Schauspielen heute: Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten [1. Aufl.] 9783839412893

Das zeitgenössische Theater zeichnet sich durch eine Vielzahl von Schauspielstilen aus. Der Grenzübertritt zwischen Thea

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German Pages 268 [262] Year 2014

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Schauspielen heute: Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten [1. Aufl.]
 9783839412893

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Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute

Theater I Band 15

(HG.) Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten

JENS ROSELT, (HRISTEL WEILER

[ transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar.

© zon transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © david baltzerjbildbuehne.de Lektorat: Stephanie Schulze; gefördert mit Mitteln des SFB 447 »Kulturen des Performativen« an der FU Berlin Satz: Jens Roselt und Christel Weiler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-rz89-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet:

http:/jwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:

injo@ transcript-verlag.de

INHALT

Schauspielen heute Vorwort 9

EINBILDUNG Lob der Marotte JENS ROSELT

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Ulrich Matthes' Onkel Wanja und die verkörperte Einbildung des Zuschauers BENJAMIN WIHSTUTZ

27 Triumph der Illusion Das Schauspielerpaar Samuel Finzi und Wolfram Koch CHRISTINE WAHL

35 Dezenz ist Schwäche Über Lieblingsschauspieler und das, was an ihnen nervt HAJO KURZENHERGER

45 Das Paradox des Zuschauers Argumente für eine rezeptionsästhetische Schauspieltheorie ADAM CZIRAK

53 »Erotik mit dem Publikum« Ein Schauspielergespräch LARS EIDINGER, PETRA HARTUNG, ULRICH MATTHES UND ANNE TISMER

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SELBST-BILDUNG Schauspielerische Arbeit als Übung CHRISTEL WEILER

95

Inszenierte Co-Abhängigkeit Zur Aufgabe einer souveränen Darstellerposition im zeitgenössischen Performance-Theater ANNEMARIE MATZKE

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»Was tue ich hier eigentlich?« Eigenverantwortung im zeitgenössischen Theater MIRIAM DREYSSE

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»Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir.« Die Virtuosen und die Imperfekten bei Rene Pollesch BETTINA BRANDL-RISI

137 Schauspielen (das gab es doch mal) bei Rene Pollesch PATRICK PRIMAVESI

157 Fliegende Texte CLAUDIA SPLITT IM GESPRÄCH MIT JENS ROSELT

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Die Macht der Toten als das Leben der Bilder Praktiken des Reenactments in Kunst und Kultur ULFÜTTO

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Von der Pflicht, Schauspieler zu sein Darstellung und gesellschaftliche Disziplinierung MATTHIAS WARSTAT

203 Schauspielen als Beruf BERND STEGEMANN

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AUSBILDUNG »Schauspieler sind professionelle Menschen« Ein Gespräch über Schauspielausbildung HANS-ULRICH BECKER, lMANUEL SCHIPPERUND BERND STEGEMANN

239

Autorinnen und Autoren

259

Schauspielen heute Vorwort

Lässt man das Theater der letzten Dekaden Revue passieren, kommen einem nicht nur innovative Regisseure und Bühnenbildner, sondern auch wichtige Autoren und charismatische Theaterleiter in den Sinn, die Ensembles, Spielweisen und damit die Ästhetik des Theaters nachhaltig geprägt haben. Schauspielerinnen und Schauspieler waren dabei stets mit von der Partie, doch bei der nachträglichen Auseinandersetzung mit Theater geraten die Akteure auf der Bühne schnell aus d em Ra mpenlicht d er Aufführung in den Schatten des Diskurses. Wenn einzelne Schauspielerinnen oder Schauspieler durchaus eindrucksvoll in Erinnerung bleiben, gelten sie häufig als Ausnahmeerscheinungen, die unabhängig von ihrem individuellen Auftritt keinen weiteren Einfluss ausüben. Es hat den Anschein, als würde im postdramatischen Theater noch jenes Verdikt gelten, das ein Kritiker im 19. Jahrhundert über die Schauspieler des dramatischen Theaters a ussprach, als er das Schauspielen mit folgender Begründung bloß als >>sogena nnte Kunst«1 gelten lassen wollte: »Das Schauspielen hat keinen Grund und Boden, es ist nichts Selbstständiges, nichts für sich Bestehendes [... ].«2 Entgegen dieser engstirnigen Perspektive zeigt die Geschichte der Schauspielkunst aber auch, dass Schauspielerinnen und Schauspieler durchaus einen nachhaltigen und stilprägenden Einflus s ausüben können, wenn ihre Auftritte drei Parameter erfülle n: Die schauspielerische Leistung muss individuell, exzeptionell und exemplarisch sein. Ein Schauspieler in Aktion ist dann individuell, wenn sein Erscheinen den Zuschauern im wahrsten Sinne des Wortes eigenartig vorkommt. Diese eigene Art hat damit zu tun, dass nicht nur überindividuelle Techniken und Verfahren, das Handwerkszeug, vorgeführt werden, sondern der Auftritt zugleich ein spezifisches Surplus generiert, das von der Persönlichkeit, dem Körper oder der Stimme des einzelnen Schauspielers ausgeht und dazu führt, dass mancher affizierte Zuschauer seinem Schauspieler mit unstillbarem Verlangen nachpilgert. Exzeptionell oder außerordentlich ist diese Praxis dann, wenn sie tradierte s chauspielerische Normen und Konventionen nicht lediglich wiederholt und erfüllt,

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Schauspielen heute sondern zugleich mit ihnen spielt und sie dabei produktiv überschreitet oder unterwandert. Diese Schauspieler machen irgendetwas anders und dieses Andere wird dadurch exemplarisch und zum Vorbild, dass es - mitunter erst nachträglich - ein neues Muster oder eine noch nie gesehene Spielweise kenntlich macht. Die Theatergeschichte weist immer wieder solche Ausnahmeschauspieler auf, die eigenartig, außerordentlich und vorbildlich Maßstäbe setzen und dabei nicht nur ihr abendliches Publikum begeistern, sondern auch nach ihrem Abgang als paradigmatische Figuren erscheinen , an denen sich eine innovative Entwicklung kristallisiert. Im 18. Jahrhundert taucht so David Garrick (1717-1779) auf den Londoner Bühnen auf und fegt gleich beim ersten Auftritt den deklamatorischen Bombast spätbarocker und klassizistischer Bühnenformen von der Bühne. In Deutschland stellt sich Conrad Ekhof (1720-1778) in diese Tradition und im 19. Jahrhundert eifert August Wilhelm Iffland (1759-1814) der realistischen Maxime einer Menschendarstellung nach. Auch das jüngere Theater hat solche Ausnahmen von der Regel hervorgebracht. Wer sich beispielsweise mit der deutschsprachigen Schauspielkunst der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts beschäftigt, wird an Ulrich Wildgrober ( 1937 -1999) - im wahrsten Sinne d es Wortes - nicht h erumkomm en. Schwitzend und keuchend schienen seine Auftritte alles in Frage zu stellen, was hehre Schauspielkunst damals auszeichnete. Dafür wird Wildgruber immer noc h bewundert. Würde man aber einem jungen Schauspieler heute ins Gesicht sagen: · Sie spielen wie Wildgruber!«, wäre dies nicht unbedingt ein Kompliment. Denn in der Äußerung schwingt auch der Vorbehalt mit, der so Angesprochene sei nicht originell, mache nichts Eigenes und kopiere nur einen Anderen. Diese Ansicht weist auf ein Problem hin, das seit dem 18. Jahrhundert immer wieder zu Tage tritt, wenn es um die gesellschaftliche Akzeptanz des Schauspieleus als Beruf und die Anerkennung als Kunst geht. Wie kann man als ästhetisch handelnde und verantwortliche Persönlichkeit zur Geltung kommen, bei einer Tätigkeit, die in all ihren Spielarten doch immer mit Nachahmung zu tun hat? Wie k ann man wiedererkannt werden, wenn man doch angeblich immer ein anderer ist. Und wie soll man ein anderer sein, wenn man dabei zugleich - wie kein anderer Künstler - auf seinen eigenen Körper, seine Stimme, seine Biografie, ja seine ganze Existenz verwiesen ist? Gewiss hat dies mit der eigenartigen Flüchtigkeit von Schauspielkunst zu tun, doch dahinter steht auch die grundsätzliche Frage danach, wie Zuschauer Theater erleben, beschreiben, diskutieren, kritisieren und analysieren. Die Wahrnehmung eines Schauspielers oder einer Schauspielerin auf der Bühne kann einen durchaus

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Vorwort sprachlos machen. Und diese fundamentale Verunsicherung kann als ein Ausweis ästhetischer Erfahrung im Theater gelten. Mit den Aufsätzen in diesem Buch soll die Arbeit von Schauspielerinnen und Schauspielern in den Mittelpunkt der Dis kussion gestellt werden, um von hier aus die Ästhetik des Theaters zu befragen. Ausgangspunkt hierfür ist die Beobachtung, dass sich das zeitgenössische Theater durch eine ungewohnte Vielzahl von Arbeitsweisen und Spielstilen auszeichnet. Nicht-professionelle Darsteller mischen das Terrain des Stadttheaters auf, während gleichzeitig das klassische Schauspielen eine Renaissance erlebt, wobei der Grenzübertritt zwischen Theater, Performance, Tanz, bildender Kunst und der Arbeit mit neuen Medien beinahe alltäglich wird. Die Rede vom konventionellen Theater wird problema tisch, wenn fragwürdig ist, was die derzeit vorherrschende Übereinkunft überhaupt sein könnte. Allein das Beispiel Berlin zeigt, dass innerhalb des Zirkelschlags vom Deutschen Theater über die Schaubühne am Lehniner Platz, dem Theater Hebbel am Ufer und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sehr unterschiedliche Arbeitsweisen und Darstellungspraktiken erprobt werden, die je eigene Stile hervorzubringen vermögen. Angesichts dieser Vielfalt ist eine Bestandsaufnahme des SchauspieJens heute vorzunehmen, bei der insbesondere danach gefragt wird, welchen produktiven Anteil Schauspielerinnen und Schauspieler an diesen Innovationen haben. Dabei geht es auch immer um die Frage, wie die analytische Auseinandersetzung mit Theater überhaupt aufzuzäumen ist. >Vom Kopf her< dürften viele Zuschauer, Theatermacher, Kritiker und Wissenschaftler selbstverständlich antworten. Das heißt aber, dass Konzeptionen, Interpretationen, Aussageabsichten, Ideen und Einfälle ins Zentrum rücken. Dabei dürfte der Diskurs um das Regietheater dieser Herangehensweise Vorschub geleistet haben. Aus einer solchen Perspektive müssen Schauspielerinnen und Schauspieler beinahe notwendig als sinnliche Zugabe des Konzepts oder als Körpervehikel zum Transport dramaturgischer Botschaften erscheinen. Die performative Wende in den Künsten und den Kulturwissenschaften macht eine a ndere Hera ngehensweise denkbar. Nunmehr rücken Handlungen und Praktiken, mithin die Materialität und Körperlichkeit der Darsteller selbst in den Blick. Dem konkreten Handeln, der Dynamisierung von Probenabläufen und der Prozesshaftigkeit von Aufführungen wird Aufmerksamkeit geschenkt und damit auch die Frage nach der Verantwortung des Darstellers für das eigene Tun relevant. In diesem Sinne geht es nicht nur um ein neues Theater, sondern auch um einen neuen - anderen - Blick auf scheinbar vertraute Phänomene.

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Schauspielen heute

Das vorliegende Buch geht dieser neuen Betrachtungsweise in drei Teilen nach. Unter der Überschrift Einbildung wird nach der besonderen Erfahrung gefragt, die Zuschauer mit Schauspielerinnen und Schauspielern im Theater machen können. Die Thematisierung des Wechselspiels von Bühne und Publikum führt dann zur Erörterung konkreter Arbeits- und Spielweisen. Dabei steht die Selbst-Bildung des Menschen auf der Bühne im Mittelpunkt. Angesichts dieses Befundes wird schließlich nach den Konsequenzen und Perspektiven für den Beruf des Schauspielers und seiner Ausbildung gefragt.

EINBILDUNG

Was bilden wir uns eigentlich ein, wenn Menschen vor uns auf d er Bühne agieren? Schauspielerinnen und Schauspieler vermögen uns in den Bann zu schlagen. Als Zuschauer sind wir von den Menschen auf der Bühne angezogen oder abgestoßen. Wir bewundern die Akteure, die uns überraschen und enttäuschen können. Manche Darsteller lassen uns kalt, andere lassen uns keine Ruhe. Ihre Körper und Stimmen regen uns auf, sie verzücken oder ekeln uns. Wir werden beschämt oder lassen uns verführen. Wir erkennen uns in ihnen wieder und schrecken doch entsetzt zurück. In unserer Rolle als Zuschauer spielen Selbst- und Fremderfahrung eigentümlich ineinander. Zu bestimmten Schauspielerinnen und Schauspielern mag so über Jahre hinweg eine ganz eigene persönliche Beziehung entstehen, die nichts mit der Privatheit von Personen zu tun haben muss. Häufig haben wir noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt und doch meinen wir sie zu kennen. Wir wissen um ihre Tricks, freuen uns auf ihre neuen Rollen und sehen sie mit uns älter werden. Es geht um eine gemeinsame Geschichte, für die es außerhalb des Theaters weder Ort noch Zeit gibt. Erst die Distanz der Zuschauer stiftet so die Nähe zu den Spielenden auf der Bühne. Es kann sich um Verehrung, um stilles Bewundern, um eine HassLiebe oder offene Abscheu h a ndeln. Diese zwischenmenschliche Relation ist konstitutiver Teil ästhetischer Erfahrung im Theater. Solchen Einbildungen, die bei Stückinterpretationen oder dramaturgischen Analysen meistens verschwiegen werden, wird anhand ausgewählter Beispiele nachgegangen. Unterschiedliche Zuschauerinnen und Zuschauer berichten über ihre Geschichte mit einem bestimmten Schauspieler oder einer bestimmten Schauspielerin. Ausdrücklich wird dabei das Wagnis eingega ngen, die eigene Erfahrung jenseits akademischer Textformen und Argumentationsweisen zu thematisieren. Es geht darum, nach Worten zu ringen, zu staunen, zu stottern, zu (ver-)zweifeln und die Lücken zuzulassen, in denen sich die Faszination für

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Vorwort Schauspielerinnen und Schauspieler einnisten mag. Jens Roselt kommt so einem Tick von Horst Lebinsky auf die Schliche. Benjamin Wihstutz verfolgt Ulrich Matthes bei einem Gang über die Bühne. Christine Wahl hört Samuel Finzi und Wolfram Koch beim Schweigen zu. Hajo Kurzenherger muss sich zwischen dem Volksmusikstar Hansi Hinterseer und dem Burgschauspieler Joachim Meyerhoff entscheiden. Und Adam Czirak erlebtangesichtsvon Maren Eggert ein Paradox der Einfühlung. Nachdem sich Zuschauer so über Schauspieler geäußert haben, wird der Spieß umgedreht und Schauspieler geben über Zuschauer Auskunft. In einem Gespräch berichten die Schauspielerin Petra Hartung, die Schauspieler Lars Eidinger und Ulrich Matthes sowie die Aktionskünstlerin Anne Tismer über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen mit dem Publikum.

