsverteilungen‹ und die im Vergleich mit anderen Tierarten größere ›genetische Ähnlichkeit aller Menschen‹ weitere kritische Effekte. 9 In den 1980er und 90er Jahren setzen sich entsprechende Aussagen zur Zurückweisung biologischer Verständnisse von Rasse in zahlreichen Fachpublikationen durch. Diese Entwicklung zeigt sich ebenfalls in den verschiedenen breit diskutierten Statements der UNESCO, in denen in der ersten Fassung von 1949 noch von dem »biologischen Fakt der Rasse« (UNESCO 1950) 10 ausgegangen wurde. Auch 16 Jahre später wird entsprechend die Weiterführung von Rassekonzepten unter populationsgenetischen Vorzeichen propagiert und noch immer festgestellt: »das Konzept der Rasse ist rein biologisch« (UNESCO 1965: 245). 11 In der Ära der 9
Als diskordant wird die von rassischen Grenzziehungen unabhängige Merkmalsverteilung bezeichnet. Wie in Abbildung 4 auf S. 158 dargestellt ist, verlaufen Merkmalsgradienten (dort der Blutgruppen A und B) in der Regel nicht übereinstimmend mit anderen Verteilungen von Merkmalshäufigkeiten (z.B. Haut-, Haar- oder Augenfarbverteilung) sowie mit rassischen Unterteilungen. Die vergleichsweise geringen Differenzen zwischen allen Menschen wurden im Vergleich mit Differenzuntersuchungen an anderen Tierarten, wie z.B. Schimpansen, deutlich und über einen »evolutionären Flaschenhals« erklärt. Siehe für einen weiteren Überblick über die Kritiken an Rassekonzepten Brückmann/Maetzky/Plümecke 2009. 10 Das erste Statement ist jedoch nicht eindeutig in der Begriffsbestimmung. So wird an anderer Stelle formuliert, dass Rasse »weniger ein biologisches Phänomen als vielmehr ein sozialer Mythos ist« (UNESCO 1950: 101). In der zweiten Erklärung, die 1950 Biologen, Genetikern und Anthropologen verfassten, ist letztere Passage allerdings gelöscht worden. Dagegen wurde gefordert: »Rasse muss biologisch definiert werden« (UNESCO 1952a: 7). Siehe hierzu die Ausführungen im Kapitel »Geschichte«. 11 Eine ähnliche Re/Biologisierung einzelner Passagen offizieller Statements wiederholt sich nochmals bei der »Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung«, die von der UN auf ihrer 1963 durchgeführten Generalversammlung angenommen wurde. In der Erklärung wurde formuliert, »dass jede auf Rassenunterschiede
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Post/Genomik seit den 1990er Jahren kamen jedoch neue Kritiken hinzu. Vor allem Akteurޚinnen der Humangenetik führten weitere Problematisierungen biologischer Rasseeinteilungen ins Feld und erzeugen damit eine neue Qualität innerbiologischer Infragestellungen. Im Einklang mit deutlichen Absagen an biologische Rassekonzepte etwa von antirassistischen Akteurޚinnen verabschiedet 1995 eine internationale Arbeitsgruppe von Genetikern, Anthropologen und Biologen in einer erneuerten »Stellungnahme zur Rassenfrage« im Kontext einer UNESCOKonferenz »Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung« eine unmissverständliche Absage an Rasse. Die Wissenschaftler erklären darin, dass das »Konzept der ›Rasse‹ [...] völlig obsolet geworden« sei und es »keinen wissenschaftlichen Grund [gebe], den Begriff ›Rasse‹ weiterhin zu verwenden« (UNESCO 1996a: 71f.). 12 Auch die Forschungsergebnisse der Molekulargenetik wurden vielfach in ähnlicher Weise interpretiert und dargestellt. Besonders die Aussagen im Rahmen des Humangenomprojekts, wie die von Craig Venter, Gründer des privaten und an der Sequenzierung beteiligten Forschungsunternehmens Celera Genomics, erlangten weitreichende Beachtung und wurden als ›Beweis‹ der wissenschaftlichen Widerlegtheit von Rassen aufgegriffen. Venter hatte als ein Ergebnis des Sequenzierungsprojekts verkündet, dass »zwei beliebige Individuen zu mehr als 99,9% in ihren DNA-Sequenzen identisch« seien (Venter etௗal. 2001: 1348) und die untersuchten Genome deutlich machten, dass »Rassekonzepte keine genetische oder wissenschaftliche Basis besitzen« (Venter 2000: D8). 13 oder rassische Überlegenheit gegründete Lehre wissenschaftlich falsch, moralisch verwerflich, sozial ungerecht und gefährlich ist und dass es für Rassendiskriminierung keine Rechtfertigung gibt, weder in der Theorie noch in der Praxis« (UN 1963, Präambel). Diese relativ weitreichende Einwendung gegen biologische Rassekonzepte, nach der jede auf Rassenunterschiede gegründete Lehre als wissenschaftlich falsch sei, wird im rechtsverbindlichen Gebrauch des 1965 verabschiedeten »Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung« entschärft, indem dieser Satz verändert wird zu: »dass jede Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlich falsch, moralisch verwerflich … ist«, womit die Ablehnung wissenschaftlicher Einteilungen (und der daran gekoppelter Wertungen) zu einer Ablehnung der Wertungen auf Basis von Rassenunterschieden wird (UN 1965, Präambel). 12 Siehe auch die Ausführung zu »Kontinuitäten und Brüche seit 1945« im Kapitel »Geschichte«. 13 Im Humangenomprojekt wurde in einer Sequenz das Genom von fünf Spenderޚinnen unterschiedlicher Herkunft sequenziert. Siehe hierzu im Kapitel »Genetifizierung«, Fußnote 5. 2002 wiederholte Venter die Aussage folgendermaßen: »Zu den besten Ergebnissen dieser Arbeit gehört die Erkenntnis, daß wir einander in fundamentaler Hinsicht gleichen. Wir Menschen teilen 99,9% unseres genetischen Codes miteinander« und »Wir können die ethnische Zugehörigkeit eines Menschen nicht auf der Grundlage des genetischen Codes bestimmen, weil Rasse und ethnische Zugehörigkeit nicht auf wissenschaftlichen, sondern auf sozialen Konzepten basieren« (Venter 2002: 51). Anfang 2008 korrigierte er allerdings seine Feststellungen aus dem Jahr 2001 in einem Interview wie folgt: »Wenn man mein Genom mit Ihrem vergleicht, liegen die Unterschiede bei einem bis zwei Prozent. Früher hätten viele auf 0,1
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In den letzten beiden Jahrzehnten folgten schließlich weitere Resolutionen zahlreicher wissenschaftlicher Fachverbände und Fachmagazine (allerdings vor allem in den USA) mit in die gleiche Richtung weisenden Wortlaut. In diesen wird die Wissenschaftlichkeit von Rasseeinteilungen in Frage gestellt, deren ›biologische Bedeutungslosigkeit‹ betont sowie für ein Verzicht auf Rassekategorien in der Forschung plädiert. 14 Neben den allgemeinen Erklärungen der Fachgesellschaften argumentierte auch eine Vielzahl einzelner Wissenschaftlerޚinnen vehement für die Abschaffung des biologischen Rassebegriffs und stellte die Unwissenschaftlichkeit der Weiterverwendung rassifizierender Konzepte heraus. 15 Entsprechend diesen Aussagen sind in den Lebenswissenschaften beträchtliche Überarbeitungen in den Fachbüchern und -lexika der verschiedenen Disziplinen zu verzeichnen. Einträge zu »Rasse« und »Menschenrasse« wurden in vielen der neuerschienenen (oder in erneuerter Auflage herausgegebenen) Lehr- und Fachpublikationen gestrichen oder im Sinne der Infragestellungen umformuliert. 16 Im Jahrzehnt des Humangenomprojekts und der ›Entschlüsselung‹ des menschlichen Genoms gilt Rasse somit zahlreichen Lebenswissenschaftlerޚinnen als überkommene Vorstellung. Dieser Einschätzung folgend diagnostizierte auch eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Autorޚinnen, dass die ›genetische Widerlegung‹ zu einem ›Ende
Prozent getippt, aber ich fand die Zahl immer zu klein, um damit die große Variationsbreite der Menschheit zu erklären.« (Venter 2008: 50). 14 Siehe folgende Erklärungen: American Anthropological Association: Statement on »Race« and Intelligence (1994) und Statement on »Race« (1998); American Association of Physical Anthropologists: Statement on Biological Aspects of Race (1996); Nature Genetics (2000); New England Journal of Medicine (2001) American Sociological Association (2002) sowie die im Jahr 2001 erfolgte Erklärung der von der UN geladenen »Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz«. 15 Siehe zu vor allem biowissenschaftlichen Akteurޚinnen etwa Marks 1995; Kattmann 1999, 2009; Owens/King 1999; Schwartz 2001; Wilson etௗal. 2001; Seidler 2005; Lewontin 2005. 16 Beispielsweise verzeichnet das umfangreichste deutschsprachige »Lexikon der Biologie« im Lemma »Menschenrassen«: »Unterschiede zwischen den Populationen des Menschen können zwar statistisch erfasst werden, sie sind aber entweder zu gering oder zu unbedeutend, um nach den Maßstäben der zoologischen Systematik Unterarten (›Rassen‹) unterscheiden zu können.« (Kattmann 2002: 172) Auch das 2005 erschienene deutschsprachige Lehrbuch »Anthropologie« weist aus, dass die »Frage nach der Existenz von Menschenrassen […] bis in die Gegenwart heftig und kontrovers debattiert [wird], wobei die Antwort aus biologischer Sicht rasch und sicher mit ›nein‹ gegeben werden kann« (Grupe etௗal. 2005: 170). Als Standardlehrbuch der physischen Anthropologie ersetzt es das 1996 letztmalig erschienene »Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik« von Reiner Knußmann, in dem Rasse noch als biologische Taxonomie ausgewiesen wurde. Im englischen Sprachraum setzte diese Umschreiben und Ersetzen bereits in den 1970er Jahren ein (vgl. Littlefield/Lieberman/ Reynolds 1997 u. Morning 2011).
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von Rasse‹ geführt habe. Rassekonzepte in ihren biologischen Varianten seien somit nur noch ›Fiktion‹ und ›sozialer Mythos‹. 17
…und Erfolge der neuen Rassifizierungen Im Widerspruch zum verkündeten Ende biologischer Rassekonzepte sind diese keinesfalls mit den UNESCO-Statements oder mit den Kritiken der Genomik in die Geschichte verabschiedet worden. Vielmehr ist eine Kontinuität rassifizierender Forschung zu verzeichnen und seit Anfang der 1990er Jahre entstehen in verschiedenen Feldern neue Forschungen und Beiträge, welche die Notwendigkeit von Rassekategorisierungen mit vielfältigen Argumenten zu stützen versuchen und Neuentwürfe von Rassekonzeptionen mit den neuesten Mitteln genetischer Forschung vornehmen. Wie die Ergebnisse der Populationsgenetik (z.B. zur Bedeutung der Innergruppenvarianz sowie zu kontinuierlichen Unterschieden) nicht nur zu Kritiken an Rassevorstellungen, sondern zugleich zur Weiterentwicklung von Rassekonzeptionen führten, ließ sich ebenso die im Rahmen des Humangenomprojekts verkündete genetische Gleichheit aller Menschen (Venter 2000) auch im Sinne einer Spezifizierung rassischer Einteilbarkeit der Menschheit verwenden. Schon kurz nach Beendigung des Humangenomprojekts sprach sich in diesem Sinne der Genetiker und Vorsitzende des Ethikkomitees der die Sequenzierung koordinierenden »Human Genome Organisation« (HUGO), Abdallah Daar, dafür aus, das »Konzept der Rasse wieder in Wissenschaft und Medizin« einzuführen und bei den »fünf wichtigsten Rassengruppen« nach Variationen für eine maßgeschneiderte Medizin zu suchen (zit. nach Blech 2004: 186; Daar/Singer 2005: 242). Ebenso kamen zum Jahrtausendwechsel neben molekulargenetischen Methoden in der Forensik zur Feststellung der »ethnischen Herkunft« anhand von DNA-Markern (Evett/Pinchin/Buffery 1992) auch mehrere neue genetische Ansätze auf, die bei medizinisch relevanten »Polymorphismen« nach »Frequenzunterschieden zwischen ethnischen und rassischen Gruppen« suchen (Evans/ Relling 1999: 488). Mit der Molekularisierung der Genetik, wie allgemein eines Großteils lebenswissenschaftlicher Methoden und Forschungsprojekte, wird in den 1980er Jahren ebenso das biowissenschaftliche Verständnis von Rasse einer Molekularisierung unterzogen. Die Marker der genetischen Differenzanalysen (Mini- und Mikrosatelliten, SNPs und Alu-Insertionen) können dabei als Signatur rassischer Differenz 17 Siehe entsprechend Äußerungen bei Stepan 1982; Gates/Appiah 1986; Guillaumin 1991, 2000; Barkan 1992; Witzig 1996; Gilroy 2000; Arndt 2002; ; Räthzel 2004; Eggers etௗal. 2005; Smedley/ Smedley 2005; Dietze etௗal. 2007a; Geulen 2007; Degele 2008.
