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German Pages 524 Year 2015
Die Ordnung des Fortschritts
Wissensgesellschaft | Herausgegeben von Nico Stehr | Band 1
Bernd Weiler (Dr. rer. soc. oec.), geb. 1971, studierte an den Universitäten Graz und Saskatchewan, Kanada. Er war bis zu seinem frühen Tod am 31. März 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften der Zeppelin University in Friedrichshafen. In seinen über vierzig ideengeschichtlichen, soziologischen und vergleichenden kulturanthropologischen Publikationen beschäftigte er sich unter anderem mit Franz Boas und Ludwig Gumplowicz sowie mit Fragen der Immigrationsforschung und der ökonomischen Soziologie. Zuletzt verfaßte Bernd Weiler ein Dutzend Artikel zur Ethnologie und Anthropologie für die Blackwell Encyclopedia of Sociology (Oxford 2006).
Bernd Weiler
Die Ordnung des Fortschritts Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der »jungen« Anthropologie
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Inhalt Vorwort und Danksagung ........................................................................ 9 Einleitung ................................................................................................ 11 I. EINIGE ÜBERLEGUNGEN ZUM „GEIST“ DER NATURWISSENSCHAFTEN IN DEUTSCHLAND IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS ............................. 15 1. Zum „Rückzugsgefecht“ der Naturphilosophie ................................. 19 2. Die romantisch-spekulative Naturphilosophie als Feindbild der „exakten“ Naturwissenschaften .......................................................... 23 3. Die „Vulgärmaterialisten“ als Speerspitze des naturwissenschaftlichen Zeitgeistes ................................................... 31 4. Über „strenge“ Methoden und „Zucht“ des Denkens ........................ 34 5. Und wie hältst Du es mit der Synthese? Die „exakten“ Wissenschaften am Scheideweg ......................................................... 42 6. Über den Wert der naturwissenschaftlichen Erkenntnis .................... 48 7. Über die Rückständigkeit der Geschichtswissenschaften und verwandten Disziplinen oder: Wie die Naturwissenschaftler den Geistes- und Sozialwissenschaften zu Leibe rückten ......................... 55 II. ÜBER DIE ANFÄNGE DER „JUNGEN WISSENSCHAFT“ DER ANTHROPOLOGIE AUS DEM „GEIST“ DER EXAKTEN NATURWISSENSCHAFTEN .................................................................. 77 A. Einführende Bemerkungen .............................................................. 79 1. Über das Versagen der Universalgeschichte oder Anthropologia magistra vitae ............................................................. 82 2. Über das Rettungsunternehmen der Anthropologie: Der empiristische Mahnruf ................................................................. 87 3. Über unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „jung“ zur Kennzeichnung der Anthropologie oder: Über den profanen Weg zum sakralen Ziel ............................................................................... 89
B. Quellen und Analysen zur Gründerzeit der Anthropologie: Die „wilden“ Jahre der „jungen“ Wissenschaft zwischen 1854 und 1871 ................................................................................... 95 Das Jahr 1854: Die Entdeckung der Pfahlbauten – die Gebirgseisenbahn über den Semmering – ein Mungo Park der menschlichen Seele – ein polygenistischer Klassiker der amerikanischen Anthropologie ..................................................................................... 95 Das Jahr 1855: Ein Amerikamüder aus Europa – Reisefieber – das Gehirn von Gauß – die Seele von Affen, „Negern“, Menschen – der düstere „Schwanengesang“ eines französischen Aristokraten ...................................................................................... 108 Das Jahr 1856: Das Dahinschwinden der „Naturvölker“ – die Öffnung des 343. Grabes in Hallstatt – die Donauschifffahrt – ein krummbeiniger „Kosak“ aus dem Neandertal ............................ 130 Das Jahre 1857: Die Weltumsegelung der Fregatte Novara – David Livingstone und die „Heiden“ – die Suche nach den Naturgesetzen der Geschichte – die „Indian Mutiny“ – der „youngest Indian slayer on the plains“ .............................................................. 140 Das Jahr 1858: Die neuseeländischen „Eingeborenen“ – „Neues aus Afrika“ – die kleinwüchsigen Doko – Rudolf Virchow – Johannes Müller – einige „leere Köpfe“ in Graubünden ................. 151 Das Jahr 1859: Darwin – die „zweite“ Entdeckung von Abbeville – die Weltbevölkerung – die „Naturvölker“ von Theodor Waitz – Schwarzes Gold – das Sezieren von Fröschen und ein „Prachtkörper“ für das „anatomische Theater“ ................................ 161 Das Jahr 1860: Die Gründung der Zeitschrift für „Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ – Bastians „Mensch in der Geschichte“ – ein Eklat in der „beunruhigenden Familienangelegenheit“ – das greise Sizilien – das unterdrückte „Insulinde“ – Chinas Öffnung – Buffalo Bill als Reiter des Pony Express ......................................... 183 Die Jahre von 1861 bis 1869: Ein wissenschaftsgeschichtliches Telegramm ........................................................................................ 204 Das Jahr 1870: Die Gründung anthropologischer Gesellschaften in Deutschland und Österreich – John Lubbock – das „Hinwegschwinden“ der Indianer im Nordwesten der USA – Schweinfurths Entdeckung des Uelle, sein Besuch bei Munsa König der Monbuttu, und seine Schilderung des „Zwergvolks“ der Akkah ..... 228 Das Jahr 1871: Darwin und der Affenstreit – der „Stich“ durch den Mont Cenis – die Suche nach Livingstone – Buffalo Bill als Reiseleiter – Tylor und die Wissenschaft der Reformation ............. 244 Postskriptum: Das Jahr 1872 oder in 79 Tagen um die Welt ................. 266
C. Einige zusammenfassende Bemerkungen zur Fortschrittsidee in der „jungen“ Anthropologie und zu ihren Vertretern ........... 272 1. Das Janusgesicht des Entwicklungsgedankens oder das „Spiel“ mit Nähe und Ferne .......................................................................... 272 2. Wissenssoziologische Notizen zum Kulturevolutionismus in den Vereinigten Staaten von Amerika .................................................... 281 III. ZUR KRITIK AN DER FORTSCHRITTSIDEE IN DER „JUNGEN“ ANTHROPOLOGIE: DIE CULTURAL ANTHROPOLOGY VON FRANZ BOAS UND DIE WIENER SCHULE DER ETHNOLOGIE ........ 289 Einleitende Bemerkungen zur antievolutionistischen Wende ................ 291 A. Zur Kritik der Cultural Anthropology am Kulturkonzept der Entwicklungstheoretiker ......................................................... 296 Prolog: Über eine Schlittenexpedition, das Verzehren roher Seehundsleber und die Lektüre von Kant im Land der „Eskimos“ im Jahre 1883 sowie über eine Radioansprache im Jahre 1941 ....... 296 Einleitende Bemerkungen: Franz Boas und die Cultural Anthropology in den Vereinigten Staaten .......................... 300 1. Die Cultural Anthropology im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Relativismus .................................................... 306 2. Einige Überlegungen zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der „Generalisierungsphobie“ von Franz Boas ...................................... 320 2.1 Zuerst die Tatsachen, dann die Theorie ..................................... 323 2.2 Über zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen ..................... 324 2.3 Über den ontologisch bedingten Deskriptivismus ..................... 326 3. Biographisch-wissenssoziologische Überlegungen zur Cultural Anthropology ...................................................................... 328 3.1 Zum Psychogramm des nordamerikanischen Kulturanthropologen .................................................................. 329 3.2 Biographisch-wissenssoziologische Überlegungen zum relativistischen und universalistischen Strang in der Lehre von Franz Boas .......................................................................... 334 4. Über den Nutzen der Cultural Anthropology für das Leben ............. 366 4.1 Margaret Mead und die sozialrevolutionäre Verheißung des „Edlen Wilden“ ......................................................................... 367 4.2 Der kulturpessimistische Anthropologe: Edward Sapirs Gegenüberstellung von „genuine“ und „spurious“ culture ....... 372 4.3 Über die „demokratische Verheißung“ der Cultural Anthropology: Melville Herskovits und die Universalität der Menschenrechte ................................................................... 374
4.4 Das Studium des Fremden als Mittel der Selbsterkenntnis und Emanzipation: Bemerkungen zur Wissenschaftsgläubigkeit von Franz Boas .......................................................................... 377 Exkurs: Franz Boas – Ehrendoktor der Karl-Franzens-Universität Graz: Eine Episode aus dem Leben des deutsch-amerikanischen Kulturanthropologen ......................................................................... 381 B. Zur Kritik der Wiener Schule der Ethnologie am kulturevolutionistischen Bild vom „Wilden“ im allgemeinen und vom Feuerlandindianer im besonderen oder: „Am Anfang war das nicht so!“ .................................................... 416 Prolog: Das Bild des Feuerlandindianers als Homo totius mundi ferocissimus ........................................................................... 416 Einleitende Bemerkungen ....................................................................... 422 1. Über den historischen Charakter der Völkerkunde und die Kritik am evolutionistischen Kulturkonzept ............................................... 428 2. Über die Suche nach dem Anfang des Menschengeschlechts: Das Beispiel der „Urfamilie“ ............................................................ 434 3. Über den Gang der Menschheitsgeschichte: Bedeutungsloser Fortschritt und verhängnisvoller Rückschritt im notwendigen Gleichschritt ..................................................................................... 444 4. Über die „letzten“ Feuerlandindianer und die Grausamkeit der „Weißen“ .......................................................................................... 450 5. Über „Urmenschen“ und „Neue Menschen“: Wissenssoziologische Überlegungen zur Gesellschaftskritik der Wiener Ethnologen in der Zwischenkriegszeit ..................................................................... 461 5.1 Zur „welthistorischen“ Mission des Südostreiches, zur „Barbarei“ des Islams und zum Ende des Ersten Weltkrieges... 462 5.2 Zur Kritik der Wiener Ethnologen am „Roten Wien“ und an seinen „Neuen Menschen“ ........................................................ 467 Schlußbemerkung ................................................................................... 481 Bibliographie .......................................................................................... 483 Nachwort von GERALD MOZETIý ........................................................... 519
Vorw ort und Danksagung
Vorworte werden gemeinhin dann verfaßt, wenn das Werk eigentlich bereits vollendet ist. Da ich nun mit Friedrich Nietzsche der Auffassung bin, daß der Autor „den Mund zu halten“ hat, „wenn sein Werk den Mund auftut“, verzichte ich darauf, an dieser Stelle inhaltliche Überlegungen anzustellen, und verweise den Leser hierfür auf die folgenden Ausführungen. Mit autobiographischer Motivforschung, die mein persönliches Interesse an dieser Thematik erhellen könnte, will ich den Leser gleichfalls verschonen. Ferner unterlasse ich es, die Entstehungsgeschichte dieser Arbeit zu erörtern, die hiermit verbundenen Entbehrungen der mir Nächsten zu schildern, die Bedeutung meiner Untersuchung für den Erkenntnisfortschritt zu preisen oder, wie in Vorworten mitunter ebenfalls üblich, die Mängel meiner Arbeit zuerst zu beichten, um sie dann doch zu rechtfertigen. Vielmehr möchte ich an eine andere Erzähltradition des wissenschaftlichen Vorwortes anknüpfen und die Gelegenheit benutzen, um einigen Personen, die mich während meiner Studienzeit an der Grazer Universität begleitet und unterstützt haben, namentlich zu danken: Frau Andrea Fruhwirth, Frau Sabine Haring, Herrn Carlos Watzka, Herrn Peter Wilhelmer und Frau Inge Zelinka, mit denen ich gemeinsam studieren durfte und mit denen mich weit mehr verbindet als das Interesse an der strengen Wissenschaft. Auch Herrn Andreas Thomasser sei an dieser Stelle für die vielen anregenden Gespräche während der letzten Jahre gedankt. Unter den Lehrenden an der Karl-Franzens-Universität Graz gilt mein Dank dem Zweitbegutachter meiner Dissertation Herrn Helmut Kuzmics für seine Ratschläge und seinen großen Einsatz in der Schlußphase dieser Arbeit. Ich bedanke mich bei Herrn Karl Acham, der maßgeblich dazu beigetragen hat, meine Neugierde an ideengeschichtlichen Fragen zu wecken, sowie bei Herrn Christian Fleck, dessen Tür auch mir immer offen stand. Danken möchte ich weiters Herrn Heinz D. Kurz für das ermutigende und freundliche Interesse, das er schon früh an meinen wissenschaftlichen Arbeiten bekundete, und auch dafür, daß er mir in einer schwierigen
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Phase meines Studiums zur Seite gestanden ist. Mein besonderer Dank gilt meinem Erstbegutachter und Dissertationsbetreuer Herrn Gerald Angermann-Mozetiþ. Ich hätte mir keine bessere Betreuung dieser Arbeit vorstellen können. Abseits der akademischen Gefilde möchte ich meinen beiden langjährigen Trainingspartnern und Freunden Thomas Thurner und Norbert Tripolt danken, die mir geholfen haben, in den schöpferischen Pausen jene Kräfte zu sammeln, die notwendig waren, dieses Werk abzuschließen. Ferner danke ich Annelies und Felix für die liebenswerte Aufnahme in ihre Familie sowie meinem Bruder Ralf, Michaela und meinen beiden Neffen Benjamin und Tobias für die Zeit, die ich mit ihnen verbringen darf. Sie alle haben mehr zum Abschluß dieser Arbeit beigetragen, als sie vielleicht wissen. Ganz besonders bedanke ich mich bei meinen Eltern. Ihr Verständnis, ihre Geduld und ihre Zuneigung zählen zu dem Wichtigsten in meinem Leben. Und schließlich danke ich noch Ruth, mit der ich gemeinsam durch dieses Leben gehen, stolpern und lachen darf.
Einleitung *
Future, n. That period of time in which our affairs prosper, our friends are true and our happiness is assured. (Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary)
Als aszendenztheoretische Geschichtstheorie gehört die Fortschrittsidee zu den großen zeitlichen Ordnungsvorstellungen, die dazu dienen, die Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart zu deuten sowie Aussagen über die Ereignisse der Zukunft zu treffen.1 Als zeitliche Ordnungsvorstellung tritt die Fortschrittsidee in unmittelbare Konkurrenz zu anderen zeitlichen Interpretationsmustern des historischen Geschehens. Im Unterschied zur Idee eines nunc permanens, eines ewig Seienden, einer sich nicht ändern*
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Teile der folgenden Ausführungen entstanden im Rahmen meiner Tätigkeit als Mitarbeiter des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten Spezialforschungsbereichs (SFB) „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“. Ich weiß es zu schätzen, daß ich einige Jahre für die und von der Wissenschaft leben konnte, und danke all jenen, die dies ermöglicht haben. Ein besonderer Dank gilt auch meinen Kolleginnen und Kollegen sowie den Projektleitern des SFB für die anregende Atmosphäre, in der ich meinen Forschungen nachgehen konnte. Aus der Fülle der Literatur zur Fortschrittsidee sei hier nur auf einige wegweisende Schriften verwiesen: Arthur O. LOVEJOY, George BOAS, Primitivism and Related Ideas in Antiquity. With supplementary essays by W. E. Albright and P.-E. Dumont, Baltimore-London: The Johns Hopkins University Press 1997 [1935]; Leonhard REINISCH (Hg.), Der Sinn der Geschichte. Sieben Essays von G. Mann, K. Löwith, R. Bultmann, Th. Litt, A. Toynbee, K. Popper, H. U. von Balthasar, München: C. H. Beck 21961; Erich BURCK (Hg.), Die Idee des Fortschritts. Neun Vorträge über Wege und Grenzen des Fortschrittsglaubens, München: C. H. Beck 1963; E. R. DODDS, Progress in Classical Antiquity, in: Philip P. WIENER (Hg.), Dictionary of the History of Ideas, Volume 3, New York: Scribner 1973, S. 623633; Morris GINSBERG, Progress in the Modern Era, in: Philip P. WIENER (Hg.), Dictionary of the History of Ideas, Volume 3, New York: Scribner 1973, S. 633-650; Ronald L. MEEK, Social Science and the Ignoble Savage, Cambridge et al.: Cambridge University Press 1976; Robert NISBET, History of the Idea of Progress, New York: Basic Books, Inc. 1980.
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den Gegenwart, beruht die Fortschrittsidee auf einem Zeitverständnis, das ein Werden, eine Veränderung, einen Wandel voraussetzt. Von der zyklischen Geschichtsauffassung, der Vorstellung eines sich im Kreis drehenden und zur periodischen Wiederkehr des Gleichen führenden Wandels, unterscheidet sich die Idee des Fortschritts wiederum dadurch, daß sie die Vergangenheit als unwiederbringlich und abgeschlossen betrachtet. Dabei wird betont, daß Gegenwart und Zukunft „Neues unter der Sonne“ bieten werden. Die Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheinen im Rahmen der Fortschrittsidee zudem nicht als zusammenhangslos, nicht als ein chaotisches Werden, sondern als schlüssig miteinander verbunden. Die Begebenheiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden also eine mehr oder minder logische Abfolge. Mit der Idee eines Rückschritts oder eines Verfalls, die den Kern deszendenztheoretischer Geschichtsauffassungen bildet, hat die Fortschrittsidee als zeitliche Ordnungsvorstellung mehr gemein, als man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt wäre. Sowohl die Vertreter der Fortschrittsidee als auch jene der Kulturverfallstheorie richten sich gegen die Auffassung einer vollkommenen, ewigen Gegenwart. Beide treten für eine antizyklische Geschichtsauffassung ein, beide argumentieren gegen ein chaotisches Werden und sehen einen mehr oder weniger logischen Konnex zwischen den Ereignissen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und ferner sind beide überzeugt, Auskunft über die Richtung des „Gangs der Geschichte“ geben zu können, wenn sie nicht gar behaupten, auch ihr Ziel zu kennen. Erst in der Frage der Bewertung, ob die Richtung und das Ziel dieses „Gangs der Geschichte“ gut oder schlecht seien, gehen die Meinungen schließlich auseinander. In ihrer einfachsten Form besagt die Fortschrittsidee, „that mankind has advanced in the past – from some aboriginal condition of primitiveness, barbarism, or even nullity – is now advancing, and will continue to advance through the foreseeable future“.2 Wie Fritz Mauthner einmal treffend bemerkte, schwingt – im Unterschied zu einem bloßen Schreiten – durch das Hinzufügen der Vorsilbe „fort“ im Wort „Fortschritt“, ähnlich wie in den entsprechenden, aus dem Lateinischen „progressus“ abgeleiteten italienischen, französischen, spanischen und englischen Bezeichnungen, oftmals unbewußt die Idee einer „Bewegung in eine Richtung“ mit, die wir, um eines uns unbekannten Zieles willen, die Richtung nach dem Höheren, dem Besseren, dem Vollkommeneren nennen, und die wir deshalb höher bewerten als die entgegengesetzte Richtung oder als den Stillstand. Um zu erfahren, was dieser Fortschritt als Ziel oder als Richtung eigentlich sei, müßten wir vorher wissen, was das Gute ist, was das Vollkommene ist. Und das wissen wir
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Robert NISBET, History of the Idea of Progress, S. 4-5.
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wirklich nicht. Es sind Ideale, die wir nicht kennen, von denen wir aber die Richtung zu kennen glauben, in der sie liegen.3
Der Wandel von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft wird also im Rahmen der Fortschrittsidee nicht nur nüchtern konstatiert, sondern auch als eine Verbesserung verstanden. Im Rahmen der Fortschrittsidee erscheint die Gegenwart demnach als jene eigentümliche Übergangsphase, die – wie man frei nach Ambrose Bierce sagen könnte – zwischen den Enttäuschungen der Vergangenheit und den Hoffnungen der Zukunft zu liegen kommt.4 Als eine der großen zeitlichen Ordnungsvorstellungen hat die Fortschrittsidee eine ehrwürdige, lange, bis in die Antike zurückreichende Geschichte, die uns hier jedoch nicht weiter beschäftigen soll. Vielmehr beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf die Rolle, welche die Fortschrittsidee im Rahmen des anthropologischen Denkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts spielen sollte. Wie ich zeigen möchte, standen gerade die Vertreter der „Gründerzeit der modernen Anthropologie“, ein Zeitraum, der in etwa die Jahre von 1850 bis 1880 umfaßt, ganz im Banne des Gedankens einer sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vollziehenden Entwicklung vom Niederen zum Höheren, vom Einfachen zum Komplexen. Ihren wohl bekanntesten Ausdruck fand die Fortschrittsidee hierbei in den von Anthropologen erstellten kulturevolutionistischen Stufenschemata. Um diese Strahlkraft der Fortschrittsidee auf die sich überwiegend aus den Naturwissenschaften rekrutierenden Vertreter der Anthropologie zu verstehen, werde ich im ersten Kapitel das vom Siegeszug der „induktiven Methode“ geprägte Forschungsethos dieser Gründergeneration skizzieren. Im zweiten Kapitel werde ich eine detaillierte Analyse der wichtigsten „Meilensteine“ der „jungen“ Anthropologie vorlegen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, warum gerade in dieser Epoche das Denken in „Kulturstufen“ eine solche Bedeutung erlangen konnte. Hierzu möchte ich die Aufmerksamkeit insbesondere auf die in diese Zeit fallenden technischen Erfindungen und Innovationen lenken, welche die Kluft zu den ebenfalls zu dieser Zeit im Zuge der geographischen Forschungsreisen entdeckten „Wilden“ gleichsam größer erscheinen ließen. Im dritten Kapitel werde ich zwei „fortschrittskritische“ Schulen, nämlich die nordamerikanische Kulturanthropologie und die Wiener Schule der Ethnologie, vorstellen. Aus ideengeschichtlicher Perspektive soll hier3
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Fritz MAUTHNER, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band. München-Leipzig: Georg Müller 1910, S. 340-345, hier S. 341 [Stichwort: Fortschritt]. Vgl. Ambrose BIERCE, The Devil’s Dictionary, New York-Oxford: Oxford University Press 1999, S. 151: „Present, n. That part of eternity dividing the domain of disappointment from the realm of hope.“
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bei auf unterschiedliche Kritiklinien an den kulturevolutionistischen Stufenschemata hingewiesen werden. Ferner möchte ich die diese beiden Schulen auszeichnende „Fortschrittsskepsis“ in einen wissenssoziologischen Kontext einbetten. Ausdrücklich sei einleitend noch betont, daß es selbstredend auch in der Gründerzeit der „modernen“ Anthropologie Fortschrittskritiker gab, ebenso wie wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts Verfechter des Kulturevolutionismus finden. Was sich jedoch verändert hat, war die Gewichtung, der Einfluß, den diese Vorstellungen jeweils auszuüben vermochten. Die Gleichzeitigkeit der beiden Denktraditionen steht somit nicht im Widerspruch zu einer tendenziellen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zuungunsten der Fortschrittsidee.
I. E IN IG E Ü B ER LE G U N G EN D ER
„G E I ST “
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D EU T SC H L AN D D ES
ZUM
IN
I N D ER ZW E I TE N
19. J AH R H U N D ER TS
H ÄLF TE
Am Anfang des 19. Jahrhunderts, so der Physiker Hermann von Helmholtz (1821-1894), habe sich in Deutschland ein „schneidender und scharfer Gegensatz“ zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie herausgebildet.1 Im Gefolge Hegels (1770-1831) hätten die Philosophen die Naturforscher der „Borniertheit“, diese wiederum jene der „Sinnlosigkeit“ ihres Tuns bezichtigt.2 In Feindschaft seien Philosophen und Naturwissenschaftler auseinandergegangen und letztere fingen nun an ein gewisses Gewicht darauf zu legen, daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald dahin, daß viele von ihnen, darunter Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche Träumerei verdammten.3
Ziel des folgenden Überblickskapitels ist es, den „Geist“ bzw. das Forschungsethos der Naturwissenschaften in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu skizzieren. Wie ich zeigen möchte, führten die großartigen theoretischen und praktischen Erfolge, welche die modernen Naturwissenschaften in dieser Periode zu verzeichnen hatten, dazu, daß ihre Repräsentanten ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein in bezug auf den Wert und die Möglichkeit ihrer Disziplinen entwickelten. Dieses Selbstbewußtsein mündete schließlich darin, daß die modernen Naturforscher sich zusehends als die Vertreter der Wissenschaft schlechthin bzw. ihre Vorgehensweise als richtungsweisend für alle anderen Wissenszweige erachteten. Begleitet und getragen wurde dieser „Ressortimperialismus“ von einer scharfen Abgrenzung von der Vergangenheit der eigenen Disziplin, die durch die Vorherrschaft der romantisch-spekulativen Naturphilosophie geprägt war. Zugleich übertrugen die modernen Naturwissenschaftler ihre Kritik an der eigenen Vergangenheit auf den Hegelschen Idealismus und die Philosophie im Allgemeinen und schließlich auch auf ihre zeitgenössi1
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Hermann von HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862), in: ders., Philosophische Vorträge und Aufsätze. Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von Herbert Hölz und Siegfried Wollgast, Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 79-108, hier S. 85. Ebenda. Ebenda.
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schen Kollegen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese, so das Urteil der modernen Naturforscher, seien noch, ähnlich wie die Naturphilosophie und die traditionelle Philosophie, in jenen veralteten Denkweisen und Forschungsmethoden gefangen, die Fortschritten, wie sie auf dem Gebiet der Naturwissenschaften gemacht worden waren, im Wege stünden. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in sieben Abschnitte. Im ersten Teil soll kurz auf das „Rückzugsgefecht“ der Naturphilosophie eingegangen werden. Sodann möchte ich die Kritik der modernen Naturwissenschaften an der Naturphilosophie bzw. der Philosophie im allgemeinen skizzieren. Im dritten Teil werfe ich einen Seitenblick auf die unter dem Namen des „Vulgärmaterialismus“ bekannte populärwissenschaftliche Strömung, in der die Kritik an der Naturphilosophie auf die Spitze getrieben wurde und in der sich der naturwissenschaftliche Zeitgeist in gleichsam destillierter Form spiegelt. Im vierten Abschnitt werde ich unter Hinweis auf einige „bedächtigere“ Vertreter das sich herausbildende „Ethos“ der „exakten“ Naturwissenschaften etwas näher erläutern. Im fünften Abschnitt sollen zwei idealtypische Richtungen innerhalb der „exakten“ Naturwissenschaften erörtert werden, die sich in bezug auf die Frage, ob, bzw. wann mit einer Synthesebildung begonnen werden könne, grundlegend unterscheiden. Im sechsten Teil werde ich kurz auf jene Hoffnungen und Werte Bezug nehmen, welche als die motivationale Triebfeder der naturwissenschaftlichen Erkenntnissuche angesehen werden können. Im siebten und letzten Teil möchte ich einige naturwissenschaftliche Kritiklinien an den Geistes- und Sozialwissenschaften skizzieren. Zudem soll der „Einfall“ der Naturwissenschaften in das Reich der Kulturwissenschaften diskutiert werden. In diesem Zusammenhang sollen auch einige exemplarische Hinweise auf naturalistische Strömungen in unterschiedlichen Disziplinen gegeben werden, um die im nächsten Kapitel zur Sprache kommende „junge“ Anthropologie als Teil einer gegen die Kulturwissenschaften gerichteten Phalanx zu verstehen. Ausdrücklich sei vorab auf jenes ideengeschichtliche Prinzip hingewiesen, das meinen Darstellungen zugrunde liegt. Ich versuche im folgenden nicht eine Wissenschaftsgeschichte aus der Perspektive eines unparteiischen Beobachters zu schreiben, sondern jenes Bild hermeneutisch nachzuzeichnen, das sich die modernen Naturwissenschaftler von der antiquierten Naturphilosophie, von der Philosophie und den Geisteswissenschaften sowie von ihrer eigenen Arbeit gemacht haben.4 Denn es ist dieses teilweise verzerrte, teilweise auch falsche Bild, das für das Selbstverständnis der „exakten“ Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausschlaggebend ist. Aufgrund meiner Zielsetzung, die Ideengeschichte 4
Zu den einzelnen Strömungen innerhalb der Naturphilosophie, die von ihren Kritikern im 19. Jahrhundert oftmals nicht unterschieden werden, vergleiche etwa Herbert SCHNÄDELBACH, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 101-105.
I. ÜBERLEGUNGEN ZUM „GEIST“ DER NATURWISSENSCHAFTEN IN DEUTSCHLAND | 19
aus der Sicht der „exakten“ Naturwissenschaften zu rekonstruieren, werden in diesem Kapitel die Gegenmaßnahmen und Reaktionen seitens der Kulturwissenschaften weitgehend unberücksichtigt bleiben.
1. Zum „Rückzugsgefecht“ der Naturphilosophie Als ideengeschichtlicher Akteur erinnert der „spekulative“ Naturphilosoph des ausgehenden 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts an einen streitbaren homo universalis im fortgeschrittenen Alter, welcher gegen die Gefahr ankämpft, aufgrund der raschen Erkenntnisfortschritte in den einzelnen Forschungsgebieten den Überblick über das Ganze zu verlieren. Die Herausbildung der holistisch-philosophischen Reflexion der romantischspekulativen Naturphilosophie war demnach bereits eine Antwort auf die sich abzeichnende, fortschreitende Spezialisierung und Verwissenschaftlichung des Weltbildes.5 Keineswegs waren die Naturphilosophen – exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an Friedrich W. J. Schelling (17751854), Lorenz Oken (1779-1851), Gotthilf H. Schubert (1780-1860), Henrik Steffens (1773-1845) und Karl G. Carus (1789-1869) erinnert – bereit, ihr Gebiet freiwillig zu räumen und dieses den modernen Naturwissenschaftlern kampflos zu überlassen. Vielmehr versuchten sie, ihr Territorium gegen die Angriffe zu verteidigen und warnten davor, daß die von ihnen als herzlose Zergliederer porträtierten Forscher mit ihren Methoden im Reich der Natur einen Kahlschlag vornehmen und es zerstört und verstümmelt zurücklassen würden.6 Den „Brot- und Handwerkswissenschaften“ stellte der Naturphilosoph die Bildung des Gelehrten gegenüber. Diese „ist eine ganze, keine stück5
6
Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Stefano POGGI, Positivistische Philosophie und naturwissenschaftliches Denken, in: Stefano POGGI, Wolfgang RÖD (Hg.), Die Philosophie der Neuzeit 4: Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert (= Geschichte der Philosophie hg. von W. Röd, Band 10), München: Verlag C. H. Beck 1989, S. 13151, hier S. 20-21. Vgl. hierzu das Urteil von Schelling über Jakob Böhme und Johann G. Hamann: „Das unverwerflichste Zeugnis dieser Wahrheit und Richtung des deutschen Geistes hat der hocherleuchtete Mann Jakob Böhme abgelegt, der aus reiner Begeisterung und keiner anderen Lehre noch Eingebung als der seines Innern teilhaftig und in seliger Anschauung wie bezaubert festgehalten sein labyrinthisches und dem Dunkel der Natur ähnliches Gedicht von der Natur der Dinge aus dem Wesen Gottes gedichtet hat. Ihm gesellt sich Hamann, der Mann tiefsinnigen Geistes, bei, der den Totschlag der Natur durch den Gebrauch der Abstraktionen und die ganze Eitelkeit seiner Zeit in ihrer vermeinten Erhebung und Herrschaft über die Natur und ihrer moralischen Feindschaft gegen dieselbe tiefer als jemand fühlte.“ Friedrich W. J. SCHELLING, Über das Wesen deutscher Wissenschaft (1812), in: N. N. (Hg.), Deutscher Geist: Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten. Erster Band, Berlin: Fischer Verlag 1942, S. 406-412, hier S. 411.
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weise, sie ist ein Meisterstück, kein Taglöhnerstück“.7 Dem Zerstückeln, Zersplittern, Zergliedern, Zersetzen und Spalten hielt der Naturphilosoph das „Auffassen der Natur als ein Ganzes“ entgegen.8 Etwas Kostbares bleibe unbeachtet, ja drohe verloren zu gehen, wenn die Vorgänge in der Natur zu toten Formen verkämen und rein mechanisch erklärt würden. Immer wieder werden die Naturphilosophen argumentieren, daß von der kausal-mechanischen Warte teleologische Fragen, also Fragen nach dem „wozu“ – um mit Schelling zu sprechen – „alle diese Anstalten selbst gemacht sind, wie die Natur in solchen Taschenspielereien sich gefällt“, nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden können.9 Das Nachdenken über die Wirkungen des Betrachteten auf das individuelle Gemüt des Betrachters, über das Naturempfinden und das Zusammenspiel von Objekt und Subjekt, all das werde vom kühlen Physiker, der zumeist einem plumpen Materialismus, wenn nicht gar einem Atheismus fröne, achselzuckend beiseite geschoben und in das Reich der Kunst verbannt. Gerade hierdurch gerate jedoch, so die Kritik der Naturphilosophen, der Forscher zu einem austauschbaren, unbeteiligten, voyeuristischen, vermessenden und vermessenen Zaungast des Naturgeschehens. Die Natur werde entzaubert, dem geifernden Blick des Pöbels ausgeliefert. Gegen all das sträubt sich der Naturphilosoph. Nur dem erlesenen Geistesaristokraten mit künstlerischem Vermögen sei es gegeben, die Natur zu schauen und zu fühlen. Die Vorstellung einer toten Natur gilt ihm als eine contradictio in adiecto. Der rebellierende Naturphilosoph fürchtet, das ihm Bekannte gehe, indem es von allen erkannt wird, zugrunde. Er will der Natur, die in den Händen der Physiker in den Rang einer Maschine herabgesunken ist, ihre Seele zurückgeben. Um die Stoßrichtung der romantischen Naturphilosophie zu veranschaulichen, sei an den polemischen Teil der Farbenlehre von Goethe und seine verbissene, mit wüsten Beschimpfungen gespickte Kritik an Newton erinnert.10 Die beiden unterschiedlichen Standpunkte faßte der deutsche 7
Lorenz OKEN, Über den Nutzen der Naturgeschichte (1809), in: N. N. (Hg.), Deutscher Geist: Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten. Erster Band, Berlin: Fischer Verlag 1942, S. 566-574, hier S. 571. 8 Ebenda, S. 574. 9 Friedrich W. J. SCHELLING, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, Stuttgart 1827/1856, S. 141. 10 Vgl. etwa folgende Urteile von Goethe über Newton und dessen Optik: „Man gebe uns ein Beispiel in der Geschichte der Wissenschaften, wo Hartnäckigkeit und Unverschämtheit auf einen so hohen Grad getrieben worden“ seien. „Es ist unmöglich, ein so deutliches und einfaches Phänomen schiefer und unredlicher zu behandeln; aber freilich wenn er Recht haben wollte, so mußte er sich, ganz oder halb bewußt, mit Reinecke Fuchs zurufen: Aber ich sehe wohl, Lügen bedarf’s, und über die Maaßen!“ usw. Johann Wolfgang von GOETHE, Zur Farbenlehre: Polemischer Teil, in: ders., Sämmtliche Werke. Vollständige Werke in sechs Bänden. Sechster Band, Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1869, S. 242-314, hier S. 285 und 309 [§ 360 und § 645 der Farbenlehre].
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Dichter in einem Brief an einen Laien aus dem Jahre 1793 einmal wie folgt zusammen: „Newtonsche Lehre: Das Licht ist zusammengesetzt: heterogen. Resultate meiner Erfahrung: Das Licht ist das einfachste, unzerlegbarste, homogenste Wesen, das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt.“11 Bekanntlich hat sich Goethe, dem seine Farbenlehre nach eigener Aussage teurer war als seine Dichtung, in diesem Punkt geirrt. Trotz zahlreicher Einwände von namhaften Physikern, darunter auch von Lichtenberg, hat der deutsche Dichter eisern an seiner Lehre von der Homogenität des Lichtes festgehalten. Gerade die Goethesche Sturheit in dieser Frage sowie seine zahlreichen, gehässigen Bemerkungen über Newton scheinen jedoch zu verraten, daß es in diesem Fall nicht nur um ein kleines, alltägliches wissenschaftliches Gemetzel ging, sondern um eine Schlacht, in der zwei unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander prallten. Goethe wehrte sich gegen den Physiker, der die Erscheinungen der Natur auf Gesetze zurückzuführen suchte, die sich seiner unmittelbaren Erfahrung und Empfindung als Künstler entzogen. „Denn das ganze Newtonische Farbenwesen“, heißt es bei Goethe, „ist nur ein Wortkram, mit dem sich deshalb so gut kramen läßt, weil man vor lauter Kram die Natur nicht mehr sieht“.12 Nach Helmholtz war der Gegensatz zwischen Goethe und Newton ein „prinzipieller“.13 Als Dichter sei Goethe bestrebt gewesen das künstlerische Material zum unmittelbaren Ausdruck der Idee zu machen. Nicht als das Resultat einer Begriffsentwickelung, sondern als das der unmittelbaren geistigen Anschauung, des erregten Gefühls, dem Dichter selbst kaum bewußt, muß die Idee in dem vollendeten Kunstwerk daliegen und es beherrschen. Durch diese Einkleidung in die Form unmittelbarer Wirklichkeit empfängt der ideelle Gehalt des Kunstwerkes eben die ganze Lebendigkeit des unmittelbaren sinnlichen Eindrucks, verliert aber natürlich die Allgemeinheit und Verständlichkeit, welche er in der Form des Begriffes vorgetragen haben würde. Der Dichter welcher in dieser besonderen Art der geistigen Tätigkeit die eigene, wunderbare Kraft seiner Werke begründet fühlt, sucht dieselbe auch auf andere Gebiete zu übertragen. Die Natur sucht er nicht in anschauungslose Begriffe zu fassen, sondern er stellt sich ihr gegenüber wie einem in sich geschlossenen Kunstwerke, welches seinen geistigen Inhalt von selbst hier und dort dem empfänglichen Beschauer offenbaren müsse. […] Wie das echte Kunstwerk keinen 11 Brief von Goethe an Jacobi, 15. Juni 1793, zit. nach Eduard ENGEL, Goethe: Der Mann und sein Werk, Braunschweig-Berlin: Verlag Georg Westermann 1909, S. 484. 12 Johann Wolfgang von GOETHE, Zur Farbenlehre: Polemischer Teil, in: ders., Sämmtliche Werke. Vollständige Werke in sechs Bänden. Sechster Band, Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1869, S. 242314, hier S. 309 [§ 635 der Farbenlehre]. 13 Hermann von HELMHOLTZ, Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten (1853), in: ders., Philosophische Vorträge und Aufsätze, S. 21-44, hier S. 31.
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fremden Eingriff erträgt, ohne beschädigt zu werden, so wird ihm auch die Natur durch die Eingriffe des Experimentierens in ihrer Harmonie gestört, gequält, verwirrt, und sie täuscht dafür den Störenfried durch ein Zerrbild.14
Nach dieser Skizze der Goetheschen Naturauffassung verweist Helmholtz auf die berühmten Verse, die Faust rezitiert, nachdem er von dem wißbegierigen Wagner wieder allein gelassen wird: Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.15
Zu dieser Angst, die Natur könnte durch „Hebeln“ und „Schrauben“ entzaubert und durch ein reduktionistisch-mechanistisches, mit abstrakten und quantitativen Kräften rechnendes Weltbild ersetzt werden, gesellte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland ein tiefes Unbehagen an der „neuen“, dem deutschen Wesen fremden, „aufklärerischen“ Naturauffassung.16 Hierbei gilt es zu bedenken, daß die großen Fortschritte der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich und England gemacht wurden und Deutschland auf diesem Gebiet hinterherhinkte. Regte in den Geisteswissenschaften der nationale Gegensatz, insbesondere mit Frankreich, die Beschäftigung mit den Besonderheiten der einzelnen Kulturen – man denke an Herders Geschichtstheorie – an, so scheint sich in den Naturwissenschaften der nationale Gegensatz in der Kritik an der als fremdartig empfundenen, analytischen Methode zu spiegeln und zugleich auch die Suche nach großen Synthesen sowie die Hinwendung zu holistischen und organizistischen Betrachtungsweisen verstärkt zu haben. Es verwundert wohl kaum, daß gerade die deutsche Naturphilosophie eine besondere Affinität zu rückwärtsgewandten, pantheistischen Gedankenwelten entwickelte. Es habe einmal eine Zeit gegeben, so der Naturphilosoph, als der Mensch noch mit und in der Natur lebte. Dieses ursprünglich harmonische, innige Verhältnis zwischen Mensch und Natur gelte es, zu ergründen und wiederherzustellen. An die Stelle der flachen, rohen, blinden, ideenleeren Empirie sollten wieder Offenbarungsglaube, Intuition, Naturandacht und dichterische Anschauung rücken, denn diese seien das Medium, die Natur zu schauen. „Alle deutsche Wissenschaft“, so Schel14 Ebenda, S. 32-33. 15 Johann Wolfgang von GOETHE, Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, Urfaust. Herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz, München: Verlag C. H. Beck 1994, S. 28. 16 Vgl. hierzu Ernst MAYR, The Growth of Biological Thought: Diversity, Evolution, and Inheritance, Cambridge, Mass. und London: The Belknap Press of Harvard University Press 1982, S. 387-390.
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ling, war von Anfang an auf das Ziel gerichtet gewesen, „die Lebendigkeit der Natur und „ihre innere Einigkeit mit geistigen und göttlichem Wesen zu sehen“.17
2 . D i e r o m a n t i s c h - s p e k u l a t i ve N a t u r p h i l o s o p h i e als Feindbild der „exakten“ N a t u rw i s s e n s c h a f t e n Es ist dieses hier skizzierte Bild von der Naturphilosophie, von dem sich die modernen Naturwissenschaftler abzuheben suchten. Die Warnungen vor den naturphilosophischen Systemen, dem „hohlen Phrasengeklingel“, gerieten hierbei zu einem Leitmotiv des Forschungspathos zahlreicher berühmter deutscher Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Naturphilosophie wurde zu dem abschreckenden Beispiel, dem Feindbild, das klar machen soll, wie Naturforschung niemals betrieben werden dürfe; ja, die Bezeichnung „romantische Naturphilosophie“ sollte, wie im folgenden gezeigt werden wird, zu einem der beliebtesten Scheltworte der „exakten“ Naturwissenschaften werden. In den Worten des Chemikers Justus von Liebig (1803-1873), der während seiner Ausbildungszeit Schellings naturphilosophische Vorträge gehört und später – übrigens durch Vermittlung von Alexander von Humboldt – im Laboratorium von Joseph Gay-Lussac (1778-1850) gearbeitet hatte, war die Naturphilosophie gar die „Pestilenz unseres Jahrhunderts“.18 „Nichts steht heutzutage tiefer in der Wertschätzung der Zeitgenossen“, schrieb Theobald Ziegler am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Schellingsche Naturphilosophie: „ein geistreich scholastisierendes Gemisch von Tiefsinn und Unsinn“ haben es selbst billige Beurteiler genannt, […] auf Naturforscherversammlungen können Redner stets des Beifalls gewiß sein, wenn sie daran erinnern und dem gegenüber selbstgefällig betonen, wie wir es doch so herrlich weit gebracht haben.19
In der „metaphysischen Sturm- und Drangperiode“ der Naturphilosophie 17 SCHELLING, Über das Wesen deutscher Wissenschaft, S. 410. 18 Liebig zit. nach Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: C. H. Beck 1998, S. 488. Vgl. auch Liebigs Bemerkung: „Einen Menschen, der im Zustand seiner Tollheit einen anderen umbringt, sperrt man ein, der Naturphilosophie erlaubt man heutzutage noch, unsere Ärzte zu bilden und ihnen diesen ihren eigenen Zustand der Tollheit mitzuteilen, die ihnen mit Gewissensruhe und nach Prinzipien erlaubt, Tausende zu töten.“ Ebenda. 19 Theobald ZIEGLER, Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts (= Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung. Herausgegeben von Paul Schlenther, Band 1), Berlin: Georg Bondi 1899, S. 73.
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sei eine „Pyramide um die andre in die Lüfte“ getürmt und nur vergessen worden, „sie auf den festen Erdboden zu begründen“, meinte Friedrich A. Lange in seiner Geschichte des Materialismus (1866).20 „Wer sollte nicht“, fragte Hermann von Helmholtz, „den kurzen, selbstschöpferischen Weg des reinen Denkens der mühevollen, langsam fortschreitenden Tagelöhnerarbeit der Naturforschung vorzuziehen geneigt sein“?21 Bis tief in unser Jahrhundert hinein, so Emil Du Bois-Reymond (1818-1896) im Jahre 1872, habe die deutsche Naturwissenschaft eine „dunkle Phase“ durchlebt: Ähnlich einem hochbegabten, aber unreifer Schwärmerei hingegebenen Jüngling, noch taumelnd vom ästhetischen Trunk aus dem Zauberborn seiner großen Literaturepoche, ließ der deutsche Geist durch poetisch-philosophisches Blendwerk sich irren und verlor den in der Naturforschung einzig sicheren Pfad. Eine falsche Naturphilosophie beherrschte die Katheder und drang bis in die Akademien; die Spekulation verdrängte die Induktion aus dem Laboratorium, ja fast vom Seziertisch.22
Doch nun, so Du Bois-Reymond, sei „diese Scharte […] ausgewetzt“.23 Die Herrschaft der Naturphilosophie gehöre in Deutschland endgültig der Vergangenheit an. Immer wieder werden die deutschen Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Stolz darauf verweisen, daß ihre Forschungen jenen aus Frankreich und England nun ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen seien. Nur exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an die herausragenden Leistungen deutscher Forscher auf dem Gebiet der Physiologie, Anatomie und Pathologie (J. Müller, M. Schleiden, Th. Schwann, Du Bois-Reymond, R. Virchow, E. Brücke, C. Ludwig etc.), der Chemie (J. Liebig, R. Bunsen, J. Meyer, A. Kekulé etc.) und der Physik (R. Mayer, H. Helmholtz, R. Kirchhoff etc.) erinnert.24 Heutzutage sehe man auf die deutsche Naturphilosophie, so Justus von 20 Friedrich A. LANGE, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, Leipzig: Philipp Reclam o. J. [1875], S. 94. 21 Hermann von HELMHOLTZ, Über das Sehen der Menschen (1855), in: ders., Philosophische Vorträge und Aufsätze. Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von Herbert Hölz und Siegfried Wollgast, Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 45-77, hier S. 47-48. 22 Emil DU BOIS-REYMOND, Über die Geschichte der Wissenschaft. In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 4. Juli 1872 gehaltenen Rede, in: ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft. Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von Siegfried Wollgast, Berlin: Akademie-Verlag 1974, S. 45-53, hier S. 51. 23 Ebenda. 24 Vgl. hierzu Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: C. H. Beck 1998, S. 484-498; ders., Deutsche Geschichte 1866-1918. Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München: C. H. Beck 1998, S. 602-618.
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Liebig, der in Gießen das erste chemische Unterrichtslaboratorium an einer deutschen Universität gegründet hatte, „zurück wie auf einen abgestorbenen Baum, der das schönste Laub, die prächtigsten Blüten, aber keine Früchte trug“.25 „Glauben Sie mir“, meinte Liebig, glauben Sie einer bald dreißigjährigen Erfahrung und einer genauen Kenntnis der Geschichte der Naturwissenschaften, wenn es einem Naturforscher gelang, das Leben durch seine Forschungen zu bereichern, so beruhte dies lediglich auf einer Untersuchungsmethode, von welcher behauptet werden kann, daß von ihr außerordentliche Fortschritte bedingt und hervorgerufen sind, welche die Gewerbe, die Industrie, die Mechanik, die Naturwissenschaften in den letzten fünfzig Jahren gemacht haben. Es sind dies die Wege der Erkenntnis und Forschung, die wir Franz Bacon und Galilei verdanken, welche eine falsche Philosophie jahrhundertelang aus der Medizin und den Naturwissenschaften verdrängt hatte, die aber jetzt durch ihre Siege im Interesse der Menschheit immer mehr Boden gewinnen. […] Seit Jahrtausenden beschäftigt man sich mit der Erklärung der Naturerscheinungen, aber die Erklärungen der philosophischen Schulen, von Aristoteles an bis auf die heutige Zeit, haben mit der unsrigen nichts mehr gemein.26
Von einer Rivalin, die man ernst genommen, mit der man seine Kräfte gemessen und die man zu widerlegen versucht hatte, sank die alte, spekulative Naturphilosophie im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer tragikomischen Spottfigur herab. Es war, schreibt der Grazer Philosoph Hugo Spitzer, eine traurige Zeit in Deutschland, eine Zeit des intellektuellen Verfalles und der vollständigen wissenschaftlichen Unzurechnungsfähigkeit, als die speculativen Philosophen herrschten und Meister Hegel den mit ehrfurchtsvoller Miene lauschenden Schülern seine sinnlosen Orakelsprüche zum Besten gab. Noch vor einigen Jahrzehnten hat man viel Weisheit in diesen dunklen und unbeholfenen Sprüchen gesucht; jetzt sucht man darin nichts mehr als Stoff zur Heiterkeit und diesen findet man denn auch in reichlichstem Maße […]. Wer Sinn für Komik besitzt, der kommt bei der Lectüre solcher speculativ-philosophischer Bücher, die von Vogt sehr mit Unrecht als zuverlässige Schlafmittel empfohlen wurden, aus dem herzlichsten Lachen gar nicht heraus, und es erscheint uns völlig unbegreiflich, wie man solches Zeug überhaupt jemals ernst nehmen konnte. Das ist nun glücklicherweise anders geworden. Der speculativen Philosophie hat die exacte Naturwissenschaft das Scepter entwunden; diese ist es, die jetzt anstatt der entthronten vormaligen „Königin der Wissenschaften“ im Reiche des Geistes dominirt; man läßt sich nicht mehr mit unverständlichen Phrasen, mit unfaßbaren, abstracten Begriffen abspeisen, und wenn auch die Probleme noch zum Theile dieselben geblieben sind, so verlangt man doch nach einer klaren, concre25 Justus von LIEBIG, Über das Studium der Naturwissenschaften (1852), in: N. N. (Hg.), Deutscher Geist: Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten. Zweiter Band, Berlin: Fischer Verlag 1942, S. 193-205, hier S. 197. 26 Ebenda.
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ten, greifbaren Lösung, welche selbstverständlicher Weise nur die Naturwissenschaften zu bringen im Stande ist.27
„Das Reich der Thatsachen hat gesiegt!“, heißt es triumphierend im Glaubensbekenntnis eines modernen Naturforschers aus dem Jahre 1872: Die Naturforschung in Verbindung mit ihren zwei Sprösslingen Technik und Medicin schreitet unaufhaltsam vorwärts. Sie hat schon jetzt alle besseren Köpfe in Besitz genommen und hat nur Träumer oder Schurken gegen sich. Sie ist in alle Gebiete eingedrungen; sie gestaltet alle anderen Wissenschaften um, sie beherrscht unser ganzes Familien- und Staatsleben. Sie herrscht nicht bloß in Fabrik, Werkstätte und Küche, sondern auch in der Kriegsführung und Diplomatie, in der Kunst und im Handel: – sie herrscht überall! Warum sollen wir ihr den Eingang in das gewöhnliche Denken der Leute verschließen? Lasse man ihr Licht offen hineinscheinen in die Köpfe! Keine Heuchelei mehr, keine Schönfärberei, keine Vermittlungsversuche!28
Eine neue Zeit war angebrochen. Zu überwältigend, zu offensichtlich für das tägliche Leben waren die Ergebnisse und Fortschritte in den Naturwissenschaften. Gerade aus diesen praktischen Erfolgen der Naturwissenschaften, der, um mit Du Bois-Reymond zu sprechen, „Weltbesiegerin“ unserer Tage, speist sich das Selbstbewußtsein der neuen Forschergeneration. Die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts, so Du BoisReymond, hätten bereits große Erwartungen bezüglich der „planmäßige[n] Ausbeutung der in ihrem gesetzlichen Wirken durchschauten Naturkräfte“ gehegt.29 Was sie träumten, ist übertroffen. Um den drastischen Ausdruck nochmals zu gebrauchen, schon ward aus dem werkzeugmachenden Thier, als welches wir ihn gleich anfangs trafen, der Mensch zum vernünftigen Thiere, welches mit dem Dampfe reist, mit dem Blitze schreibt, mit dem Sonnenstrahle malt. Die Zurückverwandlung des in den schwarzen Diamanten aufgespeicherten Sonnenlichtes in Arbeit vermillionenfacht seine Kraft. Die Wunder des Alterthums, die Römerwelt verschwinden neben alltäglichen Unternehmungen des heutigen Geschlechtes. Der Umfang des Planeten wird ihm zu enge. Kaum daß dessen Höhen und Tiefen ihm noch ein Geheimniß bergen. Wohin körperlich zu gelangen dem Menschen versagt bleibt, dahin dringt durch den Zauberschlüssel der Rechnung sein Geist. In schwärzester Nacht, im wildesten Meere steuert sein Schiff den kürzesten Curs, oder entweicht es klug dem verderblichen Ringe des Tyfoons.
27 Hugo SPITZER, Die Entdeckung der Seele I., in: Tagespost (Morgenblatt), Graz, Nr. 96, Donnerstag 10. April 1879, 24. Jahrgang, S. 1-3, hier S. 1. 28 F. v. H. [= Friedrich von HELLWALD], Die Geschichtsphilosophie und die Naturwissenschaften, in: Das Ausland: Ueberschau der neuesten Forschungen auf dem Gebiete der Natur-, Erd- und Völkerkunde 46 (1873), S. 168173, hier S. 168-169. 29 Ebenda.
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Die Geologie hält, was die Wünschelruthe versprach, und erbohrt freigebig Wasser, Salz, Kohle, Steinöl. Noch mehrt sich die Zahl der Metalle, und noch fand Chemie den Stein der Weisen nicht; morgen besitzt sie ihn vielleicht. Einstweilen wetteifert sie mit der organischen in Erzeugung des Nützlichen und Angenehmen. Den schwarzen stinkenden Abfällen der Leuchtgasbereitung, welche jede Stadt in ein Baku verwandelt, entlehnt sie Farben, vor denen die Pracht tropischen Gefieders erbleicht. Sie bereitet Wohlgerüche ohne Sonne und Blumenbeet. Hätte sie auch Simson’s Räthsel nicht gelöst, wer riethe ihr es, Süßes aus dem Ekelhaften zu machen? Gay-Lussac’s erhaltende Kunst hat nicht blos auf der Tafel des Reichen den Unterschied der Jahreszeiten verwischt. Der „Giftmischer“ sieht mit wüthendem Verzagen seine Tücke entlarvt. Die Würgengel Pocken, Pest, Scorbut sind gefesselt. Lister’s Verband wehrt den schleichmörderischen Sonnenstäubchen den Zutritt zu den Wunden des Kriegers. Das Chloral breitet die Fittige des Schlafgottes über die gequälteste Seele, ja das Chloroform spottet, wenn wir wollen, des biblischen Fluches des Weibes.30
In vielen Büchern, die zum Kanon des lesefreudigen Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts gehörten, wird dem Aufstieg der Naturwissenschaften und ihrem „Kinde“, der Technik, ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf zwei Werke jener Zeit verwiesen, nämlich auf eine naturwissenschaftliche Kulturgeschichte und eine in zahlreichen Auflagen erschienene Universalgeschichte. In dem fünfbändigen von Hans Kraemer um die Jahrhundertwende herausgegebenen Werk, das den bedeutungsvollen Titel Weltall und Menschheit trägt, heißt es im Schlußwort: Heutzutage lerne ein Schulkind mehr, als ehedem mancher greise Gelehrte am Ende seines Lebens in sich aufgenommen hat. Daß dabei die Naturwissenschaften immer mehr in den Vordergrund, an den ihnen schon längst gebührenden Platz treten, daß sie sowohl nicht nur im öffentlichen, sondern auch im geistigen Leben der Völker die führende Rolle übernehmen, scheint uns eine der wertvollsten und bedeutsamsten Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts zu sein.31
Das Kraemersche Werk endet mit dem zum naturwissenschaftlichen Schlachtruf jener Zeit avancierten „Forschen heißt kämpfen – Wissen ist Macht!“.32 Und das Wissen, das hier gemeint ist, ist das Wissen um die Naturgesetze. In „Wort und Bild“ war der Leser zuvor auf Tausenden von
30 Emil DU BOIS-REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft. Ein am 24. März 1877 im Verein für wissenschaftliche Vorlesungen zu Köln gehaltener Vortrag, in: Deutsche Rundschau 13 (1877), S. 214-250, hier S. 234. 31 Hans KRAEMER, Schlußwort, in: ders. (Hg.), Weltall und Menschheit: Geschichte der Erforschung der Natur und der Verwertung der Naturkräfte im Dienste der Völker. Fünfter Band, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J., S. 413-420, hier S. 418. 32 Ebenda, S. 420.
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Seiten, welche von der tiefen Fortschrittsgläubigkeit der Zeit getränkt sind, über den „Siegeszug der Menschheit rückschauend durch Jahrtausende“ belehrt und ihm zugleich der steinige Weg vor Augen geführt worden, den die Technik von der Vorzeit bis zu unseren Tagen zurückgelegt hat – vom Steinbeil bis zum Dampfhammer, vom schlichten Wasserrad der alten Kulturvölker bis zu den vieltausende pferdigen Niagara-Turbinen, vom Pfeil und Bogen bis zum Schnellfeuergeschütz, vom keuchenden Botengänger bis zur windesschnellen Lokomotive zur Vermittelung des körperlichen, und bis zur Funkentelegraphie als Mittler des geistigen Verkehrs der Erdenbewohner, die den Wundern der Natur bewundernswerte Menschenwerke an die Seite gestellt haben.33
Aber auch in den populären universalgeschichtlichen Darstellungen jener Zeit spiegelt sich der neue Stellenwert der Naturwissenschaften wider. „Das Streben nach echter und wahrer Wissenschaft in der edelsten Bedeutung des Worts, nach unumstößlicher Erkenntnis der Wahrheit auf sicheren und unwandelbaren Grundpfeilern“, so der Historiker Georg Weber in seinem populären Lehrbuch der Weltgeschichte (1870), habe „nach allen Seiten reiche Früchte getragen“ und infolgedessen seien „alle Theile der Naturwissenschaften in wenigen Dezennien mehr gefördert [worden] […], als in früheren Jahrhunderten“.34 Der dem „Realismus“ zugewandte Geist der Zeit, welcher die Befriedigung des Wissensdranges nicht mehr zu finden erhoffte, in religiösen und philosophischen Speculationen, der, getäuscht durch die vielen vergeblichen Versuche, aus den allgemeinen Voraussetzungen des menschlichen Geistes das Räthsel des Daseins auf deductivem Wege zu erklären, sich auf den Boden der Erfahrung und der strengen logischen und mathematischen Deduction als die allein sichere und unangreifbare Grundlage unseres Erkennens flüchtete, mußte das Aufblühen der Naturwissenschaften, die ja ausschließlich die Dinge der Erfahrung zum Gegenstand haben, in hohem Maße begünstigen. So aus der allgemeinen Zeitströmung naturgemäß hervorgewachsen, haben ihrerseits wieder die Bestrebungen und Forschungen im Gebiete der exacten Wissenschaften einen unberechenbaren Einfluß ausgeübt auf unser gesammtes Staats- und Volksleben, auf die Bildung und Denkweise der modernen Nationen. Durch die großartigen Fortschritte der Technik, durch die Vervollkommnung der Maschinen, durch den elektrischen Telegraphen, der seit seiner Entdeckung in wenigen Jahrzehnten zu einer an Vollendung grenzenden Entwickelung emporgeblüht ist, durch die Nationen verbindenden vor den kühnsten
33 Hans KRAEMER, Einleitung, in: ders. (Hg.), Weltall und Menschheit: Geschichte der Erforschung der Natur und der Verwertung der Naturkräfte im Dienste der Völker. Erster Band, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J., S. 1-16, hier S. 14-16. 34 Georg WEBER, Lehrbuch der Weltgeschichte mit besonderer Rücksicht auf Cultur, Literatur und Religionswesen. Zweiter Band. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 141870, S. 683.
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Wagnissen, vor den größten Schwierigkeiten nicht mehr zurückschreckenden Eisenbahnbauten haben unsere wirthschaftlichen und socialen Zustände in kurzer Zeit eine durchgreifende Umgestaltung erfahren, welche tief in das politische Leben der europäischen Staaten eingreift. Und nicht minder bedeutsam, wenn auch weniger augenfällig ist der geistige Einfluß, welchen die Gewöhnung an ein inductives Forschen, an streng mathematische Schlußfolgerungen auf den Bildungsgang und auf die gesammte wissenschaftliche Thätigkeit der Völker ausgeübt hat.35
Gerade dieses Wissen um die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung ihrer Forschungen ist ein zentraler Bestandteil des sich herausbildenden naturwissenschaftlichen Forschungsethos. Hand in Hand hiermit geht die Kritik an der Vergangenheit der eigenen Disziplin. Immer wieder werden die Modernen, die „exakten“ Naturforscher, betonen, daß die schwärmerischen Naturphilosophen, die Alten, die Mühsal der nüchternen, harten, ausdauernden Arbeit gescheut, sich der Last des von ihnen spöttisch beäugten, kleinlichen Zusammenraffens der Tatsachen und der Forderung nach Intersubjektivität des Wissens nur allzu willig entzogen hätten. Gerade hierdurch sei es den Alten möglich gewesen, die Grenzen ihrer „Erkenntnis“ beträchtlich zu erweitern. Doch was waren das schon für „Erkenntnisse“? Ihre großartigen, blendenden Schlußfolgerungen seien sträflicherweise zumeist am Anfang ihrer Untersuchungen, immer jedenfalls zu früh, zu voreilig gezogen worden. Ihren A-priori-Konstruktionen, ihren Luftschlössern, Wolkenpalästen, Nebelgebilden, leeren Abstraktionen und Phantasiegebilden, Bocksprüngen, ihrem in den Worten Helmholtz’ „allzu kühne[n] Ikarusflug der Spekulation“, ihren abenteuerlichen, ihren bequemen und bodenlosen Hypothesen, ihrem Jonglieren mit Ideen, ihren Systemen und Fiktionen, die nur so lange stand hielten, bis der Nächste sie umstieß, ihren „Seifenblasen“, die beim leichtesten Lüftchen zerplatzten, fehlte es am Notwendigsten, am festen Fundament der Tatsachen.36 „Zurück auf den Boden der Tatsachen!“, lautete denn auch das Gebot der Stunde.37 Immer wieder werden die „exakten“ Naturwissenschaftler die Forderung erheben, eine Wissenschaft ohne die Hypothek von Hypothesen zu betreiben. Zugleich versichern sie, daß sich durch jene Tatsache, die der induktive Forscher ans Licht bringe, der metaphysische Nebel und Dunst verziehen werde. Nicht ohne Häme und Triumphgeheul werden die modernen Naturwissenschaftler ihren Siegeszug über die alte Naturphilosophie feiern. Es sei, so verkünden sie, nur mehr eine Frage der Zeit, bis auch der letzte der „idealen Träumer“ unsanft aus seinem Schlummer er35 Ebenda, S. 673. 36 HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862), S. 85. 37 Vgl. hierzu insbesondere Rüdiger SAFRANSKI, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, Hamburg: Rowohlt 1996 [1987], S. 488-492.
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wachen werde. Endgültig vorüber sei die Zeit der großen, abschließenden Systeme. Die harten Tatsachen werden Taten setzen und mit ihrem Gewicht die weichen Ideen zermalmen. Die vornehmen, verschleierten Ideen, so die Prophezeiung, werden vor den ihnen zusehends auf den Leib rückenden krassen, nackten Tatsachen das Weite suchen und sich in das Reich der Phantasie zurückziehen, dorthin, wo sie auch hingehören. Zu überlegen sei die Macht des Faktischen. Klare Feindbilder zeichnen sich bekanntlich zumeist durch grobe Vereinfachung hinsichtlich der Merkmale des Fremden und des Eigenen aus: Dem Idealismus der Alten wird der Realismus der Modernen entgegengesetzt, der Idee die Tatsache, dem Metaphysischen das Exakte, dem Abstrakten das Konkrete, der Deduktion die Induktion, der Theorie die Empirie, der Spekulation die Erfahrung, der Intuition die Beobachtung, dem genialen Geistesblitz das mühsame Stückwerk. Diese von den Naturwissenschaftlern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oftmals gebrauchten Dichotomien haben nicht nur einen deskriptiven, sondern auch einen zutiefst normativen Charakter, sie definieren, was „gute“ und was „schlechte“ Wissenschaft ist, und helfen somit, die labyrinthischen Irrwege der Vergangenheit zu benennen und den Pfad gesicherter Erkenntnis von der Gegenwart in die Zukunft zu weisen. Immer wieder sind in der Kritik der „exakten“ Naturwissenschaften an der „spekulativen Naturphilosophie“ nationale Unter- und Obertöne unüberhörbar. Immer wieder wird die Lage der modernen Naturwissenschaften mit jener in England und Frankreich verglichen und darauf verwiesen, daß an dem kümmerlichen Zustand der Naturforschung niemand anderer Schuld trage als eben die Naturphilosophie, die viel zu lange das Zepter in der Hand gehalten habe, so daß der „Schatz an verfügbaren deutschen Fähigkeiten vollständig verpufft wurde in philosophischen Speculationen“. Suchten Engländer und Franzosen sich einer unbekannten Wahrheit induktiv, „auf dem Wege der Erfahrung […] zu bemächtigen“, so mühten sich die Deutschen, die „langweilige Arbeit des Sammelns von Thatsachen zu überspringen und sich lieber einem zuvor gesetzten Gedankenziele durch allerlei dialectische Rösselsprünge zu nähern (Deduction)“.38 Mit einer grenzenlosen Anmaßung hieß in der Sprache der Naturphilosophen die strenge, an Regeln sich bindende Forschung, mittelst deren man erst am Gutachten zu irgendeinem Ergebniß gelangt, „roher Empirismus“. Wer uns von diesem Irrthum heilt, darf gewiß als ein Wohltäter der Nation betrachtet werden, und wirklich haben wir es jetzt schon ziemlich so weit gebracht daß die besseren Philosophen sich der orakelhaften Sprache entwöhnen und es verschmähen gemeinen Gedanken den Schein der Tiefe dadurch zu geben daß sie sie in dunkle und verwirrende Ausdrücke hüllen.39 38 N. N., Zur Würdigung des Materialismus unserer Tage, in: Das Ausland 42 (1869), S. 1100-1102, hier S. 1101. 39 Ebenda.
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In den exakten Wissenschaften, meinte Lange, „soll Deutschland hinter England und Frankreich zurückgeblieben sein, und unsre Naturforscher schieben die Schuld dafür gern auf die Philosophie, die mit ihren Phantasiegebilden alles überwuchert und den Geist gesunder Forschung erstickt habe“.40 Auch auf dem Gebiet der „exakten“ Wissenschaft wurde nicht ohne Bedauern festgestellt, daß Deutschland eine „verspätete“ Nation sei.
3. Die „Vulgärmaterialisten“ als Speerspitze des n a t u rw i s s e n s c h a f t l i c h e n Z e i t g e i s t e s Den tosenden Auftakt dieses neuen naturwissenschaftlichen Selbstbewußtseins stellen die in den späten 1840er und 1850er Jahren erschienenen Schriften der sogenannten „Vulgärmaterialisten“ dar. Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang auf Karl Vogts Physiologische Briefe (1847) und seine gegen Rudolf Wagner gerichtete Schmähschrift Köhlerglaube und Wissenschaft (1855), Jacob Moleschotts Der Kreislauf des Lebens: Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe (1852) sowie auf Ludwig Büchners „Bestseller“ Kraft und Stoff (1855) verwiesen. Wie Hermann Lübbe feststellt, trugen diese Autoren, zu denen sich später noch andere – man denke insbesondere an Ernst Haeckel – gesellten, durch ihre allgemein verständlichen Darstellungen in entscheidendem Maße dazu bei, gebildete Schichten mit den Fortschritten der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vertraut zu machen und zugleich das Bewußtsein von der Bedeutung der Naturforschung für das gesellschaftliche Leben zu schärfen.41 Ein ähnliches Urteil über die Breitenwirkung, den diese Gruppe auf das deutsche Bildungsbürgertum auszuüben vermochte, findet sich auch bei Egon Friedell, wenngleich er den großen Einfluß, den diese „Gruppe von feuilletonistischen Halbgelehrten“ über das Publikum gewann, als schädlich erachtete. „Nicht umsonst heißt im Deutschen ein Kolonialwarenhändler Materialist: es war wirklich eine Weltweisheit für Gewürzkrämer.“42 Der plumpe Materialismus, so Friedell weiter, von „Büchner und Konsorten“ unterscheide sich als Weltauffassung „in gar nichts von dem Fetischismus […], den der Medizinmann mit demselben fanatischen Geschrei verkündet“.43
40 LANGE, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, Leipzig: Philipp Reclam o. J. [Vorwort Januar 1875], S. 513. 41 Vgl. hierzu Hermann LÜBBE, Politische Philosophie in Deutschland: Studien zu ihrer Geschichte, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1974 [1963], S. 130. 42 Egon FRIEDELL, Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1965 [1927-1931], S. 1202. 43 Ebenda, S. 1203-1204.
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Die Frage, ob der Einfluß der „Vulgärmaterialisten“ ein positiver oder ein negativer ist, soll uns hier jedoch nicht weiter beschäftigen. Wichtiger erscheint für meinen Zusammenhang vielmehr die Beobachtung, daß die „Vulgärmaterialisten“ die provokant polemische Speerspitze einer allgemeinen naturwissenschaftlichen Zeitströmung verkörpern. Ähnlich wie in einer Karikatur finden sich gerade bei ihnen einige zentrale Züge des sich herausbildenden naturwissenschaftlichen Weltbildes in besonders markanter, gleichsam destillierter Form wieder. Gebetsmühlenartig und in krassen, schroffen Worten werden die „Vulgärmaterialisten“ betonen, daß die „exakte Naturwissenschaft“ den Menschen endgültig von seinem Thron herabgestoßen habe, auf den er durch die „spekulative“ Naturphilosophie gehievt worden sei. Zudem habe die moderne Naturwissenschaft die Bedingtheit menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens nachgewiesen und somit dem theologisch-metaphysischen Glauben an eine Willensfreiheit des Menschen jegliche Grundlage entzogen.44 Der Mensch sei Teil der Natur, selbst seine erhabensten Eigenschaften, die früher als Ausfluß einer geheimnisumwitterten Geistes- oder Seelentätigkeit erachtet wurden, seien im Grunde genommen nichts anderes als plumpe physiologisch erklärbare Erscheinungen. Jeder Naturwissenschaftler, so Vogt in seinem berühmten 12. Physiologischen Brief, werde bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen, daß all jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken, daß die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirne stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.45 44 „Und man kann nur entweder die erhabene Selbstverleugnung oder die seltsame Unklarheit von Naturforschern bewundern, die nicht müde werden, dort nach Maß und Regel zu forschen, wo eine Willenstat ihrer vorausgesetzten Allmacht den wankenden Gang der Erscheinungen plötzlich entfesseln kann von der notwendigen Bedingtheit der Wirkungen der Ursachen.“ Siehe Jacob MOLESCHOTT, Der Kreislauf des Lebens: Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe (1852), in: Dieter WITTICH (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Erster Band. Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 25-341, hier S. 40. 45 Karl VOGT, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände (1847), in: Dieter WITTICH (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Erster Band. Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 1-24, hier S. 17-18. Vgl. in diesem Zusammenhang das Urteil von Egon Friedell über Karl Vogts gegen Wagner gerichtetes Pamphlet: „Der Physiologe Rudolf Wagner hatte gewagt, auf einer Naturforscherversammlung zu erklären, die Wissenschaft sei noch nicht reif, die Frage nach der Natur der Seele zu beantworten. Darauf antwortete Karl Vogt mit seiner vielgelesenen Schrift ‚Köhlerglaube und Wissenschaft‘, worin er mit knotigen Bierwitzen und apodiktisch vorgetragenen Realschülerkenntnissen den Gegner satirisch zu vernichten suchte.“ FRIEDELL, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 1202.
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Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihren Gegnern wird von den „Vulgärmaterialisten“ in einem manichäischen, von militärischer Diktion gesättigten Weltbild verankert, in dem die Mächte des Lichts, die Naturwissenschaften, und die Mächte der Finsternis, die Religion und die Philosophie, aufeinanderprallen. „Gegen die nüchternen, aber schlagenden Waffen des physischen und physiologischen Materialismus“, heißt es in Ludwig Büchners Kraft und Stoff (1855), könne der Idealismus nichts ausrichten. Zu ungleich sei der Kampf. Während „der Realismus“ mit Tatsachen kämpfe, die für jeden seh- und greifbar seien, kämpfe „der Idealismus mit Vermutungen und Hypothesen“. Es gelte, die „Hypothese“, die in der Naturforschung keinen Platz habe, auch aus der Philosophie und Religion zu verbannen. Nur die sinnliche Erkenntnis sei das Fundament „menschlichen Begreifens“. Wer diesen festen Boden verlasse, erhebe die Phantasie der Willkür auf den Thron. Alles, was über die sinnliche Welt und die aus der Vergleichung sinnlicher Objekte und Verhältnisse gezogenen Schlüsse hinausliegt, ist Hypothese und auch nichts weiter als Hypothese. Wer die Hypothese liebt, mag sich damit begnügen. Der Naturkundige kann es nicht und wird es nie können. – Daraus mag sich jeder einzelne die Frage beantworten, ob die Naturwissenschaften das nicht selten bestrittene Recht haben, sich an philosophischen Fragen zu beteiligen. Nach unserer Ansicht kann es keine Philosophie geben ohne sie; sie sind die eigentlichen und erbittertsten Feinde der Unwissenheit, der Schwärmerei, der Hohlheit des Gedankens. Eine Erörterung der höchsten Dinge, die nicht auf ihnen ruht, ist ein Konvolut von Worten ohne Sinn. Wird sich die spekulative Philosophie, machtlos gegen die Tatsachen, welche der Materialismus ins Felde führt, dadurch zu retten suchen, daß sie sich in unerreichbare metaphysische Höhen zurückzieht, so können wir sie als geschlagen betrachten.46
Wer in diesem Kampfe zwischen Realismus und Idealismus schließlich den Sieg davontragen werde, darüber könne, so Büchner, keinerlei Zweifel bestehen. Das „Spiel“ der spekulativen Philosophie „mit halbklaren, unklaren oder gänzlich inhaltslosen Worten oder Redensarten“ habe sie bei den gebildeten Leuten der Gegenwart „verhaßt gemacht“. In dem Maße, in dem der wissenschaftliche Forschergeist „klarer, erkenntnisbedürftiger und – redlicher geworden“ sei, sei auch „das Vertrauen“ auf die „Sehersprüche“ der alten Philosophie gesunken. Heutzutage sei man nicht mehr bereit, „Schein für Sein, Worte für Thaten, Einbildung für Wirklichkeit“ zu nehmen. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gefeierte philosophische Dialektik eines Hegel, dieses, wie Suhle meinte, „wüste Gemansche aus Sein 46 Ludwig BÜCHNER, Kraft und Stoff: Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein-verständlicher Darstellung (1855), in: Dieter WITTICH (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Zweiter Band. Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 343-516, S. 511-512.
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und Nichts“, könne uns heute nicht mehr beeindrucken. Unsere Generation habe hinter den Schleier des Geheimnisses geblickt und nichts dahinter gefunden als das ausgemergelte Gerippe philosophischer Geist- und Gedanken Leere, behängt mit dem bunten Flitter philosophischer Terminologie oder Ausdrucksweise. […] Die erhabenen Geistesflüge der Philosophie-Professoren, bisher überall als das Höchste gepriesen, sind daher einfach lächerlich.47
4. Über „strenge“ Methoden und „Zucht“ des Denkens Galt die Naturphilosophie von „Hegel, Schelling und Konsorten“ in den Augen der Modernen schon bald als so hoffnungslos antiquiert und lächerlich, daß sie einer Widerlegung nicht mehr bedurfte, so spiegelt sich das neue naturwissenschaftliche Forschungsethos gerade auch in der ambivalenten Haltung zu jenem Wissenschaftler wider, der wohl als der bekannteste deutsche Naturforscher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten kann und der maßgeblichen Anteil daran gehabt hatte, die Naturwissenschaften im Bildungsbürgertum salonfähig zu machen – nämlich in der ambivalenten Haltung zu Alexander von Humboldt (1769-1859). Selbstredend wurde Humboldt von den „exakten“ Naturwissenschaftlern der gebührende Respekt gezollt und als Ikone verehrt, als Wegbereiter des Aufschwungs der Naturwissenschaften gefeiert und als eine der „wenige[n] ehrenvolle[n] Ausnahmen“ betrachtet, die „beharrlich, aber vereinzelt gegen das [kämpften], was man Philosophie der Natur nannte“.48 Zwar galten viele seine Forschungen, insbesondere auf den Gebieten der Pflanzengeographie, Geologie und Meteorologie, als richtungsweisend. Aber ungeachtet all dieser Lobeshymnen wurde der Forschungsreisende und Gelehrte doch als Repräsentant einer aussterbenden naturwissenschaftlichen Tradition betrachtet, deren Arbeiten sich grundlegend von jenen der neuen Forschergeneration unterschieden. Alexander von Humboldt wurde zum „letzten“ Polyhistor erkoren, der die damaligen naturwissenschaftlichen Kenntnisse bis in ihre Spezialitäten hinein zu überschauen und in einen großen Zusammenhang zu bringen vermochte. In der gegenwärtigen Lage möchte es wohl sehr zweifelhaft erscheinen, ob dieselbe Aufgabe selbst einem Geiste von so besonders dafür geeigneter Bega-
47 Ludwig BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oder: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Leipzig: Verlag von Theodor Thomas 21872, S. 248249. 48 HELMHOLTZ, Über das Sehen der Menschen (1855), S. 48.
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bung, wie sie Humboldt besaß, in derselben Weise lösbar sein würde, auch wenn er alle seine Zeit und seine Arbeit auf diesen Zweck verwenden wollte.49
Die Zeit, die einen Alexander von Humboldt hervorgebracht hatte, war nun jedoch endgültig vorüber. Detailforschung und Spezialisierung, nicht Überschau und Zusammenfassung, waren die Grundmerkmale der „exakten“ Naturwissenschaften. Humboldts Spätwerk Kosmos: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845-1862), sein Unterfangen, eine Geschichte der Naturempfindung verschiedener Völker zu verfassen und – wie es in der berühmten Formulierung im Kosmos lautet – die „Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes“ aufzufassen, hatte nichts mit jener mühseligen Kleinarbeit und den scheinbar endlosen Versuchsreihen gemein, welche die „neuen“ Forscher in ihren Laboratorien tagaus, tagein, zu leisten bestrebt war.50 Und so wurde denn auch Humboldts Kosmos von „den Spezialisten stets mit einer gewissen stillen Abneigung bedacht“.51 In einem anläßlich der Säkularfeier für Alexander von Humboldt verfaßten Beitrag meinte ein dem deutschen Naturforscher freundlich gesinnter, anonymer Autor – wahrscheinlich handelt es sich um Adolf Bastian –, es sei der Sache dienlich, daß „die Zahl der maasslosen Enthusiasten“, die den Tegeler Philosophen als wissenschaftlichen Papst verehren und die „Unfehlbarkeit“ seiner im Kosmos geäußerten Ansichten postulieren, „im Abnehmen begriffen sei“.52 Es sei – wie der Autor bemerkt – leider jedoch auch vielfach „Mode“ geworden, die wissenschaftlichen Arbeiten von Humboldt „zu bekritteln“. Man höre oftmals das Urteil, er habe „im Grunde eigentlich Nichts, oder doch nur sehr wenig geleistet“. Heute forderten viele von seinen Anhängern, „nachträglich um Entschuldigung zu bitten, dass ein so oberflächliches Buch, wie der Kosmos, in die Hände des Publikums gelangt sei“.53 Der Kosmos, der zum Zeitpunkt seines Erscheinens „exstatisch“ gefeiert worden sei, werde nun verworfen. „Die Superklugen und Halbklugen legen das Buch naserümpfend aus der Hand, und von 49 Hermann von HELMHOLTZ, Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft (1869), in: ders., Philosophische Vorträge und Aufsätze, S. 153-185, S. 153. 50 Alexander von HUMBOLDT, Kosmos: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Teilband 1. Herausgegeben und kommentiert (= Studienausgabe in 7 Bänden, Band 7,1). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993 [1845], S. 7. 51 ZIEGLER, Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts, S. 324. 52 N. N. [= Adolf Bastian], Die hundertjährige Erinnerungsfeier Alexander von Humboldt [Miscellen und Bücherschau], in: Zeitschrift für Ethnologie 1 (1869), S. 395-397, hier S. 395. Der eigentümliche Stil, die inhaltliche Argumentation und die Tatsache, daß dieser Beitrag in der von Bastian und Hartmann herausgegebenen Zeitschrift veröffentlicht wurde, legen die Vermutung nahe, daß es sich bei dem anonymen Verfasser um Bastian handelt. 53 Ebenda.
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Manchem kann man die vertrauliche Mittheilung hören, dass ihm dies berühmte Werk doch eigentlich Nichts Neues bringe, dass man das Alles schon wisse und dass es sich von selbst verstehe.“54 Es gelte jedoch zu bedenken, so der zur Verteidigung ausrückende Autor, daß der Kosmos ein Versuch war, den naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts zusammenzufassen. Im natürlichen Flusse der Entwicklung, beim Fortarbeiten am Wissensbau, der das Universum umschliessen soll, bedarf es bestimmter Ruheplätze, von denen aus man den soweit zurückgelegten Weg für weitere Orientierung überschaut. Eine solche Warte wird durch den Kosmos markirt, und sein historischer Werth wird ein unvergänglicher bleiben, da er von dem Organismus der Menschheit bereits assimilirt, in allen ferneren Geistesschöpfungen fortwirken wird.55
Nicht zu Unrecht sei behauptet worden, heißt es in einem Nachruf auf Humboldt, daß sein Spätwerk „für den Laien eine zu geweihte Sprache führe und der Gelehrte hierin den strengen Apparat wissenschaftlicher Entscheidungen darin vermisse“.56 Dieses Werk habe Humboldt jedoch weder für den Laien noch für den Spezialisten geschrieben, sondern für die „allgemein Gebildeten“. Diesen ist und wird der Kosmos immer ein unersetzliches Belehrungsmittel bleiben, während er als litterarische Arbeit stets den Rang und den Werth behalten wird, wie etwa Plinius’ Naturgeschichte, oder Strabo’s Geographie, oder die „Weltspiegel“ der Scholastiker, des Vincenz von Beauvais oder des Minoriten Roger Bacon. Für die Geschichte der Wissenschaften bleibt Humboldts Kosmos eine Art unvertilgbare Fluthmarke, insofern darin die Summe der wichtigsten räumlichen Erkenntnisse sämmtlicher moderner Culturvölker bis zur Mitte des 19ten Jahrhunderts niedergelegt sind. So viel wird man einst sagen, wußten die Meistwissenden aller Menschen um die Zeit der Abfassung des großen Werkes.57
Und so verbeugten sich die „exakten“ Naturwissenschaftler im Rahmen von Erinnerungsfeiern höflich vor dem Geistesriesen aus Tegel, rühmten den Polyhistor, der zum „Naturgenusse“ angeregt hatte und trugen ihn schließlich ehrfurchtsvoll zu Grabe, um sodann in ihre Laboratorien zurückzukehren und sich wieder der ernsten Tagesarbeit zu widmen. Die universalistische Ausrichtung eines Alexander von Humboldt erschien den modernen Naturwissenschaftlern zutiefst bewundernswert und zutiefst di-
54 Ebenda, S. 396. 55 Ebenda, S. 397. 56 N. N., Alexander von Humboldt: Nachruf, in: Das Ausland 32 (1859), S. 490-493, hier S. 491. 57 Ebenda, S. 491-492.
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lettantisch. Heutzutage gelte es, so Helmholtz, „alle unsere Kräfte auf ein eng begrenztes Feld [zu] konzentrieren“.58 Die moderne Naturforschung stelle eine Absage an die alten naturphilosophischen Versuche dar, ein „befriedigendes System des Weltganzen“ zu geben.59 Aufgrund ihrer „methodischen Prinzipien“ müsse sie solche Versuche als „windiges Beginnen“ betrachten.60 Zu allgemeinen Einsichten und Wahrheiten gelange man „nur im voranschreitenden, langsam voranschreitenden Wege methodischer Induktion, welche mit den deduktiven Einsichten der Mathematik und Mechanik zusammenwirkt“.61 Ein durch vorschnelle, alle Mittelstufen überspringende Generalisation gewonnener Satz verhält sich dann zu solchen Wahrheiten wie ein Kinderhelm aus Pappdeckel zu einem wirklichen Helm, wie eine Kinderflinte zu einer wirklichen Flinte. Solche Sätze sind kraftlose Vertreter kraftvoller und auf das Leben wirkender Wahrheiten.62
Immer werden die „exakten“ Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darauf verweisen, daß die rasanten Fortschritte in den einzelnen Forschungsgebieten dazu geführt hätten, daß es selbst Spezialisten kaum mehr möglich sei, mit den neuen Erkenntnissen der unmittelbar benachbarten Disziplinen Schritt zu halten. Angesichts dieser Spezialisierung und Vertiefung der Forschung erscheine auch das bloße Aneignen positiver Kenntnisse aus verschiedenen Gebieten als ein zunehmend sinnloses Unterfangen. Wichtiger sei es vielmehr, jenes „Ethos“, jenen Forschergeist zu kultivieren, der all die Entdeckungen und Erfindungen möglich gemacht habe. Denn die großartigen, sichtbaren Erfolge und der praktische Nutzen der Naturwissenschaften, die so viel zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in der Gegenwart beigetragen hätten, seien nur die glänzende Schale, die äußeren Anzeichen, dafür, daß in der modernen Naturforschung „ein gesunder Kern von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit wohne“.63 Und dieser „gesunde Kern“ bestehe in der Vorge58 HELMHOLTZ, Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft (1869), S. 154. 59 Wilhelm DILTHEY, 1. Literaturbrief (1876), in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus „Westermanns Monatsheften“: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen 1867-1884 (= Gesammelte Schriften 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 1-8, hier S. 2. 60 Ebenda. 61 Ebenda. 62 Ebenda. Auch Dilthey steht, wie im Verlauf dieser Arbeit noch gezeigt werden wird, in den 1860er und frühen 1870er Jahren noch im Banne der Verheißung, daß es möglich sein müsse, durch die an der Naturwissenschaft orientierten induktiven Methode auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu „finden“. 63 HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862), S. 86.
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hensweise der „exakten“ Naturwissenschaften, in ihrer Methode. Diese Methode setze „die unbedingte Achtung vor den Tatsachen und Treue in ihrer Sammlung“ voraus. Ferner verlange die Methode von ihrem Benutzer, dem „sinnlichen Schein“ zu mißtrauen und die Anerkennung, daß in der Natur das Kausalitätsprinzip herrsche. Aufgabe sei es, durch wiederholte Beobachtungen die notwendige Kausalverbindung zwischen den Erscheinungen zu ermitteln.64 Hierbei dürfe sich der Forscher nur einer einzigen Autorität bedingungslos unterwerfen, nämlich der des eigenen Verstandes. Die beste Schulung erfahre der Verstand in den experimentierenden und mathematischen Zweigen der Naturwissenschaften. Hier lerne man nämlich, daß „die eiserne Arbeit des selbstbewußten Schließens […] große Hartnäckigkeit und Vorsicht“ erfordere, zumeist „nur sehr langsam“ vonstatten gehe „und selten durch schnelle Geistesblitze“ vorangetrieben werde.65 Gerade in diesen Zweigen ließen sich die Fehler in den Gedankenverbindungen am raschesten erkennen.66 Die Methode der „exakten“ Naturwissenschaften, so Du Bois-Reymond, sei die Induktion, die methodos epaktike, die Methode des „Daraufsichführenlassens“.67 Es sei schwer, einem Laien die herausragende Bedeutung dieser Methode verständlich zu machen, denn im Grunde genommen sei diese nichts anderes „als der auf die jedesmalige Aufgabe angewendete gesunde Menschenverstand“.68 Obgleich die naturwissenschaftliche Methode die naheliegendste und einfachste sei, bedürfe sie doch einer speziellen Förderung. Denn der Mensch sei ein träges, zur Unmündigkeit neigendes Geschöpf, das lieber in den ausgetretenen Pfaden seiner Vorfahren wandle, sich deren Anschauungen aus Bequemlichkeit, Lässigkeit und Denkfaulheit einverleibe und in Phantastereien schwelge, als sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Gerade daher gelte es, den gemeinen Menschen mit dem „Geist“ der modernen Wissenschaft zu durchdringen und aus ihm ein rationales, logisch schließendes, tatsachenhungriges Wesen zu formen. „Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wissenschaft“, meinte Ernst Haeckel, „ist die gefährlichste nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden letzten Mächte kämpfen selbst Götter dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.“69 Im Vokabular der „exakten“ Naturwissenschaften der zweiten Hälfte
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Ebenda, S. 101. Ebenda, S. 100. Ebenda. DU-BOIS REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), S. 230. 68 Ebenda. 69 Ernst HAECKEL, Die Welträtsel: Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Mit einer Einleitung von Iring Fetscher. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1984, S. 22 [= Nachdruck der 11. verbesserten Auflage von 1919].
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des 19. Jahrhunderts spiegelt sich sowohl dieses Bild vom Menschen als einem sich nur allzu willig der Trägheit und der Spekulation überlassenden Subjekt als auch der große erzieherische Auftrag, den zu erfüllen sich die Vertreter der Naturforschung verschrieben haben. Immer wieder ist von der „Zucht des Denkens“, der erforderlichen „Ausdauer“ für wissenschaftliche „Arbeit“, den „Entbehrungen“ und „Opfern“ des Forschers, dem „Zügeln“ der Phantasie, der „strengen“ Methode, dem „Ernst“ des Strebens, dem „Ringen um die Wahrheit“ und dem uneigennützigen „Dienste“ an der Wahrheit die Rede. Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die „sittliche Erziehung der Menschheit“ liege darin, daß wir nicht müde werden, im Dienste des Fortschrittes zu arbeiten, damit der Mensch immer mehr sich des Namens werth zeige, den ihm der alte Linné gegeben, damit er ein homo sapiens werde und nicht ein homo credulus.70
Erst nachdem der homo credulus durch Schulung sein oblomowsches Phlegma überwunden habe, werde der faustische Trieb in ihm erwachen und der Mensch seiner wahren Bestimmung gerecht werden. Sollte sich dieser Mensch auch zum Forscher berufen fühlen, dann wird er stolz darauf sein, sein Leben als „Kärrner“ im Dienste eines großen Unternehmens zu fristen und mitzuhelfen, den prächtigen Wagen der Wissenschaft ein klitzekleines Stück vorwärts zu schieben. Wer nur flüchtig einen Blick auf die Wissenschaft werfe, meinte selbst der den Faktenfetischismus mit Spott geißelnde Friedrich Nietzsche (1844-1900), für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese Unerbittlichkeit im kleinen wie im großen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urteilen, Verurteilen, etwas Schwindelund Furchteinflößendes. Namentlich erschreckt ihn, wie hier das Schwerste gefordert, das Beste getan wird, ohne daß dafür Lob und Auszeichnung da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur Tadel und scharfe Verweise laut werden – denn das Gutmachen gilt als die Regel, das Verfehlen als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie überall einen schweigsamen Mund. Mit dieser „Strenge der Wissenschaft“ steht es nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft: – sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben als in dieser hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen Luft, in dieser männlichen Luft. Überall sonst ist es ihm nicht reinlich und luftig genug.71
Trotz des emphatisch formulierten Selbstbewußtseins und des Optimismus 70 F. v. H. [= Friedrich von Hellwald], Bemerkungen zu Professor Virchows Rede über die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung der Menschheit, in: Das Ausland 46 (1873), S. 834-837, hier S. 836. 71 Friedrich NIETZSCHE, Die Fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) (1882), in: ders., Band 3. Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta, München-Wien: Carl Hanser 1980 [Nach der fünften Auflage 1966], S. 7-274, hier S. 171-172.
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werden die Vertreter der „exakten“ Naturwissenschaften in der hier erörterten Periode jedoch auch immer wieder darauf verweisen, daß gerade die praktischen Erfolge ihrer Arbeiten auch große Gefahren bergen. So mahnt etwa Helmholtz nachdrücklich, sich nicht von den durch die Naturwissenschaften hervorgebrachten glänzenden Erfindungen und Entdeckungen blenden zu lassen: „Wer bei der Verfolgung der Wissenschaften nach unmittelbarem praktischen Nutzen jagt, kann ziemlich sicher sein, daß er vergebens jagen wird.“72 Es wäre somit verfehlt, das Bildungsideal der „exakten“ Naturwissenschaftler auf die Suche nach unmittelbarer, praktischer Anwendbarkeit der Forschung zu reduzieren. Im Gegenteil: Der Nutzen wird vielmehr als Nebenerscheinung, als zusätzlicher Lohn für jene verstanden, welche die Wahrheit um jeden Preis wollen. An der Schwelle zum „technisch-induktiven Zeitalter“ dürfe man, so Du BoisReymond, keinesfalls vergessen, daß die sichtbaren Erfolge der Naturwissenschaften die unsichtbaren Voraussetzungen für diese Erfolge bedrohen, untergraben, ja zerstören könnten. Gerade deshalb bedürfe es eines richtigen Verständnisses der naturwissenschaftlichen Methode. Denn diese Einsicht sei das beste Heilmittel gegen jene „Neobarbarei“ des modernen Lebens, in welcher „Reichtum, Ueppigkeit und äußerer Schliff“ neben „Unwissenheit, Beschränktheit und innere[r] Rohheit“ gedeihen, gegen jene Erscheinungen der „Ueberwucherung und Durchdringung der europäischen Cultur mit Realistik“, gegen das „reißend wachsende Übergewicht der Technik“, gegen jene unerfreulichen Zeiterscheinungen also, die Du Bois-Reymond bereits im Jahre 1877 als „Amerikanisierung“ anprangern sollte.73 Der Naturwissenschaft ist […] eigen, daß sie einerseits zu den höchsten Strebungen des Menschengeistes in Beziehung steht, andererseits durch eine Reihe unmerklicher Abstufungen in handwerksmäßiges, nur auf Erwerb gerichtetes Thun überführt. […] Die technische Seite der naturwissenschaftlichen Thätigkeit tritt unvermerkt immer weiter in den Vordergrund; Geschlecht um Geschlecht sieht sich immer mehr auf Wahrnehmung materieller Interessen hingewiesen. […] Wer hat noch Lust und Zeit, in den tiefen Schacht der Wahrheit niederzusteigen, in das Meer des ewig Schönen sich zu versenken? Aus fertigen, von der Wurzel gelösten Ergebnissen, nützlichen, aber dürren Tatsachen, grobsinnlichen Anschauungen baut sich heutige Bildung nur zu oft als unorganisches Stückwerk auf. Wenige kümmert noch die Art, wie die Wahrheit gefunden wurde, der nur im Werden erkennbare Zusammenhang der Dinge, geschweige der Reiz vollendeter Form. […] Wo es nur noch Tagesberühmtheit gibt, hört eine der edelsten Triebfedern der menschlichen Natur, der Gedanke an Nachruhm, zu wirken auf. So versiegt die geistige Production, welche nur in weltvergessener Hingebung 72 HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862), S. 105. 73 DU BOIS-REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), S. 238.
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und geduldiger Treue Unvergängliches schafft; und, wenn nach Fontenelle die Industrie ihre belebenden Anstöße vorzüglich der reinen Wissenschaft verdankt, ist sogar sie durch Verhältnisse gefährdet, welche zum Theil ihr Werk sind. Mit einem Wort, der Idealismus erliegt im Kampfe mit dem Realismus, und es kommt das Reich der materiellen Interessen.74
Die Warnung von Du Bois-Reymond, daß die Naturwissenschaften an ihren eigenen Erfolgen zugrunde gehen könnten, erinnert an die Prophezeiungen von Joseph A. Schumpeter bezüglich der Zukunft der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Der Kapitalismus drohe nicht an seinen inneren Widersprüchen und Unzulänglichkeiten zu scheitern, sondern daran, daß das ursprüngliche heroische Ethos des Unternehmertums ausgehöhlt und durch eine Mischung aus selbstgefälligem Hedonismus und bürokratischer Virtuosität ersetzt werde. Werfen wir erneut einen kurzen Seitenblick auf Friedrich Nietzsche, einen der wohl schärfsten Kritiker der sich anbahnenden, neuen Wissenschaftskultur und des aufkommenden Forschertypus. Mit der ihn auszeichnenden Kunst der sarkastisch-spöttischen Übertreibung prangert Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) den zunehmend fabriksmäßigen, maschinellen Charakter der modernen wissenschaftlichen Produktionsweise an: Glaubt es mir: wenn die Menschen in der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif sind, so ist in kurzem die Wissenschaft ebenso ruiniert wie die allzuzeitig in dieser Fabrik verwendeten Sklaven. Ich bedaure, daß man schon nötig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sklavenhalter und Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnot gedacht werden sollten; aber unwillkürlich drängen sich die Worte „Fabrik“, „Arbeitsmarkt“, „Angebot“, „Nutzbarmachung“ – und wie all die Hilfszeitwörter des Egoismus lauten – auf die Lippen, wenn man die jüngste Generation der Gelehrten schildern will. Die gediegene Mittelmäßigkeit wird immer mittelmäßiger, die Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer. […] Denen, die unermüdlich den modernen Schlacht- und Opferruf „Teilung der Arbeit! In Reih’ und Glied!“ im Munde führen, ist einmal klärlich und rund zu sagen: wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie euch möglichst schnell vernichten; wie euch die Henne zu Grunde geht, die ihr künstlich zum allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden: aber seht euch nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig keine „harmonischen“ Naturen: nur gackern können sie mehr als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner (obzwar die Bücher immer dicker) geworden.75 74 Ebenda, S. 237-238. 75 Friedrich NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in: ders., Band 1. Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta, München-Wien: Carl Hanser 1980 [Nach der fünften Auflage
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Gackernde Arbeiter in der – wie Nietzsche wohl gesagt hätte – „chinesischen“ Wissenschaftsfabrik treten an die Stelle des ehemaligen, stillen, unnahbaren Geistesriesen und produzieren intellektuelle, handgreifliche Massenware, bar jeder Originalität. Nietzsche richtet seine Giftpfeile nicht gegen die Wissenschaft, sondern gegen ihre Ketzer, gegen ihre gegenwärtigen, kümmerlichen Repräsentanten. Diese hätten die auch für Nietzsche trotz all seiner schneidenden Kritik „heilige“ Wissenschaft verraten, seien der geistigen Aristokratie abtrünnig geworden und in das Lager des „Pöbels“ übergelaufen. Die unersättliche Gier nach Neuheit lasse sich nur durch leicht verdauliche, mittelmäßige geistige Kost stillen, die, um wiederum Neuem Platz zu machen, notwendigerweise auch rasch wieder ausgeschieden werden müsse.