SELBST -BILDUNG

Bei aller Begeisterung für Schauspieler und erst recht bei aller Ablehnung ihnen gegenüber vergisst man häufig, dass das, was auf der Bühne präsentiert wird, Arbeit ist. Jede Aufführung kann als Ergebnis vorausgegangener Arbeit betrachtet werden. Bevor wir etwas auf der Bühne sehen, verbringen die Schauspieler Zeit damit, ihre Texte einzuüben, Bewegungsabläufe, Handlungssequenzen, Dialoge, Gesänge und Tanzeinlagen zu erlernen. Das Spiel fordert, dass sie sich mit ihren Mitspielern vertraut machen, den Raum kennen lernen, den gesamten Verlauf der Aufführung memorieren, damit sie rechtzeitig an Ort und Stelle sind und ihren Einsatz nicht verpassen. Wir als Zuschauer erwarten, dass sie jeden Abend in guter Verfassung sind und ihre persönlichen Belange und Befindlichkeiten für die Dauer der Aufführung vergessen. Schauspielerische Arbeit ist ein Vorgang besonderer Art. Sie bringt nichts hervor, was von der Person des Schauspielers oder der Schauspielerin abzulösen ist, sie ist immer untrennbar mit dieser verbunden. So gesehen h a ndelt es sich um einen kontinuierlichen Selbstbildungsprozess, um einen Vorgang der permanenten Selbstund Neuerschaffung sowie um eine fortgesetzte Transformation. Schauspieler nutzen ihren Körper, ihre persönlichen Erinnerungen, Gefühle und Erfahrungen, um Fiktionen und Phantasmen einen Körper und eine Stimme zu geben. Darüber hinaus stellen sie sich immer wieder den Projektionen von Regisseuren und Zuschauern gleichermaßen zur Verfügung. Aus historischer Perspektive war die Arbeit des Schauspielers an sich selbst stets ein Projekt im Prozess der Zivilisation und somit verbunden mit der Frage danach, was uns Menschen ausmacht.

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Schauspielen heute

Jede Zeit hat- bezogen auf den Schauspieler- diese Frage anders beantwortet. Dem 17. Jahrhundert war er eine proteische Gestalt, die mit dem Darstellen der Leidenschaften stets auch ihre eigene Identität aufs Spiel setzte, das 18. Jahrhundert sah im Spielen die Mechanik und entwickelte schon ein erstes Gespür für den Wert des Trainings. Im 19. Jahrhundert zeigten Schauspieler ihren bürgerlichen Zuschauern, wie man sich als »wahre« Charaktere aufführte. Zum Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir uns konfrontiert mit einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Körpertechniken, die - aus den Kulturen, in denen sie entwickelt und über Jahre hinweg gepflegt wurden, abgelöst - den heutigen Darstellern zur Verfügung stehen. Im zweiten Teil des Buches wird die Arbeit von Schauspielern als Prozess der Selbst-Bildung thematisiert. Christel Weiler beobachtet den Schauspieler David Barlow beim Bestellen eines Kartoffelackers und fragt sich dabei, wer hier eigentlich schuftet: Der Schauspieler? Oder eine Figur? Aus der Perspektive des Performancetheaters betrachten die folgenden zwei Aufsätze schauspielerisches Handeln, mit dem die Souveränität der Darsteller auf dem Spiel steht. Annemarie Matzke untersucht Formen inszenierter CoAbhängigkeit im Theater und schlägt dabei einen Bogen von Elisa beth Bergner bis zu neueren Performances. Miriam Dreysse lässt den Schauspieler eine Frage formulieren, die als Stoßseufzer wohl auf allen Probebühnen gegenwärtig ist: »Was tue ich hier eigentlich?«. Diese Frage könnte auch in einer der Theaterarbeiten von Rene Pollesch gestellt werden. Bei Pollesch dürften die Schauspielerinnen sie a llerdings nicht seufzen, sondern aus vollem Halse bis zur Heiserkeit schreien. Der Name des Autors und Regisseurs steht inzwischen auch für einen bestimmten Schauspielstil, den die zwei nächsten Aufsätze untersuchen. Bettina Brandl-Risi erkennt in den Auftritten von Pollesch-Schauspielerinnen wie Sophie Rois und Christine Groß eine neue Form von Virtuosität. Patrick Primavesi beschreibt diese Spielweise als komische Infragestellung jener Präsenz, die zu erlangen vornehmste Pflicht des klassischen Schauspielens war. Über die konkrete Probenarbeit mit Pollesch gibt die Schauspielerin Claudia Splitt anschießend in einem Gespräch Auskunft. Von einer eigenen Art des Rollenspiels ist dann in dem Beitrag von Ulf Otto die Rede, der die Praxis des Reenactments als zeitgenössisches Darstellungsverfahren untersucht, das bei kulturellen Aufführungen und in unterschiedlichen Medien zum Einsatz kommt. Das Spannungsverhältnis zwischen der Selbst-Bildung als ästhetischer Praxis und den gesellscha ftlichen Zwängen und Disziplinierungen, unter denen diese Praxis stattfindet, wird von Matthias Warstat entfaltet.

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Vorwort Im Lichte der Aufsätze zur Selbst-Bildung werden die paradigmatischen Verschiebungen des Schauspieleus heute kenntlich. Damit erfährt das Berufsbild des Schauspielers gegenwärtig eine radikale Veränderung, die auch eine Herausforderung für die Ausbildung neuer Schauspieler ist. Wenn Bernd Stegemann in seinem Beitrag das professionelle Schauspielen als Beruf beschreibt, theoretisch begründet und historisch herleitet, bildet dies den Übergang zum dritten Teil des Buches, in dem es um die Ausbildung geht.

AUSBILDUNG

Angesichts der Vielfalt d es Schauspieleus h eute stellt sich die Frage nach dem spezifischen Können, das die Menschen auf der Bühne auszeichnet. Hieraus erwachsen zentrale Forderungen für die institutionalisierte Ausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern. Nicht nur die vermehrte Präsenz von Laien und deren Wertschätzung auf den Bühnen macht die Revision tradierter Ausbildungskonzepte notwendig. Die auf den Schauspielschulen erlernbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden einerseits die Voraussetzung für die vielfältigen Möglichkeiten einer Rollengestaltung, andererseits präformieren sie auch die Erscheinung des Menschen auf dem Theater. Vor allem die performativen Ästhetiken des Theaters der letzten Jahre fordern jedoch von den Akteuren neue Qualitäten. Worauf müssen und sollen sich also künftige Schauspieler konzentrieren? Welche Fähigkeiten werden ihnen abverlangt? Wie reagieren die bestehenden Ausbildungseinrichtungen auf die Ästhetiken des Performativen? Auf welche Vorbehalte treffen Ausbildungsprogramme bei den Schülerinnen und Schülern und wie kann man produktiv mit ihrer Widerständigkeit umgehen? In einem Gespräch mit den Experten für neue Curricula an Schauspielschulen Hans Ulrich Becker (Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Frankfurt/Main), Bernd Stegemann (Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, Berlin) und Imanuel Schipper (Zürcher Hochschule der Künste) werden die Perspektiven und Risiken für die Zukunft erörtert. Am Ende des Buches steht damit die Frage, ob und wie das Schauspielen heute zum Wegweiser für das Theater und die Schauspielschule von morgen werden kann. Eine kontroverse Debatte ist eröffnet, zu der das Buch Schauspielen heute einen Beitrag leisten möchte.

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Schauspielen heute

Die Konzeption dieses Band geht auf die gleichnamige Tagung zurück, die der Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Institut für Medien und Theater der Universität Bildesheim 2008 veranstaltet hat. Die gewissenhafte Einrichtung des Manuskripts hat Stephanie Schulze bestellt. Allen, die dieses Projekt ermöglicht und an ihm teilgenommen haben, gilt unser Dank.

Berlin und Hildesheim, im Herbst 2010 Jens Roselt und Christel Weiler

ANMERKUNGEN

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Wilhelm Hebenstreit: Das Schauspielwesen, Wien: Beck 1843, S. 1. Ebd., S. 36.

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Lob der Marotte JENS ROSELT

Eine der Errungenschaften des modernen Theaters ist die Entwicklung und Kultivierung d es Ensemblegedanke ns. Gerade die Ästhetik der Schauspielkunst wird entscheidend geprägt durch die Arbeit spezifischer Ensembles. Ein Ensemble ist nicht mehr die zusammengewürfelte Truppe ästhetischer Einzelkämpfer des 18. Jahrhunderts, sondern es versteht sich selbst als eine künstlerische Gemeinschaft, die sich durch einen eigenen Inszenierungsstil oder eine bestimmte Spielweise auszeichnen kann. Zentrale Innovationen der Schauspielkunst waren und sind nicht denkbar ohne die Ensembles, in und mit denen neue Spielweisen erfunden, entwickelt, erprobt oder verworfen werden. Goethes Weimarer Theater ist ebenso ein Meilenstein der Ensemblekunst wie Stanislawskis Moskauer Künstlertheater, Brechts Berliner Ensemble, Steins Schaubühne oder Castorfs Volksbühne. Das viel gescholtene deutsche Stadtund Staatstheatersystem hat für diese Entwicklung äußerst positive Voraussetzungen geschaffen. Denn zum Ensemblegedanken gehört auch die Praxis, dass Schauspieler über Jahre dabei bleiben können, um an sich zu arbeiten und das Ensemble so kontinuierlich mitzuentwickeln. Die damit einhergehende ökonomische und soziale Stabilität dürfte zur Akzeptanz des Berufsschauspielers wesentlich beigetragen haben. Eine Komponente des Ensembles wird dabei häufig vergessen: das Publikum. Denn auch die Zuschauer, die sich ein Ensemble eroder verspielt, formieren erst nach und nach ein spezifisches Publikum, das sich mit dem Ensemble identifiziert, mit ihm älter wird und sich mit ihm auf junges Blut freut. Das ist nicht nur eine soziologische Beobachtung, sondern auch ein ästhetisches Phänomen, denn Ensemblespiel bedeutet auch, dass man ein und denselben Schauspieler in unterschiedlichen Rollen sieht, ihn permanent wiedererkennt als das, was er bereits gespielt h a t. Eine auf die spezifische Inszenierung konzentrierte kritische Betrachtung verliert diese Dimension zwangsläufig aus dem Blick. Dass der tragische Held letzte Woche noch als Nebenrolle in einer Boulevardkomödie zu sehen war, hat bei der Würdigung seines aktuellen Auftritts keine Rol19

Jens Roselt le zu spielen. Doch gerade darin kann ein Reiz des Ensemblezuschauers liegen , der sich auf einen bestimmten Schauspieler freut oder gegenüber anderen Idiosynkras ien entwickelt. Gegenwärtig ist dieser Aspekt relevant, weil Ensembles der Stadt- und Staatstheater sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht auf einen einzigen Regisseur oder eine Regisseurin geeicht sind, sondern flexibel unterschiedliche Inszenierungsstile treffen, verfehlen oder bedienen können: Gestern Peymann, heute Wilson, morgen ein Regiedebütant, und ein paar Performancekünstler klopfen auch schon an die Türen der Probebühnen deutscher Stadttheater. Dabei machen das Ensemble und das Publikum ein Wechselbad ästhetischer (Regie-) Ergüsse durch. Diesbezüglich sitzen Schauspieler und Zuschauer im Theater in einem Boot. Durch verschiedene Inszenierungen und über Spielzeiten hinweg kann man so beobachten, was bestimmte Schauspieler >durchmachen< und wie sie damit umgehen. Als Zuschauer möchte man gelegentlich gerne wissen, was dieser oder jener Schauspieler denkt über das, was er da gerade macht oder machen muss. Im 18. Jahrhundert hatten Schauspieler vielfältige Möglichkeiten, dem Publikum in der Aufführung improvisierend zu zeigen oder auszusprechen, was sie von einem Stück oder seiner literarischen Qualität hielten. 1 Mit dieser kritischen Solidarisierung zwischen Schauspielern und Zuschauern ist im Ensembletheater allerdings Schluss. In Nibelungentreue haben die Schauspielerinnen und Schauspieler - zumindest auf der Bühne vor Publikum zur Regie zu stehen, wenn sie die ästhetische Qualität der Aufführung nicht gefährden wollen. Dennoch können gerade ältere und erfahrene Schauspielerinnen und Schauspieler darin Souveränität entwickeln, dass sie eine eigene Form von Distanz kreieren zu dem, was sie gerade tun. Subtil und locker spielen sie ihre Erfahrung aus, machen jeden Satz oder jede Bewegung doppeldeutig und verführen die Zuschauer durch ihre latente Ironie dazu, in dem Schauspieler vor ihren Augen mehr oder anderes zu sehen als das, was er gerade vorspielt. Das zeichnet die Erotik der Schauspielkunst aus. Ein in diesem Sinne erotischer Schauspieler ist Horst Lebinsky vom Deutschen Theater in Berlin. Er ist über 70 Jahre alt, ein Absolvent der »Ernst Busch«-Schule und seit 1968 im Ensemble des DT, wo er mit unterschiedlichen Regisseuren wie Thomas Langhoff, Frank Castorf, Thomas Ostermeier oder Stephan Kimmig zusammengearbeitet hat. Ich habe ihn das erste Mal 1993 in Langhaffs Inszenierung von Gerhart Hauptmanns DER BIBERPELZ gesehen, von der ich heute nur noch erinnere, dass er und Jutta Wachowiak mitgespielt haben. Lebinsky jedenfalls ist im Spielplan des DT bis heute präsent. Er spielt nie die ganz großen Rollen, ist aber in wichtigen Produktionen dabei, d.h. in Inszenierungen, die sich in erster Linie durch einen bestimmten Regiestil auszeichnen. Auch ich bin erst