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vorgestellt werden. Auch wenn einige Genetikerޚinnen in ihren Studien die Darstellung in Rassen zu vermeiden versuchen (wie z.B. Cavalli-Sforza/Bodmer 1999), werden die Ergebnisse dennoch häufig von anderen dahingehend interpretiert. So meinen etwa Neil Ris ch etௗal. (2002), dass mit verschiedenen genetischen Markern jeweils Zuordnungen in fünf kontinentale Gruppen (Africans, Caucasians, Pacific Islanders, East Asians und Native Americans) möglich seien und verweisen darauf, dass in Studien von Stephens etௗal. (2001) sowie Wilson etௗal. (2001) mit fast 4000 SNPs sowie mit mehreren Mikrosatelliten »genetische Strukturen in menschlichen Populationen« aufgezeigt und in »distinkte und nichtüberlappende Cluster, die sie mit Caucasian, African American und Asian« benennen, aufgeteilt werden könnten (2002: 3f.). Aus ihrem Überblick über verschiedene zeitgenössische Differenzuntersuchungen ziehen sie den resümierenden Schluss, dass »zahlreiche populationsgenetische Studien am Menschen zum identischen Ergebnis« gekommen seien, nämlich »dass die genetische Differenzierung am größten ist, wenn diese anhand kontinentaler Zuordnungen erfolgt«, woraus sie wiederum ableiten, dass »zwei Caucasians sich genetisch ähnlicher als ein Caucasian und ein Asian« seien (ebd.: 3 u. 5). Die neuen genetischen Differenzierungsmöglichkeiten führten auch zu neuen Rassifizierungen, etwa in der pharmazeutischen Forschung mit dem Herzmedikament BiDil oder mit genetischen Herkunftstests, die auf ethnische Zuordnung von DNA-Markern oder eine »Mischungsanalyse« des Genoms zielen. Vor allem in klinischen Studien lässt sich geradezu ein Boom an Unterscheidungen nach »rassischen« Gruppen (neben Geschlecht und Alter) feststellen, in denen genetische Unterschiede zur Erklärung von Medikamenten(un)verträglichkeiten, von Unterschieden bei Krankheitshäufigkeiten oder der durchschnittlichen Lebenserwartung vermutet werden. Entsprechend stellen in den letzten Jahren Forscher ޚinnen die Bedeutung »genetischer Differenzierungen […] zwischen kontinental separierten Gruppen« (Burchard etௗal. 2003: 1171) für medizinische Forschung und klinische Praxis heraus. So sollen »rassische Kategorien bedeutungsvolle biologische Differenzen widerspiegeln« (El-Haj 2007: 285) oder es wird davon ausgegangen, dass in »den nächsten Dekaden viele genetische rassische Differenzen entdeckt werden« (Rowe 2005: 69).18 In weiteren Studien sind Rasse und Ethnizität als »nützlicher biologischer Anzeiger für die zugrunde liegenden genetischen Variationen« im Gebrauch (Tate/Goldstein 2004: 39). Andere ziehen für die alltägliche Verschreibungspraxis die »Rasse« der Patientޚinnen mit in Betracht, wie die Psychiaterin Sally Satel in ihrem Artikel »I Am a Racially Profiling Doctor« (2002) 18 Siehe hierzu auch die Ausführungen im vorhergehenden Kapitel zu »Rasse in der Post/Genomik«. Ähnliche Aussagen finden sich bei Evans/Relling 1999; Wood 2001; Bonham/WarshauerBaker/Collins 2005; Tang etௗal. 2005; Risch 2006.
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beschreibt, da »Krankheiten und Behandlungserfolge sich entlang von Ethnizität clustern« und somit »die Realität von Differenzen« nicht zu leugnen sei (ebd.). Auch Projekte zur Untersuchung der Korrelation von genetischen Polymorphismen mit Zivilisationskrankheiten, wie die »Genome-Wide Association Studies«, das »International HapMap Project« oder das »1000 Genomes Project«, basieren vielfach auf rassifizierenden Zuordnungen (vgl. Fujimura/ Rajagopalan 2011). In weiteren Bereichen neben dem medizinisch-pharmakologischen nutzen Forscherޚinnen genetische Marker wie Einzelnukleotid-Polymorphismen oder Mikrosatelliten, um die »biogeographische Herkunft« (Shriver/Kittles 2008: 202) zu bestimmen. Andere nehmen Einteilungen der Menschheit anhand von vier »Hauptclustern« vor, die »nahezu perfekt der Selbstidentifizierung der getesteten Personen zu einer Rasse/Ethnizitäts-Kategorie« entsprächen (Tang etௗal. 2005: 268) oder ermitteln »sechs genetische Hauptcluster«, die mit »geographischen Hauptregionen« korrespondieren sollen (Rosenberg etௗal. 2002: 2381). In ähnlicher Weise bieten seit den ersten Jahren dieses Jahrhunderts mehrere Unternehmen genetische Herkunftstests an, mit denen anhand von genetischen Markern die kontinentale oder ethnische Abstammung der Testpersonen sowie die rassische Mischung ihrer DNA-Bestandteile ermittelt werden. So finden in den gängigen genetischen Abstammungstests des AncestrybyDNA-Verfahrens 175 Marker Anwendung, um Genombestandteile den vier Kategorien »European, Indigeneous American, Sub-Saharan African und East Asian« zuzuordnen (siehe Abbildung 7, Seite 220). Diese kontinentale Klassifizierung entspricht dabei weitgehend den Rassevorstellungen, die auch im US-amerikanischen Zensus, in sozialwissenschaftlichen Studien und in der Politik verwendet werden. Im Testergebnis der Firma »DNAPrint Genomics« wird die Zuordnung jedoch als biologisch-genetisches Konzept, als »biogeographische Abstammung« naturalisiert (vgl. Fullwiley 2008a). Sämtliche populär vermarkteten Ancestry-Tests stehen – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – in Relation zu rassifizierenden Einteilungen. Einige der Unternehmen versuchen dabei Rassezuordnungen explizit zu vermeiden, dennoch nehmen sie alle Zuordnungen zu »tribes, Nation, Volk, Urvolk, Population« vor oder machen Angaben über Anteile der individuellen DNA, etwa anhand der vier »Populations-Gruppen« Native American, European, East Asian und African. 19 Für die dargebotenen Ursprungserzählungen böten sich prinzipiell viele mögliche Varianten von Verwandtschafts- und Herkunftsdarstellungen an. Naheliegend und vermarktbar erscheinen jedoch lediglich Narrative, die genetische Daten im Sinne eindeutiger Zuordnungen und deutlicher Trennungen zwischen den Gruppen präsentieren. 19 Siehe die weiteren Ausführungen zu »Genetischen Herkunftstests« im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«.
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In Reaktion auf die Fülle an zeitgenössischen Rassifizierungen warnen entsprechend verschiedene Kritikerޚinnen vor einer neuen Rasseforschung. Als Gegenstück zu Darstellungen, in denen ein Ende biologischer Rassekonzepte behauptet wird, stellen diese Analystޚinnen heraus, dass vielmehr von einer »Wiedergeburt des Rassebegriffs« (Duster 2004), einer »neuen Wissenschaft der Rasse« (Abraham 2005; Bliss 2012) oder einer »Neuerfindung«, einer »neuen Wissenschaft und Technologie der Rassengenetik« (Roberts 2011: Xf.) gesprochen werden müsse. Andere Zeitdiagnosen legen dar, dass in bestimmten Bereichen »rassifizierte biologische Vorstellungen ein Comeback erleben« (Goodman 2000). So sei zu sehen, dass die »rassenbasierte Medizin fortdauert« (Wade 2004) oder dass in den letzten Jahren die »biomedizinische Literatur zu Rasse explodiert« sei (Fausto-Sterling 2004: 5). Statt der soeben noch verkündeten Absagen an Rassekonzepte lässt sich also für die aktuelle genetische Differenzforschung ebenso eine Renaissance biologischer Rassekonzepte feststellen.
Resistenzen biologischer Rassekonzepte Die Kritiken, Infragestellungen und Absagen an biowissenschaftliche Rassekonzepte haben maßgeblich dazu beigetragen, den mit der Moderne, der Kolonialisierung und säkularen Herrschaft entstandenen Naturalisierungen sozialer Ungleichheit entgegen zu wirken. Mit den Kritiken ließen sich naturalisierte Differenzkonzepte als sozial erzeugte Unterscheidungen verstehen und damit von vormals als kausal vorgestellten biologischen Unterschieden entkoppeln. Allerdings beließ der dominante Bezug der Kritik auf biowissenschaftliche Belege die Frage nach der Realität von Rasse in der Biologie. Die Vielzahl der während des 20. Jahrhunderts formulierten Argumentationen gegen biologische Rassekonzepte hat auch aus diesem Grund nicht zu einer Verabschiedung, sondern oft sogar zu weiteren Reformulierungen von Rasse beigetragen. Die Kritik wurde damit zu einem Faktor in der Fortführung der Rasseforschung, indem sie auch revitalisierend auf die Erneuerung und konzeptionelle Weiterentwicklung biowissenschaftlicher Differenzkategorisierungen wirkte. Allerdings führten die Infragestellungen spätestens seit den UNESCO-Statements von 1949/50 dazu, dass sich Differenzforschungen immer, auch mit den Kritiken, mindestens in impliziter Form befassen müssen. Entsprechend können heutige lebenswissenschaftliche Rassemodelle, um nicht als rassistisch, überholt und widerlegt zu gelten, nur bestehen, wenn sie mit den Kritiken an typologischen Konzepten, an Hierarchisierungen und Wertungen umzugehen wissen.