5 . U n d w i e h ä l t s t D u e s m i t d e r S yn t h e s e ? D i e „ e x a k t e n “ W i s s e n s c h a f t e n a m S c h e i d ew e g Das gemeinsame Feindbild der alten – spekulativen – Naturphilosophie und die Ehrfurcht vor den empirisch sichergestellten Tatsachen ist ein zentrales identitätsstiftendes Merkmal der „exakten“ Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon bald lassen sich jedoch innerhalb der modernen Naturforschung zwei Stränge idealtypisch unterscheiden, die zu entgegensetzten Schlußfolgerungen in der Frage gelangten, ob der „Schatz der Tatsachen“ – auch in dieser damals oft gebrauchten Formulierung schwingen unüberhörbar sowohl die Achtung des Faktischen als auch die hieran sich knüpfenden Erwartungen mit – bereits groß genug sei, um nunmehr eine Synthesenbildung auf gesicherter empirischer Grundlage vorzunehmen. Die einen – ich werde sie vereinfachend als die „Optimisten“ bezeichnen – werden diese Frage bejahen, die anderen, die „Pessimisten“, werden sie verneinen. Stellvertretend für die erste Richtung sei auf die bereits erwähnten „Vulgärmaterialisten“, auf die monistische Lehre von Ernst Haeckel und auf die Energetik von Wilhelm Ostwald verwiesen. Für den zweiten Strang, der einer Synthesen- und großen Theoriebildung skeptisch bis ablehnend gegenüberstand und für eine Fortsetzung der „Kleinarbeit“ plädierte, sei an Rudolf Virchow erinnert. Es läßt sich wohl als ein allgemeines Phänomen wissenschaftspsychologischer Dialektik bezeichnen, daß gerade in Zeiten rasanten Erkenntnisfortschritts bei den einen das Bedürfnis nach einer Synthese des Wissens laut wird, während andere diesem Wunsche, gerade wegen der rasch anwachsenden Erkenntnisse, skeptisch gegenüberstehen und in diesem Wunsch einen Ausdruck dilettantischer Geisteshaltung sehen. Die Spezialisierung der For-
1966], S. 209-285, hier S. 256-257. Ich bedanke mich bei Gerald Mozetiþ, der mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat.
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schung, so Lange, mache den Wissenschaftler „vorsichtig“, mitunter „aber auch engherzig und arrogant“.76 Wenden wir uns zuerst Ernst Haeckel zu, einem prominenten Vertreter des „optimistischen“ Stranges. In seinen Schriften richtet sich der deutsche Biologe zwar immer wieder gegen die alte „spekulative“ Naturphilosophie und denunziert ihre letzten Vertreter als abergläubische, mittelalterliche „Kathederphilosophen“, „welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruieren wollen, und welche die empirische Naturerkenntnis schon deshalb verschmähen, weil sie die wirkliche Welt nicht kennen“.77 Zugleich wird Haeckel jedoch auch jene modernen Naturforscher kritisieren – namentlich nennt er in diesem Zusammenhang übrigens Rudolf Virchow –, welche alle philosophische Arbeit als überwunden ansehen und nicht ohne einen Anflug von Resignation behaupten, die Naturwissenschaft habe sich darauf zu beschränken, Tatsachen zu fördern und die Erscheinungen der Natur objektiv zu erforschen.78 Haeckel plädiert dafür, „Erfahrung und Denken – oder Empirie und Spekulation – als gleichberechtigte und sich gegenseitig ergänzende Erkenntnismethoden“ anzuerkennen.79 Denn die „einseitige Überschätzung der Empirie“ vieler zeitgenössischer Naturforscher, so Haeckel, sei „ein ebenso gefährlicher Irrtum wie jene entgegengesetzte der Spekulation“.80 Dieser allzu kleinmütige Götzendienst am Faktischen müsse ein Ende finden. Ziel der Naturwissenschaft müsse die „Herstellung eines vollkommen architektonisch geordneten Lehrgebäudes“ sein.81 Der reine Empiriker bringt statt dessen einen ungeordneten Steinhaufen zusammen; der reine Philosoph auf der andern Seite baut Luftschlösser, welche der erste empirische Windstoß über den Haufen wirft. Jener begnügt sich mit dem Rohmaterial, dieser mit dem Plan des Gebäudes. Aber nur durch die innigste Wechselwirkung von empirischer Beobachtung und philosophischer Theorie kann das Lehrgebäude der Naturwissenschaft wirklich zustande kommen.82
Die Angst vor einem Rückfall in die „alte“ Naturphilosophie dürfe nicht – so ließe sich die Haeckelsche Position zusammenfassen – dazu führen, jegliche weiterreichenden Schlußfolgerungen als Spekulation zu verwerfen.83 Daß diese Gefahr in bestimmten Fällen durchaus vorhanden gewe76 77 78 79 80 81
LANGE, Geschichte des Materialismus seit Kant, S. 187. HAECKEL, Die Welträtsel, S. 30. Ebenda. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 30. Ernst HAECKEL, Erfahrung und Erkenntnis (1866), in: ders., Natur und Mensch. Sechs Abschnitte aus Werken von Ernst Haeckel. Herausgegeben von Carl W. Neumann, Leipzig: Verlag von Philipp Reclam o. J. [Vorwort der 2. Auflage aus dem Jahr 1920], S. 119-137, hier S. 137. 82 Ebenda. 83 Ebenda, S. 123-124.
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sen zu sein scheint, geht aus einer Rede hervor, die Helmholtz anläßlich seines 70. Geburtstages hielt. Helmholtz berichtet, daß seine für die Geschichte der Thermodynamik so richtungsweisende Arbeit „Über die Erhaltung der Kraft“ (1847) – nach eigener Aussage kannte Helmholtz damals die zuvor erschienenen Arbeiten von Robert Mayer (1814-1878) nicht und jene von James P. Joules (1818-1889) „nur wenig“ – bei den „physikalischen Autoritäten“ auf Skepsis gestoßen waren. „Sie waren geneigt, die Richtigkeit des Gesetzes zu leugnen und in dem eifrigen Kampfe gegen Hegels Naturphilosophie, den sie führten, auch meine Arbeit für eine phantastische Spekulation zu erklären.“84 Ähnlich den Naturphilosophen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird Haeckel am Ende des 19. Jahrhunderts jene „in der riesigen Maschinenwerkstätte der modernen Naturforschung […] [werkende] Masse gedankenloser Tagelöhner“ scharf kritisieren, die zwar ihre kleine Spezialarbeit vortrefflich ausführen, aber nach dem großen Ganzen gar nicht fragen. Es gibt selbst unter den angesehenen und verdienten Naturforschern nicht wenige, denen die Gewinnung einer bestimmten Weltanschauung ganz gleichgültig ist, die nur neue Tatsachen, keine Begriffe finden wollen.85
Das Bedürfnis nach einer einheitlichen Weltanschauung sei durch das ungemeine Wachstum positiver Kenntnisse auf allen Gebieten der Naturforschung deutlich spürbar. Und im Unterschied zu vergangenen Epochen seien wir heutzutage auch in der Lage, dieses Bedürfnis zu stillen und eine monistische Philosophie auf naturwissenschaftlichem Fundament, „auf kritischer Zusammenfassung aller allgemeinen Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften“ zu begründen. Die alte metaphysische Naturphilosophie war tot. Aber zu einer empirisch fundierten, modernen „echten ‚Naturphilosophie‘ [sei] […] jeder denkende und wissenschaftlich gebildete Mensch“ berechtigt.86 Gegen dieses „Ignorabimus“, mit dem Emil Du Bois-Reymond – einer der „Tagelöhner“ – in seiner berühmten Rede aus dem Jahre 1872 die Grenzen der menschlichen Erkenntnis abzustecken versuchte, „müssen wir hier“, so Ernst Haeckel, im Namen der sich erweiternden Kenntnisse der Natur „und der entwickelungsfähigen Wissenschaft auf das Entschiedenste
84 Hermann von HELMHOLTZ, Erinnerungen (1892), in: ders., Philosophische Vorträge und Aufsätze. Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von Herbert Hölz und Siegfried Wollgast, Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 3-19, hier S. 10. 85 Ebenda, S. 504-505. 86 Ebenda, S. 504.
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protestiren!“87 Hätten wir versucht, „unseren einzelligen Amoeben-Ahnen aus der laurentischen Urzeit“ zu erklären, dass ihre Nachkommen dereinst in der cambrischen Periode einen vielzelligen Wurm-Organismus mit Haut und Darm, Muskeln und Nerven, Nieren und Blutgefässen bilden würden, so würden sie uns das nimmermehr geglaubt haben; so wenig als diese Würmer, wenn wir ihnen erzählen hätten können, dass ihre Nachkommen sich zu schädellosen Wirbelthieren, gleich dem Amphioxus – und so wenig als diese Schädellosen, wenn wir ihnen hätten sagen können, dass ihre späten Epigonen sich zu Schädelthieren entwickeln würden. Und ebenso würden unsere silurischen Urfisch-Ahnen nimmermehr geglaubt haben, dass ihre devonischen Enkel als Amphibien, ihre triassischen Ur-Enkel als Säugethiere existieren würden; ebenso würden die letzteren es für möglich gehalten haben, dass in der Tertiär-Zeit einer ihrer späten Ur-Ur-Enkel Menschen-Form gewinnen und die edlen Früchte vom Baum der Erkenntniss pflücken werde. Sie alle würden uns einstimmig geantwortet haben: „Wir werden uns niemals ändern und wir werden niemals unsere Entwickelungsgeschichte erkennen! Immutabimur et Ignorabimus!“88
Im Grunde genommen sei das Ignorabimus von Du Bois-Reymond nichts anderes als ein Versuch, dem Fortschritt der Wissenschaft einen „Riegel“ vorzuschieben. „Dieses scheinbar demüthige, in der That aber vermessene ‚Ignorabimus‘ ist im Grunde genommen das ‚Ignoratis‘ des unfehlbaren Vaticans und der von ihm angeführten ‚schwarzen Internationale‘.“89 Es kann hier nur angedeutet werden, daß gerade für die synthesenfreudigen „Optimisten“ unter den „exakten“ Naturwissenschaftlern der Entwicklungsgedanke, dem die Darwinsche Theorie eine ungemeine zusätzliche Schubkraft verliehen hatte, eine herausragende Rolle spielte. Der Entwicklungsgedanke erlaubte es, den Schatz der so fleißig gehorteten Tatsachen in ein großes Ordnungsschema zu bringen. Bei Haeckel, „Darwins deutscher Bulldogge“, mündete die Lehre von der Deszendenz, der neuesten und wunderbarsten Frucht der Naturerkenntnis, einerseits in seiner berühmten, aufsehenerregenden Ahnenreihe, einer Art naturwissenschaftlicher Kosmologie, die über viele Zwischenstufen von dem an der Schwelle zwischen den anorganischen Kristallen und den organischen Wesen stehenden strukturlosen „Urschleim“, dem Moner, zum Menschen führte; und andererseits in dem sogenannten „biogenetischen Grundgesetz“, demzufolge die Ontogenese eine Rekapitulation der Phylogenese darstelle und der Einzelne die gesamte Stammesgeschichte verkörpere. Für Haeckel, aber auch für viele seiner Zeitgenossen, war Wissenschaft gleichbedeutend 87 Ernst HAECKEL, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Gründzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1874, S. XII. 88 Ebenda, S. XIII. 89 Ebenda.
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mit Naturwissenschaft und Naturwissenschaft wiederum mit Entwicklungswissenschaft. Hierbei gilt es zu betonen, daß das Gesetz der Entwicklung viel weiter gefaßt wurde als in der Darwinschen Deszendenztheorie; ja daß nahezu alle Erscheinungen des natürlichen und kulturellen Lebens diesem Gesetz unterworfen wurden. Für viele Forscher scheint die Entwicklungstheorie, „das schwere Geschütz im Kampf um die Wahrheit“, zu einer Art magisch-wissenschaftlichen Allformel geraten zu sein, deren außerwissenschaftliche Strahlkraft wohl nicht zuletzt darauf beruhte, daß sie eine Möglichkeit bot, in einer Zeit ungemeinen technologischwissenschaftlichen Wandels den eigenen Lebenserfahrungen „Sinn“, wenn nicht „Wert“ zu verleihen.90 Die Kritik der wissenschaftlichen „Tagelöhner“ an der „vulgärmaterialistischen“ Philosophie bzw. an Haeckels genialer Entschlüsselung der „Welträtsel“ ließ nicht lange auf sich warten. Die Skeptiker unter den „exakten“ Naturwissenschaftlern sahen in der materialistischen Antimetaphysik eine neue Metaphysik, einen Rückfall in die verpönte Spekulation, wenngleich diese nunmehr in raffinierterer und verschleierter Form, da in das Gewand naturwissenschaftlicher Erkenntnis gehüllt, auftrat.91 Gerade in Deutschland hätten sich die glühendsten Verfechter der antispekulativen Naturwissenschaften, so Lange, keineswegs mit den positiven Tatsachen begnügt, sondern hieraus eine neue philosophische Lehre gezimmert. Dies sei auch nicht verwunderlich, so Lange nicht ohne Ironie, denn schließlich sei Deutschland das einzige Land auf der Welt, „in welchem der Apotheker kein Rezept anfertigen kann, ohne sich des Zusammenhangs seiner Tätigkeit mit dem Bestand des Universums bewußt zu sein“.92 In Wahrheit, so das Urteil Langes, hätten gerade die „Vulgärmaterialisten“ das Erbe der Naturphilosophie angetreten. Es sei, heißt es in einer nicht gezeichneten, wahrscheinlich von Adolf Bastian verfaßten, Rezension der Haeckelschen Anthropogenie (1874), ein „bahnbrechender Fortschritt“ gewesen, als Darwin die Wechselwirkung des Makrokosmos und Mikrokosmos in den geographischen Provinzen zu durchforschen begann und mit einer Fülle thatsächlicher Beweisstücke erläuterte, aber ebenso war es als unüberlegter Rückschritt zu beklagen, als man naturphilosophische Träumereien und hermetische Künsteleien in den Theorien über die Descendenz wieder zu beleben suchte.93
Zwar ziehe sich durch die gesamte organische Natur „ein einheitlich ge90 HAECKEL, Anthropogenie, S. XIV. 91 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere die Ausführungen von LANGE, Geschichte des Materialismus seit Kant, S. 120-151. 92 Ebenda, S. 120. 93 N. N. [= Adolf Bastian], [Rezension von:] Haeckel, die Anthropogenie. Leipzig 1875 [sic], in: Zeitschrift für Ethnologie 7 (1875), S. 203-208, hier S. 204.
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setzlicher Faden“, diesen jedoch als „genetisch“ und aufsteigend aufzufassen, sei eine willkürliche Hypothese. Für die moderne Naturwissenschaft sei es eine Kernfrage ihrer Selbsterhaltung bei den Erklärungen innerhalb der realiter umschriebenen Grenzen zu bleiben, und für jenen das Organische verbindenden Faden könnte bei der jetzigen Sachlage die Erklärung nur metaphysisch gesucht werden, also auf einem Gebiete, das der Naturforschung bis zur inductiven Ausbildung der Psychologie verschlossen bleiben muss.94
Die Fortschritte der „exakten“ Naturforschung, die den „anthropomorphisirte[n] Schöpfer“ aus ihrer Betrachtung verbannt hatte, gerieten in Gefahr, wenn man nunmehr die Entwickelung als qualitas occulta einführen und sie sogar mit Eigenschaften bekleiden wollte, die dem thatsächlich Beobachteten direct gegenüber stehen, indem man ihr auf die Erhaltung der Art gerichtetes Streben als umänderndes supponirte. Der gesetzliche Zusammenhang hat sich dem Auge des Naturforschers bereits seit länger [sic] enthüllt, nicht nur in der organischen, sondern in der gesammten Natur, aber die Wurzeln der Dinge, aus denen die ursächliche Bewegung quillt, liegen bis jetzt jenseits unseres Sehhorizontes, und es wäre eine kurzsichtige Verstümmelung die einigende Verkettung, die sich dort (in jenem Hades des Nichtseins) festgestellt hat, jetzt in den Kreis der real verwirklichten Existenzen überzuführen, wo der dort geschlungene Ring des Gesetzes durch Zwischenschieben unvereinbarer Hypothesen nur bedenklich zerrüttet werden würde.95
Haeckel protestiere gegen ein „Ignorabimus“, sollte aber, so der Rezensent fragend, „auf dem Arbeitsfelde der Induction wenigstens nicht die präsentische Form gelten und immer da gelten müssen, wo der Horizont thatsächlicher Beobachtung abschliesst?“96 Auch in Virchows Haltung in der Frage des Darwinismus und des Alters des Neandertalers wird sich, wie in einem späteren Kapitel noch zur Sprache kommen wird, immer wieder seine allgemeine Skepsis gegenüber großen Theorien und sein der Kleinarbeit verpflichtetes Forschungsethos spiegeln. Noch wisse man nicht genug, um diese Fragen zu entscheiden. Anstatt sich in großartigen Spekulationen und Konstruktionen zu üben, sei es sinn- und verdienstvoller, diesen zu entsagen und mehr Tatsachen zu horten. Wissenschaftlicher Mut bestehe nicht darin, eine gewagte Theorie zu vertreten, sondern darin, zu bekennen, daß man noch keine habe. Solange der „Uraffe […] noch nicht gefunden und noch kein Object naturwissenschaftlicher Untersuchung geworden ist“, stehe die Darwinsche 94 Ebenda. 95 Ebenda, S. 206. 96 Ebenda, S. 208.
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Lehre auf einem brüchigen empirischen Fundament. Bislang sei der „Uraffe“ nichts anderes als ein Postulat der speculativen Naturbetrachtung und so lange dieses Postulat nicht thatsächlich erfüllt ist, müssen wir nach den Erfahrungen der Naturforschung abwartend verfahren, da irgend eine neue Erfahrung ein ganz neues Postulat aufstellen kann.97
Im Unterschied zu Haeckel, der seinen Blick zurückwendet und das Wissen der Vergangenheit mit dem der Gegenwart vergleicht, blickt Virchow zumeist nach vorne und vergleicht das, was seine Zeitgenossen wußten, mit dem, was kommende Forschergenerationen eines Tages wissen werden. Gerade dieser Vergleich mit dem zu erwartenden Wissensgewinn scheint bei Virchow von einer gewissen Resignation begleitet. Will Haeckel das wissenschaftliche Gebäude fertigstellen, so arbeitet Virchow unermüdlich am Fundament und am Errichten der Hausmauern und hegt Zweifel, ob dieses Haus je ein Dach bekommen wird. So scheint sich zu seinem lautstarken „Ignoramus“ mitunter ein stilles „Ignorabimus“ zu gesellen: Niemand darf behaupten, daß die Grenzen unserer Erkenntnis sich nicht mehr erweitern, daß nicht neue Probleme der Forschung sich aufwerfen werden. Niemand wird behaupten können, daß mit dem Atom jede weitgehende Forschung über die Beschaffenheit der Materie aufhört. Allein, Probleme lösen zu wollen, bevor man an ihre korrekte Aufstellung gehen kann, das halte ich in der Tat für eine absolute Unmöglichkeit, und doch ist das die Art, wie viele Menschen das Weltganze konstruieren. Man möge sich doch nicht täuschen. Jede Aufstellung eines Weltplanes ist eine voreilige Travestie unserer Erde, unseres Seins oder unseres Denkens.98
6. Über den Wert der n a t u rw i s s e n s c h a f t l i c h e n E r k e n n t n i s Wie bereits angedeutet, verbinden sich mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften Hoffnungen und Werte, die weit über die reine Erkenntnisgewinnung hinausgehen. Diese außerwissenschaftlichen Verheißungen 97 Rudolf VIRCHOW, Eröffnungsrede [im Rahmen der zweiten allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft zu Schwerin, 22. September 1871], in: Archiv für Anthropologie 5 (1871), Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Nr. 6-10, Juni-Oktober 1871, S. 41-47, hier S. 44. 98 Rudolf VIRCHOW, Die Aufgabe der Naturwissenschaften. Rede auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Rostock am 22. September 1871, in: N. N. (Hg.), Deutscher Geist: Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten. Erster Band, Berlin: Fischer Verlag 1942, S. 577-587, hier S. 587.
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verraten bereits die zutiefst religiöse Terminologie der vermeintlich nüchternen, naturwissenschaftlichen Wahrheitspriester sowie die bekannten, aus heutiger Sicht leicht bizarr anmutenden Bemühungen, monistische Klöster, Kirchen und Sonntagspredigten ins Leben zu rufen.99 Immer wieder wird das naturwissenschaftliche, das „technisch-induktive“ Zeitalter als eine Zäsur von wahrlich weltgeschichtlicher Bedeutung gepriesen. Die Naturwissenschaft habe das „Wunder“ durch das „Gesetz“ ersetzt.100 „Wie vor dem anbrechenden Tag“, so Du Bois-Reymond, „erblichen vor ihr Geister und Gespenster“.101 Der Herrschaft „allerheiligster Lüge“ habe sie ein Ende bereitet und den „Scheiterhaufen der Hexen und Ketzer“ gelöscht. Sie habe es ermöglicht, „schwindelfrei vom luftigen Gipfel souveräner Skepsis“ herabzuschauen.102 Zudem habe sie das „Ghetto“ geöffnet und „die Fesseln des schwarzen Menschen“ gesprengt. Und doch habe sie auf ganz andere Art und Weise „die Welt erobert“, als ehedem Alexander der Große und die Römer. Sie sei das „wahre internationale Band der Völker“.103 Künftigen Generationen werde dieser Eroberungsfeldzug der Naturwissenschaften „als eben solcher Abschnitt in der Entwicklung der Menschheit erscheinen wie uns der Sieg des Monotheismus vor achtzehnhundert Jahren“.104 Eine aufklärerisch-liberale Tendenz durchzieht das pädagogische Programm der „exakten“ Naturforscher. Die naturwissenschaftliche, sich auf den gesunden Menschenverstand gründende Denkweise sei kein Privileg der oberen Schichten. Zur Wahrheitssuche sind alle Menschen befähigt. Vor den Tatsachen sind alle Menschen gleich! Vor den Gesetzen der Natur gibt es keine Ausnahme. Gerade hierin liege, so Safranski, „der immanente Demokratismus der empirischen Wissenschaften: wahr ist, was unter gegebenen (experimentell hergestellten) Bedingungen in jedermanns Erfahrung fällt“.105 Dies bedeutete eine Absage an eine „Erfahrungshierarchie“ und „Geistesaristokratie“.106 So wie alle in den Genuß des Segens der naturwissenschaftlichen Entdeckungen kämen, könnten auch alle zum Fortschritt derselben beitragen. Hierdurch wurde auf „vertrackte Weise […] im Innern der empirischen Wissenschaft eine bürgerliche Fortschrittsforderung – die Gleichheit – ein Stück weit eingelöst“.107 Gerade diese Verbindung von Naturwissenschaft und demokratischer Ideologie sollte Friedrich 99
100 101 102 103 104 105 106 107
Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Friedrich H. TENBRUCK, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft: Der Fall der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 21990, S. 143-174. DU BOIS-REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), S. 233. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. SAFRANSKI, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, S. 491. Ebenda. Ebenda.
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Nietzsche zu seinen bekannten Tiraden gegen den „Bauernaufstand des Geistes“, gegen die aus ärmlichen und niedrigen Verhältnissen stammenden, plebejischen Naturforscher veranlassen sowie zu seinem Spott über den „Aberglauben“ von der Gesetzmäßigkeit der Natur.108 Wie in der Frage nach der Möglichkeit einer Synthese, lassen sich auch in bezug auf die Frage nach dem Wert der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zwei Extrempositionen idealtypisch unterscheiden. Vertreter beider Positionen stimmen dahingehend überein, daß sie den Aufschwung der Naturwissenschaften mit einer Verbesserung der sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse verbinden. Doch während die einen – ich werde sie die „Reformer“ nennen – der Überzeugung sind, der Fortschritt der Naturwissenschaften führe nur mit einer kurzen Verzögerung zum gesellschaftlichen Fortschritt, werden die anderen, die „Revolutionäre“, argumentieren, daß zwischen dem fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand und den zurückgebliebenen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Gegenwart eine schmerzvolle Diskrepanz bestehe, und sie verkünden, daß der große Durchbruch auf dem Gebiet des Sozialen noch auf sich warten lasse. Finden sich in der Gruppe der „Reformer“ überwiegend die wissenschaftlichen „Tagelöhner“, so zählen zur Gruppe der „Revolutionäre“ überwiegend jene, die meinen, das wissenschaftliche „Welträtsel“ bereits gelöst zu haben. Um die Position der „Reformer“ bzw. die Verbindung von Naturwissenschaft und bürgerlicher Wertvorstellung zu veranschaulichen, sei auf eine Rede des Mediziners und Mitbegründers der Fortschrittspartei Rudolf Virchow aus dem Jahre 1871 verwiesen. Im Jahr der Reichsgründung erklärte Virchow auf der „Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte“, daß jeder, der sich mit der „Geschichte des Maschinenwesens“ in den letzten hundert Jahren befasse, die Hoffnung hegen werde, die durch die Maschine ersparte Arbeitszeit werde es immer breiteren Schichten ermöglichen, sich der geistigen, der „höheren und besseren Arbeit“ zu widmen.109 108 Friedrich NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Band 2. Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta, München-Wien: Carl Hanser 1980 [Nach der fünften Auflage 1966], S. S. 435-1008, hier S. 747: „‚Naturgesetz‘ ein Wort des Aberglaubens. – Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmäßigkeit in der Natur redet, so müßt ihr doch entweder annehmen, daß aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlichen Dinge ihrem Gesetze folgen – in welchem Falle ihr also die Moralität der Natur bewundert –; oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvolle Uhr, mit lebenden Wesen als Zierat daran, gemacht hat. – Die Notwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck ,Gesetzmäßigkeit‘ menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei.“ 109 Rudolf VIRCHOW, Die Aufgabe der Naturwissenschaften. Rede auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Rostock am 22. September 1871, in: N. N. (Hg.), Deutscher Geist: Ein Lesebuch aus zwei
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Die Möglichkeit des Fortschreitens einer Nation, das sehen wir unmittelbar vor uns, beruht nicht darauf, daß sie einzelne eminente Geister hervorbringt. Die Leistungen gewisser Perioden konzentrieren sich allerdings zuletzt in gewissen Namen, und man gewöhnt sich, die Vergangenheit mit diesen Namen zu bezeichnen. Aber wenn wir uns in der Geschichte der Naturwissenschaften, um auf unserem Gebiet stehenzubleiben, umsehen, so müssen wir doch sagen, die meiste Arbeit, welche in der Erinnerung der Massen an einen einzelnen Namen sich anschließt, erwächst aus der Teilnahme vieler.110
Fortschritt in der Wissenschaft wird nicht von einem Philosophenkönig dekretiert, sondern gemeinsam erarbeitet. Nachdem, so Virchow, die „äußere Einheit des Reiches“ Wirklichkeit geworden sei, gelte es, auch „die innere Einheit herzustellen“. Diese Einigung müsse jedoch ein festeres Fundament haben als bloß die Gemeinsamkeit von Sitte, politischer Überzeugung oder den Glauben an eine gemeinsame Abstammung: Wenn unsere weitere Arbeit noch eine nationale Beziehung behalten soll, wenn die Wissenschaft noch etwas leisten soll speziell für das innere Leben der Nation, so muß sie den Versuch machen, das Volk mit gemeinsamem Wissen zu durchdringen, ihm in demselben eine allgemein anerkannte Grundlage des Denkens zu geben, damit wir auch innerlich einmütig werden, und damit nicht bei vielen unserer Mitbürger schon bei dem ersten Anfange des Denkens, bei den ersten Voraussetzungen, ja in den Methoden des Denkens die größten Widersprüche mit uns und unserem Denken bestehen bleiben. Wenn der obligatorische Unterricht in einem Volke besteht, wenn jeder gezwungen wird, sich der Erziehung zu unterwerfen, welche der Staat vorschreibt, wenn man auf dem Wege der Gesetzgebung bestimmt, was jedermann zum mindesten lernen muß: dann, meine ich, ist die erste Konsequenz, daß man verlangt, es müsse jedem ein solches Maß des Wissens, eine solche Reihe positiver Kenntnisse über die Natur und die natürlichen Dinge zugänglich gemacht werden, daß so absurde Differenzen zwischen Wissenden und Nichtwissenden nicht länger fortbestehen können, wie sie gegenwärtig in den meisten Kulturnationen vorhanden sind.111
Ähnlich wie im Bereich der Wissenschaft sieht Virchow auch im Bereich der Gesellschaft einen sich zwar langsam, aber kontinuierlich vollziehenden Fortschritt. Ähnlich wie in der Wissenschaft steht er auch als bürgerlich-liberaler Politiker großen sozialen Experimenten skeptisch gegenüber und ist doch zuversichtlich, daß viele kleine Schritte zu einer Verbesserung des gesellschaftlichen Ganzen führen werden. „Selbst wenn“, meinte Friedrich Engels einmal, „V[irchow] in der Politik, resp. Ökonomie, Kenntnisse und theoretisches Interesse hätte, so ist dieser brave Bürger
Jahrhunderten. Erster Band, Berlin: Fischer Verlag 1942, S. 577-587, hier S. 579-580. 110 Ebenda, S. 580. 111 Ebenda, S. 582-583.
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doch viel zu tief engagiert“, um aus ihm vielleicht einen Kommunisten zu machen.112 Wenden wir uns nun der zweiten Position zu. Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang auf die Gruppe der „Vulgärmaterialisten“ und auf Ernst Haeckel verwiesen. Gerade sie werden überspannte Erwartungen davon hegen, was die Wissenschaft oder besser gesagt: die Naturwissenschaft zu leisten imstande sei; ja die „Vulgärmaterialisten“ ließen sich angesichts des ungemeinen Wertes, den sie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis beimessen, ebenso gut als moralische „Vulgäridealisten“ bezeichnen. „Jeder geistige Fortschritt der Menschheit“, meint Ludwig Büchner, „jede größere Annäherung an die Wahrheit ist in den Augen des Verfassers und wahrscheinlich auch in den Augen jedes Klardenkenden zugleich ein Fortschritt in materieller und moralischer Hinsicht!!“113 Hierbei scheint es wichtig zu betonen, daß die idealistischen „Vulgärmaterialisten“ ebenso wie Ernst Haeckel keineswegs die Auffassung vertreten, gegenwärtig in der besten aller Welten zu leben. Im Gegenteil: In scharfen Worten geißeln sie die gesellschaftlichen, ökonomischen und politisch-rechtlichen Mißstände ihrer Zeit. Gerade diese Sphären befinden sich noch – um mit dem englischen Naturforscher Alfred Wallace zu sprechen – in einem „Zustande der Barbarei“.114 Schuld an diesen Mißständen trage die Religion, vor allem die katholische Kirche, diese letzte Bastion des finsteren Aberglaubens des Mittelalters. Noch „durchdringt und demoralisiert“, so Max Nordau (18491923), die religiöse Lüge „unser ganzes öffentliches und privates Leben“. Der Staat sei von dieser Lüge befallen, wenn er Bittage verordnet, Priester anstellt, Kirchenfürsten in sein Oberhaus beruft, die Gemeinde lügt, wenn sie Kirchen baut, der Richter lügt, wenn er Verurtheilungen wegen Gotteslästerung und Beleidigung von Religionsgenossenschaft ausspricht; der neuzeitlich gebildete Priester lügt, wenn er sich dafür bezahlen läßt, daß er Handlungen vornimmt und Worte spricht, von denen er weiß, daß sie alberner Hokuspokus sind, der aufgeklärte Bürger lügt, wenn er für den Priester Verehrung affektirt, zum Abendmahl geht, sein Kind taufen läßt. Das Hereintragen der alten, zum Theil noch urweltlichen Kultusformen in unsere Zivilisation ist eine monströse Thatsache und die Stellung, welche der Geistliche, dieses europäische Aquivalent [sic] des amerikanischen Medizinmannes und afrikanischen Almany, unter uns einnimmt, ein so insolenter Triumph der Feig112 Brief von Friedrich Engels an Karl Marx, 17. April 1868, in: Karl MARX, Friedrich ENGELS: Der Briefwechsel. Band 4: Die Briefe aus den Jahren 1868 bis 1883 [= Fotomechanischer Nachdruck aus der alten Marx-EngelsGesamtausgabe (MEGA), herausgegeben von V. Adoratskij, Dritte Abteilung, Band 4, Berlin], München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983, S. 39. 113 Ludwig BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, S. 9. 114 Alfred Wallace zit. nach HAECKEL, Die Welträtsel, S. 17.
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heit, Heuchelei und Geistesträgheit über die Wahrheit und Gesinnungsfestigkeit, daß er allein genügen würde, um unsere heutige Kultur als eine durch und durch verlogene, unsere staatlichen und gesellschaftlichen Lebensformen als schlechterdings unhaltbare zu charakterisieren.115
Im Ringen um den Fortschritt wird Haeckel dem in den 1870er Jahren in Deutschland tobenden Kulturkampf eine geradezu weltgeschichtliche Bedeutung beimessen. Im Kulturkampf, entfacht vor allem durch die im Jahre 1864 verkündete Enzyklika von Papst Pius IX, „dieses brutalen Attentates gegen die höchsten Güter der Kulturmenschheit“ und durch die einige Jahre später verkündete päpstliche Unfehlbarkeit, sah Haeckel die Mächte des Lichts und der Finsternis aufeinanderprallen:116 In diesem Geistes-Kampfe, der jetzt die ganze Menschheit bewegt und der ein menschenwürdigeres Dasein in der Zukunft vorbereitet, stehen auf der einen Seite unter dem lichten Banner der Wissenschaft: Geistesfreiheit und Wahrheit, Vernunft und Cultur, Entwickelung und Fortschritt; auf der anderen Seite unter der schwarzen Fahne der Hierarchie: Geistesknechtschaft und Lüge, Unvernunft und Rohheit, Aberglauben und Rückschritt. Die Posaune dieses gigantischen Geisteskampfes verkündigt uns den Anbruch eines neuen Tages und das Ende eines langen Mittelalters. Denn in den Fesseln des hierarchischen Mittelalters ist die moderne Civilisation trotz aller Cultur-Fortschritte noch immer befangen; und statt der Wissenschaft und Wahrheit herrscht im socialen und bürgerlichen Leben noch immer die Glaubensschaft der Kirche.117
Immer wieder werden die hier als „Revolutionäre“ bezeichneten Autoren ihrer tiefen Überzeugung Ausdruck verleihen, daß auch die gesellschaftliche Maschine, wenn sie eines Tages vom religiösen Wahn gesäubert und richtig verstanden sein werde – und daß sie eines Tages säkularisiert und verstanden sein werde, gilt ihnen als gesichert –, repariert werden könne. Daß nämlich die „Wahrheit“ und hiermit auch das „Gute“ am Ende siegen werden, darüber bestand „für Haeckel und Konsorten“ kein Zweifel. Durch ein Verstehen des menschlichen Organismus war es bereits möglich geworden, diesen von Krankheiten zu heilen, die noch vor wenigen Jahrzehnten zu seinem sicheren Tod geführt hätten. Die Fortschritte in der Medizin hätten das Leben aller Menschen angenehmer, länger, weniger schmerzvoll und berechenbarer gemacht. Die Gesellschaft jedoch liege im Argen. Das soziale Getriebe ächze und krächze und sei noch immer von Armut, Verbrechen und Krieg gezeichnet. Gerade diese Mißstände sollten durch wissenschaftliche Erforschung ergründet und dann so rasch als möglich beseitigt werden. Im Unterschied zu manchen anderen Fortschrittsop115 Vgl. Max NORDAU, Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, Leipzig: Verlag B. Elischer Nachfolger 1909 [1883], S. 67. 116 HAECKEL, Die Welträtsel, S. 425. 117 HAECKEL, Anthropogenie, S. XIII-XIV.
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timisten sind somit die „Revolutionäre“ keineswegs Gegenwartseuphoriker, die unentwegt die sozialen Errungenschaften ihrer Zeit in Lobliedern besingen. Zwar feiern sie in überschwenglichen Worten die Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, zugleich jedoch bedauern sie zutiefst, daß diese noch nicht zur Grundlage einer Reform der Gesamtgesellschaft herangezogen worden seien. Etwas überspitzt formuliert: Bei ihnen stehen der gepriesene Aufschwung der Naturwissenschaft und die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Gesellschaft bzw. die sich hieraus speisende Sozialkritik im Mittelpunkt ihres Fortschrittsoptimismus und ihrer Wissenschaftsgläubigkeit. „Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts“, beginnt Ernst Haeckel seinen Bestseller Die Welträtsel (1899), bietet sich dem denkenden und unbefangenen Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele dar. Alle Gebildeten sind darüber einig, daß dasselbe in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, welche in seinem Anfange unlösbar erschienen. Nicht nur die überraschenden theoretischen Fortschritte in der wirklichen Naturerkenntnis, sondern auch deren erstaunlich fruchtbare praktische Verwertung in Technik, Industrie, Verkehr usw. haben unserem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschaftsbeziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, oft sogar bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Konflikte entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und sozialem Gebiete. Es erscheint daher nicht nur als das gute Recht, sondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Gewissen zur Lösung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Überzeugung nur durch mutiges Streben nach Erkenntnis und Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest darauf gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.118
Gerade diese eigentümliche Mischung aus Begeisterung über die naturwissenschaftlichen Erfolge bei gleichzeitigem Unbehagen mit den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen nährte bekanntlich auch jene naturwissenschaftlichen Sozialutopien, die uns im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert begegnen.119 118 Ebenda, S. 13. 119 Vgl. hierzu insbesondere Richard SAAGE, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 172-198. Zu einem naturwissenschaftlich inspirierten Sozialingenieur aus Altösterreich siehe Bernd WEILER, Reform der Gesellschaft oder Läuterung des Individuums: Eine vergleichende Analyse der sozialethischen Lehren von Josef Popper-Lynkeus und Leo Nikolajewitsch Tolstoi, in: newsletter Moderne. Zeitschrift des SFB Moderne, Sonderheft 3: Josef Popper-Lynkeus. Zwischen Individualethik, Ich-Verlust und Social Engineering – Anthropologi-
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Schließen wir diesen Abschnitt mit einem Hinweis auf Max Weber, der um 1900 allen Bemühungen, aus der wissenschaftlichen Erkenntnis einen Sinn und Wert für das Leben abzuleiten, eine scharfe Absage erteilen sollte. Gerade in Webers tragisch-heroischem Pathos und seiner mit Nachdruck vertretenen Auffassung, daß uns die Wissenschaft niemals werde lehren könne, welchem Dämon wir gehorchen sollten, ja, daß diese letzte und bedeutsamste Wahl der Einzelne allein und ohne „objektive“ Hilfe aus der Wissenschaft zu fällen habe, gerade in dieser so vehementen Verneinung sind noch jene großen, außerwissenschaftlichen Erwartungen spürbar, welche der naturwissenschaftlichen Erkenntnissuche als Triebfeder zugrunde gelegen waren. Und heute? Wer – außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden – glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einen solchen ‚Sinn‘ – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einen „Sinn“ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg „zu Gott“? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? Daß sie das ist, darüber wird – mag er es sich zugestehen oder nicht – in seinem letzten Innern heute niemand im Zweifel sein.120
7. Über die Rückständigkeit der Geschichtsw i s s e n s c h a f t e n u n d ve rw a n d t en D i s z i p l i n e n o d e r : W i e d i e N a t u rw i s s e n s c h a f t l e r d e n G e i s t e s - u n d S o z i a lw i s s e n s c h a f t e n z u Leibe rückten Immer wieder werden die „exakten“ Naturforscher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für eine Reform des veralteten, humanistischen Bildungskonzepts eintreten und eine stärkere Berücksichtigung ihrer Disziplinen fordern. Hierfür werden sie eine Umgestaltung des Gymnasialunterrichts und der Universitätsausbildung vorschlagen. Bis heute, so Haeckel, werden die Naturwissenschaften, die alle anderen Wissenschaften „überflügelt“ haben, als „Nebensache oder als Aschenbrödel in die Ecke gestellt“. Noch immer erachtete der Großteil der Lehrer als Hauptaufgabe jene tote Gelehrsamkeit, die aus den Klosterschulen des Mittelsche Montagefahrten eines Maschinen- und Menschentechnikers (November 2003), S. 42-59. 120 Max WEBER, Wissenschaft als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: UTB für Wissenschaft 71988, S. 582-613, hier S. 597-598.
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alters übernommen ist; im Vordergrund steht der grammatikalische Sport und die zeitraubende „gründliche Kenntnis der klassischen Sprachen sowie der äußerlichen Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste Gegenstand der praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll dem Wissen vorangehen; nicht jener wissenschaftliche Glaube, welcher uns zu einer monistischen Religion führt, sondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunstalteten Christentums bildet. Während die großartigen Erkenntnisse der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie und Entwickelungslehre auf unseren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwertung findet, wird das Gedächtnis mit einer Unmasse von philologischen und historischen Tatsachen überladen, die weder für die theoretische Bildung noch für das praktische Leben von Nutzen sind.121
Gleiches galt nach Haeckel auch für die Universitäten.122 Du BoisReymond, der noch Ende der 1860er Jahre als Rektor der Berliner Universität ein Gutachten verfaßte, in dem er sich unter Hinweis auf den „durch nichts zu ersetzenden Werth classischer Studien“ gegen die Zulassung von Realschulabgängern für das Universitätsstudium ausgesprochen hatte, revidierte schon wenige Jahre später sein Urteil grundlegend.123 Nachdem er Tausende von Studenten ausgebildet und geprüft habe, sei er zur Überzeugung gelangt, daß das Gymnasium „mit der Entwickelung des modernen Geistes nicht gehörig Schritt“ halten konnte.124 Obgleich Du Bois-Reymond, wie oben gezeigt wurde, vor den Gefahren eines exzessiv realistischen Zeitgeistes gewarnt hatte, war er doch der Ansicht, daß das Gymnasium sich nicht weiter dem Aufschwung der Naturwissenschaften verschließen könne. Im „Innersten“ rühre die Gymnasialausbildung nämlich noch „aus der Zeit der Reformation“, in der es „noch keine Naturwissenschaften gab“.125 Es sei keineswegs seine Absicht, das Gymnasium in eine naturwissenschaftliche Ausbildungsstätte umzugestalten. Er befürworte vielmehr eine Auflösung der Realschule und zugleich eine Aufnahme ihrer zentralen Inhalte in den Kanon eines reformierten humanistischen Gymnasiums. Dies bedeutete in erster Linie eine stärkere Berücksichtigung der Mathematik und auch, daß das neue Gymnasium nicht nur den „Bedürfnissen“ des „künftigen Richters, Predigers und Lehrers der classischen Sprachen“, sondern auch jenen des „Arztes, Baumeisters und Officiers“ Rechnung trage.126 Um Platz für die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer zu schaffen, müsse das Stu-
121 HAECKEL, Die Welträtsel, S. 20-21. 122 Ebenda, S. 21. 123 DU BOIS-REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), S. 240. 124 Ebenda, S. 244. 125 Ebenda, S. 245. 126 Ebenda.
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dium des Griechischen beschnitten werden. Denn das Ziel des Griechischunterrichts, nämlich Kenntniß griechischer Sage, Geschichte und Kunst, Durchdrungensein mit griechischen Idealen und Ideen, kann auch ohne die unsägliche und meist für das Leben verlorene Mühe erreicht werden, die es kostet, ein paar griechische Sätze auch nur auf das nothdürftigste zusammenstümpern zu lernen.127
Du Bois-Reymond verteidigte seine „ketzerische Meinung“, daß ein zu intensives Studium des Griechischen in der Schule der „deutschen Schreibart“ abträglich sei.128 Für die Befähigung, die Gedanken in der deutschen Muttersprache klar auszudrücken, eigne sich der Unterricht im Lateinischen, da es eine logischere, obgleich weniger künstlerische Struktur besitze als das Griechische, weitaus besser. Auch habe sich in letzter Zeit unsere Kenntnis der antiken Welt grundlegend gewandelt. War ehedem die „dürre Philologie“ die wichtigste Quelle für das Studium des Altertums, so sei es heutzutage die Archäologie.129 Ähnlich wie für den Unterricht in den Naturwissenschaften könnte auch hier „die Demonstratio ad oculos Wunder thun“ und „ließe sich durch Vorzeigen von Abbildungen den Schülern in wenig Stunden mehr echter Hellenismus einflößen“ als durch ein Einpauken grammatikalischer Formen des Aorists, Konjunktivs, Optativs und der Partikeln.130 Im Geschichtsunterricht gelte es, den oft in unersprießliche Einzelheiten der bürgerlichen Geschichte – z. B. der römischen Parteikämpfe oder der mittelalterlichen Zänkereien zwischen Kaiser und Papst – sich versteigendenden Lehrgang reichlicher, als zu geschehen pflegt, mit umfassenden Culturgemälden durchflochten zu sehen, auf denen die Gestalten wissenschaftlicher, literarischer und künstlerischer Heroen sich abhöben. Die Menge sehr nutzloser Jahreszahlen, welche man die jungen Leute auswendig lernen läßt, fällt um so peinlicher auf, wenn man sich erinnert, daß ihnen die wichtigsten Constanten der Natur, selbst ihrem Dasein nach, unbekannt sein dürfen. Gehört es wirklich mehr zur allgemeinen Bildung das Jahr eines agrarischen Gesetzes oder des Regierungsantritts eines falisch-fränkischen Kaisers auswendig zu wissen, als die Verbrennungswärme des Kohlenstoffs oder das mechanische Wärmeäquivalent.131
Er wisse, daß viele berühmte Gelehrte mit ihm in der Forderung übereinstimmten: „Kegelschnitte! Kein griechisches Scriptum mehr!“132 Die von ihm vorgeschlagene naturwissenschaftlich-mathematische Reform des Gymnasiums sei, so Du Bois-Reymond, das beste Mittel, einer Verfla127 128 129 130 131 132
Ebenda, S. 246. Ebenda. Ebenda, S. 247. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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chung der Kultur entgegen zu wirken. Denn nur dieses „verjüngte Gymnasium“, das dem „technisch-induktiven“ Zeitgeist Rechnung trage, wird dem Kampfe mit dem Realismus erst wahrhaft gewachsen sein. Anstatt seine Zöglinge mit classischen Studien bis zum Ekel zu übersättigen, sie gegen den Zauber des Hellenismus abzustumpfen, durch pedantische Formenquälerei sie gegen den Humanismus zu verstimmen, und durch die ihnen gewaltsam eingeprägte Richtung sie mit der umgebenden Welt in Widerspruch zu versetzen, wird es ihnen eine nach neueren Begriffen harmonische Durchbildung gewähren, welche, auf geschichtlicher Grundlage ruhend, auch die modernen Culturelemente im richtigen Maß in sich aufnahm. Indem das Gymnasium innerhalb gewisser Grenzen selber dem Realismus eine Stätte bereitet, waffnet es sich am besten zum Kampf wider seine Uebergriffe. Indem es ein kleines Stück von sich aufgibt, verstärkt es das Ganze und erhält so vielleicht ein hohes ihm anvertrautes Gut der Nation: wenn er überhaupt noch zu retten ist, den deutschen Idealismus.133
Der Aufschwung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte schon bald dazu, daß ihre Vertreter sich nicht nur gegen die Irrwege der Vergangenheit der eigenen Disziplin und gegen die Philosophie im Allgemeinen wandten, sondern zusehends auch Expeditionen in fremde Wissensgebiete unternahmen, die von deren Vertretern oftmals als unverschämte Eroberungsfeldzüge von halbgebildeten Brotgelehrten wahrgenommen und brüsk zurückgewiesen wurden. Die Situation der Bedrängnis, in der sich die Geisteswissenschaften in dieser Periode wiederfanden, sollte entscheidenden Einfluß auf jene methodologische Reflexion haben, die gemeinhin unter dem Schlagwort des „Historismus“ subsumiert wird. Gerade die Reaktion auf die „ressortimperialistischen“ Gelüste der Naturwissenschaften und die Auseinandersetzung mit den von den Naturforschern postulierten Gesetzmäßigkeiten liegen jenen Bemühungen der Kulturwissenschaftler zugrunde, die Eigenart ihres Gegenstandes und ihrer Methode näher zu bestimmen. Meine Aufmerksamkeit gilt jedoch im folgenden nicht diesen Reaktionen bzw. diesem methodologischen „Verteidigungskrieg“, sondern den Annexionsversuchen und Angriffen jener, die sich als Teil der naturwissenschaftlichen Phalanx verstanden. Veranschaulichen wir kurz diesen „naturwissenschaftlichen“ Einfall in das Reich der Geisteswissenschaften anhand von zwei herausragenden Naturforschern des 19. Jahrhunderts, welche eine der ureigensten Fragen der antiken Geschichte – nach Eduard Meyer „vielleicht das interessanteste und wichtigste Problem der Weltgeschichte“ –, die Frage nach den Gründen des „Untergangs“ des römischen Weltreiches, „naturwissen-
133 Ebenda, S. 248.
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schaftlich“ zu beantworten suchten.134 Der Chemiker Justus von Liebig war im Rahmen seiner Studien zum mineralischen Dünger zur Überzeugung gelangt, daß das römische Reich, wie bereits zuvor das antike Griechenland und später Spanien, eines gleichsam natürlichen Todes gestorben sei. Auf dem festen Boden nüchterner Tatsachen stehend verwies Liebig darauf, daß das römische Imperium zugrunde ging, weil sein durch Weizenanbau ausgelaugter Boden für die Landwirtschaft unbrauchbar geworden war.135 Du Bois-Reymond widersprach seinem berühmten Kollegen und führte andere – und wiederum naturwissenschaftliche – Gründe für den Zerfall des römischen Reichs ins Treffen. Nicht am Mangel an Phosphorsäure und Kali im Boden sei Rom untergegangen, sondern weil die römische Kultur „auf dem Flugsand der Aesthetik und Speculation ruhte, den die Sturmfluth der Barbaren leicht unter ihr wegwusch“. Es war, so Du BoisReymond, in erster Linie die sträfliche Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen Bildung und Forschung, die Roms Schicksal besiegeln sollte. Gerade bei Du Bois-Reymonds historischer Analyse sieht man, wie das Bewußtsein um die Bedeutung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert auch zu einer radikalen Revision des antiken Geschichtsbildes führen sollte: Man stelle sich die Legionare [sic], statt mit dem Pilum, mit Steinschloßmusketen bewaffnet vor, statt Katapulten und Ballisten das Geschütz auch nur des sechzehnten Jahrhunderts. Wären nicht von den Cimbern und Teutonen an bis zu den Vandalen die wandernden Völker mit blutigen Köpfen heimgesandt worden? Gewiß schlugen die Römer auch mit dem bloßen Pilum die Teutonen zurück, wie bei gleichwerthiger Bewaffnung höhere Kriegskunst, unterstützt durch höhere geistige und körperliche Ausbildung des einzelnen Mannes, noch immer den Sieg davontrug über undisciplinirte Haufen. Aber mit Feuergewehr statt Pilum hätten im Kampfe mit den Barbaren die Römer stets auch ohne Marius und ohne so ungeheure Anstrengung gesiegt, wie bei Aquae Sextiae. Alles Erwägen dessen, was unter Umständen geschehen wäre, ist müßig; das aber scheint doch klar; hätten nicht die Alten versäumt, die unbedingte Ueberlegenheit über rohe Kraft sich zu erwerben, welche Dienstbarmachung der Natur und stetig fortschreitende Technik verleihen, so wären beide Völkerelemente des Nibelungenliedes, nordische Recken und asiatische Steppenreiter, gleich ohnmächtig geblieben gegen das römische Reich, trotz dessen zum Himmel stinkender Fäulniß; und hätten die 134 Vgl. Karl CHRIST, Der Untergang des Römischen Reiches in antiker und moderner Sicht, in: ders. (Hg.), Der Untergang des Römischen Reiches (= Wege der Forschung 269), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 1-31, hier S. 1. Siehe auch Alexander DEMANDT, Der Fall Roms: Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München: Verlag C. H. Beck 1984. 135 Ein andermal schockierte übrigens der gleiche Chemiker die Historikerzunft mit seiner Behauptung, der Maßstab für die Zivilisation eines Volkes sei dessen Verbrauch an Seife. Siehe unten Anm. 158.
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Alten ihre Erfindungskraft genugsam angespannt, um es bis zum Buchdrucke zu bringen, so brauchten wir, trotz der Völkerwanderung, nicht den Verlust von so viel Meisterwerken der Dichtung, Beredtsamkeit und Geschichtsschreibung nun für ewig zu betrauern.136
Werfen wir einen kurzen Seitenblick auf eine der empörten Reaktionen, die diese Behauptungen von Du Bois-Reymond im Lager der Historiker hervorrief. Entschieden wandte sich Ottokar Lorenz gegen die These von Du BoisReymond, das römische Reich sei aufgrund des Mangels an naturwissenschaftlicher Erkenntnis und technologischer Verwertung der Naturkräfte zugrunde gegangen. Nicht nur sei das römische Heer noch in seinen letzten Kämpfen mit Waffen ausgestattet gewesen, die „auf der Höhe der Zeit“ standen, sondern die gesamte römische Kultur habe gerade im Bereich der Naturerkenntnis ein für die damalige Zeit erstaunliches Niveau erreicht.137 Wichtiger jedoch als die Widerlegung dieser unrichtigen Behauptungen erscheint in der Argumentation von Lorenz der Hinweis, daß der Stand der naturwissenschaftlichen Kenntnisse nicht der wichtigste, geschweige denn der einzige Faktor sei, der für ein Verständnis des historischen Geschehens ausschlaggebend ist. Völker und Nationen unterschieden sich nämlich in der Anwendung der gleichen naturwissenschaftlichen Kenntnisse grundlegend voneinander. Folglich seien auch die Auswirkungen gänzlich unterschiedliche. Mit einem Anflug von Kulturpessimismus verweist Lorenz auf folgendes Szenario, um seine Überlegungen zu veranschaulichen:
136 DU BOIS-REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), S. 224-225. 137 Ottokar LORENZ, Die „bürgerliche“ und die naturwissenschaftliche Geschichte, in: Historische Zeitschrift 39, N. F. 3 (1878), S. 458-485, hier S. 474-475: „Da könnte man nun doch an den Straßenbau denken, der bekanntlich eine Summe von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen fordert, und worin unsere heutige Technik nicht gerade überlegen sein dürfte, besonders wenn man an die Zeit vor den Eisenbahnstraßen sich erinnert. Andere Beispiele würden vielleicht noch einen bestimmteren Schluß auf die bei den Römern vorhandene Naturbeobachtung zulassen. Wasserleitungen setzen die Bekanntschaft mit den Gesetzen des Nivellements voraus. Liegt hier nicht eine ‚planmäßige Bewältigung der Natur zur Vermehrung der menschlichen Genüsse‘ vor? Und wenn wir heute von einer Wissenschaft der Metallurgie sprechen, dürfen wir da nicht fragen, ob die Römer dieselbe nicht auch besaßen? Ich weiß nicht, ob ich recht unterrichtet bin, wenn ich sage, daß alle oder die allermeisten Fundstätten von edlen Metallen innerhalb der römischen Welt den Römern schon bekannt waren. Wie kommt es, daß die heutige Naturwissenschaft hierin keine Fortschritte aufzuweisen hat? Wer aber Gold sucht und es wirklich so reichlich gefunden hat wie die Römer, dem kann doch kaum die planmäßige Naturbeobachtung abgesprochen werden, da ja doch feststeht, daß die römischen Bergwerke keineswegs an den gewöhnlichen Heerstraßen lagen, und der Zufall in dieser Beziehung schon ausgeschlossen war, daß gerade in den Ländern der römischen Welt die Auffindung des Goldes vor 2000 Jahren genau dieselben subtilen Untersuchungen erforderte wie heute.“
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Setzen wir den Fall, man verfertigt Torpedos, welche von Luftballons geworfen, feindliche Städte bis auf den Grund zu zerstören vermögen – gewiß ein Resultat der induktiven Technik –, so versteht sich von selbst, daß die kultivierten Staaten Verträge schließen werden, welche die Anwendung von dergleichen Resultaten der Naturwissenschaften verbieten. Allein der Sultan von Zanzibar läßt sich ein Dutzend bestochener Arbeiter, welche ohnehin als unzufriedene Communardos unzufrieden genug sind, von Paris kommen, rüstet den Krieg und Macaulay’s gesprengte Bogen von London Bridge sind zur Wahrheit geworden. So scherzhaft dies klingen mag, so steckt dennoch eine auch sonst in der bürgerlichen Geschichte sehr bekannte Wahrheit dahinter. Jede Entdeckung des civilisirten Menschen war, ist und wird in der Hand des Barbaren eine viel gefährlichere Waffe bilden, als in derjenigen des Erfinders; ja, eine Reihe von Thatsachen spricht bekanntlich dafür, daß sich oftmals der ungebildetere Mensch der Mittel, welche ihm der gebildetere darbot, zu keinem andern Zwecke bediente, als um den letzteren zu verderben. Giebt es in den Naturwissenschaften eine Garantie, um diese Erscheinung für die Zukunft unmöglich zu machen?138
Gerade diese Tatsache, daß die Anwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse von der Kultur abhängig sei, zeige, daß die „naturwissenschaftliche Geschichte“ nicht auf die „bürgerliche Geschichte“ verzichten könne, welche den Staat und die Staatsgeschichte studiere. Die „bürgerliche Geschichte“ lehre nämlich jene „Potenzen“ der Geschichte zu verstehen, die für „die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Zustandes“ entscheidend seien und die „nie und keinen Augenblick durch die naturwissenschaftliche Erörterung menschlicher Dinge ersetzt werden kann“.139 Gerade in der zunehmenden Geringschätzung des Politischen liege die Gefahr des „technisch-induktiven Zeitalters“. Berauscht von den Erfolgen der Naturwissenschaften sei man blind gegenüber ihrem zerstörerischen Potential geworden. Nach diesem kurzen Blick auf den „Einfall“ naturwissenschaftlicher Erklärungen in die römische Geschichte möchte ich im folgenden die Kritik der Naturforscher an der Arbeitsweise ihrer Kollegen aus den Geisteswissenschaften etwas näher beleuchten. Hierbei sollen zwei große Stränge naturwissenschaftlicher Kritik an den Geisteswissenschaften idealtypisch unterschieden werden. Die erste Kritiklinie richtet sich gegen das vermeintlich empirische Defizit der Geisteswissenschaften, die zweite gegen deren bisherige Unfähigkeit, aus den gesammelten Tatsachen allgemeine Schlußfolgerungen zu ziehen, Gesetzmäßigkeiten zu erstellen und Synthesen zu bilden. Beiden kritischen Perspektiven ist die Vorstellung gemein, daß die Geisteswissenschaften in ihrer Entwicklung hinter den Naturwissenschaften zurückgeblieben seien, einen großen Aufholbedarf hätten und sich an den Naturwissenschaften orientieren sollten.
138 Ebenda, S. 480. 139 Ebenda, S. 480-481.
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Wenden wir uns zuerst der empirischen Kritiklinie zu. Innerhalb dieser wird oftmals eingeräumt, daß die Geisteswissenschaften zwar einen Wust an Tatsachen gesammelt hätten, diese Tatsachen allerdings eher als Stoff für eine Unterhaltungslektüre als für eine wissenschaftliche Behandlung geeignet seien. Von nichts anderem, so Du Bois-Reymond, berichte die herkömmliche Universalhistorie als von Steigen und Fallen der Könige und Reiche, von Verträgen und Erbstreitigkeiten, von Kriegen und Eroberungen, von Schlachten und Belagerungen, von Aufständen und Parteikämpfen, von Städteverwüstungen und Völkerhetzen, von Morden und Hinrichtungen, von Palastverschwörungen und Priesterränken; welche uns nichts zeigt als im Kampfe Aller gegen Alle das trübe Durcheinanderwogen von Ehrgeiz, Habsucht und Sinnlichkeit, von Gewalt, Verrath und Rache, von Trug, Aberglauben und Heuchelei.140
Eine Weltgeschichte, die „den Bedürfnissen der Jetztzeit“ entspreche, so G. Friedrich Kolb, verlange eine andere Behandlung des Stoffes als jene der traditionellen Historie, die „das Aufzählen von Herrschernamen, von blutigen Eroberungszügen und ähnlichen Staatsactionen“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gerückt und zugleich die „Wohlfahrt und überhaupt das Leben der Völker, die Freiheits- und Culturfragen“ vernachlässigt hatte.141 Immer mehr breche sich die Erkenntnis Bahn, daß derjenige mehr für eine Durchdringung des geschichtlichen Stoffes leiste, der sich die Worte des deutschen Dichters Friedrich Rückert zu Herzen nehme: Nicht der aus dem Schutt der Zeiten Wühle mehr Erbärmlichkeiten Sondern der den Plunder sichte, Und zum Bau die Steine schichte!
Jene, die das empirische Defizit der Geisteswissenschaften beklagen, werden betonen, daß sich der Abstand zwischen diesen und den Naturwissenschaften in dem Maße verringere, in dem sich auch die Geisteswissenschaften dem mühseligen Sammeln und Erforschen von relevanten Tatsachen verschrieben.142 Dieser Prozeß sei, so Helmholtz, bereits im Gange und der Gegensatz zwischen den beiden Wissensgebieten „gemildert wor-
140 DU BOIS-REYMOND, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), S. 230-231. 141 G. Friedrich KOLB, Culturgeschichte der Menschheit, mit besonderer Berücksichtigung von Regierungsform, Politik, Religion, Freiheits- und Wohlstandsentwicklung. Eine allgemeine Weltgeschichte nach den Bedürfnissen der Jetztzeit. Erster Band, Leipzig: Verlag Arthur Felix 31885, S. XIII. 142 HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862), S. 86.
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den“.143 „Mit dem riesigsten Fleiße“ habe sich die vergleichende Sprachwissenschaft an die Arbeit gemacht, „alle Sprachen aller menschlichen Stämme kennen zu lernen, um an ihnen die Gesetze der Sprachbildung selbst zu ermitteln“.144 Auch die klassische Philologie richte ihre Aufmerksamkeit nicht mehr ausschließlich auf die Schriften, die aus ästhetischer oder philosophischer Sicht von Bedeutung waren, sondern sei zur Überzeugung gelangt, daß jedes verlorene Bruchstück eines alten Schriftstellers, jede Notiz eines pedantischen Grammatikers oder eines byzantinischen Hofpoeten, jeder zerbrochene Grabstein eines römischen Beamten, der sich in einem unbekannten Winkel Ungarns, Spaniens oder Afrikas vorfindet, eine Nachricht oder ein Beweisstück enthalten kann, welches an seiner Stelle wichtig sein möchte.145
Gegenwärtig seien Wissenschaftler „mit der Ausführung eines riesigen Unternehmens beschäftigt, alle Reste des klassischen Altertums, welcher Art sie auch sein mögen, zu sammeln und zu katalogisieren, damit sie zum Gebrauch bereit seien“.146 Ähnliches gelte für das historische Quellenstudium. Archive werden durchforstet, Briefe und Lebenserinnerungen gesammelt, in denen man nach „zerstreuten Notizen“ suche, Hieroglyphen und Keilschriften fleißig entziffert. Gegen diese von den Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts oftmals vertretene Ansicht, daß sich die Geisteswissenschaften erst verspätet der mühevollen Kleinarbeit zugewendet hätten, ließe sich unschwer argumentieren, daß zumindest seit der Romantik die Sammlung von Volksliedern, Sagen, Märchen, Mythen und von Rechtsaltertümern emsig betrieben wurde und daß Historiker, Juristen und Sprachwissenschaftler sich schon längst auf jenen steinigen Weg der Empirie begeben hatten, den ihnen die Naturwissenschaftler anempfohlen hatten. Im Unterschied zur „exakten“ Naturforschung stand die empirische Stoßrichtung der Geisteswissenschaft jedoch seit der Romantik weniger im Zeichen eines nomothetischen als vielmehr im Zeichen eines idiographischen Erkenntnisinteresses. Die Tatsachen wurden in erster Linie gesammelt, um das in der Geschichte waltende Individualitätsprinzip und nicht um allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln. „Exakte“ Naturwissenschaftler und die in der Tradition der Romantik stehenden Geisteswissenschaftler verfolgten also mit gleichen Mitteln völlig unterschiedliche Ziele. Für meinen Zusammenhang ist jedoch – wie bereits mehrfach betont – nicht die Frage wichtig, ob das Bild, das sich die Naturwissenschaftler von den Geisteswissenschaftlern machten, „objektiv“ richtig war oder nicht, sondern wie dieses Bild ausgesehen hat. Und in diesem naturwissenschaftlichen Bild spielt die Vorstellung von 143 144 145 146
Ebenda. Ebenda, S. 80. Ebenda. Ebenda.
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der empirischen Rückständigkeit der Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle. Gerade diese Vorstellung von der Rückständigkeit der Geisteswissenschaften bestärkte nämlich viele Naturwissenschaften in dem Glauben, daß ihr „empirisches Erfolgsrezept“ auch auf jene anwendbar sei. Der Siegeszug der induktiven Methode in den Naturwissenschaften habe, so Du BoisReymond unter Verweis auf Thomas H. Buckle und Max Müller, Historiker und Sprachwissenschaftler „begierig“ gemacht, sich derselben Vorteile zu bemeistern, da sich denn ergab, daß zwischen ihrer Tätigkeit und der des Naturforschers kein so großer Unterschied ist; natürlich nicht, denn Induktion ist in der Praxis nur scharfsinnig angewendeter gesunder Menschenverstand.147
Im Vergleich mit den Geisteswissenschaften, so Helmholtz, seien die Naturwissenschaften, insbesondere in ihren mathematischen Teilen, dem Ziel des Aufsuchens „ausnahmslos“ geltender Gesetzmäßigkeiten bereits näher gekommen und hätten zudem „die größere Vollendung in der wissenschaftlichen Form“ erreicht. Hierbei gelte es jedoch zu bedenken, daß die Geisteswissenschaften einen reicheren, dem Interesse des Menschen und seinem Gefühle näherliegenden Stoff zu behandeln haben, nämlich den menschlichen Geist selbst in seinen verschiedenen Trieben und Tätigkeiten. Sie haben die höhere und schwerere Aufgabe, aber es ist klar, daß ihnen das Beispiel derjenigen Zweige des Wissens nicht verlorengehen darf, welche, des leichter zu bezwingenden Stoffes wegen, in formaler Hinsicht weiter vorwärts geschritten sind. Sie können von ihnen in der Methode lernen und von dem Reichtum ihrer Ergebnisse sich Ermutigung holen.148
Nach der Skizze der ersten naturwissenschaftlichen Kritiklinie, die vor allem das empirische Defizit der Geisteswissenschaften beklagte, möchte ich mich im folgenden dem zweiten Strang der Kritik zuwenden, der seine Aufmerksamkeit auf den Mangel an Synthesen und Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Geisteswissenschaften richtete. Auf dieser zweiten Argumentationsebene spielte die insbesondere mit dem Namen von Adolphe Quetelet (1796-1874) verbundene Moralstatistik, nämlich die zahlenmäßige Erfassung sozialer Massenerscheinung, eine zentrale Rolle. Schon in den 147 Emil DU BOIS-REYMOND, Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart. In der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtsfeier des Kaisers und Königs am 23. März 1882 gehaltene Rede, in: ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft. Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von Siegfried Wollgast, Berlin: Akademie-Verlag 1974, S. 189-203, hier S. 195. 148 HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862), S. 100-101.
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ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts hatte die Statistik, die wesentlich von der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie beeinflußt war, die Regelmäßigkeit individueller Handlungen nachgewiesen. „Man sagte: wie immer es auch mit den Impulsen der einzelnen und ihrer Handlungen bestellt sei, im großen Ganzen betrachtet zeigen die scheinbar willkürlichsten Handlungen einer größeren Gesellschaftsgruppe so konstante Regelmäßigkeiten, wie sie nur den Naturvorgängen eigen ist; die Statistik muß nur auf möglichst weite und mannigfache Gebiete ausgedehnt werden, dann wird sie uns in den Stand setzen, überall Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und die Handlungen der verschiedenen Gesellschaftsgruppen im voraus zu bestimmen.“149
Untersuchungen hatten gezeigt, daß in den einzelnen Staaten die Rate der Todesfälle, Geburten, auch der unehelichen Geburten, der Unglücksfälle ebenso konstant waren wie die Zahl der im Jahr verübten Verbrechen. Sowohl die Rate „trivialer“ Handlungen, wie die jährliche Menge an konsumierten Lebensmitteln, als auch die abgründigste Handlung, der Selbstmord, wiesen nur geringe Schwankungen auf. Die Moralstatistiker gehörten zum Stoßtrupp jener, welche die Willensfreiheit und die sittliche Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Tun in Abrede stellten, denn nach Quetelet unterliege „das Budget der Schafotte und Gefängnisse“ einer naturgesetzlichen Notwendigkeit.150 Nicht die Launen einiger Monarchen, die zu verstehen Historiker sich bemühten, sondern diese durch die Statistik ermittelten, sich mit eherner Notwendigkeit vollziehenden Gesetzmäßigkeiten, die periodische Wiederkehr sozialer Erscheinungen, machten den wahren Inhalt der Geschichte aus. Nicht der mächtige König, nicht der die Massen begeisternde Freiheitskämpfer, nicht der schillernde Feldherr, sondern der farblose, von der herkömmlichen Historie vergessene Durchschnittsmensch und die gesichtslose Masse wurde von den spöttisch als „Tabellenknechten“ bezeichneten Statistikern in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. „Gewissermaßen geblendet“ von diesen bemerkenswerten Ergebnissen, so der Historiker Ernst Bernheim kritisch, „ließ man sich zu phantastischen Hoffnungen hinreißen; man glaubte in dem ,Gesetz der großen Zahl‘, in den Resultaten der vergleichenden Demographie oder Demologie das Universalmittel zur Lösung aller socialen Erkenntnisprobleme gefunden zu haben“.151
149 Ernst BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig: Duncker & Humblot 21894, S. 88. 150 Adolphe Quetelet zit. nach Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Zwölfter Band. Leipzig-Wien: Bibliographisches Institut 51897, S. 519-521 [Eintrag: Moralstatistik], hier S. 520. 151 BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode, S. 88.
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Wenden wir uns nun einigen Autoren zu, die es sich – wie auch die im nächsten Kapitel zur Sprache kommenden Anthropologen – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt hatten, die Gesetze der Geschichte und Gesellschaft zu finden.152 Beginnen wir mit Henry Th. Buckle (1822-1862), den Ernst Bernheim einmal als den „breitspurigste[n] Vertreter“ dieser Richtung bezeichnete.153 Zwar sei von Historikern und Völkerkundlern eine kaum überschaubare Masse von Tatsachen eifrig gesammelt worden, doch wenn, so Buckle, es um die Frage gehe, wie dieser Stoff benutzt worden [ist], so müssen wir ein ganz andres Gemälde entwerfen. Es ist ein eigenthümlich unglücklicher Umstand, dass die Geschichte des Menschengeschlechts wohl in ihren gesonderten Theilen mit bedeutendem Talent untersucht worden, dass aber kaum irgendwer es unternommen hat, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen und ausfindig zu machen, wie sie miteinander verbunden sind. In allen übrigen grossen Gebieten der Forschung wird die Nothwendigkeit der Verallgemeinerung von Jedermann zugegeben; und wir begegnen edlen Anstrengungen, auf besondre Thatsachen gestützt sich dazu zu erheben, die Gesetze zu entdecken, unter deren Herrschaft diese Thatsachen stehn. Die Historiker hingegen sind so weit davon entfernt, das Verfahren zu dem ihrigen zu machen, das unter ihnen der sonderbare Gedanke vorherrscht, ihr Geschäft sei lediglich, Begebenheiten zu erzählen und diese allenfalls mit passenden sittlichen und politischen Betrachtungen zu beleben. Nach diesem Plan ist jeder Schriftsteller zum Geschichtsschreiber befähigt. Sei er auch aus Denkfaulheit oder natürlicher Beschränktheit unfähig, die höchsten Zweige des Wissens zu behandeln; er braucht nur einige Jahre auf das Lesen einer gewissen Anzahl Bücher zu verwenden, und er mag die Geschichte eines großen Volks schreiben und in seinem Fach Ansehn erlangen.154
In der Tat befinde sich das Studium der Geschichte „für alle höhern Richtungen des menschlichen Denkens […] noch in einer beklagenswerthen Unvollkommenheit“ und biete „eine so verworrene und anarchische Erscheinung […], wie es sich nur bei einem Gegenstande erwarten lässt, dessen Gesetz unbekannt, ja dessen Grund noch nicht gelegt ist“.155 Sein Ziel sei es, so Buckle, für die Geschichte „das, oder doch etwas Aehnliches, zu leisten, was andern Forschern in den Naturwissenschaften gelungen ist“. Die Naturforscher hätten gezeigt, daß die „scheinbar unregelmässigsten und widersinnigsten Vorgänge“ unveränderlichen und allgemeinen Gesetzen gehorchten. Dieser Nachweis sei erbracht worden, „weil Männer von Talent und vor Allem von geduldigem und unermüdlichem Geist die Phä152 Vgl. im folgenden insbesondere die Ausführungen von BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode, S. 82-99 und S. 492-522. 153 Ebenda, S. 82. 154 Henry Th. BUCKLE, Geschichte der Civilisation in England. Erster Band. I. Abtheilung. Deutsch von Arnold Ruge, Leipzig-Heidelberg: C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung 31868, S. 3. 155 Ebenda, S. 5.
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nomene der Natur studirt haben mit der Absicht, ihr Gesetz zu entdecken“. Und hoffnungsvoll fügt Buckle hinzu, daß, wenn wir die Geschichte „einer ähnlichen Behandlung unterwerfen, […] wir sicher alle Aussicht auf einen ähnlichen Erfolg“ haben.156 Daß die „Entstehung einer Wissenschaft der Geschichte“ bislang „verzögert“ worden sei, hänge einerseits damit zusammen, daß die Historiker den Naturwissenschaftlern „an Geist nachstehen“, und andererseits damit, daß das von ihnen untersuchte Gebiet verwickelter sei.157 In seinem Versuch, die Geschichte als eine Wissenschaft zu begründen, sollte Buckle, der entscheidende Anregungen dem Studium der Schriften von Quetelet verdankte, den Einfluß des Klimas, der Nahrung, des Bodens und der „Naturerscheinungen im Ganzen“ auf den Entwicklungsgang der Menschheit nachweisen und in Form von Gesetzen zusammenfassen. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Leben der Menschen, so eines der Buckleschen Gesetze, beruhe das Fortschreiten auf der Kenntnis und der Verbreitung von Naturgesetzen. „Wenn das die Gesetze sind, in denen das Studium der Geschichte der Menschheit seine wissenschaftliche Höhe erreicht haben soll“, meinte der zur Verteidigung der traditionellen Geschichte ausrückende Droysen spöttisch, so ist der glückliche Finder in der Naivität, mit der er sich über ihre außerordentliche Seichtigkeit auch nur einen Augenblick hat täuschen können, wahrhaft beneidenswerth. Gesetze von dieser Sorte könnte man täglich zu Dutzenden und zwar auf demselben Wege der Verallgemeinerungen finden, Gesetze, von denen keins an Tiefsinn und Fruchtbarkeit hinter dem bekannten Satz zurückbleiben sollte: daß der Maaßstab für die Civilisation eines Volkes dessen Verbrauch an Seife sei.158
Werfen wir noch kurze Blicke auf einige weitere Vertreter, die sich durch die mahnenden Worte eines Droysen nicht entmutigen ließen und ebenfalls versuchten, mit dem langen Arm des Naturgesetzes auch die sich widerborstig gebärdenden Geisteswissenschaftler zur Einsicht zu bringen. Zu denken wäre hier unter anderen an den Ökonomen und unermüdlichen, zuweilen auch etwas ränkesüchtigen, politischen Agitator aus Trier, der im Dezember 1860 seinem treuen Wegbegleiter Frederick berichtete, er habe während der letzten Wochen „allerlei gelesen. U. a. Darwins Buch über ‚Natural Selection‘. Obgleich grob englisch entwickelt, ist dieses das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält.“159 156 Ebenda. 157 Ebenda, S. 6. 158 Johann G. DROYSEN, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft [Rezension von Buckles Geschichte der Civilisation in England], in: Historische Zeitschrift 9 (1863), S. 1-22. 159 Brief von Karl Marx an Friedrich Engels, 19. Dezember 1860, in: Karl MARX, Friedrich ENGELS: Der Briefwechsel. Band 2: Die Briefe aus den Jahren 1854 bis 1860 [= Fotomechanischer Nachdruck aus der alten MarxEngels-Gesamtausgabe (MEGA), herausgegeben von V. Adoratskij, Dritte
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Nicht der Zufall, nicht der freie Wille, sondern das eherne Naturgesetz des Klassenkampfes sei für den Gang der Geschichte entscheidend. Besitz oder Nicht-Besitz der Produktionsmittel, das sei die Frage. Ebenfalls nachhaltig von Darwin beeinflußt war jener Zweig naturwissenschaftlicher Kulturgeschichtsschreibung, der im Kampf der Völker, Rassen und Nationen den entscheidenden Faktor in der Geschichte der Menschheit zu erkennen vermeinte. Exemplarisch für diesen Strang sei auf die „sozialdarwinistische“ Garde hingewiesen, die durch Autoren wie Walter Bagehot, William G. Sumner, Michelangelo Vaccaro, Giuseppe Vadala-Papale oder Friedrich von Hellwald vertreten wird.160 In seiner Besprechung eines Vortrages des Anatomen und Anthropologen Alexander Ecker meinte Hellwald, daß die so heftig angefeindete Darwinsche Lehre „den bislang verbreiteten Weltanschauungen einen argen, ja fast tödlichen Stoß“ versetzte.161 Gerade der Widerstand der Philosophen scheint verständlich, da diese von Anbeginn ahnen [mußten] was da kommen würde und erst in der allerjüngsten Zeit, wenn auch vorerst nur schüchtern, versucht wird, nämlich die Gesetze welche der britische Forscher für die organische Welt aufgestellt hat, auch auf ihren höchsten Repräsentanten, den Menschen, anzuwenden, und zu untersuchen wie sich denn die Entwicklungsgeschichte der Menschheit der neuen Lehre gegenüber verhalte. Eine vorurtheilsfreie, nüchterne Prüfung der Geschichte zeigt nun eine solche merkwürdige Uebereinstimmung mit den von Darwin aufgefundenen Naturgesetzen, daß seine Lehre von dieser Seite eine vielen vielleicht unwillkommene, jedoch keineswegs zu verachtende Unterstützung erhält.162 Abteilung, Band 4, Berlin], München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983, S. 533. 160 Vgl. etwa Walter BAGEHOT, Der Ursprung der Nationen: Betrachtungen über den Einfluß der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwesen, Leipzig: F. A. Brockhaus 1874; William G. SUMNER, War and other Essays. Edited with an introduction by Albert G. Keller, New Haven et al.: Yale University Press 1919; Michelangelo VACCARO, La Lotta per l’esistenza e i suoi effeti nell’umanità, Torino: Fratelli Bocca 31902; Giuseppe VADALA-PAPALE, Darwinismo naturale e darwinismo sociale. Schizzi di scienza sociale, Torino: Ermanno Loescher 1882; Friedrich von HELLWALD, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung. 2 Bände, Augsburg: Lampart & Comp. 21876/77. Aus der Fülle der Sekundärliteratur zum Sozialdarwinismus sei auf zwei grundlegende Werke verwiesen: Richard HOFSTADTER, Social Darwinism in American Thought, Boston: Beacon Press 1992 [1944]; Robert C. BANNISTER, Social Darwinism: Science and Myth in Anglo-American Social Thought, Philadelphia: Temple University Press o. J. [Vorwort aus dem Jahre 1988, 1. Aufl. 1979]. Es sei hier nur bemerkt, daß zwischen den unter dem ideengeschichtlichen Etikett „Sozialdarwinismus“ zusammengefaßten Autoren – sieht man von der allgemeinen Berufung auf Naturgesetze des Sozialen ab – oftmals kaum Gemeinsamkeiten bestehen. 161 F. v. H. [= Friedrich von Hellwald], Der Kampf ums Dasein im Menschenund Völkerleben, in: Das Ausland 55 (1872), S. 103-106, hier S. 103. 162 Ebenda.
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Auch auf dem Gebiet des Menschen- und Völkerlebens herrsche nämlich Ressourcenknappheit. Und der Mangel führe auch hier notwendigerweise zu jenem unerbittlichen „Kampf ums Dasein“, den Darwin für die Tierwelt nachgewiesen hatte. Ein heute wohl etwas bizarr anmutendes düsteres Pathos der „Männlichkeit“ durchzieht die Darstellungen dieser im Geiste Darwins werkenden Geschichtsrecken. Wortgewaltig und mit dem Geschütz nackter Tatsachen rücken sie der traditionellen Geschichtsschreibung zu Leibe und suchen die Natur in der Geschichte aufzuzeigen: Und wie im Thierreich Thiere derselben Art oder verwandter Arten sich auf das heftigste befehden, einfach weil sie eben auf dieselben Existenzmittel angewiesen sind, so sehen wir auch in der menschlichen Gesellschaft die ärgste Befehdung zwischen denjenigen Menschen eintreten welche auf dieselben Existenzmittel – dieß im weitesten Sinne genommen – angewiesen sind. So sehen wir z. B. im bürgerlichen Leben Schneider und Schneider, Schuster und Schuster im Kampfe ums Dasein, nicht aber Schneider und Schuster. Und mit welchen Mitteln wird im menschlichen Leben dieser Kampf gekämpft? Nur auf der allerniedrigsten Stufe der menschlichen Cultur kommt es vor daß der Mensch seinen Feind zugleich als Nahrungsmittel benützt, ihn auffrißt; und daß man seinen Mitbewerber oder Widersacher einfach umbringe – das Faustrecht zwischen Individuen – geschieht zwar, ist aber durch die von der gebildeten Menschheit zu ihrem eigenen Schutz sich selbst gegebene und eingerichtete Moral und staatliche Ordnung längst zum Verbrechen gestempelt worden. Ist es aber unerlaubt seinem Widersacher den Tod zu geben, so ist es doch keineswegs verboten ihm das Leben so sauer als möglich zu machen, und die tausend und tausend Mittel, die angewendet werden um zu diesem Ziele zu gelangen, bilden in der Gesammtheit ihrer Anwendung das was man mit einem sehr wohllautenden Worte die ,Concurrenz‘ nennt. Was auf einer niederen Culturstufe die Gewalt, das thut auf einer höheren die Concurrenz. Letztere nimmt mit zunehmender Gesittung allmählich die Stelle der ersteren ein, und von dem Cannibalen, der seinen Concurrenten mit der Keule erschlägt und zum Mahle verzehrt bis zu jenem Marchand Tailleur, der mit den Waffen ellenlanger Buchstaben seiner Reclame das gegenüber wohnende Schneiderlein um sein kärglich Brod bringt, zieht sich eine continuirliche Kette von Uebergängen, wobei wir stets und allerwärts den Satz zur Geltung gelangen sehen, alle Mittel, die nicht verboten sind, sind erlaubt. Das fälschlich den Jesuiten unterschobene Princip der Zweck heiligt die Mittel ist sehr wahr und dürfte passender lauten, der Erfolg heiligt nachträglich die Mittel, und zwar nicht nur im Auge des Siegers. Das treffendste Mittel ist das beste. Und wenn da Jemand meint, es sei dieß ein furchtbares Wort, welches alle Gewalten der Hölle entfesselt, nichts sei mehr heilig, nichts steht fest, sobald es Geltung bekommt, der möge bedenken daß all das Angedrohte nicht erst auf dieses Wort hin entsteht, sondern daß es schon Factum ist seit jeher. Wer ist dabei im Rechte? Alles kämpft miteinander und jedes hat Recht. Alles kämpft – der Arme, der den Communismus verlangt, der Reiche, der ihn verdammt, der strebende Kopf, der verrottete Aristokrat, der Geistliche, der Soldat, der Republicaner, der behäbige Constitutionelle, der Monarch, sie alle sind im Rechte – es handelt sich um ihr Dasein. Es handelt sich darum wer siegt. Wer es auch sei, er
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muß über die Leichen der Besiegten hinwegschreiten, das ist das Naturgesetz. Wer davor zaudernd zurückschreckt, bringt sich selbst um die Chancen der Existenz. Ein sogenannter versöhnender Abschluß ist bei solchem Grundgesetz freilich unmöglich. Der Kampf ist unendlich.163
So furchtbar dieser Kampf auch auf den ersten Blick scheinen mag und so traurige Folgen er manchmal auch tatsächlich hervorruft, so wird er, insbesondere in der Frühphase des Sozialdarwinismus, nicht nur als notwendig, sondern oftmals auch als wünschenswert betrachtet. In ganz eigentümlicher Weise verbindet sich der düstere Sozialdarwinismus mit dem Fortschrittsoptimismus. „Was wäre denn das Leben ohne Kampf?“ Der Kampf sei der „Motor der Weiterentwicklung, ohne ihn stockt und stirbt alles; er treibt, belebt, zeugt, bewegt, und eben deßhalb ist er unsere Aufgabe“.164 Schon einige Jahre vor dem Erscheinen des Darwinschen Buches hatte Herbert Spencer, dem Darwin bekanntlich einige seiner bekanntesten Formulierungen entlehnen sollte und der oftmals auch den „Sozialdarwinisten“ zugerechnet wird, mit der Ausarbeitung seiner Sozialwissenschaft begonnen. Das wichtigste Ziel sei das Auffinden von Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens. Im Widerspruch hierzu stehe jene Auffassung, welche in den Taten „großer Männer“ den bestimmenden Faktor für das soziale Geschehen sehe. Diese „Grosse-Männer-Theorie“ erfreue sich nicht nur bei „Wilden“, die sich, versammelt um das abendliche Lagerfeuer, ihre Jagdabenteuer erzählen, großer Beliebtheit, sondern sie sei auch die in „zivilisierten“ Gesellschaften noch dominierende Geschichtsauffassung. Die „Grosse-Männer-Theorie“ stütze sich erstens auf „jene allgemeine Vorliebe für Persönlichkeiten, welche in dem Urmenschen schon thätig, noch heutzutage herrscht […]“.165 Zweitens befriedige diese aus Urzeiten stammende Geschichtsauffassung das Bedürfnis sowohl nach „Belehrung als Unterhaltung“.166 Drittens sei diese Lehre „so herrlich einfach“.167 Bei näherer Betrachtung erweise sich jedoch die „Grosse-Männer-Theorie“ als unzulänglich. Sobald man nämlich nach dem „Ursprung des grossen Mannes“ frage und eine übernatürliche Erklärung ausschließe, müsse er mit allen andern Erscheinungen in der Gesellschaft, welche ihm das Dasein gegeben, als ein Product ihrer Antecedentien eingereiht werden. Zusammen mit der ganzen Generation, von der er nur einen geringen Theil bildet, zusammen mit ihren Einrichtungen, ihrer Sprache, Kunde, Sitten und mannichfachen Hülfsmit-
163 Ebenda, S. 104-105. 164 Ebenda, S. 105. 165 Herbert SPENCER, Einleitung in das Studium der Sociologie. Erster Teil. Herausgegeben von Heinrich von Marquardsen, Leipzig: F. A. Brockhaus 2 1896, S. 39. 166 Ebenda, S. 40 167 Ebenda.
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teln ist er die Resultante eines ungeheuren Aggregats von Kräften, welche seit Jahrtausenden zusammengewirkt haben.168
Für die „primitiven“ Gesellschaftsverhältnisse, so Spencer, mag die „Grosse-Männer-Theorie“ eine gewisse Berechtigung besessen haben. Aber hätte Shakespeare seine Stücke schreiben können, ohne die vielfachen Traditionen des civilisirten Lebens, ohne die mannichfaltigen Erfahrungen, welche, ihm von der Vergangenheit überkommen, seinen Gedanken Reichthum verliehen, und ohne die Sprache, welche Hunderte von Generationen durch den Gebrauch entwickelt und bereichert hatten? Man denke sich einen Watt mit seiner ganzen Erfindungskraft unter einem Stamm lebend, welcher das Eisen nicht kannte, oder unter einem Stamme, welcher nur so viel Eisen zu erlangen vermöchte, als ein mit dem Handblasebalg geblasenes Feuer schmelzen kann, oder man denke sich ihn unter uns selbst geboren, ehe Drehbänke existirten, welche Aussicht auf die Dampfmaschine würde es gegeben haben? Man stelle sich einen Laplace, nicht unterstützt von jenem langsam entwickelten System der Mathematik vor, dessen Anfang wir bis auf die Aegypter zurückverfolgen, wie weit würde er mit der „Mécanique céleste“ gekommen sein?169
Die Vertreter der „Grossen-Männer-Theorie“ bestreiten die Möglichkeit, jene Gesetze zu finden, die den Gang des Menschengeschlechts bestimmen. Gerade in diesem Zusammenhang wird Spencer immer wieder auf biologisch bedingte, durch die Naturwissenschaft festgestellte Grundbedürfnisse des Individuums rekurrieren, um die Unhaltbarkeit dieser Auffassung zu beweisen. Unterliege nicht der Mensch den Gesetzen der Natur? Brauche er nicht Nahrung, um zu leben? Empfinde er nicht Schmerzen? Im Bereich dieser menschlichen Grundeigenschaften seien die meisten ja bereit, die Herrschaft der Natur über den Menschen einzugestehen. Und warum, so Spencer, sollte dann nicht auch die Gesellschaft, jenes „Aggregat“, das auf dem Zusammenschluß von Menschen beruht, Gesetzen unterliegen? Ist nicht das „Aggregat“ durch die Eigenschaften seiner Einheiten bestimmt? „Man braucht nur zu fragen, was geschehen würde, wenn die Menschen sich einander mieden, wie verschiedene niedere Geschöpfe es thun, um zu sehen, dass schon die Möglichkeit einer Gesellschaft von einer gewissen Gemüthseigenschaft im Individuum abhängt.“170 „Cardinalzüge in der Gesellschaft“ seien eben, so Spencer, „durch Cardinalzüge in den Menschen bestimmt“.171 Von diesem allgemeinen Grundsatz also ausgehend, dass die Eigenschaften der Einheiten die Eigenschaften des Aggregats bestimmen, schliessen wir, dass es 168 169 170 171
Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 64. Ebenda.
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eine Socialwissenschaft geben müsse, welche das Verhältnis zwischen beiden mit so viel Bestimmtheit, als die Natur den betreffenden Erscheinungen gestattet, darstellt. Mit Typen von Menschen beginnend, welche nur kleine und zusammenhangslose sociale Aggregate bilden, muss eine solche Wissenschaft zeigen, inwiefern die individuellen Geistes- und Gemüthseigenschaften eine weitere Aggregation negiren. Sie muss erklären, wie geringe Modificationen der individuellen Natur, die unter modificirten Lebensbedingungen entspringen, etwas grössere Aggregate ermöglichen. Sie muss in Aggregaten von gewisser Grösse die Genesis der Gesellschaft, als Lebensordnung im Leben, welche die Glieder aufnimmt, erforschen. […] Für Gesellschaften aller Ordnungen und Größen, von den kleinsten und rohesten bis zu den grössten und civilisirtesten, muss sie klarstellen, welche Züge, bestimmt durch die gemeinsamen Züge menschlicher Wesen, allen gemeinsam sind, welche minder allgemeinen Züge, wodurch sich gewisse Gruppen von Gesellschaften von andern unterscheiden, aus Zügen resultiren, welche gewisse Menschenrassen charakterisiren, und welche Eigenthümlichkeiten in jeder Gesellschaft auf die besondern Eigenthümlichkeiten ihrer Glieder zurückzuverfolgen sind. Ueberall hat sie zum Gegenstande das Wachsthum, die Entwicklung, den Bau und die Functionen des socialen Aggregats, wie sie durch die gegenseitigen Handlungen der Individuen hervorgerufen werden, deren Naturen theilweise denen aller Menschen, theilweise denen verwandter Rassen gleich, theilweise für sich unterschieden sind.172
Wenden wir uns abschließend noch drei Rechtswissenschaftlern zu, die unter dem Einfluß des Aufschwungs der Naturwissenschaften ihre rückständige Disziplin ebenfalls grundlegend zu reformieren suchten. „Die heutige Justitia“, schreibt Julius von Kirchmann im Jahre 1848, sei das Gespött des Volkes.173 Während sich die Naturwissenschaftler die Methode der Beobachtung und der Unterordnung der Spekulation unter die Erfahrung zu eigen gemacht haben und hierdurch die Erscheinungen der natürlichen Welt immer besser zu erklären und in Gesetze zu fassen imstande waren, haben sich die Rechtswissenschaften seit dem Mittelalter nicht weiter entwickelt. Ein Grund für das Zurückbleiben der Rechtswissenschaften liege in der Art ihres Gegenstandes begründet. Das „natürliche“, von menschlichen Satzungen unabhängige Recht sei nämlich „der Wissenschaft ewig voraus“.174 Das „natürliche“ Recht entwickelt sich und lebt – wie Eugen Ehrlich Jahrzehnte später gesagt hätte – im Volke, ohne daß es in Gesetzesbüchern niedergeschrieben sei. Anstatt nun zumindest zu versuchen, die Tatsachen und Gesetze des „natürlichen“ Rechts in den Kreis ihrer Betrachtung einzubeziehen, befaßten sich die Juristen nahezu ausschließlich mit dem Studium des „positiven Rechts“, also dem in Gesetzen festgehaltenen Recht. 172 Ebenda, S. 65. 173 Julius von KIRCHMANN, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Ein Vortrag gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 1848, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 8. 174 Ebenda, S. 23.
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Wo ist der Inhalt all jener Kommentare, Exegesen, jener Monographien, Quästionen, Meditationen, jener Abhandlungen und Rechtsfälle? Nur ein kleiner Teil davon hat das natürliche Recht zu seinem Gegenstand; neun Zehntel und mehr haben es nur mit den Lücken, Zweideutigkeiten, Widersprüchen, mit dem Unwahren, Veralteten, Willkürlichen der positiven Gesetze zu tun. Die Unkenntnis, die Nachlässigkeit, die Leidenschaft des Gesetzgebers ist ihr Objekt. Selbst das Genie weigert sich nicht, dem Unverstand zu dienen; zu dessen Rechtfertigung all seinen Witz, all seine Gelehrsamkeit aufzubieten. Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur von dem faulen Holz leben; von dem gesunden sich abwendend, ist es nur das kranke, in dem sie nisten und weben. Indem die Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.175
Die Naturwissenschaften und die Mathematik, so Kirchmann, hätten dem Menschen großartige Dienste erwiesen, es ihm ermöglicht, die Ozeane zu durchqueren. „Kanäle, Eisenbahnen, Telegraphen haben die Entfernungen beinahe aufgehoben.“176 Und was haben die Rechtswissenschaften für das Wohl der Menschheit geleistet? Die Rechtswissenschaft habe durch ihre raffinierten Subtilitäten eher dazu beigetragen, daß sich das „positive Recht“ und das „natürliche“ Recht des Volkes immer weiter voneinander entfernten. Das Volk kenne das Gesetz kaum mehr, empfinde immer stärker den Zwiespalt und verliere somit die „Anhänglichkeit“ an das gesetzte Recht.177 Es sei bedauernswert, daß die Jurisprudenz die politischen Verhältnisse der Nation aus ihrer Betrachtung gänzlich ausscheide und sich somit selbst „für unfähig erklärt, den Stoff, den Gang der neuen Bildungen zu beherrschen oder auch nur zu leiten“. Gerade hierin sähen die anderen Wissenschaften ihre „höchste Aufgabe“.178 Das Fundament zu legen, den neuen Bau kräftig in die Höhe zu führen, das können die Juristen nicht. Aber wohl, wenn der Bau fertig ist, wenn die Säulen ihn tragen, dann kommen sie wie die Raben zu Tausenden und nisten in allen Winkeln und messen die Grenzen und Dimensionen bis auf Zoll und Linie und übermalen und überschnörkeln den edlen Bau, daß Fürst und Volk kaum noch ihrer Taten Werk darin erkennen.179
Wenden wir uns kurz den völkerrechtlichen Überlegungen von Adolf Lasson zu. „Mit frommen Wünschen und idyllischen Träumen kommt man der großen Bitterkeit, dem Schmerze und der Noth der Wirklichkeit nicht
175 176 177 178 179
Ebenda, S. 24-25. Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 45. Ebenda.
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bei.“180 Gerade das Völkerrecht sei bis heute ein Tummelplatz für Schwärmer und ein gedankliches Experimentierfeld für Utopisten geblieben, die den harten Tatsachen nicht ins Auge zu schauen wagten. Noch immer gebe es viele, die von der Idee einer friedlichen Staatengemeinschaft, wenn nicht gar eines kosmopolitischen Universalstaates beseelt seien. Doch all diese hohen Ideale stehen im offenen Widerspruch zu den Gesetzen der Natur. Seit jeher herrsche „zwischen Staat und Staat, zwischen Volk und Volk […] Feindschaft“ und Wettstreit „um alle Güter der Erde“.181 Immer strebe der mächtigere Staat danach, den schwächeren zu unterdrücken und auszubeuten. Während der kurzen Perioden des Friedens, „in deren Hintergrund die nackte Selbstsucht liegt“, bestehe jederzeit die Möglichkeit, daß der tiefwurzelnde Haß und die Feindschaft erneut ausbrechen.182 Die Ursache für diesen immerwährenden, nur scheinbar unterbrochenen Kampf sah Lasson vor allem im natürlichen Gesetz von der „unaufhebbaren Vielheit“ rivalisierender Völker bzw. Staaten:183 Der Kampf ist in der Natur der Menschen gegründet und deshalb unaustilgbar […]. Wo innerlich differente Völker sind, da ist auch Abneigung zwischen diesen Völkern […]. Alle Befreundung der Einzelnen in zwei solchen Völkern durch immer zunehmenden friedlichen Verkehr kann daran nichts ändern. Dass ein Volk dem andern abgeneigt ist, dass diese Abneigung im Widerstreit der Interessen zum erbitterten, tödtlichen Hass wird, diese repulsive Kraft des Bewußtseins des eignen Werthes und des eignen Wesens gehört unabtrennbar zur Gesundheit des Volkslebens.184
Abschließend sollen noch einige Überlegungen zu dem aus Krakau stammenden Juristen Ludwig Gumplowicz (1838-1909) zur Sprache kommen. Auch Gumplowicz, der zu einem der Begründer der modernen Gruppenund Konfliktsoziologie avancierte, steht ganz im Banne des Aufschwungs der Naturwissenschaften. Immer wieder wird auch er betonen, daß es ihm darum gehe, die Naturgesetze des sozialen Lebens zu finden. Im folgenden möchte ich jedoch nicht sein berühmtes Naturgesetz vom „ewigen Rassenkampf“ erörtern, sondern vielmehr zeigen, wie Gumplowicz seine eigene Lehre wissenschaftsgeschichtlich einordnete. Dies soll helfen, die beiden oben erwähnten naturwissenschaftlichen Kritiklinien an den Geisteswissenschaften, das empirische Defizit einerseits, den Mangel an allgemeinen Schlußfolgerungen andererseits, zu veranschaulichen. Angesichts des aggressiven „Ressortpatriotismus“, der seine späteren Schriften auszeichnet und der scharfen Abgrenzung von der Disziplin der 180 Adolf LASSON, Princip und Zukunft des Völkerrechts, Berlin: Verlag Willhelm Hertz 1871, S. 8. 181 Ebenda. 182 Ebenda. 183 Ebenda, S. 9 und 31. 184 Ebenda, S. 33-34.
