Körper 2.0: Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen [1. Aufl.] 9783839423516

Is mankind being updated, as prosthetist Hugh Herr predicts with his formula of »Humans 2.0«? The discussion about the h

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German Pages 144 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Gegenwarten des homo protheticus
2. Maschinenmänner: Militär, Fabrik, Lifestyle
3. Meet the Superhumans
4. Normalisierung oder Parahumanität
5. Warum Medien keine Prothesen sind
6. Brillen und andere Gläser
7. Eine knappe Geschichte des verbesserbaren Menschen
8. ’Pataphysische Maschinen und warum wer A sagt, nicht B sagen muss
9. Teilsouveräne statt verbesserte Körper
Literatur
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Körper 2.0: Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen [1. Aufl.]
 9783839423516

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Karin Harrasser Körper 2.0

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Karin Harrasser

Körper 2.0 Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2351-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Gegenwarten des homo protheticus | 9 2. Maschinenmänner: Militär, Fabrik, Lifestyle | 27 3. Meet the Superhumans | 35 4. Normalisierung oder Parahumanität | 53 5. Warum Medien keine Prothesen sind | 67 6. Brillen und andere Gläser | 75 7. Eine knappe Geschichte des verbesserbaren Menschen | 85 8. ’Pataphysische Maschinen und warum wer A sagt, nicht B sagen muss | 103 9. Teilsouveräne statt verbesserte Körper | 111 Literatur | 133

Es war einmal ein Mann, der verstand allerlei Künste; er diente im Krieg und hielt sich brav und tapfer, aber als der Krieg zu Ende war, bekam er den Abschied und drei Heller Zehrgeld auf den Weg. »Wart«, sprach er, »das lasse ich mir nicht gefallen, finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes herausgeben.« […] Und über eine Zeit sahen sie einen, der stand da auf einem Bein und hatte das andere abgeschnallt; und neben sich gelegt. Da sprach der Herr: »Du hast dir’s ja bequem gemacht zum Ausruhen.« »Ich bin ein Läufer«, antwortete er, »und damit ich nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt; wenn ich mit zwei Beinen laufe, so geht’s geschwinder, als ein Vogel fliegt.« B RÜDER G RIMM, S ECHSE KOMMEN DURCH DIE GANZE WELT

1. Gegenwarten des homo protheticus Heute ist vom unvollkommenen Körper zu sagen, dass jeder selber schuld ist, wenn er ihn hat. ELFRIEDE JELINEK, SPORTSTÜCK

In der Autobiographie des ohnbeinigen Läufers Oscar Pistorius1 gibt es eine Szene, die lange vor seiner Karriere im Leistungssport auf die Frage zuführt, die mich hier beschäftigt: Wie sich gegenüber der potentiellen Steigerungslogik der technischen Bearbeitung des Körpers verhalten? Die Szene spielt in Oscars Kindheit. Mit elf Monaten wurden ihm beide Beine abgenommen, da er unter Fibulaaplasie litt. Die Fehlbildung besteht darin, dass die Wadenbeine und die äußere Seite der Füße fehlen. Auf Anraten der Ärzte ließen die Eltern die Amputation durchführen. Die Argumentation war, dass fehlende Gliedmaßen »einfacher« durch Prothesen zu ersetzen sind, als Fehlbildungen dauerhaft zu korrigieren. Diese Entscheidung der Eltern – es ist eine jener eigentlich nie sinnvoll zu treffenden Entscheidungen, wie sie die moderne Medizin häufig fordert – führt uns auf das schwierige Gelände zwischen Therapie und Normalisierung: Die Behandlung Pistorius’ war von vorneherein auf seine Chancen, ein möglichst »normales« Leben zu führen, ausgerichtet. Seit frühester Kindheit trug Oscar also Prothesen wie andere Kinder Schuhe oder Hosen. In seiner Autobiographie erzählt er nun davon, wie er mit seinem Bruder halsbrecherische GokartFahrten auf steilen Straßen unternahm und davon, dass sein Bruder in besonders gefährlichen Situationen kurzerhand Oscars Prothese 1 | Pistorius, Oscar: Blade Runner, London: Random House 2009.

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verwendete, um schnell zu bremsen. Die Eltern waren wenig erfreut über diese Eskapaden, da Oscars Prothesenverschleiß enorm war. Was hier als unschuldiger Jungen-Streich erzählt wird, führt ins Zentrum der Frage nach dem Wie-und-Wieviel technischer Körpermodifikation. Denn der medizinische Behelf ist im Spiel der Jungen bereits enhancement geworden: Das Prothesenbein ermöglicht erst die höhere Geschwindigkeit, denn es kann das Gefährt schneller abbremsen als ein organisches Bein. Und wenn es kaputt ist, wird es eben ersetzt. Wir sind cum grano salis dazu bereit, technische Körpermodifikationen als legitim und sinnvoll zu erachten, wenn sie therapeutischen oder sozial integrativen Charakter haben. Wenn also die technische Modifikation, sei es eine Beinprothese, eine Brille, ein Medikament dem Anwender/der Anwenderin erlaubt, gesundheitliche Probleme zu überwinden und/oder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, wird es kaum ernsthafte Einwände gegen (Bio-)Technologien geben. Aber bei genauerem Hinsehen tauchen schon an dieser Stelle Ambivalenzen auf. Denn was als gesund und als normal gilt, welches Leiden zumutbar ist und welches Leiden nicht, an welcher Stelle Heilung in Anpassung an soziale Normen umschlägt ist situationsabhängig und historisch hoch kontingent. Was für die eine akzeptabel ist – ein Leben mit einem fehlenden Körperteil etwa – ist für den anderen unerträglich. Selbst in Hinblick auf therapeutische Maßnahmen ist das Terrain also tief gefurcht. Noch komplizierter wird es, wenn man Körpermodifikationen als »Anthropotechniken« (Peter Sloterdijk 2, siehe auch unten S. 86-87) begreift und sie in Immunisierungs- und Steigerungstechniken differenziert. Erstere dienen demnach in erster Instanz dem Überleben des »Mängelwe-

2 | Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Ders.: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009.

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sens«3 Mensch, seinem Schutz, seiner »Immunisierung« in einer gefährlichen Umwelt, für die er notorisch schlecht ausgestattet ist. Die Steigerungstechniken verortet Sloterdijk tendenziell im Rahmen von psychologischen Selbsttechniken der Askese, der Übung, der Selbstdisziplin. Er ortet innerhalb der abendländischen Kulturen eine »Vertikalspannung«, eine Sehnsucht nach Selbsttransformation und Perfektion. Konkrete biotechnologische Bearbeitungen des Körpers der Gegenwart erscheinen im Vergleich zu diesen alterwürdigen Formen der Selbsttransformation als Schwundstufe der traditionellen, spirituell-rituellen oder artistischen Methoden der Selbstbemeisterungen und -vervollständigungen. Wo sich die Menschen früher »autooperativ« verhalten haben, lassen sie sich heute operieren.4 Eine solche Erzählung umgreift das Problem der technischen Erweiterung aber nur halb und bleibt meiner Meinung nach zu stark modernistischen Verlusterzählungen verpflichtet. Die Geschichte der Trennungen, der Entfremdung vom eigenen Erleben, von einem in der Vergangenheit existenten Heroismus der Autonomie eines reflexiven Subjekts ist für meine Begriffe zu sehr mit der Erzählung der erfolgreichen Selbstermächtigung des europäischen Menschen verbunden. Mit der Rede von den Anthropotechniken wird diese Erfolgsgeschichte mit umgekehrten Vorzeichen erzählt. Mir scheint es vielversprechender, die aktuellen Verwicklungen zwischen Selbststeigerungslogiken, Technologien und Körpern historisch zu situieren. Ich möchte sie nicht als unausweichliche Konsequenz einer allgemeinen Steigerungs-, Fremdbestimmungs- und Objektivierungstendenz »im Menschen« begreifen, sondern als eine historisch, epistemologisch und politisch höchst voraussetzungsvolle spezifische Konstellation. Sloterdijks Überlegungen sind zudem stets auf das Individuum gerichtet (sein Fokus liegt auf dem »Du« in Rilkes Aufforderung »Du musst dein Leben ändern!«). Damit erhal3 | Der Ausdruck Mängelwesen stammt ursprünglich von Johann Gottfried Herder und wurde in der Philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen) weiterentwickelt. 4 | P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 295, S. 297.

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ten aktuelle biotechnologische Modifikationen eine Tendenz zur Delegation der Selbststeigerung an externe Agenturen: Anstatt an sich selbst zu arbeiten, legt man sich unters Messer. Auch hier möchte ich eine andere Perspektive vorschlagen. Weder biotechnologische Körpermodifikationen noch andere Anthropotechniken können sich selbstverständlich auf ein Individuum als stabile Einheit beziehen. Denn das selbstreflexive Individuum, das Selbst, entsteht ja erst als eine historisch spezifische Prägeform im Knotenpunkt von Körpertechniken und Praktiken der Selbst- und Fremdbeobachtung. Und: Selbst der meditierende Eremit in der Wüste adressiert sein Handeln nicht nur an sich selbst, sondern an ihm äußerliche Akteure und Kräfte. Vielleicht nicht unbedingt an andere Menschen, aber an Gott, dem er seine Konzentration zueignet und an die Kräfte der Wüste, denen er sich aussetzt. Ich möchte den Fokus deshalb stärker auf die Interaktionen zwischen dem Begehren nach technischer Selbstüberarbeitung und dem jeweiligen Milieu dieses Wunsches richten. Welche technischen, wissenschaftlichen, ästhetischen, ökonomischen Kräfte bringen den Wunsch, das Begehren nach Selbsttransformation mit hervor? Der Impuls, sich überarbeiten zu lassen, ist nicht passiver und heteronomer als der Impuls, durch Yoga einen neuen Körper zu erhalten, die Effekte des einen oder des anderen Begehrens sind es aber wohl. Wir haben es also im Feld der technischen Körperbearbeitung mit einer äußerst wackeligen Tektonik zu tun, die sich derzeit als neoliberale Techno-Biopolitik beschreiben lässt und die ein sehr weites Feld umspannt. Es reicht von Kosmetikprodukten und Fitnesscentermitgliedschaften bis hin zu Debatten um PatientInnenverfügungen und reproduktionsmedizinische, pränatale Interventionen. Überall stoßen wir auf ähnlich gelagerte Paradoxien: Wenn es eine Freiheit zur Selbstverbesserung gibt, wo und wie ist die Grenze der Selbstüberformung zu ziehen? Wo muss und wo darf das Individuum (noch) entscheiden? Wo sind Fragen der (Ressourcen-)Gerechtigkeit höher anzusetzen als das Recht auf Selbstverbesserung? Wie entfaltet sich die Dynamik von Freiheitsgewinn und in technische Anwendungen eingebaute Regulationen und Normalisierungen im

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jeweiligen Fall? Denn technische Modifikation heißt immer auch: Abgabe von agency an einen nicht-menschlichen Akteur. Das kann Genuss bereiten (siehe die rasenden G0kart-Fahrten der PistoriusBrüder), öffnet aber auch Tür und Tor für Überwachungs-, Kontrollund Normalisierungsstrategien. Für diese Situation gilt es, Begriffe, Erzählungen und Figuren zu entwickeln. Eine mögliche Figur für die unübersichtliche Gemengelage wäre – immer noch und vielleicht mehr denn je – die Cyborg. Als ich Donna Haraways »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«5 Mitte der 90erJahre des letzten Jahrhunderts las, hatte es für mich geradezu den Charakter einer Initiation. In dem Text stehen Sätze wie: »Gesellschaftliche Wirklichkeit, d.h. gelebte soziale Beziehungen, ist unser wichtigstes politisches Konstrukt, eine weltverändernde Fiktion.«6 Die Idee, dass Fiktionen, ebenso wie Technologien, weltschaffende Kräfte sind, hat mich als Germanistin (oder eher: als Leserin), die gleichzeitig anfing, sich mit Computern zu beschäftigen, elektrisiert. Und dass Technologien, die mir bis dahin – geprägt durch ein ökobewegtes Elternhaus – als kalte Ausgeburt eines instrumentellen Weltverhältnisses vor Augen standen, vielfältiger, ambivalenter, unvorhersehbarer mit sozialen Beziehungen interagierten, war der nächste Augenöffner. Dass zudem das Ausloten des transformativen Potentials von Technologien und Fiktionen nicht zwingend zu Allmachtsphantasien à la Transhumanismus, Kryotechnik und Weltraumeroberung führen muss, hat mich damals davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, die Cyborg als Denkfigur in meinen intellektuellen Horizont einzuschließen. Immer wieder ertappe ich mich seither dabei, mich von der Cyborg als Weggefährtin verabschieden zu wollen. Denn von einigen 5 | Haraway, Donna: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, in: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Herausgegeben und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt, New York: Campus 1995, S. 33-72. 6 | Ebd.: S. 33.

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Büchern und Filmen aus den 90er-Jahren abgesehen, so etwa Hans Scheirls Film Dandy Dust (1998) oder Marge Piercys He She It (1991), dominiert damals wie heute eine Vorstellung vom Cyborg als einem futuristischen Superhelden, der uns den Weg in eine hochgradig vernetzte, marktliberale, himmelschreiend ungerechte, militarisierte Zukunft weist. Dass diese Vorstellung manchmal in ihr dystopisches Gegenteil umschlägt, entkräftigt nicht die Erzählung, sondern installiert die Unvermeidbarkeit des technischen Fortschritts lediglich in einer anderen, erhabeneren Region der Vorstellungskraft. Beispiele von Supercyborgs aus der Populärkultur sind Legion und ihre Attraktivität ist nicht auf ein spezifisches gesellschaftliches Milieu beschränkt, etwa auf die Profiteure eines technischen Umbaus des Menschen. Als Vor- und Schreckensbilder proliferieren sie in globalen Medienwelten. Unmittelbare Profiteure der Supercyborg-Variante sind der kapitalstarke, militärisch-industrielle Komplex, die IT- und Robotik-Branche aber auch die Medizintechnik. Die uneingelösten Versprechen, die sich mit der technischen Erweiterbarkeit des Menschen verknüpfen, erschöpfen sich aber nicht diesen »Corporate Cyborgs«7, sie besiedeln die Vorstellungskräfte vieler. So grassiert mehr denn je die in den Cyborg-Phantasien der 90er-Jahre angelegte Utopie einer netzwerkförmigen Vergesellschaftung, die ihre Politik nicht länger identitätspolitisch auf die Fiktion eines (natürlichen) Körpers, von dem sich dann Eigenschaften ableiten lassen, sondern auf die Fähigkeit zur freiwilligen Assoziation bezieht. Ihr rezentester Ausdruck ist Piratenpartei oder auch die Diskussion um die Funktion von Facebook und anderen Netz-Plattformen für die politischen Bewegungen in den arabischen Ländern. Ein anderer Schauplatz nicht-identitärer Kämpfe wäre die Forderung nach Zugang zu Reproduktionstechnologien für alle, also auch für Menschen, die aus heteronormativen Familienstrukturen ausscheren. In Bezug auf das Ende des Lebens werden ebenfalls Ansprüche auf die Transformierbarkeit des biologi7 | Matwyshyn, Andrea M.: »Corporate Cyborgs and Technology Risks«, in: Minnesota Journal of Law, Science & Technology (Band 11), Nr. 2 (2010), S. 573-98.

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schen Körpers formuliert: Ganz ernsthaft ist vom Recht auf biomedizinische Techniken des ewigen Lebens die Rede, eine Idee, die etwa der Biogerontologe Aubrey de Grey propagiert. Und es gibt immer noch die Transhumanisten, sie sind nur etwas jünger und sympathischer geworden als ihre Schwarzenegger-lookalike-Gründerfiguren (Max More, Natasha Vita-More). Aber alle diese – ich nenne sie nur zögernd: sozialen – Bewegungen zeichnen sich durch eine Verengung des Cyborg-Begriffs aufs Technologische aus. Wenn eine linke Tageszeitung aktuell danach fragt, wer »Wir Cyborgs« denn heute sind, geht es wie selbstverständlich um Kameraaugen, Lasertastaturen, bionische Beine, elektronische Ohren und Mikroroboter.8 Der Transmissionsriemen, der die Faktizität bestimmter Technologien mit Arbeitsverhältnissen und Zukunftsvorstellungen verbindet, scheint mit der Verengung aufs Technologische in ein Gefährt eingebaut, dessen Fahrtrichtung allzu eindeutig programmiert ist: einer Zukunft entgegen, in der alle sich nach Belieben selbst verbessern und vernetzen können. Das Cyborg-Manifest war hingegen als ein Holzschuh gedacht, der den Motor des pfeilschnellen Zukunftsgefährts namens Informationstechnologien ins Stottern bringen sollte, als ein Virus, der ein mehr an möglichen Zukünften implantieren sollte. Ich möchte in diesem Essay das Problemfeld der technischen Verbesserbarkeit des Menschen auf Terrains bearbeiten, die sich durch besonders große Ambivalenz auszeichnen. So ist es leicht, den Traum der Biogerontologen vom ewigen Leben als die schlechte Unendlichkeit eines Technokapitalismus zu dechiffrieren, der nichts kennt, als die Gegenwart unverbindlich verbundener Menschen. Denn darauf läuft der Traum vom ewigen Leben hinaus: Was wäre so erstrebenswert daran, ewig zu leben? Ein Leben zu führen heißt doch, Verbindungen mit anderen Lebendigen einzugehen und laufende Versuche zu unternehmen, mit den Toten zu sprechen. Das nennen wir: Geschichte haben. Ewiges Leben bedeutet im Umkehrschluss ein Leben ohne Verpflichtungen den Mit8 | Laaff, Meike und Daniel Schulz: »Wir Cyborgs«, in: TAZ 25. März 2013, S. 13.

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menschen gegenüber, ohne Treue den Verstorbenen und den zukünftigen Generationen gegenüber, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Interessanter, weil problematischer, sind jene Terrains, auf denen sich Ideen der Überschreitung der Limitierungen des menschlichen Körpers mit konkreten Anliegen von Menschen verbinden, die basierend auf ihrem Recht auf gesellschaftliche Teilhabe Ansprüche auf technologische Prozesse und Produkte erheben: Körperlich behinderte Personen etwa, die Geräte und Medikamente als Voraussetzung für Beteiligung einfordern. Anhand zweier medienwirksamer Figuren möchte ich die Fragen skizzieren, die dadurch aufgeworfen sind. Da wäre zum einen Hugh Herr, Biomechatroniker am MIT Media Lab. Als junger Mann war er ein vorzüglicher Klettersportler und verfolgte eine Karriere im Leistungssport.9 Als Folge eines Bergunglücks – er wurde mit seinem Freund von einem Schneesturm überrascht – mussten 1982 beide Beine unterhalb des Knies amputiert werden. Was als das Ende aller Träume vom Aufstieg erschien, wurde zum Ausgangspunkt einer anderen Erfolgsgeschichte: Hugh Herr begann Teleskop-Prothesen zu entwickeln, zuerst für den Eigenbedarf, um also wieder klettern zu können, später professionell. Er studierte Ingenieurswissenschaften und Biophysik und ist inzwischen ein bekannter Forscher auf dem Gebiet der Prothetik und Orthetik. Derzeit entwickelt seine Biomechatronic Research Group am MIT ein Exoskelett und Beinprothesen mit dynamischem Fuß- und Kniegelenk. Hugh Herr war in einen der spektakulärsten Fälle der Sportmedizin der letzten Jahre involviert. Er fertigte 2008 gemeinsam mit sechs anderen WissenschaftlerInnen jenes Gutachten an, das es am Ende Oscar Pistorius erlauben sollte, 2012 an den olympischen Spielen in London teilzunehmen. Das Team »widerlegte« den deutschen Sportwissenschaftler Gert-Peter Brüggemann, dessen Gutachten festgestellt hatte, dass Pistorius’ Laufprothesen (seine Cheetah-Legs, benannt nach Gepardenbeinen, denen die Morphologie nachemp9 | Osius, Alison: Second Ascent. The Story of Hugh Herr, Mechanicsburg: Stackpole Books 1991.

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funden ist) ihm Vorteile gegenüber Normalkörperlichen verschaffen würden. Brüggemanns Gutachten führte dazu, dass Pistorius’ Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking zunächst durch die Dopingbehörde der IAAF verboten wurde. Das zweite Gutachten, an dem Herr beteiligt war, testete erneut den Energieumsatz, den Kraftaufwand und die Bewegungsmechanik der Prothesen und kam zu einem anderen Schluss: »running on modern, lower-limb sprinting prostheses appears to be physiologically similar, but mechanically different than running with intact limbs.«10

Abbildung 1: Hugh Herr und Aimee Mullins beim h2.0 Symposium am MIT Media Lab 2007. (Bild: Wikimedia Commons, Jonathan Pfeiffer) 10 | Die genaue Argumentation: Weyang, Peter G., Matthew W. Bundle, Craig P. McGowan, Alena Grabowski, Mary Beth Brown, Rodger Kram und Hugh Herr: »The Fastest Runner on Artificial Legs: Different Limbs, Similar Function?«, in: Journal of Applied Physiology, Nr. 18 (2009), online unter: http:// jap.physiology.org/content/early/2009/06/18/japplphysiol.00174.2009. full.pdf+html, Zugriff vom 27. März 2013, S. 2.

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Die Studie machte den Weg frei für Pistorius’ Teilnahme an den Olympischen Spielen in London 2012 (vgl. dazu im Detail Kapitel 3). Im Mai 2007 richtete Hugh Herr am MIT Media Lab das Symposium h2.0 – New Minds, New Bodies, New Identities aus. Der titelgebende Human 2.0 sieht auf den ersten Blick nicht wie ein Superman aus. Er ist nicht der körperlich superfitte Held der Science-FictionComicwelt, sondern er ist der Behinderte, der mittels technischer Zusätze in eine neue Existenzform eintritt. Nun könnte man argumentieren, dass Superhelden immer schon »behindert« waren. Jeder Superheld hat schließlich seine Achillesferse, sein Lindenblatt, seine Kryptonit-Allergie zu tragen und zu verwalten. Mir scheint mit der Inszenierung des Behinderten als »Neuem Menschen« ein qualitativ neues Paradigma der Bewertung von physischer Fitness auf den Plan zu treten. Die körperlichen Defizite der Superhelden waren dasjenige, was sie menschlich machte, die Einfallstore für Schwäche und Verletzbarkeit, gewissermaßen ein Tor nach unten: von den Göttern zu den Menschen. Im Fall von Hugh Herrs Humans 2.0 ist es umgekehrt. Ihre körperlichen Defizite machen die Anderskörperlichen übermenschlich und qualifizieren sie als besonders geeignet für technische Verbesserungen. Das zentrale Schlagwort hierfür lautet: adaptability. Anderskörperliche sind in dieser Logik privilegierte Subjekte einer Teleologie der technischen Erweiterung, die als Evolution mit anderen Mitteln gedacht ist. Neben Hugh Herr ist wohl Aimee Mullins – Leichtathletin, Schauspielerin, Model, Motivationsrednerin – eine der bekanntesten Anwältinnen des Gedankens eines privilegierten Zugangs zu einer technischen Zukunft durch Menschen, die als »behindert« gelten. Zu öffentlicher Sichtbarkeit gelangte sie eine ganze Weile vor der aktuell hohen medialen Aufmerksamkeit für den Behindertensport. 1998 war sie bei einer TED-Konferenz zu Gast und erhielt standing ovations für ihren Auftritt. TED ( Technology, Entertain-

ment, Design) ist eine NGO, die es sich zum Ziel gesetzt hat, »große Ideen« zu verbreiten. Dazu dienen Konferenzen und seit 2007 eine Webseite, die unter Creative Commons-Lizenz Mitschnitte von Vorträgen veröffentlicht. Ich erwähne diesen Zu-

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sammenhang, da er für die öffentliche persona Aimee Mullins entscheidend ist, weil er verdeutlicht, dass Aimee Mullins das Produkt einer ganz spezifischen Öffentlichkeit ist. Ihre Reden richten sich an ein technologieaffines, (markt-)liberales, finanzkräftiges Publikum. Die Teilnahme an einer der fünftägigen TED-Konferenzen kostet gegenwärtig 6.000 bis 7.500 Dollar. Die Betreiber der Stiftung beschreiben ihre Ziele wie folgt: »We believe passionately in the power of ideas to change attitudes, lives and ultimately, the world. So we’re building here a clearinghouse that offers free knowledge and inspiration from the world’s most inspired thinkers, and also a community of curious souls to engage with ideas and each other.« 11 Jährlich wird zudem ein Preisgeld in der Höhe von 1 Million Dollar für eine Projektidee vergeben. Zu den PreisträgerInnen der letzten Jahre zählen u.a. Bill Clinton (ein Projekt zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge in Rwanda), Jamie Oliver (sein Projekt zur Veränderung der Ernährungsgewohnheiten in Großbritannien), Sylvia Earl (ein Projekt zum Schutz der Ozeane), Bono (eine Kampagne gegen Armut). Aimee Mullins’ Prominenz scheint mir überaus eng mit diesem speziellen Milieu verflochten zu sein. Eine Elite denkt hier über die Rettung der Welt nach, glaubt an die Macht des Wortes und ignoriert dabei systematisch die politische, ökonomische, historische Voraussetzungshaftigkeit ihres Sprechens. Für ein solches Milieu ist Aimee Mullins in der Tat das perfekte Covergirl. Sie ist diese wunderschöne Frau, die ihren Körper als »adaptibles« Rohmaterial für gesellschaftlichen Erfolg feiert. Die Kernaussage aller ihrer Reden bei TED lautet: Du musst dir deinen Körper nur so oder so denken oder wünschen – nämlich stärker, schneller, schöner, rätselhafter –, dann wird er auch so. Nachdem sie auf der Konferenz 1998 Anekdoten aus ihrem Leben als behinderte Athletin zum Besten gegeben hatte und ihre damals brandneuen Cheetah-Legs (jene, mit denen auch Pistorius läuft) vorgeführt hatte, wurde sie eine celebrity. Sie wurde ein begehrtes Fotomodel, Alexander McQueen 11 | Vgl. die Webseite der NGO: www.ted.com/pages/about, Zugriff vom 27. März 2013.

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fertigte handgeschnitzte Prothesen für sie an und brachte sie aufs Cover des Gazed-Magazins. Matthew Barney engagierte sie für mehrere Rollen in Cremaster 3 (2003). Sie nahm selbstverständlich als Sprecherin an der h2.0-Konferenz teil. Aimee Mullins verkörpert buchstäblich die Leitideen des enhancements: Körperliche Widrigkeiten sind keine Grenzen, sondern Herausforderungen, die den Kampfgeist anstacheln; Natur ist, da sie eine Widrigkeit darstellt, dazu da, überwunden zu werden; Technologien sind das spezifisch menschliche, evolutionäre Mittel der Anpassung; Konkurrenz ist das probate Mittel für empowerment. In ihren Reden ist immer wieder von Poesie und Imagination die Rede und von einer gewissen »skulpturalen Qualität« der Prothesen, gemeint ist damit aber nicht Ästhetik oder Kunst im engeren Sinn, sondern das, was gemeinhin unter dem Begriff »Kreativität« firmiert: Ein Affinität zu ästhetischtechnischen Innovationen, die dazu in der Lage sind, einen Mehrwert hervorzubringen. Mit all dem soll nicht gesagt sein, dass Mullins’ Optimismus nicht ansteckend und für die gesellschaftliche Akzeptanz von Behinderung per se schädlich wäre. Wenn sie Dinge sagt, wie »Pamela Anderson has more prosthetics in her body then I do. But nobody calls her disabled.«12 Oder wenn sie sich über die ausschließlich negativen Synonyme für »disabled« in Websters Thesaurus mokiert13, steckt darin die Aufforderung, sich für die Sprachspiele zu verantworten, die man im Alltag praktiziert. Alleine jemanden als »disabled« zu bezeichnen, kann einem Fluch gleichkommen und sich dagegen zur Wehr zu setzen, muss ein Anliegen der Behindertenbewegung sein. Mit Peter Sloterdijk würde Mullins sich wahrscheinlich darüber freuen, dass die pejorativen Bezeichnungen für Anderskörperliche aktuell zunehmend durch eine Sprache der Selbstverbesserung verdrängt werden, wenn etwa die politisch akzeptable Bezeichnung 12 | Aimee Mullins in ihrer TED Lecture vom Februar 2009, www.ted.com/ talks/aimee_mullins_prosthetic_aesthetics.html, Zugriff vom 2. August 2013. 13 | Ebd.

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für Kleinwüchsigkeit nun »vertically challenged« heißt.14 Mullins geht noch weiter und inszeniert sich, ähnlich wie Oscar Pistorius und Hugh Herr, nicht nur als supercrip15 sondern als superabled. Im Rahmen einer Begegnung mit Schulkindern in einem Science Center lässt sie die Kinder fabulieren, wie wohl Prothesen aussehen könnten, mittels derer sie über Häuser springen könnte. Als immer mehr Vorschläge für bionische Superprothesen kommen und am Schluss eines der Kinder vorschlägt, ihr doch gleich eine Flugmaschine zu geben, kommentiert sie: »In this moment I went from being a woman, that these children would have been trained to see as a disabled to somebody with abilities, their body might not even have yet, that could even be superabled.«16 Sosehr es identitätspolitisch nachvollziehbar ist, sich durch eine solche rhetorischen Bewegung aus den negativen Zuschreibungen, aus den Sprachgefängnissen überkommener Semantiken befreien zu wollen, so ambivalent ist die Brücke zu Hightech und Design, die damit gebaut wird. Die von Mullins propagierte Form der Anerkennung des Andersartigen ist nämlich nur in Form eines Wettbewerbs zu erreichen. Grundlage dieses Wettbewerbs sind einerseits teure, bei weitem nicht allen zugängliche Technologien und andererseits bestimmte persönlichen Eigenschaften, die im kognitiven oder affektiven Kapitalismus als wertschöpfend erachtet werden. An erster Stelle stehen Leistungsbereitschaft und körperliche Selbstdisziplin. Ebenfalls wichtig sind emotionale und kognitive Kompetenzen: Klugheit, Witz, Lernfähigkeit, Neugierde. Hand in Hand damit geht eine Idee von Schönheit, die den gegebenen Körper als empfangsfähiges und modellierbares Material behandelt und in den Fällen Mullins, Herr, Pistorius mit der Prothese als Technofetisch legiert ist. 14 | P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 99. Bei Sloterdijk orthographisch falsch »vertically challanged people«. 15 | Der Ausdruck wurde von Paul Darke geprägt: Darke, Paul: »Eye Witness«, in: Pointon, Anne und Chris Davies (Hg.): Framed: Interrogating Disability in the Media, London: British Film Institute 1997, S. 36-42. 16 | Mullins, Aimee: TED Lecture 02/2009.

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Abbildung 2: Aimee Mullins und Hugh Herr posieren für Wired/Italien 2009.