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Lob der Marotte durch meine Auseinandersetzungen mit Inszenierungen von Michael Thalheimer, insbesondere FAUST II und DIE RATTEN, dazu gekommen, mich näher mit Lebinsky zu beschäftigen. Wofür Thalheimer steht, ist bekannt: eine strenge Form, die durch reduzierte deutliche Gestik gekennzeichnet ist, wodurch relativ starre szenische Tableaus entstehen. Um dies zu untersuchen, habe ich mich auf die Körperlichkeit der Schauspieler konzentriert. Dabei fiel Lebinsky immer ein bisschen aus dem Rahmen. Es erschien mir weder als bewusster Verstoß gegen die Formvorgaben der Inszenierung noch als Patzer. Aber sein Auftritt unterschied sich, war irgendwie anders, vielleicht besonders. Wodurch? Lebinsky hat immer etwas Schelmisches und Doppelbödiges. Man weiß nie genau, woran man b ei ihm ist, was man von ihm halten soll bzw. was er selbst von dem hält, was er macht. Er führt die Vorgaben exakt aus, ohne sich in den Vordergrund zu spielen und scheint dabei immer etwas über den Dingen zu stehen und von dort aus milde auf sich selbst, seine Kollegen, den Regisseur und uns Zuschauer hinabzusehen. Diese Einstellung ist sicher nicht unproblematisch. Mancher Regisseur mag wahnsinnig werden, wenn ein Schauspieler sich durch diese Haltung unangreifbar macht. Entscheidend aber ist, dass hier überhaupt eine Haltung des Schauspielers erkennbar wird. Und diese ist mir dazu auch äußerst sympathisch, weil sie bei aller Verwandlungskunst eine respektable Persönlichkeit kenntlich macht, deren immense Theatererfahrung bei jedem Auftritt präsent wird. Wenn man davon ausgeht, dass man als Zuschauer nur dann eine Position zum Schauspieler und seiner Figur b eziehen kann, wenn dieser selbst eine Haltung zu sich hat, dann wird verständlicher, dass Lebinsky einen treffen kann, auch wenn diese Begegnung zwischen Bühne und Zuschauerraum immer mit leicht ironischem Firniss umsponnen ist. Die beiden konkreten Inszenierungen betrachtend, scheint Lebinsky eigentlich nie still zu stehen, was für eine Figur bei Thalheimer ja schon eine Verhaltensauffälligkeit ist. Selbst wenn er regungslos ist, hat man doch immer den Eindruck, dass es in ihm arbeitet und gleich etwas passieren wird. Auch statische Gruppenszenen können so durch ihn dynamisch wirken. Er macht nervös. In FAUST II ist er der Kaiser, der sich im Eröffnungstableau der Inszenierung allmählich zwischen den regungslosen Hofstaat schiebt. 2 An Gestik und Mimik hat dieser Kaiser zu viel, was seine Untertanen auf der Bühne zu wenig haben. Er grimassiert, probiert einzelne Gesten aus, stellt überzogene Bewegungen aus, prüft seine Stimme und übt das Grinsen. Es ist, a ls würde er alle seine Handlungen in virtuelle Anführungszeichen setzen. Eine einheitliche Form gelingt ihm, dem Kaiser, dabei nicht. Hohe Stimme und groß-

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Jens Roselt zug1ge Geste wollen nicht Recht zueinander passen. Jede Haltung hält nur wenige Sekunden, es ist eine permanente Umformung. All dies lässt sich auf die Figur beziehen, man kann es interpretieren und den Sinn mit den möglichen Intentionen der Regie abgleichen. Dieser Kaiser ist nicht originell, sondern er äfft die Posen der Macht nach, wobei er lächerlich, aber auch unberechenbar wirkt. Einfalt und Gefahr liegen bei dieser Figur eng beieinander. Lebinsky ist kein ästhetischer Einzelkämpfer, sondern arbeitet im konzeptionellen Rahmen der Inszenierung. Und doch ist er ganz eigen. Man beobachtet eine Fülle von kleinen Bewegungen und Zuckungen, die ihm zu gehören scheinen oder die er für uns macht. Allein der Versuch zu beschreiben, was er in einer Szene nur mit seinem Unterkiefer anstellt, bringt mich zur Verzweiflung, obwohl ich die DVD der Aufzeichnung anhalten, vor- und zurückspulen kann. Ob er spricht oder nicht, die untere Mundpartie ist ständig in Bewegung. Die Unterlippe wird angespannt oder überdehnt. Der Mund ist gerne halb oder ganz offen. Die Zunge mischt erkennbar mit und hat Auftritte außerhalb des Sprechdienstes. Auch die eigentlich zur Faust geballte Hand öffnet sich immer wieder und zeigt ein ganz b eiläufiges FingerspieL Es ist faszinierend zu beobachten, wie hier scheinbar nebenbei Aufmerksamkeit erzeugt wird. Man sieht, wie der Darsteller im strengen Rahmen der Inszenierung selbst zum Zuge kommt, wie er sich Arabesken der Bewegung herausnimmt, die vielleicht durch kein Konzept gedeckt sind und nur dem Augenblick gehören, in dem sie entstehen und vergehen. Grundsätzlich kann man zwei gegensätzliche Bewegungsarten feststellen: die große, ausgestellte, »zitierte« Geste oder Pose und die scheinbar beiläufige Bewegung, die einfach passiert. Diese Doppeldeutigkeit wird in DIE RATTEN noch verstärkt. Hier spielt Lebinsky den Theaterdirektor Hassenreuter, der als scheppernder Prinzipal gewissermaßen von Berufs wegen zur großen Geste tendiert, deren Pathetik hier jedoch von einer Fülle kleiner Nuancen und Arabesken konterkariert wird.3 Er rückt schnell mal die Brille zurecht (die gar nicht verrutscht war), streicht die Hose glatt, zieht sie leicht hoch, steckt die Krawatte rein oder zupft seine Ärmel zu Recht. Die Figur zeigt das Schicksal eines Schauspielers in nuce, der sich ständig neu in Form bringen muss, ohne je eine einheitliche Form zu finden. Auch dieses auf den ersten Blick fahrige Verhalten lässt ein Bewegungsschema erkennen, das gerade für Figuren in ThalheimerInszenierungen außerordentlich ist. Denn seine Bewegungen vollziehen sich zu einem großen Teil als Eigenberührungen. Und dass jemand körperlich zu sich selbst in Konta kt tritt, ist bei der statuarischen, auf Posen konzentrierten Personenführung von Thalheimer absolut selten. In FAUST II ist dies neben Lebinsky vor allem Sven Lehman als Mephisto vorbehalten. In DIE RATTEN zeigt Lebinsky eine

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Lob der Marotte Fülle von Möglichkeiten dieser Selbstbezüglichkeit des Körpers, wobei nahezu alle Extremitäten zum Einsatz kommen. Auch die Zunge ist wieder dabei, denn das Befeu chten der Lippen ist auch eine Form, sich selbst zu berühren oder zu streicheln. Ebenso wie das Falten oder Klatschen der Hände, die Berührung d er an den Mund oder die Wange fassenden Ha nd, das Kratzen im Gesicht oder der Beine, das Streicheln der Brust und vor allem: Immer wieder streicht sich Lebinsky mit der Hand über den Kopf durch das Haar, das er gar nicht mehr hat. Alle diese Beobachtungen der Spielweise lassen sich mit ein paar interpretatorischen Winkelzügen auf die dargestellte Figur beziehen und so konzeptionell einbinden. Man kann also inhaltlich erklären, warum gerade diese Figur das Privileg hat, ein eigenes Bewegungsschema zu zeigen. Trotzdem ist mir nicht ganz wohl, diese Eigenarten so flott einem Konzept zuzuschlagen oder unter die Intentionen der Regie zu verbuchen. Der kollektiven Dimension von Entstehungsprozessen im Theater würde diese Sichtweise nicht gerecht. Und kollektiv meint hier nicht in erster Linie, dass hinter dem Regisseur ein Dramaturg steht, der ihm zuflüstert, oder dass es einen Bühnenbildner gibt, mit dem d er Regisseur nächtelang diskutiert hat. Nicht das Regieteam ist das Kollektiv. Kollektivität m eint hier vielmehr, dass auf der Probe im Mit- und Gegeneinander sämtlicher Beteiligter etwas passiert, entsteht oder sich ereignet, was nachträglic h keiner allein für sich reklamieren kann. Gewiss darf man annehmen, dass ein Regisseur wie Thaiheimer die von mir in der Aufführung beobachteten Eigenarten auf der Probe sieht, sie zulässt, sie vielleicht sogar provoziert oder fordert, aber dennoch sind sie ihm n icht zu eigen. Sie gehören genauso Horst Lebinsky, ohne dessen Körperlichkeit sie nicht darstellbar wären . Wenn man gewöhnt ist, seine Wahrnehmung von Theater stark an den Leistungen der Regie auszurichten, kann man mir natürlich entgegenhalten, dass ich hier womöglich die Marotten eines älteren Schauspielers arg stilisiere und ästhetisch hochjubele. Dafür würde auch sprechen, dass der Schauspieler die von mir beschriebenen Eigenarten keineswegs nur für Thalheimer-Inszenierungen reserviert. Insbesondere die Arbeit am Gesicht und die über den Kopf streichende Hand sieht man gelegentlich, um nicht zu sagen, sie ist notorisch. Die Bezeichnung Marotte für das Spiel eines Schauspielers wäre in diesem Zusammenhang natürlich negativ gemeint. Denn eine Marotte ist eine schrullige Angewohnheit, ein Tick, ein Spleen, also eine in jedem Fall seltsame Eigenart, die nicht nur in den keimfreien Inszenierungen von Michael Thalheimer seltsame Dreckeffekte erzeugen kann.

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Jens Roselt Die Marotte rührt so aber auch an eine zentrale Frage des Schauspielerberufs: Wie wird man als ästhetisch Handelnder kenntlich in einer Tätigkeit, die mit Verwandlung oder Nachahmung zu tun hat? Im Grunde handelt es sich um eine professionelle Zwickmühle. Auf der einen Seite ist ein Schauspieler sein eigenes Material oder wie es in der Schauspieltheorie immer wieder heißt, er ist Spieler und gespieltes Instrument in einer Person. Wie in kaum einem anderen Beruf ist er deshalb auf seinen Körper, seine Stimme, seine Emotionalität, ja seine Biografie, kurz: seine ganze Individualität angewiesen. Auf der anderen Seite ist Schauspielen im weitesten Sinne ein Vorgang der Nachahmung, bei dem eben etwas anderes, z.B. eine Figur, entstehen soll. Eine Zwickmühle ist das insofern, dass jemand, der - etwa durch Marotten - als individuell Handelnder kenntlich wird, sich sogleich den ästhetischen Vorwurf zuzieht, er mache immer das gleiche, verfalle in stereotype Muster, spiele sich in den Vordergrund und sei nicht wandlungsfähig. Doch wie kann man originell sein, ohne dabei aufzufallen? Diese Zwickmühle sollte man nicht aufzulösen versuchen. Im Gegenteil: Es ist gerade ein ästhetischer Reiz für Theaterzuschauer, dies es Zwick und Zwack zu beobachten. Dabei ist die negative Konnotation der Marotte theaterhistorisch keineswegs selbstverständlich. Im 19. Jahrhundert konnten sich virtuose Schauspielstars ihre besonderen Eigenarten durchaus zugutehalten. Der Virtuose Friedrich Haase beispielsweise, der sich jeden Versuch der Einflussnahme von Regisseuren auf seine Spielweise verbeten hätte, meinte sich durch ein unnachahmliches Räuspern auszuzeichnen, das er unabhängig von der Rolle in seine Figuren einbaute. Groß war sein Entsetzen, als sich herausstellte, dass sein Räuspern wohl doch nicht so unnachahmlich war. Denn in einem Brief wurde ihm mitgeteilt, dass ein Schauspieler in einer anderen Stadt ebenfalls angefangen habe, sich wie Haase zu räuspern. Haase tobte und legte Wert darauf, dass die kultivierte Theateröffentlichkeit zur Kenntnis nahm, dass es sein Räuspern sei, das der andere schamlos kopierte. 4 Dass Haase diese Fälschergeschichte s elbst in seiner Autobiografie ausplaudert, zeigt, dass ihm diese Marotte nicht peinlich war, wenngleich er seine Leistung freilich nicht eine Marotte genannt hätte. Er fühlte sich nicht ertappt, sondern war stolz auf diese ihm eigene Qualität. Haase kann man im Deutschen Theater heute immer noch sehen. Er prangt rechts oben über dem Portal in der Vignette an der Decke. Als einer der Gründungsgesellschafter des Deutschen Theaters hat er hier einen Ehrenplatz gefunden, von dem aus er Abend für Abend milde herunter blickt, wenn sich Horst Lebinsky unter ihm auf der Bühne durch die nicht vorhandenen Haare fährt.

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Lob der Marotte Doch nicht nur für diese beiden soll abschließend eine kleine Ehrenrettung der Marotte vorgenommen werden. Die Etymologie des Begriffes führt nämlich direkt an die beiden ungleichen Ursprünge des Theaters: das Heilige und das Profane. Die ••marotte« bezeichnet im Französischen eigentlich eine kleine Heiligenfigur der Maria, die allerdings schon im Mittelalter närrisch umgeformt wurde, als kleiner Puppenkopf auf dem Narrenzepter.s Auch die Narrenkappe wurde dann als ••marotte« bezeichnet. Das Närrische hat sich der Begriff auch bei seiner Eindeutschung im 18. Jahrhundert erhalten. Als wunderliche Eigenart ist die Marotte zugleich ein ästhetisches Mittel, insofern es sich um eine formale Prozedur handelt, wobei eine bestimmte Bewegung, Geste oder Handlung wiederholbar und wiedererkennbar gemacht wird. Marotten sind etwas Gemachtes, Hergestelltes oder Ausgestelltes ; sie haben Struktur. Wenn jemand beispielsweise lispelt, würde man kaum sagen, er habe die Marotte zu lispeln, sondern er habe einen Sprachfehler. Eine Marotte würde es erst, wenn er eigentlich nicht lispelt, dies aber aus unbekannten Gründen in bestimmten Situationen tut. Er formt einen Fehler und führt so eine Eigenart auf. Dabei schafft die Marotte auf der Bühne eine merkwürdige ästhetische Grauzon e , die sie so wunderlich macht. In diesem Zwielicht wirbeln ästhetische Untersch eidungskategorien wie bewusst oder unbewusst, willkürlich oder unwillkürlich, motiviert oder unmotiviert, klug oder beliebig durcheinander. Man muss Marotten deshalb nicht mögen, sie können einen auch wirklich nerven. Aber dass sie, wie am Beispiel von Horst Lebinsky gezeigt, das Schelmische und Doppelbödige in die gut gestylten und durchdachten Inszenierungen d es Gegenwartstheaters schleppen können, macht sie sympathisch. Anders gesagt: Marotten sind wunderbare Unartigkeiten oder eigenartige Kultiviertheiten von Schauspielerinnen und Schauspielern, die dem zeitgenössischen Theater gut tun.

ANMERKUNGEN

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Vgl. Jens Roselt: Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barockbis zum postdramatischen Theater, Berlin: Alexander 2005, S. 24f. Vgl. Jens Roselt: >>Fremde Posen. Zu Michael Thalheimers Inszenierung Faust IlWissen Sie denn nicht, was ein Punkt b edeutet?< Rhetorik und Schauspielkunst im zeitgenössischen Theater am Beispiel der Ratten-Inszenierung von Michael Thalheimer« , in: Wolfgang Neuber/Thomas Rahn (Hg.), Thea tralische Rhetorik, Rh etorik. Ein

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Jens Roselt

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internationales Jahrbuch, Bd. 27, Tübingen: Niemeyer 2008, S. 106114. Friedrich Haase: Was ich erlebte 1846-1896, Berlin: Bang 1898, S. 66. Vgl. Heiner Menninghaus: »Narrenzepter oder Marotten•, in: Weltkunst 13 (2002) , S. 2031-2033.