I. ÜBERLEGUNGEN ZUM „GEIST“ DER NATURWISSENSCHAFTEN IN DEUTSCHLAND | 75
Geschichte, welcher Gumplowicz als Soziologe den Rang einer Wissenschaft schlicht absprach, mag es zunächst vielleicht verwundern, daß sich der österreichisch-polnische Jurist in den späten 1860er Jahren in Krakau für Allgemeine Rechtsgeschichte habilitieren wollte. Ferner ist es vielleicht auch etwas überraschend, daß er in seinem „deutschen“ Frühwerk der „historischen Schule“ hohe Anerkennung zollte und daß sein Grazer Kollege Hermann I. Bidermann, dessen Lehrstuhl Gumplowicz später innehaben sollte, seine Behandlungsweise des „österreichischen Staatsrechts“ als eine „historische“ bezeichnete. Es sei, so Gumplowicz, ein „unsterbliches Verdienst der historischen Schule“, insbesondere von Savigny, das theologische und rationalistische Naturrecht besiegt, in die Rumpelkammer veralteter, falscher, idealistischer Auffassungen verbannt und den Staat als ein Erzeugnis des Volksgeistes dargestellt zu haben.185 Ferner habe die historische Schule den „naturrechtlichen Schutt“ weggeräumt und somit „Platz für wahrhaft historische Arbeit“ geschaffen.186 Aber die „historische Schule“ habe auch eine „gewaltige Lücke“ hinterlassen, da sie es verabsäumte, nach dem Ursprung des Staates zu fragen und zudem die gesamte „vorhistorische Epoche“ aus ihrer Betrachtung ausschloß.187 Diese Lücke müsse nun durch die realistische Staatslehre ausgefüllt werden, sie müsse den Grund der Staatenbildung in allgemeinen Naturgesetzen vermuthen und dieselben zu erforschen trachten. Sie wird, angesichts der großen Resultate, die die Naturwissenschaft heutzutage erlangte, gut thun, sich der wissenschaftlichen Methode der Naturwissenschaft, der Induction zu bedienen. […] Bei Einhaltung einer solchen Methode öffnet sich der realistischen Staatslehre ein unendlich weites Gebiet der Forschung. Wird dieses Gebiet durchforscht, dann ist für die Staatslehre ein Material zusammengebracht, welches demjenigen, das die historische Schule lieferte, würdig an die Seite tritt. Die realistische Staatslehre wird dann die Aufgabe haben, aus diesem gesammten Material ihre Schlüsse zu ziehen. Sie wird dann die würdige Erbin der historischen Schule sein.188
185 Ludwig GUMPLOWICZ, Philosophisches Staatsrecht: Systematische Darstellung für Studirende und Gebildete, Wien: Manz’sche k. k. Hof-Verlagsund Universitäts-Buchhandlung 1877, S. 165. 186 Ebenda. 187 Ebenda, S. 166 und 194. 188 Ebenda, S. 194-195.
II. Ü B ER
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A. Einführe nde Be me rk unge n 1
Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht eine ideengeschichtliche Analyse der Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; jener Phase, die man als die Gründerzeit dieser Wissenschaft bezeichnen kann.2 Immer wieder werden herausragende Anthropologen in dieser Periode ihre Disziplin als eine „junge“, „jugendliche“, „neue“, „moderne“, „spätgeborene“ bezeichnen, die im Sog der aufstrebenden, sich der induktiven Methode bedienenden exakten Naturwissenschaften entstanden sei.3 Nach A. 1
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Teile des folgenden Kapitels überschneiden sich mit Bernd WEILER, Von der „Kulturlosigkeit“ über die „Kulturarmut“ zum „Kulturenreichtum“ der „Naturvölker“. Ideengeschichtliche und wissenssoziologische Überlegungen zu einer Grundsatzdiskussion in der Anthropologie zwischen 1870 und 1930, in: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL (Hg.), Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung, Wien: Passagen Verlag 2003, S. 35-77. Vgl. in diesem Zusammenhang u. a. die wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen von T. K. PENNIMAN, A Hundred Years of Anthropology, New York: William Morrow & Company, Inc. 1974, S. 73-180; Justin STAGL, Kulturanthropologie und Gesellschaft: Wege zu einer Wissenschaft, München: List Verlag 1974, S. 23-32; Wilhelm E. MÜHLMANN, Geschichte der Anthropologie, Bonn: Universitäts-Verlag 1948, S. 92-147. Zur Anthropologie als „junger“ Wissenschaft vgl. u. a. Adolf BASTIAN, Der Mensch in der Geschichte: Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung, Drei Bände: Erster Band: Die Psychologie als Naturwissenschaft, Osnabrück: Biblio-Verlag 1968 [Neudruck der Ausgabe 1860], S. IX-XX; ders., Der Völkergedanke (1881), in: Carl A. SCHMITZ (Hg.), Kultur, Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsgesellschaft 1963, S. 54-64; Alexander ECKER, Die Berechtigung und die Bestimmung des Archivs, in: Archiv für Anthropologie, Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 1 (1866), S. 1-6; ders., Die Zwecke der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in: Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, [Beilage zu] Archiv für Anthropologie, Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 4 (1869), S. 41-44; Ferdinand Freiherr von ANDRIAN, Ueber einige Resultate der modernen Ethnologie, in: Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, [Beilage zu] Archiv für Anthropologie, Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 23 (1895), S. 57-73; Heinrich SCHURTZ, Die Völkerkunde der Gegenwart, in: Geographische Zeitschrift 1 (1895), S. 459-465, insbesondere S. 459; Moritz HOERNES, Die Urgeschichte des Menschen nach dem heutigen Stande der Wissenschaft, Wien-
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Bastian sei die „Wissenschaft vom Menschen“ über uns gekommen „wie ein Dieb in der Nacht“.4 Als der jüngste Zweig am Baum der Naturwissenschaften, so Paul Broca (1824-1880) im Jahre 1877, zählte die Anthropologie noch vor fünfzehn Jahren nur „wenige Jünger“. Heute hingegen nehme sie „in der Achtung der wissenschaftlichen Welt den ersten Platz“ ein.5 Die Anthropologie, obgleich noch „sehr jugendlichen Alters“, habe, so Alexander Ecker, in neuester Zeit und in einem verhältnissmässig kurzen Zeitraum durch emsige Thätigkeit der Forscher aus den verschiedensten Punkten ihres weiten Gebietes, sowie durch die diesem Kinde der Zeit in ungewöhnlichem Maasse zugewendete Theilnahme der Gebildeten eine Ausdehnung, Bedeutung und Stellung erworben, welche sie nicht nur berechtigen, sondern selbst nöthigen, fortan, anstatt als Gast bei andern Disciplinen ein kärgliches Unterkommen zu suchen, in der Gestalt einer selbständigen Disciplin aufzutreten, ihr Gebiet abzugrenzen und in der Literatur vertreten zu lassen. […] Die Natur des Menschen, also das Object der Anthropologie, ist – um mit von Baer’s Worten zu reden – „Der Gipfelpunkt
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Pest-Leipzig: A. Hartleben’s Verlag 1892, insbesondere S. 1f.; Karl ANDREE, Vorwort, in: Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 8 (1865); Wilhelm DILTHEY, 2. Literaturbrief (1876), in: DILTHEY, Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus ‚Westermanns Monatshefte‘: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen, 1867-1884 (Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 8-12; Thomas ACHELIS, Methode und Aufgabe der Ethnologie, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 20 (1885), S. 57-69, insbesondere S. 57; Karl WEULE, Völkerkunde und Urgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Politisch-Anthropologische Revue 1 (1902/03), S. 673-689 u. S. 753-779, insbesondere S. 753-754; Paul TOPINARD, Anthropologie, Leipzig: Verlag Eduard Baldamus 21888 [2. deutsche Auflage; übersetzt nach der dritten französischen Auflage von Richard Neuhauss], (Frz. Original/1. Aufl.: 1877), insbesondere S. 13; Paul BROCA, Vorwort [zur ersten französischen Auflage von 1877], in: TOPINARD, Anthropologie 21888, insbesondere S. VII-X; Hermann SCHAAFFHAUSEN, Über die anthropologischen Fragen der Gegenwart, in: Archiv für Anthropologie, Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 2 (1867), S. 327-341; Rudolf VIRCHOW, Eröffnungsrede zur 2. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft in Schwerin am 22. September 1871, in: Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, [Beilage zu] Archiv für Anthropologie, Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 5 (1871), S. 41-47; ders., Eröffnungsrede [zur Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft in Innsbruck], in: Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, [Beilage zu] Archiv für Anthropologie, Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 23 (1895), S. 80-87; M. WINTERNITZ, Völkerkunde, Volkskunde und Philologie, in: Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 78 (1900), S. 345-350. Adolf BASTIAN, Der Völkergedanke, in: Carl A. SCHMITZ (Hg.), Kultur, S. 54. Paul BROCA, Vorwort, S. VII.
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oder Ausgangspunkt, je nachdem man seine Richtung nimmt, sehr verschiedener Wissenschaften, der Zoologie, der vergleichenden Anatomie und Physiologie, der Weltgeschichte, der Philologie, der Staatswissenschaften und der Rechtsphilosophie, sie enthält die Psychologie ganz, da wir von den Seelen der Thiere nur so viel wissen, als wir anthropomorphisch in sie hineingedacht haben, und die ganze Philosophie ist ja nur ein Ausdruck der verschiedenen Weisen, wie der Mensch die Welt zu begreifen gestrebt hat“.6
Das Gefühl, am Anfang eines riesigen Unternehmens zu stehen, schlägt sich in den in kurzen Abständen erfolgten Gründungen anthropologischer Gesellschaften, Kongresse, Museen und Zeitschriften in den 1860er und 1870er Jahren nieder. Nur exemplarisch sei auf einige dieser organisatorisch-institutionellen Meilensteine der Anthropologiegeschichte verwiesen. 1859 – im Erscheinungsjahr von Charles Darwins (1809-1882) On the Origin of Species – wird auf Initiative des Mediziners Paul Broca die Société d’Anthropologie de Paris und ihr offizielles Publikationsorgan, die Bulletins de Société d’Anthropologie de Paris gegründet; 1860 erscheint der erste Band der von Hajim Steinthal (1823-1899) und Moritz Lazarus (1824-1903) herausgegebenen Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft; 1861 wird in Göttingen unter Beteiligung von Rudolf Wagner (1805-1864), Nachfolger von Johann F. Blumenbach (17521840), und des in Petersburg tätigen Naturforschers Karl Ernst von Baer (1792-1876) ein großer anthropologischer Kongreß veranstaltet; 1863 werden in Moskau und London anthropologische Gesellschaften ins Leben gerufen; 1864 erscheint die erste Ausgabe der von Gabriel de Mortillet (1821-1898) besorgten Matériaux pour l’histoire de l’homme; 1865 findet in La Spezia die konstituierende Sitzung des Congrès International d’Anthropologie et d’Archéologie Préhistoriques und im darauffolgenden Jahr in Neuchâtel die erste Versammlung desselben statt; 1866 wird in Deutschland das Archiv für Anthropologie gegründet; gleichzeitig in Cambridge, Massachusetts, das Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology eingerichtet; 1869 entsteht in Berlin auf Initiative Rudolf Virchows (1821-1902) eine anthropologische Vereinigung, im gleichen Jahr erscheint der erste Band der von Adolf Bastian und Robert Hartmann (1831-1893) herausgegebenen Zeitschrift für Ethnologie, 1870 werden die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Urgeschichte und Ethnologie und die Wiener Anthropologische Gesellschaft gegründet. „In dieser Associationsbewegung“, schrieb Friedrich Ratzel (1844-1904) anläßlich der Gründung der anthropologischen Gesellschaft in Deutschland, spiegelt sich deutlich der Aufschwung der anthropologischen Studien; vor zehn Jahren bezweifelte man das Vorkommen fossiler Menschen – heute hat der fossi-
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ECKER, Die Berechtigung und die Bestimmung des Archivs, in: Archiv für Anthropologie, S. 1-6, hier S. 1.
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le Mensch schon eine gewaltige Literatur heraufbeschworen. Das ist auch ein Merkmal der Zeit!7
1. Über das Versagen der Universalgeschichte o d e r An t h r o p o l o g i a m a g i s t r a vi t a e Teil der euphorischen Aufbruchsstimmung ist das düstere Bild, das die Vertreter der „neuen“ Wissenschaft von der Geschichte ihrer Disziplin zeichnen. Bis in die allerjüngste Vergangenheit sei das anthropologische Unternehmen sträflich vernachlässigt oder mit gänzlich falschen Mitteln und Zielen betrieben worden, bis gestern noch konnte das Verlangen nach einer „Wissenschaft vom Menschen“ nicht gestillt werden. Hochmütige Universalgeschichtsschreiber, welche die „Naturvölker“ als vermeintlich geschichts- und kulturlose Subjekte geflissentlich übersahen, sensationslüsterne, oberflächliche, nach exotischen Kuriositäten und Raritäten jagende, wohlhabende und weltreisende, Anekdoten sammelnde Dilettanten, über deren wissenschaftliche Erkenntnisse man bloß milde lächeln könnte, passionierte Provinzhistoriker und sammeleifrige Antiquare, die den Boden eifrig durchpflügten, um in ihren eigenen vier Wänden ausgegrabene Trophäen den Freunden zur Schau stellen zu können, kurzsichtige Theologen, welche ihre anthropologischen Forschungen auf ein zweitausend Jahre altes, ehrwürdiges und falsches Buch stützten, und vergeistigte Philosophen, die dem „Wilden“ in ihren auf spekulativ-deduktivem Fundament errichteten prunkvollen Luftschlössern, die der erste empirische Hauch umblies, einige bescheidene Zimmer zugewiesen hatten, hätten sich bislang auf dem Feld der anthropologischen Wissenschaft getummelt. Auf dem Boden nüchterner Tatsachen konnten jene großartigen anthropologischen Gedanken, welche der geistvolle spekulative Philosoph auf seinem – um eine Helmholtzsche Metapher zu gebrauchen – waghalsigen Ikarusflug in schwindelerregender Höhe spann, freilich niemals gedeihen. Im Unterschied zu den eben erwähnten Gruppen, zu dieser Anthropologie der „Alten“, die auf den phantastischen, abenteuerlichen, blendenden, bodenlosen Hypothesen biblischen Dogmas und spekulativer Philosophie fuße, baue die neue Anthropologie der Modernen auf dem festen Fundament nüchterner Tatsachen. Die moderne Anthropologie bediene sich ausschließlich der strengen, induktiven, exakten Methode; der gleichen Methode, welche dem seit einigen Jahrzehnten sich vollziehenden ungeheuren Aufschwung der Naturwissenschaften zugrunde liege. Im Banne der großartigen, für alle Menschen sichtbaren Erfolge der „exakten“ Naturwissenschaften, insbesondere der Fortschritte der Medizin, die das Leben aller länger, berechenbarer, sicherer und angenehmer gemacht hät7
Friedrich RATZEL, Die anthropologischen Gesellschaften, in: Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 17 (1870), S. 201.
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ten, erachten es die Vertreter der „neuen“ Anthropologie als ihre vorrangige Aufgabe, den strengen Geist naturwissenschaftlicher Forschung auf das rückständige Gebiet der Anthropologie zu übertragen; ja, die Anthropologie ein für allemal aus den Fängen der nebulösen Geisteswissenschaften zu befreien und in den Rang einer wahren Wissenschaft zu erheben. Die unsichtbare, unbekannte Bakterie war von der Zellularpathologie durch mikroskopische Untersuchungen aufgestöbert, als Bösewicht und gefährlicher Krankheitserreger identifiziert worden. Gezielt und wirkungsvoll konnte der Feind nun bekämpft und menschliches Leben gerettet werden. Durch Wissen war man der feindlichen Bakterie Herr geworden. Die „junge“ Anthropologie, die sich der gleichen, so erfolgreichen Methode bediente, machte den Menschen aller Orte und aller Zeiten zum Gegenstand ihrer Betrachtung. Was erst durfte man sich von ihr erwarten? „Und so werden“, orakelte Bastian, auch die psychischen Uebel, woran der Zeitgeist krankt, ihre naturwissenschaftliche Heilungs- und Behandlungsweise erfordern, und zwar im Anschluß an die Physiologie der Gesellschaft durch die „naturwissenschaftliche Psychologie“ (und was sie aus ethnischen Beobachtungen an Arzneien zu liefern vermochte). Die Naturwissenschaft ist allmächtig und muss es sein, denn wer kann der Natur widerstehen? wenn sie selbst redet, in eigenen Gesetzen! Wo immer eine naturwissenschaftliche Phalanx ihr Banner aufgepflanzt hat, ihre Methode zur Verwendung zu bringen sich befähigt fand, konnte der Sieg nicht ausbleiben.8
Überwiegend rekrutieren sich die Vertreter der „jungen“ Anthropologie aus naturwissenschaftlichen Disziplinen. Wiederum exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an drei „Gründerväter“ nationaler anthropologischer Gesellschaften in den 1860er und 1870er Jahren erinnert, an Paul Broca in Frankreich, an Rudolf Virchow in Deutschland und an Carl Rokitansky (1804-1878) in Österreich. Die ressortimperialistische Parole der „anthropologischen Gründerzeit“ lautete: Das Feld der Anthropologie abzustecken, zu erobern, zu befestigen und mit wissenschaftlichem Ernst zu düngen, jenes Feld, auf dem im vorwissenschaftlichen Zeitalter Dilettanten Belangloses gegackert, haarsträubendste Hypothesen neben theologischem Unkraut gewuchert und tollkühne Philosophen ihre spekulativen schwatzhaften Purzelbäume geschlagen hatten. Wenn dies geschehen sei, das Unkraut gerupft, die Philosophen verscheucht und mühselig die Samen wahrer wissenschaftlicher Forschung gesät worden seien, dann, ja dann erst dürfe man sich auf eine gute Ernte freuen.
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Adolf BASTIAN, Controversen in der Ethnologie. I. Die Geographischen Provinzen in ihren culturgeschichtlichen Berührungspuncten, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1893, S. 72-73.
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Zum Lieblingsgegner der „jungen“ Anthropologie avancierte in diesem Zusammenhang die traditionelle philosophisch angehauchte Universalgeschichtsschreibung. Gerade in ihren Händen, so die Kritik der Anthropologen, seien die „Naturvölker“ stiefmütterlichst behandelt worden. Nahezu ausschließlich sei der Blick der Universalhistoriker auf die „vornehmen“ Kulturvölker geheftet gewesen. In der Weltgeschichte der traditionellen Historie sei weder der grauen Vorzeit des Menschengeschlechts noch den heute lebenden „Wilden“ ein Plätzchen eingeräumt worden. Nur in den Vorworten sei der „Wilden“ zuweilen mit wenigen Worten gedacht worden. „Wilde und Barbaren und ihren Zustand“, so der Aufklärungshistoriker Friedrich Ch. Schlosser (1776-1861) in seiner Weltgeschichte für das deutsche Volk (1844), könne „man gleich dem der Thiere beschreiben, Geschichte aber ist ohne Staat, ohne Gesetze, ohne Fortschreiten mit der Zeit nicht denkbar“.9 Seit ewigen Zeiten, so das Bild der Universalhistorie vom „Wilden“, schweife dieser geistig tote, kulturlose Augenblicksmensch durch die „traurige“ Wildnis, Sklave seiner Triebe, Spielball der Elemente. Bar jeder Kultur und Gesittung friste dieser „Eingeborne“ sein Leben – schon in diesem Ausdruck schwingt ein klein wenig die mit seinem Dasein assoziierte vegetative Bewegungslosigkeit mit. Der „Wilde“ sei von der Universalhistorie als ein der Natur vollkommen höriger Untertan, ein sich von der Fauna und Flora des unberührten Landes kaum unterscheidender Bestandteil gesehen worden. Der vorausschauenden Lebensfürsorge unfähig, sei er für immer im Jetzt gefangen, verdammt, jeden Tag neu zu beginnen. „Unberührt“, „unbeleckt“, „unverderbt“ sei der „Wilde“ jeglichem Wandel gleichsam entrückt. Erinnere der Gang der „Kulturvölker“ an einen mächtigen Baum, dessen Jahresringe sein Wachsen bezeugen, so erinnere das Dasein der „Naturvölker“ an ein Urwaldgestrüpp, das am Boden rasch emporsprieße, nur eine gewisse Höhe erreiche, erreichen könne, kurz aufblühe, um hierauf gleich wieder zu verwelken und den Kreislauf von neuem zu beginnen.10 Der Wissensschatz des „Naturmenschen“ beschränke sich auf seine individuelle Lebenserfahrung. All das, was er wisse, habe er sich im Laufe seines Lebens alleine erworben. Als menschliche „Eintagsfliege“ – um in der Terminologie jener Zeit zu verweilen – baue der „Naturmensch“ nicht auf den überlieferten Erfahrungen vergangener 9
Friedrich Ch. SCHLOSSER, Weltgeschichte für das deutsche Volk. Unter Mitwirkung des Verfassers bearbeitet von G. L. Kriegk, Erster Band, Frankfurt a. M.: Franz Warrentrapp’s Verlag 1844, S. XII. 10 Vgl. N. N., Die Stellung der Naturvölker in der Menschheit III. (Schluß), in: Das Ausland 55 (1882), S. 61-64, hier S. 62-63: „Die Geschlechter der Naturvölker reichen, indem eines dem andern folgt, sehr wenig denen dar, die nachwachsen. Sie sind fast wie einjährige Pflanzen. Ein Kulturvolk aber erscheint uns wie ein mächtiger Baum, der in jahrhundertelangem Wachstum sich zu Größe und Dauer über die Niedrigkeit und Vergänglichkeit kulturloser Völker erhoben.“ Die Argumentation und der Stil legen die Vermutung nahe, daß dieser Artikel aus der Feder von Friedrich Ratzel stammt, der damals die Herausgeberschaft der Zeitschrift Das Ausland übernommen hatte.
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Generationen auf, und er reiche auch sein Wissen der Nachwelt nicht weiter. Mehr gebe es aus universalgeschichtlicher Perspektive über diese „ungeschichtlichen Völker“ nun einmal nicht zu sagen. Wie hochmütig, wie falsch, so die Vertreter der modernen Anthropologie, sei dieses Porträt der „Vorgeschichte“, ja das gesamte Weltbild der traditionellen Universalhistoriker! Wie eng sei doch der Zirkel ihrer Erfahrungen! Hatten sich nicht gerade in den letzten Jahren prähistorische Zeugnisse – man denke nur an die Feuersteinfunde von Jacques de Perthes (1788-1868) im Sommetal, an die dänischen Kjökkenmöddings, an die schweizerischen Pfahlbauten oder an die aus Höhlen, unter Knochen ausgestorbener Tiergattungen geborgenen menschenähnlichen Skelettreste – gehäuft, die bewiesen, daß eine lange Spanne Zeit vor der Geschichte der „vornehmen“ Völker vergangen war, in der Menschen in Siedlungen gewohnt, Felder bestellt, gemeinsam gejagt, gefischt, ihre Schicksale geteilt hatten? Waren nicht in belgischen Höhlen von Philippe-Charles Schmerling (1791-1836) Spuren menschlichen Daseins entdeckt worden? Hatte Ferdinand Keller (1800-1881), der Präsident der antiquarischen Gesellschaft von Zürich, nicht im Jahre 1854 Artefakte gefunden, welche eindeutige Zeugnisse für menschliche Siedlungen ablegten? Hatte sich die traditionelle Historie nicht als unfähig erwiesen, dieses uralte Schweizer Volk von Pfahlbauern mit einem historischen Volk in Verbindung zu bringen? Hatte nicht 1856 im Neandertal, in der Nähe von Düsseldorf, ein Höhlenmensch mit fliehender, affenähnlicher Stirn und auch sonst nicht besonders ansehnlichem Äußeren das Licht der Welt erblickt? Hatte sich dieser Troglodyte – freilich nicht ohne auf Widerstand zu treffen und für einige Beunruhigung in der „heiklen Familienangelegenheit“ zu sorgen – nicht einen Platz in der menschlichen Ahnengalerie erkämpfen können? Der große George Cuvier (1769-1832), so der Gymnasiallehrer und Entdecker des Neandertalers Johann C. Fuhlrott (1803-1877), hatte Unrecht gehabt. L’homme fossile existe. Gerade da der Neandertaler – sowie auch sein kurze Zeit später sich dazu gesellender, freilich wesentlich jüngerer französischer „Kollege“ Cro-Magnon aus der Dordogne – einer so fernen Vergangenheit angehörte, schien er für die Gegenwart so bedeutsam. In nur wenigen Jahren geologischer, paläontologischer und prähistorischer Forschung war die Menschheit um Äonen gealtert. In den Jahren 1858, 1859 und 1860 waren eine Reihe prominenter englischer Forscher – unter anderem Charles Lyell (1897-1875), Hugh Falconer (1808-1865), John Evans (1823-1908), John Lubbock (1834-1913) und Joseph Prestwich (1812-1896) – nach Abbeville im Sommetal gereist, um die Authentizität und Datierung der Feuersteingerätschaften des französischen Altertumswissenschaftlers Boucher de Perthes zu prüfen. Alle konvertierten zum Glauben an das hohe Alter des Menschengeschlechtes. Es waren die in den strengen Methoden induktiver Forschung sozialisierten Naturwissenschaftler, allen voran die Geologen, Paläontologen und Anatomen,
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welche den entscheidenden Anteil an dieser Revision der traditionellen Chronologie hatten. Der Naturwissenschaftler avancierte zum Richter in der bedeutungsvollen Frage nach den Anfängen der menschlichen Geschichte, der Historiker wurde zum vom Richter verspotteten Zaungast. Nicht in der Bibliothek, sondern im Laboratorium wurden die Schädel geprüft, die Knochen gewogen und vermessen, die „primitiven“ Werkzeuge untersucht und nachgebaut. Im Laboratorium wurde das Urteil über das Alter der Menschheit gefällt, hier wurde Geschichte gemacht. Und bei diesem Schiedsspruch, bei dieser Geschichte hatte der gelehrte, in den klassischen Sprachen geschulte altehrwürdige Universalhistoriker nun einmal nichts mitzureden. Hatten geologische, paläontologische und prähistorische Funde das überkommene geschichtliche Zeitbewußtsein erschüttert, so hatten die länder- und völkerkundlichen Entdeckungsreisen in das noch weitgehend unbekannte Innere der nichteuropäischen Kontinente das räumliche Vorstellungsvermögen revolutioniert. Erinnert sei an die großen Afrikaexpeditionen des englischen Missionars David Livingstone (1813-1873) oder an jene der deutschen Forschungsreisenden Heinrich Barth (1821-1865), Georg Schweinfurth (1836-1925), Adolf Bastian (1826-1905), Gerhard Rohlfs (1831-1896) oder Gustav Nachtigal (1834-1885), deren wissenschaftliche Beute in den in jenen Jahren neu gegründeten geographischen Zeitschriften – etwa in Petermann’s Mittheilungen, im Globus von Karl Andree (1808-1875), im Geographischen Jahrbuch von Ernst Behm (1830-1884) – diskutiert wurde. Zusehends seien die weißen Flecken auf den geographischen Karten verschwunden. Die Völkerkarte war bunter geworden. Verstockt habe die Historikerzunft jedoch an ihren „Geschichtsvölkern“ festgehalten. Der kleinen, unbedeutenden, verwaisten Völkerschaften nahm sich die „junge“ Anthropologie an. „Aus den ärmlichen Zeugnissen“, schreibt der Anthropogeograph Friedrich Ratzel in bezug auf die Ausgrabungen Sven Hedins (1865-1952) am Lop-Nor, lesen wir „die Geschichte von Menschen, deren Geschichte vergessen ist“. „War es auch nur ein kleines Volk“, so Ratzel weiter, „ein unbedeutender Staat, was macht das aus? Immer enthalten doch diese Zeugnisse ein kleines Stück Weltgeschichte. Es wird doch immer eine Lücke in unserem Wissen von ihnen ausgefüllt“.11 Was war das doch für ein kümmerliches Weltkügelchen, auf dem nur Platz war für ein paar Griechen und Römer, zu denen sich zuweilen noch eine Handvoll Assyrer, Ägypter, Chinesen und Inder gesellten! Wie winzig, so der Vorwurf der Anthropologen an die traditionellen Universalhistoriker, ist doch eure Welt, wie beschränkt ist doch die
11 Friedrich RATZEL, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive, in: Historische Zeitschrift 93, N.F. 57 (1904), S. 1-46, hier S. 6.
II. ANFÄNGE DER ANTHROPOLOGIE: EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN | 87
Zeit, in der ihr denkt! Die wahre Weltgeschichte werde die Anthropologie erst schreiben müssen. Anthropologia magistra vitae.12
2. Über das Rettungsunternehmen der An t h r o p o l o g i e : D e r e m p i r i s t i s c h e M a h n r u f Als „junge Disziplin“, die auf einen ungeheuren Schatz von Tatsachen rechnen konnte, barg die Anthropologie das Versprechen, alle Erkenntnisse der vorangegangenen Wissenschaften zu ergänzen und zu vereinen. Zugleich jedoch tat Eile not, denn vor aller Augen drohten die Tatsachen der Anthropologie für immer zu verschwinden. Die Anthropologie war gleichsam eine exakte Wissenschaft, die unter einem „doppelten“ empiristischen Appell stand. In diesen Befürchtungen stimmen die „Empiriker“ und die „Theoretiker“ der anthropologischen Gründerzeit miteinander überein. „Halbe Erdtheile“, so Bastian, ganze Thesauren, angefüllt mit den in tausendjähriger Geistesarbeit angehäuften Schätzen, sie mag jetzt oft ein Tag mehr oder weniger zerstören, versenken für immer in das Reich des Nichts. […] Es brennt in allen Ecken und Enden der ethnologischen Welt, brennt hell, lichterloh, in vollster Brunst, es brennt ringsum, Gross Feuer! und Niemand regt eine Hand. Die Autopsien der von 1850-1880 periodisch wiederholten Reisen liefern die gewaltsam zwingendsten Ueberzeugungen des in schreckbar steigenden Progressionen fortschreitenden Verderbens.13
Niemand, der die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens finden wolle, dürfe auf die Tatsachen verzichten, die sich aus dem Studium der „Naturvölker“ gewinnen ließen. Denn nicht nur in den komplexen, sozialen Gebilden der „Kulturvölker“, sondern auch in den simplen Gebilden der „Naturvölker“ waren die unveränderlichen Gesetze am Werke; ja gerade hier ließen sie sich – so die Hoffnung, der immer wieder Ausdruck verliehen 12 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die gegen die Zunftgenossen gerichtete Kritik von Ernst Bernheim an einer Beschränkung der Geschichtswissenschaft auf die „Kulturvölker“; Ernst BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig: Duncker & Humblot 21894, S. 32: „[Nach unserer Definition der Geschichte; B. W.] gehören alle, auch jene niedrigsten Bildungsstufen, in den Bereich geschichtswissenschaftlicher Betrachtung, insofern sie sich alle, wenn auch in noch so dürftiger Weise social bethätigen, uns alle Entwicklungsstadien menschlich-gesellschaftlichen Daseins, wenn auch noch so dürftig, darstellen. Mit welchem Rechte könnte man diese Bildungsstufen ausschließen, vor allem, seitdem man die Erkenntnis gewonnen hat, dass jedes Volk in seiner Entwicklung eine solche Stufe durchzumachen gehabt hat und daß gerade diese Anfangsstadien der Völker maßgebend sind für das, was sie später sind und werden?“ 13 BASTIAN, Der Völkergedanke, in: Carl A. SCHMITZ (Hg.), Kultur, S. 61.
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wurde – ob ihrer Einfachheit rascher erkennen. Vielfach, so Bastian, sei „von einem Aussterben der Naturvölker“ die Rede. Nicht das physische Aussterben, soweit es vorkommt, fällt ins Gewicht, weil ohnedem von dem allmächtigen Geschichtsgang abhängig, der weder zu hemmen, noch abzuwenden ist. Aber das psychische Aussterben – der Verlust der ethnischen Originalitäten, ehe sie in Literatur und Museen für das Studium gesichert sind – solcher Verlust bedroht unsere künftigen Inductionsrechnungen mit allerlei Fälschungen, und könnte die Möglichkeit selbst eine Menschenwissenschaft in Frage stellen.14
Wer sich in der Welt etwas umschaue, so Virchow im Jahre 1871, werde bemerken, daß eine wahre „Revolution“ im Gange ist, welche größer ist als irgend eine Revolution welche jemals innerhalb des menschlichen Geistes stattgefunden hat. Auf der einen Seite sehen wir, wie die civilisierten Völker mit unwiderstehlicher Gewalt jede bis dahin isolirte Völkerschaft, jedes abgebogene Land in den Kreis ihrer Bewegung hineinziehen. All die kleinen Inseln, alle die vereinzelten Territorien, in denen sich noch Völkerschaften mit specifischen Eigenthümlichkeiten erhalten haben, werden zugänglich gemacht, ausgebeutet, überschwemmt und die Völker sterben endlich dahin. Vor wenigen Jahren ist der letzte Eingeborene von Tasmanien gestorben, während noch vor wenigen Decennien Tausende dieser Einwohner vorhanden waren, und diese Insel, welche die Grösse eines deutschen Königreiches hat, noch vor dem Anfang unseres Jahrhunderts eine dicht bevölkerte war. So schnell vernichtet die europäische Cultur die einheimischen Bevölkerungen. Wenn es möglich sein sollte, die physischen Eigenthümlichkeiten der vorhandenen wilden Völkerschaften noch festzustellen, noch Schädel, Haut und Haare derselben zu sammeln, so müssen wir in der That sagen, was nicht im Laufe der nächsten zehn Jahre geleistet werden wird, das könnte unwiederbringlich verloren sein. Um mich nur auf jenes Beispiel zu beziehen, so ist es schon gegenwärtig fast unmöglich, einen tasmanischen Schädel zu bekommen; nachdem erst vor drei oder vier Jahren das letzte Individuum dieser Race gestorben ist, so sieht es jetzt schon aus, als sei diese Bevölkerung spurlos vom Erdboden verschwunden.15
Da das „Alte“ für immer zu verschwinden drohe, so Virchow, dürfe keine Zeit mehr vergeudet werden. Gegenwärtig sei es sinnlos, die Probleme zu verfolgen, die Speculation zu discutiren, sondern es handelt sich vor Allem darum, das Material, die eigentliche Substanz der Anthropologie zu
14 Ebenda, S. 62. 15 Rudolf VIRCHOW, Eröffnungsrede zur 2. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft in Schwerin am 22. September 1871, in: Archiv für Anthropologie 5 (1871), Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (JuniOktober 1871), S. 41-47, hier S. 45.
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schaffen. Wenn wir uns auch nun um ein Decennium verspäten sollten mit der Verwerthung des Materials, so wird die deutsche Gesellschaft für Anthropologie doch sagen können, sie habe genug gethan, wann sie diese ökonomische Leistung, zu sammeln und zu ordnen, so viel an ihr ist, vollbracht hat. […] [Es gelte,] aus der ganzen Welt anthropologische Schätze zu sammeln und sie wenigstens bis zu einem ausreichenden Maasse in unser Vaterland zusammenzuführen. Dahin zu streben ist, meine Herren, unsere grösste und wichtigste Aufgabe, und wenn ich in dieser Versammlung etwas dahin wirken kann, so denke ich, ist es das, dass ich jeden von Ihnen aufrufe, zum Apostel zu werden an dieser mehr materiellen und ökonomischen Aufgabe der Gesellschaft. Es gestaltet sich nachher, wie die Erfahrung gelehrt hat, unter den Händen des Sammlers allmählich auch die Construction des theoretischen Gedankens.16
3. Über unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „jung“ zur Kennzeichnung der An t h r o p o l o g i e o d e r : Ü b e r d e n p r o f a n e n W e g zum sakralen Ziel In der Kennzeichnung der Anthropologie als einer „jungen Wissenschaft“ lassen sich drei unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „jung“ unterscheiden. In der ersten Bedeutung verweist das Wort „jung“ auf den institutionellen und organisatorischen Stand der Disziplin, in der zweiten auf den empirischen Stand der Wissenschaft und in der dritten auf die weitreichenden theoretischen Schlußfolgerungen, welche die Anthropologen aus dem zu sichtenden Tatsachenmaterial zu ziehen erhoffen. Der Unterschied zwischen der zweiten und dritten Bedeutung des Wortes „jung“ zur Kennzeichnung der Anthropologie entspricht den beiden, im vorigen Kapitel erörterten Richtungen der „Optimisten“ bzw. „Pessimisten“, die sich in bezug auf die Frage unterschieden, wann bzw. ob mit einer Synthesenbildung schon begonnen werden könne. Implizit – zuweilen auch explizit – verbindet sich gerade in der Anthropologie mit der theoretischen Erwartungshaltung auch die Hoffnung, daß die Kenntnis der Gesetze des sozialen Mechanismus auch eine sozialreformerische Bedeutung besitzen werden. Als „junge“ und „letzte“ Wissenschaft werde die Anthropologie, die „Wissenschaft vom Menschen“ – schon in dieser bedeutungsschwangeren Bezeichnung schwingen ein klein wenig jene großen Erwartungen mit, die sich mit ihrem Unterfangen verbinden –, alle bislang gesammelten Erkenntnisse über den Menschen vereinen und zu einem krönenden Abschluß bringen. Um den empirischen und theoretischen Bedeutungsgehalt des Wortes „jung“ zu verdeutlichen, sei im folgenden kurz auf eine Festrede des theo-
16 Ebenda, S. 46.
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retischen „Heißsporns“ Adolf Bastian und die Erwiderung des empirischen „Pedanten“ Rudolf Virchow verwiesen. Am 19. November 1881 wurde in der palmengeschmückten Festhalle des Berliner Rathauses in Anwesenheit von mehr als achthundert Teilnehmern der 60. Geburtstag von Rudolf Virchow gemeinsam mit seinem 25jährigen Jubiläum ununterbrochener Lehrtätigkeit an der HumboldtUniversität feierlich begangen. Zu Ehren des Jubilars hielt Adolf Bastian, der „Altmeister“ der deutschen Ethnologie, eine Festrede, welche ganz im Banne der theoretischen Verheißungen der „jungen“ Anthropologie steht: Die neue Zeit ist da! Sie rauscht heran mit mächtigem Gewoge, uns hinzuführen, Niemand weiss noch, wohin? Die neue Zeit ist da! Es keimt und sprosst in wunderbaren Blüthen, in Früchten, seltsam gar und unbekannt. In Räthselfragen, quellend aus geheimnissvollen Tiefen schwillt die Erwartung dem entgegen, was eine nächste Zukunft nur zu bergen scheint! Und wenn im Leben der Geschichte für ein organisches Wachsthum die Zeit seiner Reife gekommen, wenn eine Neuzeit fertig steht, sich zu erschliessen, dann ruft sie auch ihre Propheten heraus, ihre Diener und Jünger, der Welt zu verkünden, was bevorsteht und zum gemeinsamen Ziele das Wahrzeichen aufzustecken, das in seiner Bezeichnung die Aufgabe ausspricht, die Zeitaufgabe jedesmaliger Gegenwart. Für die unsrige ist die Parole bereits ausgegeben; sie heisst „die Wissenschaft vom Menschen,“ das höchste und letzte Ziel, das menschlichem Streben gesteckt sein kann, – soweit wir wenigstens bis jetzt zu ermessen vermögen. Welche Wissenschaft ist ihr zu vergleichen, ja, welche Wissenschaft existirt ausser ihr, da sich alle in ihr und zu ihr vereinen. Verlangt war sie immer und stets! Schon älteste Orakelsprüche weisen auf sie hin; ermöglicht ist sie heute erst worden durch die Fortschritte der induktiven Wissenschaften. In ihr als centralen Brennpunkt werden fortan alle die Bestrebungen zusammenfallen, die zum Heil und Besten des Menschen sein geistiges und leibliches Wohl zu fördern beabsichtigen, also die Medizin in allen ihren Fächern, die realen Wissenschaften zur Verschönerung des Lebens, die sozialen im Studium gesellschaftlicher Entwickelung: die statistischen, so viele ihrer sind, und die Geschichte mit den jüngst hervorgesprossenen Zweigen der Anthropologie und Ethnologie. Keine Neuschöpfung ohne Zerstörung, und zerstört haben wir wahrlich schon genug. Ueberall beginnt es zu wanken unter den Füssen. Gar manche der Grundpfeiler, auf denen die Weltanschauung unserer Väter ruhte, sind angefressen vom Zahn der Zeit. Gar manche haben sich bereits als morsch erwiesen und alle sind sie bedroht von der im Widerstreit der Meinungen beständig anschwellenden Brandung, die um die Fundamente tobt. Hoch spritzt der Gischt, die Wogen heulen in schäumendem Schwall; die Luft ist gefüllt mit fremdartigen Stimmen; betäubend, verwirrend. Und doch müssen wir hinaus in’s aufgewühlte Meer, in Wogenschwall und Sturmgebraus, den rettenden Hafen suchen; die Heimath einer neuen Weltanschauung, denn in der alten ist kein Bleiben länger. Auf dieser mit den Hoffnungsgütern der Zukunft befrachteten Barke, wer wird das Steuer führen? Wessen Arm ist stark genug, ihm diese Paladien anzuvertrauen, wessen Auge klar und scharf, die Leitsterne zu erkennen? Vertrauen wir
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dem Zeitgeist, er selber, wenn die Zeit gekommen, zeichnet sie, die Männer der Zeit, und sie treten heran, die Heroen der Kultur, das auszusprechen und zu formuliren, was allgemein und unbestimmt gefühlt. Auch in unserer Wissenschaft vom Menschen werden sie uns nicht fehlen. Unter den von ihr geweihten Sendboten steht voran er, den wir heute feiern, er, der Leiter auf der Forschung neuer Bahnen, Rudolph Virchow!17
Weniger überschwenglich, weniger prophetisch fällt die Erwiderung des „Sendboten“ aus. In seiner Dankesrede erzählt der Jubilar Virchow aus dem mühevollen Alltag des heiligen Unternehmens, von dem profanen, steinigen Pfad zur künftigen großen Erkenntnis: Unsere Wissenschaft verlangt viel Arbeit, Ausdauer, Pedanterie und Nüchternheit. Und diese Pedanterie und Nüchternheit habe ich versucht, allmählig in Mode zu bringen. Als ich begann, herrschte das System der Natur-Philosophie und als wir unseren Kampf gegen sie zu führen begannen, haben wir kühn manchen strammen Streich geführt und der Freiheit eine Gasse gebahnt. Dahinter aber kam unsere nüchterne Methode, die wir heute noch haben, zur Geltung. Zwar wird Mancher sagen, dass dies eine langweilige Methode sei, aber wir sind doch stolz darauf, dass wir sie besitzen. Aber es gehört die Mitarbeit Vieler dazu, um unsere Methode durchzuführen, die Arbeit muss zur Genossenschaftsarbeit werden. Darum habe ich angefangen mit als einer der Ersten, diese Art des Zusammenwirkens einzurichten. […] Wenn es auf solche Weise gelingt, Erfolge zu erringen, so wird die ganze Sache wissenschaftlich registrirt und dann wird das ganze derartige Material wissenschaftlich gesammelt und kommt in den „JuliusThurm der Wissenschaft“ aber es bedarf keines Krieges, um es wieder unter die Leute zu bringen. […] So sind wir allmählich weitergekommen und ich muss das auch zur Ehre meiner Schule sagen, dass wir alle die Thatsachen wohl zu erwägen und Gerechtigkeit nach allen Seiten zu üben gelernt haben. Unsere Wissenschaft ist eben allseitig, sie gehört nicht einem engen Kreis, einer einzelnen Nation an, sie ist human und gehört der Welt. Ich habe neulich erst in Tiflis darauf hingewiesen, dass die Medicin in regelmässiger Reihenfolge der Entwickelung ihren historischen Gang genommen hat, dass sie, von den Euphratländern ausgehend durch die Araber den Abendländern überliefert wurde und von diesen zurückkehrend jetzt wieder neuerdings bis nach Tiflis gelangt ist. Meinen Freunden von der Anthropologie, die […] meist selbst von der Medizin ausgegangen sind, habe ich zu sagen, dass die Medizin auf Anthropologie basirt, ja dass sie die praktische Anthropologie ist. In den schönen Tagen meines Würzburger Aufenthaltes, wo die strenge Methode geübt wurde, sassen Männer wie Bastian, Semper und dann auch Nachtigal daselbst und wir haben uns bemüht,
17 Adolf BASTIAN, Rede anläßlich des 60. Geburtstages von Rudolf Virchow in Berlin am 19. November 1881, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, [Beilage zu] Zeitschrift für Ethnologie 13 (1882), S. 2-3, hier S. 2-3.
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soweit es an uns war, die strenge Methode auch in die Anthropologie hineingetragen [sic].18
Zwischen der zweiten und dritten Bedeutung von „jung“, also zwischen der theoretischen Erwartungshaltung einerseits und dem empirischen Mahnruf andererseits, besteht ein spannungsgeladenes Verhältnis, das der Gründerzeit der modernen Anthropologie ihre charakteristische Dynamik verleiht. Denn gerade das positivistische Ethos ist keineswegs auf einen als Selbstzweck verstandenen Faktenfetischismus reduzierbar, sondern steht im Zeichen der Erwartungen, aus diesen Tatsachen allgemeine Gesetze gewinnen zu können. Wenn nun die gehorteten Tatsachen nicht zu uns sprechen und uns jene ersehnten Gesetze verkünden, tritt eine erste Ernüchterung ein. Das Nichterreichen des Zieles führte jedoch – zumindest in der Anfangphase der modernen Anthropologie – nicht zu einer Abkehr von den gewählten Mitteln oder zu einem Zweifel an den hochgesteckten Zielen, sondern bewirkte im Gegenteil, daß man sich der gleichen Mittel, dem Sammeln und Sichten von Tatsachen, mit noch größerem Fleiß bediente. Da wir nicht wissen, noch nicht wissen, was wir brauchen, müssen wir mehr wissen. Fakten werden gesammelt, ein Steinhaufen zusammengetragen, in eine vorläufige Ordnung gebracht, die Lösung der großen Fragen scheint unmittelbar bevorzustehen. Einige Fakten noch, doch diese erweisen sich als hartnäckig, passen nicht dazu. Immer schneller dreht sich die historistische Teufelsspirale. Der Historismus qua Positivismus verstärkt den Historismus qua Relativismus und umgekehrt.19 Einige brechen aus diesem Teufelskreis aus. Sie glauben, schon genug gesehen, immer das Gleiche auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen entdeckt und somit das große Rätsel der Weltgeschichte ein für alle Mal entschlüsselt zu haben. Sie bleiben stehen, verkünden ihre Lehre mit der Vehemenz des Propheten. Das nur in seinen Formen so vielgestaltige, im Wesen jedoch mit eherner Notwendigkeit sich wiederholende Völkerleben erkannt, belächeln sie die eifrige Strebsamkeit, den Götzendienst am Faktischen der anderen. Diese hasten inzwischen weiter, horten mehr Tatsachen, der Steinhaufen wächst, für sie wird es immer schwieriger, Ordnung und Übersicht zu behalten. Endlich, schon etwas unvermutet, scheint sich eine Lösung der großen Fragen anzukündigen, Aufatmen, kurzzeitiges Innehalten, doch unbarmherzig wird diese von neuen Fakten widerlegt, zerstört. Die rastlose Suche, das Sammeln von Tatsachen geht weiter, droht immer mehr zum 18 Rudolf VIRCHOW, Dankesrede anläßlich der Festreden zu seinem 60. Geburtstag, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, [Beilage zu] Zeitschrift für Ethnologie 13 (1882), S. 3-5, hier S. 4. 19 Vgl. hierzu Gunter SCHOLTZ, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis: Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 132-133.
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Selbstzweck zu werden. Unbemerkt schreitet die Säkularisierung des Positivismus in der Anthropologie voran. Die Lösung der großen Fragen wird auf morgen verschoben, dann in unbestimmte Ferne gerückt. Eines Tages, vielleicht, werden die großen Fragen von künftigen Forschern doch noch beantwortet werden können. Nicht ohne einen Anflug tiefer Verunsicherung und Resignation sucht man in dem Gedanken für diese glücklicheren kommenden Generationen wissenschaftlicher Forschung die unabdingbare Vorarbeit zu leisten. Gegenwärtig bliebe einem nichts anderes übrig, als sich mit der Erkenntnis abzufinden, daß der profane Weg uns noch nicht zum sakralen Ziel führt. Im folgenden möchte ich den ersten Akt dieses historistischen Dramas innerhalb der Anthropologie erörtern; jene Phase, in welcher der Optimismus und die Aufbruchsstimmung noch weitgehend ungebrochen waren und in der sich die Pioniere der anthropologischen Forschung voller Zuversicht an die Arbeit machten, um die Gesetze der Menschheitsgeschichte zu ermitteln. Das erste „große Gesetz“, das die moderne Anthropologie in ihren Untersuchungen lauthals verkündete oder auch stillschweigend, ohne näheren Kommentar, gleichsam als Selbstverständlichkeit, ihren Untersuchungen zugrundelegte, war der Gedanke einer kontinuierlichen Entwicklung, die über viele Stufen von den „Naturvölkern“ zu den „Kulturvölkern“ führte. Um den die anthropologische Gründerzeit auszeichnenden Entwicklungsgedanken, der untrennbar mit dem naturwissenschaftlich-technischen Zeitgeist und dem Fortschrittsoptimismus dieser Epoche verbunden ist, in seiner Vielgestaltigkeit darzustellen, soll im folgenden eine ideengeschichtliche Untersuchung des Zeitraums von 1854 bis 1871 vorgenommen werden. Als Eckdaten dienen hierbei die Entdeckung der Pfahlbauten in der Schweiz im Jahre 1854 bzw. das Erscheinen von Darwins Abstammung des Menschen (1871). Hierbei möchte ich die „Ereignisse“ der Jahre von 1854 bis 1860 detailliert schildern. Die folgenden Jahre von 1861 bis 1869 werden im „Telegrammstil“ zusammengefaßt werden. Die letzten zwei Jahre dieses Zeitraumes, also die Jahre 1870 und 1871, sollen sodann wieder ausführlich erörtert werden. Einige kurze Bemerkungen zu dieser vielleicht etwas ungewöhnlich anmutenden Darstellungsweise seien hier gestattet: Vorrangiges Ziel des folgenden chronologischen Abschnitts ist es, einige ideengeschichtliche Meilensteine der Schlüsselperiode der modernen Anthropologie zu erörtern und diese in einen realgeschichtlichen Kontext einzubetten. Um eine reine bibliographische Auflistung von wichtigen Werken und eine Anhäufung relevanter Daten zu vermeiden, erschien es mir sinnvoll, die Ereignisse einiger Jahre ausführlich zu schildern. Zugleich wollte ich jedoch vermeiden, daß sich dieser Abschnitt allzu sehr in die Länge zieht. Deshalb habe ich mich für die „Mischform“ aus detaillierter Darstellung und „Telegrammstil“ entschieden. Den gesamten Zeitraum hindurch einen „braven Mittelweg“ zu beschreiten und als Kom-
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promiß alle Jahre in der gleichen, „mittleren Länge“ zu präsentieren, wollte ich nicht. Dies hätte es mir nicht ermöglicht, die für ein Verständnis der Geistesströmungen dieses Zeitraums unverzichtbaren „Tiefbohrungen“ vorzunehmen. Ausdrücklich sei auch betont, daß eine gewisse Redundanz durchaus beabsichtigt ist, da gerade durch diese die ungemeine Strahlkraft zum Ausdruck gebracht werden soll, welche der Entwicklungsgedanke in der anthropologischen Gründerzeit entfalten konnte. Im landläufigen Verständnis des 19. Jahrhunderts mußte ein „Naturgesetz“ sowohl im Kleinen als auch im Großen am Werke sein. Indem nun der Entwicklungsgedanke das Kleine – also das „Primitive“ – als eine unreife Form des Großen – also des „Zivilisierten“ – konzipierte, erfüllte er diese zentrale Bedingung. Zugleich stellte er das „Primitive“ jedoch auch als eine vom „Zivilisierten“ durch unzählige Zwischenschritte weit entfernte Lebensweise dar und stand somit im Einklang mit den realgeschichtlichen Erfahrungen und der Gedanken- und Gefühlswelt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das durch Fortschritte im Bereich der Medizin, der Technik und des Verkehrs geprägt war, die den Alltag der Menschen entscheidend umgestaltet hatten. Neben den in meiner Chronologie enthaltenen Hinweisen auf die Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihrer technologischen Anwendung sowie einiger knapper Anmerkungen zur politischen Geschichte werde ich auch einige literarische Kostproben „verwerten“, um unterschiedliche Aspekte meines Themas, die naturwissenschaftliche Ausrichtung der „jungen“ Anthropologie sowie die Dominanz des Fortschritts- und Entwicklungsgedanken, zu beleuchten und zu veranschaulichen. Die realgeschichtliche Einbettung, die literarischen Beispiele, deren Auswahl neben dem freilich vorherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse auch durch persönliche Vorlieben bestimmt war, sowie die Absicht, den Entwicklungsgedanken der anthropologischen Gründerzeit in seinem ideengeschichtlichen Reichtum zu skizzieren, mögen als Erklärung für die Ausführlichkeit des Abschnitts dienen. Nach der Chronologie werde ich in einem „synthetischen“ Kapitel einige Leitgedanken zusammenfassen und wissenssoziologisch analysieren. Nun jedoch möchte ich ein klein wenig erzählen, wie es in den „wilden“ Jahre der Anthropologie eigentlich gewesen ist.
B. Quellen und Anal ysen z ur Gründerzeit der Anthropologie: Die „w ilden“ Jahre de r „jungen“ Wissensc ha ft zw ischen 18 54 und 1871
Das Jahr 1854 Die Entdeckung der Pfahlbauten – die Gebirgseisenbahn über den Semmering – ein Mungo Park der menschlichen Seele – ein polygenistischer Klassiker der amerikanischen Anthropologie
Als im Winter 1853/54 der Spiegel der Schweizer Seen und Flüsse aufgrund einer lang anhaltenden Trockenheit auf den tiefsten Stand seit fast zweihundert Jahren gesunken war, gingen die Seebewohner daran, Teile des seichten und schlammigen, teilweise bereits trockenen Seebodens auszubaggern, Mauern und Dämme aufzuziehen, um kleine Häfen zu errichten. Im Zuge dieser Arbeiten stieß man in der Nähe von Obermeilen am Züricher See auf eine dunkle, torfartige Erdschicht, in der sich außer vermodertem Laub und Gras, Massen aufgeknackter Haselnüsse, ferner Gegenstände aus Stein, Horn und Knochen fanden. Zwischen alledem ragten eingerammte Pfähle aus Eichen-, Buchen-, Birken- und Tannenholz hervor, welche offenbar in Reihen angeordnet waren.20
Ferdinand Keller (1800-1881), der Präsident der Zürcherischen Antiquarischen Gesellschaft, erkannte, daß es sich bei diesen Funden nicht um zufällige Ablagerungen, sondern um die Überreste alter Seewohnungen, um
20 Moriz HOERNES, Die Urgeschichte des Menschen nach dem heutigen Stande der Wissenschaft, Wien-Pest-Leipzig: A. Hartleben’s Verlag 1892, S. 34.
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„Wohnstätten der Steinzeitmenschen“ handelte.21 Schon sein erster „Pfahlbaubericht“, den er im Jahre 1854 in den Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich veröffentlichte, erregte in der Fachwelt großes Aufsehen.22 Keller stellte die Behauptung auf, daß schon in grauer Vorzeit wider Erwarten Menschen, wahrscheinlich keltischer Abstammung, an den untiefen Stellen am Rande der schweizerischen Seen in Hütten auf Pfählen gesiedelt und sich von Fischfang und Jagd, aber auch von Feldbau ernährt hätten.23 Keller vermutete, daß auch an anderen Seeufern frühe Siedlungen existiert haben könnten und ermutigte seine Kollegen, sich der noch in den „Kinderschuhen“ steckenden „Prähistorie“ – der Zeit vor der Geschichte – nördlich der Alpen anzunehmen. Es gelte, Fischer, Schiffer und Seebewohner in der Schweiz nach dem Vorkommen von „Pfählen“ und siedlungsähnlichen Überresten zu befragen und systematisch nach Spuren menschlicher Überreste zu suchen. Schon bald sollte dieses Unternehmen von Erfolg gekrönt sein.24 Bis zum Jahre 1866 wurden in der Schweiz rund zweihundert uralte „Seestationen“ freigelegt, fast fünfzig allein am Neuenburger See.25 Bei Robenhausen am kleinen Pfäffiker See, Kanton Zü21 Rudolf VIRCHOW, Ueber Hünengräber und Pfahlbauten. Nach zwei Vorträgen im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, gehalten am 14. und 18. December 1865, in: Rudolf VIRCHOW, Franz von HOLTZENDORFF (Hg.), Sammlung gemeinverständlicher Vorträge, I. Serie, Heft 1-24, Berlin: C. G. Lüderitz’sche Verlagsbuchhandlung 1866, S. 5-36, hier S. 21. Zu Keller vgl. G. Meyer von KNONAU, Ferdinand K. Keller, in: Allgemeine Deutsche Biographie 15, Leipzig: Duncker u. Humblot 1882, S. 563-568. Im folgenden abgekürzt als ADB. 22 1866 erschien die von John E. Lee übersetzte englische Fassung von Kellers Pfahlbauforschungen unter dem Titel The Lake Dwellings of Switzerland and Other Parts of Europe. 23 HOERNES, Urgeschichte des Menschen, S. 34. 24 Rudolf Virchow, der umtriebige Organisator wissenschaftlicher Großprojekte, fand lobende Worte für die Kellersche Initiative: „Gerade die kleinen Völker zeigen uns, wie viel in menschlichen Dingen geleistet werden kann, wenn die Forschung des Gelehrten getragen wird nicht bloß von einem gebildeten, sondern auch von einem zu thätiger Mithülfe geneigten Volke. Intelligenz verbindet sich leider nur zu oft in großen und zusammengesetzten Staaten mit einer gewissen Indolenz: man läßt die Sachen gehen, aber man kritisirt sie. In kleineren Verhältnissen wird der Bund zwischen Gelehrsamkeit und thätigem Handeln, zwischen Wissen und Können enger, und darum findet man in kurzen Zeiträumen Größeres.“ Vgl. VIRCHOW, Ueber Hünengräber und Pfahlbauten, S. 22. 25 Schon wenig später fand man Pfahlbauten auch in den Seen, Sümpfen und Torfmooren der schwäbisch-bayerischen Hochebene (Chiemsee, Schliersee u. a.), im Rhein- und Maintal, in Mecklenburg, in Pommern, in Litauen, im Laibacher Moor, am Neusiedlersee, in den Seen des Salzkammergutes und Kärntens, in den östlichen Pyrenäen, in Südfrankreich und Savoyen sowie an zahlreichen oberitalienischen Seen (Lago di Garda, Lago Maggiore u. a.). Vgl. Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens 13, [Eintrag:] Pfahlbauten, Leipzig-Wien: Bibliographisches Institut 5 1897, S. 754-755. Im folgenden abgekürzt als MKL. Zu den wichtigsten Pfahlbauforschern zählten in der Schweiz neben Keller u. a. Ludwig Rüti-
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rich, stieß man auf 100.000 Pfähle. Bis zu 5.000 Pfahlbauern, so meinte man, hätten diese Siedlungen im See umfaßt. Nach Rudolf Virchow war Kellers Entdeckung der „am meisten entscheidende […] Schritt zur Aufhellung des Menschenlebens der Vorzeit“.26 Schon bald geriet die Kellersche These, daß es sich bei den Pfahlbauern um Kelten handle, ins Wanken. Nicht einmal diesem vermeintlich ältesten „Culturvolk“ Mitteleuropas schienen sich diese sensationellen Funde zuschreiben zu lassen. Die Pfahlbauern waren geschichtliche Waisen, standen außerhalb jenes Zeitraums, mit dem sich die herkömmliche Historie und klassische Archäologie befaßt hatte. Diese Seebewohner waren ein Beweis, „daß das Menschengeschlecht schon Jahrtausende vor der historischen Zeit eine verhältnißmäßig so hohe Stufe der Cultur einnahm, um solche Wohnstätten (mit allem Zubehör) errichten zu können“.27 Als zwischen den Pfählen von Menschenhand gefertigte Erzeugnisse zu Tage traten, die „nicht mehr bloß Manufakte, sondern wirklich Artefakte waren und als man fragte, woher sind sie gekommen, welchem Volke können sie angehört haben, da ergab sich, dass keine Möglichkeit vorhanden war, sie mit einem historischen Volke in Zusammenhang zu bringen, da kam man an dem Grenzpunkte an, wo die überlieferte Geschichte, das, was man bis dahin als die Grenze menschlichen Wissens betrachtet hatte, unzureichend wurde; man musste hinausgehen über die Geschichte und so entstand die Prähistorie.28
Nicht die Historiker, nicht die Philologen und auch nicht die klassischen Archäologen drangen jedoch in dieses noch unbeackerte Gebiet der Prähistorie vor, sondern die Geologen, Paläontologen, Zoologen, Botaniker und Anatomen. Es war die Naturforschung, die sich dieses herrenlosen Zeit-
meyer, Johann Peter Eduard Désor, in Deutschland Georg Ch. Fr. Lisch und in Österreich Gundaker Graf Wurmbrand, Matthäus Much und Eduard Baron von Sacken. 26 VIRCHOW, Ueber Hünengräber und Pfahlbauten, S. 21. Zur Entdeckung der Pfahlbauten vgl. auch Friedrich A. LANGE, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, Leipzig: Verlag von Reclam jun. o. J. [Vorwort Januar 1875], S. 406-407. 27 Ludwig BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oder: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, Leipzig: Verlag Theodor Thomas 21872, S. XIV [der Anmerkungen, Erläuterungen und Zusätze]. 28 Rudolf VIRCHOW, Eröffnungsrede [zur Versammlung der Deutschen und Wiener Anthropologischen Gesellschaft in Innsbruck im Jahr 1894], Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 25,9 (1894), in: Archiv für Anthropologie: Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 23 (1895), S. 80-87, hier S. 81. Im folgenden verwende ich für diese Zeitschrift den Kurztitel „Archiv für Anthropologie“.
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raums vor der Geschichte annahm; die Naturforschung, so Schaaffhausen, habe die Spur des Menschen in eine Zeit zurückverfolgt, die jenseits aller geschichtlichen Ueberlieferung liegt, sie hat das Alter unseres Geschlechts in jene Vorzeit zurückgeschoben, in der der europäische Mensch mit den Höhlenthieren des Diluviums kämpfte, und nicht nur das Fleisch des Mammuth und des Nashorn ass und das Mark ihrer Knochen verzehrte, sondern auch als Kannibale sich am Fleische des eigenen Geschlechts vergriff, in eine Zeit, da er in unseren Gegenden zwischen Gletschern seine Rennthierheerden weidete, oder auch auf den Pfahlbauten unserer Seen lebte, oder Muschelhaufen, die Reste seiner Mahlzeit, an den nordischen Küsten aufschichtete.29
Immer wieder spiegelt sich in den frühen Berichten über die prähistorischen Funde ein selbstbewußter naturwissenschaftlicher Ressortimperialismus wider. Immer wieder betonen die Naturforscher, daß die geisteswissenschaftlichen Altertumsforscher stumm und hilflos vor den neuen Aufgaben stünden, unfähig sie mit ihren Methoden zu bewältigen. In fast allen Teilen von Europa, so der österreichische Prähistoriker Hoernes, wandten sich die Naturforscher mit großem Eifer diesem herrenlosen Gebiet zu: Man proclamirte mit Entschiedenheit die Geltung der inductiven – d. h. bei emsiger Detailarbeit zuwartenden, aller subjectiven, von oben herab generalisirenden Einflüsse entkleideten – naturwissenschaftlichen Methode für dieses neue Wissensgebiet. Vor allem machten sich bedeutende Geologen und Paläontologen ans Werk, der stummen Sprache jener oft so unscheinbaren, der Erde entnommenen Fundstücke Worte zu leihen.30
Die Herrschaft der Philologie, so Hoernes, habe „jetzt ihr Ende erreicht“, ihr Reich habe „seine natürlichen Grenzen gefunden“. Die „größten Triumphe“ unserer Zeit gehörten der Technik und der Naturwissenschaften. „Das moderne naturwissenschaftliche Princip, das Princip der Induction“ ziehe „die greifbaren Zeugnisse der alten Cultur gegenüber der geschriebenen Ueberlieferung“ vor. Mit Begeisterung widme man sich gegenwärtig der Erforschung desjenigen, „was die alten Völker durch die Kunstfertigkeiten ihrer Hände hervorgebracht haben“. Auf diesem Wege sei die Prähistorie entstanden, „ein echtes Kind unserer Zeit, und darum dürfen wir sie nicht ohne eine gerechtfertigte Vorliebe als Fleisch von dem Fleische unseres Jahrhunderts betrachten“.31 Im Jahr der Entdeckung der Pfahlbauten wurde in Österreich die erste 29 Hermann von SCHAAFFHAUSEN, Ueber die anthropologischen Fragen der Gegenwart, in: Archiv für Anthropologie 2 (1867), S. 328-341, hier S. 331. 30 HOERNES, Urgeschichte des Menschen, S. 38-39. 31 Vgl. ebenda, S. 39.
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Gebirgseisenbahn über die Alpen eröffnet. Geplant von dem in Venedig geborenen Ingenieur Karl Ritter von Ghega (1802-1860) galt dieses 1848 in Angriff genommene Eisenbahnprojekt über den Semmering als eine verkehrstechnische Meisterleistung. Durch das Ausfahren der Seitentäler und das Umfahren des Gebirgsrückens sowie durch eine große Zahl an Tunneln und Viadukten gelang es Ghega, eine kontinuierliche Steigung zu erreichen und so die Eisenbahn über den knapp 900 Meter gelegenen Scheitelpunkt zu führen. Die höchste Steigung, welche die Semmeringbahn bewältigte, betrug 25 Meter auf 1.000 Meter. Zuvor erreichte Steigungen hatten 5 Meter auf 1.000 Meter betragen.32 Die Semmeringbahn ermöglichte eine viel schnellere Verbindung zwischen der Hauptstadt der Monarchie und dem Hafen von Triest; einer Stadt, die in der Monarchie als die Lunge bezeichnet wurde, mit der Österreich die Luft des Weltverkehrs atmen konnte. Nur 29 Jahre waren vergangen seit in England die erste der Personenbeförderung dienende, von George Stephenson (1781-1848) konstruierte Dampflokomotive namens „Locomotion“ und nur 17 Jahre seit in Österreich die erste Eisenbahnstrecke zwischen Floridsdorf bei Wien und Deutsch-Wagram im niederösterreichischen Marchfeld in Betrieb genommen worden waren. Die erste österreichische Eisenbahnfahrt betrug für eine Strecke etwas weniger als eine halbe Stunde. Einige Jahre nach Ghegas Tod wurde ihm zu Ehren auf dem Semmeringpaß ein Denkmal errichtet: „Durch die Eisenbahnen“, so lautet die Inschrift, „verschwinden die Distanzen. Die materiellen Interessen werden gefördert, die Kultur gehoben und verbreitet“.33 Mit der Semmeringbahn wurde ein Gebiet verkehrstechnisch erschlossen und schon bald zu einem beliebten Kurort, das Franz Grillparzer in einem Brief an Kathi Fröhlich vor dem Eisenbahnbau noch als „Wildnis, […] die zu durchreisen ich als schauerliche Marter empfand“, bezeichnet hatte.34 Durch die Entwicklung des Verkehrswesens und der Technik erschien das „Primitive“ räumlich immer näher, zeitlich jedoch entfernte es sich immer mehr und sein Untergang vor der rollenden und dampfenden Zivilisation wurde als unausweichlich angesehen. Im folgenden seien nur einige Zahlen angeführt, um diesen für die „Fortschrittsidee“ der anthropologischen Gründerzeit so bedeutsamen realgeschichtlichen Hintergrund im Verkehrswesen zu erhellen. Im Jahr 1830 betrug die Länge des weltweiten Eisenbahnnetzes 332 Kilometer, 32 Vgl. Das Kulturinformationszentrum des bm: bwk (Online), AEIOU: Österreich Lexikon, Stichwort: Semmeringbahn, in: http://www.aeiou.at/aeiou. encyclop.s/s530144.htm (Zugriffsdatum 18. November 2003). 33 Walter KLEINDEL (Hg.), Die Chronik Österreichs, Dortmund: Chronik Verlag 21985, S. 370. 34 Franz Grillparzer zit. nach Csaba SZEKELY, Manfred TUSCHEL, 1 x Semmering und retour. Bahnplaudereien. Wien: Österr. Bundesverlag 1984, S. 105.
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zehn Jahr später 7.679 Kilometer, im Jahr 1850 38.600 Kilometer, im Jahr 1860 108.012 und im Jahr 1870 war der eiserne Gürtel bereits auf 209.789 Kilometer angewachsen.35 Entlang der Eisenbahnenstrecken legte man Telegraphenleitungen an. Dies bedeutete natürlich eine ungemeine Beschleunigung der Kommunikationsmöglichkeiten. Die Gesamtlänge der Telegraphenleitungen zwischen 1851 und 1869 vergrößerte sich in den USA von 22.000 auf 250.000 Kilometer, in Preußen und den übrigen deutschen Staaten von 4.800 auf 104.000 Kilometer.36 In einer in vielen österreichischen Lesebüchern enthaltenen Erzählung aus seinem Leben als Waldbauernbub schildert Peter Rosegger (18431918) auf humorvolle Weise, welche Wirkungen die erste Gebirgseisenbahn auf die von der urbanen Zivilisation und dem technischen Fortschritt weitgehend abgeschnittenen, wunderlichen und „primitiven“ Älpler seiner Heimat hatte.37 Gemeinsam mit seinem Oheim, dem Knierutscher-Jochem, einem Mann, dem „das Wenige von Menschenwerken, was er begreifen konnte […] göttlichen Ursprungs; das Viele, was er nicht begreifen konnte […] Hexerei und Teufelsspuk“ schien, plante der Waldbauernbub eine Wallfahrt nach Maria Schutz am Semmering.38 Der Vater, um Erlaubnis gefragt, meinte: „‚Meinetweg‘, […] da kann der Bub gleich die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das Loch durch den Berg soll schon fertig sein. ‚Behüt’ uns der Herr‘ rief der Jochem, ‚daß wir das Teufelswerk anschau’n! ’s ist alles Blendwerk, ’s ist alles nicht wahr.‘“ Vorsichtshalber entschied sich der Oheim jedoch auf dem Fußmarsch zum Wallfahrtsort, einen Umweg einzuschlagen, „um ja dem Tale nicht in die Nähe zu kommen, in welchem nach der Leut’ Reden der Teufelswagen auf und ab ging“. Nachdem die beiden Wallfahrer aufgebrochen und auf einer Berghöhe angekommen waren, blickten sie hinab und sahen plötzlich „einer scharfen Linie entlang einen braunen Wurm kriechen, der Tabak rauchte. ,Jessas Maron!‘ schrie der Jochem, ,das ist schon so was! spring’ Bub!‘ – Und wir liefen die entgegengesetzte Seite
35 Vgl. A. R. L. GURLAND, Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang zum Zeitalter der Industrie, in: Golo MANN (Hg.), Das neunzehnte Jahrhundert, Berlin-Frankfurt-Wien 1960 (= Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte 8), S. 279-336, hier S. 316; MKL 5, 51897, [Eintrag:] Eisenbahn, S. 508-517; Eric HOBSBAWM, The Age of Capital, London: Abacus 1997 [1975], S. 64-87; Verkehr und Verkehrswesen; in: Hans KRAEMER (Hg.), Das XIX. Jahrhundert in Wort und Bild: Politische und Kultur-Geschichte, Zweiter Band: 1840-1871, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J. [um 1900], S. 415-432. 36 Ferd. HENNICKE, Post und Telegraphie, in: KRAEMER (Hg.), XIX. Jahrhundert, Politische und Kultur-Geschichte, 1840-1871, S. 475-488, hier S. 487. 37 Peter ROSEGGER, Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit 2: Der Guckinsleben. Als ich das erstemal auf dem Dampfwagen fuhr, Leipzig: L. Staakmann Verlag 1943 (= Ausgewählte Werke 2), S. 199-207. 38 Ebenda, S. 199.
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des Berges hinunter.“39 Am Abend gelangten die beiden Wallfahrer vor einen riesigen „Schutthaufen und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. Das Loch war schier so groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß und Schick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in den Berg hinein.“ Der Knierutscher-Jochem stand eine lange Zeit stumm und kopfschüttelnd da. Schließlich meinte er: „‚Jetzt stehen wir da. Das wird die neumodische Landstraßen sein. Aber derlogen ist’s, daß sie da hineinfahren!‘“ Plötzlich vernahm der Bub ein Gebrumm und ein leichtes Beben der Erde. „Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. Und hintenher – ,Kreuz Gottes!‘ rief der Jochem, ,da hängen ja ganze Häuser dran!‘“40 Gerade als der Waldbauernbub dachte, daß „kein Herrgott“ dieses „kohlenschwarze[…] Wesen“ aufhalten könne, rief sein Oheim verzweifelt aus: „‚Jessas, Jessas, jetzt fahren sie richtig ins Loch!‘ Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe […] verschwunden.“ Jochem wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und wandte sich fragend an seinen jungen Begleiter: „‚Hast du’s auch gesehen, Bub?‘ ,Ich hab’s auch gesehen.‘ ,Nachher kann’s keine Blenderei gewesen sein,‘ murmelte der Jochem.“41 Später am Abend, im Gasthaus auf dem Semmering, meinte Jochem, dem aller Appetit vergangen war: „’s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag’ die Leut’ treiben.“42 Ein Handwerksbursche, der eben vorbeiging, sagte: „Sie tun mit der Weltkugel kegelschieben.“ Während in den steirischen Alpen Knierutscher-Jochem und der Waldbauernbub über ihre erste abenteuerliche Begegnung mit dem schnaubenden „kohlschwarzen Wesen“, das ganze Häuser zog, staunten, veröffentlichte im fernen Amerika der Harvard-Absolvent Henry David Thoreau (1817-1862) seine autobiographische Erzählung Walden (1854).43 Den Großteil dieser Erzählung hatte Thoreau verfaßt, während er allein an einem See, am Walden Pond, in Massachusetts in einer einfachen Blockhütte lebte, die er selbst gebaut hatte. Seinen Lebensunterhalt hatte er sich, dessen Eltern entschiedene Gegner der Sklaverei gewesen waren, verdient „by the labour of my hands only“.44 „At present“, schreibt Thoreau, „I am a sojourner in civilised life again“.45
39 40 41 42 43
Ebenda, S.200. Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 202. Ebenda, S. 203. Henry D. THOREAU, Walden. With an introductory note by Will H. Dircks, London-New York: The Walter Scott Publishing Co., Ltd. o. J. [Vorwort vom März 1886]. Teile der Autobiographie erschienen bereits 1852 in Sartain’s Union Magazine. 44 Ebenda, S. 1. 45 Ebenda.
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Thoreau, befreundet mit Ralph W. Emerson, hatte sich entschlossen, der Zivilisation den Rücken zu kehren und, ausgestattet mit einer geborgten Axt, in die Wälder zu gehen. Er wollte versuchen, ein Leben in Einfachheit und Einsamkeit zu führen. Mehr als zwei Jahre blieb er in seiner Holzhütte, baute Bohnen und andere Nährpflanzen an, meditierte, beobachtete die Natur, vor allem den von ihm so geliebten See, dachte über das Leben im Allgemeinen und das moderne Leben im Besonderen nach, las und schrieb. In seiner Hütte hatte er drei Stühle; einen für Einsamkeit, zwei für Freundschaft, drei für Gesellschaft. Gerade die Beschleunigung des ökonomisch-technologischen Wandels in Neuengland vertrieben den zivilisationsmüden Thoreau aus seinem Heimatort. In Abgeschiedenheit wollte er darüber nachdenken, was zum Leben wirklich notwendig sei und wie die wahren Bedürfnisse befriedigt werden könnten. Thoreau ist einer der großen Häretiker des Fortschrittsglaubens im 19. Jahrhundert. Aber gerade seine vehemente Abneigung gegen den neo- und technophilen Zeitgeist sowie sein Plädoyer für ein einfaches Leben sind selbst ein Erzeugnis der im Entstehen begriffenen neuen Welt, in der Technik und Wissenschaft im Alltag ungemein an Bedeutung gewinnen. Als Atheist, oder besser als Agnostiker und Kritiker, des technischen Fortschritts steht gerade dieser selbst im Zentrum des Denkens und Fühlens von Thoreau. Wie der ihm seelenverwandte Tolstoi wird sich auch Thoreau entschieden gegen den Irrglauben wenden, daß der Weg zum glücklichen und guten Leben nur über die immer größere Beherrschung, Ausnützung und Dienstbarmachung der Natur und die immer bessere Ausnützung der Naturkräfte führe. Keineswegs fordert Thoreau eine Preisgabe aller zivilisatorischen Errungenschaften. Er ist kein in der Befriedigung von Primärbedürfnissen schwelgender Anti-Intellektueller. Er will nur, daß der Fortschritt nicht zum Selbstzweck gerät, nicht über das Wesentliche im menschlichen Dasein, über die Fähigkeit zum Innehalten und zur philosophischen Reflexion hinwegrollt. „The improvements of ages“, hatte nach Thoreau, „little influence on the essential laws of man’s existence: as our skeletons, probably, are not to be distinguished from those of our ancestors“.46 Bekanntlich hat Thoreau auch dem modernen Staat den Gehorsam verweigert. Der Staat trage selbst entscheidend zu jenen Übeln bei, die zu heilen er vorgebe. Thoreau war zu pazifistisch gesinnt, um Terrorist zu werden. Er wollte nicht „Amok“ laufen und bevorzugte es, daß die Gesellschaft gegen ihn „Amok“ laufe.47 Immer wieder wird Thoreau seinen Blick den „savages“ zuwenden und fragen, was sie zum Leben brauchten. Hatte nicht Darwin gezeigt, daß die Feuerlandbewohner trotz der äußerst spärlichen Bekleidung in ihrer unwirtlichen Heimat die Kälte besser ertrugen als die gut gekleidete englische Mannschaft? In Wahrheit sei vieles 46 Ebenda, S. 10. 47 Ebenda, S. 170.
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von dem, was man als Luxus und Komfort erachte, nicht nur überflüssig, sondern ein Hindernis für die „elevation of mankind“. „With respect to luxuries and comforts the wisest have ever lived a more simple and meagre life than the poor. The ancient philosophers, Chinese, Hindoo, Persian, and Greek, were a class then which none has poorer in outward riches, none so rich in inward.“48 Um das Leben von einem weisen und unabhängigen Standpunkt zu betrachten und darüber zu philosophieren, sei „voluntary poverty“ unumgänglich. Bei den „Wilden“ habe jede Familie eine Unterkunft „as good as the best, and sufficient for its coarser and simpler wants“.49 Und wie, fragt Thoreau, ist es bei uns, in den Städten der „Zivilisierten“? Nur ein Bruchteil kann sich ein eigenes Haus leisten. Selbstredend verblassen die Behausungen der „Wilden“ neben den Häusern der „Zivilisierten“. Während aber der „Wilde“ mit nur geringem Aufwand Herr eines eigenes Hauses werde, verbringe der „Zivilisierte“ rund die Hälfte seiner Arbeitszeit nur damit, den Lohn für die Miete oder den Erwerb seines Hauses, „his wigwam“ zu verdienen.50 Auch an den Universitäten lerne man eine Unzahl von Dingen, die man eigentlich nicht brauche. Es gebe immer mehr Studenten, welche die Welt nur durch das Mikro- oder Teleskop kannten und sie nie mit eigenen Augen betrachtet hatten, Studenten, die Kurse in politischer Ökonomie besuchten, ohne die „economy of life which is synonymous with philosophy“ verstanden zu haben.51 Ähnliches gelte für hundert andere „modern improvements:“ there is an illusion about them; there is not always a positive advance. The devil goes on exacting compound interest to the last for his early share and numerous succeeding investments in them. Our inventions are wont to be pretty toys, which distract our attention from serious things. They are but improved means to an unimproved end, an end which it was already but too easy to arrive at – as railroads lead to Boston or New York. We are in great haste to construct a magnetic telegraph from Maine to Texas; but Maine and Texas it may be, have nothing important to communicate. Either is in such predicament as the man who was earnest to be introduced to a distinguished deaf woman, but when he was presented, and one end of her ear trumpet was put into his hand, had nothing to say. As if the main object were to talk fast and not talk sensibly. We are eager to tunnel under the Atlantic and bring the old world some weeks nearer to the new; but perchance the first news that will leak through into the broad, flapping American ear will be that the Princess Adelaide has the whooping cough.52
Er habe sich aus freiem Entschluß in die Wälder begeben, um sich den 48 49 50 51 52
Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 50. Ebenda, S. 50-51.
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„essential facts of life“ zu stellen.53 Er wollte weder resignieren noch im Moment seines Todes erkennen müssen, daß er nicht wirklich gelebt hatte. I wanted to live deep and suck out all the marrow of life, to live so sturdily and Spartan-like as to put to rout all that was not life, to cut a broad swath and shave close, to drive life into a corner, and reduce it to its lowest terms, and if it proved to be mean, why then to get the whole and genuine meanness of it, and publish its meanness to the world; or if it were sublime, to know it by experience, and be able to give a true account of it in my next excursion.54
Durch die immer größeren Möglichkeiten, die sich uns böten, im wilden „Veitstanz“ des modernen Lebens, liefen wir in Gefahr, schwindelig zu werden und die wesentlichsten Dinge des Lebens zu übersehen, ja zu vergessen.55 Um nun einen kühlen Kopf zu bewahren, der es uns ermögliche, über das Wesentliche zu reflektieren, sei eines wichtig: Simplicity, simplicity, simplicity! I say, let your affairs be as two or three, and not a hundred or a thousand; instead of a million count half-a-dozen, and keep your accounts on your thumb-nail. In the midst of this chopping sea of civilised life, such are the clouds and storms and quicksands and thousand-and-one items to be allowed for, that a man has to live, if he would not founder and go to the bottom and not make his port at all, by dead reckoning, and he must be a great calculator indeed who succeeds. Simplify, simplify, simplify. Instead of three meals a-day, if it be necessary eat but one; instead of a hundred dishes, five; and reduce other things in proportion. […] The nation itself, with all its so-called internal improvements, which, by the way, are all external and superficial, is just such an unwieldy and overgrown establishment, cluttered with furniture and tripped up by its own traps, ruined by the luxury and heedless expense, by want of calculation and a worthy aim, as the million households in the land; and the only cure for it as for them is in a rigid economy, a stern and more than Spartan simplicity of life and elevation of purpose. It lives too fast. Men think that it is essential that the Nation have commerce, and export ice, and talk through a telegraph, and ride thirty miles an hour, without a doubt, whether they do or not; but whether we should live like baboons or like men, is a little uncertain.56
Ruhe und Zufriedenheit findet Thoreau vor allem in der Beobachtung der Natur und im Kontakt mit einfachen Menschen. Und immer wieder wird er seinen Blick auch nach innen richten, denn hier meinte er, ein den meisten Menschen unbekanntes Gebiet zu betreten. Direct your eye inward, and you’ll find A thousand regions in your mind 53 54 55 56
Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 90-91.
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Yet undiscovered. Travel them, and be Expert in home-cosmography.57
Während die führenden Nationen der Welt geographische Expeditionen ausstatteten, um unerforschte Gebiete zu erkunden, wird Thoreau zur großen Seelenexpedition einladen. Denn hier, nicht im Herzen Afrikas liege die große Unbekannte. What does Africa – what does the West stand for? Is not our own interior white on the chart, black though it may prove, like the coast, when discovered? Is it the source of the Nile, or the Niger, or the Mississippi, or a North-West Passage around this continent that we would find? Are these the problems which most concern mankind? Is Franklin the only man who is lost, that his wife should be so earnest to find him? Does Mr. Grinnell know where he himself is? Be rather the Mungo Park, the Lewis and Clarke and Frobisher, of your own streams and oceans; explore your own higher latitudes […]. Nay, be a Columbus to whole new continents and worlds within you, opening new channels, not of trade, but of thought. Every man is the lord of a realm beside which the earthly empire of the Czar is but a petty state, a hummock left by the ice.58
Im Jahr der Pfahlbauten, der Semmeringbahn und Thoreaus Walden erschien auch der in der Tradition von Samuel G. Morton (1799-1851) stehende polygenistische Klassiker Types of mankind von Josiah C. Nott (1804-1873) und George R. Gliddon (1809-1857). Neben Nott und Gliddon trug noch eine Reihe anderer namhafter amerikanischer Wissenschaftler zu diesem Buch bei.59 Nach Gerland, einem der berühmten deutschen Anthropologen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, „überfluthete“ dieses 800 Seiten umfassende, mit einem reichen Quellenapparat ausge-
57 Ebenda, S. 318. 58 Ebenda. 59 Der vollständige Titel lautet: Types of mankind or ethnological researches based upon the ancient monuments, paintings, sculptures and crania of races and upon their natural, geographical, philological and Biblical history: illustrated by selections from the inedited papers of Samuel George Morton and by additional contributions from Prof. L. Agassiz, LL. D., W. Usher, M. D., and Prof. H. S. Patterson, M. D. Zur Schule der polygenistischen Anthropologie, insbesondere der amerikanischen von Morton, Nott und Gliddon vgl. John S. HALLER, Outcasts from Evolution: Scientific Attitudes of Racial Inferiority,1859-1900, Carbondale & Edwardsville: Southern Illinois University Press 1995 [1971], S. 74-86; Thomas F. GOSSETT, Race: The History of an Idea in America, New York-Oxord: Oxford University Press 1997 [1963], S. 54-83; Milford WOLPOFF, Rachel CASPARI, Race and Human Evolution, New York: Simon & Schuster 1997, S. 57-97; Marvin HARRIS, The Rise of Anthropological Theory: A History of Theories of Culture, London: Routledge & Kegan Paul 21972, S. 87-95; Stephen J. GOULD, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21994 [Engl. Original 1981], S. 25-72.
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stattete Werk den Einfluß aller vorangegangenen ähnlichen Arbeiten.60 Mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Erscheinen pries auch der große deutsche „Gobineaute“ Ludwig Schemann in seiner dreibändigen geschichtlichen Darstellung über Die Rasse in den Geisteswissenschaften (1928-1931) die Leistungen von Nott und Gliddon. Sie hätten überzeugend nachgewiesen, daß die „niedrigere Kultur der Farbigen […] ebensowenig zu bestreiten [sei] wie die Tatsache, daß die Kaukasier ‚von je und für immer‘ die Führer (rulers) gewesen“.61 Gestützt auf die Lehre unterschiedlicher Schöpfungs- und Abstammungszentren des Schweizamerikaners Louis Agassiz (1800-1873), einem der Mitarbeiter dieses Klassikers, hatten sich Nott und Gliddon entschieden gegen die These einer Arteinheit des Menschengeschlechts und für die Permanenz der Unterschiede zwischen den einzelnen „Rassen“ ausgesprochen. Die Hierarchie der „Rassen“ war in der unterschiedlichen physischpsychologischen Konstitution begründet. Wegen seines großen Gehirns befand sich nach Nott und Gliddon der „Teutone“ an der Spitze dieser unverrückbaren Hierarchie. Die Theologen und jene, die unter der Knute des religiösen Dogmas standen, sollten an ihrem Glauben an eine genealogische Verwandtschaft der „niederen und der höheren Menschenrassen“ ruhig festhalten. Wissenschaftliche Neuerungen, wie die polygenistische Lehre, seien seit jeher mit dem Bann des Ketzerischen bestraft worden. Im folgenden seien nur einige Passagen aus einem etwas später erschienenen Beitrag von Louis Agassiz, dem großen Gegenspieler von Charles Darwin, zitiert, um die polygenistische Rhetorik dieser Zeit zu veranschaulichen. Er habe „über hundert specifische Unterschiede zwischen dem Knochen- und Nervensystem des Negers und des Weißen nachgewiesen“. Ihre Körper seien einander völlig ungleich. Der Neger hat keinen Knochen, der dieselbe Gestalt, Größe, Gelenkenverbindung oder chemische Zusammensetzung hätte, wie der entsprechende Knochen eines Weißen. Die Negerknochen enthalten eine weit größere Menge von Kalksalzen als die des Weißen. Selbst das Blut des Negers ist chemisch eine ganz andere Flüssigkeit als die, welche in den Adern eines Weißen fließt. Die gesammte physische Organisation des Negers unterscheidet sich von der des Weißen ebenso sehr wie von der des Chimpansen – d. h. nach seinen Knochen, Muskeln und Nerven braucht der Chimpanse keine viel größeren Fortschritte zu machen bis zum Weißen. Diese Thatsache ist ein unbestreitbares Ergebniß der Wissenschaft. Das Klima hat mit dem Unterschied zwischen Weißen und Negern nicht mehr zu schaffen, als mit dem zwischen Neger und Chimpanse oder zwischen Pferd und Esel oder zwischen Adler und Eule. Jeder ist das Resultat einer 60 Georg GERLAND, Die neue Ausgabe der Waitz’schen Anthropologie, in: Archiv für Anthropologie 10 (1878), S. 329-337, hier S. 330. 61 Ludwig SCHEMANN, Die Rassenfragen im Schrifttum der Neuzeit (= Die Rasse in den Geisteswissenschaften: Studien zur Geschichte des Rassengedankens 3), München: J. F. Lehmanns Verlag 1931, S. 216-217.
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besonderen Schöpfung. Der Neger und der Weiße wurden ebenso artlich verschieden erschaffen, wie die Eule und der Adler. Sie sind bestimmt, verschiedene Stellen im System der Natur auszufüllen. Der Neger ist ebenso wenig durch irgend einen Zufall oder ein Mißgeschick Neger, wie die Eule Eule. Der Neger ist ebenso wenig der Bruder des Weißen, wie die Eule die Schwester des Adlers oder der Esel der Bruder des Pferdes. Wie erstaunlich (stupendous) und doch wie einfach ist die Lehre, daß der allmächtige Schöpfer des Alls verschiedene Arten von Menschen geschaffen hat, wie er verschiedene Arten von Thieren geschaffen hat, um verschiedene Stellen und Aufgaben in dem großen Gebiet der Natur zu erfüllen.62
Immer wieder werden die Polygenisten gegen die theologisch-philanthropische Irrlehre zu Felde ziehen, derzufolge durch Erziehung und Umwelt die angeborene Ungleichheit zwischen den „Menschenrassen“ beseitigt werden könnte. Jeder, der den Indianer wirklich kannte, so Nott, wüßte, daß das Gerede von der Zivilisierung des Indianers nichtig sei. „You might as well attempt to change the nature of a buffalo.“63 Unschwer ließe sich aus ideengeschichtlicher Perspektive eine Affinität zwischen polygenistischen Theorien des 19. Jahrhunderts und „rassistischen“ gesellschaftspolitischen Überlegungen nachweisen. Es sei daher ausdrücklich betont, daß diese Verbindung keineswegs zwingend war. In den Südstaaten etwa wurde die polygenistische Lehre, die eine hervorra62 N. N., Prof. Agassiz über die Stellung des Negers zum Weißen [Auszug aus einem in der Popular Science Review erschienenen Vortrag], in: Das Ausland 46 (1873), S. 399-400, hier S. 399-400. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den aus dem Jahre 1846 stammenden Brief von Louis Agassiz an seine Mutter, in dem er seine erste Begegnung mit Schwarzen in einem Hotel in Philadelphia – wo er übrigens mit Samuel G. Morton zusammentraf – schildert: „In Philadelphia hatte ich erst mal längere Berührung mit Negern; alle Dienstboten in meinem Hotel waren Farbige. Ich kann Dir meinen schmerzlichen Eindruck kaum beschreiben, besonders weil das Gefühl, das sie mir gaben, allen unseren Vorstellungen über die Bruderschaft der menschlichen Art (genre) und dem gemeinsamen Ursprung unserer Spezies zuwiderläuft. Doch die Wahrheit geht allem anderen vor. Dennoch empfand ich Mitleid beim Anblick dieser verderbten und entarteten Rassen und ihr Schicksal erweckte mein Mitgefühl bei dem Gedanken, daß sie wirklich Menschen sind. Trotzdem kann ich das Gefühl nicht unterdrücken, daß sie nicht vom selben Blut sind wie wir. Wenn ich ihre schwarzen Gesichter mit ihren dicken Lippen und grinsenden Zähnen sah, die Wolle auf ihrem Kopf, ihre krummen Knie und langen Hände, ihre langgebogenen Fingernägel und besonders die fahle Farbe ihrer Handflächen, mußte ich sie immer anblicken, um ihnen zu bedeuten, mir vom Leibe zu bleiben. Und wenn sich diese widerliche Hand meinem Teller näherte, um mir vorzulegen, hätte ich lieber woanders ein Stück trockenes Brot gegessen als bei einer solchen Bedienung zu dinieren. Welches Unglück für die weiße Rasse, daß sie ihre Existenz in manchen Ländern so eng mit der Negerrasse verknüpft hat! Gott bewahre uns vor solcher Berührung!“ Agassiz zit. nach GOULD, Der falsch vermessene Mensch, S. 41. 63 Vgl. hierzu GOSSETT, Race, S. 65.
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gende wissenschaftlich fundierte Rechtfertigung der peculiar institution geliefert hätte, in den 1850er und 1860er Jahren von weiten Teilen der sklavenhaltenden Gesellschaft zurückgewiesen, da sie im Widerspruch zur Schöpfungsgeschichte der Bibel stand.64 Für eine Rechtfertigung der Sklaverei bedurfte man keiner ketzerischen wissenschaftlichen Thesen. Die Bibel genügte.
Das Jahr 1855 Ein Amerikamüder aus Europa – Reisefieber – das Gehirn von Gauß – die Seele von Affen, „Negern“, Menschen – der düstere „Schwanengesang“ eines französischen Aristokraten
Im Jahr 1855 veröffentlicht der österreichische Schriftsteller Ferdinand Kürnberger (1821-1879) seinen langen Roman Der Amerikamüde (1855). Im Mittelpunkt dieses pessimistischen Kulturbildes der Vereinigten Staaten – das übrigens im gleichen Jahr erschien, als Walt Whitman, der „poet of commonsense“, mit seiner Lyrik und seinem „Hurrah for positive science! Long live exact demonstration!“ erstmals an die Öffentlichkeit trat –, steht der Prozeß der Desillusionierung des deutschen Amerikaauswanderers Dr. Moorfeld.65 Der Fortschritt hat bekanntlich ein Janusgesicht, er wird nicht nur von Hoffnungen begleitet, sondern auch von Enttäuschungen, nicht nur von technophilen, zukunftsmanischen Allmachtsphantasien, sondern auch vom ästhetisch-moralischen Katzenjammer über Errungenschaften, die unwiederbringlich verloren zu gehen drohen. Das Sensorium für den Fortschritt ist nicht nur bei jenen stark ausgeprägt, die ihn bejahen und mit euphorischem Getrommel begrüßen, sondern gerade auch bei jenen, die Angst haben, von diesem wehrlos mitgerissen und überrollt zu werden, bei jenen, welche die anonyme Macht des Fortschritts und die eigene Ohnmacht spüren, bei jenen, die befürchten, sich schon bald in einer neuen aller Unterschiede und Besonderheiten baren Welt wieder zu finden. Dieses zweite Gesicht des Fortschritts, die Rückseite der Auf-
64 Vgl. hierzu GOSSETT, Race, S. 66; GOULD, Der falsch vermessene Mensch, S. 69-70. Beim Zensus 1860 – also unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkrieges – wurden 4,44 Millionen Schwarzen in den USA registriert. Hierunter waren 3,95 Millionen Sklaven und 488.000 Freie. Vgl. hierzu Willi P. ADAMS (Hg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankfurt a. M. 1977 (= Fischer Weltgeschichte 30), S. 501. Mehr als 90 % der Schwarzen lebten zu dieser Zeit im Süden. 65 Walt WHITMAN, Leaves of Grass (1855) [= Editiones Principes: Faksimiledrucke von Erstausgaben]. Mit einer Einführung und einem Summary von Karl Adalbert Preuschen, Hildesheim-New York: Olms Presse 1971, S. 2728. Ich werde später noch auf einige Gedichte des großen amerikanischen Barden zu sprechen kommen.
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bruchsstimmung, soll im folgenden anhand einiger Passagen aus Kürnbergers Roman über Dr. Moorfeld veranschaulicht werden. „Amerika“, so ist der hochgebildete Künstler Dr. Moorfeld zu Beginn der Erzählung felsenfest überzeugt, „du hast es“ – um mit Goethe zu sprechen – „besser“. Überschwenglich preist er an Bord des Schiffes beim Einlaufen in den Hafen im Gedanken seine neue Heimat: Amerika! Welcher Name hat einen Inhalt gleich diesem Namen! Wer nicht Dinge der gedachten Welt nennt, kann in der wirklichen Welt nichts Höheres nennen. Das Individuum sagt: mein besseres Ich, der Erdglobus sagt: Amerika. Es ist der Schlußfall und die große Kadenz im Konzerte der menschlichen Vollkommenheiten. Was unmöglich in Europa, ist möglich in Amerika; was unmöglich in Amerika, das erst ist unmöglich! Ich sehe hier die höchste gesunde Kraftentwicklung des volljährigen Menschenkörpers; drüber hinaus liegt Konvulsion und Delirium. Amerika! Heilige Erstarrung ergreift mich bei deinem Anblicke. Die Schauer der Menschengröße wehen von deinen Ufern. Menschengröße, wer kennt dein Gefühl in Europa? Karl der Große, Ludwig der Große, Friedrich der Große – das sind die Menschengrößen der alten Welt. Was sonst noch groß ist neben ihnen, wird dekoriert oder hingerichtet! – O weiche zurück, Andenken Europas, vor dem blühenden Bilde dieser jungen Erde! Sei mir gegrüßt, Morgenstirn, Morgenantlitz, frische, schwellende, aufstrahlende Schönheit! Ein jugendlicher Mensch ist die Freude des älteren, aber eine jugendliche Welt, – ist es möglich, diesen Wonnenbegriff in ein sterbliches Herz aufzunehmen? Glückliches Land! mit allen Säften unsrer Geschichte bist du genährt, aber wir sind die gröbsten, du das feinste Gefäß dieser Säfte. Asien die Wurzel, Europa der Stamm, Amerika Laub- und Blütenkrone – so gipfelt sich das Wachstum der Menschheit. Und die runzeligen Rinden Asiens und Europas durchkriecht das Insekt, auf Amerikas Wipfel wiegt sich der freie, fröhliche Vogel! In unsern geschichtlichen Schlupfwinkel verpuppt sich die graue, schläferige Raupe, aus Amerikas Blütenkelchen trinkt der Schmetterling seine Psyche-Unsterblichkeit!66
Schon kurz nachdem er erstmals den Boden seiner so sehnsüchtig erwarteten neuen Heimat betritt, überkommt ihn jedoch ein eigenartiges Gefühl. Im Lärm der Hafenpromenade sieht er einen jugendlichen Zeitungskolporteur, der mit gellender Stimme die letzten Nachrichten aus Europa verkündet. Halb Europa, so der Junge, befinde sich im Aufstand, „einige Könige“ seien „verjagt“, „viele Minister hingerichtet“, die ersten „Börsenhäupter bankrott“, „mehrere Städte versunken“ und ein „teuflisch-raffinierter Doppelgattenmord“ habe sich ereignet.67 Angesichts dieser Nachrichten wüßte der Europäer nicht, so Moorfeld, ob er lachen oder staunen sollte, ob die Zeitungsredaktionen diese Nachrichten so überspitzten oder ob „das Genie
66 Ferdinand KÜRNBERGER, Der Amerikamüde. Amerikanisches Kulturbild, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1986 [1855], S. 9. 67 Ebenda, S. 17.