Wie können wir dieses von Betroffenen artikulierte Recht auf enhancement verstehen? Zum einen ist es ein Ausdruck einer verinnerlichten Kultur der Selbstverbesserung, die uns alle betrifft. Übung, Training und ein funktionales Verständnis des Körpers mögen bis zu einem gewissen Grad Ausdruck von Kultivierung und Vergesellschaftung sein (vom Einüben von Körpertechniken bis hin zu sakralen Techniken). Ihre aktuelle Version (die von Yoga über Coaching-Angebote bis hin zur Konjunktur von MotivationsrednerInnen reicht) kann man aber nicht von einer neokapitalistischen Logik der Selbstoptimierung trennen. Sind Prothesen im Spiel, wird zudem der Zusammenhang zwischen ästhetisch-kognitiven Selbsttechniken und technischer Optimierung prägnant, denn Verbesserungen an Maschinen sind schwer anders denkbar als im Horizont von Strategien der Produktionssteigerung. Was im Fall von Mullins gesteigert wird, sind nicht nur ihre individuellen physischen Potentiale und Fähigkeiten (Laufgeschwindigkeit, Körpergröße) sondern

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die Vermarktungsfähigkeit ihres Images, also ihre symbolisch-ästhetischen Potentiale. Mullins Auffassung von ihrem eigenen Körper ist zum zweiten vielleicht weniger diejenige der cartesianischen Trennung von res extensa und res cogitans, als eine Vorstellung vom eigenen Körper als einem Besitz, in den investiert werden kann, damit er Profit abwirft. Ein solches Besitzverhältnis in Bezug auf den »eigenen« Körper ermöglicht eine ganz spezifische Selbstbeschreibung, die darauf gerichtet ist, sich mittels Prothesentechnik zum »architect of [ones] identity«17 zu machen, seinen Körper nach Wunsch zu »designen«. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht Spaß bereiten und strategisch sinnvoll sein kann, mit dem eigenen Körper so zu verfahren, als wäre er ein Besitz. Er kann in diesem Modus der Existenz sogar ein Vehikel des politischen Kampfes werden: Sowohl der Kampf um die Regulierung von Zeiten der Erwerbsarbeit (der Arbeitgeber darf nicht rund um die Uhr auf den Arbeiterkörper als Ressource zugreifen) als auch um weibliche Selbstbestimmung (»Mein Bauch gehört mir!«) benutzen eine solche, quasirechtliche, Konstruktion des Selbstverhältnisses. Dennoch wäre es meiner Meinung nach interessanter, im Hinblick auf eine Politik der Inklusion Anderskörperlicher dem Leib mehr als nur den Status eines Besitzes zuzugestehen. Den Leib als sozialen und historischen Akteur zu kultivieren hieße zuallererst, alle Voraussetzungen, die die superabled-Variante von Behinderung strategisch ausblendet, in die Arena des Handelns und Imaginierens zurückzuholen. Dazu gehört als zentraler Faktor die ökonomische Verfügbarkeit von Prothesen: Diejenigen (12 Paar), die Aimee Mullins vorführt, sind bereits als Einzelne so teuer in der Herstellung, dass sie für die meisten Behinderten nicht infrage kommen, geschweige denn, dass jede/r sich für jede gewünschte Erweiterung einfach eine Prothese beschaffen könnte. Man muss schon sehr stark an Moores Gesetz und den Markt als Innovationsmotor glauben, um ernsthaft anzunehmen, dass sich daran in nächster Zukunft etwas grundsätzlich ändern wird. Unter und neben den ökonomischen Voraussetzungen gibt es 17 | Ebd.

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subtilere: Nicht jede Behinderung an der Körperperipherie lässt sich so elegant bekleiden, wie ein fehlendes Bein, faziale Verletzungen etwa. Schon Hände und Arme sind biomechanisch weit komplexer als ein Bein und deshalb in weniger Varianten erhältlich. Dann ist natürlich die verwendete Technik selbst historisch voraussetzungsvoll: Die Robotik mit ihrer Herkunft aus der Welt der Fabrik und die Informationstechnologien sind nicht neutral. Robotertechnologien sind Dispositive oder assemblagen, in die Handlungsprogramme eingeschrieben sind (siehe unten S. 113f.). Bestimmte Technologien ermöglichen das eine und verhindern das andere. So kann man mit Cheetahs ausgezeichnet sprinten, aber kaum stehen. Jede Technologie bringt ihre Nutzungsweisen mit und damit soziale Programme. Dazu kommt: Sport und Prothetik sind auch deshalb so kompatible Strukturen, weil der Körper des Sports nach ähnlichen Maßgaben »gefertigt« ist, wie eine Maschine: nach Kriterien der Effizienz und einer metallischen Logik der Kraftsteigerung. Hugh Herrs Teleskop-Beine und Aimee Mullins’ Cheetahs sind deshalb gleichermaßen phantastisch, wie sie das Resultat einer instrumentellen Vernunft sind, die besonders gut mit Metall, Holz und Kunststoffen umgehen kann. Imaginativer wären da schon Prothesen aus nachwachsenden Materialien, wie sie etwa im Cremaster 3 vorkommen, Hummerscheren als Handprothesen (siehe unten S. 108) oder Arme, die wie Elefantenrüssel funktionieren.18 Eine weitere Voraussetzung der Prothetik ist, dass es kulturspezifische, substantielle Unterschiede in der Konzeption von Körper und körperlichen Praktiken gibt. Mullins und Herr hingegen reden stets so, als wäre der prothetische Ansatz ohne Alternative. Demgegenüber stehen kulturell, historisch und lokal äußerst heterogene Zugänge zu körperlicher Ganzheit. Ich möchte sogar behaupten: Die abendländische Sicht auf den Körper als von der Seele getrenntem Ding, über das nach Belieben verfügt werden kann, ist die große Ausnahme, eine Legierung aus religiösen, philosophischen und ökonomischen Fiktionen. Die res cogitans/res extensa-Idee durchdringt aber die Pro18 | Vielen Dank an Hannah Hurtzig für dieses Bild.

1. Gegenwar ten des homo protheticus

thetik und die Praxis von Training und Übung im Sport bis in die Tiefe. Ebenso die Idee, dass nur derjenige, der »mithalten« kann, am Sozialen teilhaben kann. Vernachlässigt wird auch der Umstand, dass jeder Körper singulär ist. Oder genauer: Während die modulare Prothetik, die jener medizintechnische Standard ist, der mit Versicherungslogiken kompatibel ist, auf Passung und Normierung zielt, konturieren künstlerische Arbeiten zur Prothetik häufig die Singularität des Körpers. Diese Prothesen sind Einzelstücke und nehmen die Privatmythologien ihrer TrägerInnen gestalterisch auf. So referieren die Glasprothesen, die Mullins in Matthew Barneys Cremaster 3 trägt, auf eine Episode ihrem Leben: Ein Fan sah in ihr eine neue Cinderella und hat ihr Glasprothesen angeboten. Die allermeisten Prothesen sind jedoch individualisiert und nicht singulär: Sie messen sich an Durchschnittskörpern und dienen dem sozialen »passing«.19 Sie machen aus der Singularität eines Leibes und eines Lebenslaufs ein vergesellschaftetes Individuum, das zwar ein Einzelnes ist, dies aber zuallererst im Vergleich mit einem Durchschnitt, als Position in einer Serie. Diese Logik der Individualisierung korrespondiert mit den Herstellungslogiken der Prothetik, denn Prothesen bestehen heutzutage aus standardisierten Passteilen und Modulen. Der komplette Prozess von Entwicklung, Herstellung und Vertrieb zielt auf industrielle Massenfertigung.20 Erst in einem letzten Schritt erfolgt die individuelle Passung durch den Orthopädietechniker. Die »Anpassung« der Prothese an den singulären Leib mit seiner Geschichte, mit seinen Besonderheiten und eingeübten Routinen ist nur der letzte Schritt in einer Serie von standardisierten Prozessen. Das Individuum ist wohl die Adresse 19 | Vgl. dazu: Harrasser, Karin: »Extensions of the working man. Von der Passung zum ›passing‹«, in: Heindl, Gabu (Hg.): Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus, Wien: Turia + Kant 2008, S. 34-61. 20 | Ebd. Vgl. auch: Berz, Peter und Matthew Price: »Ersatzglieder«, in: Lutz, Petra, Thomas Macho, Gisela Staupe und Heike Zirden (Hg.): Der (im-) perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln: Böhlau 2003, S. 143-161.

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dieser Verfahren, aber nicht im Sinne einer einzigartigen Existenz, sondern im Sinne einer Funktionale sozialer Beziehungen.

2. Maschinenmänner: Militär, Fabrik, Lifestyle

Sobald ein funktionaler Körper (wie derjenige des Leistungssports) der Horizont des Nachdenkens über Technokörper ist, kann man sich darauf verlassen, dass militärische Techniken und Logiken nicht weit sind. Wo Prothesen gebaut werden, ist das Militär im Boot, denn es ist die Sorge um die Kriegsversehrten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Prothesentechnik befeuert hat.1 In den Kriegen der Moderne mit ihrer Tendenz zur Eskalation der technischen Mittel bei gleichzeitigem Auf bau biopolitischer Agenturen 1 | Vgl. für den Amerikanischen Bürgerkrieg: Herschbach, Lisa: »Prosthetic Reconstruction. Making the Industry, Re-Making the Body, Modelling the Nation«, in: History Workshop Journal, Nr. 44 (1997), S. 22-57; für den Ersten Weltkrieg: Cohen, Deborah: The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany 1914-1939, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2001; Perry, Heather R.: »Re-Arming the Disabled Veteran. Artificially Rebuilding State and Society in World War One Germany«, in: Ott, Katherine, David Serlin und Stephen Mihm (Hg.): Artificial Parts, Practical Lives. Modern Histories of Prosthetics, New York: New York University Press 2002, S. 75-101; Horn, Eva: »Der Krüppel. Maßnahmen und Medien zur Wiederherstellung des versehrten Leibes in der Weimarer Republik«, in: Schmidt, Dietmar (Hg.): KörperTopoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002, S. 109-136. Allgemein zum Zusammenhang Militär-Prothetik-Epistemologie: Harrasser, Karin: »Sensible Prothesen. Medien der Wiederherstellung von Produktivität«, in: Body Politics (Band 1), Nr. 1 (2013), S. 99-117.

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(z.B. der medizinischen Versorgung im Feld) überlebten immer mehr Soldaten schwerstverletzt. Die Anwesenheit der Versehrten in der zivilen Gesellschaft stellte nachfolgend ein ökonomisches und ein symbolpolitisches Problem dar. Denn Kriegsversehrte können nicht ohne Weiteres ihre Rolle als Erwerbsarbeiter und Familienversorger (weiter) spielen und sie sind verkörperte Erinnerungszeichen an eine traumatische Kollektiverfahrung (»lebende Kriegsdenkmäler« hat sie Joseph Roth 1920 genannt2). Sie sind deshalb ein eminentes Problem jeder Kriegs- und Nachkriegspolitik. Das Ineinander von maschineller Zerstörungsgewalt und dem Einsatz technisch-wissenschaftlicher Mittel zur Steigerung des Lebens (das meint sowohl medizinische Techniken der Erhaltung des Lebens als auch Methoden der Effizientmachung von Arbeitskraft) ergibt ein hochexplosives Gemisch. Im und nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich aus diesem Gemisch heraus sowohl der Wohlfahrtsstaat als auch die orthopädische Industrie und die Prothetik, beide in dichtem Rapport mit dem Kriegsministerium. Und auch heute noch werden große Teile der Prothesenforschung durch das Militär finanziert. Hugh Herrs Forschungsgruppe arbeitet auf Basis von Finanzierungen durch die DARPA und das Department of Veterans Affairs. Der militärische Kontext schlägt selbstverständlich auch auf das populäre Imaginarium der Prothetik durch. So in der Computerspielserie Deus Ex von Eidos, die seit 2000 auf dem Markt ist. Der Plot spielt in einer dystopischen, nahen Zukunft. Deus Ex gilt als eines der wenigen Spiele, die Cyberpunk-Szenarien konsequent umsetzen. Ein Kernelement des ego-shooter-Spiels sind die technischen Körpermodifikationen des Protagonisten JC Denton. Er kann sich im Spielverlauf für immer weiter gehende Umbauten am eigenen Körper entscheiden, um seine Kampfkraft zu erhöhen. Als waffenund nanotechnisch verbesserter Agent der UN-Organisation Uni2 | Vgl. die exzellente Studie von Kienitz, Sabine: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923, Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh 2008.

2. Maschinenmänner: Militär, Fabrik, Lifestyle

ted Nations Anti-Terrorist Coalition bekämpft er die Machenschaften einer Untergrundorganisation und soll verhindern, dass diese die Weltherrschaft an sich reißt. Zu diesem Zweck kann er nicht nur seine Sinnesqualitäten steigern, sondern sich auch Waffen statt Gliedmaßen anpassen lassen. Diese konsequente Übersteigerung der militärischen Logik der Prothese – die Prothese ist schlicht die Waffe – wurde zum ersten Mal vom Cyberpunk-Autor K. W. Jeter durchdacht. In seinem Roman von 1984 gestaltet der titelgebende Dr. Adder nicht nur die Genitalien von Frauen entsprechend der Nachfrage am Markt der Perversionen chirurgisch um, sondern er ersetzt seinen eigenen Arm durch einen Roboterarm aus der Waffenkammer des US-Militärs. Fatal ist daran nur, dass die Programmierung des Arms zunehmend Besitz von ihm ergreift und am Ende seine Nerven durchschmort. Auf solche martialische Narrative setzt die Selbstinszenierung des Filmemachers Rob Spence auf. 2011 lancierte er im Internet den Kurzfilm Deus Ex. The Eyeborg Documentary. Er hat bei einem Schießunglück ein Auge verloren, das er nun durch eine kleine Kamera ersetzt hat, mittels derer er plant, einen Film über aktuelle Mensch-Maschine-Verhältnisse zu drehen. Der Kurzfilm nimmt die Computerspielfigur JC Denton aus Deus Ex zum Ausgangspunkt, um nach dem Stand der Dinge in Sachen Prothesentechnik zu fragen. Spence besucht verschiedene Labore, in denen RetinaImplantate, augmented reality-Technologien und Roboterbeine mit Kraftverstärkern gebaut werden. Das Resultat ist eine all-male-Mythe der Prothese als Kraftverstärker und Waffe. Spence befragt beispielsweise verschiedene Entwickler nach der Möglichkeit, einen Prothesenarm mit eingebauter Waffe zu bauen, geht selbst mit einem der Protagonisten, einem Veteranen, an den Schießstand und macht keinen Hehl daraus, dass er seine Augenkamera als invasives Instrument zur Erfassung und Überwachung seiner Umgebung begreift. Die Frage, wie sich dieses unauffällige Filmen auf Augenhöhe zur Omnipräsenz der Bildaufzeichnung, die längst Normalität ist, verhält, wird uns weiter unten beschäftigen. (S. 80f.)

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Abbildung 3: Screenshots aus: Deus Ex — The Eyeborg Documentary, Rob Spence 2011.

Die enge Verbindung zwischen Prothetik und Krieg ist als solche keine Neuigkeit, hat aber qualitativ neue Dimensionen erreicht. So wurden die Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs in Deutschland selbstverständlich von nationalen Wohlfahrtsagenturen nach paternalistischem Prinzip mit Prothesen versorgt. Diese stellten mittels eines – bei den Betroffenen äußerst unbeliebten – bürokratischen

2. Maschinenmänner: Militär, Fabrik, Lifestyle

Procederes die »Ansprüche« der Soldaten fest, die selbstverständlich jene Prothesen nehmen mussten, die für sie vorgesehen waren (und die nur selten ihren Wünschen entsprachen). Nur langsam konnte sich ein freier Markt für Prothesen etablieren. Einer der global player auf dem Gebiet der Prothesentechnik ist heute eine deutsche Firma (Otto Bock), die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Betrachtet man die Werbung der Firma, fällt auf, dass sie sich seit einiger Zeit ikonisch und narrativ im Segment von Lifestyle-Produkten bewegt. Die PR spielt aus, dass die Prothetik heute nicht länger der mechanischen Einpassung in stabile soziale Verhältnisse dient (oder solche wieder herstellen soll), sondern der flexiblen Anschmiegung an »individuelle Bedürfnisse«, die mit sozialem Kapital korrespondieren. Die Prothesenträger werden gerne in Freizeitsituationen gezeigt: als mit ihren Enkeln spielende rüstige Rentner, als Partygirls, bei der Besteigung des Himalaya oder anderen abenteuerlichen Expeditionen. Angesichts dieser LifestyleSemantik kann man Rob Spence geradezu dankbar sein, dass er den militärischen Komplex wieder ins Bild der Prothese zurückholt. Denn der Kurzfilm zeigt hemmungslos auf, wie eng der militärische Komplex mit der biomedizinischen Forschung gekoppelt ist. Die Verwicklungen der Prothetik mit Kapital und Militär auf der einen Seite und mit Lifestyle und Bedürfnisökonomie auf der anderen Seite sind das Thema von Max Barrys kürzlich publiziertem Roman Der Maschinenmann.3 Der Roman ist eine Satire und thematisiert den Wunsch nach prothetischer Selbstverbesserung in seiner ganzen physischen und strukturellen Gewaltsamkeit. Der Protagonist des Romans, der Ingenieur Charlie Neumann, verliert bei einem Laborunfall ein Bein. Neumann nimmt dies zum Anlass, sich ein künstliches, computergesteuertes Bein zu bauen, welches seinem organischen an Kraft und Ausdauer überlegen ist. Weil das selbstgebaute Bein so attraktiv, funktional und »weiter verbesserbar« ist, amputiert er sich nach und nach freiwillig andere Körperteile. Er möchte mit immer raffinierteren künstlichen Körperteilen 3 | Barry, Max: Maschinenmann, München: Heyne 2012.

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experimentieren. Symptomatisch ist nun, dass sich der Roman um einen Konflikt zwischen dem individuellen Verbesserungswunsch des Protagonisten und den Interessen des Konzerns, für den er arbeitet (Better Future), entfaltet. An keiner Stelle – und auch das ist symptomatisch – befragt der Roman die Idee der Selbstoptimierung als solche, selbst dann nicht, wenn alle Beteiligten zu mehr oder weniger gewalttätigen Monstern geworden sind. Der Leibwächter Carl wird zu einem (überaus moralisch agierenden) Terminator, Charlies pickelige und autistische AssistentInnen werden von Labornerds zu attraktiven jungen Menschen und der Protagonist wird irgendwo in der Mitte des Romans von Better Future zum Supercyborg, zu einer Kampfmaschine, umgebaut, um das andere Monster (Carl) zur Strecke zu bringen. Eine kleine Nebenerzählung führt den Zynismus der Wertschöpfung durch Körperteile drastisch vor: Um seiner Tochter ein dringend benötigtes neues Herz zu ermöglichen, lässt ein Vater nach und nach seine Gliedmaßen durch Maschinen an seinem Arbeitsplatz zerstören. Da die Versicherungssummen höher sind, wenn nach und nach Finger und nicht gleich die ganze Hand verloren gehen, arbeiten Vater und Tochter einen ertragsoptimierten Nutzungsplan sämtlicher Gliedmaßen aus. Geplant wird ein Tod auf Raten, um der Tochter Leben zu ermöglichen. Der Plot (eine Liebesgeschichte) und der Ausgang von Maschinenmann sind erwartbar. Charlie wird zu einer Halbleiterplatte in den zärtlichen Händen der Geliebten. Aber auf dem Weg dahin werden die Paradoxien des Auftrags zur technischen Selbstverbesserung und der Kapitalisierung des Körpers gnadenlos ausgeleuchtet. In Dysfunktionalität schlägt dabei nicht – wie etwa in Charlie Chaplins Modern Times – die Technik selbst, sondern der Narzissmus des Protagonisten um. Charlie (der Anti-Chaplin) möchte nur für sich selbst Körperteile anfertigen und identifiziert sich so heftig mit seinen Prothesen, den Fetischen seines Erfindungsgeistes, dass er in Opposition zum Konzern geht, der seine Erfindungen als Lifestyle-Produkte und Militärtechnologien vermarkten möchte. Mithilfe seines Prothesenkörpers wirft er irgendwann den CEO von Better Future aus dem Fenster und erzielt einiges an Sachbeschädigung am Konzerngebäude.

2. Maschinenmänner: Militär, Fabrik, Lifestyle

Eine historische Beschäftigung mit Prothesen, wie ich sie an anderer Stelle vorgenommen habe, fördert einige Herkünfte dieses technofetischistischen Narzissmus zu Tage. Prothesen sind im 20. Jahrhundert aufs Engste verschränkt mit Ideen der Effizienz- und Leistungssteigerung in Fabrik und Militär auf der einen Seite und mit Selbststeuerungslehren auf der anderen Seite. Sie markieren ein Scharnier zwischen fordistischen und postfordistischen Körpern.4 Im Umfeld der Prothetik etablierte sich die Idee eines Kontinuums technisch verbesserbarer Körperlichkeit, die die traditionelle Unterscheidung von gesund und krank nach und nach unterspülte. Jede/r ist in einer solchen Logik potentiell behindert und jede/r ist damit beauftragt, sich kontinuierlich selbst zu verbessern. Der geschäftsschädigende Narzissmus des Maschinenmanns ist aus dieser Perspektive nichts als eine kleine Perversion des sich optimierenden Selbst.

4 | Vgl. dazu allgemein: Rieger, Stefan: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. In Bezug auf die Prothetik im Speziellen: Harrasser, Karin: »Passung durch Rückkopplung. Konzepte der Selbstregulierung in der Prothetik des Ersten Weltkriegs«, in: Fischer, Stefan, Erik Maehle und Rüdiger Reischuk (Hg.): Informatik 2009. Im Focus das Leben, Bonn: GI 2009, S. 788-801. In Bezug auf Fordismus: K. Harrasser: Sensible Prothesen.

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3. Meet the Superhumans

Wer die Paralympics 2012 auch nur aus den Augenwinkeln verfolgt hat, der konnte beobachten: Etwas ist in Bewegung in der öffentlichen Wahrnehmung des Behindertensports, vielleicht sogar von »Behinderung« insgesamt. Die Paralympics in London waren nicht nur die bisher größten Spiele mit 4237 Athleten aus 164 Nationen, sie bekamen auch so viel mediale Aufmerksamkeit wie noch nie zuvor. Schon im Vorfeld wurden spektakuläre Bilder in Umlauf gebracht, etwa mittels der Kampagne »Meet the Superhumans«. Diese war die größte Medienkampagne, die der britische Channel 4 jemals lanciert hat.

Abbildung 4: Werbeplakat der Kampagne Meet the Superhumans, Channel 4, 2012.

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Der 90 Sekunden lange Spot warb offensiv für die Paralympics (und selbstverständlich für die eigene Berichterstattung). Zum Public Enemy Song »Harder Than You Think« inszeniert der kurze Film das Training von acht paralympischen britischen Sportlern. Schlaglichtartig wird das klassische Narrativ des Unglücks und seiner Überwindung durch Selbstdisziplin und Härte an den acht Personen durchgespielt. Die Bildsprache, die Videoclip und Actionfilm verschmilzt, verbindet auf visueller Ebene Unfall bzw. Kriegsgeschehen und Wettkampf. Für jene Fälle von »Behinderung«, wo es keine dramatischen Unfälle gibt, werden Ultraschallbilder und eine schockiert blickende, werdende Mutter eingeblendet. Die Art der Inszenierung von »Behinderung« ist relativ neu, ihre Folgen für den Behindertensport und die Bemühungen um Inklusion sind schwer abzuschätzen. Denn einerseits markiert sie eine neue Qualität der Forderung nach Teilhabe: Wie auch Oscar Pistorius mit seiner Forderung, an den olympischen Spielen für Nichtbehinderte teilzunehmen, ist den ProtagonistInnen des Films ein trotziger Stolz in die Gesichter geschrieben, der zuallererst sagt: wir auch! Die Bezeichnung »Superhumans« mag man dabei einerseits mit der im ersten Kapitel skizzierten Idee in Verbindung bringen, dass es gerade ihr »Mangel« ist, der die »Behinderten« besonders anschlussfähig für neueste Technologien macht und damit zu Menschen 2.0. Wichtiger für das Video ist aber das Motiv der Willensstärke, der Selbstüberwindung und Selbstbemeisterung. Peter Sloterdijk verwendet für derartige Konstellationen – mit Blick auf die 1920er-Jahre – den Begriff des »Krüppelexistenzialismus«.1 Er interessiert sich dafür als eine besonders ausgeprägte Form dessen, was er »Trotzexistenzialismus« nennt: Widrigkeiten werden in einer solchen Selbstkonzeption nicht nur anerkannt oder kompensiert, sie sind der Anlass für eine Übersteigerung des Selbst. Ein historisch besonders aussagekräftiges Beispiel hierfür ist das Motiviationsbuch Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstief kinder 1 | P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Kapitel 3: »Nur die Krüppel werden überleben. Unthans Lektionen«, S. 69-99.

3. Meet the Superhumans

aller Zeiten und Völker in Wort und Bild2 des »Krüppelpädagogen« (so die damalige Diktion) Hans Würtz aus dem Jahr 1932, auf das sich auch Sloterdijk bezieht. Das Buch enthält umfangreiche Verzeichnisse »bekannter Gebrechlicher und Entstellter«. Diese – es sind 472 – sind einmal nach »Beruf und Schaffensgebiet« und einmal »nach Völkern« geordnet. Außerdem enthält es ein Verzeichnis der Darstellungen des Krüppels in der Kunst (2502 Beispiele), eine kommentierte Bibliographie der schönen Literatur über Krüppel (779), sowie Informationen über Krüppel in Sage, Märchen und Sprichwörtern. In der Kategorie »Denker und Erzieher« finden sich u.a. Immanuel Kant als »Andeutungskrüppel« und Friedrich Nietzsche als »Wuchskrüppel«, unter den Wissenschaftlern August Forel (»gelähmt«) und Karl Marx (»Häßlichkeitskrüppel), unter den »religiösen Verkündern« Friedrich Schleiermacher (»hüftlahm«) und Emanuel von Swedenborg (»Wuchskrüppel«), unter den Dichtern und Schriftstellern Ludwig Tieck (»Mißwuchskrüppel«) und Heinrich Heine (»gelähmt«), unter den Malern und Bildhauern Lovis Corinth (»gelähmt«) und Vincent van Gogh (»häßlicher Andeutungskrüppel«), unter den Musikern und Sängern Frédéric Chopin (»Wuchskrüppel) und Wolfgang Amadeus Mozart (»rachitischer Wuchskrüppel«) usw. usf. Zum Verhängnis wurde Würtz wohl unter anderem, dass er unter der Ordnungszahl 325 (Kategorie: »Revolutionäre Politiker«) Dr. Joseph Goebbels mit dem Prädikat »Klumpfuß« auszeichnete.3 Auf der gegenüberliegenden Seite versammelt eine Graphik »Verkrüppelte Staatsumstürzler« (Danton, Robespierre, Marat, Lenin, Rosa Luxemburg). Goebbels hat diese »Adelung« auf Basis seiner körperlichen Behinderung wohl nicht vom Würtz’schen Ansatz überzeugt. Denn so seltsam die Würtz’sche Diktion in unseren Ohren klingen mag, sosehr nimmt das Buch deutlich Partei gegen eine Ideologie, die Anderskörper2 | Würtz, Hans: Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild, Leipzig: L. Voss 1932. 3 | Ebd.: S. 88.

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liche im Namen eines »Volkes« als minderwertig aussondert. Im Gegenteil sind die »Krüppel« hier diejenigen, die die Menschheit weiterbringen, besonders ausgezeichnete Individuen.4 In dieser Linie ist das Schriftinsert in »Meet the Superhumans« zu verstehen, das die Zuseher dazu auffordert »[to] forget whatever You thought You knew about humans.« Und man könnte hier ohne Weiteres einen weiteren Wahlspruch Hans Würtz’ einfügen, den er in seinen Motiviationsbroschüren für die Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs verwendet: »Der Wille ist die beste Prothese.«5 Die Inszenierung der paralympischen Sportler als Superheldenliga legt einen Vergleich zu einer anderen »behinderten« Superheldengruppe nah: Den X-Men.6 Sie wurden von Stan Lee und Jack Kirby 1963 als Comic erfunden. Seit 2000 haben drei Filme und drei Prequels rund um den Charakter Wolverine die Mutanten-Liga bekannt gemacht. Die Filme verhandeln auf durchaus vielschichtige Art und Weise das Thema Alterität zwischen Biopolitik, Normalismus und Superioritätsphantasie: Die ProtagonistInnen (die X-Men sind zur Hälfte women) sind Mutanten, die aufgrund des X-Gens bestimmte Eigenschaften ausbilden, die sie zu gesellschaftlichen Außenseitern machen: Sie haben Flügel, Wolfskrallen, Löwenmähnen. Sie können Stürme auslösen, sind telepathisch begabt oder besitzen magnetische Fähigkeiten. Dass wir diese Comic-Verfilmungen als einen Beitrag zur Geschichte der gewaltsamen Ver4 | Das Buch wurde rasch nach Erscheinen eingezogen. Würtz musste nach Österreich fliehen, wo er untertauchen konnte. Vgl. P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 89. 5 | Würtz, Hans: Der Wille siegt. Ein pädagogisch-kultureller Beitrag zur Kriegskrüppelvorsorge, Berlin 1915. 6 | Überlegungen zu Fragen von Alterität und Behinderung in Bezug auf die X-Men finden sich in einem gemeinsam mit Tina Lutter verfassten Beitrag: Harrasser, Karin und Lutter, Christina: »Spielräume. Zwei Szenen zur Differenz«, in: Babka, Anna, Julia Malle und Matthias Schmidt (Hg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion, Wien: Turia + Kant 2012, S. 237-248.

3. Meet the Superhumans

nichtung von Minoritäten verstehen sollen, wird schon dadurch klar, dass die Mutationen bei einem der Protagonisten erstmals bei seiner Einlieferung in ein KZ auftreten. Die Filme führen zwei exemplarische Umgangsweisen der Mutanten als minority group mit ihrer eigenen Alterität vor. Eine Gruppe von Mutanten rund um Magneto betrachtet sich selbst als eine evolutionär überlegene »Art« und setzt auf Identitätspolitik: Aus der biologischen Alterität wird physische Überlegenheit, aus der Unterdrückungserfahrung moralische Überlegenheit abgeleitet. Eine zweite Gruppe rund um Charles Xavier – ebenfalls ein Holocaust-Überlebender – agiert im Rahmen einer Assimilationsstrategie: Junge MutantInnen werden von ihm in einem Internat dazu angeleitet, ihre Eigenschaften produktiv und zum Wohle der Gesellschaft einzusetzen. Sie werden gleichzeitig zur Verteidigung der Gruppe (gegen Magnetos Leute, gegen den Mob) als Kampfteam mit einem strengen Ethos der kanalisierten Gewaltausübung ausgebildet. Politik und Gesellschaft verhalten sich ihrerseits den Mutanten gegenüber ambivalent zwischen offener physischer Gewalt und politischer Inklusion, zwischen Angst vor dem Andersartigen, Faszination für das Fremde und dem Versuch, die »Kräfte« der X-Men ökonomisch nutzbar zu machen. Die Handlung des dritten X-Men-Films ist um die Entwicklung eines Medikaments herum gebaut, das verspricht, alle Mutationen rückgängig zu machen. Es wurde von der Pharmafirma des Vaters des Charakters Angel entwickelt und im Zuge des Films werden nun unterschiedliche biopolitische Strategien des Einsatzes des Präparats verhandelt: So wird eine Zwangsverabreichung des Präparats durch die Gesundheitsbehörde oder durch das Militär ebenso diskutiert wie eine kontrollierte Einnahme auf freiwilliger Basis. Der Film gibt auch hier keine einfache Antwort. So entschließt sich Angel kurz vor der Verabreichung des Mittels, der er seinem Vater zuliebe zugestimmt hatte, doch seine Flügel zu behalten, während z.B. Rogue, deren Mutation verhindert, dass sie Lebewesen berühren und damit Beziehungen auch physisch leben kann, sich dazu entschließt, das Medikament zu nehmen.