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Die Kritiken erzeugten also kein Ende, sondern wurden in die Transformation hin zu moderneren Konzepten rassischer Differenz eigewoben. Rassekonzepte erwiesen sich somit als sehr flexibel, um einerseits das empirische Problem handhaben zu können, dass unter den jeweiligen Forschungsparadigmen und den modernsten Methoden keine abschließende Ordnung der menschlichen Differenzen aufzufinden war. Andererseits war es bisher immer auch möglich, neue Rassemodelle zu konstituieren, die eben auch mit den verschiedenen sowohl politischsozialwissenschaftlichen als auch innerdisziplinären Kritiken an rassischen Einteilungen umzugehen wussten. So machten sich Differenzkonzepte die kritische Argumentation zu eigen und richteten diese an ihre Vorgängermodelle typologischer und völkischer Rasseverständnisse. Entgegen den mindestens implizit hierarchisierenden klassischen Konzepten sind Rassekonzepte nun selbst mit integrierenden Momenten ausgestattet, indem mit der Inklusion von Minoritäten (etwa in medizinische Behandlungen) oder dem Nutzen der Differenzierung für alle argumentiert wird. Diese Fähigkeit zur produktiven Integration von Kritik an biologischen Rassekonzepten ist dabei keine gänzlich neue Erscheinung, sondern schon in deren frühe Entwicklungsdynamik eingeschrieben. So übten die auf die Mendelsche Genetik zugreifenden Forschungen Kritik an vorhergehenden Rassevorstellungen (vgl. Sankar 2008). Mit der Populationsgenetik argumentierten Differenzforscherޚinnen, dass ihre Modelle die Evolution des Menschen im Vergleich zu den klassischen typologischen besser abbilden könnten. Die Molekularbiologޚinnen begründeten ihre Forschungen als näher an den Genen und damit viel weniger von Umwelteinflüssen abhängig als eine Analyse phänotypischer Merkmale oder die Untersuchung von Blutproteinen (»closer to the genes, closer to reality«-Argument, Reardon 2004). Heutige Ansätze greifen Kritikaspekte darüber hinaus auf, um sich damit rhetorisch von Rassemodellen abzusetzen, aber dennoch rassifizierende kategoriale Einteilungen vorzunehmen (vgl. die Ausführung zu den genetischen Herkunftstests und zur Medikalisierung). Oder aber die Kritik wird eingesetzt, um populationsgenetische Ansätze als überholt auszuweisen, da mit genetischen Markern wie SNPs, STRs etc. viel besser als mit den proteinbasierten Studien der Populationsgenetik Differenzierungen vorzunehmen seien (siehe etwa Burchard etௗal. 2003; Edwards 2003; Jorde/Wooding 2004; Risch etௗal. 2002). Die massiven innerbiologischen Kritiken werden in einigen aktuellen Forschungen umgangen, indem diese – wie z.B. die bedeutende Intragruppenvarianz – benannt, dann aber dennoch die Intergruppendifferenz beforscht wird (siehe etwa Jorde/Wooding 2004; Risch etௗal. 2002), oder sie können gewendet werden, indem beispielsweise die im Rahmen des Humangenomprojekts entstandenen Verlautbarungen zur 99,9%igen genetischen Gleichheit der Menschen zum Anlass
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genommen wird, nun die 0,1% Varianz auf rassische Differenzen hin zu untersuchen (Rowe 2005). Doch trotz aller Veränderungen, trotz vieler Versuche, über neue Rassekonzeptionen der Wahrheit der Differenz näher zu kommen, konnte kein Rassekonzept über längere Zeit stabilisiert werden. Zu einem Ergebnis führte die Suche nach einer statischen natürlichen Ordnung des Menschen immer nur punktuell, lediglich bei einzelnen Forscherޚinnen oder für begrenzte Zeit unter dem jeweiligen Forschungs- und Methodenparadigma. Im Zeitverlauf waren die Modelle entsprechend massiven Wandlungen, intensiven wissenschaftlichen Be- und Umarbeitungen unterworfen, sodass Rasse von einer Vielzahl an Konzeptionen gekennzeichnet ist. Schon Friedrich Otto Hertz bemerkte diese Eigentümlichkeit von Rasse und resümierte, dass es »mehr Rassentheorien als Rassentheoretiker« gebe (Hertz 1904a: 280). Dies hat sich auch mit der Genetifizierung rassischer Einteilungen im Laufe des 20. Jahrhundert und unter den Bedingungen der Post/Genomik nicht geändert, sodass der Biologe Ulrich Kattmann am Beginn des 21. Jahrhunderts zur inhaltlich gleichen Schlussfolgerung gelangt: »Beim Menschen wurden beinahe so viele Rassensystematiken aufgestellt, wie es Wissenschaftler gibt, die sich mit dem Problem befasst haben« (2002: 170f.). Rasse ist somit ein in gewisser Weise prekäres wissenschaftliches Konzept, da von eindeutig belegbaren Unterschieden, die zudem im geschichtlichen Rahmen konstant sein sollen, ausgegangen wird, diese aber in den Forschungen immer wieder in Frage gestellt werden. Anstelle der natürlichen Ordnung des Menschen zeigt sich vielmehr eine geringe Halbwertzeit der einzelnen Konzepte und schließlich eine diachrone Vielfalt an Teilungsmodellen. Bei allen Weiterentwicklungen biowissenschaftlicher Differenzkonzepte, von den klassisch typologischen Modellen der Rassenanthropologie über die Paradigmen der Populations- und der Molekularbiologie bis zu post/genomischen Ansätzen, entstanden trotz der Kontinuität rassifizierender Teilungen bedeutende Verschiebungen im Inhalt der Differenz. In den Kapiteln zur Genetifizierung und zu neuen Rassifizierungen in der Post/Genomik wurde analysiert, dass einerseits kategoriale Ordnungsmodelle weiterbestehen, andererseits aber entlang der neuen Forschungs- und Methodenparadigmen jeweils neue Ansätze zur Fassung von Differenz entwickelt wurden. Als wesentliche Verschiebung konnte herausgearbeitet werden, dass aktuelle lebenswissenschaftliche Differenzkonzepte neue Funktionalitäten übernehmen. Die Bestätigung einer hierarchischen Ordnung der Menschheit tritt in den Hintergrund zu Gunsten weiterer biopolitischer Bedeutungen von Differenz. 20 Mit 20 Dennoch sind weiterhin viele Forschungsergebnisse, die als kategoriale Differenzen dargestellt werden, mit wertenden und hierarchisierenden Konnotationen verknüpfbar. So kann die Darstellung von Ungleichheiten in Krankheitsvariablen als mutmaßlich genetische Diffe-
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der Verkleinerung und Verinnerlichung der Differenzsignaturen im Verlauf des 20. Jahrhunderts, mit der Einsetzung von Mini- und Mikrosatelliten sowie Einzelnukleotid-Polymorphismen als Marker der Differenz wurde Rasse jenseits der Gene nun hauptsächlich in nicht-codierenden Bereichen des Genoms, in den kleinsten Bestandteilen der DNA, den Punktmutationen und Basensequenzwiederholungen verortet. Der Wechsel vom Nachweis von Unterschieden als Zeichen der Inferiorität der ›Anderen‹ zum Abbilden von Differenz in den kleinsten Einheiten im »Buch des Lebens« zeigt eine Veränderung im Sinngehalt der Unterscheidungen an. Die Differenzmarker selbst wurden dabei immer mehr von Anzeigern eines Wesensunterschieds, die die jeweiligen Gruppen hierarchisch anzuordnen ermöglichen, zu einer Differenz, die als wissenschaftliches Abbild allerlei allgemein bekannter und nicht beweisnotwendiger Unterschiede gilt. In diesem Sinne befinden sich die Marker der meisten aktuellen genetischen Differenzuntersuchungen auf Punktmutationen und Basensequenzwiederholungen, die in Bereichen der DNA außerhalb der eigentlichen Gene liegen und damit im vorherrschenden Verständnis in der Regel keine phänotypische Wirkung haben. Die beiden Haupttechniken für kommerzielle und für forensische Herkunftstests gründen zudem auf dem Y-Chromosom oder den Mitochondrien, auf denen nur je ein paar Dutzend Gene liegen. Obwohl die mit den zeitgenössischen Mitteln aufgespürten Differenzen in den gängigen Modellen der Lebenswissenschaften keine Relevanz für physische oder sozial-kulturelle Unterschiede besitzen, vermögen sie diese dennoch biowissenschaftlich zu bestätigen und damit als naturgegeben zu fundieren. In der Praxis lebenswissenschaftlicher Differenzforschung erscheinen die mit der sozialen Ungleichheitsordnung verknüpften körperlichen Attribute entsprechend als genetische Differenz. In diesem Sinne stehen die heutigen genetischen Marker zwar nicht wie bei den Vermessungen der Rasseanthropologie des 19. Jahrhunderts als Signatur eines Wissens über die Unterlegenheit der anderen Rassen, doch sie stellen als Unterschiede in der DNA eine eigene Differenzbedeutung dar. Die realen Unterschiede der Teilungs- und Ordnungsdimension Rasse finden damit ihr Gegenüber in den irrealen Differenzen nichtcodierender bzw. sogenannter Junk-DNA.
renz auch stigmatisierende Bedeutungen erzeugen. Wenn eine rassifizierte Gruppe als genetisch häufiger krank bezeichnet wird, kann diese Aussage nicht wertfrei sein, zumindest nicht in einer Gesellschaft, für die Krankheit und Gesundheit mehr als nur individuelle Zustände bezeichnen. Aber auch scheinbar nichtnormative Wahrscheinlichkeitszuordnungen von Mini- und Mikrosatelliten und Einzelnukleotid-Polymorphismen zu geographischen Räumen und Ethnien und Rassen sind im Kontext segregierender Gesellschaften leicht Gegenstand weiterer Bedeutungsaufladung.
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Kontinuitäten rassifizierender Biopolitik Rassifizierende Klassifikationen sind stetigen Veränderungen unterworfen. Differenzen im Knochenbau und anderen physischen Merkmalen, die von Linné bis zur Rassenpsychologie üblich waren, die vielfältigen Unterschiede, welche die typologische Rassenanthropologie vermessen hatte, stehen in den aktuellen biowissenschaftlichen Repräsentationen rassischer Differenz nicht mehr im Zentrum, sondern sind höchstens mittelbar, etwa als Auswirkungen der genetischen Ausstattung, relevant. Dennoch erfuhr Rasse in den Lebenswissenschaften entgegen einer in alltagsrassistischen Unterscheidungsideologemen und -praxen zu beobachtenden Kulturalisierung von Differenz – basierend vor allem auf Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit 21 – keinesfalls eine solche Denaturalisierung, sondern ist durch die Genetifizierung und Anbindung an je aktuellste Forschungsmethoden immer wieder als biologisches Konzept im Sinne der Abbildung einer in der Natur vorfindlichen Ordnung reformuliert worden. Die Sozialwissenschaftlerޚinnen Manuela Bojadžijev und Alex Demirović stellen über »Konjunkturen des Rassismus« fest, dass »Rassismus […] nicht stabil« sei, sondern sich – wie andere Wahrheits- und Wissensproduktionen – verändere, andere Formen annehme, sich mit unvermuteten Praktiken verbinde (2002: 24f.). Solche Konjunkturen lassen sich offensichtlich auch für die Entwicklung lebenswissenschaftlicher Rassekonzepte konstatieren. Diese scheitern kontinuierlich an den eigenen Kriterien lebenswissenschaftlicher Differenzuntersuchungen und sind dennoch immer wieder Ansatzpunkt neuer Konzeptionen und entsprechender Forschungen. Da die Kontinuierungen aber nicht aus den lebenswissenschaftlichen Ergebnissen selbst zu erklären sind, liegt die Frage nach den gesellschaftlichen Hintergründen für den unablässigen Fortbestand kategorialer Differenzkonzepte auf der Hand. Wissenschaftsgeschichtlich lassen sich zwar auch andere Konzepte aufzeigen, an denen trotz massiver Infragestellungen kontinuierlich mit einer Fülle von Modellen festgehalten wurde, aber die Konstanz an Reformulierungen und Infragestellungen macht Rasse zu einem besonderen Konzept. Diese Besonderheit lässt sich etwa an einem Vergleich mit den Forschungen des Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn aufzeigen, der in einer Studie zu »wissenschaftlichen Revolutionen« (1976) radikale Brüche in wissenschaftlichen Theoriemodellen untersucht hat. Anhand mehrerer historischer 21 Die Kulturalisierung von Rasse sollte aber nicht als ausschließliche Form aktueller Rassifizierungen missverstanden werden. Spezifische physische Merkmale blieben bisher trotz allgemeiner Kulturalisierungstendenzen auch im Alltagsverständnis mit rassifizierten Differenzkonnotationen verbunden. Vor allem Haut-, Haar und Augenfarbe sowie Formvarianten der Nase, Augen etc. sind in der sozialen Stratifikationsordnung und in Alltagsinteraktionen als rassifizierte Signifikanten relevant.