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Ulrich Matthes' Onkel Wanja und die verkörperte Einbildung des Zuschauers BENJAMIN WIHSTUTZ

Im Folgenden geht es um das Verhältnisdreier Personen, von denen eine fiktiv ist: Ulrich Matthes, Onkel Wanja und der Zuschauer. Letzterer impliziert jene höchst subjektive Perspektive, von der eine Aufführungsanalyse über die Wirkung eines Schauspielers auszugehen hat, ist es doch zu allererst die Wahrnehmung des Zuschauers, an die sich das Schauspiel richtet. Die hier angestellten Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass sich das Dreiecksverhältnis von Schauspieler, Zuschauer und Figur als gemeinsam hervorgebrachtes Spiel einer •verkörperten Einbildung• beschreiben lässt, sich mithin Wahrnehmung und Wirkung eines Schauspielers letztlich nicht von imaginativen Prozessen auf Seiten des Zuschauers trennen lassen. Im Fokus des Interesses steht daher nicht allein die Frage, auf welche Weise Onkel Wanja im Körper Ulrich Matthes' zum Leben erweckt wird, sondern auch die daran anknüpfende Frage, in welcher Hinsicht das Schauspiel auf der Bühne und die Imagination im Zuschauersaal hinsichtlich einer von der Figur ausgehenden, spürbaren Atmosphäre zusammenspielen. Vor der Beschreibung der Aufführung lohnt es sich, zunächst kurz auf die beiden im Mittelpunkt stehenden Begriffe einzugehen, zumal der zweite Begriff Einbildung zugleich den Titel des diesem Text übergeordneten Kapitels darstellt. Unter >Verkörperung< versteht man traditionell die schauspielerische Darstellung einer dramatischen Figur, in diesem Fall also die Verkörperung Onkel Wanjas durch den Schauspieler Ulrich Matthes. Dass sich dabei die körperlichen Darstellungen nie gänzlich vom individuellen Leib des Schauspielers trennen lassen, stellt für die Theaterwissenschaft heute kaum mehr als eine Binsenweisheit dar. Übertragen auf das hier zu erörternde Beispiel bedeutet das : Selbst wenn Ulrich Matthes, wie beim Method Acting in Hollywood üblich, dreißig Kilogramm für die Rolle zugenommen hätte, um sich möglichst ganz in eine Figur und damit in einen Anderen zu verwandeln, würde Tschechows Onkel Wanja stets im phänomenalen

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Leib des Schauspielers Matthes erscheinen. Verkörperung bezeichnet somit immer sowohl körperliche Repräsentation einer Figur als auch physische Präsenz des Schauspielers - oder in den Worten Erika Fischer-Lichtes sowohl •semiotischer Körper• als auch >phänomenaler Leib• 1 . Diesen beiden Seiten der Verkörperung lässt sich mit dem Körper des Zuschauers eine dritte hinzugesellen. Denn auch der Zuschauer •verkörpert• gewissermaßen Theater, indem er die Aufführung körperlich wahrnimmt. Bei einer gelungenen Aufführung empfindet er sich als mitten im Geschehen und das beileibe nicht allein mental. So spürt der Zuschauer beispielsweise die Atmosphäre einer Aufführung, indem er sie körperlich aufnimmt und sie, so könnte man sagen, physisch reflektiert. Der Atmosphäre entsprechend adaptiert er seine Sitzhaltung, er fühlt sich angespannt oder beschwingt, sein Körper spürt das Theater, das ihn umgibt. Zugleich projiziert er wiederum seine Gefühle und seine subjektiven Vorstellungen auf die Körper der Darsteller. Auch dieser Vorgang ließe sich als Verkörperung beschreiben. Das Spiel der Schauspieler erweckt die Imaginationen des Zuschauers zum Leben und lässt sie auf der Bühne verkörpern. Versteht man den Begriff der Verkörperung in diesem Sinne nicht allein als produktionsästhetische Kategorie, sondern bezieht ihn sowohl auf die Präsenz und Repräsentation des Darstellerkörpers als auch auf die körperliche Anteilnahme und imaginative Projektion des Zuschauers, verweist er auf ein komplexes, für das Theater grundlegendes Kommunikationsverhältnis zwischen Schauspieler, Figur und Zuschauer. Der Begriff Einbildung übertrifft den der Verkörperung sogar noch an Komplexität, um nicht zu sagen an Unklarheit. Einbildung bezeichnet in der Alltagssprache zunächst meist so etwas wie eine Täuschung der Wahrnehmung, in der Regel abwertend konnotiert. Der Satz >>Das bildest du dir nur ein.« bescheinigt dem Gegenüber eine Art Wirklichkeitsverlust, Einbildung und Wahrheit scheinen hier antonymisch zueinander zu stehen. Die Einbildung des Theaters, seine auf Täuschung beruhende Wirklichkeit wurde ihm im Verlauf der Geschichte oftmals vorgeworfen. Und wenn heute bei einer Fußballübertragung im Fernsehen der Stürmer, der ein Foul vortäuscht, als »Schauspielen bezeichnet wird, zeigt das, dass Schauspiel immer noch mit einer auf Täuschung beruhenden Einbildung in Verbindung gebracht wird. Der Schiedsrichter bildet sich nur ein, der Stürmer wäre gefoult worden, in Wirklichkeit war es eine Schwalbe. Als Zuschauer im Theater bilde ich mir zeitweise ein, Onkel Wanja auf der Bühne zu sehen, da bei ist es nur Ulrich Ma tthes. Einbildung lässt sich jedoch auch ganz anders verstehen, nämlich schlicht als Aufnehmen von Bildern. Man könnte hier dement-

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Ulrich Matthes' Onkel Wanja sprechend einen der Heideggerschen Bindestriche zwischen Ein und Bildung setzen. Der Zuschauer bildet sich das Theater ein, bedeutet dann nichts anderes, als dass er die Aufführung mit seinen Sinnen wahrnimmt. Sicherlich dürfte man diese Art Einbildung nicht auf die visuelle Wahrnehmung beschränken, vielmehr ginge es im Theater um eine Art synästhetisches Ein-bilden 2 , ein Aufnehmen der Theaterbilder mit allen Sinnen zugleich. Offenbar stehen Einbildung im ersten und im zweiten Sinne, also ohne und mit Bindestrich, in einem Zusammenhang: Ich muss mir erst einmal etwas ein-bilden, um mir dann etwas einzubilden. Um Onkel Wanja in Ulrich Matthes zu sehen, muss ich erst einmal den Schauspieler Ulrich Matthes wahrnehmen. Und damit ist eine dritte, viel grundlegendere Lesart von Einbildung angesprochen, die den Begriff als basale imaginative Tätigkeit der Einbildungskraft begreift und damit die Verbindung zwischen den ersten beiden Einbildungen herstellt. Das menschliche Grundvermögen der Einbildungskraft, das so viele Philosophen als Bindeglied zwischen Anschauung und Denken, zwischen Körper und Geist bestimmt haben, ist für Schauspieler und Zuschauer im Theater unersetzlich. Wenn die Einbildungskraft heimatlos ist, wie Heidegger behauptet und frei zwischen allen Ebenen der Wahrnehmung und des Denkens oszillieren und vermitteln kann, muss sie es sein, die im Theater Schauspieler, Figur und Zuschauer zusammenführt und den kommunikativen Austausch zwischen den dreien ermöglicht. Die folgende Aufführungsbeschreibung beschränkt sich nicht auf die Darstellung von Onkel Wanja durch den Schauspieler Ulrich Matthes, sondern versucht darüber hinaus, der individuellen Wahrnehmung und Imagination der von Ulrich Matthes dargestellten Figur durch den Zuschauer Bedeutung beizumessen. Der methodische Zugang einer solchen Analyse ließe sich als phänomenologisch bezeichnen: als deskriptive Annäherung an die Erscheinung der Figur zwischen objektiv Wahrnehmbarem und subjektiv Wahrgenommenem. Ulrich Matth es tritt a ls Onkel Wanja das erst e Mal nach einem etwa fünfminütigen Eingangsdialog zwischen dem von Jens Harzer gespielten Arzt Astrow und der von Christine Schorn dargestellten Kinderfrau Marina auf. Ulrich Matthes' Schritte sind klein, langsam und unregelmäßig. In jedem dieser Schritte scheint ein kurzes Zögern enthalten zu sein, mal deutlich, mal weniger deutlich sichtbar. Es ist, als ob sein Körper bei jedem Schritt darüber nachdenken würde, ob es sich lohne, weiterzugehen oder ob es nicht besser wä re, stehenzubleiben oder gar umzudrehen. Nach etwa fünf dieser kleinen verzögerten Schritte gähnt Matthes, es ist ein langgezogenes Gähnen, weder besonders laut noch besonders leise, nicht auf-

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dringlich und doch sehr präsent. Matthes nimmt seine rechte Hand beim Gähnen vor den Mund während er weitergeht, seine linke Hand belässt er in der Hosentasche seines blauen Anzugs. Nach einigen Metern bleibt er für einen kurzen Moment stehen, er zögert lediglich einen Tick länger als zuvor und geht dann doch weiter. Nach etwa 15 Schritten scheint er am Ziel angekommen zu sein, wieder kommt er zum Stehen, wieder ein kleiner Schritt, noch einer, noch drei kleine Schritte, fast auf der Stelle, langsam dreht sich sein Rücken zum Publikum, er guckt nach unten, schaut, ob er sich auch an dieser Stelle hinsetzen kann, dreht sich wieder mit dem Rücken zur Wand und knickt dann zögernd und mit schwerfällig nach vorn gebeugtem Oberkörper in den Beinen ein und setzt sich mit einem undeutlichen Laut der Erleichterung - so etwas wie »Joaa«- auf die Stufe der Bühnenrückwand. Als Zuschauer bemerkt man Ulrich Matthes bei seinen ersten Schritten von rechts kaum, so langsam und zögernd tritt er auf. Obwohl im Anzug gekleidet, erinnert sein Gang eher an einem Mann im Bademantel - seine Füße scheinen über den Boden zu schlurfen, ohne dass sie wirklich schlurfen - dieser BademantelGang erweckt Assoziationen an Jeff Bridges' Dude aus dem CoenFilm THE BIG LEBOWSKI, und doch ist er vollkommen anders, denn Matthes' Kombination aus Schlaksigkeit und Behäbigkeit haftet im Gegensatz zum Dude im Bademantel rein gar nichts Cooles an. Vielmehr erscheint Ulrich Matthes' Onkel Wanja von Beginn an auf komische Weise bemitleidenswert. Sein dunkelblauer Anzug und seine alten Turnschuhe lassen an die Bekleidung von V-Bahnfahrern der Berliner Verkehrsbetriebe denken. Matthes verkörpert in dieser Eingangsszene bereits mehr a ls eine Figur, mehr als Onkel Wanja, der gähnend und verschlafen aus dem Bett wankt. Vielmehr könnte man sagen, dass sein Gang und seine Haltung das Bild einer bestimmten Atmosphäre verkörpern, die die gesamte Aufführung lang präsent ist. Jürgen Goschs Inszenierung von ONKEL WANJA lebt von dieser spürbaren Atmosphäre, von einer Stimmung des Tschechowschen Müßiggangs, in d em zugleich immer auch eine zynische, ironischdistanzierte Haltung zur Welt enthalten ist. Die leere, mit Lehm ausgespachtelte Bühne von Johannes Schütz unterstützt diese Stimmung, die hell angestrahlten, fleckigen Wände des Bühnenkastens suggerieren eine stickige Hitze. Und doch kann man gerade anhand dieser Eingangsszene der minimalistischen Inszenierung erkennen, wie sehr das Erzeugen einer Atmosphäre im Thea ter von den Schauspielern abhängt. Es ist vor allem die betäubende, tragikomische Behäbigkeit und Lethargie der dargestellten TschechowFiguren; es ist die Haltung der Schauspieler im eigentlichen, körperlichen Sinne des Wortes, die diese Atmosphäre von Beginn an

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Ulrich Matthes' Onkel Wanja hervorbringt. Niemand, so kann mit Recht behauptet werden, perfektioniert diese Haltung so sehr wie Ulrich Matthes als Onkel Wanja. 15 Schritte und ein halbe Minute Zeit, um zu seiner Sitzposition zu gelangen, reichen ihm, um auf unscheinbare aber bestimmte Art die Atmosphäre der Aufführung entscheidend zu prägen. Als Matthes sitzt, beharrt er nicht etwa müde und untätig in seiner Stellung, stattdessen greift er ohne Eile nach einem neben ihm platzierten Teller und beginnt mit der rechten Hand die vom Zuschauersaal aus nicht eindeutig identifizierbare Speise zu essen. Den anschließenden Dialog spricht er mit vollem Mund, der Text hindert ihn nicht am Kauen. Ähnlich wie sein Gang hat seine Stimme etwas Schwerfälliges, Lethargisches, dabei scheint es fast, als könne sie Dynamik und Tonhöhe noch nicht exakt kontrollieren, manche Wörter entweichen diesem Onkel Wanja etwas zu laut, manche werden aber auch so genuschelt, dass sie sich kaum verstehen lassen. Ulrich Matthes spricht den Onkel Wanja aus einer Haltung heraus, die Sätze wie "Jetzt arbeitet nur noch Sonja.« oder »Den ganzen Tag stopfe ich irgendwelches scharfes Zeug in mich rein.« wie zynische Kommentare über das Leben klingen lassen. Wenn Matthes spricht, scheint sich eine nostalgisch-träge Stimmung mit bitterem Beigeschmack langsam im Raum auszubreiten, der zugleich eine bemitleidenswerte Tragikomik anhaftet und den Zuschauer immer wieder gequält schmunzeln lässt. Es scheint an dieser Stelle sinnvoll zu sein, an jenes komplexe Zusammenspiel zu erinnern, das oben mit den beiden Begriffen Verkörperung und Einbildung umrissen wurde. Wenn es um das Spüren von Atmosphären geht, wird oftmals vergessen, d ass ein großer Anteil des Atmosphärischen imaginativ hervorgebracht wird. Für den Zuschauer im Theater lassen sich die Sinneseindrücke kaum von ergänzenden, oft unbewusst mitlaufenden, imaginären und assoziativen Bildern trennen. So hat beispielsweise ein assoziatives Bild wie die Vorstellung des Bademantels aus THE BIG LEBOWSKI zweifellos einen Anteil an der vom Zuschauer wahrgenommenen Atmosphäre . Ebenso vermag d er Zuschauer bereits eine Farbe a uf der Bühne wie die des fleckigen Lehms an d en Wä nden imaginativ aufzuladen, indem er beispielsweise an Wasser- oder Schimmelflecken denkt. Wenn ein Zuschauer beim dunkelblauen Anzug von Ulrich Matthes an ähnlich unmodische Anzüge der Berliner Verkehrsbetriebe denkt, hat auch diese abschweifende Phantasie einen Einfluss auf seine Wahrnehmung. Entscheidend scheint hier zu sein, dass das Theater dem Zuschauer einen imaginativen Austausch zwischen subjektiven Vorstellungsbildern und der Wa hrnehmung des Bühnengeschehens ermöglicht. Dabei sind es insbesondere die Darstellungen der Schauspieler, ihre Bewegungen und ihre Haltung, die die imaginativen Prozesse beim Zuschauer zu