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Es wird ein Fächer von Handlungsoptionen präsentiert, die jeweils andere Spielräume aufmachen, in denen das Versprechen auf individuelles Glück ebenso eine Rolle spielt wie die Identität der Mutanten als Gruppe, die Geschichtlichkeit von Gewalterfahrung und wissenschaftliche Expertise als Grundlage von Entscheidungsprozessen. Die Filme werfen eine Reihe von Fragen auf, die derzeit in den Postcolonial, den Disability und den Gender Studies diskutiert werden und die mit Blick auf die Paralympics schlagend werden: Welchen Status hat körperliche Alterität mit Blick auf den Kampf um Teilhabe an politischen und sozialen Prozessen? Ist »Identität« eine adäquate Basis für politisches Handeln? Wie sind Alterität und Differenz im Kontext von normativen oder normalistischen Regulierungen7 zu verstehen? Welche Modelle von agency sind jenseits des klassischen, bürgerlichen Subjektverständnisses vorstellbar und realisierbar? Und eben auch: Wie verhält sich Alterität zu den wachsenden Möglichkeiten eines medizin-technischen Eingriffs in den Körper? Jene Figur, die am nächsten an die Prothesenproblematik heranführt, ist Wolverine, dessen Mutation darin besteht, besonders schnell heilen zu können. Dies machte ihn zu einem attraktiven Forschungsobjekt für die militärische Forschung. Aufgrund seiner Selbstheilungskräfte, die jede Wunde sofort wieder schließen, konnte man ihm mörderisch scharfe Krallen einbauen, die er im Kampf ausfahren kann. Um den Betreibern der militärischen Forschung zu entweichen, zieht sich Wolverine so weit wie möglich aus der Menschenwelt zurück, wird aber – natürlich – immer wieder von seiner Vergangenheit eingeholt. Aufgrund seiner Disposition zum Jähzorn – vermutlich ebenfalls ein Überrest der Zwangsoperationen – hat er zudem seine Kampfklauen nicht immer hundert7 | Zum Unterschied zwischen normativen/disziplinären und normalistischen Regulierungen vgl. Krause, Marcus: »Von der normierenden Prüfung zur regulierenden Sicherheitstechnologie. Zum Konzept der Normalisierung in der Machtanalytik Foucaults«, in: ders. und Christina Bartz (Hg.): Spektakel der Normalisierung, München: Fink 2007, S. 53-75.

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prozentig im Griff und er vermeidet auch deshalb soziale Kontakte. Körperliche Behinderung und Überlegenheit stehen gerade aufgrund ihrer technischen Überarbeitung in einem prekären Verhältnis und erzwingen eine Komplizierung der sozialen Passung. Mit diesen fiktionalen und semi-fiktionalen, spektakulären Bildern haben wir uns einem Problemfeld genähert, das in den letzten Jahren insbesondere dem südafrikanischen Läufer Oscar Pistorius im Fokus diskutiert wurde: Ist ein Behinderter, der state-of the-artTechnologien verwendet, noch »disabled« oder schon »superabled«? In der Sprache der Sportfunktionäre ausgedrückt: Sind seine Prothesen »neutral« oder »leistungssteigernd«? Oder in der Sprache der Presse: Ist Pistorius das Wunderkind oder sind seine Prothesen das eigentliche Wunder? Technologien im Sport sind selbstredend niemals neutral, was sich an den permanenten Diskussionen nach dem Schema »gerade noch zulässig oder schon nicht mehr« ablesen lässt. Ist der Schwimmanzug, der der Haut eines Hais nachempfunden ist, noch neutral oder schon leistungssteigernd? Wie viel Technik darf in Laufschuhen stecken und welche? Welche chemischen Substanzen sind noch Teil von gesundheitserhaltenden oder prophylaktischen Maßnahmen, welche sind Doping? Gänzlich absurd wäre die Annahme der »Neutralität« von Technik in Sportarten wie dem Skisport oder der Formel 1. Trotz einer gewissen Mystifizierung des Piloten als Leistungsträger ist der Motorrennsport deshalb eine Arena der Sportberichterstattung, in der der Peripherie oder dem Milieu des Piloten – dem Konstruktionsteam, dem Rennauto, dem Parcours, den Witterungsbedingungen – traditionell viel Raum gegeben wird. Die Ingenieure werden hier in etwa wie Coaches und Trainer behandelt, was umgekehrt wiederum auf den technischen Charakter jedes Trainings verweist. Ich möchte deshalb die Diskussion um Pistorius’ Cheetahs auf ein anderes Terrain holen und fragen, welche impliziten Vorannahmen über Körper, Leistung, Technik im Leistungssport in diesem prominenten Fall exponiert werden. Indem er allgemeine moralische Dilemmata des Leistungssports mit technischen Fragen zusammenführt, macht der Fall Pistorius zunächst eines klar: Der Sportkörper ist – entgegen des My-

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thos der Gleichheit individueller Leistungsfähigkeit – ein zutiefst in soziale und technische Netzwerke verstricktes Artefakt, eine höchst voraussetzungsvolle Konstruktion. Er ist eine Konstruktion im umfassenden Wortsinn: kulturell und materiell, sozial und in der biologischen Schicht. Aufgrund des dramatischen Todes seiner Freundin Reeva Steenkamp im Februar 2013, die in Südafrika als Model ähnlich prominent war wie Pistorius, präsentiert sich seine Geschichte derzeit als die des gefallenen Helden. Wie oben bereits geschildert, entschieden sich seine Eltern dazu, dem Baby die fehlgebildeten Beine abzunehmen. Leitidee der Entscheidung und aller folgenden war es, dem Jungen ein möglichst »normales« Aufwachsen zu ermöglichen: Lernt ein Kind von klein auf mit Prothesen zu laufen, wird es »normaler laufen« als eines, das aufgrund der Fehlbildung vielleicht gar nicht dazu in der Lage ist, sondern sich in einem Rollstuhl fortbewegen lernt. Die Familie Pistorius ist nach allen Selbstaussagen zu urteilen äußerst sport- und leistungsbetont. Stark zu sein und sich souverän bewegen zu können war ein Wert, der in der Familie wichtig war, ebenso wie Wettbewerb als soziales Organisationsprinzip. Pistorius erzählt in seiner Autobiographie8 viele Szenen, in denen er und seine zwei Geschwister kleine Rennen veranstalten, um die größte Portion Essen oder das meiste Taschengeld zu bekommen. Für Pistorius sind individuelle Leistungsbereitschaft und Selbstüberwindung integraler Bestandteil seines Wertesystems. Wie im ersten Kapitel angedeutet, ist ein solcher Zugang zum eigenen Körper eine Fusion religiöser und ökonomischer Werte, die bei Pistorius mit einem Ethos der Aufrichtigkeit verschmolzen sind, wenn er sich einige Zeilen des 1. Korintherbriefs tätowieren lässt, die da lauten: »Therefore I do not run like someone running aimlessly; I do not fight like a boxer beating the air. No, I strike a blow to my body and make it my slave so that after I have preached to others, I myself will not be disqualified for the prize.«9 Stolz auf Selbstdisziplin, ja 8 | O. Pistorius: Blade Runner. 9 | Ebd.: o. S.

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darauf, sich selbst Leiden im Dienst der größeren Sache zufügen zu können, wird in die christliche Heilslehre und in einen Horizont der gerechten Entlohnung für Leistung im weltlichen Sinn eingerückt. Die eigene Leistung ist zentral für dieses Ethos. Wie verträgt sich der Streit um den leistungssteigernden Charakter der Prothesen mit diesem Ethos von Fairness und Selbstüberwindung? Denn in der Diskussion schwingt selbstredend der Vorwurf mit, Pistorius verhalte sich unfair, er ziehe Vorteile aus seiner Behinderung. Will man dieses Ethos nicht einfach als strategische Zutat des Selbstmarketings abtun, und das werde ich nicht, da ich es als grundlegend für Selbsttechniken im Leistungssport erachte, dann gilt es danach zu fragen, wo die Grenze zwischen »erlaubten Selbsttechniken«, solchen die den athletischen Körper formen und den (nur teilweise erlaubten) »externen Techniken« verläuft. Wohin verschiebt sich derzeit, aufgrund der Vielfalt an technischen Möglichkeiten, die Gewichtung? In den sportwissenschaftlichen Gutachten zum Fall Pistorius drehte sich alles um die Frage nach seinem Vorteil durch die Prothesen. Da sie nicht die menschliche Physiologie zur Grundlage haben, sondern die Morphologie von Gepardenbeinen, stand die Frage im Zentrum, ob die mittels der Cheetahs bewerkstelligte Fortbewegungsart a) der menschlichen vergleichbar ist und b) ob sie dieser überlegen oder gleichwertig ist. Die Sportwissenschaftler versuchten den Fall mittels Messungen in hoch artifiziellen Laborsituationen zu beurteilen. Das erste, von der International Association of Athletics Federation (IAAF) beauftragte Gutachten von Gert-Peter Brüggemann kam – wie schon erwähnt – zur Überzeugung, dass vom Standpunkt des energetischen Aufwands betrachtet, die Prothesen, die den Sportler wie Federn weiterschnellen lassen, Vorteile brächten.10 Das Gegengutachten, an dem Hugh Herr beteiligt war, argumentierte hingegen, dass die Cheetahs ein 10 | Brüggemann, Gert-Peter et al.: »Biomechanics of Double Transtibial Amputee Sprinting, Using Dedicated Sprinting Prostheses«, in: Sports Technologies (Band 1), Nr. 4-5 (2008), S. 220-227.

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zwar »anderes«, aber kein »besseres« Laufverhalten ermöglichten. (Vgl. oben S. 16f.) Kern des Arguments ist das Beschleunigungsverhalten der federnden Prothesen: Sie sind zu Beginn des Rennens relativ langsam, entfalten aber nach einer gewissen Strecke ihre phantastischen Beschleunigungseigenschaften. Das Gutachten von Brüggemann habe nur die letzte, schnelle Laufphase beurteilt und nicht das Beschleunigungsverhalten während des ganzen Rennens, argumentierte das zweite Gutachten. Das Berufungsgericht (Court for Arbitration in Sport, CAS) in Lausanne erlaubte 2008 aufgrund der Neubeurteilung in letzter Minute Pistorius’ Teilnahme an den Olympischen Spielen in Beijing11, formulierte aber in das Urteil hinein, dass die leistungssteigernden Eigenschaften der Prothese in diesem Fall nicht bewiesen werden konnten, sich die Frage aber in Zukunft wohl in aller Schärfe stellen würde. Das heißt: Im speziellen Fall Oscar Pistorius konnte kein eindeutiger Verstoß gegen das Reglement festgestellt werden, die Grundfrage ist aber alles andere als entschieden. Ähnliche Urteile gab es immer wieder. So im Fall Usain Bolt, der 2009 den Weltrekord im Sprint mit eigens für ihn konstruierten Schuhen setzte. Auch hier konnte kein Regelverstoß nachgewiesen werden, aber die Tatsache, dass nur Spitzensportler Zugang zu Hightech-Produkten haben, löste Diskussionen über Fairness im Spitzensport aus. Um die Diskussion weiter zu komplizieren: Anlässlich der Paralympics 2012 wurde Pistorius auf 200m von dem Brasilianer Alan Oliveira auf den zweiten Platz verwiesen, der auf höheren Prothesen als er – und die meisten anderen Sportler – läuft. Pistorius kommentierte den Sieg folgendermaßen: »Es war nicht unfair, er hat sich an die Regeln gehalten, aber Fakt ist: So schnell war er bisher noch nie. Auch nicht annähernd.«12 Die Pro11 | Aufgrund der späten Erlaubnis konnte Pistorius sich nicht mehr zur Teilnahme qualifizieren. 12 | »Pistorius verliert gegen Wunder-Stelzen«, FAZ vom 3. September 2012, online unter: www.faz.net/themenarchiv/sport/paralympics-2012/ paralympics-pistorius-verliert-gegen-wunder-stelzen-11877393.html, Zugriff vom 3. April 2013.

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thesen Oliveiras sind – analog zu Pistorius’ Prothesen – also nicht unfair, aber auch nicht fair. Was sind sie dann?

Abbildung 5: Oscar Pistorius, Bild zu einem Bericht in Wired (2007), das auf die Gepardenbeinen nachempfundenen Prothesen anspielt.

Einige sportwissenschaftliche Studien beschäftigen sich mit der Vielschichtigkeit des Problems, indem sie rechtliche (Reglements), ethische (Fairness, Zugänglichkeit zu Technologien) und physiologische Fragen aufeinander beziehen. Sie navigieren damit eng an Fragen heran, mit denen sich sonst die Kultur- und Medienwissenschaft beschäftigen: mit dem Zusammenspiel von Biologie, Technologie und kultureller Codierung von Körperlichkeit. So wird in einem Beitrag von Burkett, McNamee und Poothast13 die Frage gestellt, was denn eigentlich menschliches Laufen ausmache und wie »Behinderung« in Bezug auf Leistungssport zu verstehen sei. Das 13 | Burkett, Brendan, Mike McNamee und Wolfgang Poothast: »Shifting Boundaries in Sports Technology and Disability: Equal Rights or Unfair Advantage in the Case of Oscar Pistorius?«, in: Disability and Society (Band 26), Nr. 5 (2011), S. 643-654.

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heißt, die biomechanische Forschung nähert sich Fragen nach dem Status des Menschen und nach der kulturellen Gemachtheit von Gesundheit an. Denn wenn über die Laufeigenschaften der Cheetahs debattiert wird, steht die Mensch-Maschine-Grenze ebenso zur Debatte wie die Tier-Mensch-Grenze. Einige Stimmen aus den Disability Studies betonen den verstörenden Zusammenhang, der darin besteht, dass mit den Anspielungen an das Animalische die höhere Leistungsfähigkeit des tierischen Vorbilds im Raum stehe. Im Zusammenhang mit Fragen nach »Behinderung« erzeugt das Animalische problematische Resonanzen. Denn mit dem Tier ist der Echoraum einer Debatte um den Menschen als »Mängelwesen« (vgl. Kapitel 1) offen. Im Fall Pistorius hallt eine ganze Diskurstradition nach, die den Menschen als nicht-spezialisierten Sonderfall unter den Tieren begreift, als ein tragisches Wesen, das im Grunde nicht überlebensfähig ist und sich seine Überlebenstechniken aus der Tier- und Götterwelt zusammenstehlen muss. So erzählt es die griechische Sage von Prometheus, die zu Beginn des industrietechnischen Zeitalters als Mythos von Fortschritt und Hybris in Mary Shelleys Frankenstein oder: Der moderne Prometheus (1818) aktualisiert wurde. In dieser Diskurstradition ist ein behinderter Sportler ein Punkt in einem Kontinuum des prinzipiell mangelhaften Menschen, dieses Wesens, das mittels seiner Technologien sein Überleben sichert. Als »Beherrscher« dieser Technologien wäre er, Pistorius, exemplarisch für jenen Menschen, der sich in dauerndem Kampf mit der spezialisierten, gewalttätigen tierischen Natur befindet und sich mittels Technik wieder der animalischen Überlegenheit annähert. Das nietzscheanische Motiv des »Übermenschen«, der seine weichen Zuchtformen überwindet, klopft an. Auf der anderen Seite – und das ist der vielleicht noch beunruhigendere Teil dieses Diskurses – machen Beiträge aus den Disability Studies14 darauf aufmerksam, dass eine solche Auffassung des »behinderten« 14 | Vgl. z.B.: Swartz, Leslie und Brian Watermeyer: »Cyborg Anxiety. Oscar Pistorius and the Boundaries of What it Means to be Human«, in: Disability and Society (Band 23), Nr. 2 (2008), S. 187-190.

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Menschen immer auch gefährdet ist, Betroffene symbolisch in einen Bereich abrutschen zu lassen, in dem kategoriale Abwertungen als »nicht-mehr-menschlich« oder »noch-nicht-menschlich« lauern. »Kategorisierung« kann hier ganz im ursprünglichen, griechischen Sinn verstanden werden, als »Anklage«, als eine Operation, die soziale Konsequenzen nach sich zieht. Die Grenze zum Nicht-Menschlichen wird auch durch Bilder und Darstellungsweisen gezogen, etwa durch die Auflösung der menschlichen Gestalt. Man denke an einige der drastischen Szenen in Freaks (Ted Browning, 1932). Sie wird aber auch »kognitivistisch« gezogen. Diese Grenzziehung betrifft vor allem Menschen mit geistiger »Behinderung« beziehungsweise Menschen, die durch Alzheimer oder andere neuro-degenerative Krankheiten eine Reduktion jener kognitiven Fähigkeiten erleiden, die sie seit der Aufklärung als denkende, autonome Menschen mit rechtlichen und sozialen Ansprüchen qualifiziert. Wir begeben uns also mit dem »Animalischen« der Cheetahs auf das gefährliche Terrain des Monströsen, das auf der einen Seite von nicht-denkenden Tieren und auf der anderen Seite von Übermenschen, Robotern und Cyborgs umstellt ist. Mit Pistorius’ Laufprothesen, die im Grunde nichts mit biomechatronischen Hightech-Höhenflügen zu tun haben, sondern gut ausgedachte, mechanische Stelzen sind, die eine Katze zitieren, bewegen wir uns auf dem riskanten Territorium der Unter- oder Überschätzung dessen, was gemeinhin als »menschlich« gilt. Auf diesem Terrain ist es angebracht, sich äußerst bedachtsam fortzubewegen und sämtliche Vorannahmen darüber, was Tiere, Menschen und Maschinen sind, einzuklammern. Swartz und Watermeyer positionieren den Fall Pistorius in einem »posthumanistischen« Diskurs, für den bereits klar sei, dass das Terrain »exklusiven Menschseins« schrumpfe. Was nun aber nach der Epoche des Menschen kommt, ist völlig ungeklärt. Zum einen geht es in posthumanistischen Entwürfen um die – klar emanzipatorische – Aufwertung von Existenzweisen und Lebensformen, die nicht dem normativen Ideal des autonomen, sich selbst völlig transparenten, selbstbewusst denkenden Subjekts entspricht. Es ist eine Parteinahme für all jene, denen aufgrund ihrer an dieser Norm gemessenen

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»Mangelhaftigkeit« (Frauen, Kinder, koloniale Subjekte, Tiere, »Behinderte«) lange Zeit politische und gesellschaftliche Teilnahme verwehrt wurde. Die Parteinahme für nicht-menschliche Existenzweisen hält viele Versprechen bereit, ist aber auch potentiell eine Zone der Entrechtlichung: In einer Welt, in der ein hoher Standard im Rechtsschutz an den Status des Menschseins geknüpft ist, ist es brandgefährlich, diesen Status nicht für sich in Anspruch zu nehmen. Die Strategie, die Pistorius, Mullins und Herr verfolgen, ist: Flucht nach vorne, hin zu den Superhumans. Das bedeutet eine Überaffirmation der menschlichen Fähigkeit, das Gegebene zu überwinden, Hindernisse zu überspringen. Der Preis dafür ist jedoch – persönlich und gesellschaftlich – hoch. Für das Individuum ist der Preis die absolute Selbstbemeisterung, das Ausmerzen aller Schwächen, die Affirmation von Konkurrenz als Triebkraft des Sozialen. Gesellschaftlich und kulturell ist der Preis nicht minder hoch: Wer Supermenschen als Norm setzt, affirmiert nicht nur implizit die Mängelwesenthese, sondern auch die Ideologie der permanenten Selbstoptimierung, die Ausdehnung der Wertschöpfungskette auf die ganze Persönlichkeit. Wie verhalten sich die Sportregulierungsinstanzen auf diesem verminten Gelände? Auch für sie ist evident, dass es um weit mehr geht, als um den Fall Pistorius als solchen. Und ihm wurde auch von allen Seiten Integrität und die Erfüllung des Ideals der harten Arbeit an sich selbst attestiert. Die Bedenken betreffen eine zukünftige Ununterscheidbarkeit zwischen genuin individueller und artifizieller Leistung. Es wird eine Angst um die »Reinheit« des sportlichen Gedankens artikuliert. Man kann diese Ängste reformulieren: Es geht meiner Meinung nach um eine Angst davor, dass der Mythos von der Gleichheit aller Körper und der Universalität des Leistungs- und Trainingsgedankens sich auflöst. Elio Locatelli, Chef der Entwicklungsabteilung des IAAF, formuliert es für die Presse so: »It [der Fall Pistorius, KH] affects the purity of sport. Next will be another device where people can fly with something on their

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back.«15 Zugespitzt gesagt, sähen die Posthumanisten nichts lieber als fliegende Athleten und ignorieren dabei die Voraussetzungshaftigkeit von Technik, während die Sportinstitutionen verbissen an ihrem durch Dopingskandale, Sportgeräteindustrie und Trainingswissenschaften erschütterten Ideal eines natürlichen, universellen, jedem gleich gegebenen Körpers festhalten. Die Sportinstitutionen ignorieren die faktisch weltveränderende Macht von Wissenschaft und Technik gleichermaßen wie den sozialen Charakter von Übung und Training und die historisch-kulturelle Gewordenheit von Körperlichkeit überhaupt. Kommentare von Sportjournalisten erfassen das Problem manchmal besser und kommen zu radikaleren Positionen. So schrieb Eric Adelson 2008 für das Sportmagazin ESPN einen langen Kommentar, der klang, als wäre das Ende des Systems Leistungssport bereits ausgemacht: Technology, though, is quickly outpacing evolution, and few know how to respond. So we draw arbitrary lines: Creatine is fine, but HGH is not. Reading lips is fine, but videotaping pregame walk-throughs is not. A titanium rod beneath the skin is fine, but a prosthetic leg is not. We want our athletes to be superior, but not so superior that our children can’t grow up to be just like them. It’s why accused steroids users trumpet their reliance on »hard work,« as if hard work and performance-enhancing drugs didn’t reinforce each other like diet and exercise. […] A swim cap is a prosthetic; it smooths the »defective« surface of a swimmer’s head, making it more hydrodynamic. […] Some will complain that only the disabled have access to prosthetic limbs, while everyone can lace on space-age shoes. (Everyone who can afford them, that is.) Others will fret that some athletes might cut off a limb to gain a prosthetic advantage. And they just might. […] Young pitchers, after all, have already started opting for preemptive Tommy John 15 | Die Aussage wird u.a. zitiert in: Longman, Jeré: »An Amputee Sprinter: Is He Disabled or Too-Abled?«, in: New York Times vom 15. Mai 2007, online unter: www.nytimes.com/2007/05/15/sports/othersports/15runner. html?_r=2&ref=sports&oref=slogin&, Zugriff vom 18. Juli 2013.

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surgery because it makes tendons stronger. Tiger Woods also went the elective-surgery route to gain an edge on the links: LASIK surgery, to be exact, which can improve vision beyond 20/20. Anthony Gonzalez, meanwhile, is an undersized receiver for the Colts who sleeps in a hyperbaric chamber to saturate his blood with oxygen and gain fourth-quarter stamina. Is any of this fair? […] Advocates for the able-bodied will say that these athletes don’t have fake parts; their advantages are natural, unlike those offered by prosthetics and performance-enhancing drugs. Never mind that testosterone, produced naturally in the body, is a steroid. Never mind that some athletes produce more testosterone and so have more steroids than others. And never mind those other »unnatural« aids that we accept. Like contacts. And screws in knees. And titanium hips. And cochlear implants. […] What’s the difference between an amputee with a prosthetic and a lineman who has lost and regained use of his limbs? Or a point guard with a pacemaker? If a right wing loses an eye, would we make him wear a patch on the ice even if a mechanical eye allowed him to see off of it?16

Der Tonfall ist typisch für eine sehr gut informierte Sportberichterstattung, die längst nicht mehr dem Gründungsmythos des olympischen Gedankens, nämlich eines natürlichen Körpers, der von einem begabten Individuum perfektioniert wird, aufsitzt, in diesem Fall mit deutlich posthumanistischem Zungenschlag. Der Beitrag macht deutlich, dass die Sportöffentlichkeit im Einzelfall sehr viele Abweichungen vom Normalmodell von sportlicher Leistung als virtuoser Perfektionierung natürlichen Talents akzeptiert. Vor den Konsequenzen der zunehmend unklaren Verhältnisse zwischen Natürlichkeit und Artifizialität schreckt man aber zurück, zumal frivole Szenen der Selbstverstümmelung als Voraussetzung der Superperformance am Horizont erscheinen. Woran kein Zweifel mehr zu bestehen scheint, ist jedoch, dass die Zukunft des Sports in den Händen von Ingenieuren liegt:

16 | Adelson, Eric: »Let’em Play«, ESPN-Magazine, 14. April 2008, http:// sports.espn.go.com/espnmag/story?id=3357051, Zugriff vom 3. April 2013.

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The International Association of Athletics Federations is supposed [der Artikel stammt aus dem Jahr 2007, Anm. KH] to decide if Pistorius is eligible for the Olympics this spring. The possibilities: If Pistorius is a black swan, a statistical freak who would have been a world-class sprinter on natural legs, too, then no problem – let him run. And, if being an amputee is what gave Pistorius something to prove and turned him into a world-class sprinter, then no problem – let him run. But if he is the vanguard of a legion of plastic track-and-field terminators whose upper speed is a function of materials science and software instead of determination and training? The International Olympics Commission better start hiring some engineers.17

»Statistical freak« oder Vorbote einer Zukunft à la Terminator. Das wären wirklich zwei traurige Alternativen, die von vielen Details in den Selbstaussagen von Pistorius erfreulich konterkariert werden. In seiner autobiographischen Erzählung gibt es nicht wenige Momente des Mithandelns seines sozialen Umfelds und des unspektakulären Agierens von technischen Artefakten. Das interessiert mich hier. So spricht Pistorius an einer Stelle von jenen vielen Stunden, in denen in seiner Kindheit neue Prothesen angepasst wurden. Das Anpassen von Prothesen ist eine äußerst langwierige Angelegenheit, in der Orthopäde und Patient – und im Falle Pistorius: sein soziales Umfeld – zusammenarbeiten. Es wird gemessen, angepasst, ausprobiert, wieder gemessen, angepasst, ausprobiert. Die Anpassung ist deshalb so wichtig, weil bei schlechter Passung Verletzungen am Stumpf entstehen können, die sehr schmerzhaft sind und im schlimmsten Fall das Tragen der Prothese für Monate verhindern. Pistorius beschreibt seinen Bruder als denjenigen, der die Schnittstelle Stumpf/Prothese dauernd überwachte und kontrollierte, um ihm Schmerzen zu ersparen. Der prägnanteste Moment in Bezug auf das Mithandeln von Technik ist vielleicht, dass Pistorius, der immer schon ein sehr ambitionierter Sportler war, eigentlich nichts für den Laufsport übrig hatte. Er führt dies 17 | McHugh, Josh: »Blade Runner«, in: Wired 15. März 2007, online unter: www.wired.com/wired/archive/15.03/blade.html, Zugriff vom 30. März 2013.

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direkt auf die materielle Beschaffenheit der zur Verfügung stehenden Prothesen zurück. Mit den schweren Prothesen seiner Kindheit und Jugend konnte er ringen, Rad fahren, Gewichte heben, Rugby und Wasserpolo spielen, nicht aber im Hochleistungsbereich laufen. Erst mit den Cheetahs entdeckte er, dass seine Gesamtkonstitution gut für kurzzeitige Anstrengungen, wie den Sprint, geeignet ist und er musste alle Ausdauersportarten aufgeben, um die für den Sprint notwendige Muskulatur aufzubauen. Kurz: Viele Schilderungen machen deutlich, wie sehr die individuelle Performance von Pistorius die Leistung eines Kollektivs aus menschlichen und nicht-menschlichen Wesen (um Bruno Latours Formulierung zu verwenden) ist. Aus so einer Perspektive ist die Fetischisierung der individuellen Leistung im Sport, auf der das Reglement auf baut, ein Relikt aus dem voluntaristischen 19. Jahrhundert, ein Relikt, das aber nach wie vor Ethiken und Selbsttechniken von SportlerInnen ebenso prägt wie Zuschauererwartungen.

4. Normalisierung oder Parahumanität

Zurück zu den zwei traurigen Alternativen: »Statistical Freak oder Terminator«. Beide Versionen sind zwar aktuell dominante aber völlig unzureichende Interpretationen des paralympischen Sports. Entweder wird dieser als Königsweg zur Normalisierung von Behinderung begriffen (darauf deutet das Wort »statistisch« hin) oder als Experimentierfeld einer Ästhetisierung des grotesken Körpers, die mit einer Faszination am Technisch-Sublimen einhergeht. »Normalisierung« im Sinne Michel Foucaults oder Jürgen Links1 ist zweischneidig: Zum einen ist sie eine inklusive Gegenstrategie zum Modell des Asyls. Das »Asyl« steht für Strategien des Aussonderns, des Wegsperrens, des An-den-Rand-Drängens von denjenigen, die als volkswirtschaftlich »unproduktiv« oder »belastend« gelten. Normalisierung heißt hingegen – grob verkürzt –, dass es kein absolutes gesellschaftliches Innen oder Außen gibt. Hingegen existieren innerhalb der gesellschaftlichen Totalität Zonen des Normalen und Anormalen. Dazwischen finden sich breite Übergangszonen, in denen die Grade von Produktivität, Gesundheit und damit die Möglichkeiten der Teilhabe dauernd neu bestimmt werden. Jedes Engagement für die Rechte von Anderskörperlichen muss der Tendenz zur Normalisierung deshalb ambivalent gegenüberstehen. Normalisierende Tendenzen in ihrer Ambivalenz begegnen uns auf einer ersten und nicht unwichtigen Ebene in der Diskussion um die Bezeichnung der Personengruppe, deren Rechte vertreten wer1 | Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript 2007.

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den sollen. Ich habe in diesem Essay die Bezeichnung »behindert« in Anführungszeichen verwendet, da sie weder deskriptiv noch neutral ist. Ein Blick auf die englischsprachige Diskussion macht deutlich, warum nicht. Man unterscheidet im Englischen zwischen impaired (physisch beeinträchtigt), disabled (»behindert« durch die physische Beeinträchtigung) und handicapped (im Sinne von: durch die gesellschaftlichen Strukturen »behindert«). Richtige Bezeichnungen gibt es jedoch nicht, alle tragen ihren historischen Index. So gibt es Aktivistinnen, die durch die Überaffirmation von pejorativen Bezeichnungen (etwa »crip«) darauf aufmerksam machen, dass Ungleichheit nicht verschwindet, indem man sie nominalistisch aus der Welt hinaus komplimentiert. In Deutschland war es beispielsweise ein wichtiges Signal, die Initiative Aktion Sorgenkind im Jahr 2000 in Aktion Mensch umzubenennen, um einen veränderten gesellschaftlichen Umgang mit »Behinderung« zu kommunizieren und zu propagieren. »Behinderte« Menschen sollten nicht länger als bemitleidenswerte Opfer verstanden werden, die einer paternalistischen Fürsorge bedürfen, sondern als selbstbewusste Akteure. Aktion Mensch setzt offensiv auf Inklusion. Auf der Webseite heißt es: »Inklusion ist gelungen, wenn jeder Mensch von der Gesellschaft akzeptiert wird. Genauso wie er ist. Weil Unterschiede normal sind. Mit Inklusion wird aus dem Nebeneinander ein Miteinander und ein gemeinsamer Alltag selbstverständlich.« 2 Der schwierige Teil innerhalb der Zielerreichung ist selbstverständlich der konkrete Umgang mit Unterschieden. Denn im Zeitalter des Normalismus sind Unterschiede nicht länger per se problematisch, sondern nur manche Unterschiede in manchen Situationen. Der von Jürgen Link sogenannte »flexible Normalismus«3 arbeitet mithilfe von Normalverteilungen. Staatliche (und zunehmend auch private) Instanzen versuchen, ein möglichst weites Feld an Akteu2 | Vgl.: www.aktion-mensch.de/inklusion/index.php?et_cid=6&et_lid=12 519&et_sub=fkampagne---hauptnavigation, Zugriff vom 28. März 2013. 3 | Zu Behinderung und Normalismus vgl. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, Kap. 5.