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Phänomene der Auffächerung und Vervielfältigung von Theorien deutet er diese als typisch für eine Krise des Theoriegebäudes, die letztlich zu einem völlig neuen Paradigma und einer Überwindung der alten wissenschaftlichen Vorstellung führe. Wie etwa zu Ende des 18. Jahrhunderts unzählige Versionen der Phlogistontheorie zur Erklärung von Phänomenen mit Bezug auf Gase entstanden, so ließe sich die Fülle an Modellen und Markern der Differenz, mit denen rassische Einteilungen vorgenommen wurden und werden, ebenso als eine Krise der kategorialen Differenzforschung interpretieren. Die Phlogistontheorien wurden schließlich von der Oxidationstheorie (mit dem Gas Sauerstoff), genauso wie die komplexen Theoriemodelle des geozentrischen durch das heliozentrischen Weltbild, abgelöst. Zwar lässt sich für die wissenschaftliche Rasseforschung seit ihrem Beginn eine ähnliche wie die von Kuhn bezeichnete Krise konstatieren. Im Gegensatz zur Phlogistontheorie oder dem geozentrischen Weltbild sind Rassetheorien in der Erforschung menschlicher (biologischer) Differenz jedoch bisher keinesfalls verabschiedet worden. Die Auseinandersetzungen haben lediglich zu reichlichen Veränderungen, aber nicht zu einer Ablösung der Theorie einer rassischen Aufteilung durch ein neues Verständnis biologischer Diversität geführt. Statt aufgrund der vorliegenden Theorien- und Konzeptfülle also kurz vor ihrer Ablösung zu stehen, erneuerten sich Rassemodelle bisher immer unter Anwendung der jeweils aktuellen Ansätze biowissenschaftlicher Forschung. Das ›Scheitern‹ der Rassemodelle wirkte eher als ein produktives Moment und als Theoriemotor, auf das mit noch mehr und detaillierteren Forschungen zu antworten war (vgl. Hanke 2007; Kerner 2009a). Zur Untersuchung der Produktivität biowissenschaftlicher Konzepte bietet Kuhns klassische Studie keine Erklärung, sondern unterstützt vielmehr die Frage nach der Besonderheit von Rassekonzepten. Für die Beantwortung der Frage bietet sich aber Foucaults Analyse, jene hier schon am Beginn der Studie eingeführte Perspektive auf moderne Regierungshandlungen unter dem Begriff der »BioPolitik«, an. Mit dem Blick auf die »Vereinnahmung des Lebens durch die Macht« untersuchte Foucault zunächst jene Regierungstechniken, die sich im doppelten Sinne auf den Körper – als individueller und als Gattungs-Körper – richte (Foucault 1975: 282ௗu.ௗ286). In einer Genealogie jener Techniken, identifiziert er eine Zäsur in der Regierungskunst innerhalb der Moderne, die er kontrastiv mit den Begriffen »Leben« und »Tod« fasst. Während sich die ›alte‹ Macht des Souveräns aus der Verfügung über den Tod herleitete, entwickelte sich seit dem klassischen Zeitalter eine Macht, die sich auf das Leben zu stützen versucht. Die Macht, »sterben zu machen und leben zu lassen«, sei abgelöst worden von einer Macht, die vor allem beinhalte, »leben zu machen und sterben zu lassen« (Foucault 1983: 165 Hervh. i. Orig., siehe auch 1975/76: 291). Was Foucault hier kontrastiv
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auf den Begriff bringen will, ist jener Wechsel in den Regierungshandlungen, in dem das Leben in den Fokus der bewussten Kalküle rückt. In seinen Analysen untersucht er somit Machttechniken, die den individuellen Körper unter Maßgaben der Formung, Steigerung und Nützlichkeit umgreifen. Statt wie Kuhn damit auf die Transformationen wissenschaftlicher Konzepte zu schauen, fokussiert Foucault auf Veränderungen von Regierungsrationalitäten und kann in dieser Perspektive die Erfindung der Bevölkerung, die Wirkung disziplinierender und regulierender Machttechniken und die Dezentralisierung der Macht in Form gouvernementaler Praktiken untersuchen. Für die hier gestellte Frage nach den Gründen der Kontinuierung rassischer Klassifikationen, bietet sich mit den foucaultschen Untersuchungen zur Biopolitik ein Ansatz sowohl um die weiter bestehende Funktionalität kategorialer Einteilungen des Menschen als auch die Veränderungen rassifizierender Konzepte zu verstehen. Für die hier untersuchte Frage nach dem Wie und Warum rassifizierender Konzepte dienten Foucaults Ansatz dabei als Grundierung. Deutlich gemacht werden konnte, dass über die Praktiken in den Wissenschaften hinaus auch die Frage nach gesellschaftlichen Stratifizierungen und der Bedeutung von Differenz mitgestellt werden muss. Doch auch aktuelle Biopolitiken unterliegen Veränderungen. Die Konzeption des Lebens, das es zu steigern und zu optimieren gilt, das Verständnis rationaler Regierungsweisen oder die Form des Zugriffs auf die Individuen dürfen nicht als statische Formationen missverstanden werden. Wie das Leben als flexibles und als in gewissen Grenzen zu regulierendes verstanden wird, müssen auch aktuelle Regierungspraktiken und das Verhältnis von wissenschaftlichen Konzepten und gesellschaftlichen Teilungsdimension als vielfältigen Wandlungen unterliegende untersucht werden. Gerade für die Rekonstruktion biologischer Rassekonzeptionen wird es deshalb notwendig die Funktionalitäten rassischer Teilungen als ebenso veränderbare zu verstehen. In vielen der bestehenden Weiterführungen von Analysen unter dem Begriff der ›Biopolitik‹ und ›Biomacht‹ werden allerdings oftmals die disziplinierenden, ausschließenden und mittels Zwang erfolgenden Aspekte moderner Gesellschaften herausgehoben. So greift etwa der Philosoph Giorgio Agamben in seinen Untersuchungen zur Biopolitik die Arbeiten Foucaults und Hannah Arendts auf, betont aber seinerseits vor allem die Grenzfiguren des Lebens. Diese identifiziert er im homo sacer als »nacktes Leben« und als Grundform sowohl der Unterwerfung unter die souveräne Macht als auch der individuellen Freiheit (2002: 133). In diesem Sinne und in Anlehnung an Agamben fokussiert der Politikwissenschaftler und Historiker Achille Mbembe die Politiken des Todes und erweitert Foucaults Begriff der »Biomacht« um die Begriffe »Nekropolitik« und »Nekromacht«, um »heutige Formen der Unterwerfung des Lebens unter die Macht des
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Todes zu verstehen« (2008: 89). Dem gegenüber stehen Arbeiten wie etwa das »Empire« des Literaturwissenschaftlers Michael Hardt und des Philosophen Antonio Negri, mit dem die Autoren den Begriff der Biopolitik auf den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus beziehen und auf die produktiven Dimensionen liberaler Machttechniken beschränken. In ihrem Gebrauch des Begriffs Biomacht begrenzen sie Foucaults Entwurf auf die Kapitalisierung von Natur bzw. die reelle Subsumtion selbiger sowie der Gesellschaft unter das Kapital (Hardt/ Negri 2002, S. 372). Dabei vollziehen sie eine Zuspitzung der produktiven Dynamiken und versuchen, die der ›lebendigen Arbeit‹ innewohnenden Kräfte als emanzipatives Vermögen, um in gesellschaftliche Verhältnisse transformativ einzugreifen, fruchtbar zu machen. Beide analytische Perspektiven auf die Nutzbarmachung des Lebens in gesellschaftlichen Prozessen beinhalten Begrenzungen, die eine adäquate Analyse gegenwärtiger lebenswissenschaftlicher Rassifizierungen erschweren. Während mit dem Fokus auf die Disziplinierung der Körper, die Ausschlüsse und Nekropolitiken zwar viele Effekte intentionaler und struktureller Rassismen in den Blick genommen werden können, sind viele der Ausweitungen rassifizierender Forschung in den Lebenswissenschaften damit kaum angemessen zu fassen. Auf der anderen Seite lassen sich mit einer »produktivistischen Zentralperspektive« (Schultz 2008: 133) etwa lebenswissenschaftliche Rassekonzepte als Hoffnungsträger, als »Chance das akute Problem von Rasse zu bearbeiten« bzw. die Fehler des »vergangenen wissenschaftlichen Rassismus zu korrigieren« (Bliss 2012: 94) sichtbar machen. Die reifizierenden Effekte von (Selbst)Identifizierungen, medizinischen Differenzierungen und allgemein von rassischen Klassifizierungen sind jedoch aus einer affirmativen Fassung von Biopolitik kaum zu überblicken. Die gesellschaftliche Segregationen entlang rassischer Einteilungen und die lebenswissenschaftlichen Konzeptionen kategorialer Differenz entweder als Ausdruck disziplinierender Nekropolitik oder als affirmative Handlungen eines aktiven »biological citizenship« (Rose 2007: 176) zu beschreiben, würde nur jeweils eine Seite der ambivalenten Prozesse um Rasse umfassen. Für die Analyse von Rassekonzepten in den Lebenswissenschaften bedarf es somit eines Blicks auf die ineinander verschränkten Wirkungen rassifizierender Praktiken. Rasse in der Ära der Genetik ist eingebunden in gesellschaftliche Verhältnisse und in Machtpraktiken der Kontrolle, für die die Unterteilung der menschlichen Gattung von Nutzen ist. Gleichzeitig ist Rasse Ort sozialer und politischer Markierungen, in dem Selbst-Definitionen der Identität und Kämpfe der Anerkennung und Umverteilung ausgefochten werden. Wie bei anderen Identitätsformen etwa entlang der Ungleichheitsdimensionen Geschlecht, Sexualität oder Behinderung können auch rassische Zuordnungen empowernde und emanzipative Potentiale aufweisen. Aus dieser Potentialität aber den Schluss zu ziehen,
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dass heute die Repräsentationsfunktion rassischer Verortung im Zentrum von Differenzkonzepten stünde, würde das unlösbare Dilemma verkennen, dass auch bei die Aneignung sozial verorteter Differenzierungen Mechanismen disziplinierender und unterwerfender Macht wiederholt werden (vgl. Hark 1999; Fraser 2005). Zweifelsfrei haben die Entwicklungen der Molekulargenetik neue emanzipatorische Ansätze ermöglicht – erinnert sei an die identitätspolitische Funktion von genetischen Herkunftstests beispielsweise für Afroamerikaner ޚinnen, denen mit den Tests eine Herkunftserzählung geboten wird, die über die Versklavung oder die Erzählungen weniger Generationen hinausweisen. Ebenso ist die Intention der Association of Black Cardiologists, die die Marktzulassung des »rassenspezifischen Medikaments« BiDil unterstützten, als Versuch zu verstehen, die ungleichen Zugänge zu angemessener Gesundheitsversorgung anzugleichen. Eine ausschließliche Untersuchung der Intentionalität der Akteurޚinnen rassifizierender Forschungsprojekte würde jedoch ebenso, wie eine einseitige Interpretation disziplinierender oder vitalisierender Wirkungen aktueller Rassifizierungen viel zu kurz greifen. Ansätze zur Analyse biopolitischer Regulierungen stellen dagegen für eine symmetrische Untersuchung rassifizierender Praktiken weitreichende Mittel zur Verfügung. Rassifizierungen lassen sich damit als ein komplexes Gefüge von Macht-Wissenstechniken rekonstruieren. Als Assemblage von Regulierungen, die sowohl disziplinieren, normieren, normalisieren, als auch integrieren, optimieren und dezentralisieren. 22 Bedeutungsproduktion und Materialisierung kategorialer Einteilungen können somit analytisch in ihren Facetten zwischen Ausschluss, Zwang, Kontrolle und Selbstführung aufgegliedert, gleichzeitig aber als ineinander verschränkt verstanden werden. Rassemodelle erweisen sich aus einer solchen symmetrischen biopolitischen Perspektive als nach wie vor modern. So wie mit der Verwissenschaftlichung von Rasse im Zeitalter der Aufklärung die Spannung zwischen Gleichheitsversprechen und gesellschaftlicher Ungleichheitsproduktion in ein rationales Verhältnis gebracht werden konnte, vermögen biologische Differenzkonzepte auch in der heutigen Ära der Genetik verschiedene Funktionen auszufüllen. Boten biowissenschaftliche Rassifizierungen Erklärungsansätze für die Fragen der Moderne nach menschlicher Ungleichheit und der Legitimität von Ausbeutung und Unterdrückung der ›Anderen‹, indem sie die Natur durch Kategorienbildung ordnen und beherrschen halfen, ermöglichen sie auch in der vorherrschenden Rechtfertigungsordnung soziale Ungleichheit zu legitimieren und sie sind als Ressource für Politiken nutzbar, die auf die Steigerung, Optimierung, Nützlichkeit und Ausnutzung eigener Kräfte abzielen. Rasse ist damit
22 Vgl. Klöppel 2012 für eine solche symmetrische analytische Perspektive sowohl auf disziplinierende als auch vitalisierende Aspekte biopolitischen Agierens in geschlechtertheoretischer Sicht.