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allererst hervorrufen. Man könnte sagen, dass mit dem Spiel auf der Bühne für den Zuschauer zugleich ein Theater der Einbildung zum Leben erweckt wird, bei dem sich Wahrnehmungen und Phantasien zu vermischen beginnen. Ulrich Matthes' Onkel Wanja ist immer auch mein Onkel Wanja, ein vom intentioneBen Bewusstsein wahrgenommener und imaginativ mit subjektiven Bedeutungen aufgeladener Körper. Dieser Onkel Wanja trägt einen blauen Anzug, aber zugleich auch den Bademantel des Dude und eine BVGUniform. Ob für ihn selbst oder für irgendeinen anderen Zuschauer diese Assoziationen einen Sinn ergeben, spielt dabei gar keine Rolle. Der Zuschauer verkörpert seine Einbildungen, indem er sie an den Körper des Schauspielers rückbindet. Aufgrund der Einbildungskraft des Zuschauers braucht es zum Erzeugen einer Atmosphäre im Theater nicht zwangsläufig besondere inszenatorische Mittel wie Musik oder Nebelmaschinen. Tatsächlich vermag der Zuschauer auch ein minimalistisches Schauspiel auf der Bühne atmosphärisch wahrzunehmen, indem er seine Ein(-) bildungen zu einer spürbaren Atmosphäre zusammenfügt. >Einbildung• mit und ohne Bindestrich fallen hier zusammen, Wahrgenommen es vermischt sich mit imaginativ aufgeladenen Bedeutungen. Wie ließe sich auch für den Zuschauer eindeutig feststellen, welche Bestandteile der von Ulrich Matthes verkörperten Atmosphäre bei Onkel Wanja rein perzeptiv sind? Wie ließe sich hier das Imaginäre ausschließen? Wenn sein zögerlicher Gang, seine Haltung und seine Stimme als eine sich räumlich ausbreitende lethargische Stimmung empfunden werden, ist die Einbildungskraft bereits entscheidend an der Wahrnehmung dies es Atmosphärischen beteiligt. Die verkörperte Einbildung von Onkel Wanja entfaltet sich mithin für den Zuschauer als Spiel zwischen zwei Vors tellungen, die sich nicht trennen lassen: der Vorstellung auf der Bühne und der Vorstellung im Kopf. Das Spiel der verkörperten Einbildung führt Präsenz und Repräsentation, Schauspieler, Figur und Zuschauer zusammen. Im Gegensatz zu einem traditionellen Verständnis der Einfühlung, lässt sich die verkörperte Einbildung d es Zuschauers nicht auf einen Modus des Nachvollzugs der repräsentierten Handlung reduzieren. Vielmehr findet ein reziproker, körperlich-imaginativer Austausch zwischen den drei Seiten statt. Für das Medium Theater bedeutet das, dass sich die Produktion auf der Bühne nicht von der Rezeption im Zuschauersaal trennen lässt, die Erscheinung der >Figur• und die von ihr ausgehende Atmosphäre vielmehr als verkörperte Einbildung in einem Zwischenraum emergiert. Und doch darf bei allem Anteil des Imaginativen nicht vergessen werden, dass es zu allererst die spezifische Verkörperung Onkel Wanjas durch den Schauspieler Ulrich Matthes ist, die das Spiel der Einbildungen

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Ulrich Matthes' Onkel Wanja überhaupt erst in Gang setzt. Sein zögerndes Gehen, seine behäbige Stimme, seine Art zu Gähnen - all diese wahrgenommenen Details sind Auslöser für bewusste und unbewusste Vorstellungen des Zuschauers, die seine Wahrnehmung begleiten. Die Qualität des Schauspiels ist also keineswegs ohne Relevanz, sondern von entscheidender Bedeutung. Fällt doch immer wieder auf, dass es bestimmte Schauspieler gibt, die dieses Theater der Einbildung für den Zuschauer besonders reichhaltig zu evozieren vermögen. Ulrich Matthes gehört zweifellos dazu.

ANMERKUNGEN

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Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 130ff. Zur synästhetis chen Wahrnehmung im Theater siehe auch meine Ausführungen in: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin: Theater der Zeit 2004.

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Triumph der Illusion Das Schauspielerpaar Samuel Finzi und Wolfram Koch CHRISTI NE WAHL

DER DOPPELTE BOTE

Wir befinden uns in Dimiter Gotscheffs Aischylos-Inszenierung DIE PERSER am Deutschen Theater Berlin, 32. Spielminute. Margit Bendokat, die in jeder Hinsicht singuläre Vertreterin des antiken Chores, hat der Mutter des persischen Königs Xerxes gerade geografisch auf die Sprünge geholfen, wo »dieses Athen• eigentlich liegt: »Fern«, sagte sie, »bei den Untergängen«. In diesem Moment tauchen Samuel Finzi und Wolfram Koch in der Bühnentiefe auf und bewegen sich - in einer Art erschöpftem Dauerlauf, mit viel zu kleinen Schritten - nach vorn; wie schlecht trainierte Hobbysportler a uf den letzten Metern eines Marathons.l Auf Wollsocken und mit mehrfach übereinander gezogenen KinderT -Shirts - Finzi in hellblau, Koch in orange - stehen sie schließlich an der Rampe; zwischen sich, gleich einer Spiegelachse, die riesige gelbe Wand des Bühnenbildners Mark Lammert. Es vergehen zehn Sekunden, fünfzehn, zwanzig - aber Finzi und Koch schweigen. Die Wortlosigkeit ist nur teilweise der postmarathonischen Atemnot geschuldet. Den anderen Teil darf man Schau spielschülern jederzeit als Musterlektion aus dem Kapitel »Wie spiele ich Sprachlosigkeit?« anempfehlen. Denn wiewohl Finzi und Koch diesen nach aktuellem Fashion-Diktat eigentlich hoch modernen, leicht abgerissenen Layer-Look tragen, kommen sie tatsächlich von sehr, sehr fern. Natürlich von den Untergängen. Allerdings nicht von den griechischen, sondern von den persischen: Gleich werden sie - wir befinden uns im Jahr 480 v. Chr. -der Königsmutter Atossa (Almut Zilcher) und dem Single-Chor detaillierter, als es für alle Beteiligten erträglich ist, den Untergang der zahlenmäßig überlegenen persischen Flotte in der Seeschlacht gegen die Griechen bei Salamis s childern. Noch aber schauen sie wie der junge Hauptdarsteller in Elem Klimows

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Christine Wahl Film GEH UND SIEH, der 1943 in Weißrussland binnen weniger Stunden Augenzeuge so vieler Massenmorde, Vergewaltigungen, Bombenexplosionen, verbrannter Überlebender und frei herumliegender Gliedmaßen wird, dass er am Ende wie ein Greis aus seinem 14-jährigen Kindergesicht blickt. Wenn man den Kriegsberichterstattern Finzi und Koch später zuhört, wird sofort klar, warum sie diesen langen Anlauf brauchten: Was soll man auch sagen, geschweige gestikulieren, wenn die Botschaft, die man - in der an Sperrigkeit nichts zu wünschen übrig lassenden deutschen Aischylos-Fassung von Heiner Müller - zu überbringen hat, lautet: »Der Leiden Fülle auch nicht wenn zehn Tage lang ich das erzählte nach der Reihe würde ich die dir ausfüllen. Denn wisse auch das gut, niemals an einem einzigen Tag ist eine Menge, eine so großzählige, von Menschen gestorben.« Finzi und Koch sprechen den 22-minütigen Kriegsreport synchron. Ein leichter Ellbogenkontakt ist die einzige physische Verbindung - für den Notfall. Die beiden sind augenscheinlich derart aufeinander eingespielt, dass sie es sich panikfrei leisten können, diesen Synchron-Auftritt von Vorstellung zu Vorstellung zu variieren: Mal halten sie sich länger bei der griechischen Militärstrategie, mal aggressiver beim despotischen Xerxes, dann wieder ironischer beim ominösen •Daimon« auf, auf den hier sämtliche militärischen Missgeschicke schnöde abgewälzt werden. Schließlich ist der doppelte Bote nicht das erste weltdramatische Paar, das die Schauspieler aus der Kernfamilie um den Regisseur Dimiter Gotscheff in Berlin auf die Volksbühne oder das Deutsche Theater zaubern. Auftritte wie die hochnotkomische Herr-Diener-Performance in Ben Johnsons VOLPONE, das regressive Rampenveitstänzchen zweier desillusionierter Jugendfreunde in Anton Tschechows IWANOW oder die wandelnde Ehekrise in Alfred Jarrys UBUKÖNJG2, wovon später noch die Rede sein wird, brachten ihnen zu Recht den Ritterschlag zum Traumpaar des deutschen Theaters ein. Tatsächlich drängt sich bei diesem Duo stärker als bei vielen anderen Schauspieler-Paarungen der Eindruck auf, dass d er Finzi-Koch-Kosmos wesentlich m ehr b einhaltet a ls die Summe seiner Einzelteile; dass a us diesem wechselseitigen Berauschen am (Spiel-)Witz des Gegenübers wirklich etwas ganz Eigenes, genuin Neues entsteht, was mit anderen Partnern nicht herstellbar wäre. Um im (selbstredend unzureichenden) mathematischen Gleichnis zu bleiben: Der Finzi-Koch-Kosmos ist nicht Samuel Finzi plus, sondern eher Samuel Finzi mal Wolfram Koch. Letzterer hat die erste Begegnung der beiden - während der Proben zu Gotscheffs Inszenierung KAMPF DES NEGERS UND DER HUNDE nach Bernard-Marie Koltes 2003 an der Volksbühne - einmal auf die lakonische Formel gebracht: »Wir standen zusammen auf der Bühne und haben spontan improvisiert, allen möglichen Blödsinn, mit

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Triumph der Illusion Whiskey ins Gesicht schütten und so. Plötzlich waren zwei Stunden vorbei, und Mitko [d.i. Dimiter Gotscheff; Anm. d. A.] hat sich ausgekotzt vor Lachen.« 3 Kein Zweifel: Haargenau so muss es gewesen sein!

DIE LüCKE SPIELEN

Nach einem ähnlich langen Anlauf, wie Finzi und Koch ihn für ihre ersten Worte in der PERSER-Botenszene gebraucht haben, möchte ich jetzt endlich explizit auf die zentrale Themenstellung zu sprechen kommen: Was ist nun, ganz konkret, das Besondere an Samuel Finzi und Wolfram Koch? Es gibt auf diese Frage erstaunlich viele Antworten. Zumindest, wenn man das Feuilleton zu Rate zieht. Denn als DIE PERSER im Oktober 2006 am Deutschen Theater Premiere feierten, waren die Rezensent/innen - nicht zuletzt wegen des besagten Finzi-KochAuftritts als doppelten Boten - zwar nahezu flächendeckend begeistert, dies allerdings aus derart unterschiedlichen Gründen, dass man auch getrost von frei flottierenden Antagonismen sprechen könnte. Während zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung zwei »ertappte Jungs in Wollsocken• 4 beschrieb, hatte der überwältigte Kritiker der Süddeutschen Zeitung in derselben Szene »Gesänge aus dem Totenreich« gehört - •nüchtern und brutal«s. Die Berliner Zeitung wiederum zeigte sich insbesondere von Finzis und Kochs »ironischer Distanz« beeindruckt, hinter der sie klaftertiefe Abgründe vermutete6, während sich der Zeit in fast schon plakativer Klarheit »ein Tandem (... ] am Rande des Spaßigen, Farcehaften« 7 dargeboten hatte und ich selbst mich im Tagesspiegel weder für die Posse noch fürs Requiem entscheiden mochte, sondern gleich ••eine einzige Verdichtung sämtlicher rhetorischer Kulturtechniken« am Werke sah- »von der Tragödie zur Farce, von der Einfühlung in die Ironie, von der Distanz ins Zitat«s. Sicher wäre diese kleine Rezensionsrundschau hervorragend geeignet, das populäre Vorurteil vom chronisch nichtsnutzigen Kritikergewerbe mal wieder gediegen zu erhärten. Aber abgesehen davon, dass ich selbst - wie gesagt - durchaus leidenschaftlich an den Antagonismen mitgestrickt habe und meinen Berufsstand schon aus gänzlich eigennützigen Gründen nicht leichtfertig hinschlachten würde, erscheint mir ein anderer Punkt de facto interessanter: Man könnte ja zur Abwechslung einfach mal die Perspektive wechseln und - rein hypothetisch - davon ausgehen, es handele sich bei diesem Botenauftritt tatsächlich um einen derart komplexen Vorgang, dass alle Rezensenten gleichermaßen Recht haben. Wir hätten es dann quasi mit jenem theatralen Idealfall zu tun, für den

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Christine Wahl Performanztheoretikerfinnen die Formel vom performativen Überschuss gefunden haben. Und das wiederum hieße, dass Gotscheffs PERSER mit Finzi und Koch die griechische Tragödie als eigenständige Denkform rehabilitiert hätten, die es - strukturell weiträumig darüber hinausgehend, was seine Akteure intendieren und seine Zuschauer verbal erklären können- ermöglicht, sich selbst im Anderen zu begegnen. Mehr geht eigentlich nicht. Genau in diese Richtung zielt meine These zu Samuel Finzi und Wolfram Koch: Sie nisten sich in ihren Darstellungen immer genau in jener Lücke ein, die das Abstrakte vom Konkreten, das überzeitliche Muster von seiner jeweils raumzeitlichen Aktualisierung trennt. Gegenständlicher gesprochen: Samuel Finzi und Wolfram Koch schaffen das seltene Kunststück, Volpone, Iwanow, Titus Andronicus oder eben Herr resp. Frau Ubu zwar durchaus zu sein, dabei aber in keiner Sekunde deckungsgleich in ihnen aufzugehen. Es existiert immer dieser Überschuss, der sich dann im Zuschauerhirn zum intellektuellen Mehrwert bündeln kann. So wird zum Beispiel in Gotscheffs IWANOW-Inszenierung in der Volksbühne aus der kleinen Szene zwischen dem verschuldeten Gutsbesitzer Iwanow (Finzi mit trotteligem Vollbart) und seinem Nachbarn, Kreditgeb er und Jugendfreund Lebedew (Koch im hüftbetonten Fatsuit) gleichzeitig eine Art Universalkommentar zu archetypischen Seilschaften; beliebig besetzbar mit aktuellen wie verblichenen Protagonisten realgesellschaftlicher Eliten. Eine schwere Distinktionsneurose vor sich hertragend, hocken die beiden Jugendstreberfreunde an der Rampe und versichern einander ihrer Seelenverwandtschaft: »Wir sind ja beide Akademiker! Wir sind ja b eide liberal!« Aufgrund dieser phänomenalen weltanschaulichen Übereinstimmungen würde Lebedew seinem Kumpel gern mit ein paar heimlich abgezweigten Rubelscheinen aus der Verschuldung b ei seiner unerbittlic hen Gattin heraushelfen: Eine Transaktion, die hervorragend klingt, aus einer komplexen kausalen Gemengelage heraus aber bereits im Ansatz so vollständig vergeblich ist, wie Finzi und Koch es in ihrem folgenden hysterisch-regressiven Veitstänzchen zeigen. Irgendwann fingert Koch-Lebedew schließlich die Scheine aus der Jacke und schlägt sich unter Finzi-Iwanows vernichtendem Blick blöde lachend mit der Faust abwechselnd auf Kopf und Knie, während der Schuldner längst eisig erstarrt an der Rampe steht. Game over - auch, wenn Koch-Lebedew es nicht wahrhaben will und mit der Tragik eines außer Rand und Band geratenen Rumpelstilzchens weiter und weiter hüpft. Was in IWANOW die männliche Seilschaft mitsamt ihren ökonomischen und sozialstatuarischen Gesetzmäßigkeiten ist, ist in Usu KÖNIG der Sündenfall. In einem eigens improvisierten Vorspiel stellen Finzi und Koch hier Adam, Eva und die Geburt der Mensch-