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ren und Ressourcen mittels datensammelnder und -verarbeitender Methoden als Produktivkraft zu erfassen und mittels einer »minimal invasiven« Politik zu steuern. Solche normalisierenden Verfahren sind von Sozialwissenschaften, Ökonomie und Psychologie seit dem 19. Jahrhundert dazu verwendet worden, um Verhaltensmuster menschlicher Gesellschaften zu beschreiben und zu regulieren. Heutzutage sind sie durch die Möglichkeiten der digitalen Speicherung und Verarbeitung von Daten so einflussreich geworden, dass sie nicht nur der Planung von Staaten, sondern auch der Steuerung von Märkten dienen. Es sind dies Steuerungen, die weniger über Ausschluss und durch die Zuweisung fixierter sozialer Positionen und stabiler Identitäten operieren, als sie den Möglichkeitsraum menschlicher Handlungen als ganzen erfassen und mittels statistischer Verfahren Orientierungsmarken für erwünschtes Verhalten etablieren. Agency im flexiblen Normalismus bedeutet für das Individuum, aus einer beschränkten Vielzahl von Optionen ein spezifisches Set auszuwählen, die Komponenten aufeinander abzustimmen und in Rückkopplung mit anderen Akteuren zu überprüfen, ob die Zusammenstellung »passt« und das Individuum als solches erkennbar und »anerkennbar« 4 wird. Liberale und neoliberale Politik besteht folgerichtig in der Ermöglichung einer großen Bandbreite von Optionen innerhalb des Spektrums akzeptieren Verhaltens. Anormal oder anders ist nicht mehr so sehr der/ die Außenstehende, sondern wer seine/ihre Möglichkeiten nicht erkennen und wahrnehmen kann oder sich nicht in der Lage sieht, aus dem Fächer der Möglichkeiten seine/ihre Variante auszuwählen. Alterität im Sinne von Unterschiedlichkeit erscheint nur mehr dann als Problem, wenn sie in Form einer Störung auftritt: »Behinderte« Personen sind kein Problem, so lange sie Paralympioniken, Filmemacher oder Opernsänger sind, Transgender-Personen 4 | Zu Fragen der Anerkennbarkeit und Lesbarkeit von Subjekten vgl. Butler, Judith: Giving an Account of Oneself, New York: Fordham University Press 2005. Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

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ebenfalls nicht, so lange sie ihren Platz in ihrer kreativindustriellen Subkultur einnehmen und nicht dem Gesundheitssystem zur Last fallen. Normalität im Namen der Unterschiede ist dabei ein paradoxer Bezugsrahmen. Sie zu reklamieren kann bedeuten, gesellschaftliche Teilhabe einzufordern, die Forderung nach Normalität kann aber auch weiterhin – und subtil verstärkt – ein Werkzeug des Ausschlusses sein: Wer in keinerlei Leistungsschema (das sich auf physische, kognitive oder kreative Vermögen beziehen kann) inkludiert sein kann (oder möchte), wer partout keine Leistung bringen kann (oder möchte), der kann möglicherweise nicht mehr darauf hoffen, versorgt zu werden. Er wird schon selber laufen müssen, soweit er eben kann. Die Paralympics sind aus einer solchen Perspektive nur begrenzt dazu geeignet, ein politisches Statement im Sinne einer Radikalisierung der Inklusionsforderung über den Kreis der Leistungsträger hinaus zu sein. Zu stark sind sie in Konkurrenz-, Vermarktungs- und Produktivitätslogiken verstrickt. So formuliert der kurzarmige Regisseur (Niko von Glasow) des Films Mein Weg nach Olympia (2013), in dem er Olympioniken beim Training für London porträtiert, zu Beginn seine Bedenken einem seiner Protagonisten gegenüber: »Ich finde Sport doof«, sagt er, und dass es die Paralympics seiner Meinung nach nur deshalb gäbe, damit Menschen mit Behinderung wieder einmal beweisen könnten, dass sie normal seien. Deshalb ist wohl der Film, der sich um paralympische Sportler, deren Träume und Obsessionen dreht, kein Film über »Superhumans« geworden, sondern ein Film über das side-by-side-Prinzip: über Freundschaften, über das Nebeneinanderherlaufen, über Annäherungen, über Unverständnis, über die Möglichkeit, sich verunsichern zu lassen, über halbes Verstehen, halbes Erreichen-Können. Es ist ein Film, der eine mögliche »Parapolitik« der Behinderung vorstellbar macht. Eine solche Parapolitik hätte nicht Inklusion zu jedem Preis zum Ziel und auch nicht die Propagierung von Anderskörperlichen als »Superhumans«, sondern ein aufmerksames und respektvolles Nebeneinander. Und damit wäre doch schon viel erreicht.

4. Normalisierung oder Parahumanität

Eine zweite Lesart der großen Popularität der Paralympics ist die einer Lust an einer »Groteskisierung« von Körperlichkeit. Im Fokus steht hier nicht der individualisierte Körper, der sich in den Normalverteilungszonen von Attraktivität und Popularität beheimaten muss und darin nicht selten erschöpft, sondern ein Körper, der eine dionysische Überschreitung von Normalität zelebriert und ausstellt. Hans Ulrich Gumbrechts Kommentar zu den Paralympics vom 12. September 2012 in der FAZ offerierte eine solche Lesart. Gumbrecht assoziiert das klassische Ideal des apollinischen Schönen und der Anmut mit einem faden Egalitarismus und behauptet, dass aufgrund eines aktuellen, fundamentalen Misstrauens in Gleichheitsideale der drastische, groteske Körper des Behindertensports eine – in der Ästhetik der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts vorbereitete – erotische Anziehungskraft und Faszination entwickle: Wann immer sich solche Perspektiven ergeben, hat der von ihnen erschlossene neue Blick – etwa auf die strukturelle Zerstückelung eines AthletenKörpers, der sich erst durch Prothesen vervollständigt – etwas potentiell Erschreckendes, eben weil dieser neue Blick nicht mehr auf der Freundlichkeits-Wellenlänge des aufklärerisch Humanitären liegt. Andererseits kann mich niemand überzeugen, dass die Stimmung im ausverkauften Stadion bei der Abschlussfeier der Londoner Paralympischen Spiele bloß eine weitere Apotheose der Ethik von Toleranz und Egalitarismus war. 5

Dass die Körper der Paralympics faszinieren, eine geradezu erhabene Ästhetik entfalten, die mit dem Ungefügen und Unbegreiflichen mehr zu tun hat als mit einem apollinisch-athletischen Körper, ist einleuchtend. Und dass die Abschlussfeier der Paralympics mit ihrer apokalyptischen Cyberpunk-Ästhetik, die den »Meatmarket« 5 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Dionysische Faszination der Paralympics, FAZ vom 12. September 2013, online unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/ geisteswissenschaften/koerper-und-technik-dionysische-faszination-derparalympics-11894760.html, Zugriff vom 3. April 2013.

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in Steven Spielbergs A.I. (2001) evoziert, auf dem Androiden einer geifernden Menge Gladiatorenkämpfe liefern müssen, ist in der Tat verstörend. Und ja, es bietet sich an, diese Faszination als Auf begehren gegen eine Ethik der normalisierenden Inklusion zu lesen, vielleicht sogar gegen eine Ethisierung des markierten Körpers als Grundlage des Politischen. Die Faszination an den paralympischen Körpern wäre dann parallel zur Serienfigur Doctor Gregory House (Er ist ebenfalls ein Behinderter, der nur mit Krücke laufen kann, aber schnell Motorrad fährt, O. Pistorius lässt grüßen.) zu verstehen, dessen Vorliebe für käuflichen Sex und seine Ablehnung jeglicher eheähnlicher Beziehung zu Frauen gemeinhin als Auf begehren gegen die PC-Körperlichkeit, die das US-Fernsehen dominiert, interpretiert wird. Die Paralympics wären in der Tradition libertärer Befreiungs- und Ausschweifungsutopien zu sehen, die sich gegen die biopolitischen Agenturen richten, welche unser Begehren in Richtung Produktion und Reproduktion umleiten. Die Paralympics wären in der Tradition perverser, karnevalesker Rituale zu verorten, die eine temporäre Überschreitung des Akzeptablen und Erwünschten ermöglichen. Wie die Inklusionserzählung hat aber auch die Überschreitungserzählung ihre Grenze in den widersprüchlichen Effekten des flexiblen Normalismus. Dieser erweitert Handlungsspielräume (im Vergleich zu rigiden Disziplinierungsmodellen) und umstellt diese mit Nutzenkalkülen, macht ein Außerhalb von instrumentellen Beziehungen (zu anderen, zu sich selbst) immer schwerer vorstellbar. Die Feier der Überschreitung läuft aber ins Leere, wenn man bedenkt, dass auch die Überschreitung in diese Logik der Kapitalisierung von Differenz eingebunden ist: Auch die Überschreitung generiert Kapital, zumal symbolisches. Meine Vermutung ist, dass die Faszinationskraft der paralympischen Athleten viel eher darin liegt, dass sie den ultimativen Beweis dafür antreten müssen, dass der große Mythos des kognitiven oder affektiven Kapitalismus wahr ist; und zwar zumeist entgegen der eigenen Erfahrung. Der Mythos lautet: Jeder kann es schaffen, der nur hart genug (an sich) arbeitet. Filme wie Gold – Du kannst mehr als du glaubst, der 2013 bei der Ber-

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linale Premiere feierte und ebenfalls Porträts dreier paralympischer Athleten zeigt, wiederholen in jedem Bild diese Botschaft. Auch kleinere Filmproduktionen wie The Gimp Monkeys (USA 2012), der drei »behinderte« Kletterer bei der Besteigung des El Capitan im Yosemite-Valley zeigt, kennen nur das Thema des Aufstiegs durch Selbstdisziplin. Diese lässt sich am behinderten Körper besonders gut vorführen. Ich möchte deshalb die These Gumbrechts modifizieren: Die Faszination am verformten, dyonisischen Körper ist nicht Protest gegen den langweiligen, apollinischen Egalitarismus, sondern Ausdruck einer letzten Hoffnung, dass es eine egalitäre Grundlage von Wettbewerb gibt: Wenn »die« es trotz Behinderung schaffen, dann muss ich es auch schaffen können. Es ist aber auch eine dritte Lesart der Popularität der Paralympics denkbar, den Thomas Macho »inklusiven Humanismus«6 nennt. Eine solche Betrachtungsweise und Erzählung gegenwärtiger Hybridisierungen versucht auch Donna Haraway 7 auszuloten: Es wäre ein Weg, der den Humanismus (denjenigen der Selbstzivilisierung wie denjenigen der Menschenrechte) zuallererst als einen historisch spezifischen Weg bestimmt. Dabei tritt zu Tage, dass der Humanismus auf einer abendländischen Definition des Menschen aufsetzt, die als solche problematisch ist: Der Humanismus der Aufklärung als »regulative Idee« (Immanuel Kant) ging implizit vom Menschen als einem rational entscheidenden, über sich selbst und seinen Körper verfügenden Individuum aus. Mit der Zeit konnten sich Sklaven, Frauen und Anderskörperliche ebenfalls Zugang zu den Rechten für Menschen verschaffen, indem sie ihre Rationalität, Nützlichkeit und Selbstbeherrschung unter Beweis stellten. Mit Macho und Haraway geht es mir darum, die Population der politisch Handelnden und dabei den Humanismus selbst zu erweitern. 6 | Vgl. die Schlussbemerkungen in Macho, Thomas: Vorbilder, München: Fink 2011. 7 | Am weitesten treibt sie dieses Projekt in: Haraway, Donna J.: When Species Meet (Band 3), Posthumanities, Minneapolis: University of Minnesota Press 2008.

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Das wäre ein Humanismus, der nicht von einer Definition »des Menschen« ausgeht, nicht von »Mensch-sein« als einer unveränderbaren Qualität, sondern vom Humanismus als einem Horizont, in den potentiell vieles und viele eingeschlossen sein können, die gemeinhin nicht als Menschen gelten. In Erweiterung des spinozistischen Diktums, dass wir nicht wissen können, was ein Körper alles kann, können wir auch nicht wissen, wer oder was ein Mensch ist/ tun kann. Damit ist eine Arena des Handelns anvisiert, die teilsouveränen Akteuren (die wir letztlich alle sind) Raum gibt. Es ist die Idee einer politischen Arena, in der unendlich vielen Akteuren Artikulationsfähigkeit zugetraut wird und nicht nur denjenigen, die sich vernünftig äußern und souverän agieren. Ein zentrales Momentum ist denn, wer überhaupt gehört wird und ob Widerspruch möglich ist. Haraway verwendet dafür das Wort »response-ability«. In jeder Situation muss es das zentrale Anliegen sein, allen Anwesenden die Möglichkeit einer Erwiderung, eines Widerspruchs zu geben. Es müssen Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass alles sich melden kann. Die Dinge sprechen allerdings selten die menschliche Sprache. Sie melden sich auf ihre Art und Weise. Besser als der Begriff »posthuman« scheint mir derjenige einer »Kohumanität« zu passen, der in den Blick nimmt, was mit Menschen koexistiert. Vielleicht wäre aber noch passender: »Parahumanität« 8, ein Begriff, der weniger an eine friedliche Koexistenz als ein wildes Nebenund Durcheinander von unterschiedlichen Existenzformen denken lässt. Was heißt das konkret für den Umgang mit Behinderung? Zunächst heißt es, dass der Name Paralympics, trotz seiner problematischen (und semantisch unpassenden) Herkunft, unvermutet 8 | Zoë Sofoulis schlug den Begriff »parahuman« bereits 2002 vor: Sofoulis, Zoë: »Post-, nicht- und parahuman. Ein Beitrag zu einer Theorie soziotechnischer Personalität«, in: Angerer, Marie-Luise, Kathrin Peters und dies. (Hg.): Future Bodies. Zur Visualisierung von Körpern in Science und Fiction, Wien, New York: Springer 2002, S. 273-297.

4. Normalisierung oder Parahumanität

passend ist. Der Name lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass die ersten sportlichen Wettkämpfe von »Behinderten«, die in Großbritannien 1948 auf Anregung des Arztes Ludwig Guttman als Stoke Madeville Games durchgeführt wurden, für Querschnittgelähmte (engl. paraplegics, paralyzed) konzipiert waren. »Para« wird aber inzwischen auch damit assoziiert, dass die Spiele am gleichen Ort wie die »normalen« Olympischen Spiele stattfinden. Wünschenswert wäre nun, dass das »Para« noch stärker ein »Neben« wird. Vorstellbar wäre z.B. eine parallele Wettkampfchoreographie. Derzeit messen sich Olympioniken und Paralympioniken zwar am gleichen Ort, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Eine Parallelschaltung würde zum einen die Tendenz, die paralympischen Spiele als weniger wichtig oder zweitklassig einzustufen, unterlaufen. Und es würde den Blick darauf frei geben, wie artifiziell die Körper von LeistungssportlerInnen generell sind. Ein parahumanistischer Blick würde also grundsätzlich infrage stellen, was wir als sportliche Leistung verstehen. Die Paralympics könnten sich in diesem Kontext als überaus hilfreich dafür erweisen, die Voraussetzungshaftigkeit von jenen Regeln zu befragen, die Leistungen erst produzieren. Eines der Dauerthemen des Behindertensports sind nämlich die sogenannten »Startklassen«, manchmal heißen sie auch noch »Schadensklassen«, was an den Versicherungs- und Wohlfahrtsstaats-Kontext zurückverweist, dem der Behindertensport entstammt. Heutzutage sind die paralympischen Athleten in unterschiedliche Startklassen eingeteilt, die sich großteils nach der Art der Behinderung, manchmal aber auch nach Funktionskriterien richten. Grundsätzlich wird eingeteilt in: AthletInnen mit Sehschwäche/Blindheit, AthletInnen mit Amputationen, Gelähmte AthletInnen, AthletInnen mit cerebraler Parese, AthletInnen mit geistiger Behinderung. Eine weitere Klasse trägt schlicht die Bezeichnung »Les Autres« (im Sinn von: »alle anderen«). Die letzten beiden Klassen zeichnen sich dadurch aus, dass es innerhalb der Gruppe keine weitere Differenzierung gibt und dass die AthletInnen in der Regel ohne Hilfsmittel antreten. In allen anderen Klassen gibt es vielerlei Graduierungen, die immer

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wieder Anlass zu Auseinandersetzungen bieten. Das IPC (International Paralympics Committee) setzt sich seit längerem – mit dem bekannten Fairness-Argument – für eine nicht-behinderungs-, sondern funktionsbezogene Graduierung ein. Im Schwimmsport ist sie durchgesetzt, in der Leichtathletik nicht. Die Diskussion ist interessant, weil hinter den beiden Klassifizierungsschemata eine je andere Vorstellung von Behinderung liegt. In der Leichtathletik operiert man mit Klassen von Einschränkungen oder Mängeln: Die AthletInnen mit cerebraler Parese treten nie gegen Amputierte an, sondern nur gegen Athletinnen mit dem gleich eingestuften Grad von Parese. Im Schwimmsport treten hingegen tendenziell alle SportlerInnen mit mechanischen Einschränkungen in einer Gruppe an, sie werden nach ihren Bewegungsmöglichkeiten funktional graduiert, etwa nach dem Muster: »AthletInnen, die uneingeschränkt Arme und Hände benutzen können, ohne Funktionalität in Rumpf und Beinen, SchwimmerInnen haben Koordinationsprobleme.« Diese Kategorie umfasst Athletinnen mit cerebraler Parese, solche mit Paraplegie als auch beinamputierte SchwimmerInnen. Die Tendenz zur funktionsbezogenen Klassifizierung steht in engem Zusammenhang zu Veränderungen innerhalb des paralympischen Sports.9 Wie erwähnt, sind die Anfänge des Behindertensports eng an therapeutische Ziele gekoppelt. In der nächsten Phase (bis in die 90er-Jahre) ging es deutlicher darum, für die Anliegen der Behinderten eine Öffentlichkeit zu schaffen. Seit der Verkoppelung mit den Olympischen Spielen (1991) ist eine Tendenz zu einer stärkeren Standardisierung unverkennbar: Die vielen unterschiedlichen Startklassen erschweren das Marketing der einzelnen Veranstaltungen. Funktionale Gruppierung hat den Vorteil, dass die Anzahl der Wettkämpfe insgesamt geringer wird und damit die mediale Berichterstattung einfacher. Die funktionale Einstufung von AthletInnen ist aber notorisch schwierig. Immer wieder gibt es Beschwerden über falsche Einstufungen und es ist auch der Fall 9 | Vgl. dazu: Howe, P. David: The Cultural Politics of the Paralympic Movement. Through an Anthropological Lens, London: Routledge 2008.

4. Normalisierung oder Parahumanität

möglich, dass ein Athlet/eine Athletin aufgrund guter Trainingserfolge in eine höhere Klasse aufrückt. Warum dieser lange Exkurs? Der Streit um die richtige Klassifizierung macht deutlich, wie artifiziell die Grundannahme des Leistungssports insgesamt ist, die auf eine prinzipielle Gleichheit aller Körper rekurriert. Denn natürlich gilt für Normalkörperliche wie für Behinderte gleichermaßen, dass Körper niemals gleich und auf sehr unterschiedlichen Gebieten ganz unterschiedlich leistungsfähig sind. Nur die Fiktion, dass die Körper in einem utopischen Urzustand äquivalent sind, ermöglicht die Idee eines freien, fairen Wettbewerbs. Es ist einleuchtend, dass diese Idee des Körpers mit dem eines freien Markts gekoppelt ist, auf dem jede/r jede Ware tauschen kann. Und für Sport und Markt gilt: Entgegen der Äquivalenzbehauptung haben sie vielerlei materielle und immaterielle Prozesse zur Voraussetzung. Märkte – wie auch der Sport – sind aber nicht gewalttätig und ungerecht, weil sie voraussetzungsvoll sind, sondern immer nur dann, wenn sie so tun, als wären sie es nicht. Aus dem Behindertensport könnte deshalb der Sport insgesamt lernen, dass es eine sinnvolle Praxis ist, ungleiche Voraussetzungen herauszustellen, zu markieren, zu bezeichnen, anstatt sich auf eine imaginäre, abstrakte Gleichheit zu beziehen. Das allerdings würde den Leistungssport fundamental verändern, vielleicht sogar abschaffen. Ein »Parahumanismus« würde zudem die Aufmerksamkeit vom Individuum und seinen Leistungen zum kooperativen Charakter von Sport verschieben. Das würde auch die Einschätzung eines Falles wie den von Oscar Pistorius verändern, der – wie geschildert – zwischen Individualismus und »Ingenieurismus« festhängt. Durch einen parahumanistischen Blick könnte man Sport als eine bestimmte Form der Assoziierung von Menschen, Geräten und Infrastrukturen begreifen, die in ihrer Kollektivität nicht weniger virtuos erscheinen würde als der individuelle Leistungssportler. Mein Lieblingsfilm über Sport, Alterität und Prothesen ist erst kürzlich in den Kinos gelaufen, hat mit dem Milieu der Paralympics aber nichts zu tun. Wahrscheinlich ist der Leistungssport überhaupt der falsche Ort, um über Parahumanität sinnvoll nach-

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zudenken. Denn zu groß ist hier der Glaube, dass individuelle Leistungsbereitschaft die Voraussetzung für Teilhabe ist, zu heftig wird die Tatsache der Vergesellschaftung des Körper in und mit Technologien abgewehrt, zu sehr sind seine Bilder auf mediale Vermarktung hin orientiert. Der Film, den ich meine, war Jacques Audiards Der Geschmack von Rost und Knochen (2012). Die ProtagonistInnen Ali und Stephanie sind – wie all die Athleten in den bereits erwähnten Sportfilmen – »very physical«: Der arbeitslose Ali, der unverhofft die Verantwortung für seinen fünfjährigen Sohn auferlegt bekommt, legt recht wahllos Frauen flach, wenn ihm (und den Frauen) danach ist und er kämpft in illegalen Boxkämpfen in abgelegenen Dörfern, um zu Geld zu kommen. Stephanie ist OrkaTrainerin in einem marine land, bis sie bei einem Unfall mit den Walen beide Unterschenkel verliert und in eine tiefe Depression versinkt. Diese beiden Charaktere haben auf einer figurativen Ebene Ähnlichkeit mit den paralympischen AthletInnen: Beide definieren sich über ihre außergewöhnlichen Körper, beide sind im (legalen oder illegalen) Showgeschäft tätig. Der Film erzählt aber nicht die Geschichte der Selbstbemeisterung, die zum Erfolg führt (obwohl Ali am Ende ein auf lokaler Ebene »erfolgreicher« Boxer wird), sondern er erzählt vom Zerbrechen, vom Herunterkommen, vom sich immer wieder aufrappeln, vom Weitermachen ohne eine Ethik der Selbstoptimierung. Stephanie geht nicht wieder schwimmen, um sich zu ertüchtigen oder um in ihren Job zurückzukehren, sondern nur, um das Meer zu spüren. Die beiden fangen an miteinander zu schlafen, weil es irgendwie notwendig ist und nicht, weil der Akt zur Heilung von Körper und Seele führt. Die Gründe dafür, etwas zu tun oder zu lassen, sind immer nur halb nachvollziehbar, lakonisch. So wird Stephanie auf ihren Prothesen beinahe ohne ihr Zutun Alis Managerin in der Halbwelt des Amateurboxsports. Und irgendwann macht sich Ali davon, obwohl er bei Freundin, Schwester und Sohn bleiben könnte. Daraus entspinnt sich aber dennoch ein Gewebe von Bezogenheiten, von Hingabe und Liebe. Im Gegensatz zu Gold oder The Gimp Monkeys ist es nicht die Überwindung des Hindernisses durch Disziplin, die die Charaktere handlungsfähig

4. Normalisierung oder Parahumanität

macht, sondern ein feines Geflecht von Abhängigkeiten und Verantwortung, das man sich an keiner Stelle hundertprozentig ausgesucht hat; wie man sich eben auch seine soziale Herkunft (Ali) oder einen Unfall mit einem Killerwal (Stephanie) nicht ausgesucht hat. Das Widerfahrnis, das was einem zustößt, die Ungerechtigkeit, die das Leben eben ist, bleibt ein solches. Als Widerfahrnis – und das macht den Film besonders – kann das Leben aber trotzdem glücken, glücklich machen, ergreifen. Was den Film ebenfalls besonders macht, ist, dass sich die drastische Anwesenheit der Körper auf der Leinwand in Bilder übersetzt, die die Wahrnehmung des Zusehers strapazieren, fordern, aber sie auch in einen Rausch geraten lassen. Die Bilder selbst sind intensiv, die Zeit und Raumwahrnehmung gerät in einen Zustand der Schwebe und der Unschlüssigkeit. Eines der eindrucksvollsten und sich mehrmals wiederholenden Bilder ist dasjenige, in dem Ali die ohnbeinige Stephanie aus dem Meer auf dem Rücken zur Strandliege trägt, wo die beiden noch still weiterverharren. Genau so fühlt man sich als Zuschauerin des Films: getragen, leicht und schwer zugleich. Und die Prothesen? Sie sind Anlass zur Freude, erlauben sie doch Stephanie, sich wieder selbständig bewegen zu können. Sie sind – auch das – Fetische und Waffen: Als Wettmacherin setzt Stephanie die Prothesen ein, um die Jungs zu beeindrucken. Aber sie sind auch ein Hindernis, müssen vor dem Sex immer unter dem Bett verschwinden. All das sind Prothesen für Behinderte: ein Mittel, unauffällig zu werden, ein Fetisch, eine Waffe und manchmal: selbst eine Behinderung. Prothesen sind parahumane Mithandelnde und als solche weder gut noch schlecht, weder mechanische Zurichtung noch reine Potentialität, stets aber: Teilnehmerinnen an einer Veranstaltung, die man gemeinhin Lebenslauf nennt.

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5. Warum Medien keine Prothesen sind

Ein populärer Typus des erweiterten Menschen ist ein Geschöpf der Medientheorie: Marshall McLuhans medial erweiterter Mensch, den er in Understanding Media. The Extensions of Man (1964) entworfen hat. Es ist eine seltsame Gestalt: Ein Narziss mit Disposition zum Geistigen, verurteilt zur Kommunikation, ein Wesen, das sich medientechnisch erweitert und dabei bewusstlos seinen Medien ausgeliefert ist. In McLuhans Theorie existieren zwei Arten von MediennutzerInnen. Diejenigen, die den rückkoppelnden Effekten der Medien hilflos ausgeliefert sind und diejenigen, die hinter die Kulissen schauen können, die die Effekte der Medien auf ihre Sinne präsent halten. In McLuhans Auffassung sind das Künstler und Theoretiker. Medien und die Ökonomie der Sinneswahrnehmung sind zudem dergestalt ineinander verschraubt, dass jedes Medium (sei es das Rad, das Geld, das Licht oder der Computer) nicht nur in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift, sondern das interne Verhältnis der Sinne zueinander radikal umgestaltet. Medien greifen demnach stets in ein fragiles Gleichgewicht der Sinneswahrnehmung ein. Wenn beispielsweise der Sehsinn durch visuelle Medien gesteigert wird, werden die anderen Sinne tendenziell anästhesiert. Als Aristoteliker geht McLuhan davon aus, dass die Wahrnehmung, dass wahrgenommen wird zentral für das ist, was wir üblicherweise Bewusstsein nennen: Das Bewusstsein ist nicht ein vom Körper abgetrennter Bereich, mittels dessen der Wahrnehmende plötzlich aus sich heraustritt und sich magischerweise selbst beobachten kann, sondern es ist ein Resultat des Zusammenspiels der Sinne untereinander. Erst das Zusammenspiel der

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Sinne ermöglicht Urteilsvermögen; zunächst die Unterscheidung verschiedener Sinnesqualitäten voneinander, dann die Wahrnehmung einer Differenz zwischen innen und außen, die Unterscheidung zwischen ich und Welt. Kommt nun durch ein neues Medium dieses Equilibrium ins Ungleichgewicht, droht eine gefährliche, narzisstische Selbstvergessenheit: Das neue Mediengefüge überwältigt die Sinne, bildet einen undurchdringlichen Kokon, dem der/die Wahrnehmende ausgeliefert ist. Dieses undurchschaubare Mediengefüge macht Menschen regierbar durch diejenigen, die die je neue Medienökologie begreifen können. Der medial erweiterte Mensch ist also gleichzeitig derjenige, der am besten regierbar ist. An dieser Stelle setzen die Thesen von Bernard Stiegler ein, der in Analogie zu Michel Foucaults Begriff der Biomacht von einer Psychomacht der Medien spricht: Medien bilden demnach eine Infrastruktur für unmerkliche Regulationen von Affekt und Kognition. Technikphilosophisch ist ihm – wie McLuhan – das Moment der Selbstvergessenheit des medialen Dispositivs wichtig. Das Problem ist demnach weniger, dass in medialen Infrastrukturen Machtverhältnisse eingeschlossen sind, als dass wir die Tendenz dazu haben, diesen Umstand zu vergessen.1 Solcherart Medientheorie basiert auf prothetischen Motiven. Medien sind in ihnen als notwendige Prothesen des Mängelwesens Mensch konzipiert, für das bereits Sigmund Freud den ironischen Ausdruck »Prothesengott« geprägt hat: Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. […] Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung aller – nein, der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling – »oh inch of nature!« – eintreten muß. […] Er 1 | Stiegler, Bernard: Von der Biopolitik zur Psychomacht. Logik der Sorge I.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009.

5. Warum Medien keine Prothesen sind

hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. 2

Die anthropologisch-technikphilosophische Grundierung einer solchen Kultur- und Medienauffassung lässt sich in Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik von 1877 finden3, und sie zieht sich bis in die Thesen Marshall McLuhans hinein. Stets muss ein Mangel gefüllt werden, etwas Fehlendes soll kompensiert werden. Der Mensch erscheint als hilfloses Wesen, dem nichts anderes übrig bleibt, als sich mittels Technik und Kultur notdürftig zu reparieren. Darin besteht laut Freud das Unbehagen in der Kultur: Die notwendige Verkünstlichung und Mediatisierung von Kommunikation, von Sinnlichkeit, von Umgangsweisen mit der Welt erscheint schal, bedrückend, einschränkend, als Ersatz. Diesem Umstand kann man – wie Freud – mit kühler Ironie begegnen, mit einer Anklage der Psychomächte, die aus der Bedürftigkeit Kapital schlagen (Stiegler) oder mit einer Utopie der totalen Kommunikation (McLuhans global village). Es bleibt aber höchst fragwürdig, ob die Grundannahmen zutreffend sind.4 2 | Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: Studienausgabe (Band IX), Frankfurt a.M.: S. Fischer 1974 (1930), S. 197-270. S. 221f. 3 | Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig: Verlag George Westermann 1877. 4 | Die Rekonstruktion einer Genealogie prothetischer Motive in Kulturund Medientheorie habe ich in meiner Habilitationsschrift Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne versucht, die noch nicht publiziert ist.

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Was, wenn wir Medien nicht als notwendig und kompensierend, sondern als welterzeugend und kontingent, als historisch und lokal spezifisch betrachten? Als Infrastrukturen des Fühlens, Denkens, Handelns, die eine relative Stabilität erreichen können, die sind, wie sie sind, aber nie notwendigerweise? Wie Joseph Vogl in einem Text über die Medien der Finanzmärkte schreibt: Es gibt keine Medien, jedenfalls keine, die substantiell und als solche stabil sind.5 Medien sind freilich ebensowenig gleichgültige Werkzeuge, die Daten verarbeiten, speichern und übertragen. Sie schaffen die Voraussetzung für das, was sie prozessieren, speichern und übertragen und sie schreiben sich darin ein. Sie sind mehr als neutrale Gefäße, aber weniger als ein a priori, keine Letztbegründung garantiert ihr So-Sein. Wenn Medien also keine Prothesen sind, weder im Sinne einer notwendigen Erweiterung einer mangelhaften Physis, noch im Sinne einer Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln, wie können wir sie verstehen? Vielleicht ist es hilfreicher, danach zu fragen, was sie tun und nicht danach, was sie sind. Medien sind ein Dazwischen, sie trennen, was sie verbinden, sie greifen – soweit bin ich einverstanden mit McLuhan – in das Verhältnis der Sinne untereinander ein, verändern Raum- und Zeitwahrnehmung. Sie verändern auch Selbstbezüge und sie arbeiten an »Aufteilungen des Sinnlichen« (Jacques Rancière) mit. Medien sind nicht-menschliche Anwesenheiten in menschlichen Beziehungen und sie unterhalten Beziehungen untereinander. Sie vermitteln außerdem als Kulturtechniken Naturverhältnisse: Sie regeln – beispielsweise in Form von Architekturen – das Innen und Außen von Stadt und Land, von Kultur und Natur. In Form von Zooarchitekturen, Schlacht- und Vertriebsstruktur regulieren sie unser Leben und Sterben mit Tieren. Als Experimentalsysteme bilden sie einen semistabilen Rahmen der Entscheidung darüber, was Wissen ist und was nur Vermutung, was als rational gilt und was als irrational. Medien möchte 5 | Vogl, Joseph: »Taming Time. Media of Financialization«, in: Grey Room (Band 56), Winter 2012, S. 72-83.