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noch immer in der Lage vermeintliche Lösungen vielfältiger, unter Umständen gar gegensätzlicher Problemstellungen zu präsentieren. Doch die neuen genetischen Marker der Differenz sind nicht nur darauf festgelegt Signaturen einer Ordnung des Menschen zu repräsentieren. Zwar liegt es für vielen Forscherޚinnen offenbar nahe die Basensequenzmuster als typologische Zeichen kategoriale Differenz zu interpretieren. Ebenso können die Zeichen aber auch für Selbstidentifizierungen angeeignet oder zur Umsetzung von antidiskriminatorischen Politiken benutzt werden. Lebenswissenschaftliche Forschungen determinieren somit keinesfalls den Gebrauch ihrer Ergebnisse in sozialen Deutungskontexten. War es das Ziel dieser Studie, den Kontinuierungen biologischer Rassekonzepte in der Ära der Genetik zu folgen und die Gründe für jene Konstanz biologischer Rassifizierungen herauszuarbeiten, stellt sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erklärungen jener Konstanz die Frage nochmals auf einer weiteren Ebene, nämlich als Frage nach der Überwindung rassifizierender Verhältnisse. Auf Grundlage der zumindest potentiellen Offenheit genetischer Daten bleibt zu fragen, wie diese auch für Verschiebungen in der Funktion lebenswissenschaftlicher Differenzkonzepte genutzt werden können. Wenn die neuen Wahrheiten in der DNA nicht lediglich die bekannte Anordnung des Verhältnisses von Sichtbarem und Sagbarem, von sozialen Ordnungs-, Denk- und Handlungsmustern moderner Rechtfertigungsordnung wiederholen sollen, richtet sich die Frage auch an die Potentiale sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik.
Radikalisierung sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik Was sagen die aktuellen genetischen Rassifizierungen über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aus? Auf welche Problemstellungen versuchen heutige Konzepte lebenswissenschaftlicher Einteilungen der Menschheit eine Antwort zu geben? Mit diesen Fragen nach dem Gesellschaftlichen in der biowissenschaftlichen Beschäftigung mit der Unterschiedlichkeit der Menschen wurde die Entwicklung rassifizierender Ansätze, die Genese von Rasse in der Ära der Genetik und die Aktualität rassifizierender Differenzforschung rekonstruiert. Herausgearbeitet werden konnten die beständigen Auseinandersetzungen um RasseTaxonomien, deren konstitutive Wandelbarkeit und Modernisierungsfähigkeit sowie jene folgenreiche Ambivalenz der Kritik im Sinne der Gleichzeitigkeit von wirkmächtigen Absagen und Erneuerungsimpulsen, von antirassistischen und rassifizierenden Potentialen. Mit der gesellschaftstheoretischen Perspektive konnte zum Vorschein gebracht werden, was in den lebenswissenschaftlichen Differenzkonzepten gerade nicht offen zu Tage trat. Sichtbar wurde, wie die stetigen Ver-
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änderungen in den Differenzmodellen jenes Beharrungsvermögen rassischer Teilungsvorstellung in den Biowissenschaften bedingen. Als besonders bedeutsam zeigten sich zudem die sozialwissenschaftlichen und politischen Kritiken, mit denen seit dem Wechsel zum 20. Jahrhundert zunächst Teilaspekte rassischer Zuordnungen infrage gestellt und seit Mitte des letzten Jahrhunderts grundlegende Absagen an Rassekonzepte formuliert wurden. Derartige Kritiken sind aber während der zunehmenden Genetifizierung der Wissenschaften vom Leben allgemein und damit auch der Rassemodelle kaum mehr weiterentwickelt worden. Nicht nur in der Praxis der Kritik, sondern auch in der üblichen Historisierung gelten nunmehr die lebenswissenschaftlichen, insbesondere die genetischen Kritiken als die wirkmächtigen. Politische und sozialwissenschaftliche Interventionen treten entsprechend hinter den älteren populations- und neueren molekulargenetischen Kritiken zurück. Auf der Seite der sozialwissenschaftlichen Arbeiten liegen heute zwar Untersuchungen zu Kontinuierungen klassischer wissenschaftlicher Rassismen vor. Mit diesen kann etwa relativ schnell auf den Band »The Bell Curve« oder auf Thilo Sarrazins rassifizierende Aussagen reagiert werden. Aktuelle, mit den Mitteln zeitgenössischer Genetik/Genomik erzeugte rassifizierende Konzepte finden dagegen wenig kritische Beachtung. Heutige rassifizierende Verwicklungen von lebenswissenschaftlicher Wissensproduktion mit vorherrschenden Teilungspraktiken sind bisher völlig unzureichend untersucht. Doch wäre es verkürzt, die geringe Bedeutung sozialwissenschaftlicher Kritik nur der Wirkmacht der Genetik im Sinne einer allgemeinen Genetifizierung anzulasten. Die Argumentationen eines Großteils sozialwissenschaftlicher und insbesondere soziologischer Analyse und Kritik findet in einer Art Selbstbeschränkung statt, indem auf biowissenschaftliche Aussagen rekurriert, mit denen etwa die ›biologische Widerlegtheit‹ von Rasse ausgewiesen wird. Aus dem Blick gerät damit, dass soziale Ordnungsmuster und Teilungspraxen biologisch gar nicht in ihrer Bedeutung erfasst werden können. Gegenüber der sozialen Realität von Rasse greifen Verweise auf innerbiologische Kritiken an dem Konzept deshalb zu kurz, da damit noch keinesfalls die Entstehung und ReProduktion rassifizierender Praktiken geklärt ist. Statt weiter auf die biologische Widerlegungen zu hoffen, bedarf es vielmehr einer intensiveren Beschäftigung mit den sozialen Hintergründen und den Praxen jenes Willens zum Wissen über die Differenz. Erst mit einer Klärung der bisher unablässigen Herstellung rassifizierender Teilungen werden wirksame Interventionen in diese Realität möglich gemacht. Für eine zeitgemäße sozialwissenschaftliche Analyse sind somit Rasse, Rassifizierungen und Rassismen als wesentliche Bestandteile gesellschaftlicher Fragen zu bearbeiten. Leider wird ein Verständnis dieser Prozesse im Mainstream der
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Sozialwissenschaften bisher keinesfalls als Grundbedingung eines Verständnisses von Gesellschaft angesehen. Stattdessen wird Analysen zu Rassismus, Rassifizierungen sowie rassischer bzw. ethnischer Stratifizierung lediglich der Status einer Nische zugestanden. Hinzu kommt, dass auch innerhalb der Analysen zu Rassismus wenig Arbeiten vorliegen, mit denen Prozesse der Rassifizierung aus einer gesellschaftstheoretischen und -kritischen Perspektive untersucht werden. So liegt zwar »am Ende des 20. Jahrhunderts […] ein bedeutender Umfang an Wissen über race relations, Stratifizierung, Diskriminierung und Identität vor, aber über »racial conceptualisation« (Morning 2011: 33) ist wenig bekann. Was die Soziologin Ann Morning für die amerikanische Soziologie konstatiert, gilt für die Sozialwissenschaften außerhalb des angelsächsischen Raums umso mehr. Während zu psychischen Phänomenen, Vorurteilsmustern, nazistischen, eugenischen oder sozialdarwinistischen Rassismen zahlreiche Arbeiten vorliegen und eine Reihe von allgemeinen Erklärungen unter Heranziehung verschiedener Rassismustheorien versucht wurden (siehe auch das Kapitel »Perspektiven und Grundlagen«), existieren verhältnismäßig wenige Studien, die aktuelle Funktionalität kategorialer Differenzmodelle und lebenswissenschaftlicher Konzepte untersuchen. In gewisser Weise wurde sich auf den Erfolgen der frühen sozialwissenschaftlichen Kritik an biologischen Rassekonzepten ausgeruht. Diese hatten schließlich beträchtliche Transformationswirkungen erzeugten, indem sie Aspekte rassischer Kategorisierung erschwerten oder unmöglich machten. So sind Vorstellungen, die Rasse als reinerbige Gruppe konzipieren, Theorien zur »Degeneration« und der Schädlichkeit der »Rassenmischung« oder die Feststellung der Inferiorität der ›Anderen‹ nicht mehr Bestandteil aktueller lebenswissenschaftlicher Konzepte. Entsprechend sind die meisten aktuellen lebenswissenschaftlichen Arbeiten, in denen mit rassifizierenden Konzepten hantiert wird, nicht mit einer Kritik zu fassen, die nach Wertungen und Kontinuitäten klassisch typologischer Modelle sucht. Ebenso wenig sind aktuelle Rassifizierungen (wie etwa die zu Beginn des Kapitels angeführten Äußerungen Watsons) mit einer Beurteilung zu fassen, die lediglich auf intentional rassistische Denkweisen oder die Fortführung nazistischer Vorstellungen schaut. Da die Konstanz der kategorialen Ordnungsvorstellungen gerade auf deren Wandlungsfähigkeit der Konzepte beruht, bedarf es – diesem Befund stetiger Modernisierungen lebenswissenschaftlicher Rassekonzepte entsprechend – auch einer an die Veränderungen der Modelle angepasste Kritik. Spielten sozialwissenschaftliche und politische Kritiken zu Beginn des 20. Jahrhunderts und für das UNESCO-Statement zur »Rassefrage« von 1949 eine zentrale Rolle im Diskurs um Rasse, sind sie heute gegenüber den innerbiologischen Infragestellungen eher marginal. Zur Stärkung sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf Differenzkonzepten braucht es deshalb zuallererst der Einsicht, dass soziale Ordnungssys-