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Triumph der Illusion heitstragödie aus dem Geiste der Beziehungskrise an den Beginn des Abends: Hinter einem fast mannshohen transparenten Ballon die Bühnenbildnerirr Katrin Brack hat das Szenario zur Gänze mit Luftballons bestückt, die sich im Übrigen hervorragend zerstechen, den Kollegen überstülpen oder als königliche Sitzsäcke zweckentfremden lassen - schleichen Finzi und Koch vorsichtig an die Rampe. Man sieht ihre Körper hinter dem Ballon lediglich vage, fast nur als Schattenrisse. Vorn angekommen, zerplatzt die schöne, gegen die naturgemäß bösartige Außenwelt so wunderbar immunisierende Illusions-(frucht-)blase umgehend. (Ein identifikationstauglicherer Anlass, die stückeinleitende »Scheiße!« zu konstatieren, dürfte sich für die Zeitgenossen im Volksbühnen-Parkett tatsächlich schwerlich finden lassen.) Sobald der Ballon passe ist, stehen Finzi und Koch nackt an der Rampe und beginnen ihren despotischen MachtAufstieg mit einer Urszene, an der die Gendertheoretikerin Judith Butler ihre helle Freude hätte: Nach eingehender gegenseitiger Betrachtung der primären Geschlechtsmerkmale werden die Rockund die Hosenrolle auf offener Bühne performativ zugeschrieben (und später bei Bedarf auch mal großzügig getauscht). Finzi zieht dabei buchstäblich d en Kürzeren, klemmt daraufhin Penis und Hodensack zwar entsprechend frustriert, aber im Grunde durchaus einsichtig nach hinten und streckt anschließend die geöffneten Hände aus, um das Herz, das ihm Koch - Heiner Müllers HERZSTÜCK zitierend - im Gegenzug für diese Entbehrung hoch und heilig versprochen hatte, in Empfang zu nehmen. Koch schaukelt dann ein wenig mit dem Unterleib, um schließlich mit dem nötigen Schwung zentral und sicher in Finzis Händen seinerseits Penis und Hodensack zu platzieren. Erst dann werfen sich die Ubus in ihren Business-Partnerlook: dunkle Anzüge zu knallroten Pumps. Man kann entweder zwei Regalmeter akademischer Fachliteratur (Schlagworte: Religion, Gender, Machtdiskurs von Platon bis Foucault plus Heiner-Müller-Handbuch und Psychogenese der heterosexuellen Durchschnittsehe) lesen oder diese schätzungsweise fünfminütige Finzi-Koch-Szene anschauen- wobei letzteres den unschätzbaren Vorteil aufweist, bei aller Intelligenz auch noch ziemlich uneingeschränkt vergnüglich zu sein. Genau diese Übersetzungskunst, recht komplexe Vorgänge und Sachverhalte in einer punktgenauen, ebenso symbolischen wie dennoch realis tisch lesbaren Szene zusammenschnurren zu lassen, macht Finzis und Kochs Schauspiel - korrespondierend natürlich mit Dimiter Gotscheffs Inszenierungsästhetik- aus.

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Christine Wahl

Wolfram Koch und Samuel Finzi in Uhukönig Volksbühne B erlin 2 008. Foto © DRAMA

DIE EINHEIT DER DIFFERENZ

Der Clou an diesem Spiel besteht bei alledem selbstver s tändlich in der Differenz, die logischerweise gerade in exponierten Szenen äußerlicher Gleichheit und Gleichzeitigkeit ins Auge sticht. Betrachtet man unter diesem Aspekt zum Beispiel noch einmal dezidiert den doppelten Kriegsboten, glaubt man plötzlich zu beobachten, d ass Finzi alles immer schon mindestens einmal durch seinen Kopf gejagt und quasi auf eine Art Metaebene gehoben zu haben scheint, während Koch - ganz Körper - den Eindruck erweckt, aus der Wucht der unmittelbaren Anschauung zu sprechen. Es ist sicher kein Zufall, dass Koch die Botenszene im Interview als »Free Jazz«9 bezeichnet, während Finzi sagt: »Wir sind ein Gehirn«Io. Die größtmögliche Synchronität offenbart somit - komplexitätssteigernd das Komplementär- im Zwillingspaar: Mark Lammerts besagter gelber Quader, das einzige Bühnenbildelement, fungiert als Spiegelachse, an der sich die Einheit gleichsam zur Einheit der Differenz bricht. In diesem Sinne vollziehen Finzi und Koch, die außer dem doppelten Kriegsboten in Gotscheffs PERSER-Inszenierung auch noch a ls geschlagener König Xerxes (Finzi) resp. als Schatten dessen toten Vaters Da reios (Koch) auftreten, überhaupt eine unendliche Spiegelungsbewegung - und begegnen dem Stück damit auf Augenhöhe: Aischylos, der damals selbst auf siegreicher Seite mitgekämpft hatte, schildert den Triumph der Griechen über die Perser

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Triumph der Illusion - und damit den der (attischen) Demokratie über die (persische) Despotie- aus der Perspektive der Verlierer, weil jedem Sieg naturgemäß schon seine Gefährdung innewohnt. Außerdem spiegelt Aischylos den außenpolitischen Konflikt in der persischen Binnenperspektive: Xerxes, der vernichtend geschlagene König, hängt fest in den ödipalen Fallstricken seines schillernden Vaters Dareios, der ob der Außerordentlichkeit des Vorfalls extra noch einmal aus dem Hades gezerrt wird. Denn auch für dieses Spiegelkabinett haben Finzi und Koch ähnlich der Urszene im UBUKÖNIG - eine Art vorweggenommenes Satyrspiel aus dem Clownsärmel geschüttelt, das die unendlichen Symmetrie- und Differenzbewegungen sinnlich auf die Spitze treibt und, last but not least, bereits sämtliche folgenden Tragödienmotive intelligent anspielt. Das Traumpaar des deutschen Theaters schreitet zum PERSER-Auftakt als Politiker-Duo an die Rampe. Betrachtet man die diplomatischen Lockerungsübungen, die es dort- in identischen, cleanen Anzughosen und weißen Hemden - absolviert, beschleicht einen ein böser Verdacht: Eines Tages, hat Andy Warhol mal gedroht, dürfe jeder denken , was er denken wolle - und dann würden wahrscheinlich alle Me nschen dasselbe denken. Dieser Zustand, glaubt man nun bei der Finzi-Koch-Beobachtung, muss offenbar bereits eingetreten sein: Identische Krawatten, identisches Grinsen beim Schulterschluss, deckungsgleiche Choreografie beim Abtritt von der Wahlkampftribüne. Irgendwann stehen die diplomatischen Clowns an der Rampe und lachen sich tot; wahrscheinlich über den gemeinsam hintergangenen Souverän oder einen international kompatiblen Blondinenwitz. Immerhin aber offenbaren sich im lachbegleitenden Schulterbeben endlich fundamentale Differenzen: Der Würdenträger, den Samuel Finzi genüsslich vorführt, laboriert eindeutig an Geschmeidigkeitsdefiziten im oberen Rückenbereich. Klassischer Fall von Underdog-Verkrampfung: Den wollte schon in der Grundschule niemand in der Fußballmannschaft haben. Wenn da jetzt überhaupt was läuft in der Nackengegend, handelt es sich einzig und allein um das Arbeitsergebnis von Yoga -Cracks und fähigen PRBeratern. Ganz anders sein von Wolfram Koch an die Rampe gegrinster Kollege: Der war Zeit seines Lebens Mannschaftskapitän; dem wurde der Fraktionsvorsitz praktisch an der Wiege gesungen. Zwar hat das heisere Lachen, das er regelmäßig aus sich herauspresst, längst den Kontakt zu jedwedem Anlass verloren. Aber Kontaktstörungen zu seinem eigenen Nackenbereich kennt der Fraktionsvorsitzende Koch nicht: Falls der jemals irgendwo Rimbauds durchaus anschlussfähige Selbstdiagnose »Ich ist ein Anderer• aufgeschnappt

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Christine Wahl hat, muss er sie für einen kardinalen Übersetzungsfehler gehalten haben. Genau mittig platziert, trennt Lammerts Quader - orthogonal zum Publikum- das Finzi- vom Koch-Imperium und gibt nicht nur einen hervorragenden Zankapfel für Grenzstreitigkeiten ab, sondern fungiert, abermals, gleichzeitig als Spiegelachse. In der dreizehnten ausverkauften Vorstellung Anfang Januar 2007 - die politisch bewegte Öffentlichkeit debattierte gerade über das Video von Saddam Husseins Hinrichtung - schieben sich Golfkriegsassoziationen in den Vordergrund: Amerika gegen den Irak; Bush senior und Bush junior gegen Saddam. Saß man drei Monate früher in der Premiere und hatte kurz vorm Theaterbesuch einer Berliner Tageszeitung zum Beispiel die wertvolle Information »Merkel rüffelt Struck« entnommen, konnte man allerdings auch mühelos einen großen Koalitionskonflikt am Werke sehen. In jedem Fall steht Koch- die Hände wie ein Fußballspieler in der Freistoßmauer oder ein Staatspräsident auf Repräsentationstour locker vorm Hosenstall gekreuzt - auf der rechten Seite der Wand. Finzi lümmelt sich von links dagegen und verschiebt die Grenze so zu seinen Gunsten; schätzungsweise zwanzig Zentimeter in den Koch-Bereich hinein. Er sieht dabei -jedenfalls in der Juni-Vorstellung kurz vorm EU-Gipfel 2007- wie ein Kaczynski-Zwilling aus: Jeder gewonnene Zentimeter ein Siebenmeilenschritt auf dem Weg zur Quadratwurzel. Logisch, dass der Quader am Ende eigensinnig vor sich hin rotiert und die beiden dynamischen Würdenträger ihm nurmehr wie überforderte Karussellschieber hinterher rennen. Zweimal steht die Wand -jetzt frontal zum Publikum - kurzzeitig still: Um neunzig Grad gedreht, wird die Spiegelachse zur Projektionsfläche erst für Finzi, der sie für eine großformatige Siegerpose zwischen Luftgitarrennummer und männlichem Balztanz nutzt, dann für Koch, der seinen kurzen Triumph mit einem besonders innigen Press-Lacher feiert. Er weiß noch nicht, dass es sein letzter ist. Im Parkett hingegen dürfte spätestens an diesem Punkt auch dem kopflahmsten Hegemonia lstreber klar sein: Der Koch vor der Mauer ist, erstens, ohne den Finzi dahinter nicht zu denken - geschweige denn zu haben- und umgekehrt. Und zweitens wird der Koch von heute der Finzi von morgen sein und der Finzi von morgen der Koch von übermorgen. Hätte Jacques Derrida die Krux mit der anwesenden Abwesenheit und Niklas Luhmann die Erkenntnis von der Einheit der Differenz nicht schon vor Jahren zu Papier gebracht, wäre sie einem ihrer Jünger spätestens bei dieser Inszenierung eingefallen.

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Triumph der Illusion DER TRIUMPH DER ILLUSION

Natürlich ist es gut möglich, dass es sich bei alledem um einen einzigen Triumph der Illusion handelt: Wo ich zusammengeschnurrt auf fünf Minuten die ganze Welttragödie am Werke sah, ging es jedenfalls einem der Akteure selbst- Wolfram Koch- zuallererst einmal um wesentlich Gegenständlicheres: »Wir wollten einfach am Anfang dieses Bühnenbild einweihen, diese Wand, damit die nicht so starr dasteht.• Anschließend liefert Regisseur Dimiter Gotscheff ultimative Aufklärung und enthüllt - eingedenk der Tatsache, dass Finzi die ersten Lebensjahre in Sofia und Koch in Paris verbrachtemit Verschwörermiene: »Hier begegnen sich ein Bulgare und ein Franzose! • 11 Die Liste ließ e sich beliebig forts etzen; und das Erstaunlichste ist: Jeder hat Recht - und erwischt doch, genau wie wir Kritikerfinnen und Zuschauer/innen, immer nur einen Zipfel dieses komplexen Gefüges. Nicht, weil Interpreten wie Interpretierende zu einseitig oder zu unachtsam wären, sondern weil es sich bei der Finzi-Koch-Performanz eben tatsächlich um einen eigenständigen Diskurs handelt, der nicht in einem sprachlich übersetzbaren Intentions- resp. D ecodierungsfeld aufgeht. Ein größeres Kompliment - und ein schlagkräftigerer Relevanzbeweis - sind dem Theater wohl nicht zu machen.

ANMERKUNGEN

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Die Beschreibung sämtlicher Perser-Szenen in diesem Beitrag ist meinem Text entnommen: »Mehr geht eigentlich nicht«, in: Theater heute, Jahrbuch 2007, S. 104-107. Dimiter Gotscheff hat den französischen Originaltitel Ubu Roi für seine Inszenierung an der Volksbühne Berlin nicht, wie gemeinhin üblich, mit König Ubu, sondern mit Ubukönig übersetzt. Christirre Wahl: »Als die Perser frech geworden«, in: Der Tagesspiegel vom 27. November 2007. Im Übrigen entstammen die Äußerungen Samuel Finzis, Wolfram Kochs und Dimiter Gotscheffs im vorliegenden Text sämtlich persönlichen Gesprächen, die ich im Zusammenhang mit der PerserInszenierung mit ihnen geführt habe. Passagen, die bereits anderswo veröffentlicht wurden, sind mit dem üblichen Nachweis versehen. Wo dieser Nachwe is fehlt, handelt es sich um eine Erstveröffentlichung. Irene Bazinger: »Der Sieg geht in UnordnungNach dem Krieg ist vor dem Krieg•, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Oktober 2006.

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Ulrich Seidler: •Bei den Untergängen«, in: Berliner Zeitung vom 9. Oktober 2006. 7 Gerhard Jörder: »Die Hoffnung stirbt zuerst«, in: Die Zeit , Nr. 42 vom 12. Oktober 2006. 8 C. Wahl: »Mit doppeltem Boten«, in: Der Tagesspiegel vom 9. Oktober 2006. 9 C. Wa hl: »Mehr geht eigentlich nicht«, S. 106. 10 Ebd. 11 Ebd.