5. Warum Medien keine Prothesen sind

ich deshalb vielmehr als Milieus verstehen, in denen etwas Geltung und Wirksamkeit erlangt. Ist man damit aber nicht wieder bei Marshall McLuhan? Auch er versteht Medien ja als »Umwelten«. An einer Stelle beschreibt er die verbreitete Vergessenheit den Medien gegenüber mit der Allegorie eines Fischdaseins: Ebenso wenig, wie man Fischen erklären könne, dass sie im Element Wasser lebten, könne man modernen Menschen ihre medialen Umwelten deutlich machen.6 Alles steht und fällt mit der Frage danach, wie man ein »Milieu« konzipiert. Der Begriff der Umwelt tendiert dabei in eine »naturalistische« Richtung, in Richtung einer natura naturata, einer Natur die ist, wie sie (geworden) ist, während der Begriff des Milieus in Richtung einer natura naturans, eines in Veränderung begriffenen Geflechts von Kräften und Beziehungen tendiert. Das heißt natürlich nicht, dass in diesem Geflecht Macht abwesend ist. Im Gegenteil ist sie andauernd und an jeder Stelle anwesend. Sie ist aber keine in eine eindeutige Richtung agierende Macht, die von »den Medien«, »der menschlichen Natur«, »der Gesellschaft« ausgehen würde. Sie artikuliert sich eher in mikroskopischen Quanten, formiert sich dabei punktuell zu einem Block, der Stabilität und Unvermeidbarkeiten suggeriert. Was heißt das für die (Bio-)Technologien, um die es mir hier geht? Es heißt, dass sie, sosehr sie unsere Welt- und Selbstbezüge prägen, ein historisch spezifisches Gefüge bilden. Sie sind in einer fundamental kontigenten, historischen Situation entstanden, in der Übergänge zwischen Biologie und Ingenieurswissenschaften, zwischen Anthropologie, Soziologie und Informationstheorie möglich waren. Man kann dies das kybernetische Momentum nennen. Trotz einer longue durée bestimmter regelnd-kontrollierender Denkfiguren seit dem 19. Jahrhundert hat das kybernetische Momentum 6 | McLuhan, Marshall, Quentin Fiore und Jerome Agel: War and Peace in the Global Village, renewed by Jerome Agel, Corte Madera: Gingko Press 2001 (1968). S. 174. Vgl. dazu auch die Einleitung in: Brandstetter, Thomas, Karin Harrasser und Günther Friesinger: Grenzflächen des Meeres, Wien: Turia + Kant 2009.

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seinen großen Auftritt Ende der 40er-Jahre. Zu diesem Zeitpunkt waren Konzepte von Steuerung und Regulation nicht länger nur theoretisch denkbar, sondern in Rechnersysteme technisch implementierbar. Dazu kommen weitere Prozesse und Akteure: Der kalte Krieg, der technisch-wissenschaftlichen Fortschritt zur obersten staatlichen Agenda machte und die interdisziplinäre Forschung als besonders förderwürdig erachtete. Dies ermöglichte den regen Austausch zwischen Ingenieuren, Mathematikern, Biologen, Anthropologen, Psychologen im Zuge der Macy-Konferenzen7 und schuf die Voraussetzungen für die Zirkulation von Wissen zwischen Informationstheorie und Medizin, zwischen Robotik und Neurowissenschaft. Es brauchte aber auch eine (im reichen Westen) Überschüsse produzierende Ökonomie, die Arbeitskraft freisetzte und einen Markt für Gesundheits- und Kommunikationsprodukte schuf. Weiters waren post- und neokoloniale Wirtschaftsverhältnisse entscheidend, die das outsourcing von Hightech-Produktion in Billiglohnländer möglich machte; eine globalpolitische Situation, die die ethisch fragwürdige und schier endlose Verfügbarkeit von günstigen Rohstoffen für Computer, Telefone etc. gewährleistete. Was die Motive und Handlungsoptionen der menschlichen Akteure (Wissenschaftler, Produzenten, Konsumenten) angeht, sind Konzepte von Interkonnektivität, Selbstverwirklichung und Gesundheitsvorsorge entscheidend, die sich aus Ethiken der Selbstsorge herauspräpariert haben. Mit dem »Vitalozentrismus« 8 des 19. und 20. Jahrhunderts hat die Selbstsorge ein Set an Handlungsanweisungen generiert,

7 | Vgl. dazu: Pias, Claus (Hg.): Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946-1953, Bd. 1: Transactions, Berlin: Diaphanes 2003; ders.: Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946-1953, Bd. 2: Essays & Dokumente, Berlin: Diaphanes 2004. 8 | Den Begriff »Vitalozentrismus« hat Petra Gehring in Gesprächen mit Philipp Ekardt und der Verfasserin im Rahmen der Installation Das Milieu der Toten, die von Hannah Hurtzig für die Wiener Festwochen 2013 produziert wurde, geprägt.

5. Warum Medien keine Prothesen sind

das andauernd an das Individuum appelliert, zu kommunizieren, sich selbst gesund zu halten und seine Produktivität zu verbessern. Wenn der biotechnisch hybridisierte Körper also ein Gefüge, eine Konstellation, eine assemblage ist, die ist, wie sie ist, die aber auch anders sein könnte, müssen wir daraus nicht die Konsequenz ziehen, dass es einen Körper 2.0 nicht gibt, ebenso wenig, wie es Medien in einem substantiellen Sinn gibt? Denn der Ausdruck 2.0 kann nichts anderes meinen, als dass mit Blick auf eine Vorgängerversion eine Verbesserung stattgefunden hat, dass es eine offene Stufenleiter hin zur Perfektion gibt und dass uns nichts anderes übrig bleibt, als die nächste Stufe zu erklimmen. Mit einem Medienbegriff, der von Milieus der Hervorbringung (von Wahrnehmung, von Körper, von Sozialität, von Maschinen) ausgeht, gibt es hingegen keine Stufen und auch keine Verbesserungen. Es gibt aber gute und weniger gute Lösungen für situationsspezifische Probleme. So mag es sein, dass für Stephen Hawking das durch und durch technische Milieu seiner Expression genau richtig ist, ja, etwas Neues hervorbringt, Gedanken zur Entfaltung bringt, während das gleiche technische environment für jemanden mit der gleichen körperlichen Einschränkung eine weitere »Behinderung« bedeuten kann. Eine weitere Konsequenz eines solchen Medienbegriffs wäre es, Scylla und Charbidis der Über- und Unterschätzung »des Menschen« zu durchschiffen, die Theorien der Medien und Technikphilosophie so häufig prägen. Weder wäre der Mensch dann immer schon gottgleich oder zumindest auf dem Weg zu göttlichen Kräften und Vermögen, noch müsste er als homo compensator dauernd seinen Platz im Tierreich erstreiten. In einem Milieu mit Maschinen, Tieren, Pflanzen, Geologien, Sternenkräften, Bakterien gibt es nur konkrete, aber historisch kontingente Relationen und Artefakte. An jedem Gedanken arbeitet ein anderer mit, an jeder Handlung partizipiert eine andere, jeder Affekt ist vermischt mit weiteren Affekten, die Wahrnehmung nimmt sich im Konzert mit anderen Wahrnehmungen wahr. Das alles macht eine politische Haltung und eine Kritik der Medien nicht weniger notwendig. Es macht beides umständlicher und vielleicht weniger glamourös. Denn von Akteuren

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dicht besiedelte Milieus vertragen große Gesten der Kritik meist nicht sehr gut, aber sie erlauben und verlangen danach, Position zu beziehen. Man kann dann die Aufgabe der Medienkritik in den unübertroffen klaren Worten Donna Haraways reformulieren: »Stay where the trouble is.«9 And trouble there is plenty.

9 | Haraway, Donna und Vinciane Despret: »Stay Where the Trouble Is. Vincianne Despret und Donna Haraway im Gespräch mit Karin Harrasser und Katrin Solhdju«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 1 (2011), S. 91-102.

6. Brillen und andere Gläser

Wie sind vor diesem Hintergrund Konsumgüter zu verstehen, die eine Verbesserung körperlicher und kognitiver Vermögen in Aussicht stellen? Mit Blick auf die Rob Spences Idee (vgl. Kapitel 2), direkt aus der Augenhöhle heraus zu filmen, einer Idee, die zwischen Allmachtsphantasie und grotesker Körperlichkeit changiert, können wir uns fragen, was genau das Versprechen der Google-Datenbrille ist, die Ende 2013 auf den Markt kommen soll. Ich muss dafür ein paar Umwege gehen. Der Prothesenträger ist ein markiertes, ein durch eine Differenz ausgezeichnetes Individuum. Ein Individuum, das ein einziges Vermögen, eine einzige Eigenschaft augenfällig macht. Es ist das äußerlich sichtbare Gerät, die Prothese, die diese eine Eigenschaft ins Bewusstsein rückt. Die Beinprothese verweist auf das Bein und das Gehen, die Augenkamera auf das Auge und das Sehen. Prothesen stellen die Sinnesleistung aus, sind in diesem Sinn reflexiv. Wenn – mit Marshall McLuhan gesprochen – Brille und Kamera der Intensivierung eines einzigen Sinns, des Sehsinns dienen, so sind sie gleichzeitig dieser Sinn für andere. Schon eine Brille ist in dieser Logik ambivalent: Als Medizintechnik verweist sie auf einen Mangel, in ihren medialen Qualitäten auf die Steigerung einer Sinnesqualität. Für eine Semantik des Brillentragens heißt das: Es steht für Individualität und Intellektualität als Resultat der Steigerung des visuellen Vermögens und des Vermögens, zu »Erkennen«, aber auch für die Vernachlässigung anderer Wahrnehmungsqualitäten. Brillentragen steht für eine Übertreibung des Gesichtssinns. Wer eine Brille trägt, sieht mehr, das aber nur auf einem bestimmten

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Gebiet – in der Weite oder in der Nähe. Zudem verschwinden die Augen des Brillenträgers/der Brillenträgerin hinter dem Glas. Die Augen können damit nicht mehr als unverstellte Spiegel der Seele fungieren, sondern werden durch die Gläser verzerrt ansichtig. In dem Sinn ist der Brillenträger ein zweifaches Monster. Versteht man das Monster als ein Sichtbarkeitsproblem (lat. monstrare heißt zeigen, hinweisen), ist die Brille zwar die Lösung eines Sehproblems für seinen Träger, sie »stigmatisiert« ihn aber gleichzeitig für seine Mitwelt. Körperliche Alterität ist in Zeiten der normalisierenden Kontrollgesellschaft – wie bereits diskutiert – komplex geworden: Einerseits werden Abweichungen als »originell« geschätzt und demokratische Gesellschaften sind fraglos bestrebt, möglichst inklusiv zu agieren. Menge und Konsequenz von Inklusionsbemühungen gelten als ein Gradmesser für Demokratiefähigkeit. Inkludiert wird allerdings immer nur soweit die Normalitätszonen reichen. Diese Normalitätszonen sind historisch gewachsene Toleranzbereiche und sie sind derzeit in erster Linie durch ökonomische Bedingungen begrenzt. Dass Brillenträger, wie in Kambodscha unter der Herrschaft der Roten Khmer, als vermeintliche Intellektuelle und damit als potentielle Feinde eines kommunistischen Bauernstaates verfolgt werden, ist in einer normalistisch-demokratischen Gesellschaft unwahrscheinlich. Der Trend zur übergroßen Fensterglas-Brille deutet hingegen auf etwas hin, das mit den traditionellen Instrumenten der Kritik kaum erklärt werden kann: Das Begehren danach, durch eine symbolische Reduktion körperlicher Vermögen zum besonderen Individuum zu werden. Fragen der Differenz und der Aussonderung haben sich offenbar verkompliziert: Brillen zu tragen ist für alle, für beide Geschlechter, für Kinder und Erwachsene gleich normal oder anormal. Dem stehen der anhaltende Trend zu Kontaktlinsen gegenüber, sowie die Möglichkeit, sich die Sehschwäche weglasern zu lassen. Am liebsten also: Die Sehschwäche weglasern und dann eine Brille mit Fensterglas kaufen, damit jeden Tag aufs neue über den passenden Auftritt, die passende performance entschieden werden kann. Brillen

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sind nicht nur Sehhilfen, sondern sichtbare Zeichen einer Differenz, die man – je nach Situation – exponieren oder zum Verschwinden bringen möchte. Brillen helfen nicht nur beim Lesen von Zeichen, sondern sind selbst Zeichen, (modische) Markierungen. Bleiben wir jedoch bei der Kernfunktion der Brille: ihre Eigenschaft als Sehhilfe und als Mittel zur Korrektur der Linse. Damit etwas korrigiert werden kann, muss zunächst ermittelt werden, was nicht stimmt. Sehschwäche ist ein Produkt kultureller Fabrikationen und steht in engem Zusammenhang damit, was als wünschenswert, wertvoll, notwendig oder unabdingbar erachtet wird. Die zentrale Rolle, die die Kulturtechnik des Lesens in westlich geprägten Gesellschaften (also inzwischen beinahe überall) einnimmt, produziert so ein Phänomen namens Sehschwäche mit. Wie sehr die Kulturtechnik des Lesens mit der Pathologie der Fehlsichtigkeit verklammert ist, zeigt die Form des gebräuchlichen Sehtest beim Augenarzt oder Optiker, der darin besteht, dass Buchstaben in verschiedenen Größen gelesen werden müssen. Diese kulturelle Codierung einer körperlichen Differenz wird inzwischen jedoch von medizintechnischen Strategien der Normalisierung überlagert, deren einzige Begrenzung ökonomische Potenz ist und die als enabler für die disabled auftreten. Die chirurgische Sehkorrektur verstehe ich deshalb, analog zu Versuchen, die Umständlichkeit des Lesevorgangs technisch zu umgehen, als Symptom einer Rationalität, die sich von allem, was aufhält und kompliziert ist, befreien möchte, die aber gleichzeitig die Körperoberfläche für gewinnträchtige Zeichen der Alterität offen hält. Anders gesagt: Menschen haben sich immer Technologien bedient, um sich Zugang zur Welt zu schaffen und Körpermodifikationen, die gleichermaßen symbolisch wie funktional in das physische Substrat eingreifen, sind so alt, wie es Kulturtechniken sind. Wir sind immer schon Hybride gewesen, in dem Sinn, dass Körperfunktionen technisch verstärkt wurden, dass Wahrnehmungs-, Steuerungs- und Regelungsfunktionen an Technologien delegiert wurden, dass Technologien der Voraus-, Um- und Rückschau Lebenswelten durchdrungen haben. Neu hingegen ist die nahtlose Integration von Technologien in den Körper. Technolo-

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gien werden damit fraglos im Sinne von nicht-befragbar. Eine Brille kann und muss ich von Zeit zu Zeit abnehmen, ich muss mich der Differenzerfahrung (dem Unterschied: mit-ohne) aussetzen, ich erfahre dabei gewisse Widerstände und eben auch: meine Hybridität. Ein gelasertes Auge oder ein Retina-Implantat erlauben genau diese Erfahrung nicht. Der Eingriff, die Verstärkung, wird naturalisiert, Differenz zu einer Performance, zu einer Frage der Zeichen an der Körperoberfläche. Google Glass setzt nun auf mit der Brille durchgesetzten Techniken der Sehverstärkung und -korrektur auf und auch auf seine Zeichenhaftigkeit. Google Glass soll ein begehrenswertes Designobjekt sein und – so die Rhetorik der Entwickler – einige Probleme beseitigen, die durch den ubiquitären Gebrauch von smartphones in die Welt gekommen sind. Smartphone-Applikationen lenken, so der Produktdirektor Steve Lee, vom »Leben« ab. Während wir ein Foto machen oder uns den Weg anzeigen lassen, verpassen wir, was »eigentlich« in der Welt passiert. Da es aber aus der Perspektive des Such-und-Finde-Konzerns Google ausgeschlossen ist, smartphones auszuschalten, müssen die Funktionalitäten näher an die Sinne gebracht werden und der Abstand zwischen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung soll minimiert werden.1 Google Glass ist also zunächst nichts weiter als ein Mobiltelefon, das anders aussieht als bisherige Modelle: Man kann damit telefonieren, Nachrichten abrufen und versenden, chatten, Adressen und Termine verwalten, Musik hören, Informationen zu Sehenswürdigkeiten oder Gebäuden erhalten, Freunde in der Nähe suchen, einkaufen etc. Der Unterschied zu älteren Technologien besteht darin, dass die jeweiligen Daten (Zeit, Wetter, Termine, Nachrichten, Navigation, lexikalische Auskünfte) auf einem durchsichtigen Quader direkt vor dem Auge eingeblendet werden, also 1 | Vgl. Topolsky, Joshua: »I used Google Glass: the future but with monthly updates«, in: The Verge vom 22. Februar 2013, www.theverge.com/2013/ 2/22/4013406/i-used-google-glass-its-the-future-with-monthly-updates, Zugriff vom 3. August 2013.

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subjektiv stärker mit der übrigen Sehwahrnehmung verschmelzen. Auf diesem Gebiet (»augmented reality«) wird seit Jahren intensiv geforscht. Google Glass könnte das erste für die breite Öffentlichkeit erhältliche Produkt sein, das konsequent und dauernd die Wirklichkeit »augmentiert«. Man könnte – weniger spektakulär, aber vielleicht passender – auch sagen: Es ist ein Gerät, das die Wirklichkeit laufend beschriftet. Die ersten Tester des Produkts (Google nennt sie »Explorer«) sind sich darüber einig, dass das Interessante an dem Produkt ist, dass man einen Realitätsausschnitt sofort festhalten und mit anderen teilen kann: Per Sprachbefehl (»o.k., glass make a foto/record«) kann instantan fotografiert und gefilmt werden und andere Menschen können der Seh- und Hörerfahrung zugeschaltet werden. Bedenken werden derzeit weniger mit Blick auf die Frage nach den potentiellen Veränderungen im sinnlichen Erleben mit Google Glass artikuliert, die man mit Blick auf die Brille als Wahrnehmungsmodulatur und Zeichenträger für »Originalität« stellen könnte (was heißt es eigentlich für das Erleben, wenn alles Erlebte instantan in ein Meer von Aufzeichnungen eingeht?), als in Hinblick auf die Kombination der technischen Möglichkeiten des Geräts mit der Marktmacht des Konzerns Google. Google Glass ermöglicht das Aufzeichnen von Bildern und Tönen im öffentlichen Raum, ohne dass der/die Aufgenommene davon etwas merkt. Ein kleines rotes Licht deutet zwar darauf hin, dass die Kamera in Betrieb ist, es hat aber selbstverständlich weniger Signalwirkung als die gehobenen Hand mit dem smartphone oder der Kamera. Das zweite akute Problem, zu dem sich Google nur sehr spärlich äußert, ist die automatische Übermittlung sämtlicher Daten an Server des Konzerns. Jeder Träger und jede Trägerin der Datenbrille übermittelt nicht nur sämtliche persönlichen Daten an den Konzern, sondern auch seinen/ihren Standort (über GPS) und erlaubt damit das Erstellen von Bewegungsprofilen. Die Google Glass-NutzerInnen werden selbst gläsern sein. Nach Ansicht einiger Beobachter verstößt dies gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Andere formulieren es drastischer: » […] Neither Orwell nor

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Hitchcock at their most terrifyingly dystopian could have dreamt up Google Glass.«2 Es hat sich bereits Widerstand gegen Google Glass formiert, der sich auch gegen Rob Spence’s Kameraauge kehren könnte. Seit Februar 2013 ist die Initiative »Stop the Cyborgs« am Netz, die von einem jungen britischen Programmierer gegründet worden ist. Die Initiative ist gut informiert und ist nicht per se technikfeindlich. Sie richtet sich in erster Linie gegen den Betreiber Google mit seiner Geschäftsstrategie, nämlich sämtliche Daten zu sammeln, zu vernetzen und auszuwerten. Die Forderungen sind dementsprechend konkret: Google soll sich dazu verpflichten, niemals einen Gesichtserkennungsalgorithmus oder einen Automatismus zur Identifikation von Menschen einzusetzen. Es soll ein »Do-Not-Track-System« in Google Glass eingebaut werden, das es NutzerInnen erlaubt, sich mit einfachen Mitteln aus den Fängen der Datenqualle zu befreien. Die dritte Forderung betrifft die Besitzverhältnisse an den Daten, eine Frage, die derzeit weitgehend ungeklärt ist. Die Initiative möchte, dass gewährleistet ist, dass die Daten jenen gehören, die sie »verursacht« haben.3 Der Forderungskatalog macht deutlich, wie viele heikle Fragen im Bereich privacy-politics in Bezug auf die Datenbrille nach Diskussion und Klärung verlangen.4 Was könnten die Effekte eines Geräts sein, das Information »näher an die Sinne« bringen möchte? Wir müssen präziser werden: 2 | Keen, Andrew: »Why Life Through Google Glass Should Be for Our Eyes Only«, auf CNN.com 26. Februar 2013, Zugriff vom 27. März 2013. 3 | http://stopthecyborgs.org/about, Zugriff vom 29. März 2013. 4 | Die BetreiberInnen der Webseite sprechen von einem avancierten Standpunkt der Technikforschung aus. So wird als allgemeines Ziel angegeben: »More generally we want people to realize that computer systems are not politically or socially neutral. They impact our lives, encourage and discourage certain behaviors but we typically don’t even question their design and intrinsic biases. Ordinary citizens need to get politically active in order to shape technology and the social norms around them.« Ebd.: Zugriff vom 29. März 2013.

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Mit Google Glass geht es zum einen darum, »unmittelbare Sinneswahrnehmung«, das, was das Auge jetzt sieht und das Ohr jetzt hört, aufzuzeichnen und schnellstmöglich zugänglich zu machen. Auf den Promotion-Videos sieht man bevorzugt Szenen mit rasanten Flug-Bewegungen: die Perspektive des Fallschirmspringers, des Piloten, des Vaters, der mit seinem Kind Fliegen spielt, die Drehung der Ballett-Tänzerin. Es wird Intensitätssteigerung und große Direktheit suggeriert. Zum anderen wird – wie schon erwähnt – die ganze Welt durch Schrift angereichert, »direkte« Erfahrung kommentiert. Man könnte auch sagen, dass das Versprechen von Google Glass in Bezug auf die Sinneserfahrung leicht schizophren ist. Das Versprechen lautet auf Kontrollverlust bei gleichzeitiger Steigerung der Kontrolle: auf der einen Seite der Rausch des Augenblicks, die Intensivierung des Moments, die Steigerung des Sehsinns in die Trance, auf der anderen Seite die Durchformatierung, räumlichzeitliche Verdatung und Beschriftung von allem. Wie soll aus einer Welt, die von einem Netz aus Symbolen überzogen ist, noch etwas »unmittelbar« an die Sinne dringen? Der Widerspruch lässt sich vielleicht am besten verstehen, wenn man bedenkt, dass, was im Auge der Kamera als rauschhafte Unmittelbarkeit erscheint, selbst einer Codierung unterliegt: Wir haben 150 Jahre Film gebraucht, um Bilder mit einer Kameraführung aus der Perspektive des Protagonisten als »subjektiv« interpretieren zu können. Nur in der Empirie ließe sich evaluieren, was passiert, wenn Kamera-Rausch, beschriftete Welt und intensive sinnliche Erfahrung in/aneinandergeraten. Ob man dann mit Bernard Stiegler tatsächlich von einer Art »Psychopolitik« der mutwilligen oder auch nur nachlässigen Zerstörung von Aufmerksamkeit sprechen muss?5 Zurück zur Frage nach der Anderskörperlichkeit, aus der heraus sich Google Glass weiterhin als Prothese verstehen lassen würde, schließlich sind jede Menge Anwendungen denkbar, die das Leben von Anderskörperlichen erleichtern könnten. Die kleine Kamera kann Sehbehinderten bei der Navigation in Räumen oder beim Le5 | B. Stiegler: Psychomacht.

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sen helfen. Stop the Cyborgs ist ebenfalls der Meinung, dass eine Gesichtserkennung für Autisten hilfreich sein könnte. Und dass jegliches Medium für Menschen mit schlechtem Gedächtnis (und wer hat das nicht?) äußerst hilfreich, sicherlich tröstlich und manchmal überlebenswichtig ist, versteht sich von selbst. Heißt das nun: Stop the Cyborgs, aber nicht diejenigen, die qua körperlicher Beeinträchtigung ohnehin Cyborgs sind? Die Initiative hat eine ganz spezifische Sorte Cyborgs im Visier. Gestoppt werden sollen in dieser Initiative zuallererst »Corporate Cyborgs«, wie Andrea M. Matwyshyn sie genannt hat. Aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive hat sie darauf hingewiesen, dass bestimmte Konzerne äußerst schwer durchschaubare Konglomerate aus Rechtsperson, Geschäftsstrategien des affektiven Kapitalismus und kybernetischem Dispositiv bilden: »In a similar vein, in technology contexts, the practical differentiation between human persons and corporate persons grows tenuous in many respects. Today’s corporations seem more enmeshed in our daily reality, more anthropomorphic and ›friendly‹.« Das macht sie aber gerade riskant: »the shift has carried with it technology driven risks to both individual entities and the economy as a whole.« 6 Die »Corporate Cyborgs« sind notorisch schwer zu fassen zu bekommen. Sie zu bekämpfen ist wichtig und Initiativen wie Stop-the-Cyborg sind mehr als begrüßenswert. Umgekehrt bedeutet die schiere Existenz von »Corporate Cyborgs« im Umkehrschluss nicht, dass jeder Technologie eine Weltverschwörung zur Versklavung des Geistes und des Leibes zugrunde liegt. Soviel Liebe zur Cyborg kann selbst ich noch auf bringen. Ich möchte an dieser Stelle für das Brillentragen und für all die weniger daten- und lichtdurchfluteten Prothesen eine Lanze brechen. Und zwar für ihre Eigenschaft, sichtbare Zeichen der Alterität zu sein. Sie zeigen, wie wenig selbstverständlich die einfachsten Fähigkeiten sind: Beinprothesen führen uns vor, wie komplex das Gehen ist, die Brillen, was ein Auge Großartiges leistet. Und ja: Lesen von Buchstaben und Karten, das Nachschlagen von Informatio6 | A. Matwyshyn, Corporate Cyborgs, S. 573.

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nen, das Schreiben eines Briefes sind manchmal anstrengend und doch etwas Wunderbares. Unsere symbolischen Systeme mögen nur halbwegs effizient sein, sie sind sicher vergleichsweise umständliche Methoden der Wissensweitergabe und der Selbstkultivierung. Aber genau das retardierende, das katechontische Moment macht aus dem Lesen oder der Bildbetrachtung eine Kulturtechnik: Eine Technik, die nicht in ihrer Funktion aufgeht, sondern eine Reflexion ihrer eigenen Möglichkeitsbedingungen mit sich führt. Dies alles mit Google Glass zu kassieren, um noch schneller den Weg von A nach B zu finden, um noch mehr Kurznachrichten absetzen zu können, um noch mehr Fotos vom Nachwuchs ins Netz stellen zu können (ich frage mich, was die zukünftigen Erwachsenen mit all diesen Bildern anfangen sollen) und einem »Corporate Cyborg« Daten zur profitgenerierenden Verdauung zur Verfügung zu stellen, scheint mir nicht die beste Idee aller Zeiten zu sein.

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Ein beunruhigendes Moment jeder Rede von enhancement, Optimierung, Verbesserung ist die Narration einer quasi-evolutionären Teleologie der Unvermeidbarkeit der technischen Überarbeitung des Körpers. Die Unvermeidbarkeit einer immer weitergehenden Verschränkung von Organischem und Technischem ist eine veritable TINA-Hypothese: There is no alternative zur Selbstverbesserung. Das Szenario kann nanotechnisch, bionisch, pharmazeutisch, robotisch ausgestaltet sein, die Grundannahme bleibt die gleiche: Der Mensch ist wahlweise dazu eingeladen, befreit, verdammt mittels Technologien die Evolution fortzusetzen oder zu variieren. In diesem Kapitel möchte ich zum einen diese Hypothese einer fortschreitenden Verbesserung historisch verorten und sodann ihre Effekte zumindest punktuell nachzeichnen. In welcher politökonomischen und kulturellen Situation wird die Rede von der Unvermeidbarkeit technischer Überarbeitungen eines »natürlichen« Körpers überhaupt plausibel? Wie verhält sich die These von der technischen Menschenverbesserung zu anderen Projekten der Verbesserung des Menschen, etwa zu spirituellen oder erzieherischen Bildungsprogrammen? Einen Knotenpunkt bildet hier sicherlich der Begriff der »Fitness« mit seinen schillernden Bedeutungen zwischen Gattungserhaltung, sozialer Anpassung und Superioritätsphantasma. Zwei historische Momente der Verbesserung des Menschen und einer erweiterten Körperlichkeit (die 10er/20er-Jahre und die 50er/ 60er-Jahre) werde ich etwas detaillierter darstellen.

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Peter Sloterdijks Elmauer Rede (Regeln für den Menschenpark1) und sein Buch Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik sind gute Ausgangspunkte, um die angebliche Unvermeidbarkeit technischer Selbstbearbeitung zu kommentieren und zu kontern. Es war Sloterdijk, der den Begriff »Anthropotechnik« mit seiner skandalisierten Rede von 1999 mit einem Schlag im deutschsprachigen Raum populär gemacht hat. In dem Vortrag ging es nicht in erster Linie um aktuelle Biotechnologien, sondern um die Beobachtung eines Umschwungs zwischen »humanistischen Kulturtechniken« (des Schreibens, des Lesens als Selbstbildung) hin zu im engeren Sinn technologischen Maßnahmen im Verlauf einer langen Moderne. Sloterdijk verwendet den Begriff Anthropotechnik nicht affirmativ. Er betont, dass er aus einem Zusammenhang stammt, der alles andere als unschuldig ist. Er entnahm ihn der Großen Sowjetischen Enzyklopädie aus dem Jahr 19262 , in der er als biologischer Parallelbegriff zur »Psychotechnik« eingeführt wird. Der Begriff steht in enger Verbindung mit Züchtungslehren und Eugenik einerseits, und mit Test- und Ausleseverfahren in Hinblick auf Fähigkeiten in Beruf und Sport andererseits. Es geht Sloterdijk dementsprechend nicht um eine Feier der technischen Transformierbarkeit des Leibes, sondern darum, im Horizont einer größeren Direktheit des Eingriffs in den Leib und gesteigerter technischer Mittel den Humanismus mit den ihm eigenen Anthropotechniken neu zu begutachten. Es geht ihm darum, den Humanismus aus seiner idealisierenden Selbstbeschreibung als dem Königsweg zu Aufklärung, Freundschaft und Frieden herauszulösen. Vielmehr müsse man den Humanismus als eine Form der Bemeisterung des Menschen durch den Menschen lesen. In den Lese- und Schriftkulturen wird der Mensch für den Menschen zur »höheren Gewalt«.3 Innerhalb 1 | P. Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. 2 | Das ganze Lemma ist abgedruckt in der Einleitung zu: Bockrath, Franz: Anthropotechniken im Sport. Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung, Bielefeld: transcript 2012, S. 18f. 3 | P. Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark, S. 45.