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teme und gesellschaftliche Praxen der Stratifizierung gar nicht biologisch widerlegt werden können. So wenig, wie sich Stereotypisierungen, Differenzkonstruktionen und damit verkoppelte Privilegienzuteilung bzw. Deprivilegierungen in körperlichen (physischen, molekularbiologischen oder genetischen) Signaturen aufklären lassen, so wenig lassen sie sich mit diesen entkräften. In diesem Sinne bedarf es einer Resoziologisierung der Kritik, um dem Rekurs auf genetische Marker zur Darstellung von Rasse ein Verständnis sozialer Teilungs- und Ordnungsdimensionen entgegensetzen zu können. Auf die bisher unablässige Modernisierung rassifizierender Modelle muss also ebenso eine Modernisierung des sozialwissenschaftlichen Analyse- und Interventionsinstrumentariums folgen. Ausgangspunkt eines aktualisierten sozialwissenschaftlichen Instrumentariums muss das Verständnis jener mit der europäischen Moderne installierten Normsetzungen, die identitätsstiftend und ungleichheitsgenerierend wirken. In der hier vorgenommenen Analyse zeitgenössischer biologischer Differenzkonzepte wurde deshalb von einem noch immer ungelösten Gleichheits- und Differenzproblem ausgegangen. In Folge jener ›Norm der Gleichheit‹ steht die Frage nach den Gründen bestehender menschlicher Ungleichheit in vielfältiger Weise an vorderer Stelle. Da ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dem Selbstbild bürgerlicher Gesellschaften vordergründig entgegensteht, wird Ungleichheit als zu erklärendes, rational zu fassendes und zu legitimierendes Problem. Diese Notwendigkeit zur Legitimation stellt sich vielfältig in alltäglichen Interaktionen und findet sich in politischen Problematisierungen sozialer Ungleichheit. Funktional für solche Legitimationsnotwendigkeiten waren bisher vor allem Argumentationen, die auf eine wesenhafte Differenz rekurrieren. Mit einer Differenzierungsmaschinerie wird somit nach Merkmalen gesucht, die jene sozial wahrnehmbaren Unterschiede den Personen selbst zuweisen und zugleich eindeutige Identifizierungen zulassen sollen. Seit Beginn der Moderne hat sich dafür vor allem der Rekurs auf die Natur als Urgrund allerlei Differenz bewährt. In der Ankopplung rassifizierender Teilungen an physische Merkmale wie Haut- und Haarfarbe liegt die Biologie scheinbar schon als Differenzmarker nahe. Hinzu kommt, dass im Wertesystem wissenschaftlicher Aussagen Bestimmungen substantieller, biologisch begründeter Differenz allgemein hoch bewertet werden. Seit Beginn der Verwissenschaftlichung von Rasse versuchen deshalb Forscherᦲinnen deshalb unablässig, eine materiale Signatur zum Vorschein zu bringen, die der sozialen Teilung entspricht und diese zumindest implizit auch erklären kann. Die Hoffnung auf eine Aufklärung der Unterschiede dynamisierte so eine bis heute bestehende Suche nach biologischer Differenz zwischen menschlichen Gruppen. Mit vielfältigen Messungen sollte damit naturwissenschaftlich belegt werden, was im Alltag wie in politischen Vorstellungen vorherrschende Überzeugung war, nämlich die Andersheit
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der anderen Rassen sowie die von Frauen und Angehörigen unterer Klassen im Vergleich zum jeweiligen Idealbild der Zivilisation und Kultur. Seit Erfindung des Rassebegriffs in der Frühen Neuzeit stand dieser für die Behauptung eines wesenhaften, über Generationen stabilen Unterschieds, der nicht durch soziale Praktiken, sei es der Konversion, der Migration oder der ›Vermischung‹ zum Verschwinden gebracht werden konnte. Zu der Zeit, als mit dem entstehenden Bürgertum und einer allmählichen Säkularisierung soziale Standesunterschiede immer mehr zur Disposition standen, boten kategoriale Differenzen somit eine produktive Möglichkeit, bestehende Statuspositionen zu festigen. Differenz ist aus diesem Grund in ihrer Doppelfunktion als Systematisierungsschema einer natürlichen Ordnung des Menschen und der Legitimierung von Ungleichheit unter dem Ideal bürgerlicher Gleichheit tief in die Verfasstheit gegenwärtiger Verhältnisse eingeschrieben und zudem mit Prozessen der Subjektivierung und Identifizierung überdeterminiert. Für sozialwissenschaftliche Analysen erzeugt die Überlagerung mehrerer Bedeutungsebenen von Differenz besondere Herausforderungen. Diese werden jedoch darüber hinaus noch erschwert in Folge der nachwirkenden Trennung in eine Ungleichheitsforschung, die aus sozialpolitischen Auseinandersetzungen um die Soziale Frage im 19. und 20. Jahrhundert entstand und seither selten Rassifizierungen in den Fokus nahm, sowie Rassismustheorien, die wenig über den Antidiskriminierungsdiskurs hinausreichend in den Kanon der Gesellschaftstheorien aufgenommen wurden. Als Ergebnis der Trennung können Analysen rassifizierender Verhältnisse bisher nicht an die Wirkmacht politischer und sozialwissenschaftlicher Kritik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anschließen. Heutzutage finden sich allerdings für eine selbstbewusste soziologische Perspektive einige Anschlussmöglichkeiten an lebenswissenschaftliche Forschungen. So lässt sich das wiederholte Misslingen eindeutiger Zuordnungen als ein verbindendes Merkmal aller bisherigen biologischen Sammelleidenschaft und Ordnungsversuche deuten. Dass Rasse für die ›exakten Wissenschaften vom Leben‹ zu keiner Zeit in eine allgemein anerkannte Bedeutung zu fassen war, kann entsprechend für eine Stärkung sozialtheoretischer Analysen genutzt werden. Schließlich blieb die prinzipielle Unterbestimmtheit der Rassemodelle trotz der mehrere Jahrhunderte andauernden Suche und der Menge an physischen, psychischen, molekularbiologischen und genetischen Datensammlungen bestehen. Die dabei immer wieder erzeugte Unzulänglichkeiten versuchten die Forscherᦲinnen mit mehreren Strategien zu begegnen: Etwa mit dem Verweis auf vermeintlich verfälschende Einflüsse durch die Umwelt oder mit der Hoffnung, dass weiterer Datenerhebungen und neue Differenzmarker klarere Ergebnisse zum Vorschein bringen würden. Letztlich versuchten Generationen von Forschenden den Problemen mit einer Vielzahl
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neuer Modelle zu begegnen. Doch immer wieder erzeugten die neuen Messungen, die Sequenzierungen und umfangreichen statistischen Bearbeitungen fließende Übergänge, Ausreißer und verschwimmende Ränder. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts glaubten die Forscherᦲinnen, die Probleme mit einer immer tiefer reichenden Suche im Innern der Körper, mit der Untersuchung der Proteine und den Genen tilgen zu können. Mit dieser Verinnerlichungs- und Verkleinerungsbewegung gerieten deshalb neue Objekte des Lebens in den Fokus der Differenzierungsmaschinerie. Aber auch mit Erreichen der kleinen Differenzmarker und mit der Darstellbarkeit der DNA ließ sich die Kontingenz sozialer Einteilung noch immer nicht in ein an biologischen Merkmalen abgesichertes Ordnungskonzept verstetigen. Neben dieser Möglichkeit, an dem Misslingen biologischer Ordnungsbestrebungen anzusetzen, bieten sich zudem weitere Anschlüsse an aktuelle lebenswissenschaftliche Ansätze an. Insbesondere Untersuchungen zum embodiment, zu epigenetischen Phänomenen, zur Materialisierung sozialer Praktiken, aber auch Studien zur Materialität körperlicher Prozesse, denen es nicht um eine Vorgängigkeit der Biologie geht, bieten reichlich Potential für eine modernisierte sozialwissenschaftliche Perspektive. Da sich einige lebenswissenschaftliche Ansätze immer mehr von deterministischen Konzepten abwenden und interdependente, die Umwelt und das Soziale eingedenkende Modelle entwerfen, bieten sich vielfältige sozialtheoretische Überschneidungen. Eine radikalisierte sozialwissenschaftliche Kritik kann mit Bezug auf diese Forschungen auch über die Einsicht – dass soziale Ungleichheitskategorien nicht biologisch widerlegt werden können – hinausgehen und mit einer selbstbewusste Position vertreten, dass menschliche Ungleichheit prinzipiell biologische Erkenntnismittel übersteigt. Das heißt nicht, dass zwischen beiden keine Bezüge möglich sind. Im Gegenteil, soziale Ungleichheiten können sehr wohl auch mit biologischen Differenzen korreliert und soziale Teilungen können auch in körperliche Effekten dargestellt werden. Aber Praxen der rassifizierenden Kategorieneinteilung und Zuordnung und lassen sich eben niemals adäquat als körperliche Differenz verstehen. Die biologische Unbestimmbarkeit menschlicher Differenzen meint somit die Unmöglichkeit, menschliche Vielfalt mit den Mitteln und in den Ordnungsprinzipien lebenswissenschaftlicher Unterscheidungen zu verstehen zu können. Da Rassifizierungen in je spezifischen gesellschaftlichen Kontexten stattfinden, sind diese auch nur als je spezifische soziale Praxis, als Praktiken der Kategorisierung zu analysieren. durch die Menschen in Gruppen geordnet werden. Was in alltäglichen Interaktionen zählt, sind eben nicht die ›kleinen Unterschiede‹ in genetischen Markern, sondern Unterscheidungen, in denen soziale Bedeutsamkeit mittels Einteilungen und daran gekoppelte gesellschaftliche Positionierungen eingeschrieben wird. Um die Selbstbeschränkung sozialwissenschaftlichen Agierens aufzuheben, bedarf es somit
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eines dynamischen Verständnisses gesellschaftlicher Kontingenz, inklusive einer Analyse der Wirkungen biowissenschaftlichen Wissens und deren gegenseitiger Verwicklungen.