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Dezenz ist Schwäche Über Lieblingsschauspieler und das, was an ihnen nervt HAJO KURZENEERGER

Das Thema Schauspielen heute! - Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten bringt mich entgegen der vorab formulierten Erwartung nicht zum Verzweifeln, aber ich tu mich mit ihm ein wenig schwer, vor allem mit dem Stichwort •Einbildung«. Selten nur noch vermag mich ein Schauspieler in seinen Bann zu schlagen, ist eine Schauspielerin für mich Anlass von Aufregung und Verzückung. Meinen letzten und bisher einzigen Verehrerbrief habe ich Ende der 1960er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Wiener Schauspielerin Marianne Nentwich geschrieben, deren Darstellung von Horväths Marianne in GESCHICHTEN AUS DEM WIENERWALD mich verstört und begeistert hat. Immerhin hat die Darstellung dieser Schauspielerin mit bewirkt, dass ich meine Dissertation über Horväths Volksstücke geschrieben habe. Selbstverständlich kenne ich jenen Zustand der Erregung, den Schauspieler beim Zuschauer, bei ihren Bewunderern und Verehrerinnen auszulösen vermögen. Frustriert vom damals an der FU Berlin eigentlich nicht möglichen theaterwissenschaftlichen Studium, war ich in den 1960er Jahren Stammgast an Ba rlogs Bühnen, dem Schlosspark-und Schillertheater, pilgerte ich- soweit es die schmale Studentenkasse zuließ - ans Berliner Ensemble oder ans Deutsche Theater, die damals nur mit zusätzlichen Passierscheinkosten zu erreichen waren. Ja, das war meine beste und begeisterndste Theaterzeit, weil es beste Schauspielerzeit war, deren stimmliche Vielfalt ich noch heute im Ohr habe: Martin Helds sarkastische Orgeltöne in Becketts Inszenierung von DAS LETZTE BAND, Lieselatte Raus schwingend klare, betörend warme, ganz individuelle Sprechart, die Giraudoux' dramatische Poesie etwa in INTERMEZZO zum Klingen brachte, oder die elegante Brillanz, mit der Eva Katharina Schultz und Erich Schellow sich in Schweikarts DER MENSCHEN-

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Hajo Kurzenberger FEIND-Inszenierung dialogisch duellierten. Das machte süchtig! DER MENSCHENFEIND habe ich vierzehn oder fünfzehn Mal gesehen, die anderen genannten Inszenierungen sicherlich auch in über zehn Vorstellungen. Im Jahre 1968 brachte ich es auf 232 Theateraufführungen, mein Jahresrekord, nicht selten in stillschweigend lächelnder Komplizenschaft mit den freundlichen Einlassdamen der Berliner Staatstheater, die nach der Pause für den Platzsuchenden ohne Karte ein Auge zudrückten. Am Abend als Benno Ohnesorg erschossen wurde, war ich nicht vor der Deutschen Oper in der Bismarckstraße, um zu demonstrieren, sondern saß zweihundert Meter entfernt in der SchillertheaterPremiere von Zuckmayers DES TEUFELS GENERAL mit Karl Raddatz in der Titelrolle neben Berlins erstem Theaterkritiker Friedrich Luft, der dem Karten suchenden Studenten seine zweite Dienstkarte geschenkt hatte. Und welche Erfahrungen jenseits d er Mauer! Noch heute sehe ich Eckehard Schall und Hilmar Thate in Tenschert/ Weckwerths CORIOLAN-Inszenierung auf der Bühne des Berliner Ensembles vor den Toren Roms wild aufeinander losgehen, nicht zu bändigen durch Helene Weigels Volumnia. Unvergesslich ist mir der coole Auftritt Eberhard Esches als Lancelot in Jewgeni Schwarz' DER DRACHE. Obwohl es dieses charakterisierende Attribut damals noch gar nicht gab, hätte es dafür erfunden werden müssen. Ein Westernheld mitten im kulturellen Herzen des Ostens, in Szene gesetzt von dem Schweizer Regisseur Benno Besson. Was unter dem Etikett des Gestischen auf den Ostberliner Bühnen propagiert und theoretisiert wurde, war dort a ls eine für mich gänzlich neue Körperlichkeit zu sehen, klar und exzessiv, verdeutlichend und zugleich physisch erlebbar. Aber es war nicht nur das Theater der Schauspielkunst, das mich begeisternd prägte und bildete. Es war auch das Theater großer Professorendarsteller, das ich liebte und genoss, dessen »zwischenmenschliche Realität konstitutiver Teil« m einer ästhetischen Erfa hrung wurde. Wenn ich es recht bedenke, h abe ich meine Vorlesungen und Seminare vor allem unter theatralen Gesichtspunkten ausgewählt. Von Hans-Georg Gadamers philosophischer Rede habe ich zuweilen wenig verstanden, aber ich habe in jeder Minute seines Sprechens erlebt, wie körperlich Denken sein kann, wie ein lebendiger Geist die Worte bindet und gestisch hervorbringt, sie beatmet und zum Ereignis macht. Gadamer philosophierte ohne Manuskript, weit und schwer über das Pult der a lten Aula in Heidelberg gebeugt, dabei doppelt gerichtet: auf die Hörer und auf sich selbst. Langsam und konzentriert, immer mit einer Spur von Anstrengung in Geste und Tonfall holte er Begriffe und Gedanken aus den Klüf-

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ten der Philosophiegeschichte und machte sie im performativen Akt, der Teil war seiner präzisierenden Formulierungen und Argumentation, zur betreffenden philosophischen Gegenwart. Ganz anders Peter Wapnewski, der große Märchenerzähler. Bei ihm konnte man erleben und studieren, wie Rhetorik, die Kunst der wirkungsvollen Rede, den Hörer bannt. Die ARTUS-Epik, das NIBELUNGENLIED, vor allem der TRISTAN: er hat sie vorgetragen, philologisch kommentiert und ins Heute übersetzt als ein moderner Rhapsode, der alle Register seiner Kunst beherrscht: Den Wechsel der Töne und Tonfälle, laut und leise, vor allem aber die verschiedenen Tempi und ihre Wirkung. Wapnewskis Beschleunigungen und Verlangsamungen hatten die Brillanz des Klaviervirtuosen und sie vermittelten zugleich das Können und Selbstbewusstsein dessen, d er seine Sache und ihre Darstellung beherrscht, sie genießt und anderen zum Genuss machen konnte. Eher leise, aber nicht weniger musikalisch mein Doktorvater, der Literaturwissenschaftler Arthur Henkel. Drei Darstellungsdetails haben mich immer wieder an ihm fasziniert. Sie waren nicht unmaßgeblich für seine Aura, die eh er auf Distanz gründete und nicht auf »kultureller Oberkellnerei«, die er Wapnewski attestierte. Ins Auge stach Henkels wiegender Gang, der dem Fünfzigjährigen mehr als einen Hauch von Jugendlichkeit verlieh. Vor allem wenn er seine Tochter untergehakt hatte und mit geradezu italienischer Grandezza den Parcours der Heidelberger Hauptstraße zwischen dem Palais Boisseree und der Alten Aula daherkam. In der Vorlesung hatte er die Eigenheit, immer wieder seinen Vortrag kurz zu unterbrech en, um mit dem ganz beilä ufig aus der Sakkoinnentasche gezogenen Stift vielleicht ein fehlendes Satzzeichen einzufügen oder eine Verbesserung seines Manuskriptes vorzunehmen. Welche minimalistische theatrale Aktion und welche Wirkung! Sie demonstrierte in meinen Augen ganz nebenbei seine fortwährende Arbeit am Text und seine nie zu Ende kommende Vervollkommnung. Oder war es ein Trick, die Aufmerksamkeit des Hörers wieder anzuziehen? Henkel war ein Meister d er Kunst des Nebenbei. So hatte er eine Art und Weise in sein schon in jungen Jahren schlohweißes Haar zu greifen, die es in sich hatte. Eine knappe, akzentuierte, das Haar gleichsam antippende Geste, die eher feminin als männlich war und nicht frei von Eitelkeit. Aber sie war deshalb schön, weil sie mit einer Leichtigkeit ausgeführt wurde, die (selbst-)ironisch wirkte, womöglich aber unkoutrolliert und automatisiert war. Was er geschrieben und gelehrt hat, war für mich darin aufgehoben und sichtbar. Ein deutscher Geisteskopf, der sich nicht schwer und bedeutsam machte, sondern mit spielerischer Heiterkeit den ••ernsten Scherzen« der Literatur nachging, mit einer gleichsam mazartsehen

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Hajo Kurzenberger Attitüde, die dieser Freigeist in jugendlich engen Hosen und federnden Wildlederschuhen sich selbst und seinem Publikum gönnte. Ich könnte nun völlig in meiner ganz persönlichen Theatralitätsgeschichte versinken. Aber ich will mich disziplinieren und nicht auch n och die damalige Berliner Professorenriege und ihre Darstellungskunst skizzieren, wenngleich dies für die Trias Emrich, Szondi und Lämmert ebenso ergiebig wäre wie für die Teufeleien und Kasperliaden, die die Kommune I täglich vor der Mensa zur Aufführung brachte, ganz zu schweigen von Rudi Dutschkes attackierenden Endlosreden, deren manierierter Tonfall und Betonung über die Formelhaftigkeit und Länge vieler Sit-ins hinweghalf. Auch den für mich theatralischsten Moment der 68er-Zeit, als nämlich die Berliner Revolutionärinnen auf der Bühne des Audimax der FU Adornos Vortrag über die verteufelt humane lphigenie unter das Transparent stellten »Berlins linke Faschisten grüßen Teddy den Klassizisten!«, lasse ich hier unkommentiert. All dies ist ein wichtiger Teil meiner theatralen Sozialisation und zugleich die Folie, auf der ich Schauspieler heute sehe und erlebe. Joachim Meyerhoff, den von Theater heute gekürten Schauspieler des Jahres 2007, zum Beispiel oder Hansi Hinterseer, der heimliche Bergkönig der Volksmusik. Beide will ich hier messen an der Theatermaxime »Dezenz ist Schwäche!«, die ich erstmals 1973 in der Kantine des Mannheimer Nationaltheaters aus dem Munde von Spielleiter Jürgen Flimm vernahm. Meine These, die ich illustrieren und belegen will, lautet: Hansi Hinterseer ist die Widerlegung dieses Satzes, Joachim Meyerhoff seine Bestätigung. Beginnen wir mit der populären Kultur, deren Entfaltung sich bei Hinterseer oft auf Bergeshöhen vollzieht. Regelmäßig lädt der inzwischen Fünfzigjährige, der offenbar noch glaubhaft den dreißigjährigen Liebhaber geben kann, nämlich zur Wanderung mit seinem Publikum ein, zieht mit ihm vereint über die Berge, das heißt durch alpine Landschaften. Dort ist auch sein bevorzugter Auftritts- und Darstellungsort, was für einen ehemaligen Slalomspezialisten (immerhin fünf Weltcup-Siege) und Sohn eines Österreichischen SkiOlympiasiegers , Ernst Hinterseer, auch die angemessene Bühne zu sein scheint. Was mich an Hinterseer anzieht, sind aber nicht nur seine Künste zwischen den Slalomstangen, die ich seinerzeit bewundert habe, sondern die Art, wie er sich und seine Lieder präsentiert. Hinterseer befolgt unbewusst oder inszeniert die Regel vom theatralen Widerspruch, der die schauspielerische Darstellung interessant macht. Keineswegs nämlich markiert er den alpinen Draufgänger und Gaudiburschen, die ein Weltcup-Sieger durchaus zur

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Schau stellen könnte. Hinterseer macht genau das Gegenteil, zeigt den Sanften und Scheuen. Verschämt schlendert er zum Beispiel durch einen alpenländischen Wirtshausgarten, an dessen Tischen verstreut einzelne Frauen jeden Alters sitzen, die ihn anhimmeln. Flüchtig streift er jede im Vorbeigehen mit seiner Aufmerksamkeit, aber zugleich scheint er auch auf der Flucht vor den Verehrerinnen und vor der medialen Inszenierung, die ihn gerade hervorbringt. Schüchtern und im doppelten Sinne bescheiden, ja manchmal geradezu linkisch erscheint sein Bewegungsrepertoire. So als wollte er das Einfache, das Naive seiner Person, den sensiblen Naturburschen, den er gerade produziert, bewahren und retten. •Ein abgefeimter Darstellungstrick•, könnte man sagen, im Terrain einer eher dröhnenden Volksmusik. Deren standardisierte Gesten und zwanghaftes Lächelrepertoire werden hier geschickt unterlaufen. Dezenz wird zumindest hier, vor diesem Hintergrund zur Stärke. Ja, sie entwickelt in diesem klatsch- und schunkelseligen Kontext möglicherweise die allergrößte Wirkungskraft. Und dabei spürt man selbst als professioneller, theaterwissenschaftlich munitionierter Zuschauer die Versuchung, dem >>Authentischen« dieser Auftritte Glauben schenken zu wollen. Ist dieser blonde männliche Engel, dieser alpine Anti-Siegfried nicht einsam auf der Alm bei der Großmutter aufgewachsen? Lesen wir nicht, dass keine Frauengeschichte sein bergbachklares Bild trübt? Und dass er seit dreißig Jahren glücklich verheiratet ist? Ja, vielleicht gibt es ihn wirklich, diesen männlichen, nur platonisch agierenden Bergyeti mit den weißen Zottelfell-Moonboots, dessen dauerhafter Entzug alle elektrisiert und erotisiert. Die Verkaufszahlen seiner Lieder sprechen dafür. Ebenfalls ein großer Charmeur, aber ganz anderer Art, ist Joachim Meyerhoff, der am Wiener Burgtheater mit dem Benedikt in VIEL LÄRM UM NICHTS, Ivan Karamasow in Nicolas Stemanns DostojewskiVersion, mit dem Oberrichter von Thuming in Nestmys HöLLENANGST und gleich einer ganzen Palette von Rollen in Shakespeares STURM Furore macht. Um m eine ••Einbildungen« und Erinnerunge n von diesem Schauspieler zu überprüfen, habe ich mir vor vier Wochen im >>Burgtheater im Vestibül• einen seiner in Serie laufenden Selbstdarstellungsabende angesehen: ALLE TOTEN FLIEGEN HOCH TEIL Il: ZUHAUSE IN DER PSYCHIATRIE, von und mit Joachim Meyerhoff. Er berichtet dort, wie er mitten unter Irren aufgewachsen ist, unter ••speziellen Menschen•, wie er formuliert. Meyerhoffs Selbstpräsentation beginnt als optische Rückerinnerung, ein Kinderbild des vielleicht Achtjährigen ist das leuchtend engelhafte Altarbild zwischen ehrwürdigen Burgtheatersäulen, das dann später zur Zeichentafel für die Skizzierung der Anstalt profaniert wird, die Meyerhoffs Vater geleitet hat. Die Verrücktheiten seiner Bewohner serviert Joachim