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ihres Kolporteurs auf eigene Verantwortung diesen schwindelnden Flug nimmt“.68 Und niemand im Hafen, außer ihm, schien dieses Schauspiel des Knaben ungewöhnlich. Scheinbar war es also Landessitte. Damit jedoch noch nicht genug. Der Junge vertrieb „noch eine andere Ware“, die dem Europäer „alles Blut ins Gesicht“ schießen ließ: einen Sklaven.69 Dr. Moorfeld ergreift die Flucht und sucht eines der zahlreichen, gut frequentierten Cafés in den Straßen New Yorks aus. Im Café daneben bereitet sich ein Orchester von Schwarzen auf seinen Auftritt vor. Moorfeld bestellt ein Glas Eis, „als Folie seines ersten amerikanischen Kunstgenusses“.70 Das Konzert beginnt. Ein seltsam zerhackter Rhythmus, dessen Taktart in einigem Dunkel schwebt, und überdies von jedem der einzelnen Künstler ziemlich selbständig gehandhabt wird! Aber wie wird unserm Zuhörer, als die Melodie, ohne alle Vermittlung, plötzlich aus Dur in Moll überspringt? Entsetzt fährt er auf, reißt dem Vorgeiger die Violine aus der Hand, und spielt ihm die Figur korrekt vor. Alle Anwesenden staunen den Europäer an, niemand begreift die Einmischung eines Gentleman in das ‚Handwerk‘ der Schwarzen. Diese selbst am wenigsten. Zwar hören sie mit geschmeicheltem Lächeln dem Spiele des Fremden zu, als aber die Reihe wieder an sie kommt, stellt sich an derselben Stelle auch derselbe Barbarismus wieder ein. Ob man hier allerorts die Ausübung der Musik diesen Negern überlasse? fragt der bestürzte Kunstfreund den Aufwärter. – In der Regel, mein Herr, war die Antwort, die Niggers haben mehr Talent dafür als die weißen Natives.71
Moorfeld bleibt kaum Zeit, sich seinem Entsetzen hinzugeben, als plötzlich unweit des ersten ein zweites Orchester von ähnlich künstlerischer Qualität zu spielen begann. Im Gleichklang der disharmonischen Orchester, die von begeisterten Amerikanern bejubelt werden, die sich darüber freuen, gleich „zwei Musik“ auf einmal zu haben und sich bemühen, einen Platz genau in der Mitte zwischen beiden Kappellen zu finden, ergreift der Europäer wiederum „eine wilde Flucht“.72 Die beiden hier geschilderten Episoden schildert Kürnberger bereits auf den ersten Seiten seines Romans. Es dauert nicht lange, ehe Moorfeld erkennt und versteht, was es ihm unmöglich macht, in Amerika eine neue Heimat zu finden, was diesen „Schrecken der Fremde, dieses unbehagliche Bewußtsein einer tiefen Gegensätzlichkeit zwischen sich und dem Neuen“ ausmacht.73 Immer deutlicher spürt Moorfeld, daß zwischen ihm und Amerika ein vermittelndes Etwas fehlt, ein – wie er es nennen wird – „ästhetische[s] Medium“.74 Am Ende des Romans wird Moorfeld Amerika 68 69 70 71 72 73 74
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 104.
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verlassen, das Schiff besteigen und nach Hause, nach Europa zurückkehren. Kürnbergers meisterhafter Roman speist sich aus dem ideengeschichtlich so mächtigen Gegensatzpaar von Kultur und Zivilisation. Seinem Helden Moorfeld will es nicht gelingen, seine gefühlsmäßigen Bande zur alten Heimat, die, in erster Linie Bande der Sprache, Kunst und Kultur sind, zu zerschneiden. Ja, die amerikanische Zivilisation mit ihrer amorphen Größe und Masse, ihrer Austauschbarkeit und ihrem Stumpfsinn, läßt ihm, diesem demokratischen Kopf mit aristokratischem Herzen, das, was er hinter sich gelassen hat, noch wertvoller erscheinen. Moorfelds Flucht nach Europa ist auch eine Flucht in ein Refugium der Vergangenheit, dort, wo die durch Amerika verkörperte neue Zeit noch nicht Eingang gehalten hat.75 Im Jahr des Amerikamüden erscheint in Gotha der erste Band der länder- und völkerkundlichen Fragen gewidmeten Zeitschrift Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über Wichtige Neue Erforschungen auf Dem Gesammtgebiete der Geographie von Dr. A. Petermann.76 „Was Petermann’s Mittheilungen für die Geographie unserer Zeit sind“, heißt es in einem Nachruf auf den 1878 verstorbenen Begründer dieser Zeitschrift August Petermann (1822-1878), 75 Kürnberger verarbeitete in seinem Roman unter anderem die Lebensgeschichte des Dichters Nicolaus Lenau (1802-1850), der in den 1830er Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Auch Lenau sollte den USA wieder enttäuscht den Rücken kehren und nach Europa zurückkommen. Vgl. in diesem Zusammenhang den folgenden Brief von Nicolaus Lenau aus dem Jahr 1832, in dem sich zentrale Motive der deutschen Kulturkritik an der amerikanischen Zivilisation widerspiegeln: „Man kredenzte uns sofort Cider (ich mag den Namen des matten Gesoffs nicht mit deutschen Buchstaben schreiben), Butter und Brot. Letztere waren gut; aber der Cider (sprich: Seider) reimt sich auf ,leider‘. Der Amerikaner hat keinen Wein, keine Nachtigall. Mag er bei einem Glase Cider seine Spottdrossel behorchen, mit seinen Dollars in der Tasche, ich setze mich lieber zum Deutschen und höre bei seinem Wein die liebe Nachtigall, wenn auch die Tasche ärmer ist. Bruder, diese Amerikaner sind himmelan stinkende Krämerseelen. Tot für alles geistige Leben, maustot. Die Nachtigall hat recht, daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt. Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu sein, daß Amerika gar keine Nachtigall hat. Es kommt mir vor, wie ein poetischer Fluch. Eine Niagarastimme gehört dazu, um diesen Schuften zu predigen, daß es noch höhere Götter gebe, als die im Münzhause geschlagen werden. Man darf diese Kerle nur im Wirtshaus sehen, um sie auf immer zu hassen. Eine lange Tafel, auf beiden Seiten 50 Stühle […]; Speisen, meist Fleisch, bedecken den ganzen Tisch. Da erschallt die Freßglocke und hundert Amerikaner stürzen herein. Keiner sieht den andern an, keiner spricht ein Wort, jeder stürzt auf seine Schüssel, frißt hastig hinein, springt dann auf, wirft den Stuhl hin, und eilt davon, Dollars zu verdienen.“ Nicolaus LENAU, Werke in zwei Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu herausgegeben mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Carl August Bloedau, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus o. J., S. LII-LIII. 76 Die Zeitschrift wird gemeinhin mit Petermanns Mittheilungen, später mit Petermanns Mitteilungen abgekürzt.
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welchen Rang sie einnehmen, brauchen wir nicht zu sagen; wer je Geographie zum Gegenstand seiner Belehrung gemacht und wählte, weiß, dass sie das erste geographische Organ der Welt, eine unerschöpfliche Quelle auf dem Gebiete der Erdkunde sind. […] Die ersten Fachmänner nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt rechneten es sich zur Ehre und zur Freude, ihre Arbeiten in seinen Mittheilungen aufgenommen zu sehen und konnten auch der Genugthuung sich hingeben, dieselben damit in der ganzen Welt verbreitet zu wissen. Es gibt vielleicht kein Gebiet der Erde, wo europäische Cultur und europäische Pionniere [sic] hingedrungen waren, aus dem Petermann nicht stets die neusten Berichte über geographische Entdeckungen und Forschungen zugesendet erhalten haben würde.77
Der erste Band von Petermanns Mittheilungen eröffnet mit einem Bericht über die Reise von Heinrich Barth (1821-1865) und bringt Briefe des berühmten Afrikaforschers aus den Jahren 1852 und 1853.78 1849 war Barth zu seiner Reise durch Nord- und Zentralafrika aufgebrochen. Im August 1855 kehrte Barth, der als verschollen galt, wieder zu seinem Ausgangspunkt Tripolis zurück. „Als wir uns der Stadt näherten, die ich vor fünfeinhalb Jahren verlassen hatte und die mir nun als Eingangstor zur Ruhe und Sicherheit erschien“, schreibt Barth in seinem Buch über die abenteuerlichen Erlebnisse seiner Reise, wallte mein Herz vor Freude über und nach einer so langen Reise durch öde Wüsteneien war der Eindruck, den der reiche Pflanzenwuchs in den die Stadt umgebenden Gärten auf mein Gemüt machte, außerordentlich; jedoch bei weitem größer war noch die Wirkung des Anblickes der unermeßlichen Oberfläche des Meeres, das im hellen, dieser mittleren Zone eigentümlichen Sonnenschein im dunkelsten Blau sich entfaltete. Es war das prächtige, viel gegliederte Binnenmeer der alten Welt, die Wiege europäischer Bildung, das von früher Zeit an der Gegenstand meiner wärmsten Sehnsucht und meines eifrigsten Forschens gewesen war, und als ich in Sicherheit und wohl behalten seinen Saum betrat, fühlte ich mich von solcher Dankbarkeit gegen die göttliche Vorsehung erfüllt, dass ich nahe daran war, von meinem Pferde abzusteigen, um am Gestade des Meeres dem Allmächtigen ein Dankgebet darzubringen, der mich mit Gnade durch alle die Gefahren hindurchgeführt hatte, die meinen Pfad umgaben, sowohl von fanatischen Menschen als von einem ungesunden Klima.79 77 Josef CHAVANNE, [Nachruf auf] August Petermann, in: Mittheilungen der kais. und königl. geographischen Gesellschaft in Wien 21, N. F. 11 (1878), S. 534-540, hier S. 537-538. Als herausragend galten insbesondere die kartographischen Leistungen von Petermanns Mittheilungen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Arbeiten von Heinrich Berghaus (1797-1884), Emil von Sydow (1812-1873) und Hermann Berghaus (1828-1890). 78 August PETERMANN, Dr. H. Barth’s Reise von Kuka nach Timbuktu, in: Petermanns Mittheilungen 1 (1855), S. 3-14. 79 Heinrich BARTH, Im Sattel durch Nord- und Zentralafrika, 1849-1855. Herausgegeben von Heinrich Schiffers, Stuttgart-Wien-Bern: Heinrich Albert Verlag in der Edition Erdmann 2000, S. 354.
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Wider Erwarten war es Barth, der im Dienste der englischen Regierung reiste, gelungen, auf seiner Expedition nach Westen die Stadt Timbuktu zu erreichen und sodann jenes Gebiet des Nigers zu erforschen, das durch den frühzeitigen Tod des schottischen Forschungsreisenden Mungo Park zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als weißer Fleck auf der Weltkarte gegolten hatte. Ich „riss“, so Barth, nicht allein jenen ganz ungeheuren Länderstrich, der selbst den arabischen Handelsleuten unbekannter geblieben war als irgendein anderer Teil Afrikas, aus dem Dunkel der Verborgenheit, sondern es gelang mir auch, mit all den mächtigsten Häuptlingen am Flusse entlang bis zu jener mysteriösen Stadt selbst freundschaftliche Verhältnisse anzuknüpfen. […] Allerdings ließ ich selbst auf der Straße, die ich persönlich erforschte, gar manches meinen Nachfolgern zur Verbesserung; aber immerhin habe ich die Genugtuung, mir bewusst zu sein, dass ich den Blicken des wissenschaftlichen europäischen Publikums eine höchst ausgedehnte Länderstrecke der abgeschlossenen afrikanischen Welt eröffnet habe. Ja, ich habe diese Gegenden nicht allein leidlich bekannt gemacht, sondern auch die Eröffnung eines regelmäßigen Verkehrs zwischen Europäern und jenen Landschaften ermöglicht, und ich hoffe, dass diese glückliche Erforschung des Innern Afrikas stets als eine ruhmvolle Errungenschaft deutschen Geistes dastehen wird.80
Insgesamt hatte Barth auf seiner Expedition rund 20.000 Kilometer zurückgelegt. Sein ehemaliger Lehrer Karl Ritter nannte ihn den „geistigen Eroberer eines halben Erdteils“.81 Mehr als ein Jahrhundert nach dem Tod von Heinrich Barth meinte der afrikanische Historiker Joseph Ki-Zerbo in seinem Werk Die Geschichte Schwarz-Afrikas (1979), kein Forscher habe „soviel wie Barth dafür geleistet, von Afrika ein gleichzeitig wissenschaftlich fundiertes und von Sympathie getragenes Bild zu vermitteln“.82 Barths aufsehenerregende Erforschung des Nigergebiets fällt in die Zeit der großen Entdeckungsreisen in das Innere Afrikas. Nur exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die deutschen Afrikaforscher und Zeitgenossen von Barth verwiesen, auf David Nachtigal (1834-1885), Gerhard Rohlfs (1831-1896) und Georg Schweinfurth (1836-1925), sowie auf den wohl bekanntesten Afrikareisenden, den schottischen Missionar David Livingstone (1813-1873). Im November 1855, nur wenige Monate, nachdem Barth in Tripolis an die Gestade des Mittelmeeres zurückgekehrt war, entdeckte David Livingstone auf seinem Weg von Luanda an der afrikanischen Westküste nach Quelimane an der Ostküste als erster Weißer 80 Heinrich BARTH, Im Sattel durch Nord- und Zentralafrika, 1849-1855, S. 356-357. 81 Till FORSTER, Heinrich Barth (1821-1865), in: Christian F. FEEST, KarlHeinz KOHL (Hg.), Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart: Kröner Verlag 2001, S. 15-19, hier S. 18. 82 Joseph KI-ZERBO, Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1979 [1972], S. 440.
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die riesigen Wasserfälle am Sambesi, die er zu Ehren seiner Königin Victoria-Fälle nannte. Die Aufbruchsstimmung der „jungen“ Wissenschaft der Anthropologie ist untrennbar mit den vornehmlich an hydrographischen Fragen orientierten Entdeckungsreisen in der Mitte des 19. Jahrhunderts verbunden. Berichte über fremde, von der Zivilisation unberührte Völker in unbekannten Landstrichen werden als Bausteine der im Entstehen begriffenen neuen Wissenschaft vom Menschen gehortet. Jede Entdeckungsreise bringt Fortschritte in der Erkenntnis, wirft Licht auf die bis dahin dunklen Flecken der Landkarte. Anläßlich des 50-Jahr-Jubiläums der „Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“ meinte Wilhelm Koner, daß seit der im Jahre 1828 erfolgten Gründung der Gesellschaft „die Entwickelung der Kenntnis unseres Erdballs […] eine so rapide“ gewesen sei, daß man diese Zeit ohne „Uebertreibung“ als ein „zweites Zeitalter der Entdeckungen bezeichnen“ könne.83 Ähnlich äußerte sich Karl Weule in seinem um 1900 verfaßten Überblick über die Geschichte der Forschungsreisen: Von welchem Standpunkt man aber auch auf jene Epoche zurückblicken mag: fesselnd ist sie in all ihren Teilen und auf allen in Frage kommenden Gebieten. Sie zwingt zu unverhohlener Bewunderung durch die Kraft und den Umfang der alle Kulturvölker der alten und neuen Welt durchglühenden Begeisterung; sie fordert Anerkennung für die Zähigkeit, mit der sie ein einmal ins Auge gefaßtes Ziel zu erreichen strebt, und sie erschüttert durch die Teilnahme, mit der ein nunmehr dahingeschiedenes Geschlecht jede Phase des Riesenkampfes verfolgte, zu dem eine unerbittliche Natur die besten seiner Brüder zwang, einerlei ob in den eisumstarrten Regionen der Arktis, den glutdurchzitterten Wüsten des dunklen Weltteils oder dem undurchdringlichen Busch Australiens. Auch wir, die Söhne einer an Hilfsmitteln überreichen Zeit, können mit Recht stolz sein auf unsere Erfolge auf geographischem Gebiet; aber nichts würde uns berechtigen, auch nur mit einem Anflug von Geringschätzung auf die Leistungen eines Zeitalters herabzublicken, dessen Größe gerade darin besteht, daß es trotz der Unzulänglichkeit seiner Mittel so viel erreicht hat. Ohne diese aufopferungsvolle Vorarbeit wären die Erfolge, mit denen beladen das neunzehnte Jahrhundert ruhmvoll zur Neigung geht, undenkbar […].84
Es gelte, so Adolf Bastian, der selbst Jahrzehnte seines Lebens auf Reisen
83 Wilhelm KONER, Zur Erinnerung an das fünfzigjährige Bestehen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“, in: Zeitschrift für die Geschichte der Erdkunde zu Berlin 13 (1878), S. 169-250, hier S. 178; vgl. auch Alfred HETTNER, Die Entwicklung der Geographie im 19. Jahrhundert: Rede beim Antritt der geographischen Professur an der Universität Tübingen, in: Geographische Zeitschrift 4 (1898), S. 305-320. 84 Karl WEULE, Forschungsreisen, in: Hans KRAEMER (Hg.), Das XIX. Jahrhundert in Wort und Bild: Politische und Kultur-Geschichte, Zweiter Band: 1840-1871, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J. [um 1900], S. 381-402, hier S. 381-382.
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in alle Teile der Welt verbrachte, die Geographen zu „rastloser Tätigkeit“ anzuspornen. „Nirgends“ dürften die Länder- und Völkerkundler länger die „weißen Flecken einer terra incognita auf ihren Karten dulden, jene Zeugnisse der Unwissenheit, des Nichtwissens“. Nichtwissen sei, so Bastian weiter, „ein böses Ding“ und „um so bedenklicher und gefährlicher, wenn die ganze Wissenschaft sich inductiv aus Vergleichungen aufbaut, wie heute die unsrige“. Solange sich noch „dunkle Nullpunkte“ auf der Karte befänden, dürfte der Mahnruf nicht verstummen.85 Symptomatisch für das Reisefieber und die geographische Entdeckungsepidemie der Jahrhundertmitte ist wohl die Tatsache, daß sich auch ein russischer Staatsbeamter, dem es seine Freunde und Bekannten niemals zugetraut hätten, zu einer „Reise um die halbe Welt“ aufraffte. Knapp drei Jahre befand sich Iwan A. Gontscharow, der Schöpfer des „Oblomow“, an Bord der Fregatte „Pallas“, ehe er im Februar 1855 nach St. Petersburg zurückkehrte. Vorrangiges Ziel der Forschungsexpedition, die Gontscharow als literarischer Sekretär mitmachte, war es, wirtschaftliche Beziehungen zu Japan zu knüpfen. Während sich Gontscharow an Bord der Fregatte „Pallas“ befand, hatte der amerikanische Commodore Perry im Vertrag von Kanagawa (1854) die Öffnung Japans erzwungen und damit den Startschuß für den Wettlauf um den fernöstlichen Markt gegeben. Weder die neuen Länder und Völker, die Gontscharow auf seiner „halben Weltreise“ kennen lernen sollte, noch die politischen Ereignisse seiner Zeit, konnten ihn aus seiner hypochondrischen Verfaßtheit, seiner Lethargie und seinem oblomowschen Schlummer erwecken. Aber immerhin, wie die folgende Passage zeigen mag, scheint auch Gontscharow, den seine Freunde „Prince de Lenj“ (Lenj, russ. Trägheit, Freiheit) nannten, ein klein wenig die geographische Aufbruchsstimmung verspürt zu haben. In Petersburg hielt ich immer für die Ursache meiner Langeweile, daß ich nichts gesehen hatte, nirgendwo gewesen war, die Natur nur aus Büchern gekannt hatte. „Laß mich mal selbst schauen, dann wird’s vielleicht besser!“ dachte ich. Und ich reiste weder nach Deutschland noch nach Italien, sondern wählte das Entfernteste. Jewgenija Petrowna verfrachtete mich in die andere Erdhälfte. Und das Ergebnis? Aus Mangel an Bewegung auf dem Schiff haben sich meine Hämorrhoiden vermehrt, und ich habe einen solchen Bauch gekriegt, daß ich allein deswegen zur bemerkenswerten Persönlichkeit einer Gouvernementsstadt würde. Jetzt kenne ich diese Tropen mit ihrem Himmel und dem Südlichen Kreuz, diese Bananen, Palmen und Ananas an Ort und Stelle, diese ganze Aristokratie der Natur und ihre Plebejer, die Neger, Malayen, Inder und Chinesen. Weiter, zum Beispiel nach Amerika, zieht es mich nicht mehr, denn bei drei Bekannten findet man leicht die vierte Unbekannte. […] Ich vergaß zu sagen, daß wir in Korea gewesen sind. Dorthin ist überhaupt noch kein Europäer gekommen. Ich fuhr im ganzen zweimal an Land, allerdings nur, um ein reines Gewissen zu haben, falls 85 Adolf BASTIAN, Geographische Betrachtungen, in: Zeitschrift für die Geschichte der Erdkunde zu Berlin 5 (1870), S. 481-530, hier S. 482.
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man mir den Vorwurf machen wollte, ich hätte keinen Fuß auf ein noch völlig unbekanntes Ufer gesetzt. Auch das hat mich gelangweilt. An wilden, unzivilisierten Orten spüre ich besonders, daß ich alles andere als ein Entdeckungsreisender bin.86
Am 23. Februar 1855, zwei Tage bevor Gontscharow in seine vom Krimkrieg gezeichnete Heimat zurückkehrte, um sich in St. Petersburg auf seinem geliebten Sofa von dem Erlebten und Nichterlebten der Reise auszuruhen, starb der Göttinger Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1778-1855). Sein Kollege, der Mediziner und Anthropologe Rudolf Wagner (18051864) sezierte die Leiche des mathematischen Genius und entnahm das Gehirn. Samt Häuten brachte das frische Gaußsche Gehirn 1.492 Gramm auf die Waage, ohne Häute 1.415 Gramm. Hiermit lag das Gaußsche Gehirngewicht nur knapp über dem für europäische Männer ermittelten Durchschnitt.87 Um dieses unerwartete Ergebnis zu erklären, verwies man einerseits auf das hohe Alter, das Gauß erreicht hatte, andererseits auf die starken Furchungen, die sein Gehirn aufwies.88 Rudolf Wagner, der Johann F. Blumenbach (1772-1840) auf dessen Göttinger Lehrstuhl nachgefolgt war, hatte wenig später noch die Gelegenheit, die Gehirne von vier weiteren Kollegen zu sezieren und einer anatomischen Untersuchung zu unterziehen. Zwar wurde das Gaußsche Gehirngewicht von dem seines Göttinger Nachfolgers Peter Gustav Lejeune-Dirichlet (1805-1859) um knappe 28 Gramm geschlagen, doch auch die 1.520 Gramm des im Alter von 54 Jahren verstorbenen Mathematikers waren keineswegs beeindruckend.89 Der ebenfalls deutlich jünger als Gauß verstorbene Mediziner Konrad Fuchs (1803-1855) lag nur sieben Gramm vor dem mathematischen Genius. Der Göttinger Philologe Karl F. Hermann (1804-1855) brachte überhaupt nur 1.358 Gramm auf die Waage. Und dies obwohl er mit nur 51 Jahren verstorben war. Das Gehirn des Mineralogen Johann F. L. Hausmann (1782-1859) wog gar nur 1.266 Gramm. Aber hier konnte man zumindest das hohe Alter – Hausmann starb mit 77 Jahren – als „Entschuldigung“ ins Treffen führen. Angesichts dieser doch etwas enttäuschenden
86 Iwan GONTSCHAROW, Für den Zaren um die halbe Welt. Eine Reise in Briefen, ergänzt durch Texte aus der Fregatte Pallas, Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag 1998, S. 246-247. 87 Vgl. für die folgenden Ausführungen insbesondere GOULD, Der falsch vermessene Mensch, S. 94-97; ferner Cesare LOMBROSO, Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. Mit Bewilligung des Verfassers nach der 4. Auflage des italienischen Originals übersetzt von A. Courth, Leipzig: Philipp Reclam o. J. [Nachwort 1887], S. 433-434. 88 Ebenda. 89 Vgl. Cesare LOMBROSO, Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. Mit Bewilligung des Verfassers nach der 4. Auflage des italienischen Originals übersetzt von A. Courth, Leipzig: Philipp Reclam o. J. [Nachwort 1887], S. 433-434.
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und unerwarteten Ergebnisse der Göttinger Gelehrten meinte übrigens der französische Anthropologe Paul Broca (1824-1880) im Jahr 1861, es sei eher unwahrscheinlich, daß fünf Genies im Zeitraum von fünf Jahren an der Universität Göttingen gestorben sind […]. Ein Professorentalar ist nicht unbedingt ein Beweis für Genie; und sogar in Göttingen sind vielleicht manche Lehrstühle mit nicht gerade bemerkenswerten Männern besetzt.90
Um die berühmte Göttinger Universität hier nicht in ein schiefes Licht zu rücken, sei nur erwähnt, daß auch Theodor L. W. Bischoff (1807-1882), der die Gehirne seiner Münchener Kollegen untersuchte, keineswegs mit beeindruckenden Ergebnissen aufwarten konnte. So wog etwa das Gehirn des Philosophen Johann N. Huber (1830-1879) 1.499 Gramm, das des Chemikers Justus von Liebig (1803-1873) nur 1.352 Gramm, das des Physiologen Friedrich Tiedemann (1781-1861) gar nur 1.254 Gramm.91 In der „ewigen Bestenliste“ mußten sich die Gehirne der deutschen Professoren dem 1.830 Gramm schweren französischen „Superhirn“ des Geologen und Zoologen George Cuvier (1769-1832) um Längen geschlagen geben. Mit seinem 1.492 Gramm schweren Gehirn lag Gauß übrigens nur 4 Gramm hinter Louis Agassiz und satte 50 Gramm vor Hermann von Helmholtz (1821-1894). Erst im Jahre 1883 löste der russischer Schriftsteller Iwan Turgenjew (1818-1883) den bis dahin in Führung liegenden Cuvier ab. Über 2.000 Gramm zeigte die Waage für das Gehirn des geistigen Vaters des nihilistischen Sohnes an.92 Am unteren „Ende der Skala“ der Gehirne „großer Männer“ rangierte, wie Gould anmerkt, Turgenjews Zeitgenosse, der amerikanische Barde Walt Whitman (1819-1892), dessen Gehirn nur bescheidene 1.282 Gramm auf die Waage brachte. Immerhin konnte sich Whitman hiermit noch vor Franz J. Gall (1758-1828) plazieren, dessen für die Geschichte der Phrenologie so richtungsweisendes Gehirn gar nur 1.198 Gramm wog.93 Unterboten sollte Gall von dem französischen Staatsmann Léon Gambetta (1838-1882) werden, dessen Gehirn nur zarte 1.160 Gramm auf die Waage brachte.94 Richtig gehend „pein-
90 GOULD, Der falsch vermessene Mensch, S. 96. 91 LOMBROSO, Genie und Irrsinn, S. 433-434. 92 William I. THOMAS, The Scope and Method of Folk-Psychology, in: American Journal of Sociology 1 (1896), S. 434-445, hier S. 437. Der Text ist Teil der „Mead Project Web Site at the Department of Sociology of Brock University“ (Selected writings of W. I. Thomas) und online abrufbar unter http://spartan.ac.brocku.ca/~lward/thomas/Thomas_1896.html (Zugriffsdatum 29. November 2003). 93 GOULD, Der falsch vermessene Mensch, S. 94-95. 94 William I. THOMAS, The Mind of Woman, in: American Magazine 67 (1908), S. 146-152, hier S. 146. Der Text ist Teil der „Mead Project Web Site at the Department of Sociology of Brock University“ (Selected writings
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lich“ wurde die Sache im Falle seines Landsmannes Anatole France (1844-1924). Beim Gehirngewicht des Literaturnobelpreisträgers blieb die Waage bei nur 1.017 Gramm stehen. Zu dieser „unerfreulichen“ Tatsache leichter Gehirne bedeutender Männern gesellte sich die ebenfalls „unerfreuliche“ Tatsache schwerer Gehirne unbedeutender Männer. Nach Angaben von Paul Topinard stammten drei der fünf schwersten Gehirne von einem Tagelöhner, einem Maurer und einem Epileptiker. Die beiden anderen Gehirne der Top Five gehörten Cuvier und Turgenjew.95 Das Gehirn könne, so der österreichische Anthropologe Friedrich Müller, „nur deswegen jene hohe Bedeutung beanspruchen, weil es Sitz, Ursprung und Organ alles dessen ist, was in unserem Innern vorgeht, welchem wir, als Einheit gefaßt und auf ein einheitliches Princip zurückgeführt, den Begriff der Seele substituieren“.96 Da ein frisches Gehirn, ehe es anatomisch untersucht wurde, einer speziellen Behandlung und Konservierung bedurfte, und somit ein rares Gut war, behalf man sich zumeist mit dem Schädel, der „Kapsel […] des edelsten Organs des menschlichen Leibes“.97 Gerade der Schädel wird, wie später noch gezeigt werden soll, zum Herzstück der jungen naturwissenschaftlichen Disziplin. Kurz nach der Jahrhundertwende sollte der Chicagoer Soziologe William I. Thomas die Ergebnisse der vergleichenden Gehirnmesserei in dem lapidaren Satz zusammenfassen: „Great men may have great brains, or they may not.“98 In der Gründerzeit der Anthropologie ist freilich von jener Ironie, mit der Thomas die Bemühungen der unermüdlich wiegenden und vermessenden Naturwissenschaftler kommentierte, noch nichts zu spüren. Die bizarr anmutende Beschäftigung mit den Gehirnen „großer Männer“ ist ein Symptom für eine Generation, die vom naturwissenschaftlichen Forschungsethos durchdrungen war. Ihm sei es vergönnt gewesen, so Paul Topinard, seinen Lehrer Broca „im Laboratorium bei der Arbeit zu sehen, wie er an Tausenden von Schädeln alle Maasse vergleicht, manche aufgiebt, an denen er am meisten zu hängen scheint, wie er an ganzen Reihen bei der geringsten Unsicherheit wieder von vorn anfängt, überall und immerwährend sucht und forscht“.99 Immer wieder betonen die Anthropologen, ihre Disziplin sei ein Appendix der Naturforschung, sei – um mit Ernst Haeckel zu sprechen – „nichts Anderes […] als ein einzelner Special-Zweig der Zoologie, die
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of W. I. Thomas) und online abrufbar unter http://spartan.ac.brocku.ca/ ~lward/thomas/Thomas_1908_c.html (Zugriffsdatum 29. November 2003). THOMAS, Scope and Method of Folk-Psychology, S. 437. Friedrich MÜLLER, Ueber die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen, in: Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 1 (1871), S. 111-117, hier S. 113. Ebenda. THOMAS, The Mind of Woman, S. 146. Paul TOPINARD, Anthropologie. Nach der dritten französischen Auflage übersetzt von Richard Neuhauss. 2. Ausgabe, Leipzig: Eduard Baldamus 1888, S. 222.
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Naturgeschichte eines einzelnen thierischen Organismus“ und der Schlüssel zum Verständnis des geistigen Lebens liege in der Kenntnis der physischen Beschaffenheit des menschlichen Organismus“.100 Die Vorgehensweise des Anthropologen, so Paul Topinard, sei der „des Zoologen nothwendiger Weise nachgebildet“.101 „Der Mensch als Ganzes d. h. als physisches und geistiges Wesen“ sei Gegenstand des anthropologischen Studiums.102 Wer eine Maschine verstehen wolle, müsse ihr „Räderwerk“ sowie den „Mechanismus und Bau aller analogen Maschinen“ analysieren.103 Der Organismus, thierischer oder menschlicher, einfacher oder complicirter, gehorcht denselben allgemeinen Gesetzen, baut sich auf den nämlichen Elementen auf, functionirt in der gleichen Weise. Es ist ebenso nützlich, die Art und Weise kennen zu lernen, wie die Menschen leben, denken, sich zueinander gesellen, wie ihre verschiedene Art zu gehen oder zu athmen. Die Gehirnäusserungen in ihren unendlich vielen Verschiedenheiten kennzeichnen die Rassen gerade so gut, wie Volumen und Qualität des Gehirnes den Menschen vom Thiere unterscheiden; zwei Arten von Thatsachen, welche zusammenhängen. Wenn der Bau des Organes lehrt, was seine Function ist, so lehren umgekehrt die Function und ihre Abweichungen, was das Organ ist. Körper und Geist machen eins aus, wie die Materie und ihre Activität oder, wie man früher sagte, ihre Eigenschaften.104
Heute, so Schaaffhausen, zweifle niemand mehr daran, daß die „Uebereinstimmung von Hirnbau und Intelligenz […] die Grundlage für die Beurtheilung der menschlichen Natur ausmacht“.105 Diese Überzeugung, daß die Intelligenz eines einzelnen Menschen von der anatomischen Beschaffenheit seines Gehirns abhänge, fand in der anthropologischen Gründerzeit ihre phylogenetische Entsprechung in der Vorstellung, daß auch die kulturellen Unterschiede der „Völker“, „Stämme“ und „Rassen“ auf körperliche Unterschiede zurückgeführt werden könnten. Gerade für den Nachweis der körperlichen Bedingtheit des Geistigen liefern uns […] aber die Ethnologie und Urgeschichte die wichtigsten Stützen. Die Abhängigkeit der Intelligenz von der Hirnorganisation ergiebt sich uns nicht nur, wenn wir den kranken oder körperlich mißbildeten Menschen mit dem gesunden vergleichen oder verschiedene Individuen von ungleicher Befähigung, 100 Ernst HAECKEL, Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. Zweiter Band: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen, Berlin: Georg Reimer 1866, S. 433. 101 TOPINARD, Anthropologie, S. 3. 102 Ebenda, S. 4. 103 Ebenda. 104 Ebenda, S. 4-5. 105 Hermann SCHAAFFHAUSEN, [Eröffnung der 4. Generalversammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft zu Wiesbaden am 15.-17. September 1873], in: Archiv für Anthropologie 6 (1873), S. 1-8, hier S. 1.
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sondern die Menschenstämme, die Rassen selbst werden sich in dieser Hinsicht in einer Reihe ordnen lassen. Buschmänner und Australier stellen die tiefere, die europäischen Völker die höhere Entwicklungsstufe dar. Das Hirngewicht der Europäer beträgt bei bevorzugten Menschen selbst über 1.800 Gramm, es kann fallen nach Broca bei geistig Gesunden bis 1.024, bei den Weibern sogar bis 975. Das der afrikanischen Neger ist nach Broca im Mittel 12 Procent kleiner als das der Europäer, die mittlere Capacität der Schädel der Australier und Buschmänner ist nach Meigs 24 Procent kleiner als die der englisch-amerikanischen Rasse. Marshall fand das Hirngewicht einer Buschmännin nur 872 Gramm, das eines Gorilla hat Huxley zu 567 Gramm geschätzt; Broca berechnet aus der Schädelcapacität dieses Affen nur 540 Gramm, das sind 62 Procent der Buschmännin. Das Affenhirn ist also mehr als halb so schwer, es verhält sich zum kleinsten menschlichen wie 2 : 3¼.106
Während Rudolf Wagner sich in Göttingen seinen Kopf über die unzureichend schwerwiegenden Gehirne seiner Kollegen zerbrach, wurde er zur Zielscheibe der aufsehenerregenden Schmähschrift „Köhlerglaube und Wissenschaft“ aus der spitzen Feder von Karl Vogt (1817-1895), die der letzte Paukenschlag einer seit Jahren andauernden Fehde zwischen den beiden Naturwissenschaftlern sein sollte. Bei diesem Pamphlet, das zweifelsohne zu den Meisterwerken akademischer Polemik des 19. Jahrhunderts zu zählen ist, ging es nicht um wissenschaftlichen Kleinkram, forschungstechnische Details oder um die Widerlegung einzelner Tatsachen. Vielmehr befaßte sich Vogt, der 1848 als Vertreter der Demokratischen Linken in der Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche gesessen und wortgewaltig für politische Freiheitsrechte gekämpft hatte – Karl Marx bezeichnete Vogts Politik übrigens als die eines „kleinuniversitätischen Biederpolterers“ und nannte ihn in seinen Briefen auch einen „Esel“, „Lump“ und ähnliches –, mit dem Verhältnis zwischen dem Offenbarungsglauben der heiligen Schrift und den modernen Erkenntnissen der Naturwissenschaft. In den Augen von Vogt hatte Wagner sowohl in der Frage nach dem einheitlichen oder vielfältigen Ursprung des Menschengeschlechts als auch in der Frage nach der Existenz einer unsterblichen Seele die Wissenschaft auf dem Altar des religiösen Dogmas allzu willig geopfert. Weder der Wagnersche Monogenismus noch sein Glaube an ein Weiterleben der Seele seien wissenschaftlich haltbar. „Alle historischen wie naturgeschichtlichen Forschungen“, so Vogt, „liefern den positiven Beweis von dem vielfältigen Ursprung der Menschenarten. Die Lehre der Schrift über Adam und Eva und die zweimalige Abstammung der Menschen von einem Paare sind wissenschaftlich durchaus unhaltbare Märchen.“107 Wenn man versuche, sich anhand von Knochenfunden ein Bild
106 Ebenda, S. 1-2. 107 Karl VOGT, Köhlerglaube und Wissenschaft: Eine Streitschrift gegen Hofrat Rudolph Wagner in Göttingen (1855), in: Dieter WITTICH (Hg.),
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von den Urmenschen zu machen, stoße man, so Vogt, auch nicht auf wohlgebildete Vertreter einer „indoeuropäischen Urrasse“, sondern auf Abkömmlinge einer „primitiven Menschenart“ mit kleinen Schädeln, großen Kinnladen, fliehender Stirn, abgeplatteten Schläfen, breiten Nasenlöchern und schiefgestellten Zähnen.108 Daraus folge nach Vogt aber auch, „daß Adam ein Schiefzähner, d. h. ein dem Affentypus näher stehender Mensch war“. Dies sei freilich „etwas ärgerlich, des Respektes wegen, den man vor dem Patriarchen haben soll, wenn man sich Adam etwa unter dem Bilde eines Buschmannes oder eines Wilden von Neuholland, die Eva unter demjenigen einer hottentottischen Venus denken soll“.109 Nachdem Vogt die These aufgestellt hatte, daß die Mikrocephalen in ihrer geistigen Entwicklung auf der Affenstufe stehengeblieben wären, wurde er übrigens von seinen klerikalen Gegnern auch als „Affenvogt“ bezeichnet. Er dürfte dies jedoch kaum als Beleidigung empfunden haben. Einer seiner Biographen berichtet, daß Vogt, der als eine Art naturwissenschaftlicher Wanderprediger durch die Lande zog, bei einem Vortrag in München beinahe von einem durch das Fenster geworfenen großen Stein getroffen worden wäre. Der mächtig gebaute, aber flinke Vogt hatte jedoch gerade noch rechtzeitig ausweichen können. Als er sich bückte, um den Stein aufzuheben, meinte er, daß „die Steinzeit noch nicht vorüber ist, und daß wir immer noch unter Steinzeitwilden leben müßten“.110 Auch in der zweiten Streitfrage, bei der es um die Unsterblichkeit der Seele ging, war nach Vogt die Position des „Scharlatans“ und „physiologischen Papstes“ Wagner wissenschaftlich unhaltbar. Gleich in der Einleitung zu seinem Pamphlet wird Vogt, der in jungen Jahren unter Agassiz in der Schweiz gearbeitet hatte, seinen berühmten Satz wiederholen, daß die „Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren“, und erklären, daß Wagner keinerlei Beweis geliefert habe, „daß die Seelentätigkeiten nicht lediglich Funktionen des Gehirnes sind“.111 Diese Auffassungen habe Wagner einzig mit dem Geschrei der Staatsgefährlichkeit, mit all jenen zelotischen Ausbrüchen des Grimms und der Wut bezeichnet, die wahrlich uns ebensowenig rühren können als seine Anerkennung unserer Befähigung. Dies Geschrei um die moralische Weltordnung gleicht vollkommen dem Zeter der Fuhrleute über die Eisenbahnen, dem Jammer der Zunderfabrikanten über die Streichhölzchen. […] Vor den Folgen, welche Herr Wagner so abschreckend auszumalen weiß, erschrecken wir nicht und wird kein vorurteilsfreier Mensch erschrecken. Denn
108 109 110 111
Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus 2, Berlin: Akademie Verlag 1971, S. 517-640, hier S. 599. Ebenda, S. 568. Ebenda. Vgl. hierzu Ernst KRAUSE, Karl. V. Vogt, in: ADB 40, 1896, S. 181-189, hier S. 186-187. VOGT, Köhlerglaube und Wissenschaft, S. 551.
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dieselbe Wissenschaft, die uns beweist, daß des Menschen Existenz nur eine zeitlich vorübergehende ist, welcher kein anderes Leben nachfolgen kann, dieselbe Wissenschaft ruft uns auch zu, daß der Mensch ein geselliges Wesen sei, das nur in und mit seiner Gattung, nur in und mit der Gesellschaft existieren kann.112
Gemeinsam mit seinen beiden vulgärmaterialistischen Kumpanen Jakob Moleschott (1822-1893) und Ludwig (Louis) Büchner (1824-1899) wird Vogt bestrebt sein, eine auf den Naturwissenschaften begründete moralische Sozialordnung zu etablieren. In das Jahr 1855 fällt auch die Erstveröffentlichung des vulgärmaterialistischen Manifests Kraft und Stoff (1855) von Ludwig Büchner. Wie Vogt wird auch Büchner den Berichten aus der fernen Fremde, den Tatsachen der „jungen“ Anthropologie, einen großen Wert beimessen und als Kampfmittel verwenden, um gegen das theologisch-metaphysische Weltbild und die „doppelte Buchführung“ frommer Wissenschaftler zu Felde zu ziehen. Immer werden sich die Vulgärmaterialisten – schon einige Jahre vor dem Erscheinen des Darwinschen Werkes – bemühen, mit Hilfe des Entwicklungsgedankens die Kluft zwischen dem Affen und dem Urmenschen sowie die Kluft zwischen dem Urmenschen und dem „Zivilisierten“ ein klein wenig zu schließen: Man muß in gewisse niedere Kreise der menschlichen Gesellschaft geblickt und mit ihnen verkehrt haben, um zu begreifen, daß die geistige Stufenleiter vom Tier zum Menschen keine unterbrochene ist. Welcher Unterschied mag zwischen dem Ideenkreis manches europäischen Bauern und dem eines verständigen Tieres sein! Und steht ein Kretine, doch auch ein Mensch, nicht unter dem Tiere? Wie weit entfernt sich der Neger vom Affen? Verfasser sah im Antwerpener zoologischen Garten einen Affen, welcher ein vollständiges Bett in seinem Käfig hatte, in welches er sich abends hineinlegte und zudeckte wie ein Mensch. Er machte Kunststücke mit Reifen und Bällen, welche man ihm gegeben hatte, und wandte sich spielend in einer Weise an die Zuschauer, als ob er mit ihnen reden und ihnen seine Kunst zeigen wolle. Von demselben Affen hatte man beobachtet, daß er den Umrissen seines Schattens an der Wand mit dem Finger nachfuhr! Die ganze Erscheinung machte einen wehmütigen Eindruck, da man sich des Gefühls nicht erwehren konnte, es sei hier ein menschenartiges, überlegendes und fühlendes Wesen eingekäfigt. Dagegen erinnert der Neger nach der vortrefflichen Schilderung von Burmeister ebensowohl in seinem geistigen wie in seinem physischen Wesen aufs auffallendste an den Affen. Dieselbe Nachahmungssucht, dieselbe Feigheit, kurz dasselbe in allen Charaktereigentümlichkeiten! In seiner Geschichte (so auf Haiti) stellt sich der Neger nach dem Ausdruck eines Berichterstatters der Allgem. Ztg. „halb als Tiger, halb als Affe“ dar. – Den bra-
112 Ebenda, S. 636.
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silianischen Urmenschen schildert Burmeister als ein Tier in seinem ganzen Tun und Treiben und jedes höheren geistigen Lebens ganz entbehrend.113
Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die nach August Petermann „unzweifelhaft […] wichtigste geographische Frage“, die in dem ereignisreichen Jahr 1855 diskutiert wurde, nämlich den Plan „der Durchstechung des Isthmus von Sues behufs Anlage eines Schiffs-Kanals“.114 Was sind verglichen mit dieser Idee, so Petermann, alle in diesem Jahr gemachten Expeditionen zum „Nordpol oder im Tropischen Afrika, oder anderwärts?“. Diese Forschungen haben uns bekannt gemacht mit einigen bisher unbekannten Contouren öder, eisumgürteter Landstriche, oder haben uns Kunde gebracht über früher unerforschte Strecken der Heimath unserer schwarzhäutigen Mitmenschen u. dgl.; ihren Werth und ihr Interesse schlagen wir keineswegs geringer an, als sie verdienen […].115
Wenn man die gesamte Menschheit ins Auge fasse, so seien jedoch all diese Entdeckungen im Vergleich mit der „Sues-Frage“ nahezu bedeutungslos: Wenn es möglich wäre, eine Brücke von Calais nach Dover, oder gar von Europa nach Amerika zu schlagen, so würde das auf die Welt und die Machtstellung der Völker der Erde bei weitem nicht den Einfluß haben, als die Zerstörung der Brücke, des schmalen terrestrischen Bandes, welches Asien mit Afrika verbindet.116
Für den Weltverkehr seien die Meere und Meerengen jene Verbindungen und Brücken, welche die Kontinente einander näher bringen und den Kontakt mit Völkern in weiter Ferne ermöglichen. Ein Schiffs-Kanal zwischen dem Mittelländischen und Rothen Meere würde, ganz allgemein gesprochen, die Indische, Chinesische, Japanische Welt, Australien und Polynesien, Ost-Afrika u. s. w., mit ihren circa 600 Millionen Einwohnern, durchschnittlich um mindestens die Hälfte der Distanz näher zu Europa bringen, als der bisherige Hauptverbindungs-Weg um das Kap der Guten Hoffnung es thut.117
113 Ludwig BÜCHNER, Kraft und Stoff: Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein-verständlicher Darstellung (1855), in: WITTICH (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner 2, S. 343-516, S. 494-495. 114 August PETERMANN, Die Projektirte Kanalisierung des Isthmus von Sues, nebst Andeutungen über die Höhen-Verhältnisse der angrenzenden Regionen, besonders Palästina, in: Petermanns Mittheilungen 1 (1855), S. 364-375, hier S. 364. 115 Ebenda. 116 Ebenda. 117 Ebenda.
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Während die naturwissenschaftlich orientierten Anthropologen in ihren Laboratorien Schädel horteten und Maße nahmen und die Geographen über die Bedeutung des Suezkanals philosophierten, beendete Arthur Graf Gobineau im Jahr 1855 seinen mehrbändigen Traktat Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (1853-1855). Ziel seiner Untersuchung war es, die „tieferen Gründe der Wesenseinheit der sozialen Krankheiten zu entdecken“, an welchen die Völker und Nationen in der Vergangenheit, der Gegenwart und voraussichtlich auch in der Zukunft litten, leiden und leiden werden.118 Die Ursache für den Untergang eines Volkes, für seine „Degeneration“ – ein Wort, das seit Gobineau zum festen Repertoire „rassentheoretischer“ Rhetorik gehört – liege in der „Rassenfrage“, genauer in der „der Ungleichheit der Rassen“ begründet. Die „Rassenfrage“ sei von Historikern sträflich vernachlässigt worden, obgleich sie „alle anderen Probleme der Geschichte“ beherrsche.119 Ich meine also, daß das Wort degeneriert, auf ein Volk angewandt, bedeuten muß und bedeutet, daß dieses Volk nicht mehr den inneren Wert hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Wert fortwährende Vermischungen allmählich eingeschränkt haben; anders ausgedrückt weil es mit dem gleichen Namen nicht auch die gleiche Art, wie seine Begründer, bewahrt hat, kurz, weil der Mensch des Verfalles, derjenige, den wir den degenerierten Menschen nennen, ein unter dem ethnographischen Gesichtspunkte von dem Helden der großen Epochen verschiedenes Subjekt ist.120
Ohne hier den mächtigen Einfluß von Gobineau auf das „rassentheoretische“ Denken eingehend besprechen zu wollen, sei nur betont, daß sein 1855 abgeschlossenes Werk in einer Tradition steht, die meines Erachtens von der gleichzeitigen Tradition der naturwissenschaftlichen „Schädelmesserei“ unterschieden werden sollte. Während die detailverliebten exakten „Rassenforscher“ unentwegt neue Meßinstrumente entwickelten, über noch raffiniertere Indizes nachdachten und einen bald unüberschaubaren Wust an Daten lieferten, war der Blick von Gobineau von Anfang an auf das Ganze gerichtet. Bemühten sich die naturwissenschaftlichen Anthropologen, die „Rassen“ zu bestimmen und zu klassifizieren, so setzte Gobineau einen „Rassebegriff“ voraus und legte diesen seinem welthistorischen Schwanengesang zugrunde. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, werde ich einen kurzen Blick auf die „Rassentheorie“ der Jahrhundertwende werfen.
118 Arthur Graf GOBINEAU, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen 1. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, Stuttgart: Fr. Frommans Verlag Stuttgart 51939 [1853], S. XIV. 119 Ebenda, S. XVIII. 120 Ebenda, S. 31-32.
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Exkurs: Zur Kritik führender „Rassentheoretiker“ der Jahrhundertwende am „Rassenbegriff“ der exakten Naturwissenschaften Es kann wohl als eine der großen Ironien der Ideengeschichte der Anthropologie bezeichnet werden, daß die um die Jahrhundertmitte aufkommende, moderne naturwissenschaftliche „Rassenforschung“ gleichsam an ihren Erfolgen, an ihrer Überfülle an Daten zugrunde ging und schließlich von der aus ihrer Sicht antiquierten „Rassenforschung“ eines Gobineau überlebt wurde. Um dies zu verdeutlichen, soll im folgenden die Kritik an der hier vorgestellten „Schädel- und Gehirnmesserei“ skizziert werden, die um 1900 bzw. in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts von einigen bekannten Autoren geübt wurde. Diese Autoren, die allesamt wesentlich dazu beitrugen, den „Rassebegriff“ zu popularisieren und im öffentlichen Bewußtsein zu verankern, wandten sich explizit gegen den naturwissenschaftlich ausgerichteten Strang der „Rassenforschung“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gemeinsam erhoben sie den Vorwurf, die Kraniologie bzw. die naturwissenschaftliche „Rasseforschung“ sei über eine positivistische „Kleinigkeitskrämerei“ nicht hinausgekommen und habe sich als unfähig erwiesen, zu einer Synthese und zu einem wahren Verständnis von der Bedeutung der „Rasse“ als geschichtsmächtigem Faktor zu gelangen. Ludwig Woltmann (1871-1907), der Herausgeber der Politisch-Anthropologischen Revue, argumentiert, daß der „sehr berühmt gewordene Virchow“ nicht nur in der Frage des Darwinismus, sondern auch in der „Rassenforschung“ der Wissenschaft eher „geschadet“ als „genutzt“ habe. Selten habe ein Wissenschaftler seine eigenen Leistungen so überschätzt wie Virchow, „dieser Hort aller Reaktionäre, dessen Geist überall da versagte, wo es sich um tiefergehende geschichtliche und vergleichende Zusammenhänge handelte“.121 Woltmann selbst sah seine Arbeit in einer ideengeschichtlichen Tradition, die in die Zeit vor die messenden und wiegenden Naturwissenschaftler zurückreichte, und knüpfte explizit an die Überlegungen des deutschen Kulturhistorikers Gustav Klemm (18021867) und des französischen Geschichtsdramatikers Gobineau an. In seinem Bestreben, anhand biographischer Skizzen berühmter Männer die Bedeutung der nach Italien eingewanderten „germanischen Rasse“ für die europäische Renaissance zu erweisen, bediente sich Woltmann also keineswegs der exakten, strengen, vermessenden Methoden der Naturwissenschaften. Um etwa die „germanische Abstammung“ von Galileo Galilei nachzuweisen, greift er in erster Linie auf historische und linguistische Quellen zurück, die durch Überlegungen zum Erscheinungsbild des Naturwissenschaftlers ergänzt werden. Auf den überlieferten Porträts von 121 Ludwig WOLTMANN, Die anthropologische Geschichts- und Gesellschaftstheorie IX-X, in: Politisch-Anthropologische Revue: Monatsschrift für das soziale und geistige Leben der Völker 2 (1903/04), S. 451-456. Vgl. auch ders., Klemm und Gobineau, in: Politisch-Anthropologische Revue 6 (1907/08), S. 673-697.
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Galileo seien „große, klare, blaue Augen zu sehen“. Edle Herkunft, schreibt Woltmann, und Namensursprung der väterlichen und mütterlichen Familie, seine große Statur und weiße Haut, das rötliche Haar, die blauen Augen, alle diese Indizien und Merkmale machen es zu einem unabweisbaren Schluß, daß Galileo Galilei der germanischen Rasse und zwar wahrscheinlich dem langobardischen Stamme entsprossen ist.122
Ähnlich Woltmann meinte auch der deutsche „Gobineaute“ Ludwig Schemann (1852-1935), daß heutzutage Gelehrte aller Wissensgebiete „Blutseinheiten“ ihren Forschungen zugrunde legten und daß man weit davon entfernt sei, die „Rasse“ im streng naturwissenschaftlichen Sinne zu verstehen und sie nur in „Schädeln und anderen Anatomicis verkörpert zu sehen“.123 Gerade die einseitig kraniologische Ausrichtung der „Rassenforschung“ des 19. Jahrhunderts, welche die Geisteswissenschaften nicht berücksichtigte, habe in eine Sackgasse geführt und schon bald mußte man einsehen, daß die übertriebenen Erwartungen, denen viele im Anfang im Punkte der Schädelmessungen sich hingaben, sich nicht erfüllen sollten. Darauf zumal – was man erst geglaubt hatte –, auf Grund der Schädelformen die betreffenden Individuen durchweg festen Rassen zuweisen zu können, mußte man verzichten. […] Alles in allem schien es unbestreitbar, daß die Ergebnisse der Kraniologie, namentlich solange diese auf sich allein gestellt war, äußerst bescheidene blieben.124
Auch Houston St. Chamberlain (1855-1927) wandte sich in seinem Werk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) immer wieder gegen die „exakten“ Rassenforschungen der Naturwissenschaftler. Diese hätten sich als unfähig erwiesen, die „Hieroglyphen der Natursprache“ zu deuten. 125 „Es gehört Leben dazu, um Leben zu verstehen.“126 Ganz junge Kinder, insbesondere Mädchen, so Chamberlain, verfügten häufig über „einen ausgeprägten Instinkt für Rasse“.127 Immer wieder geschehe es, daß Kinder, die noch nie einen Juden gesehen haben, ja nicht einmal wissen, „dass es überhaupt so etwas gibt, zu heulen anheben, sobald ein echter Rassen122 Ludwig WOLTMANN, Die germanische Abstammung Galileo Galileis, in: Politisch-Anthropologische Revue 3 (1904/05), S. 508-509, hier S. 509. 123 Ludwig SCHEMANN, Die Rasse in den Geisteswissenschaften [1]: Studien zur Geschichte des Rassengedankens, München: J. F. Lehmanns Verlag 1928, S. 4. 124 Ebenda, S. 105-106. 125 Houston Stewart CHAMBERLAIN, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts 1. ungekürzte Volksausgabe, München: F. Bruckmann 281942 [1899], S. 591. 126 Ebenda. 127 Ebenda.
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jude oder eine Jüdin in ihre Nähe tritt!“128 Der Forscher hingegen sei oft nicht in der Lage, einen Juden von einem Nichtjuden zu unterscheiden; das Kind, das kaum sprechen kann, weiss es. Ist das nicht eine trostreiche Erfahrung? Mich dünkt, sie wiegt einen ganzen anthropologischen Kongreß […] auf. Es gibt doch noch etwas auf der Welt ausser Zirkel und Metermass. Wo der Gelehrte mit seinen künstlichen Konstruktionen versagt, kann ein einziger Sonnenstrahl aufhellen.129
Die Bestimmung, so Chamberlain, welche Menschen wirklich „Germanen oder zum Mindesten stark mit germanischem Blut durchsetzt“ seien, werde „niemals mathematisch rein durchzuführen sein, sondern immer jenen Blick des Züchters und jenen Instinkt des Kindes erfordern. Viel wissen sollte freilich hierzu nur von Nutzen sein, doch viel sehen und viel fühlen ist noch viel unentbehrlicher.“130 Der einzig wahre Beweis sei der „Besitz von ,Rasse‘ im eigenen Bewusstsein“.131 Wer einer „reinen Rasse“ angehöre, „empfindet es täglich“. Die Tyche seines Stammes weicht nicht von seiner Seite; sie trägt ihn, wo sein Fuss wankt, sie warnt ihn, wie der Sokratische Daimon, wo er im Begriffe steht auf Irrwege zu geraten, sie fordert Gehorsam und zwingt ihn oft zu Handlungen, die er, weil er ihre Möglichkeit nicht begriff, niemals zu unternehmen gewagt hätte. Schwach und fehlervoll, wie alles Menschliche, erkennt dennoch ein solcher Mann sich selbst (und wird von guten Beobachtern erkannt) an der Sicherheit seines Charakters, sowie daran, dass seinem Tun eine einfache Grösse zu eigen ist, die in dem bestimmt Typischen, Überpersönlichen ihre Erklärung findet. Rasse hebt eben einen Menschen über sich selbst hinaus, sie verleiht ihm außerordentliche, fast möchte ich sagen übernatürliche Fähigkeiten, so sehr zeichnet sie ihn vor dem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenen Individuum aus; und ist nun dieser edelgezüchtete Mensch zufällig ungewöhnlich begabt, so stärkt und hebt ihn die Rassenangehörigkeit von allen Seiten, und er wird ein die gesamte Menschheit überragendes Genie, nicht weil er wie ein flammendes Meteor durch eine Laune der Natur auf die Erde herabgeworfen wurde, sondern weil er wie ein aus tausend und abertausend Wurzeln genährter Baum stark, schlank und gerade zum Himmel emporwächst – kein vereinzeltes Individuum, sondern die lebendige Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen. Wer ein offenes Auge besitzt, erkennt ja bei Tieren ,Rasse‘ sofort. Sie zeigt sich an dem ganzen Habitus und bekundet sich in hundert Einzelheiten, die sich der Analyse entziehen; ausserdem bewährt sie sich in den Leistungen, denn ihr Besitz führt immer zu etwas Excessivem, Ungewöhnlichem, ja, wenn man will, zu Übertriebenem und Einseitigem. Man kennt Goethe’s Behauptung, einzig das Überschwängliche mache die Größe; das ist es, was eine 128 129 130 131
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 592. Ebenda, S. 320.
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aus vorzüglichem Material gezüchtete Rasse den Individuen verleiht: ein Überschwängliches.132
Auch Chamberlain wird in seinen „rassetheoretischen Überlegungen“ nicht an die exakte Naturwissenschaft, sondern an ältere physiognomische Denktraditionen anknüpfen. Aus einem Porträt von Dante – die Zeichnung findet sich auch in seinem Buch – wird er die „Rasse“ des großen Dichters herauslesen: Das ist ein charakteristisch germanisches Gesicht! Kein Zug gemahnt daran an irgend einen bekannten hellenischen oder römischen Typus, geschweige an irgend eine der asiatischen und afrikanischen Physiognomien, welche die Pyramiden uns treu aufbewahrt haben. Ein neuer Mensch ist in die Weltgeschichte eingetreten! Die Natur hat in der Fülle ihrer Kraft eine neue Seele erzeugt: schau hin, dort spiegelt sie sich in einem noch nie erblickten Menschenantlitz wider! ,Über dem inneren Orkan, der im Antlitz Ausdruck fand, erhob sich kühn die friedliche Stirn und wölbte sich zur Marmorkuppel’! Ja, ja Balzac hat Recht: Orkan und Marmorkuppel! Hätte er bloss gemeldet, Dante sei ein leptoprosoper Dolichocephal, es wäre damit nicht viel gesagt.133
Auch Oswald Spengler (1880-1936) wird in seinem düsteren Orakel über den Untergang des Abendlandes (1918-1922) betonen, daß die historische Bedeutung von „Rasse“ nicht durch die quantitativen Methoden des exakten Wissenschaftlers, sondern nur durch die intuitive Schau des Künstlers erfaßt werden könne. „Wenn der Rasseausdruck der Pflanze ganz vorwiegend in der Physiognomie der Lage besteht, so liegt der tierhafte Ausdruck in einer Physiognomie der Bewegung, nämlich in der Gestalt.“134 Ein schlafendes Tier, so Spengler, verrate kaum etwas von seinen „Rassezügen“, ein „totes, dessen Teile der Forscher wissenschaftlich untersucht, noch viel weniger, der Knochenbau eines Wirbeltieres fast nichts mehr“.135 Entscheidend für den „Rasseausdruck“ des tierischen Organismus seien nicht die Rippen, sondern die Gelenke und Gliedmaßen, welche die Bewegung ermöglichten, entscheidend für den „Rasseausdruck“ sei ferner „nicht das Auge an sich nach Form und Farbe, sondern der Blick, der Gesichtsausdruck, der Mund, weil er durch die Gewohnheit des Sprechens den Ausdruck des Verstehens trägt, überhaupt nicht der Schädel, sondern der ‚Kopf‘ mit seinen nur durch das Fleisch gebildeten Linien“.136 Nie hätte die „wirkliche Rasseerscheinung eines Wisent, einer Forelle, eines Königsadlers“ die Künstler in ihren Bann schlagen können, wenn sich das 132 Ebenda, S. 320-321. 133 Ebenda, S. 593-594. 134 Oswald SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Zweiter Band: Welthistorische Perspektiven, München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 601923, S., 151. 135 Ebenda, S. 151-152. 136 Ebenda, S.152.
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Geheimnis ihrer „Rasse“ in der bloßen Beschreibung und im mathematischen Erfassen des Sichtbaren erschöpft hätte.137 Man muß es sehen und sehend fühlen, wie die ungeheure Energie dieses Lebens sich in Kopf und Nacken zusammendrängt, aus dem geröteten Auge redet, aus dem kurzen gedrungenen Horn, aus dem Adlerschnabel, dem Profil des Raubkopfvogels, was alles durch eine Wortsprache verstandesmäßig nicht mitzuteilen und nur durch die Sprache einer Kunst für andere auszudrücken ist.138
Ähnliches gelte für den Menschen. Auch hier sei der „Rasseausdruck“ nicht durch die Schädelform festgelegt, ja der „Rasseausdruck eines Menschenkopfes [vertrage] sich mit jeder überhaupt denkbaren Schädelform“.139 Nicht die Knochen seien das Entscheidende, „sondern das Fleisch, der Blick, das Mienenspiel“.140 Seit der Epoche der Romantik spreche man von „einer indogermanischen Rasse. Aber gibt es Arier- und Semitenschädel? Kann man Kelten- und Franken- oder auch nur Burenund Kaffernschädel unterscheiden?“141 Als die Römer den Weinstock aus Italien an den Rhein brachten und einpflanzten, habe dieser „sich dort gewiß nicht sichtbar, nämlich botanisch verändert“.142 Aber trotzdem sei die unterschiedliche „Rasse“, in diesem Fall das unterschiedliche Aroma, nicht nur des Nord- und Südweins, sondern auch des Rhein- und Moselweins, ja selbst der Weine einzelner Berghänge, für den Fachmann unverkennbar: Dies ,Aroma‘, ein echtes Produkt der Landschaft, gehört zu den nicht meßbaren und deshalb um so bedeutungsvolleren Merkmalen echter Rasse. Edle Menschenrassen unterscheiden sich aber in ganz derselben geistigen Weise wie edle Weine. Ein gleiches Element, das sich nur dem zartesten Nachfühlen erschließt, ein leises Aroma in jeder Form verbindet unterhalb aller hohen Kultur in Toskana die Etrusker mit der Renaissance, am Tigris die Sumerer von 3000, die Perser von 500 und die anderen Perser der islamischen Zeit. Alles dieses kann für eine messende und wägende Wissenschaft nicht erreichbar sein. Es ist für das Fühlen mit untrüglicher Gewißheit und auf den ersten Blick da, aber nicht für die gelehrte Betrachtung. Ich komme also zu dem Schluß, daß Rasse ebenso wie Zeit und Schicksal etwas ist, etwas für alle Lebensfragen ganz Entscheidendes, wovon jeder Mensch klar und deutlich weiß, solange er nicht den Versuch macht, es durch verstandesmäßige und also entseelende Zergliederung und Ordnung begreifen zu wollen. In dem Augenblick, wo das wissenschaftliche Denken sich ihnen nähert, erhält das Wort Zeit eine Bedeutung von Dimension, das Wort Schicksal die von Kausalverkettung; und Rasse wofür wir 137 138 139 140 141 142
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 153. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 154.
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eben noch ein sehr sicheres Gefühl besaßen, wird zu einem unübersehbaren Wirrwarr ganz verschiedener und verschiedenartiger Merkmale, die nach Landschaften, Kulturen, Stämmen regellos durcheinanderlaufen.143
Dieser kurze Ausblick auf die Kritik, die um 1900 von geisteswissenschaftlichen „Rassetheoretikern“ an der exakten „Rassenforschung“ geübt wurde, sollte veranschaulichen, daß die messenden und wiegenden Naturwissenschaftler eben nicht die klaren Ergebnisse und Kategorien liefern konnte, die sich Woltmann, Schemann, Chamberlain und Spengler, aber auch weite Teile der Öffentlichkeit erwartet hatten. Dies zu betonen, erscheint mir wichtig, da die „Rassenforschung“ oftmals unter einen Generalverdacht des ideologisch Unappetitlichen gestellt wird, so daß die zum Teil auch ideologisch vollkommen widersprüchlichen Traditionen innerhalb der „Rassentheorien“ übersehen werden. Etwas überspitzt formuliert: Der „Rassenbegriff“ eines Woltmann, Schemann, Chamberlain und Spengler ist keine konsequente Weiterentwicklung, sondern vielmehr eine Absage an die exakte „Schädelmesserei“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch bei „unappetitlichen Speisen“ sollte man mitunter kritisch einzelne Geschmacksrichtungen voneinander zu unterscheiden versuchen.
Das Jahr 1856 Das Dahinschwinden der „Naturvölker“ – die Öffnung des 343. Grabes in Hallstatt – die Donauschiffahrt – ein krummbeiniger „Kosak“ aus dem Neandertal
Im zweiten Jahrgang von Petermanns Mittheilungen verfaßte der Herausgeber einen Beitrag „Zur Geographie von Australien und Tasmanien“.144 Im Jahr 1815, so Petermann, hatte es in Tasmanien noch 5.000 „Eingeborne“ gegeben. 20 Jahre später waren es nur noch 111. Im Jahr 1847 als die Tasmanier von Flinder’s Island, „wo das Klima zu rau ist, nach der geschützten Auster-Bai in der Nähe von Hobart Town gebracht wurden, zählte man 13 Männer, 22 Frauen, 5 Knaben und 5 Mädchen“. In den Jahren von 1847 bis 1854 starben 29 Tasmanier, und es „wurden keine Kinder geboren, so dass jetzt nur noch 16 Eingeborene übrig sind“. Obwohl, so Petermann weiter, „diese Eingebornen aufs Liberalste mit Lebensmitteln unterstützt werden, und man ihnen alle Hilfe angedeihen lässt, so steht doch zu erwarten, dass dieser geringe Rest binnen Kurzem gewichen sein wird“.145 Berichte wie jener von Petermann über das rasche Aussterben der Tasmanier finden sich in den länder- und völkerkundlichen Zeitschriften 143 Ebenda, S. 155. 144 Vgl. August PETERMANN, Zur Geographie von Australien und Tasmania, in: Petermanns Mittheilungen 2 (1856), S. 439-454. 145 Ebenda, S. 441.
II. ANFÄNGE DER ANTHROPOLOGIE: QUELLEN UND ANALYSEN | 131
der anthropologischen Gründerzeit immer wieder. Gerade der Untergang der „Wilden“ im fernen Tasmanien, dem ehemaligen Van-Diemen’s-Land, sollte, wie wir im Verlauf der nächsten Jahre sehen werden, von den Vertretern der „jungen“ Anthropologie auf das genaueste verfolgt und dokumentiert werden. In diesem Zusammenhang wurde auch oftmals die allgemeine Frage aufgeworfen, ob das Dahinschwinden der „Wilden“ vor der Ankunft und Verbreitung der „Zivilisierten“ unvermeidbar sei und auf das Walten grausamer Naturgesetze zurückgeführt werden müsse oder ob nicht vielleicht doch die „niederen Rassen“ durch philanthropisches Bemühen in den Stand der „Zivilisation gehoben“ und somit gerettet werden könnten. Im 1856 erschienenen vierten Band von Herders ConversationsLexicon, einem der zentralen Nachschlagewerke des deutschen Bildungsbürgertums, heißt es hierzu unter dem Stichwort „Mensch“: Unbestreitbar ist die kaukasische Race die edelste […]; am niedrigsten stehen offenbar die Neger; daß sie übrigens nicht zu dem körperlichen Typus der Race verurtheilt sind, sondern auch körperlich edler erscheinen können, beweisen z. B. die Mandingos, und daß sie der Civilisation fähig sind, mehrere Negerstaaten im innern Afrika.146
Im Frühjahr 1856 kam es zum „Frieden von Paris“, der den seit 1853 andauernden Krimkrieg zwischen Rußland und den Bündnispartnern England, Frankreich, Österreich, Sardinien-Piemont sowie dem Osmanischen Reich beendete. Im Rahmen des Pariser Friedens und nachfolgender Verträge mußte Rußland das Donaudelta abtreten. Ferner wurde das Schwarze Meer zu einem neutralen Gebiet erklärt, das internationale Seerecht neu geordnet und die Donau für den Schiffsverkehr frei gegeben und eine eigene „Europäische Donaukommission“ eingerichtet. Diese Kommission wurde beauftragt, Pläne zur Regulierung auszuarbeiten und so die Schiffbarkeit dieses für den europäischen Wirtschaftsverkehr so wichtigen Stromes zu verbessern. 1856 erschien die Abhandlung „Blick auf den gegenwärtigen Standpunkt der Ethnologie mit Bezug auf die Gestalt des knöchernen Schädelgerüstes“ des berühmten Stockholmer Anthropologen Anders Retzius (1796-1860), in der er anhand zweier kraniometrischer Merkmale alle Völker der Welt, auf der zu diesem Zeitpunkt rund 1.300 Millionen Menschen lebten, zu beschreiben versuchte.147 Das erste dieser Klassifizie146 HERDERS CONVERSATIONS-LEXICON, Vierter Band: Lindenbrug bis Ryut, Freiburg im Breisgau: Herder’sche Verlagshandlung 1856, S. 153155, hier S. 155. 147 Anders RETZIUS, Blick auf den gegenwärtigen Standpunkt der Ethnologie in bezug auf die Gestalt des knöchernen Schädelgerüstes (1856), in: ders., Ethnologische Schriften. [Nach dem Tode des Verfassers gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn Gustaf Retzius], Stockholm: P. A. Norstedt & Söhner 1864, S. 136-162.
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rungsmerkmale war der von ihm bereits zu Beginn der 1840er Jahre entwickelte „Cephalische Index“, das wohl bekannteste kraniometrische Maß des 19. Jahrhunderts.148 Der „Cephalische Index“ führte zur Einteilung in „dolichocephale“ (langköpfige) und „brachycephale“ (kurz-, breit- oder rundköpfige) „Rassen“.149 Das zweite Merkmal, das Retzius für seine Untersuchungen heranzog, war der Gesichtswinkel (auch Ganzprofilwinkel), ein im 18. Jahrhundert von Peter Camper eingeführtes Maß.150 Der Gesichtswinkel führte zur Unterteilung in „orthognathe“ und „prognathe Rassen“.151 Aufgrund dieser Einteilung, meinte Retzius, müsse es möglich sein, die Abstammungsgemeinschaft und die historischen Verwandtschaftsbeziehungen der einzelnen Völker auf den jeweiligen Kontinenten zu bestimmen. In Europa zählten nach Retzius zu den orthognathen Dolichocephalen die westeuropäischen Völker, die Germanen (Norweger, Schweden, Dänen, Holländer, Flamänder, Deutsche, Franken, Angelsachsen usw.) und Celten (Wallonen, Gallier, „die eigentlichen Römer“, „die alten Hellenen und ihre Abkömmlinge“).152 Zu den orthognathen Brachycephalen gehörten nach Retzius die osteuropäischen Völker, die Ugern (Samojeden, Lappen, Wogulen, Ostiaken, Permier, Wotiaken usw.) und die „Slaven“ (Czechen, Wenden, Slovaken, Morlacken, Croaten, Serbier, Polen, Neugriechen usw.).153 In Asien zählte Retzius zu den orthognathen Dolichocephalen die Hindus, die arischen Perser, Araber und Juden, zu den prognathen Dolichocephalen die Tungusen und Chinesen, zu den prognathen Brachycephalen die Turkomannen, Afghanen, Tartaren, Malayen usw. Ich verzichte darauf, die Völker der anderen Kontinente anhand der Merkmale von Retzius zu klassifizieren und möchte nur darauf verweisen, daß uns in der hier diskutierten Zeitspanne Klassifizierungsversuche dieser Art immer wieder begegnen werden. Möglich waren diese Unternehmen freilich nur aufgrund jenes eigentümlichen Empirismus und des naturwissenschaftlichinduktiven Ethos, welche die Gründerzeit der Anthropologie prägten. Gerade in den Schädelsammlungen, die in der Zeit von Retzius einen unge148 Der „Cephalische Index“, auch Längen-Breiten-Index genannt, ergibt sich aus der größten Breite des Schädels, die mit 100 multipliziert und anschließend durch dessen größte Länge dividiert wird. 149 Später wurde noch der Begriff der Mesocephalie eingeführt. 150 Der Campersche Gesichtswinkel ergibt sich aus einer Linie von dem am weitest hervorstehenden Punkt des Oberkiefers zu dem am weitest hervorstehenden Punkt der Stirn und einer zweiten Linie vom äußersten Gehörgang zur Basis der Nase. Dieser von Peter Camper (1722-1789) entwickelte Indikator sollte Aufschlüsse über die Größe des Gehirns im Stirnbereich geben, wo der Sitz der Intelligenz vermutet wurde. 151 „Orthognathie“ und „Prognathie“ wurde im Deutschen zumeist mit „Geradkiefer“ (auch „Geradzähner“) und „Schiefkiefer“ (auch „Schiefzähner“) wiedergegeben. 152 Ich folge in diesem Abschnitt der Schreibweise von Retzius. 153 Nach Retzius gab es in Europa keine prognathen Völker.
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meinen Aufschwung erleben sollten, spiegelt sich diese Sammelwut wider.154 Nur exemplarisch seien in diesem Zusammenhang – neben der Stockholmer Sammlung von Retzius – einige berühmte Kollektionen, die zum Teil mehr als 1.000 Schädel umfaßten, genannt: die Crania Americana und die Crania Aegyptica von Samuel G. Morton, die Crania Britannica von Joseph B. Davis und John Thurnam, der Thesaurus craniorum von Davis, die Crania Selecta von Karl Ernst von Baer, die Schädelsammlungen des Italieners Paolo Mantegazza, die Kollektion des Franzosen Paul Broca, die Crania Ethnica seiner Landsleute Quatrefages und Hamy, die Crania Germaniae von Alexander Ecker, die Crania Helvetica von Ludwig Rütimeyer und Wilhelm His sowie die Sammlung des Budapester Museums von Aurel von Török. Um diese Sammelwut zu veranschaulichen, lassen wir kurz zwei berühmte Kollekteure zu Wort kommen, die nicht ohne Stolz über das Anwachsen ihrer Sammlungen berichten. In den frühen 1840er Jahren teilte Anders Retzius über die von ihm angelegte Kollektion folgendes mit: Vom Dr. WILDE in Dublin erhielt ich im vorigen Jahre einen Gipsschädel von Alexander O’Connor, angeblich dem letzten Könige von Irland. WILDE hält den Schädel für ein Specimen der Schädelform der Irländer. Ich sandte ihm dagegen einen Gipsabguß des uralten schwedischen Schädels, welchen ich vom Pros. LIEDBECK empfangen hatte. […] Die in den hiesigen Sammlungen sich befindenden Slavenschädel sind: einer von einem Czechen, einer von einem Polen und zwei von Russen. Den Czechenschädel erhielt ich vom Prof. PRESL in Prag; der Polenschädel und der eine russische sind vom Hrn. Oberdirektor SCHWARTZ in Gipsabgüssen gegeben worden; das Original zum Polenschädel gehört dem anatomischen Museum in Upsala, der russische befindet sich in der Sammlung des verstorbenen Dr. SPURZHEIM. Den anderen Russenschädel hat Hr. Prof. LOVÈN gütigst mitgetheilt; er bekam ihn aus einem Russengrabe auf Spitzbergen. Diese Anzahl ist freilich geringe, und ich würde es mir nicht erlauben, auf so wenige Specimina irgend [sic] Schlüsse zu gründen, wenn ich dabei nicht Gelegenheit gehabt hätte, die äußere Kopfform von einer größeren Anzahl lebender Slaven zu untersuchen.155
Rund 25 Jahre nach Retzius berichtet der deutsche Anthropologe Hermann Welcker über seine Sammlung: 154 Es sei hier bemerkt, daß auch im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert bereits Schädelkollektionen angelegt wurden. Man denke etwa an die berühmte Sammlung von Blumenbach in Göttingen. Doch sind diese Kollektionen weder in bezug auf die Zahl noch in bezug auf die geographische Herkunft der akquirierten Schädel mit jenen der hier diskutierten Epoche zu vergleichen. 155 Anders RETZIUS, Ueber die Schädelformen der Nordbewohner (1842), in: ders., Ethnologische Schriften. [Nach dem Tode des Verfassers gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn Gustaf Retzius], Stockholm: P. A. Norstedt & Söhner 1864, S, 1-24, hier S. 8.
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21 bairische Schädel wurden mir aus München durch Herrn Professor Bischoff zugesendet; 30 holsteinische Schädel durch Herrn Professor Behn aus Kiel; aus Leipzig drei Grönländer- und ein Mumienschädel durch Herrn Prof. E. H. Weber; aus England durch J. B. Davis 36 Schädel von Hindus, Quanchen, Schotten, Irländern und Marquesasinsulanern; aus Marburg, Giessen, Freiburg und Tübingen zahlreiche pathologische Schädel durch die Herren Claudius, Wernher, Ekker und Luschka. Auch beschenkt wurde ich mit werthvollem Materiale; in dieser Beziehung verdanke ich der Güte J. Thurnham’s einen Altrömerschädel und einen Angelsachsen […]; von J. B. Davis erhielt ich einen Negerschädel und vier Kanakas; von Swaving drei Chinesen, vier Javanesen und einen Dajak; von Halbertsma einen Dajak und einen Javanesen; von Dr. Ule den außerordentlich werthvollen Schädel eines Tasmaniers; von Dr. A. Sasse neun nordholländische Schädel; von Dr. Weisbach zwei Magyaren, einen Czechen und einen Italiener; von einem befreundeten Arzte zwei Czechen, einen Croaten, einen Ruthenen und einen Zigeunerschädel; von verschiedenen Freunden und durch von mir selbst ausgeführte Exhumation eine Anzahl alter und vorhistorischer Schädel; von Herrn Professor Fuhlrott den Abguß der Innen- und Außenfläche des Neanderthalers; von der Direction der Großherzoglich Weimar’schen Hof-Bibliothek den Abguss von Schiller’s Schädel.156
Gehen wir nun von der schädelsammelnden Anthropologie zur Urgeschichte über, und werfen wir einen kurzen Blick auf zwei bedeutende prähistorische Entdeckungen des Jahres 1856. Im Oktober 1856 besuchte Kaiser Franz Joseph I. gemeinsam mit seiner Gattin Elisabeth das riesige Gräberfeld von Hallstatt, das in den Jahren von 1847 bis 1867 unter der wissenschaftlichen Leitung von Eduard Baron von Sacken ausgegraben und als Österreichs großartiger Beitrag zur jungen prähistorischen Forschung gefeiert wurde. Zu Ehren des Kaisers und der Kaiserin sollte der Bergmeister Johann G. Ramsauer von Hallstatt in deren Anwesenheit das 342. Grab öffnen. Nur wenige Tage danach besichtigte der bekannte Dichter und Schauspieler des Wiener Biedermeier Ignaz F. Castelli (17811862) die Ausgrabungsstätte. In seinen Memoiren schreibt Castelli über seinen Besuch in Hallstadt: Es sind Vasen und Säulen von verschiedenen Marmorgattungen, im Schachte gebrochen, und aus den Gräbern verschiedene Gattungen von Helmen, Kesseln, Lampen, Geschirren, Waffen, Gürteln und Schmuck, letzterer von Eisen, Bernstein und nur einer von Gold. Alle diese Gegenstände können nicht römischen Ursprungs sein, denn man findet an denselben keinen römischen Buchstaben, wohl aber abgebildete Tiere. Münzen sind noch keine gefunden worden. Man hält die Gräber für Gräber eines Keltenvolkes. Als ich alle diese Seltenheiten besehen hatte, führte er mich noch ein paar hundert Schritte aufwärts an den Platz seiner Ausgrabungen selbst. Es liegt dieser am Saume eines Waldes und ist ein mit Steingerölle beschütteter Abhang. Er 156 Hermann WELCKER, Kraniologische Mittheilungen, in: Archiv für Anthropologie 1 (1866), S. 89ff., hier S. 90.
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zeigte mir das vor wenigen Tagen in Gegenwart des Kaisers von ihm geöffnete 342. Grab und das Gerippe, welches darin noch mit all seinem Schmuck behangen lag. Den Gerippen nach zu urteilen müssen das Riesenmenschen gewesen sein. Dann ließ er mir zu Ehren drei Schritte von diesem die Erde aufgraben und sagte mir, als ich Zweifel äußerte, ob hier etwas zu finden sein werde, daß überall Gräber seien, und wirklich waren kaum die Steine und die obere Erddecke weggeräumt, und das 343. Altertumsgrab war geöffnet. Eine Spitze von einer eisernen Lanze und zwei Fibulae, welche wir dabei fanden, schenkte er mir zum Andenken.157
In den Schatten gestellt wurde jedoch die Öffnung des kaiserlichen Grabes von Hallstatt von einem Ereignis, das aus anthropologiegeschichtlicher Perspektive wohl als das bedeutendste des Jahres 1856 gelten kann. In diesem Jahr erblickte nämlich der Neandertaler das Licht der Welt. Er wurde im Zuge von Steinbrucharbeiten im August 1856 in einer Grotte am Düsselbach entdeckt. Sein „Geburtshelfer“, der Realschullehrer Johann C. Fuhlrott (1803-1877), berichtete, daß, als er im Frühjahr des nächsten Jahres seine Entdeckung einer Versammlung von Naturforschern in Bonn vorlegte, und nach sorgfältiger Erwägung aller Umstände, die den Fund begleiteten und die damals mir allein vollständig bekannt waren, für denselben die Wahrscheinlichkeit eines vorsündfluthlichen Alters und zugleich einer urtypischen Form unserer Gattung in Anspruch nahm, da war man zwar erstaunt und machte große Augen über das, was man sahe [sic], aber man zuckte auch allseitig die Achseln über das, was man hörte, und Niemand fand sich in der Versammlung, der meiner Ansicht über das geologische Alter des Fundes mit einem ermuthigenden Worte beigetreten wäre.158
Bereits seit mehreren Jahrzehnten hatten vorwiegend Amateure in verschiedenen Ländern über Funde fossiler Skelettreste berichtet. Doch die Fachwelt war in dieser Frage längere Zeit eher zurückhaltend geblieben. Erst als immer mehr Gräberfelder gefunden wurden und erst nach der Entdeckung der „Pfahlbauten“ begannen die Gelehrten ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf diese Funde zu richten. Nach anfänglichem Zögern fand auch der Neandertaler im Anatomen Hermann Schaaffhausen einen berühmten wissenschaftlichen Mäzen, der die von Fuhlrott geäußerten Vermutungen bezüglich des hohen Alters bestätigte. Schaaffhausen führte als Beleg des hohes Alters insbesondere den Schädel des Neandertalers ins Treffen, dessen markante „Stirnbildung“ seinem Gesicht einen „ungemein wilden und 157 Ignaz F. CASTELLI, Memoiren meines Lebens, Lizenzausgabe des Winkler Verlages, München, für die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien o. J., S. 230. 158 Johann C. FUHLROTT, Der fossile Mensch aus dem Neanderthal und sein Verhältniß zum Alter des Menschengeschlechts. Zwei Vorlesungen, Duisburg: Verlag von W. Falk & Volmer 1865, S. 30-31.
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thierischen, in der That an das Gesicht der großen Affen erinnernden Ausdruck gegeben haben muß“. Zwar bestünden gewisse Übereinstimmungen mit bereits zuvor gefundenen Schädeln und Skelettresten aus alten Gräbern, doch überträfen die Gebeine und der Schädel des Neandertalers alle bisher bekannt gewordenen an jenen Eigenthümlichkeiten der Bildung, die auf ein rohes und wildes Volk schließen lassen und dürfen, auf welche Weise sie auch in ihre Fundgrube gekommen sein mögen, für das älteste Denkmal der früheren Bewohner Europa’s gehalten werden, welche die indo-germanische Einwanderung als Autochthonen vorfand. […] Die Möglichkeit, daß diese Gebeine aus einer Zeit stammen, in der die zuletzt verschwundenen Thiere des Diluviums noch lebten, kann nicht bestritten werden; ein Beweis liegt aber in den Umständen der Auffindung nicht vor.159
Der Fund von Fuhlrott führte schon bald zu einer heftigen Kontroverse über Alter und Herkunft des Neandertalers. Aufgrund der eigentümlichen Form des Schädels argumentierten einige, daß es sich hierbei um eine Übergangsform zwischen „Affen“ und „Menschen“ handeln müsse. Der bereits mehrfach erwähnte Göttinger Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie Rudolf Wagner plädierte hingegen für ein jüngeres Alter des Neanderthalers und äußerte die Vermutung, „der Neanderthaler Schädel möge wohl von einem alten Holländer herrühren“. Wagner begründete seine These mit der Nachbarschaft Hollands und […] [der] allgemeine[n] Ähnlichkeit dieses Schädels mit einem Bataverschädel aus der Blumenbach’schen Schädelsammlung, dem sogenannten Batavus genuinus von der holländischen Insel Marken, unter deren Bevölkerung auch gegenwärtig noch Individuen mit auffallend markirten Gesichtszügen nicht selten sein sollen.160
Neben den alten Holländern wurde der Neandertaler übrigens auch – wie könnte es anders sein – in eine verwandtschaftliche Beziehung mit den Kelten und Skandinaviern gerückt. Karl Ernst von Baer gab seine gewichtige Stimme übrigens den Kimmerier, also einem – wie man damals annahm – nomadischen Reitervolk, das an der Nordküste des Schwarzen Meeres wohnte und gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. von den Skythen vertrieben wurde.161 Ein englischer Anthropologe erklärte, daß sich der seltsame Bau des Schädels „aus Rachitis und Idiotie erkläre, wonach
159 Ebenda, S. 60. Fuhlrott gibt in seiner Publikation die Argumentation Schaffhausens wider, ohne sie, wie er anmerkt, wörtlich zu zitieren. 160 Ebenda, S. 64. 161 Vgl. hierzu Alexander ECKER, Rückblicke auf K. E. Baer’s Antheil an der Gründung des Archivs für Anthropologie, in: Archiv für Anthropologie 11 (1879), S. 173-176, hier S. 174.
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dieser Schädel einem armen Idioten angehört haben könne, der als Einsiedler gelebt habe“.162 Rudolf Virchow blieb skeptisch und meinte, daß der Schädel des Neandertalers derzeit als eine „merkwürdige Einzelerscheinung“ mit pathologischen Zügen zu betrachten sei. Solange keine weiteren Funde vorlägen, sei es unzulässig, die „Natur einer Race nach einem einzigen Schädel zu beurtheilen“.163 Weniger skeptisch, ja eine etwas gewagte These in bezug auf die Identität des Neandertalers vertrat übrigens ein Bonner Professor und Geheimer Rat namens Mayer. Mayer, der seine Überlegungen zum Fuhlrottschen Fund in Müller’s Archiv im Jahre 1864 veröffentlichte, bestritt die „Fossilität“ des Neandertalers und meinte unter Verweis auf die krummen Schenkelknochen und die Stirnbildung, daß es sich um „einen ganz modernen Menschen, nämlich einen mongolischen Cosacken von Tschernitscheff’s Armeekorps aus dem Jahre 1814“ handeln müsse.164 Trotz dieser anfänglichen Bedenken bezüglich der Authentizität, Datierung und Identität wurde dem aus etwas „zwielichtigen“ Verhältnissen stammenden Neandertaler schließlich doch, wenn auch etwas widerwillig, ein Platz in der Ahnengalerie zugewiesen. Sein Bild hing noch vor den in ärmlichen Hütten lebenden, mit einfachen Waffen und Gerätschaften ausgestatteten, muschelgeschmückten „Pfahlbauern“. Auch in der scientific community sollte der Neandertaler schon bald prominente Fürsprecher bekommen und schließlich eine glänzende Karriere machen. Im Jahr 1860 inspizierte der englische Geologe George Lyell den Fundort, besuchte Johann Fuhlrott und bekam einen Gipsabdruck des Neandertalerschädels, den er zu Hause seinem Kollegen Thomas H. Huxley (1825-1895) vorlegte. In seinem Werk Evidences as to Man’s Place of Nature (1863) meinte Huxley in bezug auf den Neandertalerschädel: Von welcher Seite wir auch diesen Schädel betrachten, mögen wir seine vertikale Abplattung, die enorme Dicke seiner Augenbrauenwülste, sein schräges Hinterhaupt oder seine lange Schuppennaht berücksichtigen, wir stoßen auf affenähnliche Charaktere, wodurch er zu dem affenähnlichsten menschlichen Schädel wird, der bis jetzt entdeckt ist.165
162 FUHLROTT, Der fossile Mensch aus dem Neanderthal, S. 65. 163 Rudolf Virchow zit. nach Christian ANDREE, Rudolf VIRCHOW als Prähistoriker. Band 1: Virchow als Begründer der Neueren Deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, Köln-Wien: Böhlau-Verlag 1976, S. 152. 164 Ebenda, S. 62. Vgl. hierzu die polemische Kritik von Thomas Henry HUXLEY, Further Remarks upon the Human Remains from the Neanderthal, in: Natural History Review (1864), Scientific Memoirs II, S. 573590. Der Text ist Teil des „Huxley File“ von Charles Blinderman und David Joyce (Clark University) und online abrufbar unter http://aleph0. clarku.edu/huxley/SM2/Neand.html (Zugriffsdatum 1. Dezember 2003). 165 Thomas H. HUXLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus, übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1963 [1863], S. 179-180.
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Trotz dieser Affenähnlichkeit entsprach, wie Huxley anmerkt, der geschätzte Rauminhalt des Schädels der von Morton berechneten mittleren Kapazität für polynesische und hottentottische Schädel. Schon allein aufgrund dieser großen Gehirnmasse sei zu vermuten, „daß die affenähnlichen Beziehungen, die dieser Schädel andeutet, nicht tief in die Organisation eingedrungen sind“. Hinzu kam noch, wie Huxley unter Berufung auf Schaaffhausen anmerkte, daß die „absolute Höhe und die relativen Verhältnisse der Gliedmaßen“ denen eines mittelgroßen Europäers entsprachen. Zwar waren die Knochen des Neandertalers dicker, dies sei jedoch, „ebenso wie die starke Entwicklung der Muskelleisten“ für „Wilde“ keineswegs ungewöhnlich. Einen ähnlichen Bau der Extremitätenknochen fände man auch bei den Patagoniern, „die ohne Schutz und Obdach einem Klima ausgesetzt sind, das möglicherweise nicht sehr von dem abweicht, was zur Zeit, als der Neandertal-Mann lebte, in Europa herrschte“. All dies beweise, daß die Knochen des Neandertalers keineswegs „als Überreste eines zwischen Affe und Mensch in der Mitte stehenden menschlichen Wesens angesehen werden“ können. Obgleich, so Huxley, der Neandertal-Schädel der affenähnlichste aller bekannten menschlichen Schädel ist, so ist er doch keineswegs so isoliert, wie es anfänglich scheint, sondern bildet nur den äußersten Ausdruck einer allmählich von ihm aus zum höchsten und bestentwickelten menschlichen Schädel führenden Reihe. Auf der einen Seite nähert er sich bedeutend den platten australischen Schädeln, von denen ich gesprochen habe, und von denen andere australische Formen allmählich zu Schädeln führen, die mehr dem Typus des Schädels gewisser alter Stämme verwandt sind, welche Dänemark während der „Steinzeit“ bewohnten.166
Immer wieder werden Anthropologen der 1860er Jahre auf die Schädelbildung des Neandertalers verweisen, um die These einer kontinuierlich aufsteigenden Reihe vom Affen über den „Urmenschen“ und den „Wilden“ bis zum Kaukasier zu stützen. Der Nachweis vermeintlicher Parallelen in der körperlichen Konstitution zwischen dem „Wilden“ und dem Neandertaler nährt auch den Glauben, daß der „Wilde“ der Gegenwart eigentlich einer fernen Vergangenheit angehöre. Schaaffhausens Untersuchungen des Camperschen Gesichtswinkels des Neandertalers – der Campersche Gesichtswinkel ist ein Maß zur Bestimmung der Pro- bzw. Orthognathie – ergaben für den „krummbeinigen Kossacken“ eine Neigung von 56°. Damit reihte sich der Neandertaler hinter der „kaukasischen Rasse“ mit einem Gesichtswinkel von 80-85°, hinter dem „Neger“ mit einem Gesichtswinkel von 65-70°, aber noch vor dem Orang-Utan und dem Schimpansen ein, die einen Gesichtswinkel von 50° aufwiesen. „Alles“, heißt es in einer Besprechung der Arbeit von Schaaffhausen von 1861, „was sich daraus schließen läßt, besteht vorläufig darin daß jener Schädel die Lücke zwi166 Ebenda, S. 180.
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schen den lebenden niedern Menschenracen und den Affen wieder um ein beträchtliches Stück verengert“.167 Schien der Neandertaler somit einerseits die Kluft zwischen dem Tierund Menschenreich zu verkleinern, so trug er anderseits doch wesentlich dazu bei, den geschichtlichen Zeithorizont zu vergrößern. Es sei, heißt es in einer Rezension der Fuhlrottschen Arbeit, „eine wunderliche Geschichte mit diesen versteinerten Menschenresten“. Der französische Geologe Cuvier hatte mit der größten Bestimmtheit behauptet, es gebe platterdings keine fossilen Menschen, und jetzt haben wir unwiderlegbare und unwidersprechliche thatsächliche Beweise, daß die Erde schon während der Diluvialzeit von Menschen bewohnt worden, gleichzeitig mit den Höhlenbären, Höhlenhyänen, Mammuthen und anderen Thieren, die man gewöhnlich als vorweltliche bezeichnet.168
Die Antwort auf die Frage, so Fuhlrott, wie lange der Mensch bereits auf Erden sei, laute heute „so überraschend anders als früher“; ja die Antwort der modernen Wissenschaft auf diese Frage mag „befremden“, vielleicht auch „Anstoß erregen“ oder als „unberufene, mißliebige Neuerung angesehen werden“.169 Trotz des durch den Neandertaler bezeugten hohen Alters des Menschengeschlechtes gelte es jedoch auch zu bedenken, daß für die Erdgeschichte nicht „Tausende, sondern Millionen von Jahren“ anzunehmen seien. Die moderne Wissenschaft berechne die Zeit, welche seit dem Erscheinen des Menschen auf der Erde verflossen ist, auf mindestens 100.000 Jahre. In dem großartigen Schöpfungsdrama das sich nun vor uns entrollt, und das sich nach Maßgabe geologischer Thatsachen vollzogen haben muß, kann die Dauer der jüdischen Zeitrechnung nur die Dauer eines winzigen Momentes behalten.170
Die Kontroverse um den Neandertaler verdeutlicht jene eigentümliche, die anthropologische Gründerzeit kennzeichnende Spannung, die sich aus einer steten Verringerung der Kluft zwischen Tier und Mensch und einer gleichzeitigen Erweiterung des geschichtlichen Bewußtseins ergab. Gerade diese Spannung scheint der Idee einer kontinuierlichen und langsamen Entwicklung zu jener Zeit eine ungemeine Strahlkraft verliehen zu haben. Wenn eine „Theorie der progressiven Entwicklung richtig ist“, schreibt
167 N. N., Mensch und Affe, in: Das Ausland 34 (1861), S. 833-835, hier S. 835. 168 N. N., Der fossile Mensch aus dem Neanderthal und sein Verhältnis zum Alter des Menschengeschlechts, in: Globus 8 (1865), S. 283-286, hier S. 283. 169 FUHLROTT, Der fossile Mensch aus dem Neanderthal, S. 11. 170 Ebenda, S. 10.