Für eine postrassifizierende Wissenschaft vom Menschen Produktion von Wissen stellt keinesfalls nur eine neutrale Widerspieglung der Welt her, sondern mit wissenschaftlichem Wissen werden immer auch Interventionen in diese Welt erzeugt. Diente Wissenschaft in der Vormoderne und der Aufklärung vor allem der Beherrschung der Natur, sollte die Problematisierung dieser Sichtweise ihr Ideal nicht in der bloßen Wiederholung der Welt suchen, sondern Wissenschaft als eine Ermöglicherin verstehen, die gestaltend in Verhältnisse eingreift und gesellschaftliche Bedingungen somit mit formt. In diesem Sinne ist Wissenschaft als eine Praxis zu verstehen, die ergründet, was die Welt im Innersten zusammen hält, um die Veränderbarkeit dieser Welt, die Erzeugung von Neuem zu ermöglichen. Und deshalb obliegt der Produktion von Wissen und Wahrheit eine Verpflichtung die bestehenden Verhältnisse zu reflektieren, diese kritisch zu machen sowie alternative Gestaltungen von Gesellschaft zu befähigen. Eine Reflexion der Funktion und Wirkung von Wissenschaft als Teil von Gesellschaft hat insbesondere Auswirkungen auf die Verwendung von Kategorien als Erkenntnis- und Darstellungsmittel. In Kategorien kann benannt werden, was als Ordnungsstruktur gerade nicht offenbar ist. Gleichzeitig vollzieht sich mit dieser Artikulationsfunktion immer auch die Gefahr, gesellschaftliche Stratifizierung zu festigen und voranzutreiben. Diese Doppelwirkung der Sichtbarmachung und Reifizierung ist kategorialen Zuordnungen eingeschrieben. Statt aber weiterhin nach den richtigen biologischen oder kulturessentialistischen Signaturen einer Ordnung des Menschen zu suchen, ist die Unschärfe des Rassebegriffs, die empirische Unterbestimmtheit und Fluidität der Modelle als das Wesen menschlicher Beschäftigung mit Unterschiedlichkeit zu verstehen. Als Terminus soziokultureller Gruppenzuordnungen ist Rasse deshalb auch wesentlich durch kontingente, relationale, ambige und kontextspezifische Zuordnungen geprägt und muss dies auch sein, um sich potentiell wechselnden und sich entwickelnden gesellschaftlichen Prozessen anpassen zu können. Die sozialwissenschaftlichen Konzepte zur Fassung von Ungleichheit (neben Rasse und Ethnie etwa Geschlecht, Sexualität, Behinderung) benötigen in aller Regel jene spezifische Anpassungsfähigkeit, um sowohl für eine adäquate Beschreibung der sozialen Welt als auch für Interventionsstrategien geeignet zu sein. Rasse und Ethnizität müssen demgemäß als analytische Begriffe variabel sein, wenn sie kulturell, historisch und kontextuell
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variierende gesellschaftliche Praktiken beschreib- und verstehbar machen sollen. Die Qualität der sozialwissenschaftlichen Analysekategorie beruht also gerade auf ihrer flexiblen Anwendbarkeit in sich wandelnden Situationen und auf der Prämisse, dass politische Interventionen Veränderungen in den Praktiken, Repräsentationen und Materialisierungen bewirken können. So bezeichnen die Begriffe Rasse, Ethnizität, Rassifizierung und Rassismus analytische Kategorien zur Beschreibung und Problematisierung von Herrschaft, sozialer Schließung, Segregationspraktiken, sozialstruktureller Ungleichheit sowie zur Fassung von Identitätspolitiken unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen. Der konstitutiven Anpassungsfähigkeit sozialer Heuristik zur Bestimmung sozialer Ungleichheit entlang rassischer und ethnischer Kategorien stehen die Versuche biologischer Bestimmung entgegen. Mit diesen sollen stattdessen möglichst statische Unterschiede gefunden werden. Doch der Rassebegriff vereinte auch in den diversen biowissenschaftlichen Ausformungen schon immer biologische Merkmale mit sozialkulturellen Zuweisungen. Dadurch war es möglich, dass Rasse als »boundary concept« (Löwy 1993) immer wieder Anschlüsse sehr unterschiedlicher Zugriffe zur Beschreibung von Unterschieden in sich vereinen konnte. Während jedoch lebenswissenschaftliche Kategorien lediglich die Möglichkeit bieten, Differenzsignaturen mit technischen und mathematischen Mitteln sichtbar zu machen, können sozialwissenschaftliche Analysen darüber hinaus die Decodierung der Entstehung und Reproduktion von Rasse sowie der diversen rassifizierten Wissensbestände leisten. In diesem Sinne ist Rasse eben nicht als überzeitliches Phänomen, sondern als umkämpftes und immer wieder durch Umarbeitung und Veränderung gekennzeichnetes Wissensfeld zu analysieren. Doch in der Anforderung an einen sozialkulturellen Begriff von Rasse besteht ein Problem mit der herkömmlichen und in das Wort eingeschriebenen Bedeutung. Neben der Konnotation mit Kolonialismus und Rassenhygiene und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus sind dem Rassebegriff statische Bedeutungen quasi eingeprägt, die auf starre Vorstellungen von Herkunft, Abstammung etc. rekurrieren. Aus diesem Grund kann der Begriff bisher die Anforderungen eines sozialwissenschaftlichen Gebrauchs an Fluidität, Kontingenz und Wandelbarkeit höchst unzureichend erfüllen, weshalb für eine zeitgemäße sozialwissenschaftliche Bestimmung von Rassifizierungen anpassungsfähige Analysekonzepte entwickelt werden müssen. Hierfür bedarf es vor allem eines sich stetig modernisierenden analytischen Verständnisses von Rassismus und Rassifizierungen. Rassismus kann entsprechend nicht mit der Mastererzählung einer allumfassenden Rassismustheorie erfasst werden. Theorien zu Rassismus und Rassifizierung sind vielmehr als ein (zumindest zurzeit absehbar) unabgeschlossenes Feld zu entwerfen. Voraussetzung dafür ist eine Wissenschaft, die Ungleichheit als kontingenten Effekt sozialer
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Teilungen fassen kann, dessen Erscheinungen aus umkämpften, vorgefundenen, aber auch geschaffenen und gestalteten Bedingungen hervorgehen. Der Analyse und Kritik von Gesellschaft kommt in einem solchen Verständnis die Aufgabe zu, den Widerspruch zwischen Gleichheits- und Freiheitsversprechen und die (Re)Produktion gesellschaftlicher Teilungsdimensionen zu analysieren und Möglichkeiten zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit beizutragen. Um die »Realität unannehmbar zu machen« (Boltanski 2010: 21) braucht es jedoch eine Abkehr von kategorial statischen Modellen menschlicher Ungleichheit. Für die Untersuchung rassischer Teilungen bedarf es entsprechend einer postrassifizierenden Wissenschaft. Ein solcher Ansatz umfasst die Einsicht, dass Rasse im herkömmlichen Verständnis kein Konzept sein kann, mit dem menschliche Diversität – sowohl im biologischen als auch im sozialstrukturellen Sinne – ausreichend erfassbar ist. Rasse ist viel zu krude, da unter diesem Konzept bisher Vielfältigkeiten homogenisiert und entlang vermeintlich essentieller Merkmale in sich gegenseitig ausschließende Gruppen geordnet werden. Aus diesem Grund lag es für mittlerweile mehrere Generationen von Kritikerޚinnen nahe den Rassebegriff zu verabschieden und anderen Benennung von Kategorisierungen, nach Herkunft, Hautfarbe, Nationalität, Kultur etc. zu versuchen. Diese Versuche sind jedoch bisher minder erfolgreich verlaufen, sodass in sozialwissenschaftlichen Kontexten oftmals nur die Kritiken an Rassekonzepten vorliegen ohne eine adäquate Artikulation sozialer Teilungsdimensionen vornehmen zu können. Statt aber lediglich Kategorien zu bekämpfen, ist – wie es die Rechtstheoretikerin Kimberle Crenshaw formuliert – für eine Wissenschaft zu plädieren, welche die Art und Weise herausarbeitet, in der »Macht um einzelne Kategorien gruppiert ist und gegen andere eingesetzt wird« (1991: 1296f.). Die Verabschiedung rassifizierender Kategorien darf somit nicht zu einer Beschneidung sozialwissenschaftlicher Analyse- und Kritikfähigkeit führen. Statt einer bloßen Vermeidung der Kategorie Rasse wird somit ein darüber hinaus gehender Ansatz nötig. Für die Konzeption eines solchen macht- und herrschaftskritischen Ansatzes lässt sich eine von der Soziologin Leslie McCall vorgenommene Systematisierung intersektionaler Analysen aufgreifen und weiterentwickeln. McCall fasst verschiedene Forschungs- und Theorieansätze multiperspektivischer Untersuchungen anhand ihrer Gemeinsamkeiten in der Konzeption von Differenz zusammen. Anhand dessen, wie die Untersuchungen »analytische Kategorien verstehen und nutzen, um die Komplexität der Intersektionalität im Sozialen zu ergründen«, (2005: 1773) unterteilt sie die Ansätze in drei Gruppen: Dekonstruktivistische Zugänge beschreibt sie als antikategorialen Komplexitätsansatz. Differenztheoretische und makrosoziologische Ansätze fasst sie unter dem Begriff interkategorial, und standpunkttheoretische sowie identitätspolitische Ansätze z.B. Schwarzer
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Feministinnen als intrakategorialen Ansatz zusammen. Angelehnt an diese Gliederung lassen sich ebenso sozialwissenschaftliche Differenzkonzepte anhand ihrer jeweiligen Schwerpunktsetzungen zusammenstellen. In Anschluss an McCalls Systematisierungsvorschlag versuchen beispielsweise rechtstheoretische Entwürfe zur internationalen Antidiskriminierungsgesetzgebung einen Ansatz der Postkategorialität zu entwickeln (Baer 2010; Liebscher etௗal. 2012 sowie Naguib 2012). Ob im Rahmen von Benachteiligungsverboten und Gleichstellungsgesetzen oder zur Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse stehen kategoriale Unterscheidungen immer in Relation zu Reifizierungen der Differenz. So wie kategoriale Differenzmodelle problematische Effekte bei der Beschreibung menschlicher Ungleichheit erzeugen, steht der Bezug auf Gruppenrechte in der Gefahr, Essentialisierungen zu wiederholen. »Wer Unterschiede sät, kann Diskriminierungen ernten« problematisiert etwa die Juristin Susanne Baer Wirkungen des Antidiskriminierungsrechts und konkretisiert, dass die Einteilung von Menschen in Gruppen diese unzulässig auf ein Merkmal oder eine Eigenschaft reduziere (2010: 13ௗu.ௗ15, vgl. auch in soziologischer Perspektive Bienfait 2006, Knapp 2001). Ähnlich argumentiert auch der Jurist Tarek Naguib, dass »essentialistische Fehlschlüsse« die »Diskriminierungs-Opfer-Kategorien« zu einer schlechten Lösung werden ließen, da die geltende Antidiskriminierungspraxis die Essentialismen reproduziere, die sie zu beseitigen sucht (2012: 191). Sowohl in der Rechtspraxis aber auch in affirmative bzw. ausgleichende Maßnahmen werde von Betroffenen zumeist die Verortung in jeweilig anerkannte Kategorien verlangt. Postkategorial meint dagegen eine solche Reproduktion von Zuordnungskategorien zu vermeiden und stattdessen die Markierung von Prozessen, die Differenz konstruieren vorzunehmen (ebd. 187). In Abkehr von kategorialen Konzepten, die nach Signaturen des Unterschieds suchen, stellen solche Ansätze zur Fassung von Diversität und Intersektionalität Binnendiversitäten innerhalb von Kategorien heraus. Damit wird versucht, die Komplexität sozialer Strukturen und jene innerhalb aller Identitätsklassifizierungen enthaltenen »vielfältigen Identitäten« (Yuval-Davis 2006: 201) zum Vorschein zu bringen sowie zugleich Zuordnungen mindestens zu »verUneindeutigen« (Engel 2007). Angeschlossen wird hierfür an poststrukturalistische, insbesondere feministische, queere sowie Analysen von People of Color, in denen die gesellschaftliche Konzeption von Differenz sowie die enthistorisierenden, essentialisierenden, naturalisierenden und homogenisierenden Praktiken als Problem in den Blick genommen werden (HillௗCollins 2008; Crenshaw 1991; Fraser 2005; Young 2007; Klinger/ Knapp 2007, 2008). Neben interaktionistischen und mikrologischen Analysen bedarf es zur Erfassung der verschiedenen Ebenen von Rassifizierungen ebenso makrosoziologischer Ansätze, die auf gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und (Herrschafts-)Verhältnisse fokussieren und damit den Blick auf die mit kate-
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gorialen Unterscheidungen verbundenen Normsetzungen, Wertungen, Hierarchisierungen und Ausschlussproduktionen ermöglichen. Für die Vielfalt menschlicher Unterschiede bedeutet dies, über die Differenzdimension Rasse/Ethnie hinauszugehen und für die Analyse sozial-kultureller Verhältnisse offene und variable Bezeichnungen vorzunehmen. Oder aber den Bedeutungsgehalt der Begriffe soweit zu sozialisieren, dass mit ihnen die Artikulation sozialer Verhältnisse gelingt, ohne Personenkategorien im Sinne einer starren und naturalisierten Zuordnung zu generieren. Postkategorialität in Bezug auf die Repräsentation von Differenz folgt somit der Einsicht, dass ein Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse auch die Artikulation sozialer Ungleichheiten zwischen im sozialen, kulturellen und historischen Kontext relativ stabilen Gruppen notwendig macht. Aber Postkategorialität bedeutet zudem, die Reflexion darüber, dass die Benennung von Ungleichheit immer mit der Gefahr einher geht, Unterschiede zu reifizieren. Dieses als »Dilemma der Differenz« (Minow 1990) bekannte Problem umfasst einerseits die Notwendigkeit analytischer Kategorisierungen zur Artikulation sozialer Differenzierungen und andererseits die Tendenz, eben jene Kategorien zu ontologisieren. Das Ziel ist es, mit postkategorialen Differenzierungen dann die Verabschiedung von rigiden Ordnungsprinzipien und die Entwicklung eines postrassifizierenden Zugangs als eines wandlungsfähigen und beweglichen Modells von Ungleichheit zu ermöglichen. Ein solches Modell, kann analytisch gesellschaftliche Strukturen und Teilungsdimensionen in ihrer Relation zu körperlichen und biologischen Merkmalen erfassen, ohne diese als vorgängig zu sozialen Praktiken darzustellen. Ausgangspunkt einer reflektierten Benennung von Ungleichheit kann deshalb nur ein Verständnis der Vielfalt an kulturellen Praktiken, des Eigensinns der Akteurޚinnen und der Diversität an Materialisierungen sein. Möglich wird aus einer solchen Perspektive »die soziale und historische Verfasstheit und die Relationalitätsformen spezifischer Kategorien von Personen« (Knapp 2008b) genauer zu begreifen. Hierfür müssen Identifikationen, Ungleichheitslagen, Ungleichheitsund Diskriminierungserfahrungen und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in den Blick genommen, aber ebenso die mit ihnen einhergehenden Homogenitäts-Unterstellungen, Strategien der Naturalisierung und Ent-Historisierung sichtbar gemacht werden (vgl. ebd.). In der Analyse und Kritik von Rassismus und Rassifizierung geht es deshalb nicht um Zugehörigkeiten, sondern um Prozesse der Zuordnung, nicht um Merkmale, sondern um die Verteilung begrenzter Güter und die Vorenthaltung gleicher Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten. Für die Überwindung rassifizierender Verhältnisse muss Wissenschaft über die Artikulation gesellschaftlicher Ungleichheit hinaus agieren und die Verhältnisse als von Menschen gemachte auch als von Menschen gerecht zu gestaltende entwerfen.