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Hajo Kurzenberger Meyerhoff im Gestus einer dezenten Lesung. Wir alle sitzen in seinem Erinnerungs-Wohnzimmer der siebziger Jahre. Scheinbar vertraut ist der Erzähler seinem Publikum und seiner eigenen Biografie zugewandt. Mit seinen Zuschauern begibt sich Joachim Meyerhoff ins Gewimmel menschlicher Verrücktheiten und Absurditäten, wenn er liebevoll sein »Zuhause in der Psychiatrie« vor uns aufbaut. Das ist die eine, die erste Seite dieses Schauspielers: Er ist ein Zuneigungseuphoriker, ein Gesamtumarmer seiner Vergangenheit und seines Publikums. Doch die zweite Seite folgt sogleich: Joachim Meyerhoff stülpt sich unvermittelt eine schwarze Theater-Lockenperücke über, holt aus dem Kinderzimmeraquarium seiner Jugend zwei mächtige Messingschiffsglocken und wird im Handumdrehen in der weit ausholenden Körperlichkeit seiner überlangen, Glocken schwingenden Arme und seines schnell eingesetzten Entstellungsgebisses zum Glöckner, einem Irren seiner Jugenderinnerung, den Joachim Meyerhoff prototypisch zum Glöckner aller Glöckner, nämlich zu jenem von Notre Dame ausbaut. Überraschend und jäh wächst aus dem bürgerlichen Ambiente, in dem Meyerhoff sich eben noch behaglich breit machte, der Theaterunhold. Der Übertreibungs- und Entfesselungskünstler Meyerhoff ist am Werk, lässig und locker, körperlich elegant und grotesk unheimlich zugleich. Vom Charmeur zum Monster oder das Monster im Charmeur wären die verkürzenden Basisformeln für sein schauspielerisches Tun. Der biographische Vorlauf solcher Emanationen: Meyerhoff schildert zuvor sein in Jugendtagen oft nicht mehr zu beherrschendes »Durchdrehen«, wenn ihn seine Brüder zum Beispiel hänselten oder an einer Schwachstelle kitzelten: »Anfälle aus dem Nichts«, die sich angeblich zu wahren Amokläufen auswachsen konnten. Dass er in j enen Darstellungsaugenblicken ohne jede Skrupel sich und sein Selbst zum Mittelpunkt der Welt macht, ist deshalb verblüffend und überrumpelnd zugleich, weil es so selbstverständlich, nicht selten liebevoll und heiter geschieht. Es hat meist den Charme des ewigen Lausebengels, dem man seine Angebereien und Auswüchse gerne nachsieht, weil sie so unterhaltsam sind. Aber darin lauert auch immer das Gegenteil: Meyerhoff zieht mich n ämlich nicht nur a n, sondern nervt mich zugleich, manchmal bis zur Peinlichkeit. Ist so viel Selbstüberschätzung, so eine dicke Portion Eigenliebe auf der Bühne, so viel narzisstische Hemmungslosigkeit nicht des Guten zu viel? Bei Meyerhoff fällt mir immer der alte Schauspielerwitz ein, in dem der eine Mime zum anderen sagt: »Ich habe dich gestern in der Straßenbahn gesehen.« Und der andere antwortet: »Und, wie war ich?« In diesen Negativ-Momenten meiner Meyerhoff-Rezeption werden zugleich meine süddeutschen Ressentiments gegenüber dem Nord-

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deutschen mobilisiert: »Das ist eine norddeutsche Großschnauze«, sagten wir als Kinder verächtlich und bewundernd zugleich, wenn einer so selbstsicher daherkam und über eine so klare, phonetisch saubere Redekraft verfügte wie zum Beispiel Joachim Meyerhoff. Der metallische Klang seiner kräftigen, den Raum einnehmenden, ja dominierenden Stimme, die gern in den höheren, leichten Tonlagen flirrt. Als Theaterliebhaber und Theaterpraktiker staune ich, wie unkonventionell Meyerhoff mit Betonungen umgeht, über seinen Mut, Worte •freizusperren•, das heißt lange Pausen vor das von ihm betonte Wort einzulegen, bevor er es mit kopfnickendem Zustoßen akzentuiert. Und schon bin ich wieder eingenommen und fasziniert von der körperlichen Berauschung, der sich dieser Darsteller häufig hingibt, und sei es nur das Hervorholen eines Handys aus der Hosentasche. Bei Meyerhoff ist dies ein •ballettöser• Akt der Ganzkörpervergrößerung: Eleganz der Bewegung, ihre Demonstration und zeigende Geste in Einem. Ja, das ist Meyerhoffs allergrößte Stärke, die jederzeit Bewunderung auslöst. Er betreibt Theaterathletik der feinsten Art, ist der mimetische Sportler par excellence, was seine gescheiterte amerikanische Basketballkarriere für mich locker vergessen macht. Umso rührender und berührender wenn Meyerhoff, der beinahe Zweimetermann, hilflos und verlassen im Gelände steht, wie zuweilen in Giesings Inszenierung von DER GoTT DES GEMETZELS. Wenn er nicht so recht weiß, wie er seine schmale Körperlänge unsichtbar machen soll und hilflos seine Hände auf die Oberschenkel hängen lässt. Oder ist diese körperliche Verlegenheit nur Teil seiner Rolle, Signet einer besonderen Figur? Man weiß es nicht, ebenso wenig, wem seine permanente Unruhe zuzurechnen ist. Meyerhoff ist immer in Bewegung, auch wenn er scheinbar ruhig steht, er ist unablässig mit etwas, meist mit sich selbst beschäftigt. Ich vermute, das macht ihn nicht gerade zum beliebten Mitspieler. Theaterspielen ist für Joachim Meyerhoff erst in zweiter Linie ein interaktiver Vorgang. Er s etzt gewöhnlich die primäre Aktion, dominiert sich und die Szene. Ganz abstraktes Fazit: Meyerhoffs Spiel ist widersprüchlich komplex, Hinterseers Darstellung widersprüchlich eindimensional. Beide sind exzellente Wirkungsmechaniker in ganz unterschiedlichen theatralen Kontexten. Mein ganz persönliches Fazit: Schauspielerische Darstellung muss einnehmend sein und mich als Zuschauer umgarnen. Sie macht doppelte Wirkung, wenn sie zuweilen abst ößt und dubios erscheint. Sie ist für mich dann am schönsten, wenn sie leicht und behänd, artifiziell und gekonnt in Erscheinung tritt, weshalb ich Joachim Meyerhoff Hansi Hinterseer vorziehe.

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Hajo Kurzenberger PS: Zum Schluss noch ein kurzer Nachtrag, nachdem ich am letzten Wochenende Meyerhoffs umjubelten Harnlet beim Theatertreffen in Berlin gesehen habe. Das egomane Solo des Dänenprinzen war das gefundene Fressen für Meyerhoffs Ego. ••Hamlet spielt den Brandauer•, hatte der Kritiker Helmut Karasek einst gewitzelt. Diese Charakterisierung ließe sich kalauernd nur steigern mit der Modifikation ••Hamlet springt den dreifachen Meyerhoff«. So rasant und schneidend, so vor- und kleinlaut, so ichbezogen wahnsinnig und so improvisierend dominant habe ich Harnlet noch nie auf der Bühne gesehen. Dass Meyerhoff dabei immer der intellektuell überragende Musterschüler auf dem szenischen Kampfplatz bleibt, verdankt er nicht zuletzt dem Unangreifbarkeitstrick, den er sich bei Harald Schmidt abgeschaut hat. Man muss seine eigenen Einfälle und Erfindungen, besonders die schlechten, verlachend in Frage stellen. Am besten mit dem Charming-Gestus •Was mache ich hier nur für einen Schwachsinn?•. Das ist allerdings etwas Anderes als der •schmetternde Witz der Verzweiflung•, den man mit Novalis für Shakespeares Harnlet auch einfordern könnte.

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Das Paradox des Zuschauers Argumente für eine rezeptionsästhetische Schauspieltheorie ADAM CZIRAK

Kein Phänomen betrifft uns in seinem reinen >Gegeben s einwahren < Persp ektive , die uns die Welt zu erschließen vermag. Doch auf dieser unerbittlich desperaten Recherche bleibt lediglich der Übergang von einem Blickpunkt zum anderen als Motivationskraft, die uns zur Erkenntnis treibt und uns neue, unbekannte Wege der Wahrnehmung weist. Und wenn auch die betrachteten Objekte unverändert bleiben, der Wechsel des Standpunktes bringt stets neue Wirklichkeiten des ber eits Gegeb e n en h ervor : Ob es sich u m Wissenschaft oder Kunst, Produktion oder Rezeption handelt, die Aisthesis entzieht sich unentwegt einer singulären bzw. geschlossenen Erfahrungsordnung und fordert d en Bezug zur Welt immer wieder neu heraus. Dass etablierte Wahrnehmungsordnungen der Transgression und sogar der Kollabierung ausgesetzt sind, dafür stellt die Rezeption der d a rstellenden Kunst ein eklatantes Beispiel dar: Da s Scha u s piel überschreitet zwangsläufig die Grenzen der Repräs enta tion, indem es reale Menschen vor Augen führt, deren Anwesenheit nie in einer interpretativen Deutung oder Beschreibung aufgehen kann, denn das leibhaftige Ersch einen von Schauspielern erweist sich als genauso wahrhaftig wie die Identität der verkörperten Rolle. Was im Zeitraum der Aufführung als >wirklich• gilt, ist das Ergebnis einer Betrachterperspektive, welche dem Zuscha uer die Orientierung zu immer neuen Erfa hrungen weist. Jens eits von Attributen wie >real< und >vorgetäuscht•, >authentisch< und >inszeniert< wird in dem folgenden Beitrag deshalb der Frage nachgegangen, wie der Wechsel des Blickpunkts Wirklichkeitseffekte stimuliert und die Zuschauer des Schauspiels in Situationen der Orientierungslosig-

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Adam Czirak keit leiten bzw. zu einem wahrhaftigen >Paradox des Zuschauens< führen kann. Die Grundlage der folgenden Überlegungen bilden drei scheinbar völlig disparate Schauspielsequenzen, die zwar thematisch voneinander differieren, im Hinblick auf ihre schauspielstilistische Ausprägung aber alle auf einem populären Darstellungstopos des Gegenwartstheaters basieren: In Dimiter Gotscheffs IWANOW-Inszenierung begegnet der Zuschauer einem in den Freitod gleitenden Protagonisten, der ein intimes Geständnis über seine Existenzlosigkeit preisgibt; Michael Thalheimers LIEBELEI-Interpretation gewährt den Einblick in die tiefgehenden Gefühlsmechanismen einer Liebesbeziehung; und eine von Luk Perceval inszenierte MOLlERE-Figur bringt die vielfältigen Geltungsweisen der Liebe als Handlungs- und Lebensprinzip zum Ausdruck. 1 - Was die drei anskizzierten Sequenzen miteinander verbindet, ist die Analogie ihrer szenischen Gestaltungsästhetik Jeweils treten die Darsteller an die Bühnenrampe und handeln im Grenzbereich von Bühne und Zuschauerraum. Sie halten sich auf der Schwelle der Illusionen auf, ohne sie leiblich zu überschreiten und geben ihre ganze Körpergestalt der Wahrnehmbarkeit preis, indem sie sich frontal zum Publikum hinwenden und ihre Blicke in den Zuschauerraum richten. Akteur und Zuschauer treffen face-to-face aufeinander, obwohl ihre Konstellationen von räumlicher Trennung geprägt und daher mit Spannung aufgeladen sind: Ein Wechselspiel der Blicke wird zwar von der frontalen Ausrichtung der Darstellerkörper und dem dezidierten Ausstellen ihrer gestischen und mimischen Ausdrücke begünstigt, doch die Begegnung zwischen Schauspielern und Zuschauern steht aufgrund der imaginär existenten vierten Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum jenseits von jeglicher Symmetrie. Worin die Anziehungskraft der Figurationen besteht und den Darstellern eine Bühnenpräsenz zu verleihen vermag, lässt sich auf die zentrale Positionierung der Schauspieler zurückführen. Die exponierte Sichtbarkeit der Akteure bzw. der von ihnen verkörperten Figuren erweckt eine Schaulust des Zuschauers, die zur Grundlage von intersubjektiven Beziehungen werden k ann. Inwiefern die oben anskizzierten Schauspielfigurationen divergente Perspektiven der Betrachtung erlauben und wodurch sich diese grundsätzlich differenten Modalitäten des Sehens auszeichnen, werde ich aus dem Rezeptionsvorgang heraus diskutieren, um dann aufgrund der Relation zwischen Zuschauerblick und szenischer Darstellung die schauspielästhetischen Charaktereigenschaften der t ableauhaft-frontalen, aber dennoch situativ verankerten Darstellungsszenarien abzuleiten.

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Das Paradox des Zuschauers

Die Argumentationsbasis der folgenden rezeptionsästhetischen Überlegungen wird die rhetorische bzw. logische Figur des •Paradoxes< bilden, die •als Metapher eines Anderssagens• 2 fungiert, und die im Gegensatz zu ihrem alltagssprachlichen Verwendungssinn neue Horizonte öffnet, statt bestehende zu schließen. Paradoxien haben mit reinen Widersprüchen oder Ambivalenzen wenig zu tun. Vielmehr versprechen sie einen Zugang zur Erkenntnis in der Weise, dass sie aufscheinen und einen Perspektivenwechsel auf das Objekt der Betrachtung provozieren. Dem Paradox ist somit eine eigentümliche Logik der performativen Erkenntnisproduktion eigen. 3 Die Applikation dieser Denkfigur ergibt nämlich weder eine dichotomische Zuspitzung von Unterschieden, die ein Phänomen mittels der Entweder-oder-Matrix zu kategorisieren vermag, noch lässt sie den Vollzug einer synthetischen Aufhebung von Widersprüchen im Sinne einer dialektischen Methode zu. Die epistemologische Leistung der Paradoxie besteht vielmehr in dem Wechsel des Blickpunktes selbst: Paradoxien leisten einen Übergang zwischen Wahrnehmungsordnungen, ohne dass eine Modulation oder Veränderung des betrachteten Objekts bzw. des Referenten stattfinden würde. Diese betrachtungsperspektivische Wende erschüttert zwar die Integrität einer etablierten Wahrnehmungsordnung und geht mit dem Moment der Wahrnehmungsverunsicherung einher, sie eröffnet aber gleichsam eine neue Erfahrungsdimension, die von der schon bestehenden weitgehend differiert, sie geradezu ausschließt. Der Betrachter erfährt eine Oszillation zwischen mehreren inkommensurablen Blickwarten, wobei diese labile Schwingung eine produktive Überschreitung impliziert und es möglich macht, »sich aus den Sistierungen [eines] Systems zu befreien und dem Gefängnis seiner Ordnung zu entkommen«. 4 Im Unterschied zu logischen Widersprüchen zeigt also das Paradox nicht etwa das ambivalente Gegebensein des Betrachtungsgegenstandes auf, sondern es »stellt den subjektiven Standpunkt in Frage, von dem her bisher die Erklärungen der Phänomene als hinreichend galten und von dem her das besondere paradoxe Phänomen unmittelbar nicht zu verstehen ist«. s Der Betrachter, d em ein Paradox widerfährt, hat neue Wege der Wa hrnehmung zu gehen und befindet sich - wie es Josef Simons pointierte Formulierung besagt - ••zwischen dem Verlust der gewohnten Orientierung und dem Finden einer neuen«. 6 Die anfangs skizzierten szenischen Figurationen lassen für den Betrachter verschiedene und miteinander nicht kongruente Wege der Wahrnehmung zu: Die Akteure führen Posen der Zuwendung vor, ohne an Reaktionen der Beobachter zu appellieren. Sie stellen ihre individuelle Leiblichkeit, ihre Emotionen sowie geäußerte oder verschwiegene Gedanken zur Schau und scheinen sich dabei angeblich ihrer öffentlichen Präsentation nicht bewusst zu sein. Sie

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Adam Czirak stellen sich aus und stellen etwas anderes dar. Sie zeigen sich, aber gleichsam repräsentieren, verkörpern und figurieren s ie Abwesende. Sie agieren in s zenisch mehr oder weniger dekontextualisierten und frontal gerichteten Szenerien, jedoch ihre Mimiken und Gestiken weisen realistische und situativ geprägte Züge auf. Sie konstituieren ein artifizielles Tableau und sind dennoch psychologisch gesteuert. Sie kommen der Vierten Wand am nächsten und s cheinen doch hinter einem imaginativen Spiegel zu verweilen. Kurzum: Die Schauspieler avancieren zu intersubjektiven Bezugsgrößen, ja zu >Schau-Spiegeln