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des Humanismus identifiziert er das Projekt eines »Über-Humanismus«: das Projekt einer Gesellschaftsgestaltung durch Erziehung einer Elite, die »eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß.«4 In Du mußt dein Leben ändern verfolgte Sloterdijk wiederum weniger die biopolitischen Großprojekte der vergangenen Jahrzehnte als jene Selbstbearbeitungstechniken, die den individuellen Menschen betreffen. Die Linie, die eine biopolitische Diskussion im Sinne Michel Foucaults aufmachen würde, nämlich die nach Kalkülen, die die Kategorie des Lebens selbst betreffen, Fragen der Verstrickung von Selbsttechniken mit Fragen nach der Produktivität von (nationalen) Gesamtbevölkerungen, nach fatalen Gradierungen im Wert von Leben im Horizont von Gesundheitspolitik, nach Rassismen unterschiedlichster Ausprägung kommen dabei nur punktuell in den Blick.5 Ich möchte sie hier wenigstens skizzieren. Es gilt also zunächst, die Frage nach der technischen Bearbeitung des Körpers historisch zu rahmen: Wie lassen sich aktuelle biotechnische Modifikationen von anderen Körpertechniken, wie sie schon Marcel Mauss kulturvergleichend beschrieben hat 6, unterscheiden? Wo gibt es historische Kontinuitäten und Brüche zum Sport, zur Mode, zum Schmuck, zur Diätetik? Mein Einsatzpunkt ist – er ist zugegebenermaßen wenig originell – dass technische Körperbearbeitungen im Horizont einer Neubewertung dessen, was Leben ist, analysiert werden muss. Etwa um 1800 nimmt eine Form des Vitalozentrismus (siehe oben S. 72) Schwung, der sich mit zwei mächtigen Diskursen verbündet: der Ökonomie(theorie) und der Geschichte. Verbündet mit der Historie ergibt er die Evolutionstheorie und damit das berühmte »survival of 4 | Ebd.: S. 54. 5 | Petra Gehring hat herausgearbeitet, was alles unter den Tisch fällt, wenn Anthropotechniken in erster Linie individuell gedacht werden. Vgl. Gehring, Petra: »Beim Sport sterben«, in: Bockrath: Anthropotechniken im Sport (2012), S. 61-82. 6 | Mauss, Marcel: »Techniques of the body«, in: Economy and Society (Band 2), Nr. 1 (1973), S. 70-88.

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the fittest«; also die Theorie eines anonymen Selektionsprozesses mit dem Ziel der Überlebenssicherung der Gattung. Verbündet mit der Ökonomie(theorie) führt der Vitalozentrismus zur Etablierung von vielerlei Agenturen des Erhalts von Gesundheit und Arbeitskraft auf der einen Seite und zu einem neuen Subjekttypus auf der anderen Seite: dem Unternehmer seiner selbst, der »selbst« für seine Gesundheit und seine Produktivität Sorge trägt. Erst in dieser Konstellation sind Biotechnologien als eine ganz spezifische Form der Anthropotechnik verstehbar, als Anthropotechniken im Zeichen einer – wenn man so will – fraktalen Selbstsorge. Im Großen wie im Kleinen finden wir seither den gleichen Appell: das Leben zu erhalten und zu intensivieren. Im Großen und in abstoßender Form hallt der Appell in der Sorge um das »Aussterben« der Deutschen nach, die von Thilo Sarrazin 2010 polemisch lanciert wurde. Im Kleinen, als individualisierter Appell, ist er inkorporiert in Mikroprozeduren der Selbstverwaltung (vom Wecker bis zu To-do-Listen), im Bestreben, sich fit und schön zu erhalten, in Vorsorgemaßnahmen aller Art. Um den Zusammenhang zwischen Biopolitik und Selbstsorge an einem historischen Wendepunkt zu verdeutlichen, gehe ich zurück zur Prothesenforschung nach dem Ersten Weltkrieg.7 Sie war von 1915 bis 1919 ein gut alimentiertes (und zwar aus staatlichen und privaten Geldern kofinanziertes) und innovationsträchtiges Gebiet und der Versuch einer technik- und gesundheitspolitischen Antwort auf die Verheerungen, die der Krieg an den Körpern von Männern veranstaltet hatte. Die Tätigkeiten von Institutionen wie etwa der Berliner Prüfstelle für Ersatzglieder beschränkten sich jedoch nicht auf Erforschung und Erprobung von Prothesen: Die Ärzte und Ingenieure sahen es als ihre patriotische Pflicht, die Öffentlichkeit über die Fortschritte in der Prothetik zu unterrichten und taten dies mithilfe von zahlreichen Broschüren und Ausstellungen. Gemeinsam mit den Kriegsversehrtenverbänden wurden Wanderausstellungen 7 | Vgl. ausführlich: K. Harrasser: »Passung durch Rückkopplung«, dies.: »Sensible Prothesen«.

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organisiert, die in allen großen deutschen Städten zu sehen waren. Prothesenforschung war also öffentliche Forschung, die die Sorge des Reichs um die Kriegsbeschädigten demonstrieren und die Produktivität der männlichen Bevölkerung sicherstellen sollte; und damit die ins Wanken geratene Geschlechterordnung mit dem Mann als erwerbstätigem Familienoberhaupt. Die Versorgung der Kriegsversehrten mit Prothesen hatte zwei Ziele: Unauffälligkeit und Produktivität. Auf der einen Seite wurde mittels kosmetischer Prothesen – den sogenannten »Sonntagshänden« – das soziale »passing« 8 der Kriegsversehrten angestrebt, also ihre Unauffälligkeit im Alltag. Auf der anderen Seite war das Ziel der Entwicklungsarbeit eine funktionale Passung von Menschenund Maschinenkinetik zu erreichen. Eine zentrale Institution der Entwicklung von Prothesen war die in Berlin Charlottenburg 1915 gegründete Prüfstelle für Ersatzglieder, sie war auch Schauplatz eines Konflikts um die ideale Bauweise von Prothesen. Ihr wichtigster Akteur war der Berliner Maschinenbauingenieur und Professor für Betriebswirtschaft Georg Schlesinger, den man als Psychotechniker und Spezialist für die Optimierung maschineller Herstellungsverfahren kennt.9 Georg Schlesinger, ein Schüler des Maschinentheoretikers Franz Reuleaux, hatte vor seiner Arbeit an der Prüfstelle Werkzeugmaschinen typisiert und sich mit Veröffentlichungen zur wissenschaftlichen Betriebsführung sowie mit international beachteten, psychotechnischen und arbeitswissenschaftlichen Arbeiten einen Namen gemacht. Dementsprechend galt seine Aufmerksamkeit in der Prüfstelle der Typisierung von Prothesen und der Standardisierung von Anschlussnormen, insbesondere bei den sogenannten Arbeitsarmen und Arbeitshänden. Am künstlichen Arm wurden Ansatzstücke befestigt, die die Ausführung von handwerklichen Tätigkeiten ermöglichten. Ziel war 8 | Zum Begriff »passing« in Bezug auf Prothesen vgl. ebd. 9 | Zu Georg Schlesingers Verfahrensoptimierungen siehe im Detail: Berz, Peter: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München: Fink 2001.

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Abbildung 6: Tafel 19 aus: Felix Krais: Die Verwendungsmöglichkeiten der Kriegsbeschädigten in der Industrie, in Gewerbe, Handel, Handwerk, Landwirtschaft und Staatsbetrieben, Stuttgart 1916.

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die Passung zwischen Amputiertem und Prothese, zwischen Prothese und Werkzeug, zwischen Werkzeug und Arbeitsvorgang. Der menschliche Körper wird hier als ein System diskreter, ineinandergreifender, austauschbarer Teile konzipiert, das modular zerlegt und wieder zusammengesetzt werden kann. Das folgenreichste Resultat dieser Aktivitäten war die Einführung von einheitlichen Anschluss-Normen für Bandagen und Ansatzstücke, die schon bald als DIN-Norm zur Grundlage der flächendeckenden industriellen Herstellung modularer Prothesen wurde. Die Herstellung von »Arbeitshänden« wurde hingegen nach dem Ersten Weltkrieg nicht systematisch weiterverfolgt. In Schlesingers Konstruktionen ist eine klar tayloristische Logik des Berechnens und Standardisierens am Werk. Die modularen Prothesen sollten in Massenproduktion herstellbar sein und die mit Prothesen ausgestatteten Kriegsversehrten sollten möglichst reibungslos in der Fabrik oder in der Werkstatt arbeiten können. All dies wäre im Vokabular einer »Mikrophysik der Macht« 10 beschreibbar, die das systematische Ineinandergreifen von zugerichtetem (Soldaten-)Körper, normierter Bewegungslehre, verteilter industrieller Massenproduktion und Arbeit als dem ultimativen sozialen Formierungsinstrument anstrebt. Die Tätigkeiten der Prüfstelle gingen auf anderen Gebieten jedoch über eine disziplinarische oder »instrumentelle Codierung des Körpers«11 hinaus. Der Umgang mit den Soldatenkörpern, ihre Re-Mobilisierung, folgte nur teilweise den Verfahren des Kasernendrills. Eine der vielen Schriften zur Kriegsversehrtenproblematik stellt beispielsweise fest, dass zur Re-Mobilisierung »das Kommando eines mit gleichförmigen und starren militärischen Turnen vertrauten Sanitätsoffiziers« nicht hinreichend wäre. Stattdessen solle ein »gewandter Turnlehrer« engagiert werden, der einen »frischen, straffen und 10 | Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve 1976. 11 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. S. 196.

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vergnüglichen Zug« in die Übungen bringen solle.12 Dieser Turnlehrer ist wohl eher der Lebensreform-Bewegung zugewandt als ein klassischer Offizier. Vor dem Hintergrund einer disziplinarischen, militärischen Körperkultur tauchen also Elemente einer auf Prinzipien der Selbstbestimmung und -regulierung beruhenden Körperpolitik auf, die insbesondere für die psychologische Behandlung der Versehrten wichtig war. Psychologen empfahlen auch, den Versehrten eine unternehmerische Lauf bahn zu ermöglichen, anstatt sie in ihre ursprünglichen Berufe zu reintegrieren. Auf Letzteres war die Prothesenversorgung anfänglich ausgerichtet gewesen, eine Erhebung hatte jedoch gezeigt, dass ca. 2/3 der »Arbeitshände« überhaupt nicht in Gebrauch waren, man sich also zur Erreichung des übergeordneten Ziels (Vollbeschäftigung für Kriegsversehrte) andere Strategien ausdenken musste.13 Diese Akzentverschiebung von der Disziplinierung hin zur Selbstregulierung ist mit einer Verschiebung in der Konzeption des Körpers generell korreliert: Im mechanistischen Paradigma ist er eine reparaturbedürftige Maschine, im Diskurs von Psychologie und Medizin wurde er zunehmend als eine Version innerhalb eines Kontinuums von grundsätzlich mangelhaften, aber zur Selbstverbesserung fähigen Körpern behandelt. Das zergliedernde Körperkonzept der Ingenieure wurde ergänzt durch ein neovitalistisch-steuerungslogisches Modell, das den menschlichen Körper als fein abgestimmtes Rückkopplungssystem, das externe und interne Daten verarbeitet, begriff. Ich verstehe die Prothetik der 10er und 20er-Jahre deshalb als einen Wissenskomplex, in dem sich die Konturen eines neuen Modells der Steuerung von Körpern und Individuen abzeichnen: Ein 12 | Fuchs, Paul: »Ärztliche und soziale Amputiertenversorgung«, in: Archiv für orthopädische und Unfall-Chirurgie, mit besonderer Berücksichtigung der Frakturenlehre und der orthopädisch-chirurgischen Technik (Band 17), Nr. 2-4 (1919), S. 199-212, hier: 201. 13 | Vgl. Ach, Narziß: Zur Psychologie der Amputierten. Ein Beitrag zur praktischen Psychologie, Leipzig: Verlag Wilhelm Engelmann 1920.

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normalistisch-kybernetisches Modell löst dabei weniger eine disziplinarische Mikrophysik, die erwünschtes Verhalten mittels pädagogischer und dressierender Maßnahmen in Körper und Seelen einsenkt, ab, als dass sie Disziplinierungen mithilfe flexibler Methoden der Selbststeuerung und der Passung durch Rückkopplung überlagert und »humanitär intensiviert«14. Der Konflikt zwischen einer mechanistischen Auffassung und einer regelnd-vitalistischen Konzeption zeigte sich in der Prüfstelle für Ersatzglieder in einem Konflikt des berühmten Chirurgen und Prothesenentwicklers Ferdinand Sauerbruch mit dem Geschäftsführer Georg Schlesinger. Schlesingers Konzept einer guten Prothese war entsprechend seiner verfahrenstechnischen Prägung von Überlegungen zu ihrer Funktionalität und Wirtschaftlichkeit geprägt. Mit Bezug auf Kant charakterisiert Schlesinger die Hand als dasjenige Organ, welches den Menschen zum vernünftigen Tier macht. Die Hand mache den Menschen »geschickt für die Handhabung aller Dinge«, sie sei sein äußeres Gehirn!« 15 Handhabung ist Mechanik, die Hand als das Universalwerkzeug schlechthin, als Werkzeug der Werkzeuge, jedoch selbst kein Werkzeug. Die »Intelligenz« dieses Universalwerkzeugs ist die Folge seiner taktilen und propriozeptiven Wahrnehmungsfähigkeit. Diese Eigenschaft 14 | Price, Matthew: »Lives and Limbs. Rehabilitation of Wounded Soldiers in the Aftermath of the Great War«, in: Stanford Humanities Review (Band 5), Nr. SEHR Supplement: Cultural and Technological Incubations of Fascism (1996), online unter: www.stanford.edu/group/SHR/5-supp/text/ price.html, Zugriff vom 2. Februar 2012. 15 | Schlesinger, Georg: »Der mechanische Aufbau der künstlichen Glieder«, in: Borchardt, Moritz; Hartmann, Konrad; Leymann; Radike; Schlesinger, Georg und Schwiening (Hg.): Ersatzglieder und Arbeitshilfen für Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte. Herausgegeben von der ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt (Reichs-Anstalt) in Berlin-Charlottenburg und der Prüfstelle für Ersatzglieder (Gutachterstelle für das preussische Kriegsministerium) in Berlin-Charlottenburg, Berlin: Julius Springer 1919, S. 321-661, hier: 321.

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ist jedoch – so Schlesinger – für die Hand als gestaltendes Organ eher lästig als hilfreich. Denn sie macht die Hand verletzlich, weshalb sie für die »Ausübung der meisten Berufe einer Bewaffnung bedarf«16. Die Herstellung von Prothesen folgt deshalb explizit nicht dem »inneren Konstruktionsplan« des ursprünglichen Organs, seiner Form, seiner Muskulatur, seinen Nerven etc. oder der äußeren Morphologie des Körperteils, sondern strikt seiner Funktion. Mit Schlesinger gesprochen: Ziel der Prothetik ist ein Armersatz, nicht ein Ersatzarm.17 Schlesingers Maschinen- und Prothesenauffassung blieb nicht unbestritten. Sein Antagonist war der Chirurg Ferdinand Sauerbruch. In der Auseinandersetzung der beiden prominenten Figuren stand jedoch nicht zur Debatte, ob der menschliche Körper eine Maschine ist, sondern welche Maschine er ist. Sauerbruch war der Meinung, dass die natürlichen und gelernten Bewegungen der Hand durch die Prothese morphologisch und funktional möglichst exakt nachgeahmt werden sollten. Gesucht ist demnach also ein Ersatzarm.18 Er interessierte sich weniger für Passgenauigkeit und Effizient, als für die Kommunikation zwischen Prothese und lebendigem Leib. Zudem sollte die Ausnutzung des verbleibenden Stumpfs als Kraftquelle ermöglicht werden, der Arm sollte also energieeffizient sein. Sauerbruchs Methode sah zur Steuerung der Prothese eine Zugeinrichtung vor, die mittels eines Elfenbeinstifts mit der Muskulatur des verbliebenen Armstumpfes verbunden war. Dieser musste dafür operativ präpariert werden. Ein weiterer Anlass von Dissens war die von Schlesinger als lästige Schwäche diskreditierte Empfindsamkeit der Hand. Für Sauerbruch sind hingegen die feinen Wechselbeziehungen zwi16 | Ebd.: S. 322. 17 | Ebd. 18 | Sauerbruch, Ferdinand: Die willkürlich bewegbare künstliche Hand. Eine Anleitung für Chirurgen und Techniker. Mit anatomischen Beiträgen von Ruge, G. und Felix, W. und unter Mitwirkung von Stadler (Band 1), Berlin: Julius Springer 1916, S. 9.

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schen Hand und Gesamtorganismus – die Propriozeption und das Tastempfinden – wesentlich für die Praktikabilität der Prothese. Die Rückmeldung des Zugmechanismus an die Restmuskulatur gibt dem Prothesenträger sensorische Informationen über Lage und Zustand der künstlichen Hand, die dadurch zielgenauer und kraftsparender eingesetzt werden könne. Der Unterschied in der Maschinen- und Körperkonzeption bestand, kurz gesagt, in einer Wertschätzung der organischen Morphologie, von sensorischen Rückmeldungen und in der Ausnutzung von Rückkopplungseffekten. Wurden bei Schlesinger die Körper der Arbeitenden mittels Prothesen an Maschinen angepasst, die nur relativ enge Bewegungsspielräume erlaubten, stand bei Sauerbruch die Selbsttätigkeit und Individualität des Arbeitenden im Vordergrund. Weiters ist auffällig, dass es zu einer Verwischung der Differenzierung von gesund und krank kommt. In psychologischen Forschungen der Zeit wird – im Sinne Schlesinger – häufig dahingehend argumentiert, dass Werkzeug und Prothese nur verschiedene Ausprägungen von Körpererweiterungen seien. Dies scheint mir die Schwelle hin zu einer neuen Auffassung von Körpertechniken zu sein. Nicht länger gibt es einen in sich schlüssigen und perfekten Körper, der im Falle einer Krankheit medizin-technisch behandelt wird. Vielmehr gibt es nur noch ein Kontinuum verbesserungsfähiger und verbesserungswürdiger Körper, die prothetisch mit ihren Umwelten verschaltet sind. In diese Richtung steuerten auch die Forschungen von William B. und Lillian Gilbreth in den USA, jenes Paars, das durch den Einsatz von Fotografie und Film (die sogenannten motion studies) das Taylorsystem perfektioniert hat. Die Grundidee der Prothetik, der Ersatz von Körperteilen durch etwas Ähnliches, wird im Rahmen ihrer Bewegungsstudien in eine Idee der wechselseitigen Anpassung zwischen Körper und Apparat transformiert. Daraus resultiert eine eigentümliche Neuformulierung des Verhältnisses zwischen Normalität und Abweichung: Der Normale erscheint nunmehr als »potentieller Krüppel«, der Krüppel hingegen ist keiner, so lange er produktiv ist:

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When we come to consider the subject closely we see that every one of us is in some degree a cripple, either through being actually maimed or through having some power or faculty which has not been developed or used to its fullest extent. The degree of crippling extends from the worker who […] has lost his eyesight, his hearing, and the use of his legs, arms and hands except for the use of one finger […] to a man who is dependent upon glasses for reading. From an efficiency standpoint a policeman with corns on the soles of his feet or a golfer with the gout in his toe is more of a cripple during his working hours than a legless man while operating on a typewriter. We can, then, think of every member of the community as having been a cripple, as being a cripple, or as a potential cripple. Conversely, we can think of a badly mutilated man as not being a cripple during the period that he is at that work the performance of which is not affected by the mutilation.19

Wenn jeder Mensch ein »potentieller Krüppel« ist, wenn Verkrüppelung nur noch in Graden messbar ist und mit der reibungslosen Koppelung zwischen allen Elementen eines Systems kompensiert werden kann, ist damit ein Programm von flexibler Kooperation (oder wie es bei den Gilbreths heißt: coöperation) formuliert. Und die Verbesserbarkeit des Menschen in und durch selbstgeschaffene Artefakte wird zur conditio humana schlechthin. Die Explikation von bis dahin (halb- oder ungewussten) Bewegungsprinzipien und die Einbeziehung der gesamten Arbeitsumgebung in die Betriebsplanung führen nicht nur zu standardisierten Arbeitsabläufen, sondern lassen am Horizont einen neuen Menschentypus erscheinen: den designable human. Angesichts des hohen Gewichts und des grob mechanischen Charakters der real existierenden Prothesentechnik der 20er-Jahre erscheinen solcherart regulatorisch-vitalistische Einschlüsse als überraschende, aber zukunftsweisende Lichtpunkte eines Körperund Technikkonzeptes, das erst mit der Kybernetik der 40er- und 50er-Jahre zur vollen Entfaltung gelangte. Der Organismus als 19 | Gilbreth, Frank B. und Gilbreth, Lillian Moller: Motion Study for the Handicapped, London: Routledge 1920, S. 95.

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Rückkopplungsmaschine mit Umwelten, als Selbstaussteuerungssystem, wurde erst hier zum Standardmodell in den avancierten Bio- und Technowissenschaften. Zur kybernetischen episteme ist in den letzten Jahren gut und ausführlich geforscht worden. Ich beschränke mich deshalb hier auf die überaus hellsichtige Extrapolation des kybernetischen Denkmodells, das Oswald Wiener bereits 1969 vorgelegt hat. Es geht um sein Buch die verbesserung von mitteleuropa, roman.20 Nicht der individuelle Mitteleuropäer soll hier auf literarischem Weg »verbessert« werden, sondern vielmehr ganz Mitteleuropa. Es geht um ein erkenntnistheoretisches enhancement der Philosophie und um die Möglichkeiten einer kybernetischen Überarbeitung der Körper-Umwelt-Relationen. Das Buch macht eine Spannung auf, die in gegenwärtigen trans- und posthumanistischen Ansätzen längst zugunsten von Machbarkeiten kassiert ist. Oswald Wieners Entwurf nimmt überaus informiert Bezug auf die damaligen Debatten in der Philosophie, der Informationstheorie, der Neurologie, der Robotik. Sein Entwurf eines bio-adapters ist dennoch hoch spekulativ. Er orientiert sich an Manfred Clynes’ & Nathan S. Klines Prägung des Begriffs Cyborg. Die beiden Wissenschaftler hatten 1960 den Begriff für eine (prospektive) Apparatur geprägt, die Astronauten im Weltall am Leben und handlungsfähig halten sollte. Sie schlugen ein System vor, das im kalten Weltall menschenverträgliche Umwelten technisch simuliert und gleichzeitig Modifikationen am Körper der Astronauten vornimmt, etwa durch die Gabe von Pharmazeutika. Ziel war es, den als hinfällig erachteten menschlichen Körper und Geist zur Eroberung des Weltalls zu »befreien«: »Cyborg-Frees Man to Explore« heißt eine Überschrift in dem berühmten Artikel in Astronautics.21 Oswald Wiener, damals Schriftsteller und Musiker, später Kognitionswissenschaftler, übernimmt in seinem »Roman« nicht die Teleologie 20 | Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa. roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. 21 | Clynes, Manfred E. und Kline, Nathan S.: »Cyborgs in Space«, in: Astraunautics, Nr. 9 (1960), S. 29-33.

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des von den Zwängen des Körpers befreiten, solipsistischen Man in Space, sondern überzieht die kybernetische Idee einer regulativen Optimierung Richtung Sprach- und Erkenntnistheorie. Die Gesamtanlage des Buchs macht deutlich, dass es ihm um das Verhältnis von Sprache und Technik geht. Es wird nicht das Ende des Humanismus als das Ende sprachvermittelter Kommunikation gefeiert oder betrauert (beide Haltungen sind letztlich ein Festhalten am Humanismus), sondern das Buch stellt sich der Aufgabe einer poetisch-analytischen Durcharbeitung literarischer Artikulationen im Horizont der Bio- und Technowissenschaften. Der »Roman« beginnt mit dem »Satz«: »einfach einwirken auf andere, auf sich selbst einwirken, sätze einehmen wie sonst pillen, sich wohin führen lassen, sich in einen zustand versetzen, lassen, mitteilen wollen; auch wohl sich eine hypothese zurechtlegen.«22 Im Zentrum steht literarische Sprache als techné, als Einwirkung, als transformative Kraft, als Milieu für Artikulationen. Wiener navigiert zwischen Aphorismus, Lyrismus und argumentativem Text, um eine Sprache zu gewinnen, die keine Trennung von Wirklichkeit und Repräsentation kennt. Er sucht eine Sprache, die selbst Wirklichkeit ist: »was auf dich wirkt, dein zustand, du bist gestimmt, du begreifst in es-dur; ich arrangiere die bühne, damit du siehst, was du sollst.«23 Gegen einen funktionalistischen Behaviorismus und einen naiven Realismus setzt er sein Projekt der Affizierung und Autoaffizierung durch Sprache und – mit dem bio-adapter – ein maschinisches environment der Transformation des Körpers bis in die Moleküle. Dass kybernetische Rückkopplung, Autoaffektion und Regulation aber nicht in die Freiheit des reinen Geistes führen, sondern zu einer engen Schmiegsamkeit von individuellem Begehren und Regierung – eine erstaunliche Vorschau auf Bernard Stieglers Thesen zur Psychomacht – zeigt die Hellsichtigkeit seiner Überlegungen. Im Kapitel »notizen zum konzept des bio-adapters« gibt es einen Abschnitt,

22 | O. Wiener: verbesserung von mitteleuropa, S. XI. 23 | Ebd.: S. XV.

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der auch in Gilles Deleuzes »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«24 stehen könnte: das zeitalter des government hat die mittel, lässig die stillen wasser als pfützen abzutun; austerngleich assimliert es, was da an eckigem in seine eingeweide stehen könnte: und wenn es nun von seinen eigenen perlen am zu knauserig bemessenen fundament aufgerieben wird, so sind es wenigstens perlen, die ein in bildung befindliches volk mit perverser berechtigung für das tier zu halten beginnt. die »bildungsgesellschaft« präpariert sich selbst, beginnt damit bei ihren organen. sie hat dem status quo endlich eine realisierbare doktrin auf den astralleib geschneidert: es ist dies die schliesslich doch noch sozial gewordene technik, hinreichend verfeinert um eine soziologie zu materialisieren, welche füglich als letzter streich eines jahrtausendealten ringens um stabilisierung, d.h. um verstaatlichung der natur gelten muss, und die dieser gesellschaft mit ihren hinfort austauschbaren generationen den charakter eines museums für marsmenschen anzumerken sich erfunden fühlt. 25

Was für eine überaus luzide und erfindungsreiche Analyse der rekursiven Logik sozialtechnischer, biopolitischer, gouvernementaler Formen der Regierung! Der bio-adapter selbst, dargestellt im »appendix A«, ist die Imagination und Konstruktion einer solchen »doch noch sozial gewordenen Technik«, die die Natur »verstaatlicht« hat. Entworfen wird hier ein »Glücksanzug«, eine technische Hülle, die schrittweise und mittels afferenter Rückkoppelung mit dem Nervensystem seines Insassen dessen soziale wie materielle Umwelt ersetzt. Nachdem der Patient in den bio-adapter eingeschlossen wurde, ersetzt das Modul zunächst die Eingaben an die sinnliche Wahrnehmung: Der bio-adapter simuliert Reize, Liebesobjekte, schafft kognitive Stimulantien. Er beginnt damit, den Körper Schritt für Schritt nach Maßgabe von Lustbefriedigung und 24 | Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262. 25 | O. Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, S. CXLI.

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Potenzsteigerung umzubauen. Er tut dies mittels chemischer und chirurgischer Maßnahmen: »der einbau eines gelenks zwischen schulter und ellenbogen wird eine neue ära des rückenwaschens einleiten.«26 Der organische Körper wird schrittweise abgebaut, die Nervenimpulse werden auf elektrische Bauteile übertragen, sodass am Ende ein überaus energieeffizientes etwas übrigbleibt, das nach wie vor glaubt, ein Bewusstsein zu haben, obwohl es längst in einer »unterhaltsamen […] fabel« 27 lebt. Adaptibilität und Hedonismus werden von der Maschine gnadenlos und bis zur Selbstabschaffung bedient. Die technische Selbststeigerung endet in Selbstauflösung; oder besser: in einer in sich schlüssigen Monade, die mit ca. 125 Watt energetisch gut versorgt ist: das bewusstsein, dieses kuckucksei der natur, verdrängt also schliesslich die natur selbst. waren früher die gestalten der sinnlichen wahrnehmung blosse produkte bedingter reflexe einer überlegenen versuchsanordnung, gespenster der menschlichen zufallssinne […], spitzenerzeugnisse des sozialen prozesses, ausgeburten der sprache, so ruht nun das bewusstsein unsterblich in sich selber und schafft sich vorübergehende gegenstände aus seinen eigenen tiefen. 28

Ich habe Oswald Wieners doppelbödige Science-Fiction so ausführlich dargestellt, da sein Text, entstanden an der Schwelle zu dem, was wir heute »Informationsgesellschaft« nennen, eine Technound Körperpolitik exponiert, die sich nach der Realisierung und Implementierung biotechnischer Artefakte in die Maschinen und Artefakte zurückgezogen hat: Was sie mit uns tun, können wir nur noch mühevoll wahrnehmen, gerade weil sie an unserem Wohlbefinden, an unserer Gesundheit, an Kommunikations- und Unterhaltungsbedürfnissen andocken. Lauter kleine Bio- und Psycho-Adap-

26 | Ebd.: S. CLXXXVI. 27 | Ebd.: S. CLXXV. 28 | Ebd.: CLXXXIII.

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ter, derer wir uns bedienen, um für unsere eigene Effizientwerdung Sorge zu tragen. Erzähle ich also eine weitere Geschichte über die Unvermeidbarkeit einer fortschreitenden Vermischung von bios und techné? Eine weitere apokalyptische Geschichte, in der das menschliche Bewusstsein von einer unsichtbaren Macht besiedelt ist, die Lebensvollzüge auf ihre Selbstauslöschung hintreibt? Von einer Macht, die sich in lichten Maschinen verkapselt hat und die einer anderen ominösen Macht, dem Kapital, dient? Hier kann es nicht enden. So bedrohlich die Möglichkeiten einer nahtlose Passung zwischen überindividuellen, maschinischen Prozessen, Bio- und Psychopolitik und neoliberaler Ökonomie erscheinen, so wenig erscheint es mir sinnvoll, dagegen nostalgisch das aufgeklärte, autonome Subjekt des 19. Jahrhunderts ins Feld zu führen, um seinen Untergang zu zittern. Vielmehr geht es eben darum, im Horizont biotechnologischer Anthropotechniken Subjektivität als zwar gemacht und von Technologien besiedelt zu begreifen, sie aber nicht einem Determinismus auszuliefern. Denn die humanistischen Anthropotechniken haben die historisch spezifische Selbstwahrnehmung des Einzelmenschen als souverän, individuell, autonom erst hervorgebracht. Sie haben das abendländische Bewusstsein vom Wissen um eine fundamentale Verbundenheit mit anderen Menschen, Tieren, Göttern, Maschinen richtiggehend »bereinigt«29, sodass wir nun mit großer Unfähigkeit geschlagen sind, wenn es darum geht, mit Heteronomien und Parabeziehungen umzugehen. Die fortgesetzte Vermischung von Körpern und Maschinen ist kein Schicksal im Sinne einer evolutionären Logik, die auf eine restlose Vertilgung des Biologischen hinausläuft. Mit Bruno Latour30 gesprochen: Die 29 | Der Begriff der Reinigungsarbeit stammt von Bruno Latour, vgl. dazu ausführlich: Ghanbari, Nacim und Marcus Hahn (Hg.): Reinigungsarbeit, Bielefeld: transcript 2013. (=Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2013) 30 | Latour, Bruno: »Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Auf dem Weg durch Dädalus’ Labyrinth«, in: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften, Frankfurt a.M.:

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Vermischung mit nicht-menschlichen Wesen hat immer schon stattgefunden. Bakterien, Tektoniken, Weltraumstrahlung, Fahrräder, Straßen, Schreibutensilien – all das modifiziert entscheidend, was wir tun und denken (können). Nichts präjudiziert jedoch, dass Technisierung des Körpers vitalozentristische Effizienzsteigerung bedeuten muss. Das kann man von ’pataphysischen Maschinen und von Donna Haraways Cyborgs lernen.

Suhrkamp 2000, S. 211-264. Ders.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag 2002 [1998].