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Huxley, „dann müssen wir die in bezug auf das Alter der Menschheit gemachte reichlichste Schätzung noch um lange Zeiträume verlängern“.171
Das Jahr 1857 Die Weltumsegelung der Fregatte Novara – David Livingstone und die „Heiden“ – die Suche nach den Naturgesetzen der Geschichte – die „Indian Mutiny“ – der „youngest Indian slayer on the plains“
Ende April 1857 lief die österreichische K. K. Fregatte Novara zu ihrer Weltreise aus dem Hafen von Triest aus. Die zweieinhalb Jahre dauernde Expedition gilt als die letzte wissenschaftliche Erdumsegelung eines großen Segelschiffes. Zu den Mitgliedern des Forschungsstabes gehörten unter anderem der Geologe, Prähistoriker und spätere Direktor des Wiener Naturhistorischen Museums Ferdinand von Hochstetter, der Geograph Karl von Scherzer, der Botaniker und Anthropologe Eduard Schwarz sowie die Zoologen Georg Frauenfeld und Johann Zelebor. Kommandant des Schiffs war Bernhard von Wüllerstorf-Urbair. Die Route der Novara führte über Gibraltar und Madeira nach Rio de Janeiro; von Rio über Simonsbai sowie das Kap der Guten Hoffnung über St. Paul und Neu Amsterdam nach Madras; von Madras über die Nikobaren nach Singapur und Batavia; von hier Richtung Norden nach Manila, Hongkong und Shangai; von Shanghai wieder in den Süden durch die mikronesische Inselwelt nach Sydney; von Sydney westwärts über Auckland nach Tahiti. Von Tahiti, wo die Reisenden die „Sittenverderbnis“ des französischen Protektorats beklagten und berichteten, daß die „eingeborene“ Bevölkerung in den letzten zehn Jahren „von 8.082 auf 5.988 Seelen zusammengeschmolzen“ sei, ging die Reise weiter nach Valparaiso an der lateinamerikanischen Westküste; dann nach Umschiffung des Kap Horns über Trinidad und Gibraltar wieder zurück nach Hause.172 Die gesammelten Ergebnisse der Novaraexpedition erschienen in 21 Bänden, die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in den Jahren von 1861 bis 1876 herausgegeben wurden. Neben den rund 26.000 botanischen und zoologischen Präparaten konnte eine Fülle von ethnologischem und anthropologischem Material, unter anderem ein „completes Bosjesman-Skelet, das einzige Exemplar in Europa“, sowie eine große Zahl nautischer, linguistischer, geologischer und wirtschaftlicher Daten gesammelt werden.173 Allein im zweiten Jahr der Expedition 171 HUXLEY, Stellung des Menschen in der Natur, S. 181. 172 Vgl. hierzu N. N., Die Weltumsegelung der K.K. Österreichischen Fregatte Novara, in: Petermanns Mittheilungen 5 (1859), S. 403-410. 173 In bezug auf das „Bosjesman-Skelet“ bemerkte übrigens ein deutscher Rezensent, daß „nach meinen Skelettmessungen die Berliner Sammlung unter Nr. 7193 gleichfalls ein ‚Skelet eines Buschmanns vom Cap der guten
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hatten Karl von Scherzer und Eduard Schwarz rund 7.000 anthropometrische Messungen an „90 Urbewohnern verschiedener Racen“ vorgenommen.174 Der Wiener Professor für orientalische Linguistik Friedrich Müller, der selbst nicht an der Reise teilgenommen hatte, war für die Herausgabe sowohl des zweiten Bandes, der linguistischen Fragen gewidmet war, als auch des im folgenden zur Sprache kommenden dritten Bandes, der ethnographische Themen behandelte, verantwortlich.175 Im Vorwort merkt Müller an, daß sich seine Darstellung nicht allein auf die von der NovaraExpedition untersuchten Völker beschränke. Vielmehr habe er versucht, eine „Bearbeitung der Ethnographie im Ganzen“ vorzunehmen.176 Bevor ich mich seiner Entwicklungstheorie zuwende, sei kurz betont, daß Müller bestrebt war, den anthropologischen und den linguistischen Strang der Ethnographie miteinander zu verbinden. Mit anderen Worten: Müller wollte zeigen, daß „Rasse, Sprache und Kultur“ als zusammengehörige Erscheinungen zu betrachten seien. „Aufgabe der Ethnographie oder Ethnologie“ sei es, so Müller, „die Menschheit in ihrem gesammten Umfange sowohl räumlich als zeitlich in Völker zu zerlegen und diese nach allen ihren Eigenthümlichkeiten zu schildern“.177 Die wichtigsten Merkmale, aufgrund derer sich Individuen „als zusammengehörig erkennen“ und „als verwandt angesehen werden“, seien Sprache und Sitte. An diesen hänge „der Mensch am zähesten“. Sie seien „die Heiligthümer, welche er mit innigster Begeisterung vertheidigt“. Gerade dem „unverdorbenen Sohne der Natur“ sei es bewußt, „dass sein eigenes Wesen untergehe, wenn ihm seine liebe Muttersprache, seine traute, heimatliche Sitte geraubt“ werden.178 Die Ethnographie habe „den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern als Mitglied eines Volkes nach seinen Eigenthümlichkeiten
174 175
176 177 178
Hoffnung‘ besitzt […] und in neuster Zeit auch die Tübinger Sammlung, welche den Leichnam der bekannten ‚Afandy‘ erhielt“. Hermann WELCKER, Reise der österreichischen Fregatte „Novara“ um die Erde. Anthropologischer Theil, dritte Abtheilung: Ethnographie, auf Grund des von Dr. K. von Scherzer gesammelten Materials bearbeitet von Dr. Friedrich Müller, Professor der orientalischen Linguistik an der Wiener Universität, in: Archiv für Anthropologie 3 (1868), S. 303-306, hier S. 305-306. N. N., Die Weltumsegelung der K. K. Österreichischen Fregatte Novara, S. 405. Friedrich MÜLLER, Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859 unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllerstorf-Urbair. Anthropologischer Theil: Dritte Abtheilung: Ethnographie auf Grund des von Dr. Karl von Scherzer gesammelten Materials. Herausgegeben im Allerhöchsten Auftrage unter der Leitung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien: Kaiserlich-Königliche Hof- und Staatsdruckerei in Commission bei Karl Gerold’s Sohn 1868. Ebenda, S. IV. Ebenda, S. VII. Ebenda.
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zu schildern“.179 Hieraus ergebe sich die Bedeutung von Sprache und Sitte für die Ethnographie. Die Ethnographie dürfe jedoch nicht auf eine reine Anhäufung und Deskription von Tatsachen beschränkt bleiben, sondern müsse eine „Erklärung derselben aus einfachen, allgemeinen Naturgesetzen“ versuchen und „die begründeten Thatsachen in eine natürliche Reihenfolge, in ein System“ bringen.180 Trotz der Wichtigkeit der Linguistik für die Klassifikation der Völker bedürfe jedoch die Ethnographie einer Ergänzung. Diese finde sie in der Anthropologie, die den Menschen als „Naturproduct, daher sowohl nach seinen sinnlichen Merkmalen als auch nach den vorhandenen, durch Cultur nicht weiter entwickelten geistigen Anlagen“ betrachtet.181 Die Unterscheidung der Menschen bezüglich dieser Anlage führe zur Einteilung in „Rassen“. Für die „Rassenverwandtschaft“ dürfe man jedoch nicht, wie oftmals geschehen, nur ein Merkmal als Grundlage heranziehen, sondern müsse eine „Zusammenfassung aller Merkmale“ vornehmen.182 Müller argumentiert nun, „dass Rasse und Sprache im tiefsten Grunde zusammenhängen, derart, dass letztere der ersten untergeordnet ist, ohne diese vielleicht auszufüllen“.183 Müllers Klassifikation des Menschengeschlechts beruht also sowohl auf anthropologischer als auch auf linguistischer Grundlage. Die Klassifikation verfolgt das Ziel, „die fortschreitende Entwickelung des Menschengeschlechtes in seinen verschiedenen Typen“ sichtbar werden zu lassen.184 Diese Typen, so Müller, stellten „ebenso viele Entwickelungsmomente in der Geschichte der Menschheit“ dar. Durch diesen Nachweis einer Reihenfolge der Typen werde die „Ethnographie zu einer Geschichte der menschlichen Cultur, zu einer Geschichte der Menschheit überhaupt“.185 Müller bietet dem Leser einen erdumspannenden Überblick, der es diesem ermöglichen soll, in der Entwicklungsgeschichte der Völker „einen successiven Fortschritt“ zu erkennen.186 Folgen wir nun seiner vom Kulturevolutionismus durchtränkten Darstellung, seinem anthropologischen Streifzug, der uns von unterschiedlich fernen Vergangenheiten bis in die unmittelbare Gegenwart führt. „Auf der untersten Stufe“, so Müller, begegne man dem Australier, einem „Wesen, welches fast ans Thier streift, ein[em] Wesen ohne alle andere als rein thierische Bedürfnisse“. Wie das Tier lebe der Australier „meistens von der zufällig gefundenen Nahrung“. Seine Wohnung sei mangelhaft, sein Gemüt „stumpf, nur die Befriedigung thierischer Triebe, wie 179 180 181 182 183 184 185 186
Ebenda. Ebenda, S. VIII. Ebenda. S. IX. Ebenda. Ebenda, S. XI. Ebenda, S. XXII. Ebenda. Ebenda, S. XXVII.
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Hunger, Durst, Geschlechtslust vermögen es einigermaassen zu erregen“. Von „bestimmten“ religiösen Überzeugungen, „von der Verehrung bestimmter Gottheiten sind nur geringe Spuren vorhanden“.187 Eine Stufe höher als der Australier stehe „der Papûa“.188 Dieser sammle seine Nahrung, züchte einige Tiere, bebaue das Land, „wenn auch alles sehr mangelhaft“. Er errichte zumeist am Ufer seine Hütten, die den in Europa entdeckten Pfahlbauten sehr ähnlich seien. Der Papûa sei „heiter“ und finde „auch an anderen Dingen als der Befriedigung thierischer Triebe seinen Gefallen“. Sein „Aberglaube“ nehme bereits eine „bestimmtere Form“ an; „er schnitzt sich Götzen aus Holz und baut ihnen Tempel“.189 Der „Malayo-Polynesier“ zeige einen noch „höheren Fortschritt“ als der „Papûa“.190 Neben Einrichtungen, die der bloßen „Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse“ dienen, finden sich bei diesem bereits „einige Culturelemente“. Die „Malayo-Polynesier“ kennen ein Familienleben und ihre „Stämme“ werden von „Häuptlingen“ befehligt. Man stoße auf Gesetze, die durch „Sitte und Gewohnheit“ geheiligt seien. Ihre religiösen Überzeugungen seien „bestimmt ausgeprägt“. In Gesängen, die sie „im Gedächtnis“ bewahren, bringen sie ihre Freude und ihre Trauer zum Ausdruck. Die Herrschaft des Häuptlings gründe sich „nicht nur auf die rohe Gewalt und Stärke, sondern theilweise auch auf die Kraft und Kunst der Rede“.191 „Noch höher“ als „Malayo-Polynesier“ stehe der „Neger“.192 Seine Wohnungen seien „massiver und kunstvoller gebaut“ und seine Methoden des Landbaus viel besser. Ein großer Fortschritt zeige sich auch in bezug auf Industrie und Handel. Er baue „grössere Städte und lebt in organisirten Staaten. Er strömt nicht nur die augenblicklichen Stimmungen seines Gemüthes in Liedern aus, sondern giebt sich auch der Reflexion hin, welche sich in Sprichwörtern und Räthseln äussert.“193 Der „Amerikaner“ wiederum lebe zumeist von Jagd und Fischfang und stehe „in dieser Hinsicht hinter dem Neger und theilweise auch hinter dem Malayo-Polynesier zurück“.194 Wenn man jedoch berücksichtigt, daß er nur aufgrund der geographischen Lage und der „beschränkten Hilfsmittel“ zum Jäger und Fischer wurde und „dass dort, wo günstigere Bedingungen vorhanden waren, auch eine nicht unbedeutende Cultur sich entwickelte, so kann man nicht umhin, den Amerikaner in Betreff der letzteren (wir erinnern an Mexico und Peru) über den Neger zu stellen“.195 Gerade die 187 188 189 190 191 192 193 194 195
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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baulichen und künstlerischen Leistungen der beiden „Culturstaaten übertreffen Alles, was der Neger in dieser Richtung geleistet hat und die verschiedenen Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen, wie sie nur in Culturstaaten vorkommen, sind so umfassend, das Manche zur Erklärung derselben fremde Einflüsse annehmen zu müssen glaubten“.196 Noch „höher“ als der „Amerikaner“ stehe der „Hochasiate“.197 Zwar seien die „meisten Völker dieser Race Nomaden“, die sich nur „als Welterschütterer einen Namen“ gemacht haben, doch sei den Hochasiaten durch China und Japan „ein bleibender Name in der Culturgeschichte zu Theil geworden“. Die „materielle Cultur“ von Japan und die wesentlich frühere von China stehe auf der höchsten Stufe, der abendländischen durchaus ebenbürtig.198 „Den höchsten Grad ihrer idealen Entwicklung“ habe die Menschheit in „der mittelländischen Race“ erreicht.199 Am Anfang ihres „geschichtlichen Auftretens“, als die hamitischen Völker dominierten, sei sie nicht höher als China gestanden. Erst mit dem Erscheinen der Semiten und Indogermanen bricht sich eine freie ideale Cultur Bahn, die nach und nach siegreich alle Schranken, welche Zeit und Raum ihr gesetzt zu haben scheinen, und alles ihren Einflüssen unterwirft. Durch sie ist es möglich, dass der Mensch zu dem werde, als was ihn die Sage der Semiten darstellt, nämlich einem Ebenbilde Gottes.200
Ein Ebenbild Gottes „war der Mensch anfangs gewiss nicht, eben so wenig als es der Australier ist“.201 Tausender von Jahren bedurfte es, um die „einfachsten Lebenseinrichtungen“ zu schaffen, und weiterer Tausender von Jahren, um „die einfachsten sittlichen Ideen zu fassen“. Erst die Cultur hat die wilden Züge des Menschen vergeistigt und ihn Gott gleich gemacht. Diese Cultur ist aber ein Product tausend- und abermals tausendjähriger harter Arbeit, nicht eine Gabe von oben, wie ein Dichter schön bemerkt: […] „Vor die Tugend setzten den Schweiss die unsterblichen Götter“.202
Werfen wir nach diesem Streifzug durch die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von Müller, der – wie bereits erwähnt – die Erdumsegelung selbst nicht gemacht hatte, einen kurzen Blick in das Logbuch der Novara. Rund zwei Drittel der Expeditionszeit beanspruchte die Fahrt auf See. Knapp 10 Monate blieben der wissenschaftlichen Kommission, um an 196 197 198 199 200 201 202
Ebenda, S. XXVIII. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda [meine Hervorhebung]. Ebenda, S. XXVIII. Das Zitat stammt vom griechischen Epiker Hesiod, Erga kai hemerai 288-289.
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Land ihren naturwissenschaftlichen Forschungen nachzugehen und die „Eingebornen“ vor Ort zu studieren. In Rio betrug die Aufenthaltsdauer 26 Tage, in Simonsbai – an der Südspitze Afrikas – verbrachten sie 24 Tage bei den „Negern“, in St. Paul 19 Tage, in Madras 10 Tage, auf den Nikobaren 18 Tage, in Singapur und Batavia knapp ein Monat, in Manila 10 Tage, etwa ein Monat blieb den Gelehrten Zeit, die „Hochasiaten“ und rund eineinhalb, um in Australien und Neuseeland den „Naturzustand“ der „Eingebornen“ kennenzulernen. Gerade wegen seiner vermeintlichen Eindeutigkeit scheint das riesige kulturevolutionistische Schema von Friedrich Müller hervorragend geeignet gewesen zu sein, die Fülle der bunt zusammengewürfelten anthropologischen Daten zu deuten bzw. in ein System zu bringen und somit die blinde empirische „Sammelwut“ theoretisch zu bändigen. Ein klein wenig Unbehagen ob der unzureichenden Zeit, die für Forschungen übrig blieb, scheinen einzelne Mitglieder der Novaraexpedition übrigens sehr wohl verspürt zu haben. Als die Novara die Straße von Malacca passierte – zu diesem Zeitpunkt war sie etwa ein Jahr unterwegs –, meinte der Kommandant Wüllerstorf-Urbair in einem Brief an Wilhelm Haidinger, den ersten Direktor der Geologischen Reichs-Anstalt zu Wien: Leider gestattete mir die zur Verfügung stehende Zeit nicht, länger als es geschehen, in den verschiedenen Hafenorten zu verweilen. Was will man aber in 10 bis 20 Tagen bei dem besten Willen leisten? Gründlich kann man nichts studiren, und kömmt noch schlechtes Wetter, so ist man ganz und gar verhindert, selbst das zu sehen, was in der nächsten Umgebung zu finden wäre. Das ist aber das Schicksal aller Erdumsegelungs-Expeditionen und ich bin nun zur vollen Überzeugung gelangt, dass eine solche Reise den speziellen Fächern der Wissenschaft nicht jenen Nutzen bringen kann, den man sich vielleicht bei uns versprechen wird. Das Meer ist größer als das Festland, und wenn man bedenkt, dass wir wohl über 40 Tausend Seemeilen im Ganzen zurücklegen müssen und dass man im Durchschnitt kaum 2½ bis 3 Seemeilen in der Stunde oder 66 Meilen im Tage direkter Fahrt rechnen darf, so sind schon 610 Tage, also nahe an 20 Monate dem Meere gewidmet und es bleiben uns auch nach der zugemessenen Zeit noch 10 Monate übrig für den Aufenthalt in Häfen und für spezielle Untersuchungen. Der einzige, aber große Vortheil solcher Expeditionen ist die Übersicht, die Erfahrung und allgemeine Kenntniss des Erdganzen, die man auf solchen Reisen erlangt und die zweifelsohne nicht ohne Nachwirkung bleiben. Eigentlich wissenschaftliche Expeditionen können sich nur auf einzelne Theile der Erde beschränken, an welchen man die ganze verfügbare Zeit zur gründlichen Erforschung verwendet. Eine Erdumsegelung ist im Vergleich nur eine wissenschaftliche Spazierfahrt um die Erde, wo man sich gerade die Zeit nimmt, da und dort ein Blümlein zu pflücken, einen Schmetterling zu erhaschen oder einen Vogel zu schießen.203
203 N. N., Die Weltumsegelung der K.K. Österreichischen Fregatte Novara, S. 404.
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Im Jahr 1857 veröffentlichte David Livingstone sein Werk Missionary Travels and Researches in South Africa (1857).204 Livingstone, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und als Kind in einer Baumwollfabrik gearbeitet hatte, studierte Medizin und Theologie. Im Alter von 28 Jahren kam er in die Missionsstation in Kuruman, eine Oase in der Kalahari. Diese war vom Schotten Robert Moffat (1795-1883) gegründet worden, der rund ein halbes Jahrhundert in Südafrika verbrachte und die Bibel in die Sprache der Bechuanas übersetzte. Von Kuruman aus unternahm Livingstone, der übrigens die Tochter von Moffat heiratete, seine ersten großen Entdeckungsreisen. Livingstone war ein entschiedener Gegner des Sklavenhandels. Im Unterschied zu radikalen Polygenisten sah er – zumindest für die Zukunft – keine unüberwindbare Kluft, die „Wilde“ und „Zivilisierte“ voneinander trennte. Um jedoch die Familie der „Neger“ in die Weltgemeinschaft der zivilisierten Nationen aufzunehmen, gelte es diese zuerst zu erziehen und zu „heben“. Diese Erziehungsaufgabe sollte von einer aufgeklärten Kolonialmacht, am besten der englischen, übernommen werden. Die wesentlichen Elemente einer friedlichen „Zivilisierungspolitik“, die für eine Rettung der schwarzen „Heiden“ unumgänglich war, bestanden seiner Ansicht nach in einer harmonischen Verbindung von Industrie, Freihandel und Christentum: Sending the Gospel to the heathens must, if this view be correct, include much more than is implied in the usual picture of a missionary, namely, a man going about with a Bible under his arm. The promotion of commerce ought to be specially attented to, as this, more speedily than anything else, demolishes that sense which heathenism engenders, and makes the tribes feel themselves mutually dependent on, and mutually beneficial to, each other. With a view to this the missionaries at Kuruman got permission from the Government for a trader to reside at the station, and a considerable trade has been the result; the trader himself has become rich enough to retire with a competence. Those laws which still prevent free commercial intercourse among the civilized nations seem to be nothing else but the remains of our own heathenism. My observations on this subject make me extremely desirous to promote the preparation of the raw materials of European manufactures in Africa, for by that means, we may not only put a stop to the slave-trade, but introduce the negro family into the body corporate of nations, no one member of which can suffer without the others suffering with it. Success in this, in both Eastern and Western Africa, would lead, in the course of time, to a much larger diffusion of the blessings of civilization than efforts exclusively spiritual and educational confined to any small tribe. These, however, it would of course be extremely desirable to carry on at the same time at large central and 204 Die vollständigen bibliographischen Angaben lauten: David LIVINGSTONE, Missionary Travels and Researches in South Africa Including a Sketch of Sixteen Years’ Residence in the Interior of Africa, and a Journey from the Cape of Good Hope to Loanda on the West Coast; Thence Across the Continent, Down the River Zambesi, to the Eastern Ocean, London: John Murray 1857.
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healthy stations, for neither civilization nor Christianity can be promoted alone. In fact, they are inseparable.205
Während sich in England die ersten Leser die Überlegungen von Livingstone bezüglich einer friedlichen Politik der Zivilisierung zu Gemüte führten, kam es im Jahre 1857 zum Ausbruch der sogenannten Indian Mutiny, dem Höhepunkt einer sich seit Jahrzehnten abzeichnenden Entfremdung zwischen den britischen Kolonialherren und den indischen Muslimen bzw. Hindus.206 Ohne hier diesen Entfremdungsprozeß eingehend erörtern zu wollen, sei nur auf einen wichtigen Faktor hingewiesen, der unmittelbar mit der „Fortschrittsidee“ in Zusammenhang steht. Im Unterschied zum 18. Jahrhundert, als die ausgewanderten Engländer und Schotten oftmals ihr ganzes Leben in Indien verbrachten und von ihrer alten Heimat weitgehend abgeschnitten waren, ermöglichte es die Einführung neuer Verkehrsund Kommunikationsmittel im 19. Jahrhundert – man denke vor allem an das Dampfschiff und den Telegraphen –, in engem Kontakt mit dem Mutterland zu bleiben. Gerade diese räumliche Nähe zum Mutterland, die Nachrichten, die man nun leicht aus der Heimat erhalten konnte, sowie die Besuchsreisen nach Hause, scheinen dazu geführt zu haben, daß sich die Anglo-Indians stärker von der indischen Bevölkerung abgrenzten. Verschärft wurden die Spannungen zwischen den „Kolonialherren“ und der indischen Bevölkerung insbesondere durch die im Jahre 1835 erfolgte Einführung des höheren britischen Schulsystems bzw. der englischen Unterrichtssprache in Indien. In seiner „Minute of Education“ hatte der Historiker und Politiker Thomas B. Macaulay (1800-1859), der zu dieser Zeit Mitglied der indischen Kolonialregierung war, dafür plädiert, die Inder in einer fremden Sprache zu erziehen. Die Vorzüge der englischen Sprache lägen auf der Hand. Die englische Sprache stands pre-eminent even among the languages of the West. It abounds with works of imagination not inferior to the noblest which Greece has bequeathed to us; with models of every species of eloquence; with historical compositions, which considered merely as narratives, have seldom been surpassed, and which, considered as vehicles of ethical and political instruction, have never been equaled; with just and lively representations of human life and human nature; with the most profound speculations on metaphysics, morals, government, jurisprudence, and trade; with full and correct information respecting every experimental science which tends to preserve the health, to increase the comfort, or to expand the intellect of man. Whoever knows the language has ready access to all the vast intellectual wealth which all the wisest nations of the earth have created and hoarded in the course of ninety generations. […] The question now before us is simply whether, when it is in our power to teach this language, we shall teach 205 Ebenda, S. 28. 206 Vgl. hierzu A. N. WILSON, The Victorians, London: Arrow Books 2003, S. 201-223.
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languages in which, by universal confession, there are no books on any subject which deserve to be compared to our own; whether we can teach European science, we shall teach systems which, by universal confession, whenever they differ from those of Europe, differ for the worse; and whether, when we can patronize sound philosophy and true history, we shall countenance, at the public expense, medical doctrines which would disgrace an English farrier – astronomy, which would move laughter in the girls at an English boarding-school – history, abounding with kings thirty feet high, and reigns thirty thousand years long – and geography, made up of seas of treacle and seas of butter.207
Ist der Ethnozentrismus und das Sendungsbewußtsein bei Livingstone und Macaulay noch in eine humanistische Phraseologie gekleidet, so schlagen einige ihrer Landsleute wesentlich aggressivere Töne an. Der Philanthrop William Wilberforce (1759-1833), der sich im 18. Jahrhunderts für die Abschaffung des afrikanischen Sklavenhandels eingesetzt hatte, war der Überzeugung, daß die Christianisierung der Inder wichtiger wäre als die „Abschaffung der Sklaverei“, denn die hinduistischen Gottheiten seien nichts anderes als „absolute monsters of lust, injustice, wickedness and cruelty“.208 Ein anderer Landsmann meinte, die Engländer und Schotten seien in Indien die Vertreter einer „belligerent civilization“, und sah ihre Aufgabe dort in der Einführung of the essential parts of European civilization into a country grossly densely peopled, steeped in idolatrous superstition, unenergetic, fatalistic, indifferent to most of what we regard as the evils of life and preferring the response of submitting to them to the trouble of encountering and trying to remove them.209
Die sogenannte Indian Mutiny im Jahre 1857 nahm ihren Ausgang unter den Sepoys, den indischen „Eingeborenentruppen“, die im Dienste der Briten standen. Der unmittelbare Anlaß für den Aufstand unter den Sepoys war, daß die Briten die sogenannten Enfieldbüchsen und neue Patronen eingeführt hatten, die mit dem Fett unreiner Tieren eingeschmiert waren. Durch das Aufbeißen der Hülle bestand die Gefahr einer Berührung. Obgleich die Briten relativ rasch das aus Schweinen und Kühen gewonnene Fett – das für Muslime und Hindus „unrein“ war – durch ein anderes Fett ersetzen sollten, konnte der furchtbare Aufstand, der vom Militär schließlich auf die zivile Bevölkerung übergriff, nicht mehr aufgehalten werden. Der Anlaß ist insofern bezeichnend, da sich in ihm die tiefer liegenden Ursachen des Konflikts, nämlich der Widerstand einer traditionellen Ge207 Thomas B. MACAULAY, British Impact: Intellectual [Minute on Education (1835)], in: L. S. STAVRIANOS (Hg.), The Epic of Modern Man: A Collection of Readings, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1966, S. 264-265. 208 WILSON, The Victorians, S. 202. 209 Zit. nach J. M. ROBERTS, The Penguin History of the World, London: Penguin Books 1997 [1976], S. 787-788.
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sellschaft gegen eine Modernisierung und Einführung technologischer Neuerungen verdichten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde die East India Company aufgelöst und Indien im nächsten Jahr zu einer Britischen Kronkolonie erklärt. Die technologische Überlegenheit und das System der sogenannten indirect rule ermöglichten es, daß eine numerisch unbedeutende, westliche Elite in Indien über eine riesige „Eingeborenenbevölkerung“ herrschte. 1891 betrug die Bevölkerung in Indien rund 291 Millionen Menschen, hierunter etwa 100.000 Briten. Die Armee von Britisch-Indien bestand zu diesem Zeitpunkt aus etwa 220.000 Mann, hiervon ein Drittel britische Soldaten. Trotz dieser starken Militärpräsenz in Indien – nirgendwo sonst hatten die Briten so viele Truppen stationiert – kam auf 4.000 Inder nur ein britischer Soldat.210 Ein Engländer bemerkte einmal, „had all Indians chosen to spit at the same moment, his countrymen would have drowned“.211 Dieser Fall sollte jedoch bekanntlich nicht eintreten. Gerade die Kolonialherrschaft in Indien, wo die kühnen Söhne von Albion eine „primitive“ Masse regierten und diese „erzogen“, stand in Wechselwirkung zum Bewußtsein, Vertreter einer fortschrittlichen „Rasse“ zu sein. War in den USA der „schwindende Indianer“ die Antithese des Fortschritts „der weißen Rasse“, so sollte im britischen „Kronjuwel“ die Masse der indischen „Eingeborenen“ diese Funktion übernehmen und dem Glauben an eine angelsächsische Weltmission eine ungemeine Schubkraft verleihen. Im Jahr der sogenannten Indian Mutiny veröffentlichte der englische Autodidakt Henry Th. Buckle (1821-1862) den ersten Band seines einflußreichen Werkes The History of Civilisation in England (1857). Vorrangiges Ziel von Buckle war es, die fundamentalen Irrtümer der traditionellen Historie offenzulegen und eine naturwissenschaftliche Geschichtsschreibung zu begründen. Kein anspruchsvoller moderner Geist, so Buckle, könne sich mit dem zufrieden geben, was die Historiker bislang geleistet hätten. Die Geschichte liege „noch in einer beklagenswerthen Unvollkommenheit“ und biete „eine so verworrene und anarchische Erscheinung […] [dar], wie es sich nur bei einem Gegenstande erwarten lässt, dessen Gesetz unbekannt, ja dessen Grund noch nicht gelegt ist“.212 Buckle ist einer der großen geistigen Verbündeten der in den Gesetzeswissenschaften geschulten Anthropologen. Auch diese werden – wie später noch gezeigt werden wird – mit ganz ähnlichen Worten und Argumenten wie Buckle die Arbeiten der traditionellen Historiker bekämpfen. Im Jahr 1857 sollte auch ein zwölfjähriger amerikanischer Knabe na-
210 ROBERTS, The Penguin History of the World, S. 818. 211 Zit. nach ebenda. 212 Henry Th. BUCKLE, Geschichte der Civilisation in England. Erster Band. I. Abtheilung. Deutsch von Arnold Ruge. Leipzig-Heidelberg: C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung 31868, S. 5.
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mens William F. Cody (1845-1917) im „Wilden Westen“ über Nacht Berühmtheit erlangen. Cody, besser bekannt unter seinem späteren Namen Buffalo Bill, stammte aus einer Pionierfamilie aus Iowa. Als er sieben Jahre alt war, waren seine Eltern nach Kansas weitergezogen, das damals noch nicht der Union angehörte. Im Sommer 1857 arbeitete der junge Cody für das berühmte amerikanische Transportunternehmen Russell, Majors & Waddell, das rund 4.000 Menschen beschäftigte und das in der Zeit unmittelbar vor dem Bau der großen Eisenbahnlinien für die Verbindung zwischen den Gebieten im Osten und der „frontier“ im Westen eine zentrale Rolle spielte. Codys Aufgabe bestand darin, gemeinsam mit einer Gruppe Cowboys eine Rinderherde nach Salt Lake City in Utah zu treiben, wo damals rund ein Sechstel der amerikanischen Armee stationiert war, um den Autonomiebestrebungen der von Brigham Young angeführten und dort seit kurzem ansässigen Mormonen endgültig ein Ende zu setzen. Auf Codys Reise nach Salt Lake City kommt es zu einem bewaffneten Zusammenstoß mit einer Gruppe feindlicher Indianer, mit „red devils“, wie sie Cody nennt. Ein episodisches Detail kennzeichnet die Lage: Die Cowboys beschließen, sich entlang eines Flusses in das 35 Meilen entfernte Fort Kearney zurückzuziehen. Es ist Nacht. Cody, als Zwölfjähriger der jüngste der Gruppe, ist erschöpft und fällt zurück. Plötzlich erkennt er im Mondschein den federgeschmückten Kopf eines Indianers: Instead of hurrying ahead and alarming the men in a quiet way, I instantly aimed my gun at the head and fired. The report rang out sharp and loud on the night air, and was immediately followed by an Indian whoop, and the next moment about six feet of dead Indian came tumbling into the river. I was not only overcome with astonishment, but was badly scared, as I could hardly realize what I had done. I expected to see the whole force of Indians come down upon us.213
Seine Gefährten, die den Schuß und den Schrei des Indianers hören, eilen zurück. „Wer hat geschossen“, fragt einer der Cowboys. „I did“, antwortet der junge Cody stolz. „Yes, and little Billy has killed an Indian stone-dead, too dead to skin“, sagt ein anderer der Gruppe, der beinahe über die Leiche des Indianers gestolpert wäre.214 Cody hatte soeben seinen ersten Indianer getötet. „From that time forward“, schreibt er in seiner Autobiographie, „I became a hero and an Indian killer“.215 Wenige Wochen später gibt er einem Reporter sein erstes Interview. Am nächsten Morgen stehen sein Name und die Geschichte des „youngest Indian slayer on the plains“ in der Zeitung.216 213 William F. CODY, The Life of Buffalo Bill, London: Senate 1994, S. 6162. 214 Ebenda, S. 62. 215 Ebenda. 216 Ebenda, S. 62-63. „I am candid enough to admit that I felt very much elated over this notoriety. Again and again I read with eager interest the
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Im Jahr, als Cody zum „youngest Indian slayer on the plains“ avancierte, malte der amerikanische Künstler John M. Stanley (1814-1872) sein Ölbild Last of Their Race, das in der insbesondere mit George Catlin (1796-1872) verbundenen Tradition der Indianerporträts steht. In der Mitte des Ölbildes von Stanley sieht man eine kleine Gruppe Indianer. Sie gehören unterschiedlichen „Stämmen“ sowohl aus den östlichen als auch aus den westlichen Gebieten des großen Kontinents an. Sie stehen gedrängt am Ufer des Pazifik, am Ende ihrer Reise angekommen. In der Mitte befindet sich ein großgewachsener Indianer, schweigend. Die anderen hingegen scheinen sich zu beraten. Eine Mutter sitzt, den Blick auf ihr kleines Kind gerichtet. Am linken unteren Bildrand sieht man die Schädel von Büffeln am Boden liegen. Es ist Abend, die Sonne sinkt ins Meer. Das Original dieses Ölbildes von Stanley befindet sich übrigens im Buffalo Bill Historical Center, Cody, Wyoming.217
Das Jahr 1858 Die neuseeländischen „Eingeborenen“ – „Neues aus Afrika“ – die kleinwüchsigen Doko – Rudolf Virchow – Johannes Müller – einige „leere Köpfe“ in Graubünden
Im Jahre 1858 veröffentlichte die deutsche Zeitschrift Das Ausland einen Beitrag über die Maori, in dem ein in Neuseeland lebender Europäer einige Vorurteile und falsche Ansichten über die „für Cannibalen gehaltene Race“ zu korrigieren sucht.218 Der Maori sei „kein Verehrer des weißen Mannes, denn er sieht ein daß der Stern der eigenen Race vor der aufgehenden Sonne der andern Race erlöschen wird“.219 Der Maori sei sich jedoch bewußt, daß, wohin der Weiße kommt, er die Kenntnis von vielen nützlichen Dingen und die Mittel, sich diese Kenntnis zu verschaffen, mitbringt, und um seiner Flinten und Aexte, seines Korns, seiner Früchte und Kleider willen fordert der Maori den Weißen auf in sein Land zu kommen, und erklärt denjenigen seiner eigenen Race
long and sensational account of our adventure. My exploit was related in a very graphic manner, and for a long time afterwards I was considerable of a hero.“ Ebenda, S. 63. 217 Vgl. Eliott WEST, American Frontier, in: Clyde A. MILNER II, Carol O’CONNOR, Martha A. SANDWEISS (Hg.), The Oxford History of the American West, New York-Oxford: Oxford University Press 1996 [1994], S. 115-149, hier o. S. [4. Bild nach S. 130]. 218 N. N., Die Maori und Neu-Seeland, in: Das Ausland 31 (1858), S. 11931994. 219 Ebenda, S. 1193
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für einen Wilden und Barbaren, der einen so werthvollen Besucher seines Landes zurückschrecken würde.220
Unbeeinflußt vom Europäer zeige der neuseeländische Charakter viele angenehme Eigenschaften. Der Maori zeichne sich durch „natürliche[n] Verstand, verbunden mit einfacher Offenherzigkeit“ aus.221 Zudem zeugen Berichte von „seiner Treue, warmen Anhänglichkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit“.222 In den Beziehungen zwischen den ersten eingewanderten Europäern und den „eingeborenen“ Frauen hätten diese „stets die größte Selbstaufopferung und Beständigkeit“ an den Tag gelegt.223 Um den Charakter der Maori ins rechte Licht zu rücken, verweist der anonyme Verfasser des Beitrags sodann auf einige von ihm selbst gemachte Beobachtungen in der neuseeländischen Kolonialgeschichte. Einer der frühen Kolonisten, der lange Zeit mit einer Maori zusammengelebt hatte, habe sich nach der Ausbreitung der „europäischen Colonisation“, die eine ehelose Bindung „unthunlich“ machte, von seiner Frau getrennt.224 Das arme Geschöpf erkannte sein Recht an sie fortzuschicken, war ihm aber zu anhänglich um die Trennung überleben zu können. Sie zog sich in eine verlassene Hütte zurück und schickte sich an sich durch Hunger zu töten. Nach mehreren Tagen fand man sie, ohne daß sie Nahrung oder Wasser zu sich genommen hätte, und der Ansiedler, welcher einsah daß die Verbannung der Frau so gut wie der Tod war, nahm seinen Entschluß zurück und brachte sie wieder in sein Haus, das sie so lange bewohnt hatte. Dieß ist kein vereinzelter Fall, sondern nur ein Beispiel des treuen anhänglichen Charakters dieses interessanten Volkes.225
Ein anderer europäischer Einwanderer, mit dem der Verfasser gereist war, „hatte vier Eingeborene gemiethet, um sein und seines Freundes Gepäck bis an die Region der heißen Quellen zu tragen“. Diese Träger reisten rund drei Wochen mit ihrem Herrn, ohne daß sie, da keiner des andern Sprache verstand, in irgendeine andre Beziehung zu einander getreten wären als in die welche auch Lastthiere zu ihren Herren haben. Und nichtsdestoweniger waren die armen Burschen ihren Herren in dieser kurzen Zeit so anhänglich geworden, daß sie beim Scheiden Thränen vergossen.226
Es sei „wunderbar“, so der Verfasser, daß diejenigen, die noch vor kurzem als Menschenfresser galten, „ein so liebevolles Herz haben“.227 Die „Fri220 221 222 223 224 225 226 227
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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sche des Charakters“ verliere sich jedoch, wenn der „Eingeborene“ längere Zeit mit dem Weißen und insbesondere mit der „Ochsentreiber-Civilisation“ der englischen Kolonisten in Kontakt komme.228 Dann „entartet“ der Eingeborene, beginne „zu trinken und wird hinterlistig, habgierig und betrügerisch“. Früher habe er, so der Verfasser, sehr selten „einen betrunkenen Maori“ gesehen, doch gegenwärtig „muß der würdige Bischof selbst zugestehen daß seine Schützlinge entarten“. Grundsätzlich achte der Maori das Privateigentum und habe auch gelernt, mit dem Pflug umzugehen. Der Maori sei „ein hübscher Bursche“ und zumeist von „guter Gestalt“. Er habe „entwickelte Muskeln“ und verrichte anstrengende Arbeiten, „wenn er nicht strenge gehalten wird“.229 Wenn er sauber und gekleidet ist, gleicht er mehr einem Spanier oder Italiener als einem Wilden, und hin und wieder sieht man hübsche Leute unter ihnen. […] Mitunter tragen sie den Typus des ganz gemeinen Wilden, mitunter sind sie aber zarter, mit gebogener Nase und Lippen, welche nicht dicker sind als die eines jeden Engländers. Einige haben eine frappant jüdische Physiognomie, besonders im Profil gesehen, so daß man versucht ist eigenthümliche Schlüsse auf ihren Ursprung zu ziehen.230
Angesichts der „vielen guten und bildungsfähigen Eigenschaften“ des „Eingeborenen“ sei die Frage naheliegend, in wie weit er den zerstörenden und verderblichen Einflüssen unterworfen ist, welche leider nur zu oft der Verkehr mit einer höher stehenden Race im Gefolge hat, und ob er bestimmt ist in die traurigen Fußstapfen derjenigen zu treten die durch das Vorschreiten der Angelsachsen vernichtet sind. Ich fürchte, es ist wenig Hoffnung vorhanden.231
Der Maori selbst wisse um seinen drohenden Untergang Bescheid und stelle dem Weißen anläßlich von Landverkäufen oftmals die Frage: „Warum seyd Ihr in solcher Eile? Wenn Ihr wartet bis wir alle todt sind, könnt Ihr das Land umsonst haben.“232 Die Bevölkerungszahl nehme stark ab, einst mächtige „Stämme“ seien „verschwunden oder in gänzliche Unbedeutendheit versunken“.233 Dies hänge einerseits mit den Kriegen zusammen, die sie untereinander führten, andererseits aber auch mit den „Krankheiten, welche sie sich durch Unwissenheit und Thorheit zuziehen“. Die Maori liebten es, in ihren kleinen Hütten bis spät in die Nacht hinein über Gott und die Welt zu diskutieren, 228 229 230 231 232 233
Ebenda, S. 1194. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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bis sie so erhitzt sind daß sie, um sich abzukühlen, die Kleider abwerfen und sich der Nachtluft aussetzen. Der Grund zur Schwindsucht wird gelegt und viele von ihnen leiden an hektischem Husten. Auch zeigt sich große Neigung zu Skropheln unter ihnen, was man ihrer unvernünftigen Diät zuschreiben muß; so z. B. essen sie sehr viel den überaus fetten Aal, welcher fast der einzige Fisch ihres süßen Wassers ist.234
Im Jahr 1858 veröffentlicht der in der Nähe von Tübingen geborene Missionar Johann L. Krapf (1810-1881) sein umfangreiches Werk Reisen in Ost-Afrika (1858).235 Krapf, der aus einer Bauernfamilie stammte, studierte Theologie und begann 1837 für die Londoner Church Missionary Society seine Tätigkeit in Ostafrika. Gestützt auf Informationen arabischer Handelstreibender, die insbesondere im Gebiet um Sansibar zahlreich vertreten waren, erkundete Krapf diesen bis dahin auf europäischen Karten als „weißen Fleck“ geltenden Landstrich. Er zeichnete eine „noch sehr ungenaue Karte von diesem Gebiet, auf der ein einziger riesiger See mit bizarren Konturen eingezeichnet war“.236 Auf einigen seiner Expeditionen wurde Krapf von seinem Landsmann und Missionsbruder Johannes Rebmann (1820-1876) begleitet. Rebmann sollte dann auch der erste Europäer sein, der im Jahre 1848 die schneebedeckte Kappe des Kilimandscharo erblickte. Ein Jahr später „entdeckte“ Krapf den Mount Kenya. Gemeinsam verfaßten die beiden das erste Wörterbuch und die erste Grammatik in Suaheli.237 Nur zwei Punkte des umfangreichen Krapfschen Werkes sollen hier zur Sprache kommen. Der erste Punkt hängt unmittelbar mit der kulturevolutionistischen Fortschrittsidee der anthropologischen Gründerzeit zusammen. Es ist dies die aus heutiger Sicht bizarr anmutende Suche nach dem „Wildesten aller Wilden“, „dem Elendsten aller Geschöpfe“, dem „tierischsten Menschen“, die Suche nach dem homo totius mundi ferocissimus.238 Gerade da die gegenwärtige „Zivilisation“ um so höher erscheint, je mehr Stufen man bereits hinter sich gelassen zu haben glaubt, ist dieser Wettlauf, den Niedrigsten aller Menschen zu finden, für die anthropologische Gründerzeit so bezeichnend. Auch Krapf wird sich an dieser Suche beteiligen und erzählen, daß er zwar nicht selbst gesehen, aber gehört habe, daß sich südlich von Kaffa und Susa ein „heißes und sehr nasses“ Gebiet mit vielen Bambuswäldern befinde, in welchem der ungemein „wilde“ Stamm der Doko lebe. Diese seien so „so klein […] als 10jährige Knaben, 234 Ebenda. 235 Johann L. KRAPF, Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1837-55. Zur Beförderung der Ostafrikanischen Erd- und Missionskunde, Kornthal: Selbstverlag des Verfasser/Stuttgart: In Commission bei W. Stroh 1858. 236 KI-ZERBO, Die Geschichte Schwarz-Afrikas, S. 441. 237 Vgl. KI-ZERBO, Die Geschichte Schwarz-Afrikas, S. 441. 238 Der Ausdruck homo totius mundi ferocissimus wurde mir von Andrea Fruhwirth empfohlen, der ich an dieser Stelle meinen Dank ausdrücken möchte.
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also 4 Fuß hoch“.239 Dann fährt Krapf mit seiner Beschreibung der Doko fort: Sie haben eine dunkle, olivenartige Farbe und leben in einem völlig wilden Zustand wie die Thiere. Sie haben weder Häuser noch Tempel, noch heilige Bäume […], besitzen aber doch eine gewisse Idee von einem höhern Wesen, das sie Jer heißen, zu dem sie in Augenblicken der Traurigkeit und Angst beten, aber nicht in aufrechter Stellung, sondern mit ihren Häuptern auf dem Boden und die Füße aufrecht an einen Baum oder Stein gelehnt. In ihrem Gebet sagen sie: „Jer, wenn du wirklich ein dasein hast, warum läßt du uns denn getödtet werden? Wir bitten dich nicht um Speise oder Kleider, denn wir leben von Schlangen, Ameisen und Mäusen. Du hast uns gemacht, warum läßt du uns zertreten werden?“ Die Doko haben kein Oberhaupt, keine Gesetze, keine Waffen, sie jagen nicht, bauen kein Feld, sondern leben allein von Früchten, Wurzeln, Mäusen, Schlangen, Ameisen, Honig u. s. w. Gleich den Affen steigen sie auf die Bäume und holen Früchte. Oft geschieht es, daß sie auf den Bäumen in Streit gerathen und einander vom Baum hinabwerfen. Ein großer und hoher Baum, genannt Loko, soll rothe Früchte haben, die sie besonders lieben. Beide Geschlechter gehen völlig nackt. Die Doko haben dicke, hervorstehende Lippen, platte Nasen und kleine Augen. […] Die Nägel an Händen und Füßen lassen sie wachsen wie die Krallen der Adler, und gebrauchen sie zum Graben nach Ameisen, und zum Zerreißen der Schlangen, die sie roh verzehren, denn Feuer kennen sie nicht. Den Rückgrat der Schlange tragen sie als einzige Zierde um den Hals. Ihre Ohrmuschel durchstechen sie mit einem spitzigen Stück Holz. Die Doko vermehren sich sehr schnell, leben aber in keiner regelmäßigen Ehe, sondern nehmen Weiber, wo sie sie finden, und lassen sie wieder gehen, wohin sie wollen. Die Frau säugt das Kind nur kurze Zeit, indem sie es baldmöglichst an das Essen der Ameisen und der Schlangen gewöhnt. Sobald sich das Kind selber helfen kann, so läßt es die Mutter ziehen, wohin es will.240
Obgleich die Doko im Dickicht der Wälder lebten und sich versteckt hielten, wurden sie doch oft von Sklavenjägern aufgespürt und gefangen genommen. Gegen ihre Gefangennahme setzten sich die Doko nicht zur Wehr, da sie aus Erfahrung wüßten, daß Widerstand zwecklos war und „nur zu ihrem Untergang führen würde“.241 Auch Fluchtversuche kämen nicht vor. „Tausende von Doko“, so Krapf, „können auf diese Weise von einer kleinen Schaar Jäger gefangen werden“.242 In der Sklaverei behielten die Doko ihre Ernährungsweise bei, wiewohl sie oft deshalb von ihren Meistern gezüchtigt werden, welche die Doko lieben, da sie gelehrig und gehorsam sind, und da sie wenig Bedürfnisse und eine gute Gesundheit besitzen, weßhalb sie auch nie über Enarea hinaus verkauft 239 240 241 242
KRAPF, Reisen in Ost-Afrika, S 77. Ebenda, S. 77-78. Ebenda, S. 78. Ebenda.
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werden. Sie sterben nur in Folge des Alters, oder bei feindlichen Ueberfällen, Krankheiten kennen sie nicht.243
Nach diesem Porträt des „Pygmäengeschlechts“ der Doko, die Krapf vom Hörensagen kennt, soll noch ein zweiter Punkt seines Werkes kurz dargestellt werden; nämlich die am Ende seines Buches angestellten Überlegungen zur Bekehrung der ostafrikanischen „Heiden“ und die praktischen Ratschläge, die er jungen Missionaren für ihre Arbeit mit auf den Weg gibt. Krapf wollte durch eine Kette von Missionsstationen Mombas – das heutige Mombasa im Süden Kenyas – mit der westafrikanischen Küste verbinden. Die „Heiden“ in Ostafrika seien, wie sein Begleiter Johann Rebmann (1820-1876) meinte, „weder Gott, noch der Welt etwa nütze“.244 Leicht könne einen jungen Missionar daher der Mut verlassen, wenn er „ihre Gleichgiltigkeit gegen alles Göttliche, ja selbst gegen den Fortschritt in menschlichen Dingen“ kennenlernte.245 Man dürfe sich also keine allzu schnellen Erfolge erhoffen. Vielmehr gelte es, geduldig, demütig und im Vertrauen auf Gott sein Werk zu verrichten. Im Unterschied zu Livingstone meinte Krapf, daß sich die Missionare nicht zuviel von politischen Veränderungen in Ostafrika erhoffen sollten und allein auf die Kraft der christlichen Religion vertrauen sollen: Sobald du besondere Erwartungen von der Politik für die Mission hegst, so bist du in Gefahr, dich in dieselbe zu mischen aus guter Meinung. Denke du ja nicht, weil die Ostafrikaner „Gott und der Welt nichts nütze sind,“ so sollten sie unter die Herrschaft einer europäischen Macht gebracht werden, damit sie dann rühriger und strebsamer für das Irdische und infolgedessen auch für das Geistige und Himmlische aufgeweckter würden. Verbanne du vielmehr den Gedanken, als ob Europa seine schützende und helfende Fittige über Ostafrika ausbreiten müßte, wenn das Missionswerk dort gedeihen soll. Allerdings würde Europa manche Nachtheile und Hindernisse von dem Missionswerk entfernen, aber eben so viele und vielleicht noch größere Hemmnisse an deren Stelle setzen. Es ist ein Cardinalirrthum, wenn man den Erfolg des Missionswerkes von menschlichen Gewalten abhängig macht. Nimm du die Entwicklungsstufe und die Verhältnisse der Heiden an wie du sie findest, und lasse dich weder durch die niedere noch durch die höhere Bildung, weder durch den Stumpfsinn noch durch den Hochsinn eines Heidenvolkes irre machen. […] Ob die Europäer Ostafrika in Besitz nehmen oder nicht, daran liegt mir wenig oder nichts. Ich weiß wohl, die Mission hat auch eine menschliche Seite, sie greift nicht auf eine magische Weise (das heißt ohne alle äußere Vorbereitung eines Volkes auf die Mission) in das Leben der Völker ein, aber man überschätzt diese menschliche Seite viel zu sehr, und will, wie der Jude, immer den Grund des Wassers sehen, ehe man über den Fluß geht. In Ostafrika ist […] durch das Auftreten der Europäer, hauptsächlich der Eng-
243 Ebenda. 244 Rebmann zit. nach ebenda [Zweiter Theil], S. 516. 245 Ebenda.
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länder in Mombas, so viel geschehen, als der Missionar, was die menschliche Seite der Mission betrifft, wünschen kann. Die Europäer sind bekannt und werthgeschätzt. Nicht das Missioniren, sondern das Nichtmissioniren sieht in Ostafrika die Unmöglichkeiten. Missionire du nur getrost an der ganzen Küste von Barawa bis Kap Delagao, du hast überall einen Eingang zu den Heiden, und lasse dich weder durch die Zustände der materialistischen Heiden in Ostafrika, noch durch deine Vernunft, noch durch den Unglauben der Europäer, noch durch die jahrelange Fruchtlosigkeit deiner Arbeit irre machen. „Laß du das Zeugniß Gottes nur ertönen: ihr Menschen, lasset euch mit Gott versöhnen! Wär’ auch ein Heide wie ein Bär, er wird zum Lamme, und wär’ er kalt wie Eis, er wird zur Flamme; Und wär’ er todt wie Stein, er kommt zum Leben, und ihm wird Heil und Seligkeit gegeben“.246
Nur kurz sei hier erwähnt, daß die Expeditionen von Krapf und Rebmann in den 1840er Jahren für die weitere „Entdeckungsgeschichte“ Ostafrikas richtungsweisend sein sollten. Ihre Berichte hatten die beiden deutschen Missionare nämlich auch an die Royal Geographic Society in London ge246 Ebenda, S. 520-521. Das Thema der Missionierung der afrikanischen „Heiden“ wurde insbesondere während des sogenannten „scramble of Africa“ in den 1880er Jahren besonders hitzig diskutiert. In einem deutschen Lehrbuch für Jugendliche heißt es über die Bekehrung der „Neger“ in der Kolonie Kamerun: „Afrika, das alte Land der Wunder, soll erschlossen werden für eine höhere Gesittung, und wenn das auch nicht anders geht, als daß der Kaufmann, der zunächst nur nach Mein und Dein fragt, den Pionier macht, so kommt in seinem Gefolge doch auch der Missionar in das Land, der an seinem Teile mithilft, daß auch im schwarzen Erdteil das Feld der Heidenwelt weiß zur Ernte werde. Es ist ein Kampf des Lichtes mit der Finsternis, der sich in den Ländern des fernen Erdteils vorbereitet.“ Sodann wird die „reifere Jugend“ mit dem Land und den „Eingeborenen“ der deutschen Kolonie Kamerun näher vertraut gemacht. Unter Hinweis auf den Charakter der „Eingeborenen“ wird die Jugend gewarnt, sich nicht allzu große Hoffnungen bezüglich des Erfolges der Missionierung zu machen. „Die Unterthanen der Negerkönige in der Kolonie Kamerun gehören samt und sonders dem Negerstamme der Duala an. Sie zeichnen sich vor den meisten Negerstämmen der Westküste durch etwas lichtere Hautfarbe aus, welche von einem Reisenden mit der des schwachgebrannten Kaffees verglichen wird. Diese Abweichung von dem Schwarz der meisten Negerstämme ist aber auch so ziemlich alles, was sich zu ihren Gunsten sagen läßt. Ihre Gesichtszüge sind grob und roh, und diesem unschönen Äußern entspricht ihre geistige Art: sie werden von den Weißen als geistig stumpf und der Bildung wenig zugänglich bezeichnet; dabei aber sind sie ungemein träge, feig, diebisch und hinterlistig. Da begreift sich, daß trotz der unsäglichen Mühe, welche eine Reihe von Jahren hindurch englische Missionare dem Bekehrungsgeschäfte unter den Duala gewidmet haben, dieselben so wenig Erfolge erzielten, daß sie sogar die kleine Schule wieder aufgaben, in welcher sie den Samen der christlichen Lehre in die Herzen der Jugend zu pflanzen gedachten.“ August HUMMEL, Die deutsche Kolonie Kamerun, in: ders., Bilder aus der Weltkunde für die reifere Jugend, Gloggau: Verlag Carl Flemming 1897, S. 258-269, hier S. 258-259 und 266. Der obige Text wurde, wie aus einer Notiz hervorgeht, im Jahre 1887 verfaßt.
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schickt, wo diese auf großes Interesse gestoßen waren.247 In den frühen 1850er Jahren war Krapf in Kairo mit Sir Richard Burton zusammengetroffen. Mit Unterstützung der Royal Geographic Society stellte Burton im Jahr 1857 eine große Forschungsexpedition – darunter rund 100 afrikanische Träger – zusammen, um das Gebiet um den von Krapf erwähnten großen See und die riesigen Gebirge zu erkunden. Zu der geostrategischen Bedeutung von Ostafrika kam auch das „romantische“ Motiv, daß man hier die langgesuchten Quellen des Nils vermutete. Im Februar 1858 „entdeckte“ Burton den „Tanganjikasee“, wenige Monate später sein Begleiter John H. Speke – Burton war an Fieber erkrankt und konnte diese Expedition nicht mitmachen – einen riesigen See, den er zu Ehren seiner Königin „Viktoriasee“ nannte und der, wie Speke feststellte, auch eine der Nilquellen war. In das Jahr 1858 fällt auch das Erscheinen von Virchows Hauptwerk Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre (1858), in der er die Zelle zum Zentrum aller vitalen Prozesse erklärt.248 Krankheiten und deren Verlauf seien durch Veränderungen in der Struktur der Zelle bedingt. „Alles Leben“, so Virchow, „ist an die Zelle gebunden und die Zelle ist nicht blos das Gefäß des Lebens, sie ist selbst der lebende Theil. In der That ist jedes organische Individuum voller Leben. Das Leben sitzt nicht an diesem oder jenem Orte; es residiert nicht in einem oder dem anderen Theile. Nein, es ist in allen Theilen, soweit sie zelligen Ursprungs sind“.249
Nach Gunter Mann verknüpfte Virchow mit dieser Entdeckung, die der naturphilosophischen Lebenskraft ihren wissenschaftlichen Lebenssaft entzog, auch die gesellschaftspolitische Vorstellung, daß jeder zusammengesetzte Körper eine soziale Einrichtung darstelle, bei welchem „eine Masse von Einzelexistenzen aufeinander angewiesen ist, das Ganze trage und bestimme“.250 Im Juli des gleichen Jahres bittet Friedrich Engels Karl Marx in einem Brief, ihm die „Hegelsche Naturphilosophie“ zu schicken, denn er „treibe jetzt etwas Physiologie und werde vergleichende Anatomie daran knüpfen“. Er wolle wissen, ob „der Alte“ von den neuen Entdeckungen „etwas gerochen“ habe.251 247 Vgl. hierzu Shona GRIMBLY (Hg.), Grosser Atlas der Forscher und Entdecker, München: Orbis Verlag 2003 [Engl. Original 2001], S. 194. 248 Vgl. hierzu Gunter MANN, Rudolf Virchow (1821-1902), in: Dietrich von ENGELHARDT, Fritz HARTMANN (Hg.), Klassiker der Medizin, München: Beck 1991, S. 203-215, insbesondere S. 212-215. 249 Virchow zit. nach MANN, Virchow, S. 214. 250 MANN, Virchow, S. 214. 251 Brief von Friedrich Engels an Karl Marx, 14. Juli 1858, in: Karl MARX, Friedrich ENGELS, Der Briefwechsel, Band 2: Die Briefe aus den Jahren 1854 bis 1860, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983 [Fotome-
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So viel ist gewiß, hätte er heute eine Naturphilosophie zu schreiben, so kämen ihm die Sachen von allen Seiten zugeflogen. Von den Fortschritten der Naturwissenschaften übrigens, die in den letzten dreißig Jahren gemacht worden sind, hat man übrigens gar keinen Begriff.252
Neben der organischen Chemie sei, so Engels, das seit rund zwei Jahrzehnten vermehrt für Forschungszwecke eingesetzte Mikroskop für die Fortschritte auf dem Gebiet der Physiologie entscheidend gewesen. Hierdurch sei nämlich die Entdeckung der Pflanzen- und Tierzelle durch Schleiden und Schwann erst ermöglicht worden. So viel ist sicher, bei der vergleichenden Physiologie bekommt man eine schmähliche Verachtung gegen die idealistische Überhebung des Menschen über die andern Bestien. Auf jedem Schritt wird man mit der Nase auf die völligste Übereinstimmung der Struktur mit den übrigen Säugetieren gestoßen, in den Grundzügen geht die Übereinstimmung durch bei allen Wirbeltieren und selbst – verwischter – bei Insekten, Crustaceen, Bandwürmern etc.253
Obgleich Hegel von diesen neuen Erkenntnissen noch nichts wissen konnte, meint Engels, daß gerade die Entwicklungsgeschichte ein Beleg „vom qualitativen Sprung in der quantitativen Reihe“ sei. Zuletzt bei den brutalsten Infusorien kommt man bei der Urgestalt der einfachen, selbständig lebenden Zelle an, die sich aber auch wieder in nichts Wahrnehmbarem von der untergeordnetsten Pflanze […] und den Keimen der höheren Entwicklungsstufen bis zum menschlichen Ei und Samentierchen, inclusive unterscheidet und ebenso egal aussieht wie die unabhängigen Zellen im lebenden Körper.254
Im Jahr, als Virchow seine Zellularpathologie veröffentlicht, stirbt sein Lehrer Johannes Müller (1801-1858).255 Müller, der von 1833 bis zu seinem Tod Ordinarius für Anatomie und Physiologie in Berlin war, gilt gemeinhin als der Begründer der experimentellen Physiologie in Deutschland und als einer der wohl einflußreichsten Naturwissenschaftler im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Als Lehrer von Rudolf Virchow, Emil Du Bois-Reymond, Hermann von Helmholtz, Theodor Schwann, Jacob Henle, Ernst W. Brücke, Ernst Haeckel und vielen anderen sollte Müller eine ganze Generation deutscher Naturwissenschaftler nachhaltig prägen. Von
252 253 254 255
chanische Übernahme aus der alten Marx-Engels-Gesamtgabe (MEGA), Dritte Abteilung, Band 2, Berlin 1930], S. 326. Ebenda. Ebenda, S. 326-327. Ebenda. Zu Leben und Werk von Müller siehe Brigitte LOHFF, Johannes Müller (1801-1858), in: Dietrich von ENGELHARDT, Fritz HARTMANN (Hg.), Klassiker der Medizin, München: Beck 1991, S. 119-134.
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seinem „Handbuch der Physiologie“, dessen erste Bände in den frühen 1830er Jahren erschienen, meinte Virchow, daß es „die Grundlage von unserer Aller Bildung geworden sei“.256 Im folgenden möchte ich einige Passagen aus der Gedächtnisrede von Rudolf Virchow wiedergeben, um die Kulturbedeutung der Naturwissenschaft in der hier erörterten Periode zu veranschaulichen und zudem jenes religiös anmutende „Stammesbewußtsein“ aufzuzeigen, von dem die Generation der exakten Naturforscher durchdrungen war. „In dem Physiologen Müller“, so Virchow, verehre man nicht so sehr „das Genie des Entdeckers, nicht so sehr den bahnbrechenden Flug des Sehers, sondern vielmehr die methodische Strenge des Forschers, das maassvolle Urtheil, die sichere Ruhe, die reiche Vollendung des Wissens“. Müller stehe stellvertretend für die neue Ausrichtung der Naturforschung. „Durch ihn“ sei auch im Bereich „des Organischen das Mystische und Phantastische überwunden worden“. Müller habe sich gleichermaßen gegen jede „gefährliche Richtung“ gewandt, ob sie im Gewande der Philosophie, der Religion oder der Spekulation auftrat.257 Müller sei es, der die ‚exakte‘, die eigentlich naturwissenschaftliche Methode nicht erfunden, aber sicher festgestellt hat. Daher gibt es keine Schule Müller’s im Sinne der Dogmen, denn er lehrte keine, sondern nur im Sinne der Methode. Die naturwissenschaftliche Schule, welche er hervorgerufen hat, kennt keine Gemeinsamkeit der Lehre, sondern nur eine Gemeinsamkeit der Thatsachen und noch mehr der Methode. Müller ist nicht verantwortlich dafür, dass auch diese Schule ihre Auswüchse getrieben hat, am wenigsten dafür, dass ein Materialismus gepredigt worden ist, der beinahe ebenso dogmatisch ist, als der Spiritualismus und die Orthodoxie, gegen welche er ankämpft.258
Müller wurde, so Virchow, ein dauernder Priester der Natur; der Cultus, dem er diente, fesselte auch seine Schüler, wie durch ein religiöses Band an ihn, und die ernste, priesterliche Weise seiner Sprache und Bewegung vollendete den Eindruck der Ehrfurcht, mit dem Jeder zu ihm aufschaute. Um den Mund und die gepressten Lippen ein Zug von Strenge, um Stirn und Auge der Ausdruck ernstesten Denkens, in jeder Falte des Gesichtes die Erinnerung an eine vollendete Arbeit – so stand dieser Mann vor dem Altar der Natur, durch eigene Gewalt befreit von den Fesseln der Erziehung und der Ueberlieferung, ein Zeuge der persönlichen Unabhängigkeit.259
256 Rudolf VIRCHOW, Eine Gedächtnisrede gehalten bei der Todtenfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität zu Berlin, Berlin: Verlag August Hirschwald 1858, S. 25. 257 Ebenda, S. 29. 258 Ebenda. 259 Ebenda, S. 30.
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Virchow berichtet von den Vorträgen, die er als Student bei dem in einem katholischen Elternhaus aufgewachsenen Müller gehört hatte und der auch in der getragenen Manier an den katholischen Priester erinnerte. […] Wenn er als Decan in der Amtstracht auf die Cathedra superior stieg und mit feierlichen, kurz abgebrochenen und wie in sich zusammengezogenen Worten die lateinische Formel der Doctor-Proclamation aussprach, ja selbst wenn er seine gewöhnliche Vorlesung mit fast murmelnden Worten begann, oder wenn er mit religiösem Ernst die Kernfragen der Physiologie abhandelte, so schien Alles, Ton und Miene, Bewegung und Blick, die Traditionen des römisch-katholischen Clerus zu verrathen.260
Ehe wir dieses Jahr beschließen, werfen wir noch einen kurzen Blick auf den Naturforscher Karl E. von Baer aus St. Petersburg, der damals gerade durch die Schweiz reiste. Von Baer hatte sich bei seinem deutschen Kollegen Alexander Ecker zum Besuch angemeldet, um dessen Schädelsammlung zu besichtigen, da er, wie er schreibt, zur Zeit „besonders auf die leeren Köpfe versessen“ sei.261 Von Baer wurde jedoch in der Schweiz aufgehalten und führte als Begründung für seine Verspätung an: „Ich muss vorher eine Fahrt nach Chur machen, weil die Graubündtner ganz besondere Köpfe haben sollen, von denen ich einen hier vorgefunden habe. Ich muss doch sehen, ob das allgemein ist.“262
Das Jahr 1859 Darwin – die „zweite“ Entdeckung von Abbeville – die Weltbevölkerung – die „Naturvölker“ von Theodor Waitz – Schwarzes Gold – das Sezieren von Fröschen und ein „Prachtkörper“ für das „anatomische Theater“
Im Jahr 1859 erscheint das Werk The Origin of Species (1859) des englischen Biologen Charles Darwin (1809-1882).263 Nach Ernst Mayr läßt sich 260 Ebenda, S. 44. 261 Brief von K. E. von Baer an A. Ecker, zit. nach Alexander ECKER, K. E. Baer’s Antheil an der Gründung des Archivs, S. 173. 262 Ebenda. 263 Nur einige kurze Anmerkungen zur bemerkenswerten Entstehungsgeschichte dieses Werkes seien hier gestattet. Nach Ernst Mayr hatte Darwin sich bereits im Jahre 1837, also nach der Rückkehr von seiner Weltreise auf der H.M.S. Beagle, vom essentialistischen Artbegriff losgesagt und den für seine gesamte Lehre entscheidenden Gedanken eines fließenden Übergangs von Arten und Varietäten entwickelt. Mayr zufolge hatte Darwin die Grundzüge seiner Lehre bereits in den 1840er Jahren ausgearbeitet, von einer Veröffentlichung jedoch abgesehen. Erst ein Schreiben aus dem Jahre 1858 des Naturforschers Alfred R. Wallace, in dem dieser Darwin bat, sich für die Veröffentlichung seiner Arbeit „On the tendency of varieties to depart indefinitely from the original type“ einzusetzen, habe Darwin veranlaßt, seine Theorie zu
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Darwins evolutionistische Lehre als ein Bündel von fünf Tatsachen und drei hieraus gezogenen Schlußfolgerungen verstehen:264 Tatsache 1: Das Fertilitätspotential der Arten ist derart, daß ihre Populationen exponentiell wachsen würden, wenn alle Individuen sich erfolgreich reproduzierten. Tatsache 2: Sieht man von kleinen jährlichen Schwankungen und gelegentlichen größeren Fluktuationen ab, erweisen sich Populationen in bezug auf ihre numerische Größe als mehr oder minder stabil. Tatsache 3: In einer stabilen Umwelt sind die natürlichen Ressourcen begrenzt. Schlußfolgerung 1: Da mehr Individuen geboren als durch die natürlichen Ressourcen versorgt werden können, kommt es zu einem Kampf ums
veröffentlichen. Nach Erhalt des Briefes von Wallace, der bereits 1855 in seinem Beitrag „Introduction of New Species“ (1855) zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Darwin gelangt war, meinte Darwin gegenüber seinem Freund Charles Lyell: „Your words have come true with a vengeance – that I should be forestalled […] I never saw a more striking coincidence; if Wallace had my manuscript sketch written out in 1842, he could not have made a better short abstract! […] so all my originality, whatever it may amount to, will be smashed.“ Die Arbeit von Wallace wurde schließlich von Lyell und dem Botaniker Hooker gemeinsam mit Auszügen aus Darwins 1844 verfaßten Essay und einem Brief von Darwin an Asa Gray aus dem Jahre 1857 in der Linnean Society vorgestellt. Vgl. hierzu die Ausführungen von Ernst MAYR, The Growth of Biological Thought: Diversity, Evolution, and Inheritance, Cambridge, Mass. und London: The Belknap Press of Harvard University Press 1982, S. 408-423. Zu den Unterschieden in den Theorien von Wallace und Darwin vgl. ebenda, S. 417-420 und 494-498. Obgleich Wallace unabhängig von Darwin seine evolutionstheoretischen Gedanken entwickelt und veröffentlicht hatte und seine „Entdeckung“ von jener Darwins überschattet wurde, schrieb er: „Mein ganzes Leben lang empfand ich – und empfinde immer noch – die aufrichtigste Genugtuung darüber, daß Darwin sich lange vor mir ans Werk gemacht hatte und nicht mir die Aufgabe zufiel, die Entstehung der Arten zu schreiben. Ich habe seit langem meine Kräfte ermessen und weiß wohl, daß ich ihr durchaus nicht gewachsen gewesen wäre. Weit fähigere Männer als ich werden bekennen, daß sie weder diese unermüdliche Geduld besitzen, große Tatsachen zusammenzutragen, noch jenes wunderbare Geschick, sie in der richtigen Weise zu gebrauchen – weder jenes umfassende und präzise physiologische Wissen noch jenen Scharfsinn in der Planung und Ausführung von Experimenten noch auch jenen bewundernswerten Stil, der zugleich klar, überzeugend und kritisch ist –, allesamt Eigenschaften, die in ihrer harmonischen Verbindung Darwin als den Mann auszeichnen, der – vielleicht unter allen heute lebenden – am besten für das große Werk geeignet war, das er unternommen und vollendet hat.“ Wallace zit. nach Jonathan HOWARD, Darwin: Eine Einführung, Stuttgart: Reclam 1996 [Engl. Original 1982], S. 154. 264 Ich folge hier der Zusammenfassung von Ernst MAYR, The Growth of Biological Thought, S. 479-480; eine ähnliche Darstellung der Darwinschen Kernthesen findet sich auch bei HOWARD, Darwin, S. 42-44.
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Dasein zwischen den Individuen einer Art. In diesem Kampf überlebt nur ein Teil der Individuen jeder Generation.265 Tatsache 4: Individuen einer Art unterscheiden sich in bezug auf ihre Struktur- und Verhaltensmerkmale voneinander. Jede Population zeichnet sich also durch Variabilität aus. Tatsache 5: Ein Großteil dieser individuellen Unterschiede ist erblich bedingt, wird also von Generation zu Generation weitergegeben. Schlußfolgerung 2: Die Überlebens- bzw. Fortpflanzungschancen der Individuen im Kampf ums Dasein hängen teilweise von ihrer erblichen Konstitution ab. Diese erblich bedingten, unterschiedlichen Überlebensbzw. Fortpflanzungschancen der Individuen liegen dem Prinzip zugrunde, das Darwin „natürliche Auslese“ genannt hat.266 Schlußfolgerung 3: Über einen längeren Zeitraum führt das Prinzip der „natürlichen Auslese“ zur allmählichen Veränderung oder Evolution der Population – zur Entstehung neuer Arten. In bezug auf die Rezeption der Darwinschen Lehre durch die Sozialund Geisteswissenschaften seiner Zeit seien nur einige knappe Überlegungen angestellt. Die Bedeutung seiner Evolutionstheorie für den Entwicklungsgedanken in der Anthropologie liegt vor allem in seiner Kritik an den Lehren des Kreationismus und der Persistenz der Arten. In seinem 1859 erschienenen Werk hat Darwin bekanntlich die Menschheit aus seiner Untersuchung ausgeklammert und nur bemerkt, daß seine Forschungen auch für diese von Belang sein werden: „Much light will be thrown on the origin of man and his history.“267 Erst im Jahr 1871 sollte sich Darwin dieser Frage widmen. Gerade diese Frage jedoch, nämlich die Frage nach der Abstammung des Menschen und seiner Verwandtschaft mit dem Affen, war es, die für die Anthropologen der 1860er Jahre von größtem Interesse war. Indem viele Anthropologen unter Berufung auf Darwin die Stufenleiter um eine weitere Sprosse, die sie für den Affen reservierten, nach unten verlängerten, erschien der bereits zurückgelegte Weg, der Fortschritt, um265 „[A]s more individuals are produced than can possibly survive, there must in every case be a struggle for existence, either one individual with another of the same species, or with the individuals of distinct species, or with the physical conditions of life. It is the doctrine of Malthus applied with manifold force to the whole animal and vegetable kingdoms; for in this case there can be no artificial increase of food, and no prudential restraint from marriage.“ Charles DARWIN, The Origin of Species, New York: Random House 1993 [1859], S. 91. Gerade da, so Darwin, die Individuen einer Art sich hinsichtlich ihres Verhaltens und ihrer Konstitution ähnlich seien, sei der Kampf zwischen diesen am heftigsten. 266 „No one supposes that all the individuals of the same species are cast in the same actual mould. These individual differences are of the highest importance for us, for they are often inherited, as must be familiar to every one; and they thus afford materials for natural selection and accumulate in the same manner as man accumulates in any given direction individuals in his domesticated productions.“ DARWIN, Origin, S. 67. 267 DARWIN, Origin, S. 647.
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so beeindruckender. Gerade diese Schlußfolgerung eines „Übergangs vom Affen über den Schwarzen zum Weißen“, eine Schlußfolgerung, welche sie sich aus der Darwinschen Theorie zu ziehen berechtigt fühlten, verlieh der Fortschrittsidee eine ungemeine Schubkraft. In diesem Zusammenhang scheint jedoch ein zentraler Aspekt des Darwinschen Werkes weitgehend übersehen, vielleicht auch mißverstanden worden zu sein. Bei Darwin läßt sich die Frage nach der fitness immer nur in bezug auf bestimmte ökologisch-geographische Milieubedingungen beantworten. Mit anderen Worten: Im „Kampf ums Dasein“ siegen diejenigen, die an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt am besten angepaßt sind. Erst nach der Auslese wird man wissen, wer der „Tüchtigste“ gewesen ist. Bei Darwin ist „Anpassung“ also stets auf konkrete Bedingungen bezogen, keine „Verbesserung“ im Allgemeinen und somit auch kein orthogenetisches, auf ein bestimmtes Ziel hinauslaufendes Konzept. Bei geänderten Bedingungen könnten die „Sieger“ zu „Verlierern“ werden und umgekehrt. Gerade dieser „historisierende“ Gedanke der Darwinschen Lehre scheint jedoch bei vielen seiner zeitgenössischen Interpreten aus den Kulturwissenschaften kaum Beachtung gefunden zu haben. Für diese bedeutete Entwicklung zumeist einen mehr oder minder linearen Prozeß, ein sukzessives Fortschreiten auf ein in der Ferne liegendes Ziel. In diesem Sinne wurzelt der Entwicklungsbegriff der Kulturwissenschaften eher in der Tradition eines Lamarck als in jener von Darwin. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein vertraten viele Anthropologen und Soziologen die lamarckistische Auffassung, erworbene oder anerzogene Eigenschaften würden sich auf die Nachkommen vererben, so daß auch die meisten sogenannten Sozialdarwinisten eigentlich eher als Soziallamarckisten zu bezeichnen wären. Zweifelsohne übte Darwins Lehre auf seine Zeitgenossen aus den Kulturwissenschaften einen großen Einfluß aus. Aber dies heißt eben nicht, daß seine Lehre richtig verstanden wurde. Vielmehr kleideten Anthropologen und Soziologen ihre Argumentation in eine Darwinsche Phraseologie, und sie scheinen die aus Darwins Lehre gezogene „Affentheorie“ ihrer lamarckistischen Fortschrittsidee einverleibt zu haben. Ohne in Abrede stellen zu wollen, daß Darwin in seiner biologischen Lehre auch durch Sozialwissenschaftler – namentlich sei hier auf Thomas Malthus verwiesen – Anregungen erfuhr, sei doch ausdrücklich betont, daß er sich gerade von kulturwissenschaftlichen Lamarckisten vom Schlage eines Herbert Spencer klar distanzierte. Obgleich Darwin diesem einige zentrale Begriff entlehnt hatte, stellte er doch fest: Sein deduktives Vorgehen auf allen Gebieten widerspricht meiner Denkweise ganz und gar. Seine Schlüsse überzeugen mich nie; und immer wieder habe ich
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mir beim Lesen seiner Erörterungen gesagt: „Das wäre ein gutes Thema, wenn man ein halbes Dutzend Jahre Zeit hätte“.268
Wenden wir uns nun einem wichtigen prähistorischen Ereignis zu, das in das Erscheinungsjahr des Darwinschen Werkes fällt. Nach der Entdeckung einer Knochenhöhle im englischen Brixham im Jahre 1858, wo man unter der Erdschicht, in der man auf die Knochen ausgestorbener Tiere gestoßen war, eine Reihe von Kieselwerkzeugen (Messer usw.) gefunden hatte, entschlossen sich einige prominente englische Naturforscher wie Joseph Prestwich, Hugh Falconer, John Evans und Charles Lyell in den Jahren 1858 und 1859, die Fundstätte von Jacques Boucher de Perthes (17881868) im Sommetal in der Umgebung von Abbeville zu besuchen.269 Zu diesem Zeitpunkt hatte Boucher de Perthes bereits seit einigen Jahrzehnten zumeist doppelseitig bearbeitete Feuersteinwerkzeuge aus Erdschichten geborgen, in denen man auch auf Knochen von Elephanten, Höhlenbären, ausgestorbener Stierarten, Nashörner und anderer sogenannter „vorweltlicher“ Tiere gestoßen war. Obgleich Boucher de Perthes bereits in seinen, im Jahre 1847 erschienenen Antiquités Celtiques et Antédiluviennes (1847) über seine Funde umfassend berichtet hatte, stießen seine Darlegungen über die Steinwerkzeuge der „Urmenschen“ weder in Frankreich noch in England auf besonderes Interesse. Erst Ende der 1850er Jahre zeichnete sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Funden ab, gleichsam eine Neuentdeckung seiner Entdeckung. Bis dahin, so Lyell, hatte „die wissenschaftliche Welt […] keinen Glauben daran, daß Kunsterzeugnisse, wenn auch noch so roh, in ungestörten Erdschichten von solchem Alter gefunden worden sein sollten“.270 Nachdem die englischen Gelehrten die Fundstätte von Abbeville untersucht und zum Teil selbst Steinwerkzeuge in tiefen Erdschichten gefunden hatten, bestätigten sie die Angaben von Boucher de Perthes bezüglich des hohen Alters der Artefakte.271 Schon bald zählte man Tausende dieser birnenförmigen, doppelseitig bearbeiteten, rohen Werkzeuge. Doch wie alt war nun der Besitzer dieser Werkzeuge, der „Urmensch“? Hierüber konnte 268 HOWARD, Darwin, S. 152. Lapidar bemerkt der Biologiehistoriker Mayr, die Ideen Spencers, „with their reliance on finalistic principles and Lamarckian inheritance, were totally irreconcilable with Darwinian evolution.“ MAYR, The Growth of Biological Thought, S. 493. 269 Auch französische Gelehrte sollten erst in den 1850er Jahren auf die wahre Bedeutung der Funde von Boucher de Perthes aufmerksam werden. 270 Charles Lyell zit. nach Gerhard HEBERER, Einleitung, in: Thomas H. HUXLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus, übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1963 [1863], S. 1-53, hier S. 19. 271 Die neuen prähistorischen Entdeckungen sollten Lyell übrigens auch veranlassen, sein Urteil über das Alter der von Philippe-Charles Schmerling in den frühen 1830er Jahren gemachten Skelettfunde in belgischen Höhlen zu revidieren.
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man noch keine klare Auskunft geben. „Our present chronology with respect to the first appearance of man“, meinte Prestwich, „must be greatly extended“.272 Die Schwierigkeiten einer Datierung des ersten Menschen verglich Prestwich mit dem Anblick einer in der Ferne liegenden Bergkette, deren ungeheure Größe man fühle, noch ehe man imstande war, genaue Messungen ihrer Höhe und Ausdehnung vorzunehmen.273 Auch Lyell erklärte, daß es noch zu früh sei, aus den Funden von Abbeville das Alter des Menschengeschlechts zu bestimmen. Mit einiger Sicherheit lasse sich jedoch, so Lyell im Jahre 1863, die These vertreten, daß die Steinwerkzeuge „der Zeit nach viel weiter von den alten Schweizer Pfahlbauten entfernt [sind] als diese von der Jetztzeit“.274 Die ersten in den 1860er Jahren abgehaltenen internationalen prähistorischen Kongresse, so Virchow, beruhten vor allem „auf ein paar grossen und die Wissenschaft bis in ihren Grund erschütternden thatsächlichen Beobachtungen“. Eine dieser Beobachtungen betraf das Alter der Menschheit sowie ihre Stellung „in der Entwicklungsgeschichte der Erde“. Und hier seien es nach dem prominenten Mediziner vor allem die Funde von Boucher de Perthes gewesen, die einer wissenschaftlichen Revolution gleichkamen. Mit seiner Entdeckung war ein Dogma erschüttert, welches nicht bloss auf religiöse Ueberlieferungen gegründet war, sondern auch in der wissenschaftlichen Auffassung bis dahin als unerschütterlich gegolten hatte, nämlich dass der Mensch erst entstanden, geschaffen sei, als die Erde im Wesentlichen ihre gegenwärtige Gestalt angenommen hatte. Wenn das richtig war, was man an der Somme fand und das nachher an vielen Orten bestätigt wurde, so war es klar, dass der Mensch existirt haben musste zu einer Zeit, als die Oberfläche noch nicht ihre gegenwärtige Gestalt erlangt hatte.275
Die Funde von Boucher de Perthes galten in den 1860er Jahren vielfach „als die früheste, bis jetzt bekannte Spur menschlicher Industrie oder als d[er] erste […] und roheste […] Anfang aller Cultur und Kunstfertigkeit“.276 Trotz ihrer „Einfachheit und Rohheit“ verdienten diese, so Büchner, gerade wegen ihres Alters unsere größte Aufmerksamkeit: 272 Joseph Prestwich zit. nach Frank SPENCER, Prologue to a scientific forgery: The British eolithic movement from Abbeville to Piltdown, in: George W. STOCKING (Hg.), Bones, Bodies, Behavior: Essays on Biological Anthropology (= History of Anthropology 5), Madison, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 1988, S. 84-116, hier S. 88. 273 Ebenda. 274 N. N., Sir Charles Lyell über das Alter des Menschengeschlechtes, in: Das Ausland 36 (1863), S. 265-271, hier S. 269. 275 Rudolf VIRCHOW, Eröffnungsrede [zur Versammlung der Deutschen und Wiener Anthropologischen Gesellschaft in Innsbruck im Jahr 1894], Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 25,9 (1894), in: Archiv für Anthropologie 23 (1895), S. 80-87, hier S. 81. 276 BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur, S. 28.
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Denn sie zeigen, mit welch rohen und ursprünglichen Anfängen der Mensch seine lange und schwierige Laufbahn zur Civilisation beginnen musste, und wie klein und unscheinbar die ersten Anfänge einer Cultur sind, welche später so unendlich Großes und Herrliches geleistet hat. Sie geben uns den besten Fingerzeig für Erkennung des großen Grundgesetzes der Natur und des Menschen, nach welchem Alles, was Mensch und Welt Großes und Staunenswerthes besitzen oder leisten, nicht ein unverdientes Geschenk von Oben ist, sondern nur aus langsamer und schwieriger Entwicklung aus einfachen und rohen Anfängen heraus, aus allmählicher Entfaltung der in Mensch und Natur schlummernden Kräfte und Fähigkeiten hervorgegangen ist. „Entwicklung heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir uns alle umgebenden Räthsel lösen oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können“. (Häckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1868).277
Wir dürften nicht, meinte der Ausgräber von Abbeville Boucher de Perthes, auf die „ersten Versuche unserer Vorväter“ herabblicken, sie „nicht mit dem Fuße“ wegstoßen. Wenn sie dieselben nicht gemacht hätten, oder wenn sie nicht in ihren Anstrengungen ausgeharrt hätten, so würden wir weder unsere Städte, noch unsere Paläste, noch die Meisterwerke, welche wir in ihnen bewundern, besitzen. Der erste, welcher einen Kieselstein gegen einen andern schlug, um ihm eine Form zu geben, that zugleich den ersten Meiselhieb, welcher die Minerva und alle Marmorwerke des Parthenon gebildet hat.278
Von einem milde belächelten Hobbyarchäologen war Boucher de Perthes gleichsam über Nacht zu einem der Väter der prähistorischen Archäologie geworden.279 Die von ihm und seinen Zeitgenossen als Äxte, Stein- oder auch Handäxte bezeichneten Werkzeuge werden heute im Deutschen be277 Ebenda. 278 Boucher de Perthes zit. nach ebenda. 279 Die Zögerlichkeit, mit der die Wissenschaft das Alter der prähistorischen Funde anerkannte, veranlaßte Friedrich Engels zu der Bemerkung: „Welche Zeit es übrigens erfordert, bis neue wissenschaftliche Entdeckungen auch in ganz unpolitischen Dingen sich Bahn brechen, darüber lies Lyells Antiquity of Man. Schmerling in Lüttich hatte den fossilen Menschenschädel von Engis schon 1843 [sic] entdeckt und Lyell gezeigt, auch sein dickes Buch veröffentlicht. Trotzdem hat es bis vor kurzem kein Mensch der Mühe wert gehalten, die Sache auch nur ernsthaft zu untersuchen. Desgleichen hatte Barthès [sic] in Abbeville schon 1842 [sic] die Feuersteinwerkzeuge des Sommebeckens und ihr geologisches Alter richtig beschrieben, aber erst Ende der 50er Jahre drang die Sache durch. Solche Lausekerls sind die Altväter der Wissenschaft.“ Brief von Friedrich Engels an Karl Marx, 20. Mai 1863, in: Karl MARX, Friedrich ENGELS, Der Briefwechsel, Band 3: Die Briefe aus den Jahren 1861 bis 1867, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983 [Fotomechanische Übernahme aus der alten Marx-Engels-Gesamtgabe (MEGA), Dritte Abteilung, Band 3, Berlin 1930], S. 141.
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kanntlich Faustkeile genannt und in ihren frühesten Exemplaren dem Altpaläolithikum (vor ca. 600.000-100.000 Jahren) zugerechnet.280 Erst mit der später erfolgten archäologischen Entdeckung der Gerätschaften der wesentlich früheren Geröllkultur (pebble culture) sollte auch der Faustkeil, dieses älteste Steinwerkzeug, einen „Prototyp“ bekommen. Im Jahr 1859, als die Entdeckung von Perthes von der Fachwelt wiederentdeckt wurde, wird übrigens die Société d’Anthropologie de Paris gegründet, die auch eine neue anthropologische Zeitschrift herausgibt. Kehren wir nun nach diesen Ausgrabungen, welche den „Urmenschen“ noch älter erscheinen ließen als bis dahin angenommen, in die unmittelbare Gegenwart des Jahres 1859 zurück und geben wir einen kurzen statistischen Überblick über die damalige Weltbevölkerung „nach ihren Totalsummen, Racen-Verschiedenheiten und Glaubensbekenntnissen“.281 Nach den Berechnungen von Dieterici belief sich die Bevölkerung von Europa im Jahr 1859 auf rund 272 Millionen Menschen (1490 Einwohner pro Quadratmeile), jene von Asien auf 755 Millionen (951 Einwohner pro Quadratmeile), jene von Afrika auf 200 Millionen (368 Einwohner pro Quadratmeile), die von Amerika auf 59 Millionen (79 Einwohner pro Quadratmeile) und die von Australien auf 2 Millionen (12 Einwohner pro Quadratmeile). Wenden wir uns im folgenden kurz seiner demographischen Analyse zu, um zu zeigen, wie sich auch in dieser der Fortschrittsgedanke spiegelt. Die Gesamtbevölkerung der Erde betrug Dietericis Berechungen zufolge 1.288 Millionen Menschen. Hierbei gelte es jedoch, so der Verfasser, zu bedenken, daß die Zuverlässigkeit der statistischen Daten für die einzelnen Erdteile sehr unterschiedlich sei. Die west- und nordwesteuropäischen Staaten verfügten bereits über ausgezeichnete Statistiken. Etwas ungenauer seien die statistischen Erhebungen in den süd- und osteuropäischen Ländern. In Amerika sei die Bevölkerung – abgesehen vom hohen Norden und der Südspitze des Kontinents – statistisch gut erfaßt. In Asien lägen für viele Gebiete nur sehr wenige Daten vor. „Sehr verlegen“, schreibt Dieterici, bin ich in bezug auf die Bevölkerung Afrika’s. Es finden sich mehrfache Angaben vor über einzelne Länder, sie sind aber so unsicher, und es findet sich selten in Geographien und allgemeinen Handbüchern die Quelle angeführt, aus welcher geschöpft ist, so dass gar kein zuverlässiges Resultat aus solchen Angaben gewonnen werden kann.282
280 Ich bin mir bewußt, daß der Beginn des Altpaläolithikums unterschiedlich datiert wird. 281 C. F. W. DIETERICI, Die Bevölkerung der Erde, nach ihren Totalsummen, Racen-Verschiedenheiten und Glaubensbekenntnissen, in: Petermanns Mittheilungen 5 (1859), S. 1-19. 282 Ebenda, S. 8.
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Für Afrika, dessen innere Gebiete geographisch und demographisch unerforscht sind, müsse man sich daher noch mit Schätzungen begnügen. Nach der kraniometrischen Klassifikation von Retzius gehörten 1.026 Millionen Menschen der Erde der dolichocephalen und 262 Millionen der brachycephalen „Race“ an.283 Bei Heranziehung der Blumenbachschen Einteilung des Menschengeschlechtes zählte die kaukasische „Race“ insgesamt 369 Millionen Menschen, die mongolische 522 Millionen, die äthiopische 196 Millionen, die amerikanische 1 Million und die malayische 200 Millionen Menschen.284 Nach dem Glaubensbekenntnis waren 335 Millionen Menschen Christen, hierunter 170 Millionen Katholiken, 89 Millionen Protestanten, 76 Millionen Orthodoxe, 5 Millionen Juden, 160 Millionen Mohammedaner, 200 Millionen „Heiden“ und 600 Millionen Menschen, die „[a]siatische[n] Religionen“ angehörten.285 Nach Dieterici waren Westasien mit Arabien und Ägypten, jene Gebiete, die er als die Ausgangspunkte der Zivilisation betrachtete, für die jetzige Beschaffenheit der Welt zurücktretende Gebiete. Europa und zwar vorzugsweise in seinen nördlichen und westlichen Theilen zeigt die günstigste Entwickelung, und statistisch von Bevölkerungs-Verhältnissen ausgehend kann Europa noch ausserordentlich fortschreiten, denn der Statistik und der NationalÖkonomie fehlt noch das Maass, wie viel Menschen auf der Quadratmeile wohnen und sich ernähren können. Verschiedenheiten von 1.000 bis 6.000 auf der Quadratmeile liegen vielfach vor, ja nicht ganz kleine Gebiete, wie in der Preussischen Rheinprovinz die Kreise Solingen, Gladbach, Elberfeld, in Belgien Ost- und Westflandern, in Alt-England Lancashire, haben 12.000 auf der Quadratmeile und manche dieser Distrikte ernähren […] ihre Bevölkerungen fast ganz durch die Produktion ihres eigenen Landes. Nach Europa scheint Amerika der Welttheil der Zukunft für die menschliche Entwickelung zu sein. Bei einem ausserordentlich reichen Naturfond ist diess [sic] Land noch sehr dünn bevölkert, und welche Ausschreitungen auch in Rechtszuständen und ähnlichen Verhältnissen vorkommen, unzweifelhaft ist, dass Europäische Bildung und viel Europäisches Talent dorthin gewandert ist und die reichen Einkommensquellen des Landes ausbeutet. Möglich, dass Australien und die Inselwelt dieser Entwickelung folgt. Indien und China, allerdings sehr dicht bevölkert, haben doch Civilisations-Zustände, nach denen eher ein Stillstehen oder Rückgehen als ein Fortschritt zu erwarten ist. Die Welt ist vorgeschritten, die Wissenschaft des Menschen bewältigt immer mehr die Natur und macht die Kräfte derselben sich unterthan. Schon Süssmilch berechnete vor einem Jahrhundert, dass vollkommen 3.000 Mill. Menschen auf der Erde leben könnten; es ist kein Maass da, zu bestimmen, bis wie weit die Zahl der Menschen auf der Erde gehen kann, nachdem der Dampf als bewegende Kraft eingetreten ist und die erfolgreichsten Erfindungen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neue Beförderungsmittel aller Kultur-Verhältnisse werden. Gewiss ist, dass die alte Annahme die Erde sei von 900 bis 1.000 Mill. Menschen bewohnt, nicht mehr richtig ist. 283 Ebenda, S. 13. 284 Ebenda, S. 15. 285 Ebenda, S. 17 und 19.
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Wenden wir uns nach dieser statistischen Rundschau nun kurz einem anthropologischen Klassiker zu, der in diesem Jahr erschien. Die Hoffnung, die Anthropologie könne entscheidend zur Beantwortung der Frage nach der Stellung des Menschen in der Geschichte beitragen und zugleich die Grundlage einer empirischen Psychologie liefern, durchzieht das einflußreiche mehrbändige Werk Die Anthropologie der Naturvölker (1859-1872) des früh verstorbenen Marburger Professors Theodor Waitz (1821-1864).286 Der erste Band des Werks von Waitz, der von philosophischen und pädagogischen Studien über die Herbartsche Psychologie, das Leib-Seele-Problem, anatomisch-physiologischen und psychophysischen Untersuchungen zur Anthropologie gekommen war, ist allgemeinen Fragestellungen gewidmet, die restlichen fünf, zum Teil postum erschienenen Bände enthalten ethnographische Materialien. Nach Georg Gerland, der in den 1870er Jahren die Herausgabe der zweiten Auflage des Werkes besorgte, war es das Ziel von Waitz zu zeigen, „welche Stellung der Mensch in der ganzen Ordnung der Natur habe, welches Wesen der Menschheit als solches naturgemäß zukomme, um auf diese Weise das Fundament einer generellen Erkenntnisstheorie zu gewinnen“.287 Für das Studium der menschlichen Natur, so Wilhelm Dilthey in einer Rezension dieses Werks, sei eine Auseinandersetzung mit den „am niedrigsten stehenden“ Völkern unumgänglich. Rousseaus schwärmerisches Bild vom Naturzustand des Menschen sei durch die seit kurzem begonnenen exakten Untersuchungen revidiert worden: Das am meisten vorsichtige und kritisch gelehrte Buch, welches unsere gesamte Kenntnis der Naturvölker zusammenfasst, ist das hier vorliegende. Wenn man erwägt, daß es nicht von einem englischen Reisenden, sondern von einem deutschen Gelehrten ausging, welcher sich in Marburg selbst von Büchern in hohem Grade abgeschnitten fand, so kann diese Arbeit nicht genug bewundert werden.288
Erörtern wir im folgenden einige Gedanken von Waitz über die Aufgabe der Anthropologie, ihr Verhältnis zu benachbarten Disziplinen sowie seine Haltung in der Schlüsselfrage, ob das Menschengeschlecht eine Arteinheit
286 Zu Leben und Werk von Waitz siehe Georg GERLAND, Waitz, Franz Theodor W., in: ADB, Band 40, 1896, S. 629-633. Siehe ferner Bernhard STRECK, Theodor Waitz, in: Christian F. FEEST, Karl-Heinz KOHL (Hg.), Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart: Alfred Kröner Stuttgart 2001 (= Kröners Taschenausgabe 380), S. 503-508. Der erste, allgemeine Band der Waitzschen Anthropologie wurde übrigens bereits 1863 ins Englische übersetzt. 287 Georg GERLAND, Die neue Ausgabe der Waitz’schen Anthropologie, in: Archiv für Anthropologie 10 (1878), S. 329-337, hier S. 331. 288 Wilhelm DILTHEY, 20. Literaturbrief (1877), in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus „Westermanns Monatsheften“: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen 18671884 (= Gesammelte Schriften 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 153-157, hier S. 153.
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bilde oder nicht.289 Wie viele seiner Zeitgenossen wird auch Waitz betonen, daß die Anthropologie in den Kinderschuhen stecke und bislang noch kaum ihrem Namen, nämlich das Wesen des Menschen zu erhellen, gerecht geworden sei. Entweder habe sich die Anthropologie in „abstracten Deductionen ohne hinreichende empirische Grundlage“ erschöpft oder nichts anderes geboten als „bloße Aggregate von Materialien“, „eine bloße Sammlung interessanten rein erfahrungsmäßigen Details“; ja sie habe sich mitunter in „oft oberflächlichen Reden […] um alles menschlich Eigenthümliche in deutscher Weise“ ergangen.290 Schwankend seien die Anthropologen, so ließe sich das vernichtende Urteil von Waitz zusammenfassen, zwischen der Scylla eines inhaltsleeren, aber geistvollen Spekulantentums und der Charybdis einer geistlosen, aber inhaltsreichen Raritätensammlung hin und her geirrt. Die Anthropologie, so Waitz, müsse als „Erfahrungswissenschaft“ aufgefaßt werden, weil ihr Gegenstand, der Mensch, uns nur auf empirischem Wege bekannt wird, und daher zunächst wenigstens, nur die Aufforderung vorliegt ihn auf demselben Wege zu untersuchen welcher für die Erforschung aller übrigen Naturgegenstände betreten zu werden pflegt.291
Weder eine rein naturwissenschaftliche noch eine rein historische Betrachtungsweise reiche aus, um die Natur des Menschen ins rechte Licht zu setzen. Die Naturwissenschaften – Waitz verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Anatomie, Physiologie und Psychologie – hätten den Menschen nämlich bloß als „Einzelwesen“ studiert, als Repräsentanten der Gattung, nicht insofern er sich durch particulare zufällige Eigenthümlichkeiten von andern Individuen derselben Gattung unterscheidet, sondern insofern sich der gemeinsame oder Gattungs-Charakter aller ihm gleichartigen Individuen an ihm darstellt und die Gesetze denen das äußere und innere Leben aller Einzelnen unterworfen ist, an ihm sich wirksam erweisen.292
Der Naturwissenschaft sei also die Betrachtung der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben […] fremd, die ganze Summe der geistigen Leistungen, welche erst aus der vielfach 289 Vgl. hierzu Theodor WAITZ, Anthropologie der Naturvölker. Erster Theil, Leipzig: Friedrich Fleischer 1859. Ich werde im folgenden auch auf einen Aufsatz von Waitz zurückgreifen, in dem er die zentralen Gedanken seines umfassenden Werkes zusammenfasste. Siehe Theodor WAITZ, Ueber die Einheit des Menschengeschlechtes, in: Historische Zeitschrift 5 (1861), S. 289-350. 290 Ebenda, S. 3-4. 291 Ebenda, S. 4. 292 Ebenda, S. 4-5.