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Der Startpunkt für eine postrassifizierende Wissenschaft ist somit ein Verständnis jener mit der Moderne erzeugten und seitdem stetig, aber veränderlich reproduzierten Ungleichheiten. Richtungsweisend bedarf es dafür eines Selbstverständnisses einer ungleichheitssensiblen, aber postkategorialen Wissenschaft vom Menschen – sowohl als analytisch produktiver als auch als intervenierender Kraft. Für dieses Ziel sollten die modernen Gesellschaften aufhören, immer wieder die gleiche Frage nach der Essenz von Rasse zu stellen.
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Register 1000 Genomes Project 177, 192, 213, 234, 254 23andMe 10, 195, 219
Asian, East Asian, Asien, 70f., 187, 195, 219, 230, 234, 253f. Aristoteles 60
Abstammungstest Ĺ Herkunftstests Admixture Linkage Disequilibrium (admixture mapping, MALD) 195f., 218 African Ancestry 217, 219, 221 AIM ĹௗAncestry Informative Marker Allele 193, 218 Altchristen 66, 67, 117 AncestryByDNA 217, 222, 234 Ancestry Informative Marker 195, 218 ancestry tests ĹௗHerkunftstests Anthropologie 13, 69, 71, 77, 79, 81f., 96ff., 112, 114, 133, 140, 146, 149, 172, 226, 248; biologische A. 14, 215, 219; Rassena. 75, 95, 98, 118, 126, 129, 131ff., 153, 161, 164f., 174, 208, 219, 257ff.; Kultura. 83, physische A. 122, 131, 157, 159, 206, 240f.; Seroa. 142, 146, 154, 156, 159f., 166, 182, 185, 206; genetische A. 160 Antirassismus 13, 22, 35, 51f., 78, 80, 85, 103, 107, 175, 228, 250, 264 Antisemtismus 37f., 60, 76, 79ff., 140, 248
Bell Curve, The (Herrnstein/Murray) 239, 265 Benedict, Ruth 39, 247 Bernier, François 26, 70f., 77 BiDil 197ff., 214, 216, 225, 229, 233, 253, 263 Biologie 15, 20, 35, 55, 88, 111, 120, 133, 148f., 173, 182f., 243, 251, 255, 267, 269; Molekularb. 120, 127, 178, 183, 238, 247, 257 Biomacht 24, 41ff., 261f. Biopolitik 41f., 114ff., 259, 261f. Biowissenschaften 13f., 21, 26ff., 46, 79, 83, 85, 88ff., 94, 99, 101, 108, 110, 115, 117, 119f., 164, 179f., 183, 216, 242, 244, 247, 265 Blumenbach, Johann Friedrich 26, 71f., 77, 118, 231 Blut 16, 67f., 71, 78, 99, 111, 117, 139ff., 151f., 156, 159, 161, 164, 170f., 174, 182, 185, 187, 203f., 232, 245 Blutgruppen 129, 141f., 144ff., 150ff., 154, 156ff., 166, 170ff., 182, 185, 189, 247, 249, 256 Caucasian 190, 194, 230, 253
314 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Cavalli-Sforza, Luigi Luca 151, 160, 162, 164, 170ff., 185, 191, 232, 245, 253 Centre pour l'Etude du Polymorphism Humaine (CEPH) 175 Cline 248 Darwin, Charles 26, 72f., 122, 153 Dobzhansky, Thodosius 83, 88, 163 DuௗBois, W.ௗE.ௗB. 83 Dunn, Leslie C. 83, 88, 91, 146, 151, 164 Duster, Troy 22, 84, 104, 106, 114, 140, 179, 197, 203ff., 221, 233, 255 Eickstedt, Egon Freiherr von 89, 97 Einzelnukleotid-Polymorphismus (SNP) 191ff., 195, 213, 216, 219, 223, 241, 252ff., 258f. Elektrophorese 183, 185, 186, 188, 190 Epidemiologie 202, 240 ETC Group ĹௗRAFI Eugenik 12, 22, 48, 60, 79f., 89, 93ff., 110, 114ff., 127f., 132ff., 146, 175, 191, 239, 245, 266 European 187, 219, 234, 254 Fausto-Sterling, Anne 19, 22, 203, 208ff., 215, 255 Feministische Wissenschaftstheorie & -kritik 31f., 36, 103, 273 Fischer, Eugen 89, 96, 121, 129, 131ff., 144, 153, 160, 163 forensic DNA phenotyping 194 Forensik 13f., 20, 46, 188ff., 193ff., 217, 232ff., 245, 252, 258 Foucault, Michel 24, 34, 41ff., 101, 112ff., 201f., 260 Frequenzunterschiede / Gen-, Allelfrequenzunterschiede 101, 152ff., 159, 161, 170, 177, 185, 194, 248, 252
Gates, Henry Louis Jr. 9ff., 19, 33, 46, 54, 169, 239f., 252 Gelelektrophorese ĹௗElektrophorese Gender/Geschlecht 20, 25, 26, 34, 36, 51, 53, 63ff., 121f., 199, 210, 227, 243, 253, 262, 270 Genographics 177, 192 genome-wide association study 213, 254 HapMap, International Haplotype Map 177, 192, 232, 234, 254 Herder, Johann Gottfried 78 Herkunftstests 10f., 195f., 217ff., 223, 225, 229, 232ff., 239, 253f., 256, 258, 263 Hertz, Friedrich Otto 82, 163, 246, 257 Human Genome Diversity Project 46, 140, 147, 152, 170f., 192, 232, 247 Humangenomprojekt 101, 103, 105, 107f., 119, 169, 171, 178, 191, 250 Identität 189, 190, 228, 262, 266 iGENEA 217, 219 Innergruppenvarianz 156, 249, 252 Intelligenz, Intelligenzquotient (IQ) 46, 78, 81, 91, 112, 135, 138f., 153, 166, 175, 226, 238ff. Jensch, Carl 80 Jensen, Arthur 175, 239 Johannsen, Wilhelm 109, 118, 125 Juden/Jüdinnen 57, 60, 66ff., 75, 81, 97, 117, 135, 138f., 144ff., 191, 206f. Kant, Immanuel 26, 73, 77ff., 99, 118, 140, 245 Knußmann, Rainer 77, 251 Kolonialismus 49, 57, 61f., 95, 174, 271 Kraniologie, Schädelkunde 129, 144
REGISTER | 315
Krankheit, genetische K. 8, 26, 102f., 114f., 135, 149, 182, 197ff., 258 Lewontin, Richard 104, 146, 172, 249, 251 limpieza de sangre, Estatutos de 67, 245 Linné, Carl von 26, 72f., 77, 134, 259 Livingstone, Frank 174, 248f. Louisiana Serial Killer 196 mapping by admixture linkage disequilibrium Ĺ Admixture L.࣠D. Mendel, Gregor Johann, mendelsche Genetik 99f., 108ff, 118, 122ff., 128f., 132, 139, 141, 153f., 163, 185, 208, 256 Medikalisierung 8, 17, 114, 181, 197ff., 223, 226, 229f., 256 Medizin 8, 13, 70, 72, 112ff., 120, 141, 149, 193, 196, 197ff., 229, 232, 238, 252, 255 Mengele, Josef 8, 97, 146, 189f., 193 Metapopulation 233f. Mikrosatelliten 177, 180, 189ff., 193, 252, 254, 258 Minisatelliten 188ff., 219, 241 Mitochondrien, mitochondriale DNA (mtDNA) 185, 187, 194, 218ff., 258 Molekularbiologie ĹௗBiologie Native American 11, 140, 196, 217, 219, 222, 232, 253f. Nitromed 199, 214, 229 Nukleinbase, Nukleotid 149, 186, 190ff, 171, 178ff., 183, 241 Obama, Barack 10ff. Ohrenschmalz 77f. People of the First Nation 217, 232 Polymorphismus 187f., 230
Population 100f., 123, 146f., 151, 153, 155ff., 160, 170ff., 181, 185, 188, 191, 193ff., 200, 210, 219, 223, 226, 232ff., 254 Populationsgenetik 83, 91, 100, 107, 127, 146, 151ff., 162f., 166, 169, 171f., 176, 182, 185, 193, 228, 246ff., 252, 256 Psychologie 13, 72, 136, 163, 239, 240; Rassenpsychologie 135, 259; Race Psychologie 176, 226, 240 Rabinow, Paul 24, 27, 179, 184, 237, 244 Race Psychology Ĺ Psychologie RAFI, Rural Advancement Foundation International 173 Rassenhygiene ĹௗEugenik Rassenmischung 73, 80, 82, 91f., 96, 123, 159f., 222, 266 Rassismustheorien 36, 40, 44f., 49, 266, 268, 271 Rehobother Bastards 129, 131f., 154, 160 Restriktions-Fragment-LängenPolymorphismen (RFLP) 186ff., 191 Rushton, Phillippe 239 Sarrazin, Thilo 46, 239 Schädelkunde ĹௗKraniologie Schwidetzky, Ilse 78, 97, 140, 164 Seroanthropologie ĹௗBlutgruppen Serologie ĹௗBlutgruppen SNP, single nucleotid polymorphism ĹௗEinzelnukleotidPolymorphismus Stammbaum 131, 170, 176 Stanford-Binet-Test ĹௗIntelligenzquotient STR, short tandem repeats 190f. Sub-Saharan African 196, 219, 234, 254
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typologische Rassekonzepte, Typologien 72, 75, 91, 94f., 122ff., 126, 128f., 133f., 136ff., 140, 142ff., 146, 152f. 155f., 159, 163, 165f., 175ff., 179, 219, 226, 245, 248, 255ff., 259, 264, 266 Tuskegee Syphilis Experiment 203ff., 280 UNESCO 35, 50, 81, 84ff., 249, 252, 255, 266 Vaterschaftstest 188, 199 Venter, Craig 85, 250, 252 Verschuer, Otmar Freiherr von 97, 146, 152, 182 Watson, James 46, 171, 238ff., 242 Wissenschaftlicher Rassismus 44 Wissenschaftsforschung 16, 25, 28ff., 32, 47, 105 Y-Chromosom 11, 191, 194, 218ff., 25
VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Katrin Amelang Transplantierte Alltage Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation Oktober 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2480-9
Gabriele Gramelsberger, Peter Bexte, Werner Kogge (Hg.) Synthesis Zur Konjunktur eines philosophischen Begriffs in Wissenschaft und Technik Oktober 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2239-3
Christoph Kehl Zwischen Geist und Gehirn Das Gedächtnis als Objekt der Lebenswissenschaften 2012, 352 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2113-6
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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1
Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8
Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? 2011, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper
Thomas Mathar Der digitale Patient Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems
2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0
Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly (Hg.) Leben in Gesellschaft Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften
Stefan Beck, Jörg Niewöhner, Estrid Sörensen Science and Technology Studies Eine sozialanthropologische Einführung 2012, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2106-8
Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl (Hg.) Herausforderung Biomedizin Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis
2010, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1529-6
2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1744-3
Sonja Palfner Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik 2009, 390 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1214-1
2011, 368 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1946-1
Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag 2010, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1599-9
Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1
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