8. ’Pataphysische Maschinen und warum wer A sagt, nicht B sagen muss

Die dominanten Erzählungen über Mensch-Maschine-Hybridisierungen ranken sich also – manchmal ornamental – um eine Aufstiegslinie von Reparatur zu Verbesserung, von Therapie zu enhancement. Damit tun sich ethische und praktische Schwierigkeiten auf, die auf normalistische Inklusionsmodelle und auf Unvermeidbarkeitshypothesen zulaufen: Wer sollte ernsthaft etwas dagegen haben, dass Kranken oder Anderskörperlichen der Zugang zu einem möglichst normalen Leben oder auch zum Hochleistungssport mittels medizinisch-technischer Hilfsmittel ermöglicht wird? Die Unvermeidbarkeitshypothese in Hinblick auf technische Hybridisierungen hingegen ist deutlich mit neoliberalen Motiven durchsetzt: Sowohl der Ethos der unternehmerischen Selbstverbesserung und der Fitness als auch Ideen der Wahrnehmungssteigerung, der Steigerung von Konnektivität und Vernetzung haben den Charakter selbsterfüllender Prophezeiungen einer globalen Wachstumsideologie. Dem gegenüber steht – wie oben geschildert – die Figuration der Cyborg in Donna Haraways Sinn: Hier wird ein Technokörper entworfen, der nicht weiß, was oder wer er/sie/es ist, der/die/das zu überraschenden und neuen Verbindungen bereit ist, der/die/das sich von evolutionistischen, konkurrenzbetonten und ödipalen Erzählungen absetzt. Technologien in diesem Verständnis sind weder Dominanz- und Mehrwertmaschinen des kognitiven Kapitalismus noch die materielle Basis eines endlos rekonfigurier-

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baren Zukunftsversprechens. Sie sind vielmehr Verkörperungen vergangener und aktueller Beziehungen und weltgenerierender Milieus. Technologien sind Artefakte, die Einbildungskräfte anregen und den Körper längst in einen anderen transformiert haben. Die Cyborg ist aber nicht als naiv-optimistische Figur zu haben, sondern nur als eine, die zuallererst ein Problembewusstsein deutlich macht. Sie ist eine Figur, die die Vielzahl realer Parabeziehungen nicht negiert, sondern exponiert. Wenn unsere Technokörper eine Erbschaft der modernen Wissenschaften und der kapitalistischen Wertschöpfung sind, wenn sie also Realabstraktionen sind, gilt es, sich in diese Logik hineinzubegeben und sie von innen zu bearbeiten. Anders gesagt: Ein Ja zu Technologien, aber die Akzeptanz ihrer Präsenz innerhalb unserer Beziehungen muss nicht zwingend ein Ja zur Hypothese der Unvermeidbarkeit von enhancement und Selbststeigerung sein. Für eine solche Bewegung hinein ins Innere der Maschine scheint mir eine Wiederaneignung der ’Pataphysik1 hilfreich zu sein. Alfred Jarry erfand die ’Pataphysik in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Er entwickelte mit ihr ein Instrumentarium zur Befragung der Verallgemeinerungen und Reduktionismen von Physik und Metaphysik, von Wissenschaft und Philosophie. Die ’Pataphysik hingegen sollte zwischen Kunst, Wissenschaft und Philosophie einen Raum der hingebungsvollen Untersuchung des Partikularen und Singulären eröffnen. ’Pataphysik ist mehr als eine Klamaukwissenschaft: Sie versucht spielerisch-ernsthaft (nichts ist so ernsthaft wie ein Kinderspiel!) Wahrheitsaussagen zu kolonisieren und zur Implosion zu bringen. Eine ihrer Methoden ist die Mimikry: Wissenschaftlich-philosophische Stile und Sprechweisen werden so lange imitiert, bis sie sich als höchst fragliche, fragil gebaute Gebilde demaskieren. Insofern ist auch Donna Haraways »Cyborg-Ma1 | Der Apostroph, der den Begriff ’Pataphysik öffnet, ist wichtig. Noch bevor ein Begriff ausgesprochen werden kann, stolpert der Leser/die Leserin über ein Zeichen, das eine Lücke signalisiert. So als wäre es eine Notwendigkeit, bevor man einen Begriff selbstbewusst ausspricht, kurz zu zögern.

8. ’Pataphysische Maschinen und warum wer A sagt, nicht B sagen muss

nifest« ein ’pataphysischer Text, imitiert er doch den maskulinen Manifeststil der Avantgarden, um eine feministische Gegenerzählung zu installieren. Am einschlägigsten für den hier diskutierten Zusammenhang ist vielleicht Alfred Jarrys »moderner Roman« Le Surmale von 1902. Der Supermann/Der Übermann ist eine Durcharbeitung und Parodie nietzscheanischer Motive. Im Zentrum des Romans steht André Marcueil, ein junger, kultivierter Mann, der über erstaunliche körperliche Fähigkeiten verfügt. In seiner Jugend wird ihm unvermittelt seine unglaubliche körperliche Kraft und sexuelle Potenz bewusst, er reagiert darauf mit Mimikry und versucht fortan so unauffällig und normal wie möglich zu wirken: »rundes Kinn, ovales Gesicht, normale Nase, normaler Mund, normale Körpergröße … Marcueil verkörpert so uneingeschränkt den Typus des normalen Menschen, daß es eigentlich schon wieder unnormal ist.« 2 Dem unauffälligen Äußeren stehen unglaubliche Kräfte gegenüber, die sich im Roman in zwei Situationen zeigen. Einmal im sogenannten 10.000 Meilen-Rennen und zum Zweiten im Zuge einer Wette: Es soll bewiesen werden, dass ein Mann den Geschlechtsakt mehr als 70-mal hintereinander und an einem Tag ausführen kann. Überwacht wird das Experiment von mehreren Gelehrten und die »Beweisführung« ist gerahmt von zeitgenössischen physiologischen Diskussionen, insbesondere von Fragen nach Training, Wiederholung und Ermüdung. Für die Frage nach der Technik ist das »10.000 Meilen-Rennen« von besonderem Interesse. Auch hier steht eine Wette im Raum: Kann ein Fünfer-Tandem einen Zug auf einer Strecke von 10.000 Meilen überrunden? Die Wette hat der Erfinder William Elson angestoßen, der ein Perpetual Motion Food erfunden hat: Eine Mischung aus Strychnin und Alkohol, die die Radfahrer zu noch nie gesehener Leistung antreiben soll. Wir würden dazu heute Doping sagen. Auf einer ersten Ebene geht es also um eine Konkurrenz zweier Maschinen: Der mechanischen 2 | Jarry, Alfred: Der Übermann. Moderner Roman, Franfurt a. M.: Zweitausendeins 1987 (1902).

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Maschine und der Körpermaschine, die mittels Doping steigerbar ist, eine tote und eine lebendige Maschine. Das Verhältnis von tot und lebendig verkompliziert sich aber sofort: Als einer der Radfahrer verstirbt, unterbricht das nicht das Rennen, denn er radelt tot weiter. Die Unterschiede zwischen organischer und mechanischer Maschine verwischen sich. Zum einen werden die Maschinen (die Lok, ein Automobil) als wilde Bestien beschrieben, die fauchen, schreien, springen. Zum anderen erleben wir die Transformation von einem der Radfahrer in ein Schwungrad, seine Verwandlung vom aktiv Strampelnden in ein Maschinenteil. Der verstorbene Fahrer »mußte weiterstrampeln, tot oder lebendig. Auf einer Maschine schläft sich’s gut, auf einer Maschine läßt sich’s auch gut sterben – da ist nichts weiter dabei.«3 Der Körper und die Körpermaschine werden austauschbar, der Tote wird bei Nachlassen der Totenstarre zu einem rotierenden Maschinenteil, das die Geschwindigkeit noch steigert. Hauptsache das Unternehmen (es ist eine Marketingaktion für Elsons Präparat) läuft. Nun ist schon die groteske Übersteigerung von Innovationsrhetorik in eine Mortifizierung im Namen des Lebens für die massenmediale Berichterstattung (über das Rennen wird selbstverständlich zeitnah und haarklein berichtet) eine hilfreiche Perspektive auf aktuelle Technofetischismen. Völlig aberwitzig wird die Situation, als sich ein weiterer Teilnehmer in das Rennen einschleicht. Einer der Radfahrer bemerkt eine rätselhafte Anwesenheit: »Da ist etwas hinter uns her! Dabei hätte bei einem Tempo wie dem unseren weder etwas Lebendiges noch etwas Mechanisches uns zu folgen vermocht.« 4 Die rätselhafte Gestalt ist der Übermann Marcueil, der der im Zug befindlichen Tochter des Erfinders – Ellen – riesige Mengen an Rosen überbringt. Er badet den Wagon in ein Meer von Rosen, streut Rosensträuße auf die Gleise und bekränkt den Zieleinlauf mit Rosen. Fahrer und Fahrrad wechseln noch dazu auf den letzten Metern des Rennens die Gestalt: Zuerst ist der »Radlertölpel« (Marcueil) auf einem Gesundheitsrad 3 | Ebd.: S. 84. 4 | Ebd.: S. 76-77.

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mit Vollgummireifen unterwegs. Statt Speichen hat dieses Rad Regenschirmstäbe, der Fahrer trägt Gummizugstiefeletten und seine Hose ist mit einer Hummerschere hochgeklemmt. Einen Moment später stellt sich sein Fahrrad als ein Rennmodell heraus: »doch er saß gar nicht auf einem Gesundheitsrad mit Vollgummireifen, er trug gar keine Gummizugstiefeletten, sein Gefährt quietschte gar nicht, höchstens in meinen Ohren, in denen es rauschte! Ihm war gar nicht die Kette gerissen, denn er fuhr ein kettenlose Maschine!«5 Anstatt über einen mechanischen Antrieb zu verfügen, ist dieser moderne Kentaur von Wünschen und Spekulationen angetrieben. Ob er wirklich da ist, oder nur in der Vorstellung der durch Alkohol illuminierten Radfahrer existiert, bleibt ebenfalls unklar: »Der Schatten knarrte wie eine alte Wetterfahne!«6 Um ihn herum transformieren sich Raum und Zeit auf phantastische Art und Weise: Hatten Zug und Tandem für den Weg bis zum Wendepunkt noch vier Tage gebraucht, ist der Rückweg in 24 Stunden erledigt. Der metamorphotische Charakter der seltsamen Figur infiziert das ganze Milieu, Raum und Zeit werden instabil. Diese Menschmaschine ist nicht mehr organisch oder mechanisch, sondern ’pataphysisch. Vielleicht: paraphysisch? Was treibt all diese Maschinen an? Ich würde meinen: die Einbildungskraft und die Liebe. Das Szenario wiederholt sich nämlich in der Wette um die Wiederholbarkeit des sexuellen Akts. Als nämlich der anvisierte Rekord tatsächlich gebrochen worden ist, sind die beiden menschlichen sexmachines (Marcueil und Ellen) in Liebe zueinander entbrannt. Ellen weiß nicht, dass ihr Gefühl erwidert wird und so beschließt ihr Vater, gemeinsam mit dem Ingenieur Gough eine Liebeserweckungsmaschine zu bauen, an die Marcueil, der noch schläft, angeschlossen wird. Die Erfinder täuschen sich jedoch über den Charakter der Maschine. Sie kann nicht die Liebe eines Menschen für einen anderen wecken, sondern sie verliebt sich selbst in den Menschen und elektrisiert Marcueil tödlich. 5 | Ebd.: S. 102. 6 | Ebd.: S. 98.

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Jarrys Maschinen sind – um Bertolt Brecht zu paraphrasieren – aus der Funktionalen gerutscht. Sie bilden phantastische Körper mitsamt den organischen Maschinen, dem Begehren und den Einbildungskräften. Die Hummerschere als Hosenklammer des Radlertölpels ist zudem das Überbleibsel einer Prothese aus einem anderen Text Jarrys. Sie ist eine enge Verwandte der Prothese eines gewissen Monsieur H***, den Alfred Jarry in einer Kurzgeschichte mit dem Titel »Der Hummer des Hauptmanns« von 1901 porträtiert. Es geht in der Geschichte um die Zurechenbarkeit »galanten« Verhaltens und zweier Ohrfeigen. Der Hauptmann wird dieses Fehlverhaltens beschuldigt, aber bestreitet seine Verantwortung mit Hinweis auf seine Handprothese, die ein lebendiger Hummer ist: Diesem alten Haudegen, Mitglied der Ehrenlegion, wurde der rechte Arm amputiert. Wir haben also zu bedenken, dass der Monsieur T*** zwei Ohrfeigen zwar verpaßt hat, beide jedoch mit der linken Hand. Dem Beispiel des Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand nacheifernd, das er verbessern, ja vervollkommnen wollte, ist ihm zur Vertuschung seiner Behinderung nichts Besseres eingefallen, als sich durch einen geschickten Chirurgen anstelle seiner fehlenden Rechten den vorderen Teil eines lebendigen und durchaus greiffreudigen Hummers aufpfropfen zu lassen.7

Die gepfropfte Hummerhand ist eine lebendigere Maschine als die mechanische Prothese des Götz von Berlichingen, sie steht quer zum militärisch-disziplinarischen Körperregime und sie macht, was sie will. Kein Wunder, dass der Hauptmann nicht mit ihr zurechtkommt und sich aufgrund der Affäre an ihr rächt: Sie wird nach dieser unangenehmen Episode verspeist und durch einen »friedfertigen Nachfolger« ersetzt: eine Büchse potted lobster.8 Die Miniatur verdichtet zentrale Bestände des Körper-Maschine-Diskur7 | Jarry, Alfred: »Der Hummer des Hauptmanns«, in: Die grüne Kerze. Spekulationen. Frankfurt a.M.: Zweitausendundeins 1993, S. 15-17, hier: S. 15. 8 | Ebd.: S. 17.

8. ’Pataphysische Maschinen und warum wer A sagt, nicht B sagen muss

ses: Fragen nach der Zurechenbarkeit von Handlungen innerhalb unübersichtlicher sozial-technischer Systeme, die Frage nach dem Verhältnis von Technik und Natur (potted lobster als Chiffre für eine stillgestellte, industriell verarbeitete Natur). Was dem Hauptmann Sorge bereitet – die Unberechenbarkeit seiner natürlich-künstlichen Hand – ist dasjenige, was einen nicht-funktionalen Maschinendiskurs befeuert, der von Jarry über Dadaismus und Surrealismus durch Deleuze/Guattarische »Wunschmaschinen« bis hin zur Cyborg läuft: Wenn man nie wissen kann, was ein Körper alles tun kann, wenn der organische Körper ein im Werden begriffener ist, kann man auch nicht wissen, was passiert, wenn Körper an Maschinen angeschlossen werden. Die Technik und das Maschinische sind nicht länger Kontrolle und Beherrschung einer lebendigen Natur, sondern selbst welterzeugend. Ich sage welterzeugend und nicht ko-evolutiv, weil mir unser Verständnis von Evolution zu zielgerichtet erscheint. Man müsste sich eine Evolution ohne »survival of the fittest«, ohne funktionale Selektion, ohne Gattungszentrismus vorstellen können. Der Hauptmann mit der Hummerschere hätte diesen Horizont öffnen können, hätte er nicht am Ende die Büchse statt der Pfropfung gewählt. Körper, die andere Körper werden können, Körper die wissen, dass sie geworden sind und andere sein werden, die wissen, dass sie sterben werden, die im Hier und Jetzt Welten und Beziehungen schaffen, die so noch nicht da gewesen sind, die um ihre Situiertheit wissen, die sich selbst treu bleiben, indem sie sich verändern. Das wäre doch wirklich ein Fortschritt gegenüber den unendlich öden und reduktionistischen Steigerungslogiken der Selbstverbesserung. Mit Jarry und Haraway bewegen wir uns innerhalb einer Vorstellung von Technik, die Indetermination groß schreibt und behauptet: Wer A sagt, muss nicht B sagen. Ein Ja zur Technik heißt nicht, ein Ja zu den aktuellen Infrastrukturen und Logiken ihrer Herstellung und erst recht nicht zu Unvermeidbarkeitsbehauptungen, wie etwa der self-fulfilling prophecy namens Moores Gesetz. Sie führen einen phantastischen Realismus der Technik vor, der um ihre materiellen und epistemologischen Voraussetzungen weiß.

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Für die aktuelle Situation kann man formulieren: (Digitale) Technologien sind Resultat, Ausdruck und Medium eines globalen Kapitalismus, sie sind durch den Auftrag zur Selbstverbesserung und durch einen Kommunikationsimperativ mit Individuen verschaltet, sie tendieren zur Selbstabschließung im Sinne der Verkapselung ihrer Geschichte in schierer Funktionalität. Aus dieser Verortung (A) folgt aber nicht, dass ein (B) Weg in eine lichte oder apokalyptische Zukunft schon sichtbar wäre.

9. Teilsouveräne statt verbesserte Körper

Wie aber anders über die Tatsache nachdenken, dass unsere Körper immer nur teilweise unsere sind? Welche Bilder, Erzählungen und Begriffe haben wir, um zu verstehen, dass wir von sozialen und maschinischen Technologien durchdrungen sind, dass wir von nichtmenschlichen Wesen behaust sind? Der Frage nach zukünftigen Körpern ist – diesseits von Verbesserungsideologien – stets die Intuition beigemischt, dass immer etwas mithandelt, wenn wir handeln, dass immer etwas mitdenkt, wenn wir denken, dass immer etwas mitempfindet, wenn wir empfinden. Diese Intuition, die ein Index unserer hoch vernetzten Gegenwart ist, ruft aber ganz unterschiedliche Szenarien auf: einmal den Horror der Fremdbestimmung. Er begegnet uns im Kino, im Caféhaus, in der Straßenbahn. Er kann die Gestalt der unsichtbaren Hand des Marktes haben oder ergreift in der Rede von einer diffusen Macht der Massenmedien die Gewalt über unsere Köpfe. Verschwörungstheorien und Paranoia sind das eine, aber dass äußerliche Rationalitätsstrukturen das Handeln und Denken des Individuums wesentlich prägen, ist dennoch richtig. Auf der lichteren Seite erscheinen aber mit der Intuition, dass immer etwas/jemand mithandelt, Utopien der Entlastung des Ich: Szenarien der Gegenseitigkeit, der Anhänglichkeit, der Verzögerung des Weltenlaufes durch Passivität oder durch Zurückgenommenheit. Solche Szenarien sind Antworten auf einen sozioökonomischen Befund. Man kann zu dem, was wir gegenwärtig erleben, Kontrollgesellschaft, bzw. kognitiver oder affektiver Kapitalismus sagen. Oder man bezeichnet die gegenwärtige Ära als eine der permanenten Anregung und Produktivmachung aller Lebenskräfte.

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Jedenfalls leben wir in einer Situation, in der wir nicht länger nur partiell adressiert und in ökonomische Strukturen involviert sind, sondern dauernd und als ganze Personen. Bis vor Kurzem bestand ein Lebenslauf im wesentlichen darin, von einem »Einschließungsmilieu« (Michel Foucault) ins nächste überzutreten: von der Familie in die Schule ins Militär in den Beruf. In jedem einzelnen Milieu wurden aber immer nur Teile der Persönlichkeit adressiert und involviert. Inzwischen sind wir mit unserer ganzen Biographie, mit all unseren körperlichen und mentalen Fähigkeiten in eine Verlaufsform der Produktion miteinbezogen, die kaum Unterbrechungen kennt. Organisierte Auszeiten sind rar geworden, die Trennung von Arbeit und Freizeit kollabiert in einem Feld von Dauertätigkeit, die in ihrer aktuellen Ausprägung von den Informationstechnologien ermöglicht wird. Was dabei herauskommt nennt man dann euphemistisch: lebenslanges Lernen; oder auch: work-life-balance. Auf der Hinterseite dieser Tendenz zur Gesamtinvolvierung der Person entsteht deshalb seit einiger Zeit eine Utopie des nur Halben. Halb involviert sein, die halbe Leistung bringen. Muss das nicht reichen, um seinen Job gut zu machen? In Bezug auf abhängige Beschäftigungsverhältnisse würden wohl viele beim Vorschlag des Halbierens mitgehen. Aber kann man eine nur halb engagierte Haltung in Bezug auf künstlerisches und intellektuelles Arbeiten kultivieren? Ich möchte im Folgenden versuchen, einen Begriff der Teilsouveränität herauszupräparieren, der es hoffentlich erlaubt, diese Fragen zu adressieren. Ich bin sicher, dass Ameisen dabei helfen können. Im Zuge des Nachdenkens über teilsouveränes Handeln, über geteilte Handlungsmacht haben sie mir immer wieder auf die Sprünge geholfen. Zum Beispiel dieses Geschöpf namens Messor structor.

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Abbildung 7: Messor structor trägt einen Platanensamen, Foto: B. Seifert/Senckenberg

Was an diesem Vorgang ist halb? Messor structor, die brave Arbeiterin, schleppt doch den Platanensamen mit ganzer Kraft! Ihr Name – Messor – verweist zum einen auf das Mähen, denn Messor ist einer der 12 Erntegehilfen der römischen Göttin des Ackerbaus Ceres. Structor heißt: die Bauende. Auf den ersten Blick ist das Handeln hier eindeutig verteilt. Die Ameise arbeitet, der Samen wird geschleppt. Man kann aber auch Samen und Ameise als ein Ganzes ansehen, das aus zwei aufeinander bezogenen Teilen besteht. Samen und Ameise bilden dann gemeinsam ein Aggregat (oder auch: eine assemblage), das mehr ist, als die Ameise alleine oder der Samen alleine. Denn auch der Platanensamen braucht die Ameise, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Die Ameise trägt den Samen an einen Ort, an dem er potentiell irgendwann zu einem Baum werden kann. Sie tut das aber nicht, um den Interessen des Samens entgegenzukommen, sondern weil der Samen wiederum für die Insektengesellschaft von Nutzen ist. Man kann ihn essen und für bauliche Verbesserungen am Bau verwenden. Ameisen tragen mit ihrer emsigen Schlepperei deshalb erheblich zur Umschichtung

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der oberen Erdschichten und eben auch zur Verbreitung von Samen bei. Kann man daraus irgendetwas für eine Betrachtung des menschlichen, technischen Handelns ableiten? Denn nichts davon geschieht – das ist der klassische Einwand – im starken Sinn intentional. Beim Aggregat Samen und Ameise sind ökologische Anpassungs- und Optimierungsprozesse am Werk, von denen sich das menschliche Handeln fundamental unterscheidet: Das erhabene Drama der menschlichen Kultur bestehe eben darin, aus solcherart ökologischen Prozessen ausscheren zu können. Menschliches, intentionales Handeln ist gerade nicht programmgesteuert wie das Verhalten der Ameise, es ist überschüssig, manchmal unsinnig, stets jedoch reflexiv und projektiv, ein Angelegenheit der langen Wege und bewussten Entscheidungen. Die apokalyptische Version dieser Erzählung von der Einzelstellung des Menschen läuft auf die Selbstvernichtung der Menschheit durch den exzessiven Eingriff in natürliche Kreisläufe hinaus. Die fortschrittsgläubige Version auf die unendlichen Möglichkeiten der technischen Optimierung. Die Ameise ist das Wappentier eines wissenschaftsphilosophischen Paradigmas: der Actor-Network-Theory, kurz ANT, also ant, also Ameise. Die Actor- Network-Theory, ihr prominentester Vertreter ist Bruno Latour, zeichnet sich dadurch aus, dass sie, wie der Name schon sagt, das Soziale als ein Verflechtungswerk betrachtet, als ein dynamisches Gebilde, in dem Menschen und nicht-menschliche Wesen Verbindungen, Assoziationen eingehen, sich einander verbindlich machen. Im Gegensatz zur traditionellen Soziologie und Anthropologie wird hier postuliert, dass es keinen substantiellen, sondern einen graduellen Unterschied zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Handeln gibt. Ein Akteur ist jeder/alles, der/das einen Unterschied macht. Latour macht dieses Symmetrieprinzip insbesondere in Hinblick auf technisches Handeln stark. In einem Aufsatz, der dem griechischen Erfinder Dädalus gewidmet ist 1, wendet er sich einem klassischen Fall der Technikdebatte zu, dem Gebrauch von Schusswaffen. Ein technikdeterministischer 1 | B. Latour: Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen.

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Ansatz – meist wird er von Technikskeptikern verwendet – sagt: Erst die Waffe macht den Schützen. Amokläufe von Teenagern würden nicht passieren, hätten nicht ihre waffennärrischen Väter zu Hause Gewehre gebunkert. Die Handlungsmacht liegt bei der Waffe. Der voluntaristische Ansatz, der zum Beispiel von der National Riffles Association, der US-Waffenlobby, vertreten wird, postuliert hingegen, dass die Waffe als solche passiv sei, dass es den Willen des Schützen brauche, um sie zu aktivieren. Schuld am Amoklauf ist nicht die Waffe, sondern der Schütze. Die Handlungsmacht liegt allein beim menschlichen Akteur. Latour schlägt nun eine Deutung vor, derzufolge die assemblage »Schütze-und-Waffe« ein Drittes bildet. Technisches Handeln kann sinnvoll nur als Zusammenspiel von Intention und Ablenkung beschrieben werden. Eine wie auch immer geartete Motivation oder Intention des Akteurs ohne Waffe (Selbsthass, Welthass) wird verändert, sobald das technische Gerät ins Spiel kommt. Latour spricht in diesem Zusammenhang von einer speziellen Art der »Delegation«: Ein script wird auf eine nichtmenschliche Entität übertragen und verfestigt sich im technischen Artefakt zu einem Handlungs-Programm. Sein Beispiel hierfür ist der »schlafende Polizist«, diese ärgerlichen Bodenwellen, die zum Abbremsen zwingen. Statt einer Bodenwelle könnte die zuständige Behörde auch ein Schild anbringen, das den Autofahrer/die Autofahrerin dazu auffordert, langsamer zu fahren. Man appelliert dann an sein/ihr Gewissen bzw. an seine/ihre Geldbörse, man droht mit einer sozialen Sanktion. Oder aber man baut eine Bodenwelle und »delegiert« die Aufforderung »Langsam fahren!« an Beton und Federung. Man kann diese Konstellation nun weiterhin in Vokabeln des Zwangs beschreiben: Die Technik zwingt den Menschen zu einem bestimmten, sozial erwünschten Verhalten. Oder man folgt Latour ein wenig weiter und beobachtet die Verkettungen, die zu dieser und genau dieser Infrastruktur geführt haben. Darin besteht seiner Meinung nach die Aufgabe der ANT, der ants, der Ameisen: den Spuren zu folgen, die Prozesse aufdecken, die zu einer ganz bestimmten soziotechnischen assemblage führen. Dann stellen sich andere Fragen, die in den Zuständigkeitsbereich von Chemie, Physik

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und Ingenieurswissenschaften fallen und die zum Beispiel lauten: Welche materiellen Eigenschaften von Beton können mobilisiert werden, damit die gewünschte Wirkung auf die Federung auftritt? Das Material erhält agency, denn es ist nicht beliebig, aus welchem Material die Bodenwelle gemacht ist. Die Widerständigkeit der materiellen Welt wird nun doppelt relevant: Einmal als Widerstand gegenüber der symbolischen Aneignung (aus Beton können nicht beliebige Formen gegossen werden) und als Abstoßungsverhalten zwischen Beton und Federung, die erst den gewünschten Effekt erzeugen. Weiterhin spielen natürlich soziologische, psychologische und medizinische Überlegungen eine Rolle, etwa, wie viel Beschädigung an ihrem Auto die Besitzer wohl hinnehmen würden bis hin zur Frage, wann die Bodenwelle gefährlich wird. All dies sind scripts: Überlegungen, Programme, meinetwegen auch Ideologien, die in das Artefakt eingehen. Aber: Das gebaute technische Artefakt enthält eine andere Form des Appells als ein semiotisches Artefakt (Schild), das einen – ikonisch verkürzten – Weg über Wiedererkennung, Interpretation und Entscheidung erforderlich macht. Man sieht schon bei diesem einfachen Beispiel: Halbe Sachen und geteiltes Handeln sind nicht unschuldig. Gerade technische assemblagen erzeugen Irreversibilitäten, die sogenannten Sachzwänge, die im Fall von technischen Infrastrukturen sehr schnell sehr unübersichtlich werden. Man braucht dann schon ein Leseprogramm namens ANT, um diese »Sachzwänge« aus der black box zu holen und zu revidieren. Eine Revision kann damit beginnen, dass man, wie Madelaine Akrich2 das getan hat, den konkreten Umgang mit Technologien beobachtet. Man wird immer eine Gemengelage aus script-gemäßer Nutzung und Umnutzung, von Funktion und Umfunktionierung vorfinden. Die in Technologien eingeschriebenen Programme mögen Nutzungswege vorzeichnen, in der konkreten Praxis sind aber Abweichungen möglich und häufig. 2 | Akrich, Madeleine: »Die De-Skription technischer Objekte«, in: Belliger, Andréa und Krieger, David (Hg.): ANTthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 407-428.

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Von der Warte dieser Art der Technikphilosophie aus betrachtet scheint also teilsouveränes Handeln wenig exotisch. Im Gegenteil scheint es hoffnungslos naiv, von einer Souveränität auszugehen, die allein im Menschen und seinen Intentionen liegt. Auf Seiten der Kultur- und Sozialwissenschaften stellt sich die Sache ebenso gewunden dar. Und auch hier herrscht ein tiefes Misstrauen gegenüber dem souveränen Subjekt, das individuell und rational seine Entscheidungen fällt. Zum einen ist dieses Misstrauen wohl ein Effekt statistischer Wissensformen: Die frappierendsten Erkenntnisse hatte die frühe Soziologie auf Gebieten, von denen die bürgerliche Welt annahm, sie seien die individuellsten überhaupt, etwa im Bereich der Heiratsmuster: Intuitiv gehen wir immer noch davon aus, dass die Partnerwahl eine individuelle, ja idiosynkratische Entscheidung ist. Die Partnerwahl ist schließlich unterfüttert durch das Prinzip »Liebe als Passion«.3 Liebe muss in der Neuzeit leidenschaftlich sein, darf nicht arrangiert oder durch Standeskalküle geprägt sein. Die Partnerwahl erfolgt radikal autonom. Genau auf diesem Gebiet wurden aber mit Aufkommen der Statistik ganz erstaunliche Regelmäßigkeiten festgestellt, z.B. was Zeitpunkt und Milieuspezifik der Partnerwahl betrifft. Die Notwendigkeit, nach Teilsouveränitäten zu fragen, ergibt sich also aus der soziologischen Erkenntnis, dass individuelles Handeln in der Moderne stets in ein schier endloses Geflecht überindividueller Prozesse eingebettet ist, zu deren Aufklärung Gesellschafts- und Interaktionsmodelle in großer Zahl entwickelt wurden. Zum anderen – und das ist die Argumentation, die meiner Meinung nach schwerer wiegt – wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Kulturtheorie und der Philosophie herausgearbeitet, dass das frei wählende, souveräne Subjekt nicht einfach gegeben, sondern historisch spezifisch ist. Eines der größten Rätsel der politischen Theorie ist das der freiwilligen Unterwerfung (subjectum heißt nicht von ungefähr »Unterworfenes«). Wie kommt es, das ist die Rätselfrage schlechthin, dass sich Individuen ohne die 3 | Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.