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verschlungenen Wechselwirkung der Individualitäten hervorgeht und durch den Lauf der Jahrhunderte sich fortziehend das äußere wie das innere Leben der Gesellschaft so mannigfaltig und so durchgreifend umgestaltet, fällt außerhalb ihres Gesichtskreises.293
Ein Studium des Menschen als Einzelwesen – sei es aus physiologischer, anatomischer oder psychologischer Perspektive – werde jedoch niemals ausreichen, einen Begriff des Menschen zu entwickeln, denn dieser sei, wie bereits Aristoteles treffend bemerkt hätte, ein gesellschaftliches Lebewesen. Zwar habe die Psychologie – so Waitz in einem Gedankengang, der an das Cooleysche Konzept des looking-glass-self erinnert – erkannt, daß die Selbstbeobachtung eine notwendige Ergänzung in der Fremdbeobachtung finde, da das gesellschaftliche Dasein des Einzelnen „Vieles“ zu seiner Erkenntnis beiträgt, was in seinem Innern vorgeht, indem es ihm dieses an Andern wie in einem Spiegel zeigt und ihm sogar manches in äußerlich anschaulicher Gestalt vor Augen stellt, was seiner Selbstbeobachtung ohne die Hülfe dieser Analogie nur schwer oder niemals zu enträthseln gelingen würde, aber gleichwohl ist auch das auf diese Weise so sehr erweiterte Feld der Beobachtung noch viel zu eng begrenzt als daß es genügen könnte aus ihm allein den Begriff des Menschen entnehmen.294
Aber auch die historischen Disziplinen hätten es bislang verabsäumt, ein wahres Verständnis der Natur des Menschen zu gewinnen. Waitz führt zwei Hauptgründe für dieses Defizit ins Treffen. Erstens hätten die historischen Disziplinen die physischen und psychischen Anlagen der Menschen aus ihren Untersuchungen weitgehend ausgeblendet. Dies sei verhängnisvoll, denn eine Berücksichtigung der leiblichen und seelischen Organisation sowie der natürlichen Umwelt seien für ein Studium der Geschichte unverzichtbar. Zweitens hätten die Historiker ihre Aufmerksamkeit nahezu ausschließlich auf „zivilisierte“ Völker, zumeist auf jene der „kaukasischen Race“, gerichtet. „Man kennt“ jedoch, so Waitz, den Menschen nur halb, wenn man ihn immer nur im civilisirten Zustande vor Augen gehabt hat. So wahr es auch ist, daß das Hauptinteresse der Geschichte überall darauf ruht, daß man in der Civilisation der Völker, und zwar bei einem jeden derselben auf seine eigenthümliche Weise sich entwickeln und gestalten sehe, so unwahr und dem Interesse der Geschichte selbst zuwider ist die oft gehörte Behauptung, daß Völker ohne fortschreitende Civilisation, weil sie in diesem Sinne keine Geschichte haben oder doch keine zu haben scheinen, dem Historiker gleichgiltig sein dürften.295 293 Ebenda, S. 5. 294 Ebenda, S. 11. 295 WAITZ, Einheit des Menschengeschlechtes, S. 291.
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Der Anthropologie fiel nach Waitz die Aufgabe zu, eine Brücke zwischen den naturwissenschaftlichen und den historischen Disziplinen zu schlagen und so einen umfassenderen Begriff des Menschen zu entwickeln. Im Unterschied zur Geschichte gelte das Interesse der Anthropologie den Hauptzügen und den größten Unterschieden aller Gestalten des Menschenlebens überhaupt, denn für das Wesen des letzteren sind gerade diese Unterschiede das Wichtigste und am meisten Charakteristische, und es würde eine offenbar einseitige Auffassung des Menschen sein, wenn wir unsern Begriff desselben nur aus der Culturgeschichte entnehmen wollten, uneingedenk der nothwendigen Ergänzung, die aus der Betrachtung der culturlosen Völker und des Naturzustandes des Menschen hinzukommen muß.296
Auf diese Weise werde die Anthropologie einen viel weiteren und angemesseneren Begriff des Menschen entwickeln können und zugleich die „Naturgrundlage der Geschichte“ liefern.297 Hierdurch werde auch die auf Erfahrung aufbauende Anthropologie an die Stelle der alten Philosophie der Geschichte treten. Gerade um die Bedingungen des „Fortschritts“ der „zivilisierten Völker“ zu verstehen, sei eine vergleichende Untersuchung der scheinbar „culturlosen“ und stationären Völker vonnöten, bei denen diese Bedingungen weitgehend fehlten bzw. zu fehlen schienen. Obgleich Waitz „Naturund Culturvölker“ gegenüberstellt, wird er zwischen diesen beiden Formen der Vergesellschaftung keinen absoluten Gegensatz postulieren, sondern seine Dichotomie immer wieder relativieren und darauf verweisen, daß „Cultur und Uncultur im Leben der Völker ein Continuum bilden, so daß sie in unterbrochenem Zusammenhange ineinander, über, und auseinander hervorgehen“.298 Keineswegs seien „culturlose Völker“ mit dem „Pöbel“ der „zivilisierten Völker“ vergleichbar. Selbst bei jenen „wilden Stämmen“, wo Cultur fehlt, gibt es Motive der Ehre, der Sitte und des Rechtes, die sich kräftig wirksam erweisen, gibt es eine öffentliche Meinung, deren Gewalt der Einzelne oft schwer empfinden muß, gibt es Bande der Familie und der Nationalität, die ihre Rechte geltend machen, gibt es religiöse Vorstellungen, denen nachzuleben als heilige Pflicht geachtet wird; und wenn auch Vieles davon uns nicht selten so verkehrt und wunderbar mißbildet erscheint, daß wir uns bald eines Lächelns bald eines mitleidigen Achselzuckens nicht erwehren können, so sind wir doch genöthigt, anzuerkennen, daß hier gesellschaftliche Zustände vorliegen, die auf eigenthümliche Weise gestaltet, ihre Regel und ihr Maaß haben; und sind diese Regel und dieses Maaß auch nicht die unsrigen, so beweist ihre Macht über den Einzelnen und über die Masse doch schlagend genug, daß Uncultur eines
296 WAITZ, Anthropologie, S. 8. 297 Ebenda. 298 WAITZ, Einheit des Menschengeschlechtes, S. 292-293.
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Volkes weit verschieden ist von der Zügellosigkeit und sittlichen Verderbniß derer, die nur den Auswurf eines solchen bilden.299
Das Studium der „Naturvölker“ sei für eine Kenntnis der menschlichen Natur gerade deshalb so bedeutend, da sich bei ihnen die Grundmuster des gesellschaftlichen Lebens leichter beobachten ließen: Wenn es endlich für den Geschichtsforscher von Interesse ist, einen tieferen Blick in die angewandte Psychologie zu thun, um das Gemüthsleben, die Motive und Charakterzüge, die ihm in der Geschichte an den Menschen so oft in unentwirrbarer Verwickelung und in räthselhafter Verflechtung entgegentreten, nach ihrem natürlichen inneren Zusammenhange kennen und verstehen zu lernen, so bietet sich ihm für diesen Zweck kein geeigneteres und fruchtbringenderes Studium dar als das des Lebens und Treibens culturloser Völker. An diesen tritt so vielfach unverhüllt und ungeschminkt auf was in dem Kreise der Civilisation nur verschämt, verschleiert, verstellt sich zeigt und, obgleich verborgen, doch mächtig wirksam, nicht zu Tage treten wagt. Einfachere Verhältnisse, in denen die Verstellung und Verhüllung entweder nicht der Mühe lohnt oder noch der Feinheit und weiten Voraussicht unfähig ist, erleichtern die Einsicht in das, was den Menschen innerlich bewegt, besonders dadurch daß sie das Urtheil weit seltener irre führen. Die eindringende Betrachtung derselben führt insbesondere zu dem überraschenden Resultate, daß die Civilisation nur weniges specifisch Neue im inneren Leben des Menschen schafft, Weniges zu dem sich nicht das Urbild oder das Zerrbild auch bei den sogenannten Wilden finden ließe, daß seinem Wesen nach der Mensch überall derselbe ist.300
Unmittelbar mit dieser Vorstellung, daß das Studium der „Naturvölker“ Rückschlüsse auf das Verwickelte, Sekundäre und Abgeleitete erlaubte, hängt der Gedanke von Waitz zusammen, daß das Menschengeschlecht eine Arteinheit bilde. Waitz richtet sich also gegen die bereits erwähnten Thesen von Gobineau, Nott, Gliddon und Agassiz. Im Unterschied jedoch zu den meisten seiner Zeitgenossen, die als Monogenisten gegen die Lehre spezifischer Unterschiede zwischen den „Menschenstämmen“ auftraten, entkoppelt Waitz die Frage nach der Abstammungseinheit und der Arteinheit. Waitz vertritt also die polygenistische These, daß eine Einheit des Ursprungs der menschlichen „Racen“ bzw. die Ausbreitung des Menschengeschlechtes über die Erde von nur einem Punkte unwahrscheinlich sei, betont jedoch gleichzeitig, daß ein vielheitlicher Ursprung nicht im Widerspruch zur Arteinheit des Menschengeschlechts stehe. Es sei durchaus denkbar, ja „nicht einmal unwahrscheinlich“, so Waitz, „daß Wesen vom gleichen Typus an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, also ohne alle Stammverwandtschaft, entstanden sind“.301 299 Ebenda, S. 294. 300 Ebenda, S. 293-294. 301 Ebenda, S. 305.
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Als wichtigster Beleg für die Arteinheit gilt ihm die Beobachtung, daß die verschiedenen „Racen“ „unter sich unbeschränkt fruchtbar sind“, wie die große Zahl an „Mischlingen“ zeige. Diese Zahl sei so bedeutend, daß man nicht ohne Grund zweifeln kann, ob es ein wahrhaft ungemischtes Volk überhaupt auf der Erde gibt, und sollte dieß der Fall sein, so ist zu vermuthen, daß es sich in diesem Zustande nicht lange mehr wird erhalten können. Dazu kommt noch, daß die Ueberführung der verschiedenen Typen in einander durch fortgesetzte Mischung der Stammracen vollkommen gelingt, wie eine Menge unbestrittener Erfahrungen beweisen: die Mischlinge zeigen also nicht das Verhalten der Bastarde, sondern das der Nachkommen verschiedener Racen, und die Stammtypen besitzen nicht die feste Constanz und strenge Geschiedenheit der Arten, sondern sind durch flüssige Uebergangsformen mit einander verbunden, welche darauf hinweisen, daß wir sie vielmehr für Varietäten derselben Art zu halten haben.302
Im Allgemeinen, so der vorsichtig argumentierende Waitz, erwiesen sich „Mischlingsracen“ als „gleich lebenskräftig“ wie vermeintlich „ungemischte Racen“. Wie später Charles Darwin in seinem Descent of Man (1871) wird auch Waitz argumentieren, daß gerade die Vielzahl der unterschiedlichen Klassifikationen des Menschengeschlechtes in „Racen“ die Schwierigkeiten veranschauliche, in die man gerate, sobald man versuche, das Menschengeschlecht in „eine geschlossene Anzahl von Arten“ einzuteilen und die „specifischen Charaktere der angeblichen Menschenarten“ aufzustellen.303 Bei „Raceneinteilung“ werde immer wieder auf „die Eigenthümlichkeit des Negers“ hingewiesen, die am stärksten ausgeprägt sei. Aber auch hier gelte es, so Waitz, zu bedenken, daß „der Negertypus“ eine Vielzahl von Völkern umfasse und somit keine fest abgegrenzte, specifisch bestimmte, sondern eine fließende Form [ist], deren einzelne Züge zusammengestellt, ein Extrem bezeichnen, das zwar in der Wirklichkeit mehrfach vorkommt und sich sogar im Hottentoten und im Negrito der ostindischen Inseln gewissermaßen karikirt findet, in reiner Ausprägung aber eben so selten ist als die mannigfaltigsten Variationen und Abwandlungen desselben häufig sind. Ein großer Theil dieser Variationen ist zugleich so beschaffen, daß er Uebergangsformen zu anderen Hauptformen, namentlich zu der des Europäers darstellt, und es würde nicht schwer sein, sie so zu ordnen, daß daraus die Flüssigkeit der Unterschiede vollkommen ersichtlich wäre. 304
Auch aus historisch-psychologischer Perspektive sucht Waitz seine These von der Arteinheit des Menschengeschlechtes zu stützen und nachzuweisen, daß es keine „spezifischen“ Unterschiede in der intellektuellen Bega302 Ebenda, S. 308. 303 Ebenda, S. 311. 304 Ebenda, S. 312.
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bung und Bildungsfähigkeit der einzelnen „Racen“ gebe. Nur allzu vorschnell habe man oftmals, so Waitz, von der „Culturlosigkeit“ bestimmter Völker auf deren Unfähigkeit zur „Cultur“ geschlossen. Im Falle der meisten „culturlosen“ Völker gelte es jedoch zu bedenken, daß diese in Verhältnissen lebten, unter denen eine fortschreitende Culturentwickelung gar nicht stattfinden kann, selbst für Menschen, welche mit den besten Fähigkeiten ausgestattet wären, in Verhältnissen, die selbst im Schooße der Civilisation erzogenen Europäer es unmöglich machen würden, die erworbenen geistigen Güter zu bewahren, geschweige denn sie in noch größerer Fülle durch eigene Thätigkeit zu entwickeln.305
Insbesondere verweist Waitz hierbei auf klimatische und demographische Begebenheiten. Ein Land, in dem eine dichte Besiedelung unmöglich sei, könne auch nicht „die Wiege einer höheren Cultur werden“. In den extremen klimatischen Verhältnissen, unter denen etwa die „Eskimos“ oder die Feuerländer lebten, müsse sich die Bevölkerung notwendigerweise in kleine Einheiten aufspalten. Eine höhere Bevölkerungsdichte, welche Fortschritte der „Cultur“ begünstige, sei wiederum nicht das Ergebnis absichtsgeleiteten Handelns. Keineswegs ließen sich mehrere Völker gemeinsam in einem Land nieder, „um die Antriebe zu socialem Fortschritt sich zu Nutzen machen, die alsdann auf sie wirken und sie zur Anstrengung spornen würden“.306 Der Verkehr von Völkern miteinander, sei es auf friedlichem oder auf kriegerischem Weg, fördere den Fortschritt der Kultur, indem er zu einem Austausch von Erfahrungen und zu gegenseitigem Lernen beitrage. Dies gelte insbesondere für Völker, die sich „in ihren Lebensgewohnheiten und ihrem ganzen Culturzustande“ ähnlich seien.307 „Culturlose“ Völker fänden sich insbesondere in jenen Gebieten, in denen eine Dienstbarmachung der Naturkräfte am schwersten möglich sei. In Amerika etwa gebe es – abgesehen vom peruanischen Lama – „keine größeren Thiere, die sich zu Hausthieren eigneten“.308 Ähnliches gelte für die Naturbedingungen der Südseevölker. Aber auch jene Gegenden, in denen die Natur fast alles bereit stelle und sich die Bedürfnisse somit ohne größere Anstrengungen befriedigen ließen, seien einem Fortschreiten der „Cultur“ abträglich. Hier werde nämlich die Natur nicht zur Schule der Energie für den Menschen, durch die eigene Verschwendung erzieht sie ihn zum Verschwender. Wird träge Ruhe zum wesent-
305 306 307 308
Ebenda, S. 330. Ebenda, S. 332. Ebenda, S. 333. Ebenda, S. 334.
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lichsten Lebensgenuß in Folge der Erschlaffung durch das Klima, so wird sie es nicht minder, obwohl aus andern Gründen, da wo die Natur zu karg ist.309
Ob unter diesen Bedingungen sich die „Völker der weißen Race“ viel weiter entwickelt hätten, sei äußerst fraglich. Für eine Entwicklung der „Cultur“ erweise sich das gemäßigte Klima, das – wie man heute sagen würde – einen „mittleren Herausforderungscharakter“ habe, jedenfalls am günstigsten. Die Argumentation von Waitz weist hier zahlreiche Parallelen zu den kulturökologischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts auf. Nachdem Waitz die kulturellen Unterschiede zwischen den sogenannten „hohen“ und „niederen Racen“ – immer wieder wird der Marburger Gelehrte diese Gegenüberstellung selbst relativieren, indem er das Wörtchen „sogenannt“ beifügt – auf klimatische und demographische Faktoren zurückgeführt hat, argumentiert er, daß „die geistigen Hauptcharaktere des Menschen sich bis jetzt an jedem auch dem elendsten Volke gefunden haben“.310 Diese „Hauptcharaktere“ seien also allen menschlichen Gesellschaften gemein und grenzten sie zugleich vom Tierreich ab. Wenden wir uns kurz diesen fünf von Waitz erörterten menschlichen „Haupteigenthümlichkeiten“ oder – wie man heute sagen würde – sozialen Universalien bzw. anthropologischen Konstanten zu. Ein erster menschlicher „Hauptumstand“ sei die Beherrschung der Natur. Ueberall befinden sich die Menschen im Besitze der nothwendigsten Künste und Kenntnisse, durch welche sie sich die Natur dienstbar machen, und wenn uns diese oft plump und armselig scheinen, so übersehen wir dabei nur zu leicht, daß äußerst geringe Hilfsmittel von culturlosen Völkern oft auf die sinnreichste und geschickteste Weise benützt werden. Beispielsweise mag hier nur daran erinnert werden, daß einst ein Engländer mit seinem complizirten Apparat auf den Fischfang auszog an den Columbia, in der Ueberzeugung, daß seine Ausrüstung weit mehr werde leisten können als die elenden Geräthe der Eingeborenen – er fand aber bald, daß er mit diesen nicht concurriren konnte und ein sehr schlechtes Geschäfte machte. So geht es oft: der civilisirte Mensch verachtet den Wilden und erhält bei der Probe die Lehre, daß dieser in allen Leistungen, deren möglichst vollkommene Ausübung in seinem eigenen Interesse liegt, an Scharfsinn sowohl als an Geschicklichkeit ihm selbst weit überlegen ist.311
Ein zweites Charakteristikum der Menschheit bestehe in der „großentheils absichtlichen Darstellung des Inneren durch äußere Mittel von verschiedener Art“.312 Hier sei an die „Wortsprache“ zu denken: Daß manche Völker, wie z. B. die Hottentotten, keine Sprache von festem und 309 310 311 312
Ebenda, S. 335. Ebenda, S. 342. Ebenda, S. 342-343. Ebenda, S. 343.
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regelmäßig grammatischem Baue besäßen, war ein verzeihlicher Irrthum älterer Reisenden, welche durch die äußerst schwer erfaßbaren und noch schwerer wiederzugebenden Laute sich täuschen ließen, aber diese Meinung ist nicht nur auf’s Vollständigste jetzt widerlegt, sondern auch darüber hinaus festgestellt worden, daß die oft gehörten Klagen über die große Unvollkommenheit und Armuth so vieler Sprachen nur in sehr beschränktem Maße wahr sind. Sie beruhten großentheils auf mangelhafter Kenntniß der Sache.313
Zwar weise der Wortschatz der entwickelten Völker mehr abstrakte Begriffe auf als jener der „culturlosen“ Völker, doch hinsichtlich der Bezeichnung „der concreten Gegenstände und ihrer Unterschiede“ seien diese jenen überlegen. Eine dritte „Haupteigenthümlichkeit“ der Menschen bestehe darin, daß er überall durch Zeichen und Denkmäler die Gegenstände seines tieferen Interesses auf die Dauer zu fixieren und so weit es in seiner Macht steht, zu verewigen bemüht ist: er malt wenigstens rohe Bilder, um die Erinnerung an wichtige Begebenheiten selbst festzuhalten oder Andern durch sie eine Nachricht von sich zu geben, er pflanzt gewisse Merkzeichen auf die Gräber seiner Todten, er strebt durch eigene Arbeit etwas zu schaffen, wodurch sein Andenken auf die Nachwelt sich dauernd vererbe und versucht äußerlich abzubilden, was ihm in der Natur entgegentritt und was in seiner Phantasie lebendig wird.314
Ein viertes Charakteristikum der Menschheit finde sich in der „Festigkeit der Familienbande, den Abstufungen des Ranges innerhalb der Gesellschaft und einer gewissen Ordnung der Rechtsverhältnisse durch die Sitte“.315 Zwar kämen Rechtsbrüche bei „culturlosen Völkern“ häufiger vor als bei „zivilisierten“, doch auch bei ihnen würden diese verurteilt. Entgegen den Behauptungen von „flüchtige[n] Beobachter[n]“ sei noch kein Volk ohne rechtliche Ordnung gefunden worden. Ja, auch die Behauptung einer ursprünglichen schrankenlosen Promiskuität gehöre in das Reich der Legende. Ein fünfter „Hauptcharakter“ des Menschen sei die Religion. Zwar glauben nicht alle Völker an einen Schöpfer und Lenker der Welt oder überhaupt an einen Gott in der Bedeutung, welche wir dem Worte beizulegen gewohnt sind, aber von keinem scheint geleugnet zu werden, daß es Geister gibt die den Lauf der Welt nach ihrem Willen lenken. Nachrichten, welche das Gegentheil versichern – und es gibt deren allerdings manche – sind der Ungenauigkeit und des Mißverständnisses verdächtig. Gewisse Cultushandlungen und eine Art von Opfer finden sich daher auch fast durchgängig, minder allgemein bestimmte Stätten für die Verehrung,
313 Ebenda. 314 Ebenda, S. 344. 315 Ebenda, S. 345.
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ein besonderer Priesterstand und Gebete; der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode scheint dagegen fast ohne Ausnahme vorzukommen.316
Auch Waitz steht ganz im Banne des Entwicklungsgedankens seiner Zeit. Auch er erachtet die „Hebung“ der „niederen Racen“ auf eine höhere Stufe als wünschenswert. Zugleich jedoch finden sich bei dem bedächtig argumentierenden Waitz immer wieder sowohl relativistische als auch universalistische Überlegungen, die bereits als Kritik an einem dogmatischen Kulturevolutionismus verstanden werden können. Auf diesen relativistischen und universalistischen Gehalt des Waitzschen Werkes werde ich in dem Kapitel über die amerikanische Kulturanthropologie noch zurückkommen. In den Spätsommer des Jahres 1859 fällt auch eine für die gesamte ökonomische und demographische Entwicklung der Vereinigten Staaten folgenreiche Entdeckung. Im August stieß der amerikanische Ingenieur Drake in Pennsylvania auf Erdöl. Rasch verbreitete sich die Nachricht großer Vorkommen dieser bereits im Altertum bekannten Energiequelle. Die großen Ölfelder, die schließlich in den 1860er Jahren in Pennsylvania gefunden wurden – Ende der 1860er Jahren wurde bereits aus 2.000 Bohrlöcher dieser Rohstoff gewonnen –, führten zu einem regelrechten „Ölfieber“, das in seiner Intensität durchaus mit dem kalifornischen gold rush verglichen werden kann.317 „Die Zustände in den Öldistrikten waren anfangs durchaus chaotisch.“ Riesige Mengen an Erdöl sprudelten aus den Quellen, ohne daß genügend Fässer herbeigeschafft werden konnten, „diesen Reichtum zu bergen“. Da es anfangs an Transportmitteln fehlte, wurde das Öl in Behältern auf Flößen auf dem Alleghany-Fluß nach Pittsburg befördert. Bei dieser ursprünglichen Transportmethode entstanden die ärgsten Verwirrungen, und nicht selten entzündeten sich dem Erdboden entströmende Gase, bildeten ein Feuermeer und richteten die schrecklichsten Verwüstungen an; ja, das Feuer ergriff den Fluß, dessen Wasser mit einer Ölschicht bedeckt war, und dann erlahmten alle Anstrengungen, des Feuers Herr zu werden. Aber der Energie der Amerikaner gelang es bald, bessere Zustände herbeizuführen: Eisenbahnen, Kunststraßen und Kanäle vermitteln nun den Verkehr, und in einem Jahrzehnt sind blühende Städte in den Öldistrikten entstanden.318
Durch ein ausgeklügeltes System von Rohrleitungen gelang es schließlich, das Öl sicher zu den Raffinier- und Hafenanlagen zu transportieren. Durch die Erdölproduktion gelangte ein neuer Zweig der chemischen Industrie zur Blüte. Das in einem Destillationsverfahren gereinigte Erdöl war „jahrzehntelang eines der wichtigsten Beleuchtungsmittel“ und lieferte die 316 Ebenda. 317 MKL 5, 51897, [Eintrag:] Erdöl, S. 913-920, hier S. 919. 318 Ebenda.
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Grundlage für die Produktion von „Benzin, Petroläther, Gasolin, Ligroin, Naphta, Putzöl, Petroleumsprit, Ölgas, Schmieröl, Paraffin und Vaseline“.319 Neben den großen Vorkommen von Kohle und Eisenerz in Pennsylvania trug auch die Erdölgewinnung dazu bei, daß insbesondere um Philadelphia, Pittsburg und Alleghany eines der weltweit mächtigsten Industriezentren des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstehen sollte. Erdöl wurde zu einem der wichtigsten Exportartikel der Vereinigten Staaten. Im Jahr 1859 betrug die Erdölproduktion der USA 82.000 Barrels, 1869 4.046.558 Barrels und1882 bereits 28.650.181. Im Jahr 1889 produzierten die Vereinigten Staaten mehr als die Hälfte dieses so wichtigen Energieträgers.320 Die rasante Industrialisierung führte zu einem großen Bedarf an Arbeitskräften in den Städten, der insbesondere in der Zeit nach dem Bürgerkrieg durch eine massive Einwanderung abgedeckt wurde. Zwischen 1860 und 1890 stieg die Bevölkerung von Philadelphia von rund 565.000 Einwohnern auf über eine Million, die von Pittsburg von knapp 50.000 Einwohnern auf rund 240.000.321 Werfen wir abschließend noch einen Blick auf den ebenfalls im Jahre 1859 spielenden Roman Väter und Söhne (1862) von Iwan Turgenjew (1818-1883). Nach längerer Abwesenheit kehrt der Medizinstudent Arkadi, begleitet von seinem Freund Basarow, auf das Gut seiner Eltern zurück, die ihn bereits sehnsüchtig erwartet hatten. Während seiner Studienjahre war Arkadi unter den Einfluß radikaler politischer Strömungen geraten. Sein Freund Basarow, für den Arkadi große Bewunderung hegt, war zum Nihilismus konvertiert, ein Wort, das durch Turgenjew in die politische Literatur eingeführt wurde. „Ein Nihilist“, erklärt Arkadi seinem verwunderten Onkel Pawel Petrowitsch, „ist jemand, der sich keiner Autorität beugt, der kein Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mag es auch noch so viel Geltung haben“.322 Für „unsereins“, so sein Onkel, sei das wohl nichts. Seine Generation glaube an „Prinsipien“, ein Wort, das sein Onkel Pawel weich und mit französischem Akzent aussprach. Ohne diese könnten die Alten nämlich „keinen Atemzug“ tun.323 Schon bald kommt es auf dem elterlichen Gutshof zwischen den bei319 Albert NEUBURGER, Erforschung und Verwertung der Naturkräfte, in: Hans KRAEMER (Hg.), Weltall und Menschheit. Band 5: Geschichte der Erforschung der Natur und der Verwertung der Naturkräfte im Dienste der Völker, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J. [um 1900]. S. 97-342, hier S. 326. 320 MKL 5, 51897, [Eintrag:] Erdöl, S. 919. 321 MKL 13, 51897, [Eintrag:] Philadelphia, S. 832-835, hier S. 834 und [Eintrag:] Pittsburg, S. 962-963, hier S. 963. 322 Iwan TURGENJEW, Väter und Söhne. Aus dem Russischen von Harry Burck. Berlin: Aufbau Verlag 2001 [Original 1862], S. 30. Ich zitiere im folgenden nur aus Dialogen und lasse, um doppelte Anführungszeichen zu vermeiden, die im Text enthaltenen weg. 323 Ebenda, S. 30-31.
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den Generationen, vor allem zwischen Basarow und Arkadis Onkel, zu heftigen Diskussionen. Einen großen Platz in der nihilistischen Weltanschauung nehmen, wie ich im folgenden anhand einiger Passagen aus Turgenjews Werk zeigen möchte, die modernen Naturwissenschaften ein. Von Pawel Petrowitsch gefragt, womit er sich beschäftige, antwortet Basarow: „Mit Physik – ja; überhaupt mit den Naturwissenschaften.“324 Ob nicht die „Germanen“ in den Naturwissenschaften „in jüngster Zeit mächtige Fortschritte gemacht“ hätten, erkundigt sich der Onkel ironisch.325 „Ja, die Deutschen sind hier unsere Lehrmeister“, antwortet Basarow ruhig. Die deutschen Wissenschaftler seien in der Tat „tüchtige Kerle“. Die „Unbekümmertheit“ von Basarow sowie die Hochachtung für die deutschen Naturforscher reizten und verärgerten den Onkel. „Soso. Von den russischen Gelehrten halten Sie wohl nicht soviel?“ „Schon möglich“, antwortete Basarow.326 Er hingegen, so der Onkel, könne als „irriger Mensch die Deutschen nicht ausstehen“. Früher hätten sie zumindest noch einen Schiller und einen Goethe gehabt, „aber heute hört man immer nur von irgendwelchen Chemikern und Materialisten […]“. Hier unterbricht ihn Basarow mit der Bemerkung: „Ein tüchtiger Chemiker ist zwanzigmal mehr wert als der beste Poet.“327 Der Onkel, zusehends empört, fragt seinen jungen Gesprächspartner, ob er denn von der Kunst keine hohe Meinung habe. „Doch“, erwidert Basarow spöttisch, „von der Kunst, Geld zu machen oder Hämorrhoiden zu kurieren“.328 Wenig später berichtet Basarow seinem Freund, daß er dessen Vater bei der Lektüre von Puschkin beobachtet habe, und bemerkt: Mach ihm doch mal plausibel, daß das Zeitvergeudung ist. Er ist doch kein Kind mehr: Diesen Firlefanz soll er endlich lassen: Was will er heute absolut noch den Romantiker mimen! Gib ihm lieber etwas Vernünftiges zu lesen.329
Was er denn seinem Vater zur Lektüre geben sollte, fragt Arkadi seinen Freund Basarow. „Na, vielleicht fürs erste Büchners Stoff und Kraft“, antwortet dieser.330 Zusehends drohen die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen zu eskalieren. Es kommt zu Schreiduellen. Der Onkel verleiht seiner Befürchtung Ausdruck, daß die sozialen Fortschritte Rußlands dem Hochmut und Spott der Jungen zum Opfer fallen könnten. Mit tiefer Entrüstung beklagt er die Kulturlosigkeit der Jungen: Und diese Seuche hat schon weit um sich gegriffen. Ich habe mir sagen lassen, 324 325 326 327 328 329 330
Ebenda, S. 33. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 34. Ebenda. Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 56.
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unsere Maler setzen in Rom keinen Fuß mehr in den Vatikan. Raffael halten sie für einen Hanswurst, weil er ja eine Autorität ist. Dabei sind sie selbst unvermögend und zum Heulen unfähig; ihre Phantasie reicht gerade noch für das ,Mädchen am Brunnen‘, bei Gott! Und dann ist das Bild auch noch scheußlich. In ihren Augen sind das schneidige Kerle, nicht wahr.331
In seinen Augen, so Basarow, sei „Raffael keinen Pfifferling wert“.332 Früher, so der Onkel empört, hätten die jungen Leute noch etwas gelernt, um nicht als „Ignoranten“ zu gelten. Heute hingegen erklärten sie schlicht, alles auf der Welt sei Unsinn und fühlten sich noch gut dabei. „Die jungen Leute sind fein raus, wahrhaftig früher waren sie einfach Dummköpfe, heute sind sie plötzlich Nihilisten.“333 Basarow, ohne sich wegen dieser Beleidigung aus der Ruhe bringen zu lassen, fordert den Onkel auf, ihm doch nur eine einzige Institution in Rußland zu nennen, die es verdiente, erhalten zu werden: „Gehen Sie alle unsere Stände durch und überlegen Sie gut. Arkadi und ich werden derweilen …“ „… alles ins Lächerliche ziehen“, fiel Pawel Petrowitsch ein. „Nein, Frösche sezieren. Vorwärts, Arkadi. Auf Wiedersehen, meine Herren“.334
Wenig später lernen Arkadi und Basarow die junge, reiche und schöne Witwe Anna Sergejewna Odinzowa auf einem Ball kennen. Sie beschließen, ihr einen Besuch abzustatten. „Mal schauen, zu welcher Art Säugetiere diese Person gehört“, meint Basarow zu Arkadi, als sie gemeinsam die Treppe zu dem Gasthaus hinaufstiegen, in dem sich die Witwe einquartiert hatte.335 Anna Sergejewna scheint es jedoch zu gelingen, Basarow ein klein wenig aus seiner nihilistischen Unberührbarkeit und Gelassenheit zu bringen. Seinem Freund gegenüber versucht Basarow, der sich während des Besuchs überaus zahm benommen hatte, diese emotionale Störung zu überspielen. Auf Arkadis Bemerkung, daß Anna hinreißend sei, erwidert Basarow: „Was für ein Prachtkörper […], das Rechte fürs anatomische Theater.“336
331 332 333 334 335 336
Ebenda, S. 65. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 66. Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 92.
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Das Jahr 1860 Die Gründung der Zeitschrift für „Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ – Bastians „Mensch in der Geschichte“ – ein Eklat in der „beunruhigenden Familienangelegenheit“ – das greise Sizilien – das unterdrückte „Insulinde“ – Chinas Öffnung – Buffalo Bill als Reiter des Pony Express
Im Jahr 1860 erscheint der erste Band der von Moritz (Moses) Lazarus (1824-1903) und Hajim (Chajim) Steinthal (1823-1899) herausgegebenen und für die Geschichte der „jungen“ Anthropologie so wichtigen Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft.337 Im folgenden sollen einige Überlegungen zu der von den beiden Herausgebern verfaßten programmatischen Einleitung angestellt werden. Ziel sei es hierbei erstens, die Aufmerksamkeit auf den integrativen Charakter der Wissenschaft zu lenken, die Lazarus und Steinthal zu begründen suchen. Zweitens soll auf die Kritik hingewiesen werden, welche die beiden Autoren an der traditionellen Individualpsychologie bzw. an einer sich mit metaphysischen Fragen plagenden Psychologie üben. Ihre Berufung auf den Primat des „Volksgeistes“, dessen Gesetze es zu ermitteln gelte, kann hierbei auch als eine Zurückweisung der herkömmlichen, sich auf die Taten „großer Männer“ beschränkenden Geschichtsschreibung verstanden werden. Drittens möchte ich zeigen, wie die Autoren das Verhältnis zwischen ihrer neuen Wissenschaft und den Naturwissenschaften zu bestimmen suchen. Viertens soll dann noch ihre Definitionen des „Volksgeistes“ und des „Volks“ etwas näher beleuchtet werden. Daraus erhellt meines Erachtens, wie Lazarus und Steinthal bestrebt waren, trotz ihrer an den Naturwissenschaften ausgerichteten Methode die Autonomie des von ihnen untersuchten Gegenstandes zu begründen. Gleich zu Beginn ihrer Einleitung erklären Lazarus und Steinthal, daß sie nicht nur Psychologen zur Mitarbeit einladen, sondern all jene, welche die geschichtlichen Erscheinungen der Sprache, der Religion, der Kunst und Wissenschaft, der Sitte und des Rechts, der gesellschaftlichen, häuslichen und staatlichen Verfassung, kurz […] alle, welche das geschichtliche Leben der Völker nach irgend einer seiner mannigfaltigen Seiten derartig erforschen, daß sie die gefundenen Thatsachen aus dem Innersten des Geistes zu erklären, also auf ihre psychologischen Gründe zurückzuführen streben.338 337 Als Einführung zu Werk und Leben von Lazarus und Steinthal siehe Georg ECKARDT, Einleitung in die historischen Texte, in: ders. (Hg.), Völkerpsychologie – Versuch einer Neuentdeckung: Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, Weinheim: Psychologie VerlagsUnion 1997, S. 7-123. 338 Moritz LAZARUS, Hajim STEINTHAL, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), S. 1-73, hier S. 1.
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Die Wissenschaft, der sich diese Zeitschrift widme, so Lazarus und Steinthal, sei „noch nicht einmal gegründet, ja ihr Gedanke noch völlig neu und vermuthlich vielen unserer Leser noch unerhört“.339 Im Anschluß an Johann F. Herbart (1776-1841) meinen beide Autoren, die Psychologie bleibe „immer einseitig, so lange sie den Menschen als allein stehend betrachtet“.340 Das Denken, Fühlen und Wollen des Einzelnen ließen sich nicht aus dessen individueller Veranlagung erklären, sondern seien wesentlich von jener historischen Tradition mitbestimmt, an der das Individuum Teil habe: Aber wie scharf begrenzt, und welcher Art, wie reich, wie werth- und kraftvoll die Persönlichkeit sein mag; sie ist immer in ihrer Entwickelung durch die räumlichen Verhältnisse eines bestimmten Ortes, durch die zeitlichen eines bestimmten Zeitpunktes, durch einen besonderen Volks-, Familien- und Standes-Geist, sowohl nach dem Grade ihrer möglichen Bildung, wie auch nach Inhalt und Form des Geistes bedingt. Nicht nur sein Wissen, sondern auch sein Gewissen, sein Fühlen und sein Wollen, sein Thun und sein Genießen, sein Empfangen und darum auch sein Schaffen, ist mit seiner Geburt an diesem Punkte der geistigen Gesammtentwickelungen im Voraus bestimmt.341
Obgleich bereits oftmals festgestellt wurde, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei, sei dieser Gedanke bisher kaum weiter verfolgt bzw. in ein wissenschaftliches Programm umgesetzt worden. Es gelte daher, die individuelle Psychologie durch eine „Völkerpsychologie“, eine „Psychologie des gesellschaftlichen Menschen bzw. der menschlichen Gesellschaft“ zu ergänzen.342 Im Unterschied zu anderen Formen der Gemeinschaft sei für den Einzelnen jene Gemeinschaft, die man gemeinhin „Volk“ nennt „die absolut nothwendige“ und „allerwesentlichste“.343 Der Mensch gehöre nämlich niemals „bloß dem Menschengeschlechte als der allgemeinen Art an“ und alle anderen Formen der Gemeinschaft, an denen das Individuum sonst noch Teil habe, seien „durch das Volk“ gegeben.344 Für das „Zusammenleben der Menschheit“ sei also „ihre Trennung in Völker“ wesentlich und die Geschichte der Menschheit sei an diese „Verschiedenheit der Völker“ gebunden.345 Wenden wir uns nun der Frage nach dem Verhältnis zwischen der „Völkerpsychologie“ und den Naturwissenschaften zu. Wie der moderne Physiker die Frage nach dem metaphysischen Wesen der Bewegung außer acht lasse, so müsse auch der Psychologe „metaphysische Fragen nach 339 340 341 342 343 344 345
Ebenda. Herbart zit. nach LAZARUS, STEINTHAL, Völkerpsychologie, S. 4. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 5. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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dem Wesen der Seele“ beiseite lassen.346 Ziel ihrer Wissenschaft, so Steinthal und Lazarus, sei es, „das Wesen des Volksgeistes und sein Thun psychologisch zu erkennen“ und hierbei jene „Gesetze“ aufzudecken, welche der Betätigung und Entwicklung eines „Volks“ zugrunde liegen. Auch die Anthropologie und die mit ihr eng verwandte Ethnologie hätten bereits begonnen, sich mit der „Differenz von Volkscharakteren und den Gründen derselben“ zu befassen.347 In beiden Fällen, insbesondere in der an der Zoologie orientierten Ethnologie, sei der Mensch jedoch vornehmlich „als Thier, als Natur-Erzeugniß, abgesehen von seiner geistigen Entwickelung, bloß nach dem Bau seines Körpers, im Ganzen und in seinen Varietäten“ behandelt worden. Der Mensch sei aber, so Lazarus und Steinthal, ein geistiges Thier, mit, um es kurz auszudrücken, angeborenen geistigen Anlagen, Neigungen, Strebungen, Gefühlen, noch ganz abgesehen von seiner geistigen Entwickelung und Bildung in der Geschichte. Ja sogar diese traditionellen geistigen Elemente muß man, insofern sie ganz unbewußt angeeignet, mit der Muttermilch, wie man sagt, eingesogen werden, zur menschlichen Natur rechnen. Auch von dieser Seite sollte natürlich der Mensch betrachtet werden.348
Es gelte somit, der „bisherigen physikalischen Ethnologie die psychische Ethnologie hinzuzufügen […], und d. i. eben die Völkerpsychologie“.349 Die Völkerpsychologie dürfe sich in ihrer Untersuchung des Menschen nicht nur auf dessen geistig-natürliche Anlagen beschränken, sondern müsse auch der Tatsache Rechnung tragen, daß der „Geist“ im Unterschied zur reinen „Natur“ in einer zusammenhängenden Reihe von Schöpfungen [lebt], deren jede die frühere voraussetzt, aber gegen sie gehalten, etwas Neues bietet; er zeigt einen Fortschritt. Der geistige Keim erzeugt nicht, wie der natürliche, bloß wieder einen gleichartigen Keim, sondern durch Hinzunahme und unter Begünstigung anderer geistiger Elemente bringt er etwas von sich selbst und diesen mitwirkenden Elementen Verschiedenes hervor, etwa was ihn selbst und diese umgestaltet in sich trägt, aber auch noch mehr umfaßt, als in der bloßen Summe der verzehrten Elemente lag, was also von dem anfänglichen Keime im Wesen verschieden, reichhaltiger, gebildeter, entwickelter ist. Im Allgemeinen gilt also auf dem geistigen Gebiete fortschreitender Entwicklung der Satz, daß das Folgende immer das Gehaltvollere, vorzüglich aber, daß es etwas Anderes, noch nie Dagewesenes ist. Darum ist denn auch die Zeit von ganz anderer Wichtigkeit für den Geist als für die Natur; sie ist hier das Maß der Wiederkehr, dort der Abwechselung, hier des Umschwungs, dort des Aufschwungs.350
346 347 348 349 350
Ebenda, S. 69. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 13. Ebenda. Ebenda, S. 15-16.
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Zwar stimme es auch für den Bereich des „Psychischen“, daß gleiche Bedingungen gleiche Folgen zeitigen, aber es gehöre eben zur „Natur der psychischen Bedingungen“, Folgen zu haben, welche einen Fortschritt einschließen, der selbst wieder eine neue Bedingung zu einem neuen Schritte wird. Die gesetzmäßig gleichbleibende Thätigkeit des Geistes also ist Entwickelung, und der Fortschritt gehört so sehr zur Natur des Geistes, daß eben deshalb der Geist nicht zur Natur gehört.351
In diesem Zusammenhang sei die Franklinsche Definition des Menschen als eines „tool-making animal“ von zentraler Bedeutung. Durch seine Erfindungen und deren Verbesserungen erhebe sich der Mensch „über die Natur“. Da Lazarus und Steinthal eine materialistische Weltsicht verwerfen und zugleich die dem „Geist“ innewohnende Entwicklungsfähigkeit und Historizität betonen, gelangen sie zu dem Schluß, daß sich ihr Untersuchungsgegenstand von jenem der Naturwissenschaften grundlegend unterscheide. Trotz dieses von ihnen postulierten ontologischen Gegensatzes sind sie jedoch der Überzeugung, daß das geschichtlich-geistige Leben des Menschen eine den Naturwissenschaften analoge zweifache Betrachtungsweise erfordere. In den Naturwissenschaften nämlich fänden sich neben den deskriptiven Disziplinen wie etwa der Mineralogie, Botanik und Zoologie auch rational-synthetische wie etwa die Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie. Während die zuerst genannten Disziplinen die Formen der Wirklichkeit beschrieben, suchten die letztgenannten nach jenen allgemeinen Gesetzen (z. B. Physik) und Urelementen (z. B. Chemie), durch welche diese Formen entstünden. Die traditionelle Geschichte der Menschheit entsprach nach Steinthal und Lazarus den beschreibenden Disziplinen der Naturwissenschaften. Wird die Geschichte nicht auch eine der synthetischen Naturlehre parallel laufende Disciplin fordern? Wird sie nicht einer Darstellung der in der Geschichte waltenden Gesetze bedürfen, um synthetisch begründet und begriffen werden zu können? – Wo ist denn aber die Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit? Wir antworten: in der Völkerpsychologie.352
Steinthal und Lazarus sehen somit zwar einen ontologischen Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, betonen jedoch, daß wie die „Natur“ auch der „Geist“ nicht frei sei, sondern Gesetzen der Entwicklung unterliege, deren Erkenntnis das Ziel der Völkerpsychologie sein müsse. An diesem Ziel, Gesetze aufzustellen, sei die alte Philosophie der Geschichte gescheitert. Im Unterschied zu dieser dürfe die Völkerpsychologie nicht von „fertigen Kategorien“ ausgehen, sondern „von den Thatsachen
351 Ebenda, S. 18. 352 Ebenda, S. 19.
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des Völkerlebens“, die sie beobachten, ordnen und vergleichen müsse. Auf diesem empirischen Wege gelte es, die Gesetze des Völkerlebens zu finden: Die Culturgeschichte aller Nationen, so weit sie uns irgend bekannt, mit all’ ihren einzelnen Zweigen liefert uns eine so reiche Ausbeute des mannigfaltigen Materials, daß sich uns ein unabsehbares Feld der Beobachtung und Combination eröffnet; und eine Zusammenstellung und Vergleichung der verschiedenen Richtungen in dem Leben eines und desselben Volkes, dann wiederum der verschiedenen Völker, ist offenbar auch für die volle und klare Erkenntniß eines einzigen erforderlich.353
Wie die Naturwissenschaften gliedere sich die Völkerpsychologie in einen deskriptiven und in einen synthetisch-rationalen Teil und habe sich sowohl mit der Beschreibung einzelner, in der Wirklichkeit existierender „Volksgeister“ zu befassen als auch mit den abstrakten Urelementen und Gesetzen, welche die jeweilige Ausprägung des konkreten Volksgeistes bestimmen. Skizzieren wir nun jenen Gegenstand etwas näher, den Lazarus und Steinthal zum Inhalt ihrer Studien zu machen beabsichtigen. Wenn auch von der Psyche eines Volkes im Sinne einer Substanz nicht gesprochen werden könne, sei es doch nicht in Abrede zu stellen, daß die bloße Summe aller individuellen Geister […] den Begriff ihrer Einheit nicht ausmachen, denn dieser ist etwas Anderes und bei weitem mehr als jene; – ebenso wie der Begriff eines Organismus (einer organischen Einheit) bei weitem nicht durch die Summe der zu ihm gehörenden Theile erschöpft wird; vielmehr fehlt dieser Summe gerade noch das, was sie zu einem Organismus macht, das innere Band, das Princip, oder wie man es sonst nennen mag. – So ist auch der Volksgeist gerade das, was die bloße Vielheit der Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Princip, die Idee des Volkes und bildet seine Einheit. […] Denn in dem geistigen Thun aller Individuen eines Volkes herrscht eine Uebereinstimmung und Harmonie, welche sie zusammenschließt und zu einer organisch verbundenen Einheit macht. Das nun, was an dem verschiedenen geistigen Thun der Einzelnen mit dem aller Andern übereinstimmt und jene Harmonie bildet, zusammengenommen, ist die geistige Einheit des Volkes, der Volksgeist. In der Form einer Definition wird die Völkerpsychologie den Volksgeist als das Subject, von welchem sie etwas prädiciren will, etwa so bezeichnen: das, was an innerer Thätigkeit, nach Inhalt sowohl wie nach Form, allen Einzelnen des Volkes gemeinsam ist; oder: das allen Einzelnen Gemeinsame der inneren Thätigkeit.354
Obgleich innerhalb eines Volkes die Individuen sich auf den ersten Blick 353 Ebenda, S. 24. 354 Ebenda, S. 28-29.
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sehr voneinander unterscheiden, ließen sich zwischen ihnen doch viele Gemeinsamkeiten erkennen, sobald man sie mit Angehörigen eines anderen Volkes vergleiche. Man denke, so Lazarus und Steinthal, etwa an einen Griechen und Perser, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Stellung und ihrer Charaktereigenschaften ähnlich seien „und jeder wird zugeben, daß sie, psychologisch näher betrachtet, dennoch bei weitem mehr von einander verschieden sind, als jeder der beiden von einem seiner ihm an Rang und Bildung entfernten Stammesgenossen“.355 Denn „die wichtigsten Elemente des geistigen Lebens“, vor allem die „ganze Sprache“, „also der ganze Schatz von Vorstellungen und Begriffen“, sei das „Allen gemeinsame Eigenthum einer Nation“.356 Da Sprache und Denken eng miteinander zusammenhängen, bedeuteten unterschiedliche Sprachen auch unterschiedliche Formen des Denkens, Fühlens und Wollens. Zu dieser sprachlichen Gemeinsamkeit eines Volkes kämen noch jene der Nahrung, Bekleidung, der Rechtspflege, des Handwerks, der Künste und Wissenschaft sowie der Religion hinzu. Selbst Atheisten unterschiedlicher „Völker“ seien in ihrem Unglauben noch durch den „Volksgeist“ ihrer spezifischen Religion geprägt. Der weit verbreitete Glaube, gemeinsame Abstammung oder Blutsverwandtschaft sei für ein Volk wesentlich, erweise sich bei näherer Betrachtung als Irrtum. Es gebe keine ungemischten Völker und zudem könnten Menschen gleicher Abstammung unterschiedlichen Völkern angehören. Selbst das objektive Merkmal der Sprache reiche nicht aus, ein Volk zu definieren. Entscheidend sei vielmehr die Wahrnehmung der Angehörigen des Volks, welche sich zusammen als ein Volk ansehen. Der Begriff Volk beruht auf der subjectiven Ansicht der Glieder des Volkes von sich selbst, von ihrer Gleichheit und Zusammengehörigkeit. Handelt es sich um Pflanzen und Thiere, so ist es der Naturforscher, der sie nach objectiven Merkmalen in ihre Arten versetzt; Menschen aber fragen wir, zu welchem Volke sie sich zählen.
Hierbei gelte es zu bedenken, daß unterschiedliche Völker unterschiedliche Merkmale heranziehen können, aufgrund derer sie sich als zusammengehörig fühlten. Der Forscher müsse daher ermitteln, welche Merkmale von einem bestimmten Volk als für ihre Gemeinsamkeit konstitutiv betrachtet werden. Man wundere sich nicht über die subjective Natur, die wir dem Begriffe Volk zuerkennen. Das Volk ist ein rein geistiges Wesen ohne irgend etwas was man anders als bloß nach Analogie, ganz eigentlich seinen Leib nennen könnte, wenn es auch nicht unabhängig ist von materiellen Verhältnissen. Volk ist ein geistiges Erzeugniß der Einzelnen, welche zu ihm gehören; sie sind nicht ein Volk, sie schaffen es unaufhörlich.357 355 Ebenda, S. 29. 356 Ebenda, S. 30. 357 Ebenda, S. 35-36.
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In der von Lazarus und Steinthal gegebenen Definition des „Volks“ spiegeln sich zentrale Elemente des hermeneutischen Kulturbegriffs wider, wie ihn besonders die amerikanische Kulturanthropologie ihren Untersuchungen zugrunde legen sollte. Aus ideengeschichtlicher Perspektive kann das Programm der „Völkerpsychologie“ als eine Verbindung älterer, historistischer Traditionen mit den an den Naturwissenschaften orientierten neueren, nomothetischen Erkenntnisidealen verstanden werden. Es war gerade die Hoffnung, analog den bereits entdeckten Gesetzen der Natur auch Gesetze des Geistes zu finden, die zu einer Intensivierung der empirischen Forschung führte. Gerade in der vergleichenden Sprachwissenschaft meinte man, dieses Ziel zumindest teilweise bereits erreicht zu haben. Nun gelte es, auch die Gesetze auf den anderen Forschungsfeldern der Völkerpsychologie zu finden. Im Jahr 1860 veröffentlicht Adolf Bastian (1826-1905), der zuvor als Schiffsarzt acht Jahre lang um die Erde gereist war, sein dreibändiges Erstlingswerk Der Mensch in der Geschichte. Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung (1860).358 Vorrangiges Ziele dieses Buches, das bereits jene eigentümliche Mischung aus Materialkompilation, stilistischen Überspanntheiten und philosophischen Reflexionen aufweist, die Bastians gesamtes Schaffen kennzeichneten, war die „Zusammenstellung gleichartiger Gebräuche und Vorstellungen, die mit psychologischer Notwendigkeit unter entsprechenden Verhältnissen überall wiederkehren“, wobei insbesondere die Länder außerhalb des abendländischen Kulturkreises Berücksichtigung finden sollten.359 Auch Bastian versteht sein Werk als eine Pionierarbeit, für Synthesen sei die Zeit noch nicht gekommen. Er will die Psychologie auf eine empirische Grundlage stellen und hierfür Menschen aller Zeiten und aller Länder berücksichtigt wissen. 358 Als Einführung zu Leben und Werk von Bastian vgl. Annemarie FIEDERMUTZ-LAUN, Adolf Bastian (1826-1905), in: Wolfgang MARSCHALL (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie: Von Montaigne bis Margaret Mead, München: C. H. Beck 1990, S. 109-136. 359 Adolf BASTIAN, Der Mensch in der Geschichte: Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung. Erster Band: Die Psychologie als Naturwissenschaft. Osnabrück: Biblio-Verlag 1968 [Neudruck der Ausgabe 1860], S. XIX. Zur oftmals bemäkelten Schreibweise von Adolf Bastian vgl. etwa den Kommentar von Friedrich Engels: „Dagegen A. Bastian, ‚Der Mensch in der Geschichte‘ (drei dicke Bände, der Bursche junger Bremer Arzt, der mehrjährige Reisen um die Welt gemacht hat) mit seinem Versuch einer ‚naturwissenschaftlichen‘ Darstellung der Psychologie und psychologischen Darstellung der Geschichte schlecht, konfus, formlos. Das einzige Brauchbare darin hie und da ein paar ethnographische oddities. Dazu viel Prätention und ein schauerhafter Stil.“ Brief von Friedrich Engels an Karl Marx, 19. Dezember 1860, in: Karl MARX, Friedrich ENGELS, Der Briefwechsel, Band 2: Die Briefe aus den Jahren 1854 bis 1860, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983 [Fotomechanische Übernahme aus der alten Marx-Engels-Gesamtgabe (MEGA), Dritte Abteilung, Band 2, Berlin 1930], S. 533.
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Nicht müde wird Bastian, jene gebildeten Europäer zu geißeln, die ihre eigenen moralischen Ansichten für natürlich und angeboren hielten, und die nicht verstünden, daß die gebildeten Europäer eher eine Ausnahme als den „Durchschnittsmensch[en]“ verkörperten, sie seien nur eine „unendlich kleine Partei, die lehrt und anhört, einander Beifall klatscht oder zischt“ und die nicht „über ihre Atmosphäre“ hinausschaut.360 Gerade um einen wahren Begriff vom Queteletschen „Durchschnittsmenschen“ zu entwickeln, müsse man über diesen engen Zirkel europäischer Verhältnisse hinausgehen und dürfe diese nicht als Maßstab für alle anderen Gesellschaften anlegen. Analog den Elementen der Chemie wird Bastian jenen „ethnographischen Parallelen“, „Elementargedanken“ bzw. jenen – wie wir heute sagen würden – Universalien oder Konstanten nachspüren, aus denen sich das geistige Leben „primitiver“ Völker aufbaut und die später, durch geographische und historische Faktoren modifiziert, auch die Grundlage des geistigen Lebens der „zivilisierten“ Völker bilden. Das historisch Spätere ist bei Bastian das Komplexere, Verwickeltere. Gerade deshalb sei das Studium der „Naturvölker“ so bedeutend, ließen sich doch hier die grundlegenden Elemente – die „Elementar-Gedanken“ wie Bastian sie nannte – leichter erkennen. Gewisse Grundsätze der Moral wird man überall […] wiederfinden, und zwar eben diejenigen, deren Ausübung so innig und nothwendig mit den ersten Anfängen der Gesellschaft verwachsen ist, dass ohne jene eine solche überhaupt nicht bestehen, sich nicht einmal bilden kann. Ihre gleichartige Wiederkehr ist nicht wunderbarer, als dass die Wilden überall essen und trinken, dass sie auf den Füssen gehen und mit den Händen greifen. Wie auf den Füssen zu gehen von der Natur vorgeschrieben ist, indem die Natur ein mit bestimmten Muskeln und Knochen construirtes Glied gegeben hat, auf dem man gehen kann und, weil man es besitzt, geht, ebenso ist dem Menschen eine bestimmte Construction des Gehirns gegeben, durch die er die nothwendigen Ideen zu entwickeln vermag, um gesellig zu leben, und weil ihm jene gegeben ist, lebt er gesellig.361
Auf den Gebieten der Sprache, der Mythologie und Religion, des Rechts und Gesellschaftslebens wird Bastian jene Elemente sammeln, welche, wie er hofft, die Grundlage einer zukünftigen „Gedanken-Statistik“ bilden könnten. In diesem Werk von Adolf Bastian, so Wilhelm Dilthey, erkenne man „eine echte Forschernatur, welche mit einem vasten Stoff, mit ungeheuren ungesichteten und doch unzureichenden Materialien, mit einem großen Plane ringt“.362 So wie Theodor Waitz sei auch Bastian ein „Pfad-
360 Ebenda, S. 231. 361 Ebenda, S. 232. 362 Wilhelm DILTHEY, Adolf Bastian, ein Anthropolog und Ethnolog als Reisender, in: ders., Vom Aufgang des geschichtlichen Bewusstseins: Jugendaufsätze und Erinnerungen (= Gesammelte Schriften 11), Stuttgart: B. G. Teubner Verlagsgesellschaft und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, S. 204-212, hier S. 205.
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finder auf ungebahnten Wegen“; beide hätten erkannt, „daß die Gesamtheit der anthropologischen, der ethnologischen, der historischen Tatsachen der Ausgangspunkt für die Induktionen des wahren Erforschers der geistigen Welt sein müssen“.363 Zugleich wisse Bastian nur allzu gut, daß die Zeit für Synthesen noch nicht reif sei. „Vorübergehend“, so Dilthey, mögen die Beschäftigungen der Pioniere wahrer auf Induktion gegründeter Forschung dem Zusammenschütten eines Steinhaufens ähneln. Aber wenn ein die Zeitstürme überdauerndes Gebäude errichtet werden soll, muß wohl vorher der Bauplatz einmal mit unbehauenen Quadern voll gelegen haben. Lange genug ist die Philosophie in den Labyrinthen eigener Meditationen umhergewandelt. Nun aber hat sich der Gesichtskreis der Forschung ins unermeßliche erweitert; Geschichte, Ethnologie, Anthropologie bieten einen ungeheuren Stoff für wahre Induktion. Es ist nicht zu befürchten, daß ihr, wenn sie erst den wahren Weg eingeschlagen hat, noch einmal die Erfahrungen ausgehen sollten. Ist aus ihnen der hohe Bau einer Wissenschaft der geistigen Erscheinungen aufzurichten nur erst begonnen worden, dann erst werden wir über die Wolkenpaläste einer Schellingschen, Hegelschen Spekulation richtiger – ja vielleicht billiger urteilen.364
Wenden wir uns nun kurz einem Eklat in der – um eine Phrase von Blumenbach zu adaptieren – „beunruhigenden Familienangelegenheit“ zu, der sich im Jahre 1860 auf der Versammlung der British Association for the Advancement of Science in Oxford ereignete. Zwischen 700 bis 1.000 Leute nahmen an dieser Versammlung teil. Im Mittelpunkt dieser legendenumrankten und als „great Oxford debate“ bekannten Auseinandersetzung stand die Evolutionstheorie und insbesondere natürlich das knapp zuvor erschienene Werk von Darwin.365 Die beiden Hauptkontrahenten in der hitzigen Debatte waren Samuel Wilberforce, Theologe und Bischof von Oxford, und der erst fünfundzwanzigjährige Naturforscher Thomas H. Huxley. Zuerst sprach Samuel Wilberforce, von seinen Kritikern „Soapy Sam“ genannt, eine volle halbe Stunde lang mit „unnachahmlicher Frische, Leerheit und Unbilligkeit“ und zog, ohne Kenntnis des Gegenstandes, gegen Darwin und Huxley zu Felde. 363 Ebenda, S. 211. 364 Ebenda, S. 212. 365 Darwin nahm an dieser Versammlung selbst nicht teil, wurde jedoch von verschiedenen Seiten über die Vorgänge unterrichtet. Über den genauen Wortlaut der Kontrahenten und die Vorgänge in dieser Debatte finden sich unterschiedliche Angaben. Ich stütze mich im folgenden auf die von Darwins Sohn zusammengestellten Materialien. Siehe Francis DARWIN (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, New York: D. Appleton & Co. 1905, Dieser Text ist Teil der von John van Wyhe digitalisierten und herausgegebenen Sammlung The Writings of Charles Darwin on the Web und online abrufbar unter: http://pages.britishlibrary.net/charles.darwin/ (Zugriffsdatum 4. Januar 2004). Siehe ferner Jonathan HOWARD, Darwin: Eine Einführung, S. 21-23.
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Unfortunately the Bishop, hurried along on the current of his own eloquence, so far forgot himself as to push his attempted advantage to the verge of personality in a telling passage in which he turned round and addressed Huxley: I forgot the precise words, and quote from Lyell. The Bishop asked whether Huxley was related by his grandfather’s or grandmother’s side to an ape.366
Angeblich soll Huxley sich bei diesen Worten seinem Sitznachbarn zugewandt und gesagt haben: „Der Herr hat ihn in meine Hände gegeben.“367 In seiner Erwiderung stellte Huxley zunächst fest, daß er in der Rede von Wilberforce weder ein neues Argument noch eine neue Tatsache entdecken konnte, „ausgenommen natürlich die Frage, die sich auf meine persönliche Vorliebe in bezug auf meine Ahnenschaft bezog“. [W]enn die Frage an mich gerichtet würde, ob ich lieber einen miserablen Affen zum Großvater haben möchte oder einen durch die Natur hochbegabten Mann von großer Bedeutung und großem Einfluß, der aber diese Fähigkeiten und den Einfluß nur dazu benutzt, um eine Lächerlichkeit in eine ernste wissenschaftliche Diskussion hineinzutragen, dann würde ich ohne Zögern meine Vorliebe für den Affen bekräftigen.368
Der Saal bebte, die Studenten tobten. Wilberforce wurde blaß und schwieg, der zahlreich versammelte anglikanische Klerus verlieh seiner tiefsten Empörung lautstark Ausdruck, die Evolutionisten klatschten sich auf die Schenkel und applaudierten, Lady Brewster fiel in Ohnmacht und wurde hinausgetragen, das Meeting wurde unterbrochen – so die Mär. Im kollektiven Bewußtsein der Evolutionisten mutierte die great Oxford debate jedenfalls zu einem symbolträchtigen Schlachtfeld, auf dem ein glorreicher Sieg gegen den orthodoxen Klerus errungen wurde, zu einer erinnerungswürdigen, stolzen Sternstunde, einem Gedächtnisort des „Affenstreits“. 366 Francis DARWIN (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, S. 114115. Der Bericht stammt von einem Augenzeugen. 367 Jonathan HOWARD, Darwin: Eine Einführung, S. 22. 368 Brief von Thomas H. Huxley an Frederick D. DRYSTER, 9. September 1860, zit. nach Gerhard HEBERER, Einleitung, in: Thomas H. HUXLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus, übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1963 [1863], S. 1-53, hier S. 4. In diesem Brief stellte Huxley auch fest, daß er nicht, wie manche behaupten, gesagt hätte, er wäre lieber ein Affe als ein Bischof. Ein Konferenzteilnehmer gibt Huxleys Worte wie folgt wider: „I asserted, and I repeat, that a man has no reason to be ashamed of having an ape for his grandfather. If there were an ancestor whom I should feel shame in recalling, it would be a man, a man of restless and versatile intellect, who, not content with an equivocal success in his own sphere of activity, plunges into scientific questions with which he has no real acquaintance, only to obscure them by an aimless rhetoric, and distract the attention of his hearers from the real point at issue by eloquent digressions, and skilled appeals to religious prejudice.“ Siehe Francis DARWIN (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, S. 115.
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Werfen wir nun nach diesem „Skandal“ einen kurzen Blick auf eine ebenfalls im Jahre 1860 angesiedelte Episode aus dem historischen Roman Il Gattopardo (1958) von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Ziel ist es hierbei, anhand eines literarischen Beispiels den Fortschritt aus der Perspektive jener zu beleuchten, die meinen, daß ihre Heimat diesbezüglich eine Ausnahme bilde, im Unterschied zu den anderen Gebieten von der Modernisierung kaum berührt, nur gestreift werde und die, gerade weil sie sich nicht vom Fortschritt mitgerissen fühlen, ein besonderes Sensorium für denselben entwickeln konnten. Nach der Vereinigung Siziliens mit dem Königreich Sardinien und dem Zug von Garibaldi erhielt der Piemontese Aimone Chevalley di Monterzuolo von der Turiner Regierung den Auftrag, nach Sizilien zu reisen, um einige berühmte sizilianische Persönlichkeiten einzuladen, als Senatoren für das neue Königreich tätig zu sein. Eine dieser Persönlichkeiten, die Chevalley auf seiner Reise durch das „wilde“ Sizilien aufsuchte, war Don Fabrizio, der Fürst von Salina. In schmeichelnden Worten und mit Hinweisen auf die große Ehre, die ein solches Amt bedeutete, unterbreitete er dem Fürsten den Vorschlag der Regierung. Der sizilianische Fürst schien unbeeindruckt und forderte Chevalley auf, ihm die Zuständigkeit des Senates zu erklären. Sichtlich erregt erteilte Chevalley, dieser Vertreter des fortschrittlichen Italiens, dem Fragenden Auskunft: Aber Fürst, der Senat ist das oberste Parlament des Königreichs! In ihm sitzen die besten Politiker Italiens, ausgewählt von der Weisheit der Herrschers, und prüfen, diskutieren jene Gesetze, die die Regierung für den Fortschritt des Landes vorschlägt, stimmen ihnen zu oder weisen sie zurück; er hat zur gleichen Zeit die Funktion eines Sporns und eines Zügels: er treibt an, etwas gut zu tun, er verhindert, des Guten zuviel zu tun. Wenn sie zugestimmt haben, darin einen Platz einzunehmen, werden Sie Sizilien vertreten genau wie die gewählten Abgeordneten, werden Ihre Stimme hören lassen über Ihr wunderschönes Land, das nun vor den umfassenden Blick der modernen Welt tritt, mit so vielen Wunden, die geheilt, mit so vielen gerechten Wünschen, die erhört werden sollten.369
Doch Don Fabrizio zeigt kein Interesse, das ihm angetragene Amt des Senators zu übernehmen. „Wir Sizilianer“, so der Fürst in der Begründung seiner Ablehnung, sind von einer sehr langen, sehr langen Führerschaft von Regierenden her, die nicht von unserer Religion waren, die nicht unsere Sprache sprachen, daran gewöhnt uns mit Winkelzügen durchzuhelfen. Hätte man das nicht getan, so wäre man den Steuereintreibern aus Byzanz, den Emiren aus der Berberei, den Vizekönigen aus Spanien nicht entronnen. […] Wir sind alt, Chevalley, sehr alt. Es sind zum mindesten fünfundzwanzig Jahrhunderte, daß wir auf den Schultern das Gewicht hervorragender, ganz verschiedenartiger Kulturen tragen: alle sind sie 369 Vgl. Giuseppe Tomasi di LAMPEDUSA: Der Leopard, München: R. Piper & Co. Verlag 1962 [1958], S. 208-209.
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von außen gekommen, keine ist bei uns selbst gekeimt, in keiner haben wir den Ton angegeben; wir sind Weiße, wie Sie es sind, Chevalley, und ebenso weiß wie die Königin von England; und doch sind wir seit zweitausendfünfhundert Jahren eine Kolonie. Ich sage das nicht, um mich zu beklagen: es ist unsere Schuld. Aber einerlei – wir sind müde und leer. […] Sie sprachen noch eben von einem Sizilien, das jung vor die Wunder der modernen Welt tritt; ich von mir aus sehe eher eine Hundertjährige, die in ihrem Rollstuhl zur Londoner Weltausstellung geschleppt wird, die nichts versteht, die auf alles pfeift, auf die Stahlwerke von Sheffield wie auf die Spinnereien von Manchester, die sich nur danach sehnt, in ihren Halbschlaf zurückzufinden, in die begeiferten Kissen, unter dem Bett das Nachtgeschirr. […] Den Schlaf, lieber Chevalley, den Schlaf wollen die Sizilianer, und sie werden immer den hassen, der sie wecken will, brächte er ihnen auch die schönsten Geschenke; und – im Vertrauen gesagt – ich hege starke Zweifel, ob das neue Reich in seinem Gepäck für uns viele Geschenke hat. […] Daher rührt es, daß bestimmte Menschen bei uns ein Übergewicht gewinnen, die, die wenigstens halbwach sind; daher diese berühmte Verspätung um ein Jahrhundert, was die künstlerischen und intellektuellen Offenbarungen in Sizilien anbetrifft: etwas Neues zieht uns nur an, wenn es schon verblichen ist, unfähig, strömendem Leben Raum zu geben; daher die verwunderliche Erscheinung, daß sich gegenwärtig Mythen bilden, die verehrungswürdig sein würden, wenn sie wirklich alt wären, die aber nichts weiter sind als unglückselige Versuche, in eine Vergangenheit einzutauchen, die uns nur, weil sie tot ist, anzieht.370
An diesem Punkt versucht der Gesandte aus Piemont einzuwenden, daß doch einige aus Sizilien stammende, junge Politiker wie etwa Francesco Crispi alles andere als „Schlafmützen“ seien. Doch der Fürst läßt sich durch solche Hinweise nicht beirren und fährt in seiner Erläuterung fort. Er habe von den Sizilianern gesprochen und vergessen, auf „Sizilien, die Umwelt, das Klima, die sizilianische Landschaft“ zu verweisen: Das sind die Kräfte, die zugleich – und vielleicht mehr als alle Fremdherrschaften und Schändungen – unseren Geist gebildet haben: diese Landschaft, die keine Mitte kennt zwischen üppiger Weiche und vermaledeiter Wüste; die niemals eng ist, nie nur bescheidene Erde, ohne Spannung, wie ein Land sein müsste, das vernünftige Wesen zum Aufenthalt dienen soll; dieses Land, das wenige Meilen voneinander entfernt die Hölle um Randazzo hat und die Schönheit der Bucht von Taormina; dieses Klima, das uns sechs Fiebermonate von vierzig Grad auferlegt. Zählen Sie sie, Chevalley, zählen Sie sie: Mai, Juni, Juli, August, September, Oktober; sechsmal dreißig Tage Sonne senkrecht auf den Kopf; dieser unser Sommer, ebenso lang und schrecklich wie der russische Winter, und man kämpft gegen ihn an mit geringerem Erfolg; Sie wissen es noch nicht – aber bei uns kann man sagen, es regne Feuer wie auf die verfluchten Städte der Bibel; wenn ein Sizilianer in nur einem jener Monate ernstlich arbeiten wollte, würde er die Energie verbrauchen, die für drei ausreichen muß. Und dann das Wasser: das ist entweder nicht vorhanden oder aber man muß es von so weit herholen, daß 370 Ebenda, S. 209-211.
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jeder Tropfen mit einem Tropfen Schweiß bezahlt werden muß; und danach wieder die Regengüsse, immer ungestüm: sie bringen die ausgetrockneten Flussbetten zu wahnwitzigem Überschäumen, sie ersäufen Tiere und Menschen genau da, wo vor vierzehn Tagen die einen wie die andern vor Durst verreckt sind. Diese Heftigkeit der Landschaft, diese Grausamkeit des Klimas, diese ständige Gespanntheit, wohin man auch blickt, auch diese Denkmäler der Vergangenheit, großartig, aber unbegreiflich, weil nicht von uns errichtet: sie stehen um uns her wie wunderschöne, stumme Gespenster. All die Regierungen, Fremde in Waffen, gelandet von wer weiß wo, denen man sogleich diente, die man rasch verabscheute und nie begriff, die sich ausdrückten nur in Kunstwerken, die für uns rätselhaft blieben, und leibhaftig in den Eintreibern von Steuergeldern, die hernach anderswo ausgegeben wurden – all diese Dinge haben unseren Charakter gebildet, und darum bleibt er bedingt von äußeren Schicksalsfügungen, weit mehr noch als von dieser entsetzlichen Insularität des Geistes.371
Die bei Fürst Salina sich aus klimatischen und historischen Überlegungen nährende und von Lampedusa nostalgisch verklärte Fortschrittskritik, sein Unglaube, daß auch Sizilien Teil der modernen Welt werden könnte, kann als ein zentrales Merkmal der Mentalitätsgeschichte des am Rande Europas gelegenen Gebiets in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Immer wieder werden gerade Denker aus den geographischen Randgebieten und „zurückgebliebenen“ Teilen Europas sich intensiv mit dem Fortschrittsgedanken und den ihn begleitenden und mitunter ihm vorauseilenden Verheißungen befassen. Und gerade an der Peripherie geht die Analyse der neuen Welt oftmals mit einer eigentümlichen Fortschrittsskepsis einher. Nur exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Fortschrittskritik russischer Intellektueller vom Schlage eines Tolstoi oder Dostojewski, die den Westen im Fortschrittstaumel auf einen Abgrund zueilen sehen, auf Ludwig Gumplowicz aus Galizien oder – um einen Landsmann des Fürsten Salina zu nennen – auf Gaetano Mosca verwiesen. Gerade für den Fortschrittsglauben sollte die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen der unaufhaltsam voranschreitenden Modernisierung im Zentrum und der Stagnation an der Peripherie eine zentrale Rolle spielen. Im Fortschrittsdenken figurierte die Peripherie als „Überlebsel“, als Zeugnis einer Zeit, die eigentlich bereits vergangen war. Sizilien, ja der gesamte Mezzogiorno, war – um mit Alfredo Niceforo zu sprechen – ein atavismo sociale, oder – wie es im Titel heißt: L’Italia barbara contemporanea.372 Im Jahr 1860 veröffentlichte der niederländische Schriftsteller Eduard D. Dekker (1820-1887) unter dem Pseudonym Multatuli seinen naturalistischen Roman Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerungen der Nieder-
371 Ebenda, S. 212-213. 372 Vgl. Alfredo NICEFORO, L’Italia barbara contemporanea: Studi sull’Italia del Mezzogiorno, Milano-Palermo: Remo Sandron 1898; ders., Italiani del Nord e Italiani del Sud, Torino: Fratelli Bocca 1901, S. 4.
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ländischen Handelsgesellschaft.373 „Dieses aufsehenerregende Werk, das in seiner vernichtenden Entlarvung der amoralischen Kolonialpolitik im 19. Jh. zu den aggressivsten Schlüsselromanen der Weltliteratur gehört“, heißt es in Kindlers Neuem Literatur Lexikon (1991), fuhr „wie ein Blitz hernieder, schlug ein und setzte in Flammen“ (Vosmaer); ließ wie der Abgeordnete Van Hoëvell es ausdrückte, „ein Schaudern durch das Land gehen“. Max Havelaar leitete in der niederländischen wie in der gesamten europäischen Geistesgeschichte eine neue Ära, die der sozialpolitisch engagierten Literatur, ein.374
In dem in seiner Komposition äußerst komplexen Roman, der dreißig Jahre nach dem niederländischen Krieg auf Java verfaßt wurde, sind vier Erzählebenen sowie unterschiedliche Stilgattungen (Prosa, Lyrik, Geschäftsberichte usw.) ineinander verwoben.375 Auf der ersten Erzählebene läßt Multatuli – derjenige, der viel gelitten hat – den Kaffeemakler Batavus Drogstoppel, einen frommen, spießbürgerlichen Geschäftsmann, über die Entstehung des Romans berichten. Drogstoppel hatte von seinem Jugendfreund Schalmann, einem in ärmlichen Verhältnissen lebenden Dichter, ein Paket mit Aufzeichnungen über Wirtschaft, Politik und Ökonomie in Niederländisch-Indien, Insulinde, erhalten. Rund 30 Millionen „Eingeborene“ standen in dieser Kolonie einer europäischen Bevölkerung von knapp 50.000 Europäern gegenüber. In der Hoffnung, wertvolles Material über die Geschäftsbedingungen und den Kaffeeanbau in dieser Kolonie zu erhalten, beauftragt er einen Mitarbeiter, diese Papiere durchzusehen. Zum Leidwesen von Drogstoppel stellt jedoch sein Mitarbeiter nicht die ökonomisch relevanten Materialien zusammen, sondern die Geschichte des niederländischen Kolonialbeamten Max Havelaar. Diese Geschichte, aus der Drogstoppels Mitarbeiter einer kleinen Runde im Rahmen von regelmäßigen Treffen berichtet, bildet die zweite Erzählebene. Unterbrochen wird die zweite Ebene einerseits von Drogstoppels eigenen Kommentaren und Gedanken, andererseits von zusätzlichen Informationen zu Havelaar sowie von einer kurzen tragischen Liebesgeschichte zwischen den „Eingeborenen“ Saidjah und Adinda. Auf den letzten Seiten – der vierten Erzählebene – nimmt Multatuli selbst die „Feder zur Hand“, entlarvt die von ihm
373 MULTATULI [= Eduard D. Dekker], Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft, Berlin: Aufbau Verlag 1948 [1860]. 374 Wilfried SCHÄFER, Multatuli, in: KINDLERS NEUES LITERATUR LEXIKON, Band 12, München: Kindler Verlag 1991, S. 60-62, hier S. 61. 375 Vgl. hierzu ebenda; ferner Sven-Claude BETTINGER, MULTATULI, in: Joachim KAISER (Hg.), Harenberg: Das Buch der 1000 Bücher. Autoren, Geschichte, Inhalt und Wirkung. Dortmund: Harenberg Verlag 2002, S. 798.
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geschaffenen Personen als Fiktionen und prangert das niederländische Kolonialsystem in schonungslosen Worten an.376 Wenden wir uns im folgenden kurz den einzelnen Ebenen zu und beleuchten wir aus unterschiedlichen Perspektiven die schneidende Kritik von Multatuli am Glauben, daß die moderne Welt das Recht, ja die Pflicht habe, die Bürde des Kolonialismus zu tragen; ein Glaube, der unmittelbar mit dem Gedanken von der Notwendigkeit der „Hebung“ und „Zivilisierung“ der „Wilden“ in Zusammenhang steht. Drogstoppel ist der Inbegriff eines fleißigen, biederen, geschäftstüchtigen, kleingeistigen Spießers. Der Geschichte Havelaars schenkt er keinen Glauben. Im Kolonialsystem sieht er einen Segen für die „heidnischen Eingeborenen“. Verstärkt wird er in dieser Überzeugung unter anderem durch seine persönlichen Kontakte mit Kolonialbeamten, die in die Niederlande zurückgekehrt waren, und vor allem durch die Predigten des von ihm verehrten Pastors Wawelaar. Mit großer Leidenschaft predigt der Pastor über den gottgewollten Umgang mit den „Heiden“ in Niederländisch-Indien: „Blickt auf die Inseln des Indischen Ozeans, wo Millionen um Millionen Kinder des verstoßenen Sohnes wohnen – des mit Recht verstoßenen Sohnes des edlen gottgefälligen Noah! Da hausen sie in den widerlichen Schlangenhöhlen heidnischen Unwissens, da beugen sie ihr schwarzes krauses Haupt unter das Joch selbstsüchtiger Priester! Da beten sie Gott an unter Anrufung eines falschen Propheten, der ein Greuel ist vor den Augen des Herrn! Und Geliebte im Herrn: als ob es noch nicht schlimm genug wäre, einem falschen Propheten zu gehorchen – sie beten sogar einen anderen Gott, was sage ich, sie beten Götter aus Holz und Stein an, die sie selbst gemacht haben nach ihrem Bilde, schwarz, widerwärtig, plattnasig und teuflisch! Ja, Geliebte im Herrn, die Tränen hindern mich fast weiterzusprechen, denn die Verderbtheit von Chams Geschlecht reicht noch tiefer! […] Krampft sich nicht das Herz zusammen, wenn man an das Los all jener Toren denkt, wenn einst die Posaune erschallen wird, die die Toten erweckt, damit die Gerechten von den Ungerechten geschieden werden? Hört ihr nicht – ja, ihr hört es, denn ihr habt aus dem Text ersehen, daß unser Gott ein mächtiger Gott ist, ein Gott des gerechten Zorns – ja, ihr hört das Krachen der Gebeine und das Knistern der Flammen in dem ewigen Gehanna, wo Heulen und Zähneklappern herrscht! Da, da brennen sie und sterben nicht, denn die Strafe dauert ewig! Da zünden unablässig die Flammen an den heulenden Opfern des Unglaubens! Da stirbt nie jener Wurm, der in den Herzen nagt, ohne sie dennoch zu vernichten, damit er immer wieder erneut in den Herzen der Abtrünnigen nagen kann! Seht, wie jenem ungetauften Kind, das kaum geboren ist, die schwarze Haut abgezogen und wie es von der Mutter Brust in den Pfuhl der ewigen Verdammnis geschleudert wird …“ An dieser Stelle fiel eine junge Frau in Ohnmacht. „Aber, Geliebte im Herrn“, fuhr Pastor Wawelaar fort, „unser Gott ist ein Gott der Liebe! Er will nicht, daß der Sünder verloren sei, sondern daß er selig werde
376 MULTATULI, Max Havelaar, S. 318.
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mit der Gnade, in Christus, durch den Glauben! Und darum sind die Niederlande auserkoren, von jenen Unseligen alle zu erretten, die eben zu erretten sind! Deshalb hat er in einer unerforschlichen Weisheit einem kleinen Land, das aber groß und stark im Glauben ist, Macht gegeben über die Bewohner jener Gebreiten, damit sie durch das heilige und hochgepriesene Evangelium vor den Strafen der Hölle errettet werden! Die Schiffe der Niederlande befahren die Meere und bringen den verirrten Javanern Kultur, Religion und Christentum! Nein, unser glückliches Niederland begehrt nicht nur für sich allein die Seligkeit: wir wollen sie auch jenen unglücklichen Geschöpfen an fernen Gestaden bringen, die in die Bande des Unglaubens, des Aberglaubens und der Sittenlosigkeit verstrickt sind!377
Pastor Wawelaar wird Drogstoppel auch versichern, daß „Rechtgläubigkeit zum Reichtum führt“.378 Die Zeichen Gottes waren für denjenigen, der sie verstehen wollte, ganz einfach. In Frankreich herrsche „Mord und Totschlag“, weil dort die Menschen dem katholischen Glauben anhingen. Und die Javaner seien arm, weil sie „Heiden“ sind. „Kürzlich“, so Drogstoppel, wurde bekannt, daß wir wieder dreißig Millionen Reingewinn aus dem Verkauf der Erzeugnisse schöpfen konnten, die die Heiden lieferten, und dabei ist noch nicht einmal eingerechnet, was ich und die vielen anderen, die von diesen Dingen leben, dabei verdient haben. Ist es nicht gerade, als ob der Herr sagte: „Hier sind dreißig Millionen als Belohnung für euren Glauben!“ Wird hier nicht der Finger Gottes sichtbar, der den Bösen arbeiten läßt, um den Gerechten zu erhalten? Ist das nicht ein Wink, auf dem rechten Weg weiterzugehen? Um drüben manches zu fördern und hier im wahren Glauben zu wachsen. Heißt es nicht: „Bete und arbeite“, damit wir beten und die Arbeit von dem schwarzen Volk verrichten lassen, das kein Vaterunser kennt?
Auf der zweiten Erzählebene ist die Geschichte von Havelaar angesiedelt, der sich als eine Art Michael Kohlhaas der niederländischen Kolonialverwaltung für das Recht der „Eingeborenen“ einsetzt und sich gegen ihre Ausbeutung auflehnt. Am Ende scheitert der gutherzige, idealistische, aufrichtige Havelaar und scheidet aus seinem Dienst aus. Zuvor hatte er in Berichten und Unterredungen auf den Mißbrauch und die Unterdrückung der „eingeborenen Bevölkerung“ durch die niederländische Kolonialverwaltung aufmerksam zu machen gesucht. Schamlos und mit Gewalt, so Havelaar, würden die javanischen Bauern durch die rücksichtslosen, einheimischen Fürsten und Häuptlinge, unterstützt von der niederländischen Kolonialverwaltung, ausgebeutet werden. Den Männern würden ihre Büffel, mit denen sie ihre Felder bestellten, weggenommen, sie würden zu Arbeiten und Abgaben gezwungen und wenn sie sich auflehnten, so würde man sie schlagen oder ermorden. Oft wurden in den offiziellen Berichten 377 Ebenda, S. 132-134. 378 Ebenda, S. 248.
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jene Gebiete, in denen Menschen verhungerten, als „Muster des Wohlstandes gerühmt“ und jene Gebiete, in denen es zu blutigen Aufständen gekommen war, als „ruhig und zufrieden“ bezeichnet.379 Doch die Vorgesetzten von Havelaar sind kritische Berichte nicht gewohnt, und sie haben auch kein Interesse daran. Auch das Vaterland erwartet nur gute Nachrichten aus der Kolonie. Opportunismus und ein „gekünstelter Optimismus“ machen sie blind gegenüber dem Leid, dem Unrecht und den Leichen, die den Weg der gepriesenen „Zivilisierung“ der „Heiden“ pflastern.380 Am Ende des Romans begibt sich Havelaar zum Generalgouverneur nach Batavia, um ihn um eine Audienz zu bitten und ihn persönlich von all den Mißständen zu unterrichten. Mehrmals wird er vertröstet. Er entschließt sich, dem Generalgouverneur, der unmittelbar vor seiner Pensionierung steht, eine Nachricht zukommen zu lassen: Was Eure Exzellenz sanktioniert haben, ist: das System des Mißbrauchs der Amtsgewalt, des Raubens und Mordens, unter das das arme javanische Volk gebeugt wird, und darüber beklage ich mich. Es schreit zum Himmel! Blut klebt an den ersparten Pfennigen ihres indischen Gehalts, Exzellenz! Ich bitte noch einmal um einen Augenblick Gehör, sei es heute nacht, sei es morgen früh! Und ich verlange das wiederum nicht für mich, sondern für die Sache, für die ich einstehe, die Sache der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, die zugleich die Sache einer recht verstandenen Politik ist. Wenn es Eure Exzellenz mit ihrem Gewissen vereinbaren können, zu reisen, ohne mich zu hören, so ist mein Gewissen ruhig in der Überzeugung, alles getan zu haben, die traurigen und blutigen Ereignisse zu verhindern, die da kommen müssen, wenn die Regierung darüber in Unkenntnis gelassen wird, was unter der Bevölkerung vor sich geht.381
Der Generalgouverneur wird keine Zeit finden, Havelaar zu empfangen. Er kehrt nach Holland zurück, in seinen wohlverdienten Ruhestand. Die tragische Liebesgeschichte zwischen Saidjah und Adinda bildet die dritte Erzählebene. Saidjahs Vater wurde durch das korrupte System ruiniert. Saidjah trennt sich für drei Jahre von seiner Geliebten, um Geld zu verdienen. Zuvor versprechen sich die beiden, einander die Treue zu halten und bei Saidjahs Rückkehr zu heiraten. Als Saidjah nach drei Jahren wieder in sein Dorf kommt, ist seine Adinda nicht mehr da. Ihre Familie hatte sich den gegen die niederländische Kolonialverwaltung aufständischen Rebellen angeschlossen. Saidjah sucht nach ihr. Als er schließlich in das Dorf kommt, wo sie und ihre Familie jetzt lebten, steht dieses in Flammen. Niederländische Soldaten hatten die aufständische Bevölkerung niedergeworfen. 379 Ebenda, S. 209. 380 Ebenda, S. 207. 381 Ebenda, S. 316-317.
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Wie ein Gespenst schweifte er durch die Häuser, die noch nicht ganz ausgebrannt waren und fand Adindas Vater als Leiche mit einer Bajonettwunde in der Brust. Neben ihm sah Saidjah die drei ermordeten Jünglinge, fast noch Kinder, und ein wenig weiter lag die Leiche Adindas, nackt, scheußlich mißhandelt […]. Ein schmaler Streifen blauer Leinwand war in die klaffende Brustwunde gedrungen, die einem langen Ringen ein Ende gemacht zu haben schien […]. Da ging Saidjah auf mehrere Soldaten zu, die mit gefälltem Gewehr die überlebenden Aufständischen in das Feuer der brennenden Häuser trieben. Er umfaßte die breiten Säbelbajonette, warf sich kraftvoll vorwärts und drängte noch mit einer letzten Anstrengung die Soldaten zurück, als die Klingen in seine Brust drangen. Kurze Zeit später herrschte in Batavia großer Jubel über den neuen Sieg, der wieder so viel Ruhm zu dem alten des niederländischen Heeres gefügt hatte. Und der Landvogt schrieb an das Mutterland, daß in Lampong die Ruhe wiederhergestellt wäre. Und der König der Niederlande belohnte auf Vorschlag seiner Staatsdiener wiederum so großen Heldenmut mit vielen Ehrenkreuzen. In der Sonntagskirche und der Betstunde stiegen wahrscheinlich aus den Herzen der Frommen Dankgebete zum Himmel, als man hörte, daß „der Herr der Heerscharen“ wiederum unter dem Banner der Niederlande mitgestritten hatte […]. Doch Gott, von so viel Leid bedrückt, war von dem Opfer nicht entzückt.382
Wie bereits erwähnt, ergreift am Ende des Romans Multatuli, dieser niederländische Vorläufer von Zola, selbst das Wort. Man mag über die Form seines Romans abfällig urteilen, aber der Inhalt, die Kernaussage sei unwiderlegbar. „Der Javaner wird mißhandelt.“ Er wolle Gehör finden, alle Menschen davon in Kenntnis setzen, daß die Rechenschaftsberichte der Kolonialverwaltung falsch seien, Einspruch erheben gegen die „schändliche Feigherzigkeit“, zeigen, daß die „eingeborene“ Bevölkerung mißhandelt und ausgebeutet werde und diese in verzweifelten Aufständen, welche von der Kolonialmacht brutal niedergeschlagen würden, nichts anderes suche als eine Milderung ihrer Situation. Multatuli kündigt an, sein Buch in fremde Sprachen zu übersetzen, um es aller Welt zu sagen: „Es liegt ein Raubstaat am Meer zwischen Ostfriesland und der Schelde.“ Auch in die Sprachen der „Eingeborenen“, ins „Malaiische, Javanesische, Sundanesische, Alfurische, Bugineische, Battakische“ usw. werde er sein Buch übertragen. Und ich würde waffenklirrende Kriegsgesänge in den Seelen der armen Märtyrer erwecken, denen ich Hilfe versprochen habe, ich Multatuli. Rettung und Hilfe auf gesetzlichem Wege, wenn es geht … auf dem gesetzlichen Wege der Gewalt, wenn es sein muß. Und das würde sich sehr nachteilig auswirken, auf die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft.
382 Ebenda, S. 275.
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Denn ich bin kein Dichter, der Fliegen rettet, kein sanftmütiger Träumer wie der mit Füßen getretene Havelaar, der seine Pflicht tat mit dem Mut des Löwen und Hunger litt mit der Geduld des Murmeltieres im Winter. Das Buch ist ein Anfang. Ich werde an Kraft und Schärfe der Waffen zunehmen in dem Maße, wie es nötig wird … Gebe Gott, daß es nicht nötig ist! Nein, es wird nicht nötig sein! Denn ich widme dieses Buch dir, Wilhelm III., König, Großherzog, Fürst … mehr als Fürst, Großherzog und König … Kaiser des herrlichen Reiches Insulinde, das sich um den Äquator schlingt wie ein Gürtel von Smaragd … Und dich darf ich vertrauensvoll fragen, ob es dein kaiserlicher Wille ist: Daß Havelaar mit dem Schmutz der Slymerings und Drogstoppel beworfen wird? Und daß dort drüben mehr als dreißig Millionen deiner Untertanen mißhandelt und ausgesogen werden in deinem Namen?383
Im Erscheinungsjahr von Max Havelaar (1860) marschieren britische und französische Truppen in Peking ein, zerstören den kaiserlichen Sommerpalast und erzwingen die Ratifizierung des zwei Jahre zuvor geschlossenen Vertrages von Tsientsin. Europas politischer, kultureller und ökonomischer Einfluß auf China wächst. Botschafter werden nach China geschickt, christliche Missionen gegründet und chinesische Häfen für den europäischen Handel geöffnet. Ein Jahr später wird China ein neues Ministerium für ausländische Beziehungen etablieren. „The old myth that all the world recognized the Mandate of Heaven and owed tribute to the imperial court was dead.“384 Wenden wir unseren Blick nun von Insulinde und China abschließend noch kurz in die USA des Jahres 1860. Nachdem Buffalo Bill im Jahre zuvor zweieinhalb Monate ohne Unterbrechung zur Schule gegangen war, – wie er anmerkt, „the longest period of schooling that I ever received in my life“ –, bewirbt sich der mittlerweile fünfzehnjährige Amerikaner bei seinem ehemaligen Arbeitgeber Russell, Majors, & Waddell als Reiter für den Pony Express. Der Pony Express, der im Frühjahr 1860 gegründet wurde, war die zu dieser Zeit schnellste Postverbindung.385 Er führte von St. Joseph am Missouri nach Sacramento in Kalifornien. Die Streckenlän383 Ebenda, S. 320. 384 J. M. ROBERTS, The Penguin History of the World, S. 805. 385 Zum Pony Express vgl. u. a. THE PONY EXPRESS NATIONAL MUSEUM, St. Joseph, Missouri, online unter http://www.ponyexpress.org/ index.htm (Zugriffsdatum 9. Dezember 2003); Keith L. BRYANT, Jr., Entering the Global Economy, in: Clyde A. MILNER II, Carol O’CONNOR, Martha A. SANDWEISS (Hg.), The Oxford History of the American West, New York-Oxford: Oxford University Press 1996 [1994], S. 195-235, hier S. 211-212; Ulrich van der HEYDEN (Hg.), Indianer-Lexikon: Zur Geschichte und Gegenwart der Ureinwohner Nordamerikas [Stichwort: Pony Express], Wiesbaden: VMA-Verlag 1996, S. 259-260.
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ge betrug rund 2.000 Meilen. In der Regel brauchte das stafettenmäßig organisierte Reitersystem etwa 9 bis 10 Tage, um einen Brief auf dieser Strecke zu befördern.386 Der Pony Express bestand aus rund 400-500 Pferden, 150-190 Zwischenstationen und etwa 80-100 Reitern. Hinzu kamen pro Station ein Vorsteher und ein Pferdepfleger. Täglich waren etwa 40 Reiter in beide Richtungen unterwegs. Die Pferde wurden alle 10 bis 15 Meilen ausgewechselt, die Reiter alle 75 bis 100 Meilen. Die Reiter durften nicht schwerer sein als 125 Pfund, ihre Satteltasche mit Eilpost wog ungefähr 15 Pfund. Über sein Einstellungsgespräch als Reiter für den Pony Express berichtet Cody in seiner Autobiographie folgendes: „My boy, you are too young for a pony express-rider. It takes men for that business.“ „I rode two months last year on Bill Trotter’s division, sir, and filled the bill then; and I think I am better able to ride now“, I said. „What! are you the boy that was riding there, and was called the youngest rider on the road?“ „I am the same boy“, I replied, confident that everything was now all right for me. „I have heard of you before. You are a year or so older now, and I think you can stand it. I’ll give you a trial anyhow and if you weaken you can come back to Horseshoe Station and tend stock.“ That ended our first interview.387
Am nächsten Tag wird Cody angewiesen, eine Strecke von 76 Meilen zu bewältigen. Ohne Schwierigkeiten meistert er diese Aufgabe und wird schon bald zu einem der bekanntesten Reiter des Pony Express. Eines Tages als er zu einer Zwischenstation kam – der Pferdewechsel betrug in der Regel nur wenige Minuten –, erfuhr er, daß der Reiter, der ihn hätte ablösen sollen, had got into a drunk row the night before and had been killed; and that there was no one to fill his place. I did not hesitate for a moment to undertake an extra ride of eighty five miles to Rocky Ridge, and I arrived at the latter place on time. I then turned back and rode to Red Buttes, my starting place, accomplishing on the round trip a distance of 322 miles.388
Der Pony Express führt durch ein Gebiet, das von weißen Siedlern noch kaum erschlossen ist, durch gefährliches „hostile country“, wo Indianer 386 Nach den statistischen Angaben des Pony Express National Museum dauerte der schnellste Ritt 7 Tage und 17 Stunden. In der Satteltasche der Reiter befand sich die Inaugural Address von Abraham Lincoln. Siehe http://www.ponyexpress.org/faqs.htm (Zugriffsdatum 9. Dezember 2003). 387 CODY, The Life of Buffalo Bill, S. 104. 388 Ebenda, S. 105.
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und Pferdediebe ihr – wie Cody gesagt hätte – Unwesen trieben. Immer wieder kam es zu bewaffneten und blutigen Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Indianern. Im September 1860 überfällt eine Gruppe von Indianern eine Kutsche, die entlang der Route des Pony Express reiste. Der Kutscher und zwei Passagiere werden getötet. Cody berichtet: The red-skinned thieves also drove off the stock from the different stations, and were continually lying in wait for the passing stages and pony express-riders, so that we had to take many desperate chances in running the gauntlet. The Indians had now become so bad and had stolen much stock that it was decided to stop the pony express for at least six weeks, and to run the stages but occasionally during the period; in fact, it would have been almost impossible to have run the enterprise much longer without restocking the line.389
Eine Gruppe bestehend aus Reitern des Pony Express, Stage-Drivers, Ranchers und Cowboys, die an den Zwischenstationen auf die Herden aufpassen, beschließt, das gestohlene Vieh und die Pferde von den Indianern zurückzuholen. Auch Cody nimmt an dieser Expedition teil. Seine Kollegen beschreibt er als „mostly men who had undergone all kinds of hardships and braved every danger, and they were ready and anxious to ,tackle‘ any number of Indians. Wild Bill […] was elected captain of the company.“390 Die rund 40 Mann zählende Truppe stößt in das „heart of the hostile country“ vor. Die Indianer sind auf diesen Angriff nicht vorbereitet. The Indians thinking themselves in comparative safety – never before having been followed so far into their own country by white men – had neglected to put out any scouts. They had no idea that there were any white men in that part of the country. We got the lay of their camp, and then held the council to consider and mature a plan for capturing it. We knew full well that the Indians would outnumber us at least three to one, and perhaps more.391
Codys Truppe beschließt, die Nacht abzuwarten und dann einen Überraschungsangriff auf das Lager der Indianer zu machen, „open a general fire on them, and stampede the horses“.392 Der Plan wird in die Tat umgesetzt. Die Weißen holen alle Pferde zurück und zusätzlich noch hundert indianische Ponys. Nach ihrer Heimkehr veranstalten die wagemutigen Weißen ein rauschendes Fest. The „boys“ became so elated as well as „elevated“ over their success against the Indians, that most of them were in favor of going back and cleaning out the whole race. One old driver especially, Dan Smith, was eager to open a war on all 389 390 391 392
Ebenda, S. 106-107. Ebenda. Ebenda, S. 108. Ebenda.
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hostile nations, and had the drinking been continued another week he certainly would have undertaken the job, single-handed and alone.393
Obgleich der Pony Express nach nicht einmal zwei Jahren seine Tätigkeit einstellte, trug er doch in entscheidendem Maße dazu bei, das „Bild vom Wilden Westen“ zu prägen.394 Abgelöst wurde der Pony Express durch die im nächsten Jahr erfolgte Einführung eines Kommunikationsmittels, das sich als weit schneller erweisen sollte als das Stafettensystem der tollkühnen Reiter.