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Androhung oder Ausübung von manifester Gewalt fügen, mitmachen, dem Staat dienen, brave Angestellte und Arbeiter sind? Michel Foucault ist es zu verdanken, dass wir etwas besser verstehen, wie es kommt, dass der Appell an die individuelle Entscheidungs- und Leistungsfähigkeit des Bürgers ihn partiell befreit (aus den Fesseln der ständischen Disziplin, aus dem Paternalismus der Kirche), ihn aber gleichzeitig umso fester an die Agenturen der Regierung und der Ökonomie bindet. Es ist die Adressierung als frei wählendes Subjekt, die sein Leben zu einem Projekt macht, die aber auch die Maschine der Vergesellschaftung in Gang setzt. Goethes Wilhelm Meister ist eine frühe Analyse dessen: Hinter dem Rücken Wilhelm Meisters werden jene Sicherheits-, Anreiz- und Belohnungssysteme installiert, die es für ihn plausibel machen, sich »frei« für Ehe und bürgerlichen Beruf zu entscheiden.4 Um 1800 wurde zunächst die bürgerliche, männliche Bevölkerung in dieser Form »subjektiviert«. Sukzessive und als Resultat politischer Kämpfe wurden immer größere Personengruppen in das Modell miteinbezogen. Das durchaus paradoxe Resultat sozialer Kämpfe ist deshalb, dass die Forderung nach Anerkennung des Subjektstatus (z.B. der Frauen) immer auch eine Miteinbeziehung in die Unfreiheit ökonomischer Verhältnisse bedeutet. Linda Zerilli5 hat beispielsweise herausgearbeitet, dass die erste Frauenbewegung volkswirtschaftliche Nützlichkeitsargumente eingesetzt hat, um für politische Rechte zu kämpfen. Die Argumentation ging – verkürzt gesagt – folgendermaßen: Wenn ihr uns arbeiten lasst, studieren lasst und das Wahlrecht gebt, werden wir Frauen dafür sorgen, dass besser gearbeitet wird, dass die Welt gebildeter wird und die Politik moralischer. Ich argumentiere absichtlicht überspitzt, um herauszustellen, was an teilsouveränen Handlungsmodellen, an einer Verweigerung der aktiven Teilhabe, attraktiv und politisch sein kann. In einer Epo4 | Vgl. dazu.: Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin, Zürich: Diaphanes 2004. 5 | Zerilli, Linda M. G.: Feminism and the Abyss of Freedom, Chicago, London: University of Chicago Press 2005.

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che der Ubiquität von Vitalitäts- und Produktivitätsimperativen ist die Verweigerung souveränen Handelns, die Depotenzierung des Selbst, ja selbst Objektwerdung, eine Form der Widerständigkeit: Ich möchte nicht in meiner ganzen Person zur Appellationsfläche von Nutzenkalkülen werden. Rückblickend könnte man sogar vielleicht sagen, die heroische, maskuline Moderne habe sich mit aller Kraft gegen die Wirklichkeit der Heteronomie des Handelns gestemmt und dabei unfreiwillig bereitwillige, vitale, kreative Subjekte hervorgebracht. Passiv werden, Objekt werden, das sind interessante Optionen in einer vor Vitalität nur so strotzenden politischen Ökonomie. Teilsouveräne Handlungsträgerschaft muss aber nicht zwingend in eine Ethik der Reduktion und der Zurücknahme münden. Ich möchte an dieser Stelle darauf zurückkommen, was Entwürfe teilsouveränen Handelns mit Milieus und Ökologien zu tun haben. Meine These ist: Teilsouveränes Handeln ist immer situiert, niemals skalierbar oder generalisierbar. Ich möchte deshalb zwei künstlerische Projekte kommentieren, die für mich zentrale Aspekte des Ökologischen und Situierten visualisieren. Das erste ist Rivane Neuenschwandners Videoarbeit Aschermittwoch/Epilog (2006), die sie gemeinsam mit Cao Guimarães produziert hat. Der Titel etabliert den Tag nach dem Ende des Karnevals (vielleicht in Rio) als den Zeitpunkt des Geschehens. Zu magischem Geklimper betätigen sich die Ameisen als Aufräumtrupp nach der wilden Party. Die Bewegungen der Ameisen wirken selbst wie ein Tanz, wie eine Choreographie, die sich an das Milieu rhythmisch anpasst. Neuenschwandner sagt dazu »Ätherischer Materialismus«. Ich würde lieber sagen: Poetischer Realismus. Ich denke, dass ein solcher poetischer Realismus der Darstellung von Teilsouveränität gut zu Gesicht steht. Der Realismus, den ich meine, ist nicht die Darstellung des Augenfälligen. Denn Realität besteht aus weit mehr als aus dem, was ein menschliches Individuum als Teil seiner »Lebenswelt« wahrnehmen kann. Auf die außermenschlichen Zonen der Realität erhascht man nur mittels spekulativer oder poetischer Gesten einen Blick. Die Wissenschaften sind manchmal gut darin,

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solche Blicke zu erhaschen, die Künste auch. Was ich vorschlage ist eine Methode, die Gilles Deleuze in einem kleinen Text über Alfred Jarry skizziert hat. Er nennt sie Epiphänomenologie. Anstatt einer Phänomenologie, die das menschliche Subjekt als Wahrnehmendes ins Zentrum stellt, würde die Epiphänomenologie anerkennen, dass Wahrnehmung und Ausdruck nicht zwingend im wahrnehmenden, denkenden, menschlichen Subjekt liegen. Epiphänomene liegen vielmehr auf der Schwelle von außermenschlicher Materialität und menschlicher aisthesis. Ein beliebiges Klangereignis besteht beispielsweise aus weit mehr Schwingungen als aus jenem Klangspektrum, das das menschliche Gehör aufnehmen kann. Nur weil die Schwingungen für uns nicht hörbar sind, durchdringen sie dennoch den Raum, resonieren mit Gegenständen und Lebewesen. Nur in Ausnahmefällen können wir solche Affizierungen, die unsichtbar und unhörbar auf molekularer Ebene stattfinden, bewusst wahrnehmen. Aber sie wirken dennoch und wir können sie uns vorstellen, da uns beispielsweise die Physik Bilder von Klangwellen gegeben hat. Die Künste und die Wissenschaften können Übersetzungen solcher außermenschlicher Epiphänomene generieren und spekulativ über die Grenzen der Perzeption hinaustreiben. Die nächsten Ameisen spielen in Werner Herzogs Film von 1984 Wo die grünen Ameisen träumen eine zentrale Rolle, auch wenn man sie nicht sieht. In dem Film geht es um den Kampf einer Gruppe von Aborigines im Western Territory/Australien gegen die Ayers Mining Company. Diese stellt Probesprengungen an, um nach Plutonium zu suchen; die Aborigines reklamieren das Land als ihres, allerdings erfolglos: Sie sind in einer früheren Phase der Kolonisierung auf dieses Land umgesiedelt worden und haben deshalb keinen Rechtsanspruch darauf. Sie wehren sich gegen die Probesprengungen mit einem etwas komplizierten, aber nichtsdestotrotz »territorialen« Argument. Sie sagen: In diesem Boden leben die grünen Ameisen, die die Menschen erträumt und ihnen das Feuer gebracht haben. Ihre Argumentation landet aber im falschen Wissensmilieu, nämlich in dem des gesatzten Rechts, das träumende Ameisen als Subjekte nicht kennt.

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Im Film gibt es vielerlei Szenen der Besetzung und der Lokalisierung: Aborigines, die einfach sitzen bleiben, wenn sich der Bagger der Mining-Company unerbittlich nähert, Aborigines, die mitten in der Wüste auf ein von ihnen als Abfindung bestelltes Flugzeug warten. Herzog bleibt jedoch nicht exotisierend beim Stillhalten und Warten der »Primitiven« stehen, während um sie herum die Zivilisation nach vorne stürmt. Auch eine alte, wohl britischstämmige, Dame harrt mitten in der Wüste aus, weil ihr Hund entlaufen ist. Der Linguist und Anthropologe Arnold hat sich längst in der Wüste angesiedelt und zum Schluss verlässt auch der Protagonist, der Geologe Hackett, den Container der Bergbaugesellschaft – diesen Inbegriff des mobilen Lebens –, um in der Wüste zu bleiben. Das Stillhalten wird mit aktivem Träumen, mit einem »Herbeiträumen« assoziiert. Es geht um die Darstellung eines passiven Aktivismus, eines aktiven Stillhaltens. Eine der beeindruckendsten Szenen ist eine Gerichtsszene, in der die faktische Ungleichheit von Wissen und die Unmöglichkeit, etwas Hörbares zu verstehen im Zentrum stehen. Es ist die Frage nach der Vollwertigkeit der Aborigines als Rechtssubjekte, die hier zur Disposition steht. Ihre Forderung nach Land steht als irrationale Forderung infrage und ihre angebliche Unfähigkeit, Sachverhalte realistisch zu erfassen, wird vor Gericht gestellt. Der Linguist und Anthropologe Arnold, der sich auf ihre Seite gestellt hat, ist im Zeugenstand, als sich von hinten ein Mann nähert und in einer unbekannten Sprache gesetzt zu sprechen beginnt. Das Gericht ist verwirrt: Blackwell Mr. Karrawurra! Sie sind nicht aufgerufen. Mr. Miliritbi, können Sie das Herrn Karrawurra bitte klarmachen. Miliritbi Herr Vorsitzender, ich kann das leider nicht. […]

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Blackwell Mr. Miliritbi, der Kläger Karawurra wurde mir zu Beginn des Verfahrens als »Stummer« dargestellt. Ich bin etwas verwirrt. Miliritbi Euer Ehren, das ist ein Irrtum. Karrawurra wird nur der Stumme genannt, aber kann sprechen. Blackwell Dann übersetzen Sie bitte. Miliritbi Ich spreche nicht Worora Blackwell Ist unter den Klägern oder Zeugen jemand, der uns übersetzen könnte? Ein Moment Stille, niemand meldet sich. Miliritbi Euer Ehren. Außer ihm gibt es niemanden auf der Welt, der seine Sprache spricht. Sein Stamm ist ausgestorben. Er ist der Einzige und Letzte seines Volkes. Deshalb nenen [sic!] wir ihn den Stummen, weil er niemanden mehr hat, mit dem er sprechen könnte. 6

In der Figur des Stummen, der spricht, bricht die historische Asymmetrie der Situation in das Gericht mit seiner Egalitätsfiktion herein. Aus dem Gericht wird – so könnte man überspitzt sagen – kurzfristig ein Parlament der Dinge und Menschen. Es zeigt sich als doppelter Raum: Es ist ein Ort, der die Artikulation von Streitsachen zwar ermöglicht, aber sie nicht angemessen behandeln kann, wenn jemand die Voraussetzungen des Sprechens nicht erfüllt. Jemand, 6 | Herzog, Werner: Fitzcarraldo. Wo die grünen Ameisen träumen. Filmerzählungen, Berlin: Volk und Welt 1987, S. 185-87.

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dem sie eigentlich nicht zugestanden wird, eignet sich im Film in einem theatralen Akt Souveränität an. Er steht auf, tritt nach vorne, spricht. Das Aufflammen der Möglichkeit einer anderen, besseren Form von Recht und von Sprechen ist von kurzer Dauer: Die Aborigines verlieren den Fall aufgrund der eindeutigen – und eindeutig zynischen – Rechtslage. Die, mit Robert Musil gesprochen, »pedantische Genauigkeit« des Gerichts erkennt die Forderung nach Rechten für träumende, grüne Ameisen nicht an. Die Jurisdiktion erweist sich damit aber als eine äußerst ärmliche Praxis, die gerne mehr Wirklichkeiten anerkennen würde, aber trotz guten Willens seitens des Richters nicht dazu in der Lage ist. Der Richter entspricht dabei in seiner Hilflosigkeit etwa dem Anwalt in Hermann Melvilles Bartleby-Story. Auch der Anwalt, Bartlebys Arbeitgeber, möchte ihm helfen, kommt aber nicht über sein System hinaus. Der Film appelliert in dieser Szene eindringlich daran, das Milieu des Gerichts mit seiner ganzen materiellen und immateriellen Infrastruktur im Sinne Latours zu »deskribieren«, zu revidieren. Wenn sich der stumme Sprecher von hinten dem Mann im Zeugenstand nähert und dieser höflich den Platz frei macht, wird die hierarchisierende Infrastruktur des Gerichts in dieser Geste exponiert. Dieser Aspekt scheint mir aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive zentral: Wir müssen den Blick auf das Milieu des stummen Sprechers, einer Bartleby-Figur, gleiten lassen. Durch sein »I’d prefer not to« reorganisiert Bartleby nämlich nach und nach das ganze Büro. Das Büro, das Milieu, das Medium löst sich bei Melville am Ende auf und wird weggetragen. Mit der Thematisierung der Infrastruktur entsteht auch bei Herzog die Vorstellung einer anderen Infrastruktur der Entscheidungsfindung als derjeniger des Gerichts. Die Dinge, die hier gewaltsam mithandeln, die Architektur, aber auch die Regeln des Rechts werden, in dem sie sichtbar werden, zumindest potentiell, revidierbar. Die Frage nach den mithandelnden Dingen führt so zu einer gesteigerten Sensibilität für die Verzahnung von Handlungsoptionen, Infrastrukturen und Wissensmilieus. Es wird deutlich: Ein bestimmtes Wissen hat immer nur in einem bestimmtem Milieu Geltung. Die gebaute In-

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frastruktur des Gerichts, die strukturierte Einteilung des Raums – Orte für den Richter, für den Zeugen, für den Angeklagte – erweist sich als ein Resultat einer kolonialen, also gewaltgesättigten Rechtsordnung, die Sprecherpositionen ungleich verteilt. Die zweite Linie, die man extrahieren kann, wäre, dass man den Film selbst als einen Raum der Erfindung kosmopolitischer, teilsouveräner Subjekte konzipiert. Herzog entwickelt in diesem Film eine Bildersprache für eine engagierte, partiale, lokale und situierte Perspektive, die sich mit der nivellierenden Tendenz wissenschaftlicher, marktwirtschaftlicher und rechtlicher Wissensformen reibt. Sichtbarkeiten und Hörbarkeiten werden durch die Parteilichkeit der Kamera, durch die Modulation von Ton-Bild-Verhältnissen dauernd neu verteilt. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, aber zwei Momente von Subjektivierung jenseits voluntaristischer Individualität und identitär fixierter Kollektivität seien exemplarisch benannt. Erstens: die exzessive Thematisierung von Übersetzung während des ganzen Films, die Betonung des Umstands, dass Hörbarkeit und Artikulation nicht zwingend mit Verstehen korreliert ist, dass Sichtbarkeit nicht mit Anerkennung korreliert ist. Vielmehr suggerieren Sound und Bilder eine emergierende, ereignishafte Sprache, eine Sprache, die ihren Sprecher noch nicht gefunden hat. Zweitens: Landschaften als Handlungsträger. Die Wüste selbst bekommt hier viele Stimmen. Sie singt in unterschiedlichen Tonlagen: heftiger Wind reibt sich an den Sandkörnern, dazu kommen das europäische Repertoire musikalischer Affektsteuerung, die Musik der Aborigines, die Maschinengeräusche. In Werner Herzogs Film werden die Aporien sich selbst nicht transparenten, vermischten Handelns im globalen Maßstab in der zunehmenden Spaltung des Protagonisten verdeutlicht: Es sind nicht Nutzenkalkül und rationale Überlegung, die den Geologen Hackett in die Wüste führen, und er ist deshalb auch nicht – wie sein Vorarbeiter ihm zu einem Zeitpunkt entgegenbrüllt – »persönlich« verantwortlich für alles, was dort passiert. Die historischen Verflechtungen zwischen der Geologie als Wissenschaft von den Gesteinsschichten und der exzessiven Nutzbarmachung von Natur

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haben ihn auf verschlungenen Pfaden an diesen und genau diesen Ort geführt, an dem er nun zu agieren gezwungen ist. Seine Liebe zur Wüste und zu den Steinen, sein Hang zu Träumereien geraten schrittweise in Konflikt mit den Interessen seines Arbeitgebers. Er ist zwar – symmetrisch zu den Aborigines – nicht als Rechtsperson und nicht als Individuum verantwortlich für das, was schief geht, aber im Verlauf des Films beginnt er, die eigenen Verstrickungen zu erkennen. Er begreift seine Abhängigkeiten, entdeckt die Situiertheit seines eigenen Denkstils und entwickelt Formen der Höflichkeit den Aborigines gegenüber. Er übernimmt die Verantwortung für die Folgen und Rückwirkungen einer Situation, die er selbst nicht verschuldet hat. Merkmale partiellen Handelns wären somit: eine erfundene Situiertheit, die einen Prozess der Treue auslöst, historische Ungleichzeitigkeit und notorische Ungleichheit der Handlungskompetenzen sowie Unübersichtlichkeit von Kausalitäten. Handlungsoptionen sind in Wissensmilieus eingeschrieben und können nicht aus diesen extrahiert werden. Niemand und nichts entscheidet sich souverän dafür, welchem Knäuel von Verbindungen er/sie/es angehört und es sind immer partiell aktive und partiell passive Prozesse am Werk, wenn gehandelt wird. Mit Donna Haraway und Isabelle Stengers folgere ich daraus aber nicht, dass alles Wissen und Handeln relativ ist. Es folgt vielmehr daraus eine starke Form der Verantwortung, die sich auch auf das erstreckt, was sich vom aktuellen Standpunkt aus nicht überblicken lässt. Eine solche, wenn man so will, spekulative Wissensethik bezieht sich auf Praxisformen und nicht auf Wissensformen, auf Ökologien von Interessen und nicht auf die Fiktion eines von einem souveränen Subjekt ausgehenden Willens. Eine weitere künstlerische Arbeit mit Ameisen bringt einen entscheidenden Akteur im Theater der Teilsouveränität auf die Bühne: die Geschichte. Der slowenische Künstler Janez Janša hat letztes Jahr mit einer Gruppe Studierender der FU-Berlin eine Künstlerinnengruppe wiederentdeckt: Das feministische Kollektiv Küche 11 hat in den 70er-Jahren in Westberlin mit Ameisen gearbeitet. Die 8

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Frauen wollten damit auf weibliche Tätigkeiten (Kochen, Putzen) als unsichtbare und unbezahlte Arbeit hinweisen. Das Kollektiv hat Installationen im städtischen Raum (z.B. die Anlage von Ameisenstraßen) veranstaltet und eine Ameisenoper komponiert. Die Studierenden haben letztes Jahr auf Basis von Archivmaterial und Interviews mit ehemaligen Gruppenmitgliedern diese Oper reinszeniert. Dabei blieb jedoch offen, ob das Kollektiv jemals wirklich existiert hat. Die Dimension des Historischen ist zentral, denn nicht alles, was mithandelt, befindet sich im Hier und Jetzt. Einen großen Teil der unpersönlichen Anteile des Handelns sind wir gewohnt, Geschichte zu nennen. Das Historische verstehe ich dabei nicht als das schlechthin Unverfügbare. Es ist auf komplizierten Wegen erreichbar und es ist auch nicht jener Albdruck, als den es der historische Materialismus begreift und der dann in heroischer Anstrengung abgebaut werden muss. Das Historische möchte ich mit Siegfried Kracauer als einen Vorraum 7 des Denkens und Handelns konzipieren. Als einen Vorraum, in dem ungelöste Probleme insistieren (etwa dasjenige der weiblichen Sorgearbeit) und darauf warten, erneut aufgegriffen zu werden. Kracauer sagt zu den Problemen und Dingen, die im Vorraum warten, »lost causes«, also verlorene Prozesse (auch im gerichtlichen Sinn). Die Gegenwart, der akute Raum des Handelns, liegt in einem solchen Verständnis nicht auf der Spitze eines Zeitpfeils, er ist durchdrungen von anderen Räumen und Zeiten, ein Schwellenraum, in dem alles Mögliche herumliegt. Wenn wir also davon ausgehen, dass das, was wir als überindividuelle Regulation wahrnehmen (die Sprache, Regierungen, Wirtschaftssysteme, Maschinen, mediale Programme, Konventionen aller Art) ein Resultat vergangener Konfliktfälle und Sozialisierungsversuche ist, dass in diesen aber auch ungegangene Wege insistieren, dann wäre ein forciertes Innehalten doch auf jeden Fall wünschenswert. Um einerseits das zu evaluieren, was »ohne Inventarvorbe7 | Vgl. das Kapitel 8 »Vorraumdenken« in: Kracauer, Siegfried: Geschichte. Vor den letzten Dingen, mit einem Vorwort von Paul Oskar Kristeller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.

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halt« (Antonio Gramsci) auf uns gekommen ist. Und um andererseits zumindest ein paar Zeitkristalle zu evakuieren, in deren Spiegelflächen wir uns die Gegenwart ansehen können. Es geht dann darum, jene Entitäten sichtbar zu machen, die den amorphen Raum zwischen Gedanke, Vorstellung und Tat bevölkern: die Geister der Vergangenheit, die medialen Dispositive, die angeblichen Kausalitäten. Man bekommt dann Kulturwissenschaft als slow science. Man bekommt Verlangsamungs- und Anreicherungsprozesse, man bekommt eine Treue zum Problematischen. Es gilt also, mit ganzer Kraft geteilt souverän zu sein. Und dabei nicht zu vergessen, dass die Vorstellungskraft eine der wichtigsten Kräfte am Werk ist. Es braucht dann etwas wie eine Athletik des Heteronomen: wie Buster Keaton an den gesellschaftlichen Maschinen herumturnen. Es braucht das störrische Insistieren auf Situiertheit und eine Aufenthaltsgenehmigung im historischen Vorraum. Es braucht das Erträumen von Fluchtlinien: wie die Aborigines, die geduldig auf das Flugzeug warten, das ihnen als Abfindung versprochen wurde und das dann auch wirklich kommt. Was heißt das alles für ein Nachdenken über zukünftige Technokörper? Es heißt zunächst und zuallererst: Es gibt keinen Körper 2.0, keine Versionierung, keine Vorhersehbarkeit des technischen Fortschritts. Aber es gibt eine Teilsouveränität des Handelns, eine fortlaufende Vermischung und Komplizierung des Handelns. Es gibt immer wieder neue Relationen, neue Kommunikationsweisen, neue Selbstverhältnisse, ungeahnte Körper. Es gibt Handeln, Wahrnehmen, Denken, das von nicht-menschlichen Akteuren abgelenkt und ergriffen wird. Daran ist nichts Unschuldiges, denn jedes neue Verhältnis trägt seine Risiken in sich und die Frage nach Dominanzverhältnissen bleibt pertinent: Immer besteht die Gefahr, dass in einer, wie auch immer heterogen zusammengesetzten, Assoziation die Möglichkeit der Widerrede, der Artikulation von Unbehagen, von Dissens getilgt ist. Und Technologien haben eine Tendenz zur Verhärtung der ihnen eingeschriebenen scripts. Eine Maschine ist nicht so leicht wieder auseinanderzunehmen, jedenfalls, wenn man sie weiter benutzen möchte.

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Aspekte der Anhänglichkeit, der wechselseitigen Verpflichtung, der gegenseitigen Ergreifung in einer technowissenschaftlichen assemblage sind in Anne McAffreys Serie von Science-Fiction-Stories, die 1969 als The Ship Who Sang publiziert wurden8, zentral. Ich komme damit wieder zu meinen Ausgangsüberlegungen zurück, die sich um eine Zuspitzung der Frage nach enhancement mit Blick auf Anderskörperliche, mit Blick auf Teilhabe und Biopolitiken drehten. Die Protagonistin der Kurzgeschichtenserie, die – ähnlich wie Oswald Wieners bioadapter – im Horizont der aufstrebenden Kybernetik entstanden ist, ist Helva. Sie kommt körperlich schwer »behindert« zur Welt. Es muss entschieden werden, ob das Kind entweder den Gnadentod erleidet oder ob es als hoch spezialisierter Bestandteil eines Raumschiffs eine ebenso spezialisierte Ausbildung durchlaufen soll. Am Ende dieser Ausbildung – Helva wird für eine solche aufgrund ihres großen Potentials ausgewählt – steht ein potentiell ewiges Leben als eine Cyborg, die in Symbiose mit einem Raumschiff lebt. Für eine Weile gehört die Cyborg noch der Zentralregierung, sie ist ein »corporate cyborg«, sobald die Kosten für Umbau und Ausbildung aber abbezahlt sind, kann sich das Schiff unabhängig machen. Die zukünftigen NavigatorInnen leben vom Säuglingsalter an in einem Ausbildungslabor. Ihre kleinen Körper werden in Metallhüllen (shells) eingefasst und sie werden mit Input- und Output-Geräten verbunden. Unmittelbares körperliches Erleben wird also – auch dies eine Analogie zum bioadapter – unterbunden. Sie werden aber im Gegensatz zu Wieners Entwurf mitnichten von der Außenwelt abgeschlossen. Aufgrund von feinfühligen Sensorien verfügen sie sogar über ein besonders gesteigertes Wahrnehmungs8 | McAffrey, Anne: The Ship Who Sang, New York: Walker & Co 1969. Die Aktivistin Sarah Einstein kritisiert zu Recht die biopolitische Grundstellung der SF-Geschichten: Helva darf nur als hochtechnisierter Cyborg überleben, weil ihre Begabung nützlich ist. Vgl. Einstein, Sarah: »The Future Imperfect«, in: Redstone Science Fiction Juni 2010, http://redstone sciencefiction.com/2010/05/einstein-essay-june2010, Zugriff vom 12. August 2013.

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arsenal. Sie erhalten neben Zugriff auf eine Datenbank allen propositionalen Wissens auch eine musische Ausbildung: So beobachtet die Leserin Helva in der ersten Episode dabei, wie sie Leonardos Das letzte Abendmahl mittels mikroskopischer Pinsel auf den Kopf einer winzigen Schraube kopiert. Sie kann nicht nur ihre sinnliche Wahrnehmung auf unterschiedliche Spektren und Skalen variieren, sie ist zudem höchst musikalisch und unterhält sich und andere, indem sie irdische und außerirdische Musik zur Aufführung bringt oder auch einmal eine Rolle in Shakespeares Romeo und Julia übernimmt. Als sie und vier andere »brains« (so die umgangssprachliche Bezeichnung für die Cyborgs) während einer Mission gekidnappt werden und sie durch Depravierung ihres Sensoriums beinahe verrückt wird, benutzt sie ihre musikalischen Kenntnisse, um die Angreifer supersonisch zu überwältigen. Den ganzen Roman kann man als eine Meditation über Grenzen und Möglichkeiten des Handelns, Fühlens, Denkens im Horizont der technologischen Überarbeitung des menschlichen Körpers, als ein fortlaufendes Experiment mit teilsouveränem Handeln, lesen. Was die Geschichten so besonders macht, ist, dass sie jede Form des Cartesianismus umschiffen: Weder ist Helva eine körperlose Idealität reinen Denkens (res cogitans) noch ist ihre Maschinenseite oder sind ihre jeweiligen menschlichen Partner einfach ausführende Organe (res extensa). Obwohl jedes Schiff aus einem brain (der Cyborg) und einem brawn (einem menschlichen Crewmitglied) besteht, sind Kompetenzen und Affekte symmetrisch verteilt: Beide Akteure denken, haben Gefühle und ästhetische Vermögen. Und wie im richtigen Leben gibt es bessere und schlechtere Kombinationen. Mit ihrem ersten Partner verbindet Helva eine tief resonierende Beziehung der Wechselseitigkeit, mit ihm ist sie »das Schiff, das singt«. Mit anderen Partnern gibt es eher eine kompetitive Partnerschaft. Und mit einem (Teron) will es gar nicht klappen. Er ist zu sehr Instrument der Raumfahrtbehörde, zu phantasielos, zu stur regelbasiert: zu sehr Maschine. In einer der Episoden wird ein ganzer Planet von einem locked-in-Syndrom heimgesucht. Eine Physiotherapeutin wird von Helva auf den Planeten gebracht, um neue Therapieformen zu entwi-

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ckeln. Es wäre für Helva ein möglicher Moment einer Identifikation mit einer reinen brain-Existenz. Schließlich ist auch sie »locked in«. Mit der Physiotherapeutin diskutiert sie die Möglichkeiten und kurz ist auch der Vorschlag im Raum, aus den Betroffenen Raumschiffe zu machen. Helva lässt sich aber von der Therapeutin überzeugen, dass eine Raumschiff-Existenz nur für solche Organismen (para-) human ist, die von Kindheit an diese spezielle Art der Körperlichkeit erlernen können. Sie unterstützt sie am Ende dabei, die Körper der Betroffenen bewegungstherapeutisch ins Leben zurückzulocken. * Von hier aus lassen sich einige vorläufige Thesen zur Frage nach dem Status des Körpers im Zeitalter seiner technischen Überarbeitung formulieren: Erstens: Wenn wir nicht wissen können, wozu ein Körper in der Lage ist, können wir auch nicht wissen, wozu ein Technokörper fähig ist. Weder ist ein Szenario der Unvermeidbarkeit immer größerer technischer Perfektion angebracht, noch Naivität in Anbetracht der sozioökonomischen scripts (der Selbstverbesserung, der Produktivitätssteigerung), die in Informations- und Biotechnologien anwesend sind. Wir brauchen hingegen eine Epiphänomenologie teilsouveränen Handelns, die uns erlaubt, die Abhängigkeiten und Anhänglichkeiten zwischen technischen und organischen Akteuren besser zu beobachten, zu analysieren, zu gestalten. Zweitens: Wenn wir davon ausgehen, dass jede Handlung, jedes Denken, jede Wahrnehmung teilsouverän ist, gibt es keinen Grund dazu, nostalgischen oder apokalyptischen Erzählungen vom Autonomieverlust Glauben zu schenken. Es kann sein, dass das Idealbild des (maskulinen) Entscheidungsmenschen, das uns seit geraumer Zeit begleitet, keine Entsprechung mehr findet. Das ist aber nicht wirklich ein Verlust, denn die Idealisierung des vereinzelten, voluntaristischen Entscheiders war eine – durchaus manchmal nützliche

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und für Eliten effektive – Fiktion. Es ist an der Zeit, andere Erzählungen teilsouveränen Handelns zu kultivieren. Drittens: Ob eine technische Modifikation ethisch vertretbar und sinnvoll ist, lässt sich nur mit Blick auf das je unterschiedliche Milieu der Herstellung und körperlichen Praxis beurteilen: Was für den einen gut ist – etwa eine Hightech-Prothese – ist für die andere eine Belastung. Technische Modifikationen des Körpers (von Maschinen bis zu Medikamenten) haben niemals den Status einer abstrakten Notwendigkeit. Es gilt, Protokolle zu installieren, die Responsabilität im oben formulierten Sinn gewährleisten. Die Maximierung der Möglichkeiten, Widerspruch zu artikulieren, muss ein zentrales Kriterium solcher Protokolle sein. Gerade in Hinblick auf die wahrscheinlichen BenutzerInnen biomedizinischer Technologien (kranke, alte Menschen) ist dies eine besondere Herausforderung, da ihnen nicht selten die konventionellen Artikulationsmöglichkeiten abhanden gekommen sind. Viertens: Es gilt auszuarbeiten und auszutesten, inwieweit und an welchen Stellen der Humanismus des Abendlandes zu einem Parahumanismus erweitert werden kann. Wie kann es gelingen, der Anwesenheit überindividueller, nicht-menschlicher Wesen im Zusammenleben (und zusammen Sterben, wie Donna Haraway betont) sinnvoll zu begegnen? Es wird sich angesichts der wachsenden Möglichkeiten der von Bio- und Medizintechnik immer häufiger die Frage stellen, wie sowohl negative als auch positive Rechte aller beteiligten Akteure erweiternd modifiziert werden können. Die Fragen stellen sich bekanntlich schon jetzt in Anbetracht der Technisierung des Lebensbeginns und des Lebensendes. Es werden sich in Zukunft verschärft Fragen nach Arten und Weisen des Entscheidens, des Nichtentscheiden-Könnens, des Entscheiden-Müssens trotz mangelnder Entscheidungsgrundlage, stellen. Darauf sollten wir uns begrifflich und praktisch, mit Protokollen und Spekulationen, mit Erzählungen und Bildern vorbereiten.

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Felix Hasler Neuromythologie Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung (3., unveränderte Auflage 2013) 2012, 264 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1580-7

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Kai Hafez Freiheit, Gleichheit und Intoleranz Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas Februar 2013, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2292-8

Byung-Chul Han Duft der Zeit Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens (7., unveränderte Auflage 2013) 2009, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-8376-1157-1

Thomas Hecken Das Versagen der Intellektuellen Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter 2010, 250 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1495-4

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Werner Rügemer »Heuschrecken« im öffentlichen Raum Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments 2011, 204 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1741-2

Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.) NSU-Terror Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse Oktober 2013, 224 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2394-9

Franz Walter Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration (2., unveränderte Auflage 2009) 2009, 136 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1141-0

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