D i e J a h r e vo n 1 8 6 1 b i s 1 8 6 9 : E i n w i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t l i c h e s T e l e g r a m m 395 Ehe ich mich den Ereignissen der letzten drei Jahre der „anthropologischen Gründerzeit“ ausführlich widme, möchte ich den Zeitraum von 1861 bis 1869 im Eilschritt zurücklegen und nur einige kurze Seitenblicke auf bedeutende ideen- und realgeschichtliche Ereignisse dieser Jahre werfen. Im Jahr 1861 veröffentlichte der in der Tradition der historischen Schule stehende Rechtsgelehrte und Altertumswissenschaftler Johann J. Bachofen (1815-1887) sein Werk Das Mutterrecht (1861). In diesem skandalträchtigen Buch skizzierte Bachofen die ursprüngliche durch schrankenlose Promiskuität und „Sumpfzeugung“ geprägte Stufe des Menschengeschlechts, die seiner Ansicht nach von der Phase eines Mutterrechts abgelöst wurde. Im gleichen Jahr erschien das ebenfalls in der historischen Schule wurzelnde Werk Ancient Law: Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas (1861) von Sir Henry Sumner Maine (1822-1888), eine für die kulturevolutionistische Rechtsethnologie richtungsweisende Arbeit.396 Ausgehend von Untersuchungen zum römischen Recht suchte Maine Rückschlüsse auf die ältesten und, wie er meinte, bei allen Völkern gleichen Rechtsverhältnisse zu ziehen. Die Einheit und das Rechtssubjekt der archaischen Gesellschaft sei die Großfamilie, in der modernen Gesellschaft hingegen das Individuum.397 Ursprünglich sei ein Verbrechen ein „corporate act“ gewesen, für den alle Mitglieder der Gemeinschaft, unabhängig von der Frage ihrer persönlichen Beteiligung am
393 Ebenda. 394 Vgl. Heyden (Hg.), Indianer-Lexikon, S. 259-260. 395 Vgl. im folgenden auch die Chronologie von T. K. PENNIMAN, A Hundred Years of Anthropology, London: Duckworth 1935, S. 357. 396 Vgl. hierzu George W. STOCKING, Victorian Anthropology, New York: The Free Press 1991, S. 117-128. 397 Sir Henry S. MAINE, Ancient Law: Its Connection With the Early History of Society and Its Relation to Modern Ideas, o. O.: Dorset Press 1986 [1861], S. 104.
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Verbrechen, verantwortlich gemacht wurden.398 Die Entwicklung des Rechtswesens, so Maine in seiner berühmten Formulierung, sei demnach ein „movement from status to contract“.399 Status bezeichnet hier nicht einen Rang in der sozialen Hierarchie, sondern, im Gegensatz zum Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit des Vertrags, die an die Großfamilie gebundene kollektive Verantwortlichkeit. Im Erscheinungsjahr der beiden rechtsethnologischen Klassiker versammelten sich in Göttingen prominente deutschsprachige Anthropologen zu einem von Rudolf Wagner und Karl E. von Baer organisierten Kongreß, um über eine Standardisierung und Vereinheitlichung anthropometrischer Meßverfahren zu beraten. An bahnbrechenden Erfindungen bzw. technischen Innovationen des Jahres 1861 seien hier nur zwei genannt: In diesem Jahr stellt der Lehrer Philipp Reis (1834-1874) die Konstruktion seines Fernsprechers, das Telephon, deutschen Professoren vor, die jedoch wenig Interesse an seiner Erfindung zeigen. Nur wenig später sollte dieser Apparat, in verbesserter Form, zu einem zentralen Kommunikationsmittel werden. Im Jahre 1861 wird in den USA die erste transkontinentale Telegraphenleitung in Betrieb genommen. In der ersten von Sacramento nach Washington geschickten Depesche soll Lincoln versichert worden sein, daß Kalifornien der Union die Treue halten und sie im Kampf gegen die Staaten der Sklavenhalter unterstützen werde.400 Die Einführung der Telegraphenleitung bedeutete auch das Ende des Pony Express. Im Jahr 1862 gründet Karl Andree, ein fanatischer deutscher „Gobineaute“ und Popularisator der zum geflügelten Wort avancierenden Phrase von der „Aristokratie der Haut“, den Globus: Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde. Chronik der Reisen und Geographische Zeitung.401 Im Unterschied zu anderen länder- und völkerkundlichen Zeitschriften werde sich, so Karl Andree, der Globus insbesondere auch tagespolitischen Fragen widmen und versuchen, dieses Gebiet vom ethnologischen Standpunkt zu erhellen. Gerade für ein Verstehen der politischen Geschichte seien nämlich die neuen ethnologischen Erkenntnisse, daß es „höher und tiefer organisirte Racen“ gebe und daß die „großen Menschenfamilien“ äußerst „verschiedene Culturwerthe“ besäßen, von zentraler Bedeutung.402 In den Bänden des thematisch breit gefächerten Globus werden in den nächsten Jahrzehnten fast alle wichtigen Neuerscheinungen der 398 Ebenda, S. 105 399 Ebenda, S. 141. 400 Vgl. Karl F. NEUMANN, Der Telegraph vom Atlantischen zum Stillen Ocean und seine Weiterführung nach Asien, in: Zeitschrift für Allgemeine Erdkunde N. F. 18 (1865), hier S. 65. 401 Wenige Jahre später wurde der Zusatz zum Titel „Chronik der Reisen und Geographische Zeitung“ durch den neuen Zusatz „Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie“ ersetzt. 402 Karl ANDREE, Vorwort, in: Globus: Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde. Chronik der Reisen und Geographische Zeitung, 1 (1862), S. III-IV, hier S. IV.
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„jungen“ Anthropologie in allgemein verständlicher Form besprochen. Im Jahr 1862 spielt auch der Roman Fünf Wochen im Ballon (1863), der seinen Verfasser Jules Verne (1828-1905) weltberühmt machen sollte.403 Im Mittelpunkt dieses Buches steht die abenteuerliche Entdeckungsreise durch das noch unbekannte Innere Afrikas, die Dr. Samuel Fergusson gemeinsam mit seinem Freund Dick Kennedy, einem exzellenten Jäger, und seinem schlauen und geschickten Diener Joe unternimmt. Der Held des Romans, Samuel Fergusson, war überzeugt, daß es „höchste Zeit“ sei, diese Expedition nach Zentralafrika zu unternehmen, „wenn wir nicht riskieren wollen, daß uns andere den Rang ablaufen“.404 Denn „das neunzehnte Jahrhundert“, so Fergusson, werde „nicht zu Ende gehen […], ohne daß dieser Erdteil seine Geheimnisse preisgeben müßte“.405 Die drei Wagemutigen beginnen ihren Erkundungsflug von Sansibar aus, entdecken sodann eine der Nilquellen und nehmen, nachdem sie das insbesondere durch die Expeditionen von Speke und Burton „erschlossene“ Ostafrika überflogen haben, eine kartographische Erfassung der unerforschten zentralafrikanischen Gebiete vor. Immer wieder begegnen sie „wilden Heiden“, die den Ballon als Göttin des Mondes verehren. Bei Yola im heutigen Nigeria gelangen die drei Reisenden wieder in Gebiete, die durch die Forschungen von Heinrich Barth „entdeckt“ worden waren. Nach Abstechern zum Tschadsee und nach Timbuktu erreichen sie schließlich in Senegal die Westküste Afrikas. Teile des Romans von Jules Verne lesen sich wie ein für den interessierten Laien verfaßtes Lehrbuch über die jüngsten Entdeckungsreisen in Afrika. Dieser didaktische Realismus wird jedoch immer wieder durch ironische Bemerkungen durchbrochen, die es dem französischen Autor ermöglichen, die großen Erwartungen und das Entdeckungsfieber seiner Zeit zu überzeichnen und zu karikieren.406 Schließlich weist der Roman 403 Jules VERNE, Fünf Wochen im Ballon, Berlin: Verlag Neues Leben 1983 [1863]. 404 Ebenda, S. 26. 405 Ebenda, S. 42. 406 Vgl. etwa die Schilderung der Sitzung der Königlichen Geographischen Gesellschaft zu London, im Rahmen derer ihr Präsident in einer Rede das Unternehmen von Fergusson ankündigt: „Der Sitzungssaal bebte fast in seinen Grundfesten. Sie waren zahlreich versammelt, die gealterten, erschöpften, kühnen Reisenden, sie, die nimmermüder Forscherdrang durch alle fünf Erdteile geführt hatte. Alle waren […] mehr oder weniger, physisch oder moralisch, Schiffbrüchen entronnen, Feuerbrünsten, den Tomahawks der Indianer, den Keulen der Patagonier, dem Marterpfahl oder den Mägen der Polynesier! Aber nichts vermochte ihr Herzklopfen zu unterdrücken, während Sir M… sprach, und seit Menschengedenken war dies gewiß der höchste rednerische Erfolg in der Königlich Geografischen Gesellschaft zu London.“ Über den Helden des Romans heißt es: „Fergusson besaß eine erstaunliche Konstitution, die alle Strapazen spielend überwand. Je größer die Entbehrungen wurden, desto wohler fühlte er sich. Kurz er war der geborene Weltreisende und Entdecker, dessen Magen sich auf
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auch Züge jenes Genre auf, das man später als science fiction bezeichnen sollte und das untrennbar mit dem Namen von Jules Verne verbunden ist. Daß gerade diese Literaturgattung in der „anthropologischen Gründerzeit“ eine Blüte erlebte, ist wohl kein Zufall. Vernes science fiction speist sich in entscheidendem Maße aus der Faszination der neuen technischen Möglichkeiten, dem naturwissenschaftlichen Fortschrittsglauben und nicht zuletzt auch aus dem geographischen Entdeckungsfieber. Gerade im Fiktiven und Utopischen von Verne erscheint die reale Signatur seines Zeitalters nur allzu deutlich erkennbar. Fergussons „phantastische“ Entdeckung der Nilquellen wurde übrigens im gleichen Jahr beinahe von der Realität eingeholt. In dem in Petermanns Mittheilungen erschienen Beitrag „Die Entdeckung der Nil-Quelle durch Capt. Speke und Capt. Grant“ heißt es: Das grosse Räthsel ist gelöst! Was seit Jahrtausenden angestrebt wurde, gelang unserer thatkräftigen Zeit, dem Nil ist das Geheimniss seines Ursprungs entrissen. Captain J. H. Speke ist der Auserwählte unter so Vielen, dem es gelungen, das Ziel zu erreichen. Sein Name wird fortan unter denen der berühmtesten Entdekker aller Zeiten genannt werden und er hat diesen Triumph hart erkämpft.407
Im Jahr 1862 gelingt es dem Landvermesser und Entdeckungsreisenden John McDouall Stuart, den australischen Kontinent von Adelaide im Süden nach Darwin im Norden zu durchqueren und wieder nach Adelaide zurückzukehren. Bei seiner Heimkehr nach diesem rund 2.000 Meilen langen Rückweg war Stuart fast erblindet. Die beiden Forscher Robert Burke und William Wills waren übrigens auf dem Rückweg ihrer im Vorjahr unternommenen, ersten transkontinentalen Süd-Nord-Durchquerung Australiens, die von Melbourne zum Golf von Carpentaria führte, umgekommen. Nur wenige Jahre nach Stuarts Reise sollte entlang seiner Route die erste
Wunsch zusammenzieht oder ausdehnt, dessen Beine sich nach dem improvisierten Lager verlängern oder kürzer werden und der zu jeder Tageszeit schlafen und zu jeder beliebigen Stunde der Nacht erwachen kann.“ Ebenda, S. 6 und 9. 407 N. N., Die Entdeckung der Nil-Quelle durch Capt. Speke und Capt. Grant, in: Petermanns Mittheilungen 9 (1863), S. 229-232, hier S. 229. Siehe auch Heinrich BARTH, Capt. Speke’s Entdeckung des Abflusses des einen Nilarmes aus dem See Ukeréwe, im Zusammenhang mit den ethnographischen Verhältnissen jener Gegend (Vortrag gehalten in der Sitzung am 6. Juni), in: Zeitschrift für Allgemeine Erdkunde N.F. 14 (1863), S. 430-447. Nur am Rande sei bemerkt, daß das Rätsel der Quelle des „Weißen Nils“ von Speke doch nur zum Teil gelöst wurde, da er den genauen Verlauf des Flusses bis Gondokoro kartographisch nicht ausreichend dokumentiert hatte. Erst später, nach der Erforschung des Gebietes um den Albertsee, der Speke zum Zeitpunkt seiner Entdeckung noch unbekannt war, sowie nach der Erforschung der Nil-Kongo-Wasserscheide sollte das Rätsel des Ursprungs des Nils endgültig gelöst sein.
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transkontinentale Telegraphenleitung entstehen.408 Im Jahr 1862 ist die indigene Bevölkerung von Tasmanien auf acht Personen, einen Mann und sieben Frauen, geschrumpft. Von diesen acht letzten Vertretern nimmt R. R. Fr. Nixon, der Bischof von Tasmanien, photographische Bilder auf, die er den in Europa weilenden Anthropologen vorlegt.409 Im Jahr 1863 veröffentlicht Wilhelm Wundt (1832-1920) seine Vorlesungen über die Menschen- und Thier-Seele, in denen er sich auch mit der Frage nach den Anfängen der sittlichen Ideen der Menschheit auseinandersetzt. Für die Beantwortung dieser Frage, so Wundt, könne auf das Material der Völkerkunde nicht verzichtet werden. Denn aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive seien die „Naturvölker“ nicht nur im Bereich der Technik, der Politik und der Ökonomie, sondern auch im Bereich der Moral die Vorläufer der „Kulturvölker“. Dem „Naturmenschen“ ließe sich nämlich „das sittliche Leben keineswegs absprechen. Von Anfang an ist es in Keimen vorhanden“.410 Im gleichen Jahr findet Boucher de Perthes in Abbeville die ersten Spuren menschlicher Besiedelung, die berühmte Kinnlade von Moulin-Quignon. Ein internationales wissenschaftliches „Schwurgericht“ wird eingesetzt, das am 13. Mai 1863 zu dem Urteil kommt, „daß die Kinnlade ächt sein und wirklich da gelegen habe, wo sie gefunden worden sei, sowie daß sie gleichzeitig mit den diluvialen Kieseläxten sei“.411 Im Jahr 1863 erscheinen auch The Geological Evidences of the Antiquity of Man, with remarks on theories of the origin of species by varieties (1863) von Charles Lyell. Der englische und wahrscheinlich bekannteste Geologe seiner Zeit stellte in diesem Werk, für das er zahlreiche prähistorische Fundstätten persönlich in Augenschein genommen hatte, das bislang bekannte Material über den „vorgeschichtlichen Menschen“ zusammen, unterzog es einer kritischen Analyse und sprach sich für die Existenz des „vorgeschichtlichen“ Menschen aus. 1863 ist auch das große Jahr der Darwiniana.412 In diesem Jahr veröffentlicht Lyells Landsmann Thomas H. Huxley, „Darwins Bulldogge“, seine Evidences as to man’s place in nature (1863). „Die Frage aller Fra408 Hierzu Shona GRIMBLY (Hg.), Grosser Atlas der Forscher und Entdecker, München: Orbis Verlag 2003 [Engl. Original 2001], S. 139-142. 409 Vgl. Hermann SCHAAFFHAUSEN, Ueber den Zustand der wilden Völker, in: Archiv für Anthropologie 1 (1866), S. 161-190, hier S. 189. 410 Wilhelm WUNDT, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Zweiter Band, Berlin-Heidelberg-New York: Springer-Verlag 1990 [= Reprint der bei Voß in Leipzig erschienenen Ausgabe von 1863], S. 139. 411 Ludwig BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oder: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, Leipzig: Verlag Theodor Thomas 21872, S. 32. 412 Vgl. hierzu die Ausführungen von Gerhard HEBERER, Einleitung, in: Thomas H. HUXLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus, übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1963 [1863], S. 1-53.
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gen für die Menschheit“, so Huxley, sei „die Bestimmung der Stellung, welche der Mensch in der Natur einnimmt und seiner Beziehung zu der Gesamtheit der Dinge“.413 Und für diese Bestimmung der Stellung des Menschen in der Natur sei entscheidend, daß zwischen ihm und der Tierwelt weder in anatomisch-physiologischer noch in psychischer Hinsicht eine klare Trennungslinie gezogen werden könne. Manche, so Huxley, empörten sich bei diesem Gedanken einer Einheit des Tier- und Menschenreichs und befürchteten, daß dies eine „Vertierung und Erniedrigung des Menschen“ bedeutete: Ist dem aber wirklich so? Könnte nicht ein einigermaßen verständiges Kind mit naheliegenden Beweisen die seichten Redner zurückweisen, die uns diesen Schluß aufnötigen wollen? Ist es wirklich wahr, daß der Poet, Philosoph oder Künstler, dessen Genius der Ruhm seiner Zeit ist, von seiner hohen Stellung erniedrigt wird durch die unzweifelhafte historische Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen, Gewissheit, daß er der direkte Abkömmling irgendeines nackten und halbtierischen Wilden ist, dessen Intelligenz gerade hinreichte, ihn etwas verschlagener als den Fuchs, dadurch aber um so mehr gefährlicher als den Tiger zu machen? Oder muß er heulen und auf allen vieren kriechen wegen der außer aller Frage stehenden Tatsache, daß er früher ein Ei war, das keine gewöhnliche Unterscheidungskraft von dem eines Hundes unterscheiden konnte? Oder muß der Menschenfreund und Heilige den Versuch, ein edles Leben zu führen, aufgeben, weil das einfachste Studium der menschlichen Natur auf ihrem Grunde alle die selbstsüchtigen Leidenschaften und die wilden Begierden der gewöhnlichen Vierfüßler offenbart? Ist Mutterliebe gemein, weil eine Henne sie zeigt, oder Treue niedrig, weil ein Hund sie besitzt?414
Im gleichen Jahr erscheint auch das zweibändige Werk Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde (1863) von Karl Vogt.415 Auch Vogt, der anfänglich der Darwinschen Lehre skeptisch gegenüberstand, konvertierte zur Deszendenztheorie und zog in seinen Vorlesungen mit der ihm eigenen schneidenden Schärfe und seinem Hang zu provokanten Formulierungen gegen die „Zunft der Philosophen“ zu Felde, die „sich aufs hohe Roß [setzt] und […] an den Geist [appelliert], an die Seele, an die Vernunft, an das Selbstbewusstsein, und wie die immanenten Eigenschaften des Menschen alle heißen mögen, je 413 Thomas H. HUXLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus, übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1963 [1863], S. 100. 414 Ebenda, S. 144. 415 Nur am Rande sei angemerkt, daß Vogt in einigen zentralen Fragen – etwa der des polygenetischen Ursprungs der Menschheit – andere Auffassungen als Darwin vertrat. Vogt argumentierte – meines Wissens zumindest in den frühen 1860er Jahren –, daß die „Menschenrassen“ von drei unterschiedlichen Affen, nämlich vom Gorilla, vom Schimpansen und vom Orang-Utan, abstammten.
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nachdem sie in diesem oder jenem philosophischen Prisma sich reflektieren“, gegen jene Philosophen also, die bei dem Gedanken einer Affenähnlichkeit des Menschen erschaudern.416 „Wer Karl Vogt kennt“, heißt es in einer Rezension seiner Vorlesungen, „der wird, bevor er nur die zwei Bände seines neuesten Buches aufgeschnitten hat, im voraus errathen daß er mit einem großen Gaudium sich auf die Affenverwandtschaft geworfen habe. Und in der That an manchen Stellen ist ihm ganz kannibalisch wohl“.417 Im gleichen Jahr hielt auch der erst neunundzwanzigjährige Ernst Haeckel auf der 38. Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Stettin einen Vortrag über die Darwinsche Deszendenztheorie.418 „Nach Allem“, erklärte Haeckel in diesem Vortrag, was wir von den frühesten Zeiten menschlicher Existenz auf der Erde wissen, sind wir zu der Annahme berechtigt, daß auch der Mensch weder als eine gewappnete Minerva aus dem Haupte des Jupiter hervorgesprungen, noch als ein erwachsener sündenfreier Adam aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist, sondern sich nur äußerst langsam und allmählich aus dem primitiven Zustande thierischer Rohheit zu den ersten einfachen Anfängen der Cultur emporgearbeitet hat.419
Im Jahr der Darwiniana werden in London eine Anthropologische Gesellschaft sowie neue Publikationsorgane der jungen Wissenschaft gegründet. Auch in Moskau entsteht eine anthropologische Vereinigung. Und schließlich wird im Jahre 1863 auch der Fuhlrottsche „Urmensch“ auf den Namen homo neanderthalensis getauft. Auf einem Fest des Gouverneurs von Hobart Town, der Hauptstadt von Tasmanien, erscheint im Jahr 1864 der letzte tasmanische „Eingeborene“. Drei Frauen seiner „Rasse“ begleiten ihn. Eine Zeitung von Hobart
416 Vogt zit. nach Gerhard HEBERER, Einleitung, in: Thomas H. HUXLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus, übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1963 [1863], S. 1-53, hier S. 29. 417 N. N., Karl Vogts Untersuchungen über den Ursprung des Menschen, in: Das Ausland: Eine Wochenschrift für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland 37 (1864), S. 697-705. 418 Vgl. hierzu Andrea FRUHWIRTH, Wissenschaft als Religionsersatz. Ernst Haeckels Monismus im Urteil anderer „wissenschaftlicher Weltauffassungen“ seiner Zeit, in: Sabine A. HARING, Katharina SCHERKE (Hg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und 2000 (= Studien zur Moderne 12), Wien: Passagen Verlag 2000, S. 35-59. 419 Ernst Haeckel zit. nach Hans QUERNER, Die Anthropologie auf den Versammlungen der Deutschen Naturforscher und Ärzte bis zur Gründung der Gesellschaft für Anthropologie 1869, in: Christian ANDREE (Hg.), Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869-1969. Erster Teil: Fachhistorische Beiträge, Berlin: Bruno Heßling 1969, S. 143-156, hier S. 155.
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Town hat dem letzten Tasmanier bereits eine Grabinschrift gesetzt: „Als Wilde haben wir sie angetroffen, als Wilde haben sie gelebt, als Wilde sind sie hingegangen!“420 Im gleichen Jahr berichtet Hermann Schaaffhausen über die tasmanischen „Eingeborenen“, zeigt und erörtert die bereits erwähnten, von Bischof Nixon gemachten Photographien der letzten Vertreter dieses „Stammes“. Das körperliche Erscheinungsbild keiner anderen „Race“, so heißt es in einem Bericht über Schaaffhausens Vortrag, verrate „eine so große Aehnlickeit mit dem Affen“.421 Auch hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten gehörten diese „Wilden“ dem „rohesten Menschentypus“ an. Bezeichnend hierfür sei die Bemerkung von Bischof Nixon, „daß er von jedem Versuche dieselben zum Christentum zu bekehren[,] habe absehen müssen, indem die Armuth ihrer Sprache und Begriffe jede höhere religiöse Vorstellung unmöglich mache“.422 Der ungemeine Kontrast zwischen der sich unaufhaltsam weiter entwickelnden „Zivilisation“ und der verschwindenden „Wildheit“ wird zu einem, wenn nicht dem Topos populärwissenschaftlicher Darstellungen der Menschheitsgeschichte in den 1860er Jahren. Schon die barocken Titel dieser Darstellungen scheinen zu verraten, daß die Anthropologie zusehends jene Deutungsfunktion übernimmt, die ehemals sich die vornehmlich auf die „Culturvölker“ beschränkende und ohne „prähistorische Zeugnisse“ auskommende Geschichtsphilosophie innehatte. Eine dieser Darstellungen aus dem Jahr 1864 trägt den Titel: Der Mensch, die Räthsel und Wunder seiner Natur, Ursprung und Urgeschichte seines Geschlechts sowie dessen Entwickelung vom Naturzustande zur Civilisation. Nach den neuesten Forschungen der Naturwissenschaft und Geschichte (1864). Hierin heißt es: Was ist es für ein trauriges Ding, das an den Ufern des Amazonenstromes in einer schwankenden, aus Blättern und Zweigen zusammengebauten Hütte wohnt, die ihm der nächste Sturm über dem Kopfe entführt, und was ist es für ein gewaltiges Geschöpf, das mitten in dem Toben desselben Sturmes den wogenden Strom hinauffährt und sich tragen läßt von den Flügeln des Windes, der die Bäume niederbricht in dem Walde, den der arme Indier bewohnt. Welch ein armes Geschöpf ruht dort im dürren Grase, an einem dürftigen Feuer sich die Heuschrecken bratend, die zum Mittagstische gefangen worden sind, und wie reich und glücklich wohnt unsern davon der Mann, der in des Hochofens Gluth die Erze schmilzt, oder der Kiesel und Thon zu Porzellan vereinigt. Welch ein Unterschied ist zwischen dem Menschen, der vergiftete Pfeile aus seinem Blaserohr schießt und demjenigen, der mit dem ferntragenden Feuergewehr nicht nur den 420 SCHAAFFHAUSEN, Ueber den Zustand der wilden Völker, S. 189. 421 N. N., [Bericht über den Vortrag von Schaaffhausen:] Die Eingebornen Tasmaniens (Aus dem Sitzungsberichte der Niederrhein. Gesellschaft vom 8. Juni 1864), in: Das Ausland: Eine Wochenschrift für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland 37 (1864), S. 935-936, hier S. 936. 422 Ebenda.
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Löwen, sondern das gepanzerte Krokodil bewältigt, die Erde reinigt von den Ungeheuern, die ihn belästigen. […] Der Wilde hört das leise Knistern des Reisigs unter dem Tritt des Rehes, der civilisirte Mensch erfindet Hörrohre und Sprachrohre, trägt seine Stimme und sein Commandowort durch das Brausen des Sturmes und durch den wilden Lärm der Hammerwerke auf Tausende von Schritten von Mund zu Ohr. Der Wilde vermag den Hirsch zu verfolgen, bis er ermüdet, erschöpft seinen Feind erwartet, der civilisirte Mensch erfindet Locomotiven und sein Dampfwagenzug überbietet bei Weitem die Schnelligkeit des Vogels und die Schnelligkeit des Sturmwindes. Der Wilde vertraut sich ohne Furcht dem Strome an und schwimmt meilenweit mit demselben, die Civilisation baut ganze Häuser, ja man möchte sagen, ganze Städte und Festungen, um sie auf das Meer zu setzen und ohne Hülfe des Windes sie durch die Kraft des Dampfes über die Meere zu führen.423
Im Herbst 1864 erscheint die erste Ausgabe der von Gabriele de Mortillet (1821-1898) herausgegebenen, der prähistorischen Archäologie gewidmeten berühmten Zeitschrift Matériaux pour l’histoire positive et philosophique de l’homme.424 Im gleichen Jahr finden der Franzose Édouard Lartet und sein englischen Freund Henry Christy im Zuge von Ausgrabungen in der Dordogne ein Stück Elfenbein, auf dem die Figur eines Mammut eingraviert ist. Gemeinsam publizieren sie in diesem Jahr einen Aufsatz über die Kunst des Rentierzeitalters in der neu gegründeten Revue Archéologique.425 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Lartet, den Angaben von Ludwig Büchner zufolge, bereits an siebzehn Plätzen Knochen sogenannter „Diluvialthiere“ gefunden, die durch menschliche Einwirkungen modifiziert worden waren. Nicht nur seien die Knochen bearbeitet worden, um das Mark zu entnehmen, sondern es fanden sich auch zahlreiche Spuren künstlerischer Bearbeitung und sogar Zeichnungen, Modellirungen u. dgl. Es sind rohe Figuren oder Umrisse, meist damals lebende Thiere vorstellend und mit Feuerstein auf die Knochen und Geweihe von Renthier, Riesenhirsch u. s. w. eingeritzt. […] Ja selbst die mangelhaften Umrisse einer Menschenfigur sind auf einem gravirten Renthier-Hornstück zwischen zwei sehr charakteristischen Pferdeköpfen aufgefunden worden. Die Zeichnungen sind zwar sehr roh, oft von großer Naivetät [sic] und verrathen die Kunst in ihrer 423 W. F. H. ZIMMERMANN, Der Mensch, die Räthsel und Wunder seiner Natur, Ursprung und Urgeschichte seines Geschlechts sowie dessen Entwickelung vom Naturzustande zur Civilisation. Nach den neuesten Forschungen der Naturwissenschaft und Geschichte, Berlin: Gustav Hempel 1864, S. 21-22. 424 Der Untertitel der Matériaux lautet: Bulletin mensuel des travaux et découvertes concernant l’Anthropologie, les temps antéhistoriques, l’époque quaternaire, les questions de l’espèce et la génération spontanée avec illustrations. 425 Vgl. hierzu T. K. PENNIMAN, A Hundred Years of Anthropology, New York: William Morrow & Company 1974 [1965], S. 168.
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Kindheit; aber doch sind sie nach den übereinstimmenden Angaben Derjenigen, welche sie gesehen haben, alle so, daß man auf den ersten Blick die Thiere oder Gegenstände erkennt, welche dargestellt werden sollen.426
Im Jahr der Entdeckung des vom „Wilden“ künstlerisch gestalteten Elfenbeinknochens durch Lartet und Christy entwickeln Pierre und Émile Martin das Siemens-Martin-Verfahren; hier die denkbar einfachsten Werkzeuge und „rohen“ Anfänge der Kunst, dort ein für die gesamte Stahlindustrie richtungweisendes Verfahren. Im Jahr 1864 veröffentlicht auch der berühmte Forschungsreisende Richard F. Burton sein Werk A Mission to Gelele, King of Dahome (1864). In den USA tobt ein furchtbarer Bürgerkrieg. Die Frage der Sklaverei ist in aller Munde. In einem eigenen Abschnitt wird sich Burton – ein Jahr nach Huxleys „Stellung des Menschen in der Natur“ – mit der „Stellung des Negers in der Natur“ befassen. „Der Neger“, so Burton, sei „meistens ein geborner Sklave, nicht ein Diener“. Instinktiv lehne dieser das für den Fortschritt notwendige Bevölkerungswachstum ab. „Die sogenannte Civilisation [des Negers] ist rein äußerlich, er kann sie nicht in sich finden, und er hat nicht die schlummernden Geisteskräfte die ihm von Philanthropen zugeschrieben werden.“ Der erwachsene „Neger“ sei „ein Opfer der Nachahmung, das sicherste Zeichen der Unterwerfung“. Der Landbau sei ihm zumeist zuwider. Die Grausamkeit des Negers ist, wie bei einem Schulknaben, der blinde Impuls der Wuth, verbunden mit Mangel an Mitgefühl. So martert und erschlägt er gedankenlos seine Gefangenen, wie Knaben Katzen martern und tödten. Ihm gelingt nicht die Zähmung der tiefer stehenden Thiere, weil es ihm an Geduld für dieselben fehlt; in kurzer Zeit verdirbt er den Charakter eines Pferdes für immer und läßt den englischen Hund, für den er vielleicht einen hohen Preis bezahlt hat, verhungern. […] Der Neger hat nie ein Alphabet, eine Tonleiter oder sonst ein Element der Wissenschaften erfunden. Musik und Tanz, seine Leidenschaft, sind als Künste noch in einem embryonen Zustande. Er pflegt die Redekunst; das thun aber alle Barbaren. Er singt beständig; doch hat er keine Idee von der Poesie. Seine Malerei und Bildnerkunst sind, wie er selbst ungraziös und grotesk, während seine Kunst, wie sein Geist, von der Hand der Natur zurückgehalten ist. […] Der Neger […] bleibt geistig ein Kind und ist niemals einer Generalisation fähig. […] Der Neger ist nirgends schlimmer als in seiner Heimath, wo er eine seltsame Mischung von Feigheit und Wildheit ist. Bei der barbarischen Angst und Furcht vor dem Tode findet er Freude an den Qualen und an der Vernichtung anderer, und bei mehr als der gewöhnlichen wilden Furchtsamkeit prahlt er am liebsten mit seinem Heroismus. Er ist nichts als das eigene liebe Ich; ihm geht selbst die rohe Tugend und Gastfreundschaft ab, und er wirft stets, wie Commander Forbes bemerkt, mit der Wurst nach dem Schinken. Der Neger in seinem wilden Zustande läßt seine Frauen arbeiten; er will oder kann vielmehr 426 BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur, S. 35.
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nicht anders arbeiten als durch persönlichen Zwang, wie in den conföderirten Staaten, oder durch die Noth gezwungen, wie auf Barbados. So gezwungen arbeitet er gut und wird nach Maßgabe seiner schwachen Kräfte civilisirt und humanisirt. […] Die Entfernung des Negers aus Afrika ist dasselbe, wie wenn man einen Knaben zur Schule schickt; es ist seine einzige Chance sich auszubilden, zu lernen daß es im Leben etwas mehr gibt als Trommeln und Tanzen, Schwatzen und Singen, Zechen und Tödten. Nach einiger Zeit können nach Afrika zurückgekehrte Colonisten auf das Land einen Einfluß ausüben den wir bisher noch vergebens gesucht haben.427
Im Jahr 1865 erscheinen die drei anthropologischen „Klassiker“ Researches into the early history of mankind, and the development of civilisation (1865) von Edward B. Tylor (1832-1917), Pre-historic times, as illustrated by ancient remains, and the manners and customs of modern savages (1865) von Lord Avebury, besser bekannt unter dem Namen John Lubbock (1834-1913), in dem dieser beruhend auf der Art der Herstellungsweise der Steinwerkzeuge die Unterscheidung der prähistorischen Epochen des Paläo- und Neolithikums einführt, sowie das Werk Primitive Marriage (1865) von John F. McLennan (1827-1881) mit der berühmten Differenzierung von Exo- und Endogamie.428 Im Dezember des gleichen Jahres hält Virchow im Berliner Handwerkerverein zwei Vorträge, in denen er in allgemein verständlicher Form die Bedeutung der neuen Einteilung der Menschheitsgeschichte in Stein-, Bronze- und Eisenzeit – eine Einteilung, die insbesondere mit dem Namen des dänischen Gelehrten Christian J. Thomsen verbunden wird – erläutert. Die neue Einteilung der Entwicklungsperioden unserer Vorfahren, so Virchow, unterscheide sich grundlegend von älteren Periodisierungsversuchen. Nicht ein Leben voller Sorglosigkeit und ewiger Heiterkeit war den ältesten Menschen unseres Landes beschert, sondern ein Leben voll harter und schwerer Arbeit, voll großer und unaufhörlicher Sorge. Und als endlich die eherne und dann die eiserne herankamen, da zeigte dies nicht eine zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen des Menschengeschlechtes an, sondern die größte Vervollkommnung, den eiligsten Fortschritt, der auf dem Wege zu der Befreiung des Menschen gemacht worden ist und gemacht werden konnte. Während die Sagengeschichte uns den Rückschritt des Menschengeschlechts von den seligen Tagen seiner Kindheit bis zu den rauen Tagen seiner Mannheit vorspiegelt, lehrt
427 N. N., Die Stellung des Negers in der Natur [Auszüge aus R. Burtons gleichlautendem Kapitel seines Werkes A Mission to Gelele], in: Das Ausland 37 (1864), S. 1220-1223, hier S. 1220-1221. 428 Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel „The Darwinian Revolution and the Evolution of Human Culture (1858-1871)“ in STOCKING, Victorian Anthropology, S. 144-185.
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uns die nicht zu fälschende Naturgeschichte den wenn auch nicht stetigen, so doch ansteigenden Fortschritt zu immer höherer Vollkommenheit.429
Im Jahr 1865 wird die „Spanische Anthropologische Gesellschaft“ gegründet. Im gleichen Jahre findet in La Spezzia im Rahmen einer Tagung der Società Italiana di Scienze Naturali die konstituierende Sitzung für einen internationalen Kongreß für Anthropologie und prähistorische Archäologie statt. Im Jahr 1865 endet auch der amerikanische Bürgerkrieg. Für die Mitglieder des skurrilen, sich der kriegstechnischen Ballistik widmenden „Gun Club“ im Roman „Von der Erde zum Mond“ (1867) von Jules Verne ist dies „ein trauriger, bedauerlicher Tag“.430 Doch Impey Barbicane, der Präsident des „Gun Club“, in dem „kaum ein Arm auf vier Personen kam, und nur zwei Beine auf sechs Mitglieder“, lädt im Oktober 1865 zu einer Konferenz, um seinen Vereinskollegen ein abenteuerliches Projekt für die unglückselige und zur Untätigkeit verdammende Post-Bellum-Zeit vorzustellen:431 „Es ist keiner unter Ihnen, wackere Kollegen, der nicht den Mond gesehen oder mindestens von ihm gehört hätte. Wundern Sie sich nicht, daß ich zu Ihnen über das Gestirn der Nacht spreche. Vielleicht ist es uns vorbehalten, für diese unbekannte Welt die Rolle des Kolumbus zu spielen. Begreifen Sie mich, unterstützen Sie mich mit allen Kräften, so will ich Sie führen, diese Eroberung zu machen, und der Name des Mondes wird sich denen der 36 Staaten anreihen, welche den großen Bund dieses Landes bilden.“ „Hurra für den Mond!“ schrie der Gun Club wie aus einem Munde.432
Nachdem der Präsident seinen Plan, ein Geschoß zum Mond zu entsenden, erläutert hat, erzittert der Sitzungssaal: Das war ein Schreien, eine Folge von Gegrunze, Hurras, ,Hip, hip, hip‘ und all den Naturlauten, woran die amerikanische Sprache so reich ist. Es war ein Getümmel, ein Lärm ohnegleichen! Die Kehlen schrieen, die Hände klatschten, die Füße stampften auf den Boden der Säle. Wenn sämtliche Waffen dieses Artilleriemuseums gleichzeitig losgegangen wären, hätten sie die Schallwellen nicht so gewaltig aufgewühlt. Kein Wunder: es gibt Kanoniere, die beinahe ebenso lautstark sind wie ihre Kanonen. […] Nichts kann einen Amerikaner bestürzen. Man 429 Rudolf VIRCHOW, Ueber Hünengräber und Pfahlbauten. Nach zwei Vorträgen im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, gehalten am 14. und 18. Dezember 1865 (= Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge 1. Serie, Heft 1-24, hg. von R. Virchow und Fr. von Holtzendorff), Berlin: C. G. Lüderitz’sche Verlagsbuchhandlung, A. Charisius, S. 15-16. 430 Jules VERNE, Von der Erde zum Mond: Direkte Fahrt in siebenundneunzig Stunden und zwanzig Minuten, Zürich: Diogenes 1976 [1867], S. 11. 431 Ebenda, S. 10. 432 Ebenda, S. 25.
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hat oft wiederholt, das Wort ,unmöglich‘ sei nicht französisch; offensichtlich hat man sich im Wörterbuch getäuscht. In Amerika ist alles leicht, alles einfach, technische Schwierigkeiten sind nicht vorhanden. Ein wahrer Yankee wäre nicht imstande, nur einen Schein von Schwierigkeiten zwischen Barbicanes Vorschlag und seiner Ausführung zu erkennen. Gesagt, getan.433
Im Jahr der vom „Gun Club“ projektierten Mondreise veröffentlicht Walt Whitman sein berühmtes poetisches Manifest „Years of the Modern“ (1865), in dem er die Bedeutung des technologischen Fortschritts besingt und in prophetischen Worten auf das ungemeine Potential hinweist, das dieser für die Zukunft der Menschheit noch verheißt. Gerade bei Whitman, diesem amerikanischen Barden, ist das Fortschrittspathos untrennbar mit einem religiös anmutenden demokratischen Optimismus und einem tiefen Glauben an die weltverbrüdernde Kraft der Technik und Wissenschaft verbunden. Ihm als Dichter komme in der Moderne, in seinem Zeitalter, die Rolle des Interpreten zu. Er sei das Sprachrohr, der Seismograph, der prometheischen Energie, welche die Moderne durchströmt: Years of the modern! years of the unperform’d! Your horizon rises, I see it parting away for more august dramas, I see not America only, not only Liberty’s nation but other nations preparing, I see tremendous entrances and exits, new combinations, the solidarity of races, I see that force advancing with irresistible power on the world’s stage, (Have the old forces, the old wars, played their parts? Are the acts suitable to them closed?) I see Freedom, completely arm’d and victorious and very haughty, with Law on one side and Peace on the other, A stupendous trio all issuing forth against the idea of caste; What historic denouements are these we so rapidly approach? I see men marching and countermarching by swift millions, I see the frontiers and boundaries of the old aristocracies broken, I see the landmarks of European kings removed, I see this day People beginning their landmarks, (all others give way;) Never were such sharp questions ask’d this day, Never was average man, his soul, more energetic, more like a God, Lo, how he urges and urges, leaving the masses no rest! His daring foot is on land and sea everywhere, he colonizes the Pacific, the archipelagoes, With the steamship, the electric telegraph, the newspaper, the wholesale engine of war, With these and the world-spreading factories he interlinks all geography, all lands; What whispers are these O lands, running ahead of you, passing under the seas? Are all nations communing? is there going to be but one heart to the globe? Is humanity forming en-masse? Fo lo, tyrants tremble, crowns grow dim, 433 Ebenda, S. 31-33.
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The earth, restive, confronts a new era, perhaps a general divine war, No one knows what happens next, such portents fill the days and nights; Years prophetical! the space ahead as I walk, as I vainly try to pierce it, is full o phantoms, Unborn deeds, things soon to be, project their shapes around me, This incredible rush and heat, this strange ecstatic fever of dreams O years! Your dreams O years, how they penetrate through me! (I know whether I sleep or wake;) The perform’d America and Europe grow dim, retiring in shadow behind me, The unperform’d, more gigantic than ever, advance, advance upon me.434
Im Jahr 1866 gelingt es, „nach ungeheuren Schwierigkeiten“, das erste transatlantische Telegraphenkabel zu legen.435 Im gleichen Jahr wird der „Gürtel der Postdampferlinien um die Erde“ vollendet.436 Diese beiden Errungenschaften werden, so E. Behm, denkwürdig bleiben, wenn auch die kriegerischen Ereignisse längst verwischt und durch neue überholt sind, und doch reihen sie sich nur als einzelne Momente in den gewaltigen Aufschwung des Verkehrswesens ein, den die Geschichtsschreiber einst als das unsere Zeit am meisten Charakterisirende bezeichnen werden. […] Stephenson galt für halb verrückt, als er seine ersten Versuche machte, die Kraft der Zugthiere durch den Dampfwagen zu ersetzen, und Jahre vergingen, ehe man staunend zum Bewusstsein kam, dass die Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen, diese drei Kinder unseres Jahrhunderts, die der ältere Theil der lebenden Generation selbst entstehen sah, eine Revolution auf allen Gebieten des materiellen und intellektuellen Lebens hervorbrachten, wie sie gewaltiger, umfassender und namentlich rascher niemals vorher zur Erscheinung gekommen ist.437
Nicht allein für die wissenschaftliche Materialbeschaffung, so Behm, der in diesem Jahr auch den ersten Band des bei Justus Perthes in Gotha erscheinenden Geographischen Jahrbuchs herausgab, bedeuteten die Fort434 Walt WHITMAN, Years of the Modern (1865), in: ders., Leaves of Grass. With an introduction by Gay W. Allen, New York: Signet Classic 1980, S. 373-374. Dieses Gedicht wurde in die vierte, 1867 erschienene Ausgabe von Leaves of Grass aufgenommen und bis einschließlich der neunten, sogenannten „Death-Bed Edition“ von 1892 beibehalten. 435 Albert NEUBURGER, Die Entwickelung des Verkehrswesens unter dem Einfluß der Erschließung der Naturkräfte, in: Hans KRAEMER (Hg.), Weltall und Menschheit: Geschichte der Erforschung der Natur und der Verwertung der Naturkräfte im Dienste der Völker. Fünfter Band, Berlin et al.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J. [um 1900], S. 329-342, hier S. 341. 436 E. BEHM, Die modernen Verkehrsmittel: Dampfschiffe, Eisenbahnen, Telegraphen: Eine Geographisch-Statistische Übersicht mit historischen und volkswirthschaftlichen Notizen, in: Petermanns Mittheilungen, Ergänzungsheft 19, Gotha: Justus Perthes 1867, S. 1. 437 Ebenda.
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schritte im Verkehrswesen eine Revolution. Eine Geschäftsreise in die Vereinigten Staaten sei heute für Leute aus Hamburg, Bremen, und Liverpool „etwas Alltägliches“ geworden. „Reisen nach Australien oder China haben schon längst aufgehört, von sich sprechen zu machen.“ Selbst Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sei es heute möglich, „einmal die Alpen oder das Meer oder eine große Stadt zu sehen, zu Pfingsten gehen seit Jahren Extrafahrten von Leipzig nach Helgoland und zurück für 6 Thaler“.438 Im Jahr 1866 wird in Neuchâtel der insbesondere durch den französischen Prähistoriker Mortillet angeregte erste Congrès international d’Anthropologie et d’Archéologie préhistorique (CIAAP) abgehalten.439 Im gleichen Jahr wird an der Harvard University das Peabody Museum of Archaeology and Ethnology gegründet.440 1866 veröffentlicht Ernst Haeckel seine Generelle Morphologie der Organismen, in der er unter anderem sein berühmtes biogenetisches Grundgesetz formuliert. Nicht müde wird Haeckel auch zu betonen, daß die Antwort auf die Frage nach „der Stellung des Menschen in der Natur“ in der Darwinschen „DescendenzTheorie“ liege. Die Gegner seines großen Vorbilds wird der begeisterungsfähige Haeckel nicht ungeschoren davon kommen lassen: Interessant und lehrreich ist dabei nur der Umstand, dass besonders diejenigen Menschen über die Entdeckung der natürlichen Entwickelung des Menschengeschlechts aus echten Affen am meisten empört sind und in den heftigsten Zorn gerathen, welche offenbar hinsichtlich ihrer intellectuellen Ausbildung und cerebralen Differenzirung sich bisher noch am wenigsten von unsern gemeinsamen tertiären Stammeltern entfernt haben.441
Ebenfalls 1866 wird das Archiv für Anthropologie: Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen gegründet, das erste große explizit der „jungen“ Wissenschaft gewidmete deutschsprachige Organ. Die Gründer und Herausgeber des Archivs sind überwiegend Naturwissenschaftler: der weltberühmte Naturforscher Karl Ernst von Baer (17921876), zur Zeit der Archivgründung in St. Petersburg tätig, der Geograph, Geologe und Prähistoriker Eduard Desor (1811-1882) aus Neuenburg/Neuchâtel, der Anatom Alexander Ecker (1816-1887) aus Freiburg, 438 Ebenda, S. 5-6. 439 Im Deutschen war diese Veranstaltung als „Internationaler Congress für Anthropologie und vorgeschichtliche Alterthumsforschung“ bekannt. 440 Vgl. hierzu u. a. J. O. BREW, Introduction, in: ders. (Hg.), One Hundred Years of Anthropology, Cambridge, Mass.: Harvard University Press und London: Oxford University Press 31972 [1968], S. 5-25. 441 Ernst HAECKEL, Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. Zweiter Band: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen, Berlin: Verlag von Georg Reimer 1866, S. 429-430.
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Sammler der Crania Germaniae (1865), der Anatom und Mitbegründer der Neuronentheorie Wilhelm His (1831-1904) aus Basel, der Gründer des „Römisch-Germanischen Central-Museums in Mainz“ und Prähistoriker Ludwig Lindenschmit (1809-1893), der Anatom Gustav Lucae (18141885) aus Frankfurt, der Anatom, Zoologe und Paläontologe Ludwig Rütimeyer (1825-1895) aus Basel, der Anatom und Anthropologe Hermann Schaaffhausen (1816-1893) aus Bonn, der Prähistoriker und vergleichende Naturforscher Karl Vogt (1817-1895) aus Genf sowie der Anatom Hermann Welcker (1822-1899). Im gleichen Jahr veröffentlicht Adolf Bastian die ersten beiden Bände seines Werkes Die Völker des östlichen Asiens. Studien und Reisen (1866). Bastians Reisen, so Dilthey in einer Rezension, erfolgen „unter dem höchsten und interessantesten Gesichtspunkt, dem anthropologischen. Oder gibt es ein höheres, uns näherliegendes Studium als das der Menschheit in der Fülle ihrer Erscheinungsformen, um in derselben die leitenden Gesetze zu entdecken?“442 Für eine vergleichende Psychologie, so Dilthey, gelte es, jene Völker zu studieren, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Gerade deshalb sei für unsere westliche Kultur die „ganz unabhängig entwickelte des östlichen Asien von der höchsten Bedeutung. Beide laufen in getrennten Reihen nebeneinander her und lassen in dem Studium ihrer Proportionsverhältnisse eine scharfe Kontrolle der aus ihm abgeleiteten Gesetze zu.“443 Auch Dilthey steht zu diesem Zeitpunkt noch ganz im Banne der großen Verheißung, die Anthropologie werde die Gesetze der Kulturentwicklung finden. Ehe wir dieses Jahr beschließen, sei noch auf einen Bericht über die Vernichtung der tasmanischen „Wilden“ durch die eingewanderten „Zivilisierten“ hingewiesen. Der Beitrag beruht auf den Aussagen der Tochter eines englischen Friedensrichters: Die Tochter erinnerte sich noch recht wohl der Zeit, da manche östliche Stämme in jenem Thale sich einfanden und dort Nahrung suchten. Die sind nun aber, so sagte sie mit großer Gemüthsruhe, alle getödtet worden; was von ihnen noch etwa übrig geblieben sein sollte, ist unter dem Regierungsschutze hingestorben. Sie erzählte, daß es eine Hauptbelustigung […] gewesen ist, auf die Schwarzen Jagd zu machen. Dabei ging es in folgender Weise zu. Man lud die Ansiedler in der Umgegend mit Weib und Kind zu einem Picknick ein und speiste vor dem Hause unter dem Schatten der Bäume, und Alle waren heiter und guter Dinge. Nach Tische nahmen die Herren ihre Flinten, riefen die Hunde und ein paar Convicts und gingen in den Busch (Wald), um schwarze Leute […] zu jagen.
442 Wilhelm DILTHEY, [Rezension von:] Adolf Bastians Reisen im östlichen Asien (1867), in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus „Westermanns Monatsheften“: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen 1867-1884 (= Gesammelte Schriften 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 286-289, hier S. 286 [meine Hervorhebung]. 443 Ebenda, S. 287.
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Manchmal hatten sie nichts erlegt, denn dieses Wild war nicht gerade häufig, zuweilen aber hatten sie eine Frau geschossen, und wenn das Glück gut gewesen war, auch wohl ein Männchen. Alle diese Einzelheiten wurden so kaltblütig erzählt, daß uns der Athem stockte. Wir sahen uns fragend an und jeder dachte, die Erzählungen seien erdichtet oder mindestens übertrieben. Aber leider war Alles und Jedes buchstäblich wahr. Am Scheußlichsten jedoch bleibt, daß Frauen und Töchter bei diesen Menschenjagden zugegen und behilflich waren. Warum auch nicht? Die Colonisten sagten ja: „Wenn man diese Schwarzen nicht todtschießt, dann stehlen sie Hühner aus dem Stalle.“444
Im Jahr 1867 erreicht der von Tripolis aufgebrochene deutsche Arzt und Forschungsreisende Gerhard Rohlfs Lagos und vollendet hiermit die erste Nord-Süd-Durchquerung in Westafrika. Im gleichen Jahr wird von Alfred Nobel das Dynamit und von Werner Siemens der Dynamo erfunden sowie von Joseph Lister ein Verfahren zur antiseptischen Wundbehandlung entwickelt. Im Jahr 1867 wird die Eisenbahn über den Brenner eröffnet, die Innsbruck und Bozen verbindet und zudem die kürzeste Verbindung zwischen den östlichen Gebieten Deutschlands und Italiens ist. Im gleichen Jahr findet im Rahmen der Pariser Weltausstellung der zweite Congrès international d’Anthropologie et d’Archéologie préhistorique statt, an dem rund 360 Gelehrte teilnehmen.445 Im Unterschied zur 1851 in London abgehaltenen Great Exhibition, die sich auf die technischen Fortschritte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierte, ist nun die gesamte „Vorgeschichte“ des Menschen Teil des Ausstellungskonzepts – ebenfalls ein wichtiges Indiz für den Aufstieg der „jungen“ Anthropologie. In zahlreichen Schaukästen werden dem staunenden Besucher die erst seit kurzem eifrig gesammelten und wissenschaftlich ausgewerteten Materialien über die Existenz des „Diluvialmenschen“ präsentiert. Nach Mortillet war der Glasschrank mit den Artefakten aus der Rentierzeit ein untrüglicher Beweis dafür, daß der Mensch nicht allein das inzwischen ausgewanderte Renthier, sondern auch den großen Höhlenbären, den Höhlentiger und das Mammuth, also vollständig ausgestorbene Thierarten, vollkommen abgebildet [hat] – und zwar dieses meistens aus den Ueberresten des Renthiers und des Mammuths selbst! Der Mensch war daher unzweifelhaft der Zeitgenosse dieser Thiere, von denen er verschiedene Theile
444 N. N., Anthropologische Beiträge. I. Die Ausrottung wilder Völker durch die civilisirten Leute, in: Globus: Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, 10 (1866), S. 57-59, hier S. 59. 445 Vgl. im folgenden Glyn DANIEL, One Hundred Years of Old World Prehistory, in: J. O. BREW (Hg.), One Hundred Years of Anthropology, Cambridge, Mass.: Harvard University Press und London: Oxford University Press 31972 [1968], S. 57-93, hier S. 61-63.
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verwendete und welche er so trefflich abbildete. Ueberzeugendere Beweise kann es nicht geben!446
Für den der prähistorischen Archäologie gewidmeten Teil der Ausstellung sollte Mortillet auch einen Führer mit dem Titel Promenades préhistoriques à l’exposition universelle verfassen.447 Am Ende desselben faßte Mortillet die drei wichtigsten Erkenntnisse der prähistorischen Forschung in Großbuchstaben zusammen: LOI DU PROGRESS DE L’HUMANITE LOI DU DEVELOPPEMENT SIMILAIRE HAUTE ANTIQUITE DE L’HOMME448
Im Jahr 1867 beendet Wilhelm Raabe seinen humoristischen Fortsetzungsroman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1868), in dem er den Zivilisations- und Fortschrittsdünkel seiner Zeit meisterhaft karikiert. Nach langjähriger Gefangenschaft als Sklave kehrt der abenteuerlustige Leonhard Hagebucher alias Abu Telfan, der Held des Romans, aus Afrika in seine deutsche Heimatstadt zurück. Auf Seiten der Verwandtschaft hält sich die Freude über das Wiedersehen mit dem als mißraten geltenden und schief beäugten Familienmitglied in Grenzen. Der erweiterte Familienrat tritt zusammen, um die prekäre Frage, was nun mit dem wohl oder übel zur Familie gehörenden „Afrikaner“ zu geschehen habe, zu erörtern: Es war ein großer Tag! Wenn auch die jungen Kusinen, gleich den Kinder von Bumsdorf, noch immer mit einer aus Schrecken und Mitleid gemischten Verwunderung auf den Vetter blickten, so hatte doch die ältere Verwandtschaft jegliche mysteriöse Scheu gründlich abgeworfen und zog ihren autochthonen Lebensanschauungen und Gefühlen alle Schleusen. Das germanische Spießbürgertum fühlte sich dieser fabelhaften, zerfahrenen, aus Rand und Band gekommenen, dieser entgleisten, entwurzelten, quer über den Weg geworfenen Existenz gegenüber in seiner ganzen Staats- und Kommunalsteuer zahlenden, Kirchstuhl gemietet habenden, von der Polizei bewachten und von sämtlichen fürstlichen Behörden überwachten, gloriosen Sicherheit und sprach sich demgemäß aus, und der Papa Hagebucher wäre der letzte gewesen, welcher für seinen Afrikaner das Wort ergriffen hätte.449
446 Mortillet zit. nach BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur, S. 36. 447 Mortillet zit. nach Glyn DANIEL, One Hundred Years of Old World Prehistory, in: J. O. BREW (Hg.), One Hundred Years of Anthropology, hier S. 62. 448 Mortillet zit. nach ebenda, S. 63. 449 Wilhelm RAABE, Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1868), in: ders., Gesammelte Werke: Romane und Erzählungen. Erster Band, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1980, S. 449-717, hier S. 476-477. Der Genauigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß der
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In den Jahren 1867 und 1868 arbeitet William Cody als Büffeljäger für die Kansas Pacific Railroad. Aus dieser Zeit datiert sein Name Buffalo Bill. „During my engagement as hunter for the company – a period of less than eighteen months – I killed 4.280 buffaloes; and I had many exciting adventures with the Indians.“450 Wiederum jagt und reitet Buffalo Bill an der Zeitenwende zwischen „Zivilisation“ und „Wildheit“. Wiederum ist er ein „Pionier“, diesmal in der systematischen Ausrottung des Büffels, die Ende der 1860er Jahre, nach dem Ausbau der Eisenbahnstrecke, beginnen und in den 1870er unglaubliche Ausmaße annehmen sollte. Bereits in den 1880er Jahren sollten Büffeljäger in der Prärie statt der ersehnten Beute, fast nur noch haufenweise, von der Sonne gebleichte Gerippe vorfinden. Schätzungen zufolge wurden zwischen 1868 bis 1881 mehr als 30 Millionen Büffel geschlachtet.451 Allein zwischen 1872 und 1874 entsprach die Zahl der erlegten Büffel beinahe jener „des gesamten Rindviehstandes des Deutschen Reiches“.452 „Noch vor 15 Jahren“, meinte Karl Müller in den 1880er Jahren, belachte man die Befürchtungen der Indianer, daß die Büffel bei den massenhaften Niedermetzelungen ausgerottet werden müßten, als grundlos, und heute ist bereits ein Zustand eingetreten, welcher das schöne Tier (Bos americanus), das einst die Prärien Nordamerika’s so zu sagen schwarz färbte, nur noch auf wenige verhältnismäßig kleine Heerden am Pecos-Flusse in Texas und im äußersten Nordwesten beschränkt, während es früher zu Zehntausenden als unzählbare Masse sie belebte. Infolge davon ist für den Indianer das wesentliche Existenzmittel verschwunden, der Hungertyphus an die Stelle des Ueberflusses getreten, das Dasein des Indianers dem Schicksal verfallen. Das alles haben die Eisenbahnen und die mit ihnen gekommenen Tausende von Raubjägern, richtiger Schlächtern, in kürzester Zeit vollführt. […] Diese Jagdpartien bestanden meistens aus vornehmen englischen Sportsmen und ihrem Anhange, die, mit den besletzte Teil dieses Fortsetzungsromans 1867, das Buch jedoch erst 1868 erschien. 450 William F. CODY, The life of Buffalo Bill, S. 162. 451 Ulrich van der HEYDEN (Hg.), Indianer-Lexikon: Zur Geschichte und Gegenwart der Ureinwohner Nordamerikas [Stichwort: Büffelmord], Wiesbaden: VMA-Verlag 1996, S. 45-46, hier S. 46. 452 N. N., Die Ausrottung des amerikanischen Bison, in: Das Ausland 57 (1884), S. 987-991, hier S. 990. In diesem Beitrag wird die Zahl der zwischen 1872 und 1874 erlegten Büffel auf rund fünfeinhalb Millionen geschätzt. Diese Zahl setzt sich wie folgt zusammen. Die Häute von 3,1 Millionen, von Weißen erlegten Büffel wurden allein auf „den hauptsächlichsten Eisenbahnlinien befördert“. Hinzu kam eine weitere Million, „welche von der Hudsonbay-Kompagnie, von den Jägern aus Mexico, Colorado und Texas und von gewissen Indianerstämmen erlegt“ wurde. Rund 1,2 Millionen Büffel wurden im gleichen Zeitraum von anderen „Indianerstämmen“ getötet. Ebenda, S. 989. Vgl. auch Richard WHITE, Animals and Enterprise, in: Clyde A. MILNER II, Carol O’CONNOR, Martha A. SANDWEISS (Hg.), The Oxford History of the American West, New York-Oxford: Oxford University Press 1996 [1994], S. 237-273, hier S. 248.
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ten Waffen ausgerüstet, in zwei bis drei Wochen so viele Tiere zusammenschossen, als genügt haben würden, um alle Indianer-Stämme jener Gebietstheile während eines ganzen langen Winters zu ernähren. Der Sport bestand darin, zu sehen, wer die meisten dieser harmlosen Tiere in einer gewissen Zeit erlegen würde; denn die Leichen blieben liegen, wo sie fielen, zur Nahrung für die zahllosen Präriewölfe, Füchse und Raubvögel. Büffelfleisch wurde so billig, daß es sich für reguläre Jäger gar nicht mehr der Mühe verlohnte, das Tier des Fleisches halber zu erlegen, und selbst die Häute wurden kaum beachtet. […] Tausende solcher Mordgesellen waren auf diese Weise jahraus jahrein beschäftigt, und vor ihren Mordwaffen schmolzen die Büffelheerden dahin, wie der Schnee vor der Maisonne. Die Indianer erhoben von Zeit zu Zeit schwache Proteste gegen diese Engros-Vernichtung ihres Hauptnahrungsmittels, dieselben wurden aber absichtlich ignoriert und die Massenschlächterei wurde fortgesetzt; wusste doch der weiße Mann, daß er im Büffel indirekt auch den rothen Mann vernichtete.453
Im Jahr 1868 veröffentlicht Adolf Bastian sein Werk Das Beständige in den Menschenrassen und die Spielweite ihrer Veränderlichkeit. Prolegomena zu einer Ethnologie der Culturvölker (1868) und Ernst Haeckel seine Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868). Im Winter des gleichen Jahres hält Jacob Burckhardt erstmals sein Kolleg „Über Studium der Geschichte“, in dem er das „sich Wiederholende, Konstante, Typische“ in den Mittelpunkt seiner historischen Untersuchungen rückte. Dieses Kolleg sollte die Grundlage seiner aus dem Nachlaß herausgegebenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen bilden. Im Jahre 1868 stößt man im Zuge von Eisenbahnarbeiten in der Dordogne auf eine uralte Grabstätte, in der die Überreste von fünf Skeletten und diverse Schmuckgegenstände gefunden werden. Der Prähistoriker Louis Lartet, der Sohn von Édouard Lartet, beschreibt diesen „vorgeschichtlichen“ Menschen, der als Cro-Magnon Bekanntheit erlangen und zu einem der Hauptdarsteller des Jungpaläolithikums werden sollte. Im gleichen Jahr wird auf der in Dresden abgehaltenen Versammlung der „Deutschen Naturforscher und Ärzte“ die „Section für Anthropologie und Ethnologie“ gegründet. In Bonn findet ein „Internationaler Congress für Alterthumskunde und Geschichte“ statt. Die urgeschichtlichen Verhandlungen drehen sich um die Frage nach der Kultur der Urzeit. Im November
453 Karl Müller zit. nach N. N., Die Ausrottung des amerikanischen Bison, in: Das Ausland 57 (1884), S. 987-991, hier S. 990. Zu den sich keineswegs bloß auf „schwache Proteste“ beschränkenden Reaktionen der um ihre Existenzmitteln bedrohten Indianer vgl. den Abschnitt „The War to Save the Buffalo“ von Dee BROWN, Bury My Heart at Wounded Knee: An Indian History of the American West, London et al.: BCA 1999 [1970], S. 241271. Dee Brown zitiert in diesem Abschnitt auch die Worte des General Philip H. Sheridan, der, gebeten, etwas gegen die weißen Büffeljäger zu unternehmen, meinte: „Let them kill, skin, and sell until the buffalo is exterminated, as it is the only way to bring lasting peace and allow civilization to advance.“ Sheridan zit. nach ebenda, S. 265.
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des Jahres 1868 kommt es in Oklahoma zu einem furchtbaren Massaker, bei dem amerikanische Soldaten unter der Führung von George A. Custer eine Siedlung von Cheyenne-Indianern am Washita-River – die Black Kettle-Band – überfallen und mehr als hundert Menschen töten, überwiegend Kinder, Frauen und alte Männer. Nach diesem Blutbad werden unterschiedliche indianische „Stämme“ im Dezember 1868 Gesandte zu General Philipp H. Sheridan nach Fort Cobb schicken, um ihre bedingungslose Kapitulation anzukünden. Als der Komantsche Tosawi am Ende des Jahres 1868 mit Sheridan zusammentraf, erklärte er in gebrochenem Englisch: „Tosawi, good Indian.“ It was then that General Sheridan uttered the immortal words: „The only good Indians I ever saw were dead.“ Lieutenant Charles Nordstrom, who was present, remembered the words and passed them on, until they were honed into an American aphorism: The only good Indian is a dead Indian.454
Auch Buffalo Bill wird in seiner Autobiographie diese Definition des guten Indianers übernehmen. Im Jahr 1869 wird der 160 Kilometer lange Suez-Kanal eröffnet, wohl eine der wichtigsten verkehrstechnischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Hiermit ist der Seeweg von Hamburg nach Bombay um 43 Prozent und jener von Triest nach Bombay um 63 Prozent verkürzt.455 Kurze Zeit nach der Eröffnung des Suez-Kanals erscheint Walt Whitmans Gedicht „Passage to India“. In diesem besingt Whitman die „Heirat der Kontinente, der Klimata, der Ozeane“. Singing my days, Singing the great achievements of the present, Singing the strong light works of engineers, Our modern wonders (the antique ponderous Seven outvied,) In the Old World the east of the Suez canal, The New by its mighty railroad spann’d, The seas inlaid with eloquent gentle wires; […] Passage to India! Lo, soul, seest thou not God’s purpose from the first? The earth to be spann’d, connected by network, The races, neighbors, to marry and be given in marriage, The oceans to be cross’d, the distant brought near, The lands to be welded together.456 454 Dee BROWN, Bury My Heart at Wounded Knee, S. 170-172. 455 NEUBURGER, Die Entwickelung des Verkehrswesens unter dem Einfluß der Erschließung der Naturkräfte, S. 338. 456 Walt WHITMAN, Passage to India (1872), in: ders., Leaves of Grass. With an introduction by Gay W. Allen, New York: Signet Classic 1980, S. 321322, hier S. 321-328.
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Im Mai 1869 wird in Promontory Point, im Bundesstaat Utah, die letzte, aus silberbeschichtetem Lorbeerholz angefertigte Schwelle gelegt und der letzte Nagel, der golden spike, eingeschlagen, um die transkontinentale Eisenbahnverbindung der verkehrstechnisch nunmehr tatsächlich Vereinigten Staaten zu beenden.457 „It is done“, übermittelte der Telegraph der Welt.458 Rund zwei Monate zuvor war in Hobart-Town der letzte männliche und – wie man damals sagte – „vollblutige“ Tasmanier gestorben.459 Kurz danach veröffentlichte James Bonwick sein Werk Last of the Tasmanians (1870), in dem er die Geschichte dieses Volks schildert, das zum Zeitpunkt der überwiegend englischen Kolonialisierung zwischen 7.000 und 20.000 Menschen zählte.460 Gestützt auf Bonwick widmete auch die Zeitschrift Das Ausland dem letzten Tasmanier und seiner „Race“ einen ausführlichen Nekrolog.461 „Wo der gesittete Europäer mit Völkern niederer Culturstufe zusammengestoßen ist, folgte meistens ein jähes oder ein langsames Aussterben der farbigen Menschen nach.“462 Dies habe man in „Nordasien, Südafrika, in Nordamerika, auf den westindischen Inseln, in der Südsee und in Australien“ beobachten können.463 Die tasmanische Geschichte biete „die beste Gelegenheit den traurigen Hergang eines solchen Racentodes bis in alle pathologischen Einzelheiten zu verfolgen“.464 Viel sei über die Grausamkeiten der spanischen Eroberer geschrieben worden. Doch, so der anonyme Autor, Bonwick sei „ehrlich genug zu bemerken daß die Briten dringende Veranlassung hätten den Mund zu halten. In der That darf man Grauen empfinden vor allen europäischen Culturvölkern sowie sie mit andersgefärbten Menschen in Berührung kommen.“465 Es folgt eine detaillierte Schilderung der von den englischen Siedlern an den Tasmaniern begangenen Verbrechen. Als vielleicht noch verheerender hätten sich jedoch 457 Vgl. hierzu Keith L. BRYANT, Entering the global economy, in: Clyde A. MILNER II, Carol O’CONNOR, Martha A. SANDWEISS (Hg.), The Oxford History of the American West, New York-Oxford: Oxford University Press 1996 [1994], S. 195-235, hier S. 217. 458 Zit. nach ebenda. 459 Die letzte Tasmanierin starb 1876. 460 Vgl. hierzu Darwin, der sich gestützt auf Bonwick, im Abschnitt „On the Extinction of the Races of Man“ in der 2. Auflage seines The Descent of Man (1882) mit dem Schicksal der Tasmanier auseinandergesetzt. Vgl. Charles DARWIN, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, London: John Murray 21882, S. 184. Die 2. Auflage ist Teil der von John van Wyhe digitalisierten und herausgegebenen Sammlung The writings of Charles Darwin on the web und online abrufbar unter: http://pages. britishlibrary.net/charles.darwin/ (Zugriffsdatum 4. Januar 2004). 461 N. N., Nekrolog der Tasmanier, in: Das Ausland 43 (1870), S. 145-152 und 183-189. 462 Ebenda, S. 145. 463 Ebenda. 464 Ebenda. 465 Ebenda, S. 148.
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die Handlungen der Kirchenmänner und „Menschenfreunde“ erwiesen. Diese seien verantwortlich dafür, daß die Tasmanier „unter die Erde civilisirt wurden“. Als die tasmanischen „Eingebornen“ mit den Weißen zusammentrafen, hätten sie sich auf einer „niedereren Gesittungsstufe“ als die Schweizer Pfahlbauern befunden. Ihre „Gesittung“ sei mit jener der französischen Rentierjägern vergleichbar: Nehmen wir die geringste Schätzung an, nämlich daß die Renthierjäger, die Zeitgenossen des Mammuth und der Höhlenthiere, 6000 v. Chr. gelebt hätten, so waren immerhin 8000 Jahre erforderlich um sie allmählich in moderne Europäer hinaufzubilden, wenn die heutigen Franzosen von ihnen abstammen sollten oder die Basken der Pyrenäen ihre Abkömmlinge wären. Die Engländer wollten jedoch die tasmanischen Jägerstämme ohne Uebergang jene 8 Jahrtausende überspringen lassen. Ein nackter Volksstamm sollte plötzlich sich das Einsalben der Haut abgewöhnt und Kleider anlegen; Völkerschaften die nur frische Luft unter Lauben geathmet, sollten in geschlossenen Hütten sich einsperren; Jäger, die von Fleisch, Eiern und Muscheln sich bis dahin ernährt hatten, sich an eine beinahe ausschließliche Pflanzenkost gewöhnen. Sie, die beständig das Waidwerk frisch und gesund erhalten hatte, sollten als Erwachsene in die Schulstube zusammenrücken, buchstabiren und lesen – wohlgemerkt englisch lesen – lernen, also Worte aussprechen wie sie nicht geschrieben werden, da die englische Schrift ja stückweise schon zu Hieroglyphen herabgesunken ist. Jedermann weiß was es heißt ein Gewächs aus der Erde reißen und in ein Geschirr pflanzen, es unter dem freien Himmel wegnehmen und in eine Stubenluft ohne Thau und Sonne zu versetzen, ihm das Licht schmälern, es vielleicht zu wenig oder zu viel zu benetzen. Jeder sieht das Ende eines solchen langsamen Pflanzenmordes voraus, aber daß menschliche Geschöpfe von einer Insel auf ein Inselchen versetzt und ihnen eine völlig andere Lebensweise aufgedrungen werden könnte, das hält man für klug und menschenfreundlich.466
Über den letzten Tasmanier, William Lanné, „gewöhnlich Billy King genannt“, heißt es gegen Ende des Nekrologs: „Er diente als Matrose, wurde aber selten nüchtern gesehen, so oft er ans Land ging. Er starb am 3. März 1869 an der Cholera in Hobarttown.“467 Zwei Monate nach dem Tod des letzten Tasmaniers sollten Hobart Town und Melbourne durch ein rund 500 Tonnen schweres, von einem Schraubendampfer gelegtes telegraphisches Kabel miteinander verbunden werden.468 Im Jahr 1869 gründen Adolf Bastian und Robert Hartmann die Zeitschrift für Ethnologie und ihre Hülfswissenschaften als Lehre vom Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und Geschichte.469 Francis Galton veröffentlicht sein Werk Hereditary Genius (1869), Ludwig Büchner sein 466 Ebenda, S. 186. 467 Ebenda, S. 188. 468 N. N., Das neue Cabel zwischen Australien und Tasmanien, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 4 (1869), S. 463-464. 469 Der Untertitel wurde später weggelassen.
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Buch Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (1869). „Jeder geistige Fortschritt“, so Büchner, sei in seinen Augen und wohl auch „in den Augen jedes Klardenkenden zugleich ein Fortschritt in materieller und moralischer Hinsicht!!“470 Fortschrittseuphorisch verkündet Büchner, daß der unheilvolle und „lächerliche Nationalhaß früherer Zeiten […] aus den Gemüthern der wirklich Gebildeten großer und mächtiger Nationen bereits verschwunden“ sei.471 Dies gelte unter anderem für die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen, Franzosen und Engländern sowie zwischen Deutschen und Italienern. Mit der Zeit werde dieses Gefühl auch die Massen erfüllen und „große Völkerkriege nicht mehr aufkommen lassen“.472 In der zweiten 1872 erschienenen Auflage sah sich Büchner genötigt, dieser Prophezeiung einen Passus hinzuzufügen. Der deutsch-französische Krieg könne „nur noch als eine der letzten Zuckungen des langsam absterbenden Barbarismus angesehen werden“.473 Im Jahr 1869 wird in Kopenhagen in Anwesenheit des dänischen Königs der vierte Congrès international d’Anthropologie et d’Archéologie préhistorique eröffnet, an dem 337 Gelehrte teilnehmen.474 Dänemark galt insbesondere wegen der hier gefundenen Kjökkenmöddings als Hoffnungsland für die „junge“ Prähistorie und stellte eine Reihe prominenter Forscher auf diesem Gebiet. Am 23. September 1869 beantragte Carl Vogt auf der in Innsbruck abgehaltenen 43. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, einen Ausschuß zu bilden, der einen Aufruf zur Gründung einer allgemeinen deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie ausarbeiten soll. Dieser Antrag stößt auf breite Zustimmung. Ein provisorischer Ausschuß, dem unter anderen R. Virchow und K. Vogt angehören, wird gebildet. Dieser verfasst folgendes Memorandum: Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Der Werth und die Bedeutung der Anthropologie für die Wissenschaft und das Leben ist längst allseitig anerkannt. – Die Urgeschichte unseres Geschlechtes, erst seit kurzem von der exacten Wissenschaft mit bewunderungswürdiger Energie in Angriff genommen, die Kenntnisse der körperlichen Beschaffenheit der Menschenrassen und ihrer Übergänge, das wissenschaftliche Eingehen in die 470 BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oder: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, Leipzig: Verlag Theodor Thomas 21872 (1. Auflage 1869), S. 8-9. 471 Ebenda, S. 190. 472 Ebenda. 473 Ebenda. 474 Vgl. hierzu Hermann SCHAAFFHAUSEN, Verhandlungen Gelehrter Gesellschaften: Bericht über den internationalen Congress für Anthropologie und vorgeschichtliche Alterthumsforschung in Kopenhagen von 27. August bis 5. September 1869, in: Archiv für Anthropologie 4 (1869), S. 341353.
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Culturzustände, Sitten und Gebräuche der verschiedenen Völker in verschiedenen Zeiten sind der Gegenstand unserer Forschung. Die darauf bezüglichen Anträge haben bei der Naturforscherversammlung zu Innsbruck eine fast unerwartete Theilnahme gefunden. Fast in allen Ländern Europas haben sich Centralvereine zur Förderung dieser Fächer gebildet, nur Deutschland ist in dieser Beziehung zurückgeblieben, wenn man auch dankbar anerkennen muß, dass in einzelnen Städten und Provinzen sehr erspriessliches geleistet worden. Auch hier ist Einheit und Einigkeit nöthig. Die Aufgabe in diesem Sinne zu wirken stellt sich die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Die speziellen Zwecke derselben sind folgende: 1. Die Gründung von Localvereinen und die Vereinigung der bereits bestehenden zu gemeinsamen Wirken, um die einschlägigen Studien und ihre Zweige in ihrer Umgebung zu fördern, darauf bezügliche Arbeiten und Untersuchungen, welche die Kräfte einzelner überschreiten, zu unterstützen, das gesammelte Materiale [sic] vor Verschleppung zu bewahren, zufällig neue Funde sowie allenfalls bereits vorhandene Sammlungen der Benützung zugänglich zu machen. 2. Eine Verbindung zwischen den Localvereinen herzustellen, und wesentlich auf bisher zerstreute Mittheilungen der verschiedenen Gesellschaften in Deutschland die Aufmerksamkeit zu lenken, wodurch diese oft sehr schätzbaren Arbeiten ihrer provinziellen Verborgenheit entzogen zum Gemeingut der Wissenschaft werden und so dieser Wissenschaft in Deutschland einen Mittelpunkt zu geben.475
Noch ehe im nächsten Jahr die „Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ gegründet werden sollte, formiert sich am Ende des Jahres 1869 der „Localverein“ der „Berliner für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“. Ihr erster Vorsitzender ist Rudolf Virchow.476
Das Jahr 1870 Die Gründung anthropologischer Gesellschaften in Deutschland und Österreich – John Lubbock – das „Hinwegschwinden“ der Indianer im Nordwesten der USA – Schweinfurths Entdeckung des Uelle, sein Besuch bei Munsa, König der Monbuttu, und seine Schilderung des „Zwergvolks“ der Akkah
Im Jahr 1870 werden die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die 475 J. DAUM, V. von EBNER, H. Graf ENZENBERG (Hg.), Tageblatt der 43. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Innsbruck, Innsbruck: Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung 1869, S. 226. 476 Vgl. hierzu Christian ANDREE, Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869-1969, in: ders. (Hg.), Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Erster Teil: Fachhistorische Beiträge, Berlin: Bruno Heßling 1969, S. 9-142, insbesondere S. 9-20.
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Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gegründet, die in kürzeren Anführungen als Deutsche anthropologische Gesellschaft bezeichnet wurde. Der erste Präsident der Wiener Gesellschaft ist der Mediziner Carl Rokitansky, der erste Vorsitzende der deutschen Gesellschaft sein Fachkollege Rudolf Virchow. „Wenn man sich auf dem Gebiet der Anthropologie umsieht“, so Rokitansky in der auf der konstituierenden Versammlung der Wiener anthropologischen Gesellschaft gehaltenen Eröffnungsrede, so ist man eigentlich nicht im Stande irgend welche Grenzen deutlich zu erspähen, und wenn man glaubt welche zu sehen, so gewahrt man auf ihnen einen so lebhaften Verkehr mit dem jenseitigen Gebiete, dass man es aufgeben muss, eine wirkliche Grenze zu erkennen.477
Die Anthropologie widme sich keiner geringeren Aufgabe als jener, die „Naturgeschichte des Menschen“ zu erforschen.478 „Das Umfassende der Aufgabe schwebt Jedem klar vor.“479 Die „wesentlichsten Grundlagen“ der Anthropologie bildeten anatomische und physiologische Studien. Hierin, so Rokitansky, müsse sich „jede Beobachtung vertiefen, Alles was der Mensch anstrebt und schafft, an materiellen und geistigen Erzeugnissen, muss in ihnen begründet werden“.480 „Und wo sind die Seiten unseres physischen und psychischen Lebens“, heißt es in dem Bericht über die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, „welche nicht in einem der drei Worte angedeutet wären, die unserer Gesellschaft den Namen geben?“481 Wenn man die aus den Naturwissenschaften gewonnene Einsicht akzeptierte, daß die körperliche nicht von der geistigen Seite des Menschen zu trennen sei, dann bliebe der „jungen“ Anthropologie keine Seite des menschlichen Lebens fremd. Getreu dem Spruche „nihil humanum a me alienum puto“, senken wir nun das Gewicht unserer Forschung in die dunkelsten Tiefen unentwirrter Räthsel hinab, wie sie uns des Menschen Natur in so überreicher Fülle zur Lösung aufgiebt. Hier der Körperbau und seine Entstehungsweise, die langsam auf natürlichem Wege oder künstlich und rasch erfolgte Umgestaltung des Schädels, und die Abhängigkeit seiner Form, – dort die glei477 Carl ROKITANSKY, Eröffnungsrede in der constituirenden Versammlung der anthropologischen Gesellschaft in Wien am 13. Februar 1870, in: Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 1 (1871), S. 1-10, hier S. 1-2. 478 Ebenda, S. 3. 479 Ebenda. 480 Ebenda. 481 N. N., Die deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in: Archiv für Anthropologie 4 (1869): Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (Mai 1870), S. 1-2.
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chen psychischen Aeusserungen bei den verschiedensten Völkern, die gleichen Sitten und Gebräuche, Mythen und Sagen, Rechtsgrundsätze und Gewohnheiten; sie alle gehören mit allen ihren mannigfaltigen Beziehungen nun in den Kreis unserer Forschung und durch sie greifen wir mit unserem Streben in alle Kreise der heutigen Gesellschaft ein in einer Weise, wie es nie zuvor eine andere Naturwissenschaft gethan.482
Diese „junge“ Anthropologie entsteht, wie bereits mehrfach erwähnt und wie auch aus dem Namen der neu gegründeten deutschen Gesellschaft ersichtlich, als eine synthetische und verschiedene Wissenszweige integrierende Disziplin.483 Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, scheint es doch dem herkömmlichen, die Differenzierung und Spezialisierung betonenden Modell der Wissenschaftsentwicklung entgegenzulaufen. In entscheidendem Maße speist sich dieser integrative Charakter der „jungen“ Anthropologie aus jenem die Gründerzeit dieser Disziplin durchdringenden naturwissenschaftlichen „Ressortimperalismus“.484 Nicht nur standen die „jungen“ Anthropologen ganz im Banne der Suche nach den großen Natur- bzw. Entwicklungsgesetzen der Menschheitsgeschichte, nicht nur legten sie ihren Untersuchungen oftmals ein mehr oder minder „reduktionistisches“ Weltbild zugrunde und waren überzeugt, die „Kultur“ eines Volkes ließe sich aus den Schädelformen oder den Gehirnwindungen ihrer Vertreter ableiten, sondern die „jungen“ Anthropologen erhoben auch immer wieder den Anspruch, ihre Disziplin sei berufen, Orientierungswissen zu liefern, sozialtechnologische „Rezepte“ bereit zu stellen und eine an die 482 Ebenda, S. 2. 483 Vgl. im folgenden Justin STAGL, Kulturanthropologie und Gesellschaft: Wege zu einer Wissenschaft, München: List 1974, S. 23-32. 484 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Aufruf des in den späten 1870er Jahren gegründeten anthropologischen Vereins in Graz, der sich die Aufgabe stellte, „in die Lücke einzutreten, welche zwischen den in Graz bereits bestehenden wissenschaftlichen Vereinen, dem naturwissenschaftlichen und historischen, fühlbar ist. Uebergreifend in die historischen und Naturwissenschaften und gerade in der Vereinigung beider Richtungen seine Existenzberechtigung suchend, soll der anthropologische Verein den Menschen von den ersten Spuren, welche sein Dasein auf Erden zurückgelassen hat, durch die folgenden Entwicklungsstadien hindurch begleiten, wie sie sich einerseits in den Resten seiner Kunsttätigkeit, in den Namen der von ihm bewohnten Oertlichkeiten, in den erhaltenen Sagen u.s.w., andererseits in der Veränderung seiner physischen und ethnologischen Beschaffenheit zeigen. […] So unterscheidet sich also dieser Verein von vielen anderen dadurch, daß er nicht nur einen Vereinigungspunkt für Forscher derselben Richtung bietet, sondern seine Mitglieder aus sehr verschiedenen Lagern wirbt. Nicht nur Geologen, Zoologen, Paläontologen, Anatomen und Physiologen, auch Sagen- und Sprachforscher, Ethnologen und Geographen, Historiker, Philologen und Archäologen finden hier ein dankbares Arbeitsfeld und wer überhaupt ein Interesse hat an der großen ‚Wissenschaft vom Menschen‘, wird durch seine Erfahrungen und Beobachtungen die Ziele des Vereines fördern.“ N. N., Bericht über die Gründung des anthropologischen Vereins in Graz, in: Tagespost, 4. Mai, Morgenblatt, 1878, Nr. 119.
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„alte“ Geschichtsphilosophie gemahnende Deutungsfunktion zu übernehmen. „Ich“, so Rokitansky, hege diessfalls die Ansicht, dass der Verein durch Ausbreitung anthropologischen Wissens in allen Kreisen manche Praxis im bürgerlichen und politischen Verkehre anregen, manche berichtigen, ja gründlich umgestalten werde. Wer sollte auch, meine Herren, wenn nicht dieser Verein, den Beruf haben, der Anwalt der Natur gegen religiöse und philosophische, gegen politische und sociale Grillen und ihre Zumuthungen zu sein – wer, als dieser Verein, sollte allen Anderen voran sein überall, wo es gilt, für Natur, für Wahres, Ungekünsteltes, Einfaches und Klares in die Schranken zu treten? Und es dürfte nicht an Herausforderung fehlen. – Und wie es an und für sich ist, so muss sich unser anthropologischer Verein namentlich in dieser Richtung als ein philanthropischer bewähren.485
Gerade in den mit der „jungen“ Anthropologie verbundenen außerwissenschaftlichen Erwartungen wird deutlich, daß sich das eingangs skizzierte „naturwissenschaftliche“ Forschungsethos des 19. Jahrhunderts, der Aufruf, sich der „exakten“ Methode und der Sammlung von Tatsachen zu unterwerfen, in entscheidendem Maß aus der Hoffnung speist, das gute Leben erkennen zu können. Als eine die Natur- und Geisteswissenschaften vermeintlich überbrückende, alle Zeiten und alle Völker umspannende Disziplin wurde die „junge“ Anthropologie zu einer mächtigen Bastion der Wissenschaftsgläubigkeit; eine Bastion, die, wie mir scheint, noch heute von den wissenschaftlichen Säkularisierungstendenzen nicht zur Gänze erobert worden ist. Wie ebenfalls bereits in den einführenden Bemerkungen zu diesem Kapitel erwähnt, spielte bei dem Anspruch, Erkenntnisse zu liefern, die einen Wert besitzen, das Konkurrenzverhältnis der „naturwissenschaftlich“ orientierten Anthropologie zur „geisteswissenschaftlich“ orientierten Universalgeschichte eine herausragende Rolle. Immer wieder werden Anthropologen betonen, daß sich die Geschichtswissenschaft über die Anfänge der menschlichen Geschichte in Schweigen hülle. Die Urund Vorgeschichte sei ein „Verdienst“ der Naturwissenschaften.486 Indem die „junge“ Anthropologie in diese ferne Vergangenheit eingedrungen war, habe sie offengelegt, daß der Mensch eine unendlich lange Kindheit durchzumachen hatte, in welcher er erst allmählig lernte, seine Kräfte [zu] gebrauchen, in welcher mit seinem Ingenium seine Waffen und Werkzeuge sich schärften und ihn, wozu er bestimmt war, Herr werden ließen über die ihn umgebende Schöpfung.487 485 ROKITANSKY, Eröffnungsrede, S. 8. 486 Alexander ECKER, Die Zwecke der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (Schluss.), in: Archiv für Anthropologie 4 (1869): Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (November 1870), S. 49-53, hier S. 49. 487 Ebenda, S. 52.
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Auf den ersten Blick mag es „für unseren Stolz etwas demüthigend“ sein, daß wir von barbarischen Wilden abstammen sollten, – nicht besser, vielleicht schlimmer als die Eingeborenen Australiens, – auf die wir, wenn nicht mit Verachtung, so doch mit Mitleid herabsehen, und statt des rohen Steinzeitalters, in welchem dieselben im harten Kampf ums Dasein eine ärmliche Existenz fristeten, mag es auch heute noch Manchem angenehmer sein, sich das goldene Zeitalter Hesiod’s zu denken, in welchem der kindliche Mensch einfach die reichen Gaben der Natur einzuheimsen hatte.488
Immer wieder werden die Anthropologen der Gründerzeit betonen, daß ihr Bild der ursprünglichen gesellschaftlichen Verhältnisse anfangs abschreckend erscheinen mag. Im gleichen Atemzug werde sie jedoch erklären, daß gerade die Anthropologie imstande sei, den ungemeinen Wert jener Fähigkeiten schätzen zu lernen, derer der Mensch bedurfte, um sich aus den Urzuständen bis zur Zivilisation „emporzuschwingen“. Diese Lehre habe etwas ungemein Verheißungsvolles, weil sie die Möglichkeit eines steten weiteren Fortschrittes in sich birgt. Die Möglichkeit, wir dürfen sagen, die Sicherheit; denn schliessen wir aus der Länge der Kindheit des Menschengeschlechts auf sein jetziges Alter, so dürfen wir annehmen, dass derselbe noch in seinen besten Jahren ist und noch Mancherlei vollbringen kann.489
Im Jahr 1870 veröffentlicht der Naturforscher und Politiker John Lubbock, ein enger Vertrauter von Charles Darwin, sein Werk The Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man. Mental and Social Condition of Savages (1870). Die zentralen Schlußfolgerungen seiner Überlegungen faßte Lubbock wie folgt zusammen: Die noch vorhandenen Wilden sind nicht die Abkömmlinge gesitteter Vorfahren. Die uranfänglichen Zustände des Menschen waren die einer ungemilderten Rohheit. Aus diesem Zustand haben sich verschiedene Racen unabhängig erhoben.490
Diese drei Thesen richten sich in erster Linie gegen die zumeist theologisch inspirierte und im 19. Jahrhundert als „Entartungs-“, „Verwilderungs-“, „Degenerations-“ oder „Degradationshypothese“ bekannte Auffassung, der 488 Ebenda. 489 Ebenda. 490 N. N., Ueber die Anfänge der geistigen und sittlichen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes. 2. Familie, gesellschaftliche Satzungen, Erfindung der Schrift [= Besprechung von John Lubbocks Origin of Civilisation], in: Das Ausland: Ueberschau der neuesten Forschungen auf dem Gebiete der Natur-, Erd- und Völkerkunde 43 (1870), S. 1057-1064, hier S. 1064.
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zufolge der Urzustand der Menschheit sowohl in sittlicher als auch in technischer Hinsicht den unmittelbar nachfolgenden Phasen „überlegen“ war. „Diese Anschauung“, heißt es in einem Bericht über Lubbocks Werk, herrschte auch in Deutschland vor etwas mehr als einem Menschenalter, und wurde eifrig genährt durch die den mühsamen und strengen Ergründungen abgeneigten Naturphilosophen. So sehen wir daß selbst der völkerkundige Martius in seinen früheren Schriften die rohen Stämme Brasiliens als gefallene Engelschaaren betrachtet wissen wollte, doch gelangte dieser treffliche Beobachter durch reiferes Nachdenken dahin, am Schlusse seiner wissenschaftlichen Laufbahn jenen früheren Irrthum zu erkennen und zu widerrufen. Jetzt gibt es in Deutschland wohl keinen Gelehrten von Ansehen der solchen Träumereien noch huldigt, in England dagegen wagten noch vor kurzem Männer wie Whately, der verstorbene Bischof von Dublin, und der Herzog von Argyll ähnliche Ansichten öffentlich zu vertreten.491
Nicht ohne Polemik meinte nun Lubbock, daß selbst in der Genesis Adam, der erste Mensch, nicht nur zuerst als nackt und dann mit Blättern bekleidet geschildert wird, but as unable to resist the most trivial temptation, and as entertaining very gross and anthropomorphic conceptions of the Deity. In fact, in all three characteristics – in his mode of life, in his moral condition, and in his intellectual conceptions – Adam was a typical savage.492
Angesichts dieser Beschreibung von Adam in der Bibel sei es, so Lubbock, schwer nachvollziehbar, wie der „Entartungstheoretiker“ Herzog von Argyll sich selbst als „champion of orthodoxy“ betrachten könne. Mit der Behauptung, einzelne „Racen“ hätten sich unabhängig voneinander und aus eigener Kraft aus einem Zustand des „utter barbarism“ zur „civilisation“ emporgearbeitet, widersprach Lubbock jener Vorstellung, daß ohne „external help“ eine Entwicklung der Zivilisation nicht stattfinden könne. Obgleich Lubbock, wie Stocking bemerkt, kein systematisches und rigides kulturevolutionistisches Stufenschema entwirft, war er doch bestrebt, für unterschiedliche Bereiche, unter anderem für die Religion, die Familie, das Recht, die Moral und die Kunst, eine mehr oder minder allgemeingültige Entwicklungsfolge zu skizzieren.493 Es sei das Ziel dieser Untersu491 N. N., Ueber die Anfänge der geistigen und sittlichen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes. 1. Die ersten religiösen Regungen [= Besprechung von John Lubbocks Origin of Civilisation], in: Das Ausland: Ueberschau der neuesten Forschungen auf dem Gebiete der Natur-, Erd- und Völkerkunde 43 (1870), S. 1033-1039, hier S. 1033. 492 John Lubbock zit. nach Sebastian EVANS, Sir John Lubbock on the Origin of Civilisation, in: Nature 3 (March 9, 1871), S. 362-365, hier S. 364. 493 George W. STOCKING, Victorian Anthropology, S. 155-156.
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chung, so Lubbock, den Nachweis zu erbringen, daß „the development of higher and better ideas as to Marriage, Relationships, Law, Religion, etc. has followed in its earlier stages a very similar course even in the most distinct races of man“.494 So stoße man etwa auf den untersten Stufen der Menschheit auf Atheismus, später auf den Fetischdienst, dann auf den Totemismus, dann auf den Schamanismus, dann auf den Anthropomorphismus, später auf die Trennung des Göttlichen von der Körperwelt bzw. auf die Vorstellung eines Übernatürlichen. Schließlich treffe man auf den Monotheismus, bei dem das Übernatürliche mit einer sittlichen Kraft ausgestattet, also das Religiöse mit dem Moralischen verbunden werde. Eine ähnliche Entwicklung wie der Verehrungstrieb weise auch die Geschichte des Familienlebens auf. Im Urzustand herrschten Hetärismus bzw. ehelose Geschlechtsbeziehungen vor, dann folgten Vielmännerei, Vielweiberei, Raubehe, monogame Ehe auf Probe, Ehe mit Scheidung und schließlich die aus freiem Entschluß von Mann und Frau eingegangene Ehe ohne Scheidung.495 Nach Stocking spiegelt der Wandel in der Aufmerksamkeitsrichtung von Lubbocks fünf Jahre zuvor erschienenen Prehistoric Times (1865) zu seinem neuen Werk Origin of Civilisation (1870) den immer einflußreicher werdenden Kontext der Darwinschen Debatten wider. Suchte Lubbock in seinen Prehistoric Times das hohe Alter des Menschengeschlechtes zu beweisen, so war er nun bestrebt, mit Hilfe entwicklungstheoretischer Überlegungen eine Brücke zwischen den „rohen“ Anfängen der Vergangenheit, die durch die noch lebenden „wilden Völker“ repräsentiert wurde, und der Zivilisation der Gegenwart zu schlagen. Im Zuge dieses Bemühens bediente sich Lubbock bereits zahlreicher Gedankengänge, die gemeinhin als zentrale Elemente des Kulturevolutionismus betrachtet werden. Zu nennen wären hier insbesondere die Vorstellung „einer seelischen Einheit des Menschengeschlechts“, ferner die Idee „unabhängiger Erfindungen“, also ähnlicher Sitten, Gebräuche und Techniken bei „wilden Völkern“, die in keinerlei Kontakt miteinander stehen, sowie schließlich der Gedanke eines „Parallelismus der kulturellen Entwicklung“.496 Der deszendenztheoretischen Geschichtsphilosophie stellte Lubbock ganz im Geiste der „jungen“ Anthropologie die vom „naturwissenschaftlichen“ Fortschrittsglauben durchdrungene Auffassung gegenüber, daß sich die Menschen aus ihren rohen Urzuständen allmählich emporgearbeitet hätten. Zwar sei es in bestimmten Fällen möglich, daß einzelne Völker ihre technischen Kenntnisse mit der Zeit vergessen würden und auch in bezug 494 Lubbock zit. nach ebenda, S. 156. 495 Vgl. hierzu N. N., Ueber die Anfänge der geistigen und sittlichen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes. 2. Familie, gesellschaftliche Satzungen, Erfindung der Schrift, S. 1057-1060. 496 Vgl. George W. STOCKING, Victorian Anthropology, S. 156. Um hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen sei erwähnt, daß Lubbock sich dieser Ideen, nicht jedoch dieser Begriffe bediente.
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auf ihre Moral und Religion „Rückschritte“ zu verzeichnen hätten, im großen und ganzen jedoch sei die Geschichte der Menschheit, so Lubbock, „one of progress, and that in looking forward to the future, we are justified in doing so with confidence and with hope“.497 Im Jahr 1870 bringt die Zeitschrift Globus Auszüge aus dem Bericht „Elend unter den Rothen Leuten in den nordwestlichen Staaten Nordamerikas“ des Cincinnati Volksfreundes. In den letzten zwanzig Jahren sei die Zahl der in Wisconsin lebenden Indianer auf ein Zwanzigstel geschrumpft. „Mit der Cultur des Landes nahm zuerst das große Wild rasch ab, dann auch das kleine, zuletzt wurden auch die Fische spärlicher.“498 Ihre letzte Nahrungsgrundlage, die an sumpfigen Ufern der Seen und Flüsse lebenden Moschusratten, sei durch ein von den Weißen angelegtes „Drainirungssystem“ zur Trockenlegung der Sümpfe weitgehend vernichtet worden. Die Hungersnot und Aussichtslosigkeit ihrer Lage habe dazu geführt, daß viele Indianer der Alkoholsucht verfielen. Der „Stamm“ der „Menomonis“ sei „bereits bis auf den letzten Mann ausgestorben“. Ein ähnliches Schicksal werde auch die benachbarten „Stämme“ ereilen. Die Indianer des Nordwestens seien einem schnellen Untergange geweiht. Alle Mildthätigkeit der Weißen würde sie nicht retten. Sie sind ein nur für das Leben im Walde geschaffenes Jägervolk. Haben sie Ueberfluß, so verwüsten sie das Vorhandene, gerathen sie aber in Noth, so ergeben sie sich mit stiller Resignation, ohne alle Energie und Anstrengung, sich zu helfen, in ihr Schicksal. Die Wälder sind hin, das Wild ist weg; die Cultur kommt, und der Indianer geht.499
Am 19. März 1870 erreicht der in Riga geborene Naturforscher und Entdeckungsreisende Georg Schweinfurth (1836-1925), der, nach Sven Hedin, „mehr als irgend ein Lebender oder Toter dazu beigetragen [hat], das Dunkel zu lüften, das über dem schwarzen Weltteile lag“, die Ufer des Uelle.500 „Dies“, so Schweinfurth in seinem Reisebericht, war also der rätselhafte, vielbesprochene Fluß, von welchem gerüchteweise und vom Hörensagen die Erzählung der Nubier mein Interesse bereits seit dem Aufbruch von Khartum gefesselt hatte. Wer eine Ahnung hat von der unklarsten 497 John Lubbock zit. nach Sebastian EVANS, Sir John Lubbock on the Origin of Civilisation, in: Nature 3 (March 9, 1871), S. 362-365, hier S. 364. 498 N. N., Das Hinwegschwinden der Indianer in Wisconsin und Minnesota [Auszüge aus dem Bericht „Elend unter den Rothen Leuten in den nordwestlichen Staaten Nordamerikas“ aus der Zeitschrift „Cincinnati Volksfreund“], in: Globus: Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde. Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie 17 (1870), S. 191-192, hier S. 191. 499 Ebenda, S. 192. 500 Sven HEDIN, Zu Georg Schweinfurths achtzigstem Geburtstag, in: Petermanns Mitteilungen 62 (1916), S. 441-442.
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Darstellungsweise der arabisch sprechenden Völker, wo es sich um Stromläufe und um Stromrichtungen handelt, wird die Spannung begreifen, mit welcher ich, in den Uferbüschen auf nächstem Weg mir Bahn brechend, einen Durchblick zu gewinnen suchte nach dem großen Wasser, dessen Rauschen an den Steinbänken in seinem Bett bereits eine Zeitlang vorher zu meinen Ohren gedrungen war. Er floß nach Westen und gehörte nicht mehr zum Nil.501
Obgleich Schweinfurth irrtümlicherweise den zum Stromsystem des Kongo gehörenden Uelle mit dem System des Schari bzw. mit den Zuflüssen des Tschadsees in Verbindung brachte, markierte seine Entdeckung dieser Wasserscheide nichtsdestoweniger einen weiteren Meilenstein in der hydrographischen Erforschung von Afrika. Als Schweinfurth, der von Khartum nach Zentralafrika vorgestoßen war, den westwärts fließenden Uelle erkundete, war er bereits knapp eineinhalb Jahre unterwegs. Es ist kaum möglich, seine Forschungsinteressen zu umschreiben. Er ist zugleich Geograph, Botaniker, Zoologe, Ethnograph, Anthropologe, Demograph usw., an allen Geheimnissen interessiert, die dieser „dunkle Kontinent“ noch birgt. Schweinfurth steht noch ganz in der holistischen Tradition der Länder- und Völkerkunde und ist bestrebt, einen „Totaleindruck“ des von ihm bereisten Gebietes zu gewinnen. Seine Forschung ist extensiv, nicht intensiv. Er sammelt unbekannte Gräser, legt Herbarien an, beschreibt „exotische“ Tierarten und – fast im gleichen Schriftzug – auch eigentümliche „Menschenrassen“. Daß ihm hierbei nur wenig Zeit blieb, all die besuchten Völker eingehend zu studieren, geschweige denn ihre Sprachen zu erlernen, versteht sich. Wenden wir uns im folgenden kurz einigen Passagen seines Werkes zu, um den für das geographische Entdeckungszeitalter charakteristischen ethnographischen Gehalt seiner Reiseskizzen zu beleuchten. Eines der Gebiete, die Schweinfurth auf seinem Weg nach Süden bereiste, war der Wohnsitz eines Volks, das im arabischen Sudan als Niamniam bekannt war, ein Name, welcher der Sprache der Dinka entlehnt ist und „Fresser, Vielfresser“ bedeutet. Unschwer zu erraten, spielt der Name auf die unter den Niamniam vermeintlich verbreitete Gewohnheit der Anthropophagie an. In den abenteuerlichen und legendenumrankten Berichten muslimischer Handelstreibender galt dieses zentralafrikanische Volk, das sich selbst „Sandeh“ nennt, als der Inbegriff der „Wildheit.“ Während heutzutage der vom Affen abzuleitende Ursprung des Menschengeschlechts ein Gegenstand unserer täglichen Unterhaltung geworden zu sein scheint, galten im Sudan schon seit langem die Niamniam, ausgestattet mit den unvermeidlichen Attributen des Urmenschen, als Gemeinplätze aller darauf bezüglichen Ideen, ein Volk, dessen Dasein, hervorgerufen aus nächtlicher Begat501 Georg SCHWEINFURTH, Im Herzen von Afrika, 1868-1871. Herausgegeben von Herbert Gussenbauer. Stuttgart: Thienemann, Edition Erdmann 1984 [1874], S. 171-172.
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tung von Hexen und Waldkobolden sich im sagenhaften Dunkel der Urwälder zu verlieren scheint.502
Nach den Schätzungen von Schweinfurth lebten rund zwei Millionen Menschen im Niamniamland, das sich im Bereich der Wasserscheide des Nil- und Scharibeckens befindet und sich vom 4. bis zum 6. Grad nördlicher Breite erstreckt. Auch Schweinfurth, der übrigens in den späten 1850er Jahren als einer der ersten Bergsteiger den Großglockner erklommen hatte, wird beim ersten Anblick „echter und unverfälschter Niamniam“ seinem Erstaunen Ausdruck verleihen. „[I]m Vergleich zur fremdartigen Wildheit ihrer äußeren Erscheinung [erscheint] alles gleichgültig und langweilig […], was ihm bis dato an Völkerstämmen in Afrika unter die Augen gekommen ist.“503 Schröpfnarben, Tätowierungen, „Spitzfeilen der Schneidezähne“, Fellbekleidungen, ein auffallender Haarputz, Tier- und Menschenzähne als Schmuck prägen das äußere Erscheinungsbild. Zu Recht, so Schweinfurth, gälten die Niamniam als Menschenfresser. Sie rühmen sich selbst vor aller Welt ihrer wilden Gier, tragen voll Ostentation die Zähne der von ihnen Verspeisten, auf Schnüre gereiht wie Glasperlen, am Halse und schmücken die ursprünglich nur zum Aufhängen von Jagdtrophäen bestimmten Pfähle bei den Wohnungen mit Schädeln ihrer Opfer. Am häufigsten und von allgemeinstem Gebrauch wird das Fett von Menschen verwertet. Dem Genuß ansehnlicher Qualitäten desselben schreiben sie allgemein eine berauschende Wirkung zu; es gelang mir nicht, die Ursache, welche zu dieser Vorstellung Veranlassung gegeben hat, zu erspähen, so oft auch mir von den Niamniam selbst die Sache mitgeteilt wurde. Verspeist werden im Krieg Leute jeden Alters, ja die alten häufiger noch als die jungen, da ihre Hilflosigkeit sie bei Überfällen zur leichteren Beute des Siegers gestaltet. Verspeist werden ferner Leute, die eines plötzlichen Todes starben und in dem Distrikt, wo sie lebten, vereinzelt und ohne den Anhang einer Familie dastanden.504
Südlich des Niamniamlandes, zwischen 3-4° nördlicher Breite und 28-29° östlicher Lange, befindet sich das von Schweinfurth ebenfalls erkundete Gebiet der zu den Nubavölkern zählenden Monbuttu, deren Kopfzahl auf rund eine Million Menschen geschätzt wurde. Hier sollte der deutsche Botaniker und Ethnograph vom berüchtigten Monbuttukönig Munsa, einem der großen zentralafrikanischen Herrscher, in dessen Palästen feierlich empfangen werden. Am Tag der Audienz, die durchaus den Charakter eines Staatsbesuchs hatte und in der völkerkundlichen Literatur der Zeit reichlich dokumentiert wurde, kleidete sich Schweinfurth in ein „feierliches Schwarz“ und nahm die „schwerbeschlagenen Schnürstiefel eines Alpentouristen“, um seiner „leichten Figur durch die vermehrte Wucht der 502 Ebenda, S. 176. 503 Ebenda, S. 177. 504 Ebenda, S. 185.
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Tritte einen imponierenden Charakter“ zu verleihen.505 Als er sich mit seinen Begleitern der Residenz des Königs näherte, herrschte bereits ein reges Treiben. Das gemeine Volk war zusammengekommen, Trommeln wurden gerührt, Trompeten geschmettert. Im Palast, wo die „Vornehmen“ des Volkes „in vollem Waffenschmuck“ auf Bänken Platz genommen hatten, wurde Schweinfurth zunächst von einem königlichen Beamten, der die Funktion eines Zeremonienmeisters ausübte, empfangen und ein Platz angewiesen. Der Thron war noch leer, Munsa noch nicht zugegen. Schweinfurth blieb Zeit, die Palasthalle und das Treiben am davor gelegenen Platz zu beobachten. Der erst vor kurzem fertig gestellte, helle und prachtvolle Palast von Munsa war etwa hundert Fuß lang, vierzig Fuß hoch und fünfzig Fuß breit. Alles Holzwerk an ihm schien glänzend braun poliert und wie frisch gefirnißt […]. Das in einem breit abgerundeten Spitzbogen kühn gewölbte Dach der Audienzhalle ruhte auf drei langen Pfostenreihen, welche aus Baumstämmen von dem geraden Wuchs der Fichte hergestellt waren. […] Der Fußboden der Halle war mit einem dunkelroten Tonestrich überzogen, fest und wohlgeglättet wie Asphalt. Eine niedrige Brustwehr aus gleicher Masse bildete die Seiteneinfassung, indem sie unter dem bis nahe zur Erde reichenden Dach noch offenen Raum freiließ, welcher auch von den Seiten Licht und Luft in die Halle hineinließ. Hunderte von schaulustigen Eingeborenen, wahrscheinlich das „schwarze Volk“ von Monbuttu, das im Inneren keine Sitzplätze erhalten konnte, lehnte von außen an der Seitenbrüstung und guckte zu dieser Öffnung herein. Aufseher mit langen Stöcken machten, um Ordnung zu schaffen, die Runde, hieben auch, wo es not tat, wacker auf die Menge ein. Knaben, welche sich unberufen in den Festsaal geschlichen, wurden von ihnen schonungslos hinausgepeitscht.506
Nach rund einer Stunde des Wartens ertönte plötzlich „Hörnerklang, Volksgeschrei und verdoppelter Donner der Pauken“. Doch ehe Munsa, der noch von seinen Frauen für die Audienz geschmückt, gekleidet und bemalt wurde, tatsächlich erscheinen sollte, wurden die Prunkwaffen in den Palast getragen und zur Schau gestellt, „für zentralafrikanische Begriffe Schätze von unberechenbarem Wert und alles bisher gesehene weit in den Schatten stellend“. Erst nach dieser Zeremonie schien es Ernst mit dem Kommen des längst anvisierten Königs zu werden. Ein Hin- und Herrennen entstand von Ausrufern, Platzmachern und Festordnern, die Volkshaufen drängten nach dem Eingang – jetzt, still! –, da kommt der König. Voran schreiten die Musikanten, welche auf kolossalen, aus ganzen Elfenbeinzähnen geschnitzten Hörnern blasen, und andere, die in ihren Händen plumpe, aus Eisenblech roh gehämmerte Glocken schwingen. Den Blick gleichgültig vor sich hin gerichtet, naht endlich derben Schritts der rotbraun gesalbte Cäsar, gefolgt von einer Schar seiner Lieblingsweiber, in Putz und Haltung wild, roman505 Ebenda, S. 196. 506 Ebenda, S. 200.
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tisch, malerisch. Ohne mich eines Blicks zu würdigen, wirft er sich auf die niedere Thronbank und betrachtet seine Füße. […] Zur Feier des Tages hatte auch er seine besten Kleider angelegt. Meine Augen hafteten an der phantastischen Figur des Kannibalenherrschers, nicht satt sehen konnten sie sich an diesem seltsamen, wilden Gesellen, von welchem gesagt wurde, daß er täglich Menschenfleisch esse. Mit Ringen und Ketten und vielem fremdartig geformten Schmuck an Armen und Beinen, an Hals und an Brust, auf dem Scheitel eine Art Halbmond, alles aufs glänzendste geputzt und geschliffen, erstrahlte der Herrscher in seiner schweren Kupferpracht wie im roten Schimmer einer sonntäglichen Küche, ein Staat, der freilich nach unseren Begriffen eines königlichen Schatzes unwürdig erschien, er erinnerte gar zu sehr an jene Rüstkammern bürgerlicher Opulenz. Sein Anblick hatte indes etwas über alle Maßen Bizarres, denn alles, was er an sich hatte, trug den unverfälschten Geschmack Zentralafrikas zur Schau, und nur die Kunsterzeugnisse des eigenen Landes wurden hier als würdig erachtet, die Majestät eines Königs der Monbuttu zu schmücken.507
Der König nahm auf seinem Thron Platz, doch es sollte noch eine geraume Zeit vergehen, ehe der etwa vierzig Jahre alte Monarch, dieser Inbegriff „jener halbmythischen Majestäten von Zentralafrika“, seinem deutschen Besucher „zwanglose Blicke“ zuwarf. „Wer in aller Welt, fragte ich, hat diesen wilden Afrikaner solche Fassung und Selbstbeherrschung gelehrt, wer den königlichen Aplomb und die Gravität seiner Schritte?“508 Die Fragen, die der König durch einen Dolmetscher schließlich an Schweinfurth richtete, waren belanglos, verrieten keinerlei Neugier, woher und warum er gekommen wäre. Hinter dem König, der einen Säbel als Zepter in der Hand hielt, hatten sich rund fünfzig Frauen niedergelassen. Diese waren „bloß die Weiber ersten Ranges, die zur Intimität des Königs gehörten, denn mit fünfzig war ihre Zahl noch lange nicht erschöpft“.509 Schweinfurth überreichte dem König eine Reihe von Geschenken. Dann begannen die Vorführungen: Musiker, ein Posse reißender Hofnarr, ein singender Eunuch und eine Rede von Munsa. Knapp drei Wochen verbrachten Schweinfurth und seine Begleiter am Hof des Königs Munsa. Das Lager der Forschungsreisenden sollte zu einem Tummelplatz für Neugierige und Schaulustige werden. Die vornehmen Monbuttu kamen mit ihren Bänken und ließen diese reihenweise vor den Eingang stellen, schweigsam und forschenden Blicks mich in meinem Tun beobachtend. Immer war es mehr meine Persönlichkeit, welche ihr ganzes Nachdenken zu absorbieren schien, als das viele fremdartige Gerät, das mich umgab und welches ihnen doch ebenso rätselhaft erscheinen mußte.510
507 508 509 510
Ebenda, S. 201-202. Ebenda, S. 204. Ebenda, S. 206. Ebenda, S. 209.
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Schon bald entspann sich ein reger Handel. Schweinfurth versprach den Monbuttu Tauschwaren, falls sie ihm Waffen, Geräte, Schmuck, Tiere, Pflanzen usw. brächten. Insbesondere wollte Schweinfurth jedoch „Menschenschädel“ in seinen Besitz bringen. Dies ließen sich viele nicht zweimal sagen, und im Handumdrehen entwickelte sich ein förmlicher Kuriositätenmarkt mit schwungvoll betriebenem Tauschhandel. Die Menge der mir solchergestalt in den ersten Tagen herbeigeschleppten Gebeine war erstaunlich und mußte meinem immer noch schüchternen Glauben an eine Allgemeinheit kannibalischer Sitten in diesem Land zu völliger Überzeugung verhelfen. Da lagen Haufen von Knochen aller Art, Unterkiefer, Schädelfragmente, die meist der Zähne beraubt waren, um sie als Halsschnüre zu verwerten. Solche Indizien gegenüber mußte auch die hartnäckigste Zweifelsucht verstummen.511
Schweinfurth sah sich genötigt, seinen Handelspartnern begreiflich zu machen, daß er „nur intakte Schädel gebrauchen könne, nur für solche Kupfer hergeben würde.“ Die meisten Schädel waren nämlich zertrümmert, um das Hirn bequemer herausnehmen zu können. Von allen Schädeln, die mir nun in Folge zugingen, es waren ihrer an die zweihundert, las ich einige vierzig intakte Exemplare aus und verpackte sie wohletikettiert zum Transport nach Europa. In allen Fällen wußten die Überbringer mir Herkunft und Geschlecht, ob weiblich oder männlich, mit großer Bestimmtheit anzugeben, was allein erst den Wert der Sammlung bedingte. Die meisten Schädel, welche mir die Monbuttu brachten, gehörten den Völkern an, die im Süden ihres Gebietes ihre Wohnsitze haben und den beständigen Raubzügen der ersteren ausgesetzt sind, nur wenige stammten von den Monbuttu selbst. Der Zustand, in welchem ich viele Stücke empfing, ließ erkennen, daß sie in Wasser gekocht und mit Messern abgeschabt worden waren; einige schienen direkt von den Mahlzeiten der Eingeborenen zu kommen, denn sie waren noch feucht und trugen den Geruch von frisch Gekochtem an sich; viele sahen aus, als wären sie unter altem Kehricht und Küchenabfällen aufgelesen worden. Den Überbringern ließ ich sagen, die Schädel würden bei uns gebraucht, um auch aus der Ferne die Menschen kennenzulernen, die hier wohnten; wir besäßen die Kunst aus der Schädelform der Menschen Art und Sinn zu erkennen, sowie ihre Vorzüge und Fehler, dazu sammle man sie aus allen Ländern der Erde. Die Karthumer hatten nämlich, da sich mein Einsammeln von Schädeln bereits ins zweite Jahr hinzog, den Glauben verbreitet, dieselben dienten mir zur Bereitung feinster Gifte.512
Die im „Herzen von Afrika“ gesammelten Schädel sollte Schweinfurth später dem Anatomischen Museum in Berlin übergeben. Trotz seines Schauders vor dem Kannibalismus, eine die Leser ethnographischer Be511 Ebenda, S. 209-210. 512 Ebenda, S. 210.
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richte bis heute faszinierende „Sitte“, fällt das Urteil von Schweinfurth über die charakterlichen Eigenschaften und Gebräuche der Monbuttu keineswegs negativ aus. Ihre staatlichen Verhältnisse seien geordnet, im Verkehr und Handeln hätten sie sich als verläßlich erwiesen. Die Monbuttu seien, so Schweinfurth, eine edlere Rasse von Menschen, ein Volk, das sogar einen gewissen Nationalstolz an den Tag legt, Menschen, in einem Grade begabt mit Verstand und Vernunft wie wenige Bewohner der afrikanischen Wildnisse; Menschen, die Urteilskraft besitzen, mit denen sich reden läßt und die auf das, was man sie fragt, eine vernünftige Antwort zu geben wissen […].513
Neben seiner Schädelsammlung galt Schweinfurths besonderes Interesse jenem sagenumwobenen, bereits in Herodots Historien erwähnten „Zwergvolk“, von dem vermutet wurde, daß es in diesem Teil Zentralafrikas beheimatet sei.514 Immer wieder hatte Schweinfurth auf seiner Reise von diesen „Männchen“ gehört, schenkte jedoch der „Pygmäensage“ keinen Glauben und war überzeugt, es hier nicht mit einem Volk, sondern mit einzelnen „pathologischen“ Individuen zu tun zu haben. Bereits in den ersten Tagen seines Aufenthalts bei den Monbuttu hatte Schweinfurth diese gebeten, ihm doch die „vielbesprochenen Zwerge“ zu zeigen. Dies sei schwierig, wurde ihm geantwortet, da die „Zwerge“ ängstlich seien. Eines Tages jedoch vernahm Schweinfurth im Lager ein „lautes Geschrei“. Mohammed hatte einen Pygmäen beim König überrascht und schleppte nun trotz seines Sträubens und wilden Gebarens ein seltsames Männchen vor mein Zelt; es hockte auf seiner rechten Schulter, hielt ängstlich Mohammeds Kopf umklammert und warf scheue Blicke nach allen Seiten. Bald saß es vor mir auf meinem Ehrenplatz, zu seiner Seite der königliche Dolmetsch; ich konnte nun endlich meine Augen weiden an der handgreiflichen Verkörperung tausendjähriger Mythe, ihn 513 Ebenda, S. 231. 514 Vgl. in diesem Zusammenhang den bei Herodot erwähnten, berühmten Reisebericht der in Libyen beheimateten Nasamonen. „Die jungen Leute, die von ihren Altersgenossen ausgeschickt und mit Wasser und Lebensmitteln wohl versehen waren, zogen nach ihrem Bericht zuerst durch das bewohnte Land. Danach gelangten sie in die Zone der wilden Tiere und schließlich von dort in die Wüste, immer in Richtung nach Westen. Viele Tage zogen sie durch lauter Sandwüsten, dann sahen sie endlich wieder Bäume in einer Ebene wachsen. Sie gingen hin und pflückten von den Früchten, die daran hingen. Noch während sie dies taten, kamen kleine Männer zu ihnen – noch kleiner als mittelgroß –, ergriffen sie und zerrten sie fort. Ihre Sprache konnten die Nasamonen nicht verstehen, umgekehrt die Kleinen nicht die Sprache der Nasamonen. Sie führten sie durch weite Sümpfe und erreichten endlich eine Stadt, in der alle Menschen so klein waren wie ihre Führer und von schwarzer Hautfarbe. An der Stadt floß ein großer Strom vorbei von Westen nach Osten, darin gab es Krokodile.“ HERODOT, Historien: Erster Band. Griechisch-deutsch hg. von Josef Feix, München: Ernst Heimeran 1963, S. 227 [II, 68-69].
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zeichnen und ausforschen. Beides war nicht so leicht getan als gedacht; ihn vorläufig zum Sitzen zu bringen, war nur dem Erfolg zu verdanken, welchen die mit großer Eilfertigkeit von mir ausgekramten Geschenke erzwangen. In meiner Angst, es würde sich keine zweite Gelegenheit darbieten, griff ich zu dem letzten Mittel der Überredungskunst; ich beschenkte den Dolmetsch, ihn bittend, dem Furchtsamen doch ja Mut zuzusprechen, in ihm Zutrauen zu mir zu wecken; was also im Laufe von zwei Stunden geschehen konnte, das geschah: Er wurde gemessen, porträtiert, gefüttert, beschenkt und bis zur Erschöpfung ausgefragt.515
Der Adimokuh genannte Akkah war eineinhalb Meter groß. Ehe man den mit Glasperlen und Kupfer beschenkten Adimokuh wieder entließ, wurde er noch angehalten, einen Waffentanz aufzuführen. Über diese Darbietung schreibt Schweinfurth: Etwas Possierlicheres, Urkomischeres hätte kein Clown in einem Bereiterzirkus zum besten geben können. Trotz seines großen Hängebauchs, trotz der kurzen und dürren Säbelbeine leistete Adimokuh, der, beiläufig gesagt, bejahrten Alters zu sein schien, wahrhaft Unglaubliches an Sprungkraft. Seine Sprünge und Attitüden waren dabei von einer affenähnlichen Lebhaftigkeit des Gesichtsausdrucks begleitet. Alle Anwesenden mußten sich den Bauch vor Lachen halten; die dolmetschenden Niamniam aber riefen dazu: „Seht die Akkah, wie sie hüpfen und tanzen, so springen sie im Grase der Steppe umher, gleich Heuschrecken, wenn sie den Elefanten jagen. Dieser sieht schlecht, aber die Akkah sind flink und leichtfüßig, sie schießen ihm ihre Pfeile ins Auge und jagen ihm Lanzen in den Bauch.“516
Wie Schweinfurth in Erfahrung bringen konnte, lebte das „Pygmäenvolk“ der Akkah im Süden der Monbuttu, zwischen dem 1. und 2. Grad nördlicher Breite. Ein Teil der Akkah war dem König Munsa unterworfen. Munsa, bestrebt, „die Pracht seines Hofes durch eine Sammlung aller ihm zugänglichen Naturmerkwürdigkeiten zu erhöhen“, hatte einige Familien in der Nähe seiner Residenz angesiedelt. „Dank“, schreibt Schweinfurth, werden es jedenfalls alle dem großmütigen Monbuttukönig wissen, daß er sich dieses kostbaren Restes einer dem Untergang entgegengehenden Urbevölkerung so liebreich angenommen hat, um ihre Existenz bis zu jener Zeit sicherzustellen, wo ganz Innerafrika offengelegt sein wird.517
Schweinfurth war von seinem „ethnographischen Fund“ begeistert und beschloß, ehe er die Residenz des Königs wieder verließ, seinen, im Monbuttuland „exotischen“ Bongoköter, den Munsa unbedingt haben wollte,
515 SCHWEINFURTH, Im Herzen von Afrika, S. 248-250. 516 Ebenda, S. 251. 517 Ebenda, S. 258.
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gegen „ein Individuum der Akkarasse einzutauschen“.518 Munsa ging auf diesen Handel ein und so bekam Schweinfurth für seinen Hund einen Akkah namens Nsewue, dessen Alter auf etwa fünfzehn Jahre geschätzt wurde. Der Deutschbalte war begeistert, „einen lebenden Beweis für die Wahrheit tausendjähriger Mythe mit mir nach Europa nehmen“ zu können.519 Eineinhalb Jahre, bis nach Berber, sollte Nsewue den Forschungsreisenden „begleiten“. Der „Pygmäe“ hatte sich, so Schweinfurth, unter „meiner Pflege vortrefflich entwickelt und an meine Person attachiert wie ein Sohn“.520 Der deutsche Forscher gestattete Nsewue sogar, gemeinsam mit ihm die Mahlzeiten einzunehmen, eine Auszeichnung, die ich in Afrika noch keinem Eingeborenen hatte zuteil werden lassen. Nur sein körperliches Wohlbefinden vor Augen und seine Zufriedenheit mit dem ihm aufgedrängten Schicksal, ließ ich mir alle die zahlreichen Unarten und kleinen Teufeleien, welche seiner Rasse eigen waren, ohne Murren gefallen.521
Schweinfurth erfuhr, daß die Akkah nur ein Glied „in der langen Kette von Zwergvölkern“ bildeten, die am Äquator ihre Wohnsitze hatten. Neben der Größe der Akkah war insbesondere ihr Schädelbau bemerkenswert: „ein hoher Grad von Prognathie, schnauzenartiges Vorspringen der Kiefer, zurückweichende Kinnprominenz, eine breite und der Kugelgestalt sich nähernde Schädelwölbung, tiefe Einsenkung der Nasenbasis“.522 Auffallend war unter anderem auch „die scharfkantige Begrenzung der äußeren Lippenränder, welche an die spaltförmige Mundbildung der Affen erinnert“.523 Von ihrer Sprache konnte Schweinfurth nur mitteilen, daß die Aussprache unartikuliert war und mit lateinischen Schriftzeichen nicht wiedergegeben werden konnte. Als „Jägervolk par excellence“ zeichneten sich die Akkah durch Sinnesschärfe, „teuflische Erfindungsgabe“ im Fallenstellen und Schlingenlegen, durch Schlauheit und Geschicklichkeit aus. Diese Schlauheit ist indes nur der Ausdruck eines in ihrem innersten Wesen wurzelnden Naturtriebes, der seine Freude an Bosheiten hat. Nsewue machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, nächtlicherweise auf Hunde seine Pfeile abzuschießen, auch quälte er gern Tiere. […] Trotz ihrer Bosheit erfreuen sich die Akkah unter der Herrschaft der Monbuttu einer gewissen Protektion. Die Buschmenschen des äquatorialen Afrika erscheinen nicht als jene gemeinschädlichen Unholde, welche die rassisch vollkommeneren Nachbarn gleich einer Schlangen- und Otternbrut zu vernichten bestrebt sind; sie spielen vielmehr die 518 Ebenda, S. 215. Bei Schweinfurth findet sich sowohl die Schreibweise Akka als auch Akkah. 519 Ebenda. 520 Ebenda, S. 254. 521 Ebenda. 522 Ebenda, S. 257. 523 Ebenda.
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Rolle wohlwollender Waldkobolde, Heinzelmännchen, die für andere arbeiten. Sie verhelfen den bequemen Monbuttu zu reicherer Jagdausbeute.524
Der von Schweinfurth gegen einen Köter eingetauschte Akkah sollte die Reise nach Europa nicht überleben. In Berber starb er an Dysenterie, „zu welcher weniger der Wechsel der Lebensweise als vielmehr seine schrankenlose Unmäßigkeit den Keim gelegt haben mochte, die ich nicht genugsam zu überwachen gewußt“.525
Das Jahr 1871 Darwin und der Affenstreit – der „Stich“ durch den Mont Cenis – die Suche nach Livingstone – Buffalo Bill als Reiseleiter – Tylor und die Wissenschaft der Reformation
Zwölf Jahre nach der Veröffentlichung seines Werkes Ursprung der Arten (1859) und einige Jahre nachdem seine Anhänger die hierin entwickelten Ideen bereits auf die Geschichte der Menschheit angewandt hatten, sollte auch Darwin seinen Beitrag zur „Beunruhigung“ in der heiklen Familienangelegenheit leisten und sich mit der Frage der Abstammung des Menschen (1871) befassen.526 Gleich zu Beginn dieser Arbeit wird Darwin auf die Bedeutung der neuen prähistorischen Forschungsergebnisse für seine eigenen Untersuchungen hinweisen: The high antiquity of man has recently been demonstrated by the labours of a host of eminent men, beginning with M. Boucher de Perthes; and this is the indispensable basis for understanding his origin. I shall, therefore, take this conclusion for granted, and may refer my readers to the admirable treatises of Sir Charles Lyell, Sir John Lubbock, and others.527
Das zentrale Ergebnis der Darwinschen Studie bestand bekanntlich darin, daß der Mensch, wie jede andere Spezies, von einer älteren und niedrigeren Form abstammte und daß seine körperliche und geistige Ausstattung
524 Ebenda, S. 258. 525 Ebenda, S. 254. 526 Charles DARWIN, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. With an introduction by John Tyler Bonner and Robert M. May, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1981 [= Photoreproduction of the 1871 edition published by J. Murray, London]. Die deutsche, von J. Victor Carus besorgte Übersetzung erschien noch im gleichen Jahr unter dem Titel Die Abstammung des Menschen und geschlechtliche Zuchtwahl (1871) bei der E. Schweizbart’schen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart. Ich halte mich im folgenden an die englische Ausgabe. 527 Ebenda, S. 3.
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unauslöschliche Spuren dieses Ursprungs aufwies.528 Für den Darwinschen Gedanken, daß auch der Mensch eine lange Entwicklung durchgemacht hatte und daß zahlreiche kleine Zwischenschritte zu großen Veränderungen führen können, sollten das von der Urgeschichte festgestellte hohe Alter sowie die von ihr ermittelten „rohen“ Anfänge des Menschheitsgeschlechtes von entscheidender Bedeutung sein: Je länger der angenommene Zeitraum und je „roher“ die Urzustände des Menschen, desto plausibler erschien seine These, daß kleine Veränderungen große Wirkungen hervorrufen könnten. Mit seiner „Abstammungslehre“ sollte sich Darwin erneut gegen die insbesondere mit Louis Agassiz verbundene Lehre von der Unveränderbarkeit der Arten wenden. Im Zuge seiner Beweisführung verglich er die anatomischen, physiologischen, psychologischen, intellektuellen und sozialen Charakteristika der Menschen mit den höher entwickelten Säugetieren und betonte hierbei immer wieder, daß hinsichtlich dieser Merkmale nur graduelle, quantitative, keineswegs jedoch wesensmäßige, qualitative Unterschiede erkennbar seien. Mit Hilfe des Entwicklungsgedankens suchte Darwin also zu zeigen, daß das Reich der Tiere und jenes der Menschen keineswegs durch unüberwindbare Grenzen voneinander getrennt seien. In bezug auf die geistigen Fähigkeiten, so Darwin, sei der Abstand zwischen den niedersten Fischen und den hohen Affen weitaus größer als der Abstand zwischen den hohen Affen und den Menschen. Mit anderen Worten: Der Affe ist dem Menschen ähnlicher und näher als dem Fisch. Mit zahlreichen Beispielen und Überlegungen wird Darwin in seinem Werk zu belegen versuchen, daß sich die oftmals nur dem Menschen zugeschriebenen Eigenschaften auch bei höher entwickelten Tieren fänden. Gefühlsäußerungen, Furcht, Eifersucht, Hingabe, mütterliche Anhänglichkeit, Treue, Neugier, Nachahmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung, Einbildung, Verstand, das Gefühl für Schönheit, die Fähigkeit zur Abstraktion, Geselligkeit usw. seien Mensch und Tier gemein; ja selbst ein religiöser Verehrungstrieb ließe sich bei höher entwickelten Tieren erkennen. Die Versuche von Darwin, moralische und religiöse Regungen bei Tieren nachzuweisen, sollten bekanntlich heftigen Widerspruch hervorrufen. So weit wir das Seelenleben von Affen kennen, meinte ein Rezensent, „ge528 Ebenda, S. 404-405. In der Einleitung nennt Darwin übrigens eine Reihe von Naturforschern, die bereits vor ihm argumentiert hatten, daß der Mensch, gleich anderen Arten, ein Nachkomme von älteren, niedrigeren und ausgestorbenen Formen sei. Namentlich erwähnt Darwin an dieser Stelle Lamarck sowie von seinen Zeitgenossen Wallace, Huxley, Lyell, Vogt, Lubbock, Büchner, Rolle und Haeckel. Insbesondere Haeckel habe in seiner erstmals 1868 erschienenen Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868) die Genealogie des Menschen ausführlich erörtert. „If this work had appeared before my essay had been written, I should probably never have completed it. Almost all the conclusions at which I have arrived I find confirmed by this naturalist, whose knowledge on many points is much fuller than mine.“ Ebenda, S. 4.
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bricht es denselben ebenso sehr an dem moralischen Gefühl wie den unter ihm stehenden Tieren“.529 Darwins Hundebeispiele, mit denen er die Anhänglichkeit und Treue von Tieren nachzuweisen gedachte, seien schlicht kindisch. „Kein erfahrner und vernünftiger Mensch [glaubt] an ein Hundegewissen und ebenso wenig an ein Rechtsgefühl der Hunde.“530 Erbost zeigte sich der Rezensent auch über die Behauptung, daß religiöse Regungen bereits bei Tieren anzutreffen seien. „Keiner wird vermögen aus einem Hund oder einer Katze christliche Grundsätze zu entwickeln. Derlei Versuche müssen jeder Zeit scheitern und zuweilen lächerlich ausfallen.“531 Darwin war sich bewußt, daß seine Schlußfolgerung, auch der Mensch habe sich aus niederen Formen entwickelt, vielen als „highly distasteful“ erscheinen werde.532 „But there can hardly be a doubt that we are descended from barbarians.“533 Ich verzichte darauf, die Darwinsche Theorie zur Gänze zu rekapitulieren und beschränke mich im folgenden auf einige Überlegungen zum „ethnologischen“ Gehalt des sogenannten „Affenstreits“, der einen der großen Zankäpfel der „jungen“ Anthropologie bildete. Im Schlußkapitel seines Werkes verweist Darwin auf ein einschneidendes, mehrere Jahrzehnte zurückliegendes Erlebnis während seiner Reise auf der H.M.S. Beagle, einer Reise, die bekanntlich für seine gesamte geistige Entwicklung von zentraler Bedeutung sein sollte. The astonishment which I felt on first seeing a party of Fuegians on a wild and broken shore will never be forgotten by me, for the reflection at once rushed into my mind – such were our ancestors. These men were absolutely naked and bedaubed with paint, their long hair was tangled, their mouths frothed with excitement, and their expression was wild, startled, and distrusteful. They possessed hardly any arts, and like wild animals lived on what they could catch; they had no government, and were merciless to every one not of their own small tribe. He who has seen a savage in his native land will not feel much shame, if forced to acknowledge that the blood of some more humble creature flows in his veins. For my own part I would as soon be descended from that heroic little monkey, who braved his dreaded enemy in order to save the life of his keeper; or from that old baboon, who, descending from the mountains, carried away in triumph his young comrade from a crowd of astonished dogs – as from a savage who delights to torture his enemies, offers up bloody sacrifices, practices infanticide without remorse, treats his wives like slaves, knows up no decency, and is haunted by the grossest superstitions.534 529 WAGNER, [Rezension von:] Die Abstammung des Menschen und die Zuchtwahl durch das Geschlecht. Von Charles Darwin, in: Mittheilungen der k. und k. geographischen Gesellschaft in Wien 14/N.F, 4 (1871), S. 184-193, hier S. 187. 530 Ebenda. 531 Ebenda, S. 186. 532 DARWIN, Descent, S. 404. 533 Ebenda. 534 Ebenda, S. 404-405.
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In dieser Passage begegnet man jenen beiden Argumentationsstrategien, derer sich Darwin und seine Mitstreiter immer wieder bedienten, um dem Gedanken einer tierischen Abstammung des Menschen Plausibilität zu verleihen. Wenden wir uns im folgenden kurz diesen beiden Strategien zu. Die erste Strategie, die Kluft zwischen den Menschen und den höchst entwickelten Tieren, den Affen, zu verringern, besteht darin, die Menschen oder besser gesagt: bestimmte Vertreter des Menschengeschlechts zu „erniedrigen“, also diese als möglichst tier- oder affenähnlich erscheinen zu lassen. Gerade in diesem Zusammenhang sollte der bereits mehrfach erwähnte homo totius mundi ferocissimus eine entscheidende Rolle spielen. Indem die Entwicklungstheoretiker die „Wildheit“ der „niedersten Menschenrassen“ in besonders krassen Farben zeichneten und mitunter wohl auch überzeichneten, gelang es ihnen, den Abstand zwischen dem „Wilden“ und dem „höchsten Tier“ zu verringern. Die in der Gegenwart lebenden „Wilden“ wurden hierbei als Vertreter einer fernen Vergangenheit betrachtet, genossen gewissermaßen den Status zeitgenössischer „Urmenschen“. Je ähnlicher nun der „Wilde“ qua Urmensch in bezug auf seine geistigen und körperlichen Eigenschaften dem Affen erschien, desto größer erschien auch die Möglichkeit eines verwandtschaftlichen Verhältnisses. Etwas überspitzt formuliert: Der „tierischste Wilde“ war zwar nicht das so eifrig gesuchte „missing link“, aber er kam ihm zumindest ziemlich nahe und war gewissermaßen das bestmögliche „Substitut“. Im Zuge der ersten Strategie, also der „Erniedrigung des Menschen“, wird Darwin immer wieder betonen, daß bestimmte dem Menschen zugeschriebene Eigenschaften keineswegs das Gemeingut aller Menschen sei. Das Selbstbewußtsein, hier gemeint im Sinne der Fähigkeit, über sich selbst und Geschehenes zu reflektieren, werde, so Darwin, Tieren oftmals abgesprochen und als etwa betrachtet, das nur dem Menschen eigen sei. Aber handle es sich, so Darwin, hierbei wirklich um ein Charakteristikum der gesamten Menschheit? „[H]ow little can the hard-worked wife of a degraded Australian savage, who uses hardly any abstract words and cannot count above four, exert her self-consciousness, or reflect on the nature of her own existence.“535 Ähnliches gelte für die Religion. Es gebe keinen Beweis, daß der Mensch ursprünglich an einen allmächtigen Gott geglaubt hätte. On the contrary there is ample evidence, derived not from hasty travellers, but from men who have long resided with savages, that numerous races have existed and still exist, who have no idea of one or more gods, and who have no words in their languages to express such an idea.536
535 Ebenda, S. 62. 536 Ebenda, S. 65.
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Damit der „Wilde“ seine Rolle als Bindeglied in der Entwicklung vom Affen zum „Zivilisierten“ übernehmen konnte, durfte jedoch – zumindest in der Darwinschen Lehre – auch zwischen „dem Wilden“ und dem „Zivilisierten“ kein fundamentaler, unüberbrückbarer Unterschied bestehen. In diesem Zusammenhang erscheint es auch verständlich, warum sich Darwin, wie bekannt, gegen jene radikalen Polygenisten aussprach, die spezifische Unterschiede in den geistigen und körperlichen Eigenschaften zwischen den „Rassen“ postulierten.537 Wenn der „Wilde“ nur mit dem „Affen“ und nicht auch mit dem „Zivilisierten“ verwandt wäre, wäre die Darwinsche Deszendenztheorie hinfällig. So verwundert es wohl nicht, daß Darwin den „Wilden“ zwar einerseits „erniedrigt“, andererseits jedoch am Postulat der „Einheit der Menschheit“ festhält und immer wieder auf die Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen „Rassen“ und zwischen dem „Wilden“ und dem „Zivilisierten“ hinweist. Obgleich, so Darwin, die einzelnen „Rassen“ sich in bezug auf ihre Farbe, ihr Haar, ihre Schädelform, den Verhältnissen ihrer Gliedmaßen usw. unterschieden, würden sie doch, wenn man ihre gesamte Organisation in Betracht zöge, in vielen Punkten eine große Ähnlichkeit miteinander aufweisen.538 Many of these points are of so unimportant or of so singular a nature, that it is extremely improbable that they should have been indepedently aquired by aboriginally distinct species or races. The same remark holds good with equal or greater force with respect to the numerous points of mental similarity between the most distinct races of man. The American aborigines, Negroes and Europeans differ as much from each other in mind as any three races that can be named; yet I was incessantly struck, whilst living with the Fuegians on board the „Beagle,“ with the many little traits of character, shewing how similar their minds were to ours; and so it was with a full-blooded negro with whom I happened once to be intimate.539
Gerade die Vielzahl der unterschiedlichen Einteilungsversuche der „Menschenrassen“ – Virey ging von 2 „Rassen“ aus, Jacquinot von 3, Kant von 4, Blumenbach von 5, Buffon von 6, Hunter von 7, Agassiz von 8, Pickering von 11, Bory St. Vincent von 15, Desmoulins von 16, Morton von 23 „Rassen“ usw. – galt Darwin als wichtiger Beleg, daß die „Rassen“ keine abgrenzbaren „Spezies“ darstellten, sondern ineinander übergingen.540 Wenden wir uns nun kurz der zweiten Strategie zu, den Menschen und das Tier einander anzunähern. Diese Strategie besteht darin, die höchst 537 Um hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei ausdrücklich betont, daß auch Polygenisten für eine „Entwicklungstheorie“ eintreten können. Im Rahmen der polygenistischen Argumentation kann jedoch nicht jeder „Wilde“ als Bindeglied zum „Zivilisierten“ fungieren, sondern nur der „Wilde“ der eigenen „Rasse“. 538 DARWIN, Descent, S. 231. 539 Ebenda, S. 232. 540 Ebenda, S. 226.
II. ANFÄNGE DER ANTHROPOLOGIE: QUELLEN UND ANALYSEN | 249
entwickelten Tiere, insbesondere die Affen, zu „erhöhen“ und so menschenähnlich als möglich erscheinen zu lassen. Wird im Rahmen der ersten Strategie der „Urmensch“ also als affenähnlich porträtiert, so wird im Rahmen der zweiten Strategie der Affe, insbesondere der Schimpanse und der um die Mitte des 19. Jahrhunderts (wieder)entdeckte Gorilla, als überaus menschenähnlich geschildert. Viele Affen, so Darwin, entwickelten, wenn man ihnen die Gelegenheit böte, eine ausgesprochene Vorliebe für Tee, Kaffee und alkoholische Getränke. Sie werden auch, as I have myself seen, smoke tobacco with pleasure. Brehm asserts that the natives of north-eastern Africa catch the wild baboons by exposing vessels with strong beer, by which they are made drunk. He had seen some of these animals, which he kept in confinement, in this state; and he gives a laughable account of their behaviour and strange grimaces. On the following morning they were very cross and dismal; they held their aching heads with both hands and wore a most pitiable expression: when beer or wine was offered them, they turned away with disgust, but relished the juice of lemons. An American monkey, an Ateles, after getting drunk on brandy, would never touch it again, and thus was wiser than many men. These trifling facts prove how similar the nerves of taste must be in monkeys and man, and how similarly their whole nervous system is affected.541
Um die zweite Strategie der Entwicklungstheoretiker, jene der „Erhöhung“ des Affen zu veranschaulichen, sei im folgenden eine längere, bemerkenswerte Beschreibung eines Gorillas aus dem von Darwin mehrfach zitierten Werk Brehms Tierleben wiedergegeben, das in den 1860er Jahren erstmals erschienen war, zahlreiche, erweiterte Neuauflagen erfuhr und im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zum naturwissenschaftlichen Kanon des deutschen Bildungsbürgertums gehörte. Neben dem „Anthropomorphismus“, welcher die Schilderung des Affen durchzieht, sei insbesondere auf die Vergleiche hingewiesen, welche zwischen dem „Affen“, dem „Kind“ und dem „Neger“ gezogen werden. Mitte der 1870er Jahre – also zwischen der ersten und zweiten Auflage von Darwins Descent – war es den Mitgliedern der deutschen LoangoExpedition gelungen, einen Gorilla einzufangen, lebend nach Europa zu bringen und dem Aquarium in Berlin zu übergeben. Auf der im Jahre 1876 abgehaltenen Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte berichtete der Direktor des Berliner Aquariums über den auf den Namen „Mpungu“ getauften, zwei Jahre alten, männlichen Gorilla, der „mit seidenweichem, grau meliertem, auf dem Kopfe rötlichem Haare“ bedeckt war: Seine derbe, gedrungene Gestalt, seine muskulösen Arme, sein glattes glänzend schwarzes Gesicht mit den wohlgeformten Ohren, das große, kluge, neckische Auge geben ihm etwas frappant Menschenähnliches. Er würde einem Negerknaben gleichen, wenn die Nase förmlicher gestaltet wäre. Dieser Eindruck steigert 541 Ebenda, S. 12.
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sich durch die Unbeholfenheit seines ganzen Wesens; jede seiner Bewegungen läßt mehr einen tölpelhaften Buben als einen Affen erkennen. Wenn er, dasitzend wie eine Pagode, seinen Blick auf das ihn anstaunende Publikum schweifen läßt und dann mit nickendem Kopfe plötzlich in die Hände klatscht, hat er sich im Nu die Herzen aller erobert. […] Im allgemeinen Affenkäfig spielt er gern, und hier ist er der unbedingte Beherrscher; selbst der Schimpanse ordnete sich ihm widerstandslos unter. Er behandelt diesen aber ebenbürtiger, indem er ihn fast ausschließlich als Spielgefährten erwählte und ihn, wenn auch manchmal etwas derb, liebkoste während er rücksichtslos mit dem gemeinen Affengesindel verkehrte […]. In guter Laune, die ihn übrigens selten verläßt, steckt er die Spitze der roten Zunge aus dem glänzend schwarzen Gesichte, was den negerbubenhaften Eindruck noch erhöht.
Ungemein „menschenähnlich wie sein ganzes Wesen“ sei auch die Lebensweise des Gorillas. Um acht Uhr morgens erhebt er sich von seinem Lager, setzt sich aufrecht hin, gähnt, kratzt sich an einigen Stellen seines Körpers und bleibt schlaftrunken, teilnahmlos, bis er seine Morgenmilch eingenommen hat, die er aus einem Glas zu trinken pflegt. Nunmehr, ganz ermuntert, verläßt er sein Bett, sieht sich in der Stube um, ob er für seine Zerstörungslust einen Gegenstand findet, guckt zum Fenster hinaus, fängt zu klatschen und in Ermangelung passenderer Gesellschaft mit dem Wärter zu spielen an. Stets muß dieser bei ihm sein. Nicht einen Augenblick bleibt er ganz allein. Mit schrillen Tönen schreit er, wenn er sich von diesem verlassen findet. Um 9 Uhr wird er gewaschen, was ihm wohlgefällt. Mit grunzendem Tone gibt er seiner Freude hierüber Ausdruck. Dem Zusammenleben mit dem Wärter entsprechend, hält er seine Mahlzeiten wie dieser. Zum Frühstück erhält er ein Paar Wiener, Frankfurter oder Jauersche Würste oder ein mit Hamburger Rauchfleisch, Berliner Kuhkäse oder sonstwie belegtes Butterbrot. Dazu trinkt er am liebsten seine kühle Weiße; höchst originell sieht es aus, wenn er das umfangreiche Glas mit seinen kurzen, dicken Fingern umfaßt, das ihm entfallen würde, wenn er nicht einen Fuß zu Hilfe nähme. Obst ißt er gerne und viel, von Kirschen sondert er sorgfältig die Kerne. Um 1 Uhr bringt die Frau des Wärters ihm sein Essen. Solange er während des heißen Sommers in meiner Wohnung lebte, erwartete er sehnsuchtsvoll diese Stunde. Er ließ es sich nicht nehmen, die Korridortür selbst zu öffnen, wenn es klingelte. Erscheint die Frau, so untersucht er die Speisen und nascht gern von dem, was ihm am besten schmeckt. Eine Ohrfeige ist die gewöhnliche Folge seiner Naschhaftigkeit, und artig erwartet er dann, nicht einen Blick von den Speisen wendend, den Beginn der Mahlzeit. Zuerst eine Tasse Bouillon. Im Nu ist diese bis auf die Nagelprobe geleert. Dann gibt es Reis oder Gemüse, vornehmlich mit Kartoffeln, Mohrrüben oder Kohlrabbi mit Fleisch gekocht. Die Frau hält darauf, daß er sich anständig benimmt, und er gebraucht in der Tat den Löffel schon mit Geschick. Sobald er sich aber unbeobachtet glaubt, fährt er mit dem Munde in die Schüssel. Zum Schlusse ist ihm ein Stück eines gebratenen Huhnes am willkommensten. Er ist kein Kostverächter: was der Wärter ißt, ist auch seine Speise, und an Menge gibt er diesem nicht viel nach.
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Ist das Essen vorüber, so will er seine Ruhe haben. Ein ein- bis anderthalbstündiger Schlaf macht ihn wieder wohl aufgelegt zu neuem Spiele. Nachmittags erhält er Obst, abends Milch oder Tee und Butterbrot. Um 9 Uhr geht er zur Ruhe. Er liegt auf einer Matratze, in eine wollene Decke eingehüllt. Der Wärter bleibt bei ihm sitzen, bis er eingeschlafen ist, was bei seinem großen Bedürfnisse nach Schlaf nicht allzulange dauert. Lieber schläft er mit dem Wärter in einem Bette, wobei er ihn umfaßt und den Kopf auf eine Stelle seines Körpers legt. Er schläft fest die ganze Nacht hindurch und pflegt vor 8 Uhr nicht zu erwachen.542
Wie viele andere aus Afrika nach Europa überführte Gorillas sollte auch „Mpungu“ in der Gefangenschaft nicht lange überleben. Zur hohen Sterberate der Menschenaffen in der Gefangenschaft heißt es in Brehms Tierleben: Bei vielen hochstehenden Tieren bereitet die Haltung in der Gefangenschaft besondere Schwierigkeit; denn neben der körperlichen Pflege bedarf vor allem die empfindsame Seele verständnisvoller Behandlung. Welchen Einfluß aber seelischer Druck auf den Körperzustand haben kann, weiß jeder zu beurteilen, der gesehen hat, wie manche Neger, die noch nicht mit dem Europäer in Berührung gekommen waren, in der Gefangenschaft verfallen, obwohl sie bessere Nahrung erhalten als in ihrer heimatlichen Freiheit.543
Wenden wir uns nun nach diesem Seitenblick auf den „anthropomorphen“ Grundton in der Schilderung der Affen und nach der tragischen Geschichte von „Mpungu“ kurz den heftigen Kontroversen zu, die Darwin mit seiner Lehre auslösen sollte. Im Mittelpunkt stand hierbei immer wieder das von vielen als beleidigend und abstoßend empfundene Porträt des Darwinschen „Urmenschen“. „The early progenitors of man“, so hatte Darwin gemeint, were no doubt once covered with hair, both sexes having beards; their ears were pointed and capable of movement; and their bodies were provided with a tail, having the proper muscles. Their limbs and bodies were also acted on by many muscles which now only occasionally reappear, but are normally present in the Quadrumana. […] The foot, judging from the condition of the great toe in the fœtus, was then prehensile; and our progenitors, no doubt, were arboreal in their habits, frequenting some warm, forest-clad land. The males were provided with great canine teeth, which served them as formidable weapons.544
Diese Ausführungen, heißt es in einem Kommentar zu dieser Passage, seien „nicht etwa aus Nikolaus Klim’s Unterirdischen Reisen entlehnt, in welchen uns Leute geschildert werden, welche ihre Köpfe unter dem Arm
542 Zit. nach ebenda, S. 721-722. 543 Zit. nach ebenda, S. 722. 544 DARWIN, Descent, S. 206-207.
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tragen, sondern Darwin sagt es“.545 Heute, so der Rezensent ironisch, könnte einer alles wissen, erklären, demonstriren, wenn er nur will. Es bedarf dazu nur einer Kleinigkeit; man braucht nur nach Herzenslust zu „transmutiren“; mit dem Umwandeln und dem „Entwickeln“ hält man es nach Belieben, und auf so oder so viel mehr Hypothesen kommt ja weiter nichts an; transeant cum ceteris!546
Ein wenig „Entwickeln“ und „natürliche Auswahl“ und schon werde aus einem geschwänzten Affen ein Mensch. Es sei jedenfalls bedauerlich, daß Darwin, welcher die behaarten Urahnen so speciell kennt und schildert, sie nicht auch durch bildliche Illustrationen anschaulich macht, und den ganzen Stammbaum vom Amphiochus an bis zum heutigen Menschen giebt. Vielleicht hilft Professor Häckel in Jena nach; der versteht sich auf die Stammbäume vom Atom an.547
Am Ende seiner Ausführungen wird der Rezensent die Grundsätze der Agassizschen Lehre wiederholen. Die Natur hält mit Zähigkeit an den einmal vorhandenen Typen fest. So viel wir heute wissen, ist sie ohne ,Variabilität‘. Die Erfahrung lehrt uns kein Gesetz kennen, vermöge dessen eine Species in eine andere umgewandelt worden wäre. Die sogenannte Entwicklungstheorie ist ohne all und jede wissenschaftliche Basis; sie stammt aus den Regionen der Phantasie und gehört der Speculation an, nicht der Wissenschaft. Die Fürsprecher dieser bodenlosen Theorie fabriciren für sich den größten Theil der Facta, auf welche sie ihr sogenanntes System gründen wollen.548
Die gesamte organische Welt setze sich aus verschiedenen, unveränderlichen und seit jeher bestehenden Ordnungen zusammen. Zwar gäbe es gewisse Gemeinsamkeiten zwischen diesen Ordnungen, doch keineswegs rechtfertige dies die Vorstellung, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Ordnungen aufhebbar seien. Noch sei kein Gesetz gefunden worden, „vermittelst dessen eine Form in eine andere umgewandelt werden konnte“.549 Der Mensch ist ebenso wenig jemals ein Affe gewesen, wie der weiße Mensch ein Neger, wie die Eiche eine Diestel, oder unser Kopf einst ein Fuß. Darwin und Huxley haben auch nicht einen Schatten von Beweis beigebracht für ihre, buch545 N. N., Wie haben die Urmenschen ausgesehen?, in: Globus: Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde. Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie 19 (1871), S. 125-127, hier S. 125. 546 Ebenda. 547 Ebenda, S. 126. 548 Ebenda, S. 127. 549 Ebenda, S. 127.
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stäblich brutale, Theorie über den Ursprung des Menschen. Jeder wissenschaftlich raisonnirende Mann muß dieselbe als einen Traum ansehen. Die Wissenschaft giebt nur zu, was bewiesen worden ist. – Man sieht, der Affenstreit wird wieder heftig; die Anhänger der Transmutation ihrerseits werden gewiß auch das Wort nehmen.550
Schließen wir diese Ausführungen zu Darwin mit einem kurzen Gedicht des deutschen Humoristen Wilhelm Busch, einem großen „Anhänger der Transmutation“, der im „Affenstreit“ wiederholt das Wort ergreifen und die entrüsteten Gegner der Entwicklungslehre mit Spott übergießen sollte: Sie stritten sich beim Wein herum, Was das nun wieder wäre; Das mit dem Darwin wäre gar zu dumm Und wider die menschliche Ehre. Sie tranken manchen Humpen aus, Sie stolperten aus den Türen, Sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus Gekrochen auf allen vieren.551
550 Ebenda. 551 Wilhelm BUSCH, [Ohne Titel: Spottgedicht über die Gegner von Darwin], in: ders., Gedichte. Herausgegeben von Friedrich Bohne. Zürich: Diogenes 1974, S. 93. Verfolgt Busch in diesem Gedicht die „Strategie der Erniedrigung“, so steht sein „Die Affen“ betiteltes Gedicht im Zeichen der „Strategie der Erhöhung“. „Der Bauer sprach zu seinem Jungen: / Heut in der Stadt da wirst du gaffen. / Wir fahren hin und sehn die Affen. / Es ist gelungen / Und um sich schief zu lachen / Was die für Streiche machen / Und für Gesichter, / Wie rechte Bösewichter. / Sie krauen sich, / Sie zausen sich, / Sie hauen sich, / Sie lausen sich, / Beschnuppern dies, beknuppern das, / Und keiner gönnt dem andern was, / Und essen tun sie mit der Hand, / Und alles tun sie mit Verstand, / Und jeder stiehlt als wie ein Rabe. / Paß auf, das siehst du heute. / Oh Vater, rief der Knabe, / Sind Affen denn auch Leute? / Der Vater sprach: Nun ja, / Nicht ganz, doch so beinah.“ Siehe BUSCH, Die Affen, in: ders., Gedichte, S. 159-160. Das wohl bekannteste literarische Denkmal setzte Busch dem von ihm verehrten englischen Naturforscher wohl in der Geschichte „Fipps der Affe“. Bezeichnenderweise übertölpelt der listige Fipps gleich im ersten Kapitel einen „bösen Neger“, der ihn einfangen will. Fipps gerät schließlich in Gefangenschaft und wird nach Bremen gebracht, wo er Mensch, Hund und Katze so manchen gehässigen Streich spielt. Zu den „Opfern“ Fipps’ zählt übrigens auch der gelehrte und würdevolle Professor Klöhn. Bei all seiner Freude an Streichen ist Fipps im Grunde genommen doch ein gutartiges und „menschliches“ Wesen und wird sein Leben aufs Spiel setzen, um ein kleines Kind aus einem brennenden Haus zu retten. Am Ende des Buches wird der „menschliche Fipps“ von einer Meute „unmenschlicher Menschen“ gejagt und erschossen. Vgl. Wilhelm BUSCH, Fipps der Affe, in: WILHELM BUSCH ALBUM, Humoristischer Hausschatz, Wien: Breitenstein 1975, S. 271302.
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Im Erscheinungsjahr von Darwins Abstammung des Menschen (1871) erfolgte die feierliche Eröffnung des in den später 1850er Jahren in Angriff genommenen Tunnels durch den an der Grenze zwischen Italien und Frankreich gelegenen, knapp 2.100 Meter hohen Mont Cenis (Monte Cenisio). Durch den Bau dieses ursprünglich knapp 13 Kilometer langen Tunnels war die Eisenbahnverbindung zwischen Chambery und Turin hergestellt.552 Die Bedeutung dieses Tunnels für die Länder- und Völkerkunde erörterte der berühmte Geograph Oscar Peschel in einem Beitrag mit dem Titel „Die Rückwirkung der Ländergestaltung auf die menschliche Gesittung“. „Auf der niedrigsten Gesittungsstufe“, schreibt der Geograph Oscar Peschel, ist der Mensch wirklich nichts besseres als ein örtliches Erzeugniß im Sinne Karl Ritters. Auf der höchsten Stufe streift er nicht bloß mehr und mehr den physischen Druck seines Wohnortes ab, sondern er verwandelt diesen selbst in ein Kunstproduct. Die Natur hat sich nämlich in die Entwicklung der menschlichen Gesittung keine Eingriffe erlaubt, sie hat sie nur durch Hindernisse erschwert. Früher oder später aber gelang es unserem Geschlecht über solche Schranken sich hinwegzuschwingen und jedes Mal erstarkte es durch die Bewältigung eines Naturzwanges.553
In unserer Zeit seien die von der Natur gesetzten Grenzen von der zivilisierten Menschheit zusehends überwunden worden. „Der Rhein und die Eider waren die natürlichen Gränzen der Germanen, aber sie waren es.“554 Heute könnten Flüsse, Seen, selbst Ozeane die Menschen nicht mehr wie ehedem von einander absondern. „Wie ungeduldig wir gegen jeden von der Natur auferlegten Zwang geworden sind, beweist uns am besten die Durchbohrung des Mont Cenis.“555 Gebirge würde noch als „Völkerscheiden“ erachtet.556 Aber auch „die Zeit dieser Geltung“ werde nicht mehr lange andauern. Nicht einmal die Alpen seien in der Lage, die im Bau befindlichen Verkehrsverbindungen aufzuhalten. „Wo ein Gebirgsstamm unsre Eisenbahnbauten verhindern möchte, wird er durch einen Stich unschädlich gemacht.“557 Beim Bau des Mont-Cenis-Tunnels werde deutlich, wie der Mensch sich die Natur untertan zu machen wisse. Das Bohrwerk werde durch die Wasserkraft der Bäche des Gebirges angetrieben. Man könne folglich durchaus behaupten,
552 Vgl. MKL 3, 51897, [Eintrag:] Cenis, Mont, S. 952-953. 553 Oscar PESCHEL, Die Rückwirkung der Ländergestaltung auf die menschliche Gesittung. 1. Einleitung, in: Das Ausland: Ueberschau der neuesten Forschungen auf dem Gebiete der Natur-, Erde- und Völkerkunde 40 (1867), S. 913-918, hier S. 913-914. 554 Ebenda, S. 914. 555 Ebenda. 556 Ebenda. 557 Ebenda.
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der Mensch lege durch eine sinnreich erdachte Vorrichtung dem Mont Cenis den Stahl in die Hand und überlasse es ihm sich selbst zu durchbohren. Fast ironisch zwingt hier menschlicher Scharfsinn die Natur sich selbst zu corrigiren.558
Ins Jahr 1871 fällt auch die berühmte Suche des amerikanischen Journalisten Henry M. Stanley nach Livingstone, der bereits seit mehreren Jahren in Ostafrika verschollen war und von vielen für tot gehalten wurde. Den Auftrag zu dieser Suche erhielt Stanley im Herbst 1869, als er gerade in Spanien weilte und von dort für den New York Herald über die Kämpfe der Revolutionäre berichtete. „Kommen Sie sofort nach Paris wegen wichtiger Geschäfte“, hieß es im Telegramm, das James G. Bennett, der Sohn des Besitzers der Zeitung, Stanley nach Spanien geschickt hatte. „Ein Tagesschriftsteller“, so Stanley „müsse wie ein Gladiator in der Arena stets zum Kampf bereit sein, er muß dem Befehl gehorchen, der ihn seinem Verhängnis entgegenschicken kann“.559 Stanley packte sogleich seine Sachen und reiste nach Paris. Dort angekommen, fragte ihn Bennett, ob er glaube, daß Livingstone, „der große Freund der schwarzen Menschheit, der auf fünf Reisen für die Enthüllung der Geheimnisse des dunklen Weltteils mehr getan hat als die meisten seiner Vorgänger“, noch am Leben sei und wo er sich aufhalte. Als Stanley sagte, er wisse es nicht, erklärte Bennett: Ich glaube Livingstone ist am Leben, und man kann ihn finden, und ich will Sie ausschicken, ihn zu suchen. […] Vielleicht ist der alte Mann in Not. Nehmen Sie genug mit sich, um ihm beizustehen. Natürlich werden Sie nach eigenem Plane handeln und tun, was Sie für das Beste halten, aber – finden Sie Livingstone.560
Stanley, der Livingstone in Wahrheit für tot hielt, staunte über diesen Befehl und fragte, ob er sich auf der Stelle nach Afrika begeben sollte. Bennett verneinte diese Frage und erklärte Stanley, – wir schreiben das Jahr 1869 –, daß er zuerst noch zur Eröffnung des Suezkanals reisen, dann aus Oberägypten über die Expedition von Baker berichten, sodann nach einer kurzen Visite in Jerusalem nach Konstantinopel gehen sollte, um von dort über die Schwierigkeiten zwischen dem Khedive und dem Sultan Nachricht zu erstatten. Danach sollte er über die alten Schlachtfelder auf der Krim berichten und sich schließlich durch den Kaukasus ans Kaspische Meer begeben, wo die Russen gerade eine kriegerische Expedition vorbereiteten. Von dort sollte er nach Persepolis und Baghdad reisen, um über die Euphrattal-Eisenbahn zu berichten und dann weiter nach Indien. Nachdem er in Indien gewesen sei, sollte er sich, gesetzt den Fall, daß bis dahin noch keine Nachrichten über Livingstone eingetroffen wären, nach Sansibar begeben, um Livingstone zu suchen. Dieses journalistische Reisepro558 Ebenda. 559 Henry M. STANLEY, Wie ich Livingstone fand, Wiesbaden: Eberhard Brockhaus 31955, S. 5. 560 Ebenda, S. 6.
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gramm, wesentlich erleichtert aufgrund der in diesem Kapitel erörterten technischen Innovationen, mag veranschaulichen, daß die Welt auf dem besten Weg war, ein Dorf zu werden. Nachdem Stanley sein Reiseprogramm absolviert hatte, traf er am 26. Januar 1871 in Sansibar ein. „Ich weiß nicht, warum ich mir diese Insel stets als ein Stückchen einer vom Meer umgebenen Sahara vorgestellt habe, bewohnt von gorillaähnlichen Schwarzen.“561 Stanley begibt sich sogleich auf einen Rundgang, um diese für den Handel, insbesondere für den Handel mit Sklaven, Kopalgummi und Elfenbein, so wichtige Stadt zu besichtigen, in der Araber, Afrikaner, Inder, Europäer und Amerikaner zusammenlebten. Das Negerviertel, der Bezirk der meist schwatzend und rauchend vor ihren elenden Hütten sitzenden gelben und schwarzen Bevölkerung roch sehr übel und war sehr schmutzig. […] Eine große Verachtung hege ich gegen die verseuchten, triefäugigen, blasshäutigen Mischlinge der Afrikaner und Araber. Sie kriechen vor den großen Arabern und sind grausam gegen die Unglücklichen, die unter ihr Joch kommen; Feigheit, Entartung, Treulosigkeit und Gemeinheit sind ihre charakteristischen Merkmale.562
Immer wieder wird Stanley seiner Abscheu gegenüber „Mischlingen“ Ausdruck verleihen. Ein Spaziergang durch das Viertel der „Wanjamwesi“ und „Wasuaheli“ überzeugt ihn schließlich, „daß die Neger Menschen sind wie unsereins, daß sie Leidenschaften und Vorurteile, Geschmacksrichtungen und Empfindungen haben wie die andern Menschen“.563 In Sansibar knüpft Stanley Kontakte zum britischen Konsul von Sansibar, der ebenfalls glaubt, daß Livingstone noch am Leben sei und daß es gut wäre, wenn er nun nach Hause käme, um der Welt von seinen letzten Entdeckungen zu berichten. In Sansibar stellt der amerikanische Journalist seinen Expeditionstrupp zusammen, dem rund 200 Leute angehören, darunter drei Weiße, 27 Esel und 2 Pferde. Vorzugsweise suchte Stanley Leute zu rekrutieren, die bereits Speke, Burton und Grant auf ihren Expeditionen begleitet hatten. Als Tauschmittel und als Tributzahlungen an die „Häuptlinge“ wurden Perlen und insbesondere viele Ballen Tuch mitgenommen. Verfolgen wir nun kurz diese berühmte Suchaktion, wie sie Stanley in seinem vielgelesenen Reisebuch schildern sollte. Sein Werk steht ganz in der Tradition jener populär verfaßten geographischen Abenteuerberichte, die entscheidend dazu beigetragen haben, das Bild vom „dunklen“ Kontinent und seinen Bewohnern im ausgehenden 19. Jahrhundert zu prägen. Die Karawane von Stanley kam nur langsam voran, legte zumeist kei-
561 Ebenda, S. 8. 562 Ebenda, S. 9. 563 Ebenda, S. 10.
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ne zwei Meilen in der Stunde zurück. Sein Reisebericht läßt die rücksichtslose Brutalität, mit der er seine Expedition leitete, erahnen. Immer wieder wird er Drohungen aussprechen und Gewalt anwenden, um sich Respekt zu verschaffen und die Disziplin der Mannschaft aufrechtzuerhalten. „Ein gutes Mittel gegen die lässigen Schlaffen war, wie mir die Erfahrung bewies, meine Hundpeitsche; sie bekam dem Rücken der den Dienst versagenden Schwächlinge sehr gut und befähigte sie wieder zu einer gesunden Tätigkeit.“564 Er wird seinen „Begleitern“ drohen, sie auspeitschen, in Ketten legen, verprügeln und die Schußwaffe auf sie richten. Immer wieder wird Stanley auch seine völkerkundlichen Beobachtungen von den „Eingeborenen“ mitteilen, mit denen er auf seinem „Marsch durch die Wildnis“ zusammentrifft. Wiederholt wird er hierbei das körperliche Erscheinungsbild mit Charaktereigenschaften in Zusammenhang bringen. Nicht fern von der Küste stößt er auf das Volk der Wahuma. Diese charakterisiert er wie folgt: Die Männer der Wahuma sind stattlich, mit schöngeformten Köpfen. Man sieht sich bei ihnen umsonst nach einer dicken Lippe oder platten Nase um, im Gegenteil ist der Mund besonders klein und schön geschnitten. Sie haben ganz allgemein eine griechische Nase, und ich nannte sie daher sofort die Griechen Afrikas. Ihre unteren Gliedmaßen haben nicht die Schwere wie bei den Wagogo und andern Stämmen, sondern sind lang und wohlgestaltet wie die der Antilopen. Von Jugend auf Athleten, leben sie als Hirten; sie heiraten nur unter sich und halten ihre Rasse rein. Jeder von ihnen gäbe ein gutes Modell für einen Apollo.565
Nur selten fallen die Beschreibungen so günstig aus wie jene über die Wahuma. Die meisten Völker, denen Stanley auf seiner Reise in das Landesinnere begegnet, erscheinen ihm unehrlich, feig und unverschämt, „Wilde“ ohne Kultur und Christentum. Noch ehe der scramble of Africa unter den europäischen Großmächten in den 1880er Jahren beginnen sollte, wird Stanley die „Zivilisierung“ und „Christianisierung“ der von ihm bereisten und von „Heiden“ bevölkerten Landstriche einfordern. „Mit der einzigen Ausnahme des Mangels zivilisierter Gesellschaft ist hier alles vorhanden, was das Menschenherz sich wünschen kann.“566 In Tabora verbündet sich Stanley mit einem arabischen Scheich und schließt sich dessen Strafexpedition gegen den aufständischen Häuptling Mirambo an. Eine rund 2.500 Mann starke Armee erobert und verwüstet das Dorf Simbiso. Eine Stunde später war „die Umgebung vom Feinde gesäubert und noch zwei Dörfer genommen, die geplündert und den Flammen übergeben wurden“.567 Doch Mirambo und seine Leute geben sich nicht geschlagen und gehen schon bald zum Gegenangriff über. Die 564 565 566 567
Ebenda, S. 46. Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 68-69. Ebenda, S. 80.
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Araber beschließen, den Rückzug anzutreten. Stanley ist dagegen und löst das Bündnis. „Nur bei den Arabern“, schreibt er, „schien die schnöde Fahnenflucht kein Gefühl der Schande auszulösen“.568 Später erfährt er, daß Scheich Chamis ben Abdullah von den wilden Verbündeten Mirambos arg verstümmelt worden sei. Man habe ihm die Stirnhaut, Bart und Haut von dem unteren Teil des Gesichts, die Nasenspitze, das auf Magen und Unterleib befindliche Fett, die Geschlechtsteile und ein Stück der Fersen abgeschnitten. Im gleichen Zustand fand man auch die Leichen seiner gefallenen Freunde. Die den Leichnamen entnommenen Fleisch- und Hautteile hatten natürlich die Waganga, die Medizinmänner, sich angeeignet, um aus ihnen das kräftige Gebräu zu bereiten, das ihrer Ansicht nach einen Menschen gegen seine Feinde stark macht.569
Am 10. November 1871, dem 236. Tag der Reise, nähert sich die Expedition jenem Dorf am Tanganjikasee, wo Livingstone vermutet wurde. Noch ehe sie das von Arabern und „Eingeborenen“ bewohnte Dorf betreten, wird Stanley von einem ihm entgegenkommenden Diener Livingstones erfahren, daß der Missionar am Leben sei und in eben diesem Dorf wohne. Livingstone wartet bereits vor seinem Wohnhaus. Stanley nimmt seinen Hut ab, geht auf den Missionar zu und spricht – angeblich – die berühmten Worte: „‚Dr. Livingstone, wie ich vermute.‘ ,Ja‘, sagte er mit freundlichem Lächeln, die Mütze leicht lüftend.“570 Am ersten Tag ihres Zusammenseins bittet Livingstone, der seit mehreren Jahren keinen Kontakt mit Europa mehr gehabt hatte, seinen Besucher, ihm die „wichtigsten Neuigkeiten“ zu erzählen: „Was ist passiert in der Welt?“ Die erste Weltnachricht, von der Stanley dem Missionar berichtet, ist folgende: „Vermutlich wissen Sie schon, daß der Suezkanal zur Tatsache geworden ist, daß er eröffnet ist und jetzt ein regelmäßiger Handel zwischen Europa und Indien durch ihn getrieben wird?“ „Ich habe von seiner Eröffnung noch nichts gehört. Das ist etwas Großartiges. Nun was noch?“571
Ehe Stanley über die politische Geschichte der jüngsten Zeit berichtet, wird er erwähnen, daß die transkontinentale Eisenbahn in den USA fertiggestellt wurde. Als Stanley den Missionar eines Tages fragte, ob er sich nicht danach sehne, nach sechs Jahren in Afrika wieder in seine Heimat zurückzukehren, antwortete ihm Livingstone: 568 569 570 571
Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 83-84. Ebenda, S. 115. Ebenda, S. 119.
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Sehr gerne würde ich nach Hause gehen und meine Kinder noch einmal sehen. Ich kann es aber nicht über mich bringen, die Aufgabe, die mir gesetzt, jetzt im Stiche zu lassen, wo sie fast vollendet ist. Es gehören nur noch sechs bis sieben Monate dazu, um die wirkliche Quelle des Nils, die ich entdeckt habe, in Zusammenhang zu bringen, mit dem Weißen Nil oder mit Bakers Albert-See.572
Einige Wochen bleiben Stanley und Livingstone zusammen und werden gemeinsam am Ufer des Tanganjikasees Richtung Norden reisen. Ehe die beiden voneinander scheiden, vertraut Livingstone Stanley die Aufzeichnungen und Briefe seiner Forschungen der letzten sechs Jahre an. Vom Zeitpunkt des Zusammentreffens von Stanley und Livingstone am Tanganjikasee wird etwa ein dreiviertel Jahr vergehen, ehe der New York Herald, also die Zeitung, für die Stanley arbeitet, einen Brief des Missionars veröffentlicht, um zu beweisen, daß er noch am Leben ist. Schon am nächsten Tag ist der Brief auch in der Londoner The Times abgedruckt.573 Nach einem gefahrvollen Rückmarsch gelangt der Stanleysche Suchtrupp wieder nach Sansibar. Insgesamt war Stanley knapp eineinhalb Jahre unterwegs. Ehe er sich von den Mitgliedern seiner Karawane trennt, fordert er in einer Rede seine Leute auf, sich in den Dienst von Livingstone zu stellen: „Ihr steht jetzt im Begriff, nach Unjanjembe zum ‚Großen Meister‘ zurückzukehren. Ihr kennt ihn; ihr wisst, daß er ein guter Mann ist und ein gütiges Herz hat. Er ist anders als ich, er wird euch nicht so schlagen, wie ich es getan. Aber ihr wisst doch auch, daß ich euch alle belohnt, euch alle mit Tuch und Geld reich gemacht habe. Ebenso wisst ihr, wie ich stets euer Freund gewesen bin, wenn ihr euch gut aufführtet. Ich habe euch reichliche Nahrung gegeben. Wenn ihr krank wart, habe ich mich um euch bekümmert. Wenn ich nun schon so gegen euch war, so wird es der Große Meister um so viel mehr sein. Er hat eine liebliche Stimme und spricht freundlich. […] Wollt ihr mir nun jetzt versprechen, ihm zu folgen, ihm in allen Dingen zu gehorchen und ihn nicht zu verlassen?“ „Das wollen wir, das wollen wir, Herr!“ riefen sie alle eifrigst. „Dann bleibt noch eins übrig. Ich wünsche euch allen die Hand zu drücken, ehe ihr fortgeht und wir uns auf immer trennen.“ Alle stürzten sogleich auf mich zu, und wir schüttelten uns gegenseitig kräftig die Hände.574
Während seiner Expedition hatte Stanley 23 Fieberanfälle überlebt. 18 seiner „Begleiter“ kamen auf der Suche nach dem Missionar um. Im Zuge der Verherrlichung der kühnen Pioniere des geographischen Entdeckungszeitalters wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts oftmals nur in Nebensätzen der Tatsache gedacht, daß für das vielbejubelte Verschwinden der
572 Ebenda, S. 123 573 Vgl. Eric HOBSBAWM, The Age of Capital, 1848-1875, London: Abacus 1997 [1975], S. 77. 574 Ebenda, S. 189.
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„dunklen Flecken“ auf den Landkarten der „zivilisierten Menschheit“ Tausende Menschen, zumeist „Eingeborene“, ihr Leben lassen mußten. Diese „Kosten“ des Fortschritts und der Zivilisierung, die vor allem jene zu tragen hatten, die nicht in den Genuß derselben kamen, war man durchaus bereit, in Kauf zu nehmen. Einige Jahre nach seiner Suche nach Livingstone sollte Stanley, zweifelsohne ein besonders skrupelloser und brutaler Expeditionsführer, übrigens nach Afrika zurückkehren und weitere Entdeckungsreisen unternehmen, unter anderem auch, um das Quellgebiet des Nils und des Kongos zu erforschen. Um die das späte 19. Jahrhundert auszeichnenden hagiographischen Berichte über die Entdecker „dunkler“ Landstriche zu veranschaulichen, sei auf einen Artikel über Stanley von Theodor Hertzka verwiesen, der übrigens selbst eine berühmte, in Afrika spielende Sozialutopie verfassen sollte. „Die erste Empfindung“, schreibt Hertzka in der Zeitung Neue Freie Presse, die sich jedem Leser der Stanleyschen Schriften sofort aufdrängt, ist Erstaunen über die beispiellose Widerstandskraft und Zähigkeit der physischen Constitution des Mannes, der den aus Fieberdunst gebildeten, das äquatoriale Afrika bisher verhüllenden Schleier gelüftet hat. Schon aus den Berichten früherer Entdeckungsreisender ist es bekannt, daß die Angehörigen des kaukasischen Race dem afrikanischen Klima beinahe niemals auf die Dauer widerstehen. Die Stanley’schen Expeditionen bieten dafür unzweideutige neue Beweise. Auf dem Livingstone gewidmeten Entdeckungszuge begleiteten zwei Europäer – wetterharte, in allen Klimaten gestählte Gesellen – den amerikanischen Journalisten; sie erlagen nach wenigen Monaten Beide den furchtbaren Strapazen und den um noch vieles schrecklicheren Fieber-Miasmen; auf der zweiten Expedition zogen drei Europäer mit Stanley, auch von diesen sah Keiner die Westküste; Zwei starben am Fieber; der Dritte, durch Klima und Strapazen zum Krüppel gemacht, ertrank in den Wellen des Flusses, den er entdecken geholfen; Stanley aber, obwol selber zu wiederholtenmalen von den Krallen des tückischen „Mukurungu“ erfasst, wußte sich demselben doch stets wieder zu entringen, und während selbst von seinen afrikanischen Begleitern 111, d. i. mehr als die Hälfte, durch Krankheiten und die Beschwernisse der Reise hinweggerafft wurden, blieb er mit geringen Unterbrechungen der allezeit rüstige, unverzagte, unermüdliche Führer, an dessen Anblick sich die Schwachen und Verzweifelten stärkten und dessen ungebrochener Kraft und Energie die Ueberlebenden thatsächlich ganz allein ihre Rettung verdankten.575
Im Jahr, als Stanley zu seiner Suche nach Livingstone aufbricht, reist eine Gruppe prominenter Amerikaner, darunter auch der Auftraggeber von Stanley, James G. Bennett vom New York Herald, und Charles Wilson, der Herausgeber des Chicago Evening Journal, mit der Eisenbahn in den „Wilden Westen“, um dort unter der Führung von Buffalo Bill auf Büffel575 Theodor HERTZKA, Henry M. Stanley, in: Neue Freie Presse (Wien), Nr. 5189, Mittwoch, 5. Februar 1879.
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jagd zu gehen. Der „Wilde Westen“ ist im Begriff, ein Reiseziel für zahlende, abenteuerlustige Herren der vornehmen Gesellschaft zu werden, und Buffalo Bill wird hierbei die Rolle eines „Reiseleiters“ und Expeditionsführers übernehmen. Schon im nächsten Jahr wird er den russischen Großfürsten Alexis, Sohn des Zaren, in der amerikanischen „Wildnis“ empfangen. Im Rahmen des Unterhaltungsprogramms werden angeheuerte Indianer für den illustren Gast und sein Gefolge Reitvorführungen, Kriegstänze und Schaukämpfe zum besten geben. Am nächsten Morgen wird auf Büffeljagd gegangen. Schon bald wird eine Herde gesichtet, doch der Fürst schießt von zwanzig Fuß Entfernung sechsmal daneben. Sein Magazin ist leer. Cody gibt dem Großfürsten seine Pistole, bringt dessen Pferd auf zehn Fuß Entfernung an den Büffel heran und gibt ihm genaue Anweisungen, wann er schießen soll. „Now is your time,“ said I. He fired, and down went the buffalo. The Grand Duke stopped his horse, dropped his gun on the ground, and commenced waving his hat. […] Very soon the corks began to fly from the champagne bottles, in honour of the Grand Duke Alexis, who had killed his first buffalo.576
Großfürst Alexis wird noch einige weitere Büffel erlegen und die von Buffalo Bill fachmännisch präparierten Häute und Büffelköpfe als Souvenir mit nach Hause nehmen können. Nach Alexis werden noch weitere prominente Persönlichkeiten Buffalo Bill als Führer und „Reiseleiter“ anheuern, um Büffel, Elche und Grizzly-Bären zu jagen. Im Jahr 1872 wird Cody übrigens auch erstmals nach New York reisen, wo er im Theater ein Stück mit dem Titel „Buffalo Bill, the King of the Border Men“ sieht. Nur wenig später wird er seine eigene Schauspielerkarriere beginnen und schließlich die auch nach Europa reisenden Buffalo-Bill-Shows begründen. Die Zeit des „Wilden Westen“ neigt sich dem Ende zu. Und wiederum ist William F. Cody ein Pionier – diesmal in der verzerrenden Glorifizierung des „Wilden Westen“. Im Jahr 1871 veröffentlicht Edward B. Tylor (1832-1917) seinen Klassiker Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Culture (1871). Die moderne Naturforschung, so Tylor gleich zu Beginn seiner Abhandlung, sei bestrebt, die „Einheit der Natur, die Unabänderlichkeit ihrer Gesetze, die bestimmte Folge von Ursache und Wirkung zu erkennen“.577 Sie stelle sich somit auf den pythagoräischen und aristotelischen Standpunkt, demgemäß der gesamte Kosmos eine Ordnung aufweise und nicht „aus einer Anzahl 576 CODY, The Life of Buffalo Bill, S. 301. 577 Edward B. TYLOR, Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Erster Band. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Deutsche übertragen von J. W. Spengel und Fr. Poske, Leipzig: C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung 1873 [engl. Original 1871], S. 1-2.
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unzusammenhängender Episoden besteht, wie eine schlechte Tragödie“.578 Schon seit längerem würde dieser Einsicht beim Studium der Pflanzen und Tiere Rechnung getragen werden. Aber sobald wir uns zu den höheren Processen menschlichen Fühlens, Denkens und Sprechens, seines Wissens und seiner Kunst wenden, da tritt uns plötzlich ein völliger Umschlag entgegen. Die Welt ist im Ganzen wol kaum darauf gerüstet, das allgemeine Studium des menschlichen Lebens als einen Zweig der Naturwissenschaften gelten zu lassen, und in vollem Sinne des Dichters Wunsch zu erfüllen, ‚von Dingen der Moral ebenso wie von Dingen der Natur Rechenschaft zu geben.‘ Für manchen gebildeten Menschen scheint etwas Vermessenes und Abstoßendes darin zu liegen, dass die Geschichte der Menschheit ein wesentlicher Bestandtheil der Naturgeschichte sein solle, dass unsere Gedanken, unser Wille und unsere Handlungen Gesetzen folgen, welche ebenso unerschütterlich sind wie die, welche die Bewegung der Wellen, die Verbindung von Säuren und Basen, und das Wachsthum von Pflanzen und Thieren bestimmen.579
Wie viele andere Vertreter der „jungen“ Anthropologie wird auch Tylor in den Chor jener einstimmen, die gegen die alte Methode der Geschichtsforschung zu Feld ziehen. Auch er wird die große Bedeutung der moralstatistischen Arbeiten eines Quetelet rühmen und gegen das Dogma der Willensfreiheit ankämpfen, daß der Mensch nicht Untertan der Gesetze der Natur sei. Schon der Titel seines Werks, also die Verbindung von „primitiv“ und „Kultur“, mag den „Alten“, die dem „Zivilisierten“ einen Sonderstatus eingeräumt hatten, als ein etwas anrüchiges Oxymoron erschienen sein, nicht jedoch den aufgeklärten „Modernen“. Tylors Titel war auch ein Bekenntnis zur Einheit und Gleichförmigkeit der Natur, die das gesamte Reich der Menschheit umfaßte. Wer vorurteilsfrei, so Tylor, den „Charakter und die Gewohnheiten der Menschheit studiere“, werde schon bald erkennen, daß auch hier eine „Aehnlichkeit und Uebereinstimmung“ herrsche, ja, daß, wie ein italienisches Sprichwort besagt, „tutto il mondo è paese“.580 Diese verblüffende „Aehnlichkeit“, so Tylor, liege in der menschlichen Natur und in den äußeren „Lebensverhältnissen“ begründet und zeige sich insbesondere, wenn man „Rassen“ untersucht, welche auf der „gleichen Stufe der Civilisation stehen“.581 Zu Recht habe Dr. Johnson einmal bemerkt, daß „ein Haufen Wilder wie der andere sei“.582 Man müsse nur ein ethnologisches Museum besuchen und die Sammlungen von Gerätschaften der „verschiedenartigsten Rassen“ und „wilden Völker“ in Augenschein nehmen. „Alles wiederholt sich mit wunderbarer Gleichförmigkeit in den Schränken des Mu578 579 580 581 582
Ebenda, S. 2. Ebenda. Ebenda, S. 6. Ebenda. Ebenda.
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seum, welche uns ein Bild von dem Leben der Naturvölker von Kamtschatka bis Tierra del Fuego, von Dahome bis Hawai geben sollen.“583 Aber nicht nur der Vergleich von „Rassen“ und „Völkern“ auf gleicher Kulturstufe sei für das Studium der Geschichte der Menschheit aufschlußreich, sondern auch der Vergleich „barbarischer Horden mit civilisierten Nationen“. Hier zeige sich nämlich, daß „Punkt für Punkt“, in allen Bereichen, Fäden der Entwicklung von den „Wilden“ zu den „Zivilisierten“ führten. Nur am Rande sei angemerkt, daß Tylor in diesem Zusammenhang auch seine berühmte These der survivals („Überlebsel“) formulieren sollte; nämlich, daß mitunter bestimmte ältere Formen ohne oder mit nur geringer Veränderung bei den nachkommenden Völkern weiter bestehen können, ohne daß deren ursprüngliche Funktion noch verstanden wurde. Auch Tylor wird am Prinzip der „seelischen Einheit des Menschengeschlechts“ festhalten und erklären, daß für seine Theorie der Kulturentwicklung die Fragen nach genealogischen Verwandtschaftsverhältnissen und nach erblichen Unterschieden zwischen den „Rassen“ vernachlässigt werden könnten. Für den gegenwärtigen Zweck ist es offenbar sowohl möglich als auch wünschenswerth, Betrachtungen über erbliche Varietäten und Rassen des Menschen auszuschliessen, und die Menschheit als von Natur homogen, wenn auch auf verschiedenen Stufen der Civilisation stehend, zu betrachten.584
Gerade die Annahme einer „seelischen Einheit des Menschengeschlechts“ sollte es Tylor ermöglichen, in den Lebensverhältnissen der „Wilden“ von Australien und Feuerland die Vorfahren des „Zivilisierten“ zu sehen. Die Unterschiede zwischen den „Völkern“ oder „Rassen“ sind – vor allem – zeitbedingt, die lebenden „Wilden“ gleichen den durch die Prähistorie bekannt gewordenen „Urmenschen“ und repräsentieren die ferne Vergangenheit des „Zivilisierten“. Zu dieser Annahme der Einheit des Menschengeschlechts kam noch eine weitere, für Tylors Denken entscheidende Überlegung hinzu; nämlich, daß die „Civilisation“ bei den einzelnen „Rassen“ oder „Völkern“ „verschiedene Stufen“ erreicht habe. Wie Lubbock und viele andere Entwicklungstheoretiker wird auch Tylor betonen, daß „trotz des beständigen Eingreifens von Degeneration die Hauptrichtung der Cultur von den ersten bis zu den modernen Zeiten hinauf von der Barbarei zur Civilisation gegangen“ ist.585 Mit Hilfe eines berühmten Gleichnisses wird Tylor seine Haltung im Streit zwischen „Fortschritts- und Entartungstheoretikern“ zu veranschaulichen suchen:
583 Ebenda. 584 Ebenda, S. 7. 585 Ebenda, S. 21.
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Wir können in Gedanken die Civilisation vor uns sehen, wie sie in eigener Person über die Erde schreitet; wir sehen sie am Wege zögern und ausruhen, und oft auf Seitenwege gerathen, die sie nach vieler Mühe wieder an eine Stelle bringen, an der sie längst vorbei gewesen war; aber sei es nun direkt oder auf Umwegen, ihr Pfad geht immer vorwärts, und wenn sie dann und wann einige Schritte rückwärts versucht, so wird ihr Gang bald zu einem hülflosen Taumeln. Es steht nicht mit ihrer Natur in Einklang, ihre Füsse sind darauf eingerichtet, unsichere Schritte nach hinten zu thun, denn sie ist sowohl in ihrem nach vorn gerichteten Blicke sowie in ihrem vorwärts eilenden Schritte ein echtes Bild vom Menschen.586
Die Aufgabe, diesen im Großen und Ganzen aufsteigenden „Gang der Civilisation“, den Fortschritt, nachzuzeichnen, steht im Mittelpunkt des Tylorschen Werkes. Wenn man nun die Unterschiede in der „Cultur“ als Fortschritt oder Rückschritt zu klassifizieren versucht, bedürfe man, so Tylor, eines Maßstabes. Und diesen Maßstab gewinne man, indem man Europa und Amerika an das eine Ende der socialen Reihe und die wilden Stämme an das andere Ende derselben stellt, während die übrige Menschheit innerhalb dieser Grenzen vertheilt wird, je nachdem sie mehr dem wilden oder mehr dem civilisirten Leben entspricht. Bei dieser Vertheilung sind die Hauptkriterien die Abwesenheit oder Anwesenheit, hohe oder niedrige Entwicklung der industriellen Künste, namentlich der Metallverarbeitung, der Verfertigung von Geräthen und Gefässen, des Ackerbaues, der Architektur u. s. w., der Umfang wissenschaftlicher Kenntnisse, die Bestimmtheit sittlicher Grundsätze, der Zustand religiösen Glaubens und Ceremoniells, der Grad der gesellschaftlichen und staatlichen Organisation, und so fort.587
„Nur wenige Menschen“, so Tylor weiter, „dürften in Abrede stellen, dass die folgenden Rassen hier in der richtigen Reihenfolge der Culturentwicklung stehen: Australier, Tahitier, Azteken, Chinesen, Italiener“.588 Chinesen, Italiener und, wie Tylor im Gedanken wahrscheinlich die Kette erweitert hätte, Engländer. Auf dem Gebiet der technischen Fertigkeiten würden die meisten Menschen wohl kaum einen „Fortschritt“ der „Civilisation“ in Abrede stellen. Schwieriger, so Tylor, werde es auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Verhältnisse, noch schwieriger auf dem Gebiet der Moral. Gerade hier begegnete man noch oft dem im 18. Jahrhundert so beliebten Bild des „Edlen Wilden“, also der Vorstellung, daß der „Primitive“ dem „Zivilisierten“ überlegen sei. Er bestreite gar nicht, daß bei einigen „wilden“ Völkern „bessere“ gesellschaftliche Verhältnisse anzutreffen seien und „bessere“ 586 Ebenda, S. 69. 587 Ebenda, S. 26-27. 588 Ebenda, S. 27.
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moralische Sitten herrschten als bei historisch jüngeren „Völkern“. Er bestreite auch nicht, daß „viele rohe Stämme ein Leben führen, um welches manche barbarische Völker sie beneiden könnten, ja selbst der Auswurf höherer Nationen“.589 „Aber“, so Tylor weiter, dass irgend ein bekannter wilder Stamm nicht durch eine verständige Civilisation verbessert werden könne, das wird wohl kein Moralist zu behaupten wagen; während der allgemeine Verlauf der Untersuchung die Ansicht rechtfertigt, dass im Ganzen der civilisirte Mensch nicht nur klüger und fähiger als Wilde geworden ist, sondern auch besser und glücklicher, und dass die Barbaren in der Mitte zwischen Beiden stehen.590
Gerade diese Vorstellung, daß sich ein „Fortschritt“ in allen Bereichen des menschlichen Lebens nachweisen lasse, hängt auch unmittelbar mit Tylors umfassender Definition von „Cultur und Civilisation“ zusammen, die er bekanntlich im ersten Satz seines Werkes geben sollte: Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.591
Im Schlußkapitel seiner Untersuchung wird der aus einer Quäkerfamilie stammende Tylor auf die praktische Seite ethnologischer Erkenntnis zu sprechen kommen. Gerade die ethnologischen Forschungen erwiesen sich von „ungeahnter Tragweite“ für „die tiefsten und wesentlichsten Probleme“ sowie für „die eigentlichen Lebensfragen unserer intellectuellen, industriellen und socialen Zustände“.592 In diesem Zusammenhang wird Tylor gegen das sture Festhalten an veralteten Traditionen, sittlich-religiösen Überzeugungen und sozialen Einrichtungen zu Felde ziehen, die der Aufklärung und dem „Fortschritt“ der „Civilisation“ sowohl im Bereich des Wissens als auch der Werte im Wege stünden. Seine Kritik richtet sich hierbei gegen die dogmatische Theologie, die anglikanische Kirche, vor allem aber gegen den Katholizismus, ein System, das für den Ethnologen so interessant ist, wegen der Beibehaltung von Riten, die weit natürlicher mit einer barbarischen Cultur in Einklang stehen, [ein] […] System, das dem Manne der Wissenschaft in gleichem Maasse verhasst ist, 589 590 591 592
Ebenda, S. 31. Ebenda. Ebenda, S. 1. Edward B. TYLOR, Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Zweiter Band. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Deutsche übertragen von J. W. Spengel und Fr. Poske, Leipzig: C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung 1873 [engl. Original 1871], S. 445.
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weil es das Recht der freien Forschung zu untergraben strebt, und weil eine herrschsüchtige Priesterkaste sich die Autorität auf geistigem Gebiete mit einer Anmassung anzueignen versucht, welche endlich in unsern Tagen ihren Höhepunkt erreicht hat, wo ein bejahrter Bischof durch infallible Inspiration die Resultate von Untersuchungen zu beurtheilen wagt, deren Beweiskraft und Methode seine Kenntnisse wie seine geistigen Fähigkeiten gleich weit übersteigen.593
Und gerade in diesem Kampf, in dem Männer einer „barbarischen Einrichtung“ die freie Forschung und Neuerungen zu unterdrücken suchten, besäßen die Erkenntnisse der Ethnologie einen ungemeinen Wert: Den Beförderern dessen, was gesund, den Reformatoren dessen, was faul ist in der modernen Cultur, vermag die Ethnographie eine doppelte Hilfe zu gewähren. Indem sie den Geist der Menschen mit einer Entwicklungstheorie erfüllt, veranlasst sie dieselben, bei aller Verehrung gegen die Vorfahren, das fortschreitende Werk vergangener Zeiten weiterzuführen und es um so kräftiger fortzusetzen, da das Licht in der Welt heut heller leuchtet als zuvor, und da dort, wo barbarische Horden im Dunkeln herumtappten, der civilisirte Mensch oft mit klarerem Blick vorwärts dringen kann. Schwieriger und zu Zeiten sogar schmerzlicher ist die andere Aufgabe der Ethnographie, die Ueberreste einer alten rohen Cultur, die in schädliche Superstitionen übergegangen sind, blosszustellen und als reif zur Zerstörung zu kennzeichnen. Wenn auch weniger glänzend, ist diese Arbeit doch nicht minder dringend nothwendig zum Heile der Menschheit. So zu gleicher Zeit auf die Beförderung des Fortschritts und auf die Beseitigung der Hemmnisse gerichtet, ist die Culturwissenschaft wesentlich eine Wissenschaft der Reformation.594
Postskriptum: Das Jahr 1872 oder in 79 Tagen u m d i e W e l t 595 So wie an jedem Wochentag verließ der pedantische und auf seine Mitmenschen phlegmatisch wirkende englische Gentleman Phileas Fogg auch am 2. Oktober 1872 sein Haus in der Saville Row um 11 Uhr 30 vormittags und gelangte, nachdem „er den rechten Fuß fünfhunderundfünfsechzigmal vor den linken und den linken fünfhunderundsechssechzigmal vor den rechten Fuß gesetzt hatte“, zum Reformklub, dessen Mitglied er war.596 Nach dem Frühstück begab sich Fogg wie üblich in den großen Salon und vertiefte sich bis 3 Uhr 45 in die Lektüre der „Times“ und dann bis zum Dinner in jene des „Standard“. Nach dem Abendessen widmete er 593 Ebenda, S. 452-453. 594 Ebenda, S. 456. 595 Vgl. im folgenden Eric HOBSBAWM, The Age of Capital, 1848-1875, London: Abacus 1997 [1975], S. 68-70. 596 Jules VERNE, Die Reise um die Erde in 80 Tagen, Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1972 [1872], S. 15.
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sich den Nachrichten des „Morning Chronicle“. Kurze Zeit später trafen seine Whistpartner ein und die vier Herren nahmen am Spieltisch Platz. In den Spielpausen zwischen den Robbern drehte sich das Gespräch um den aufsehenerregenden Diebstahl, der sich vor wenigen Tagen ereignet hatte und ganz London in Atem hielt. Ein Bankräuber hatte am hellichten Tag die ehrwürdige „Bank of England“ um 55.000 Pfund erleichtert. Andrew Stuart, einer der Whistpartner von Fogg meinte, daß der Bankräuber gute Chancen zu entwischen hätte, denn „schließlich ist die Erde groß genug!“ „Das war sie ehemals!“ erwiderte Phileas Fogg. Ob denn die Erde „kleiner geworden“ sei, fragte Stuart. Ja, meinte Walter Ralph, einer der anderen Kartenspieler: „Jedenfalls erscheint die Erde kleiner, seitdem man sie zehnmal schneller als vor hundert Jahren durchqueren kann. Dadurch werden die Nachforschungen, in dem Fall, der uns beschäftigt, wesentlich beschleunigt.“597 In nur 80 Tagen, ergänzte Fogg, könne man heute um die ganze Welt reisen. Stuart mißtraute diesen Angaben, verwies auf all die unberechenbaren Ereignisse, die eine solche Reise verlangsamen und argumentierte, daß diese Behauptung wohl nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis stimmen könnte. „In der Praxis auch, Herr Stuart!“, erklärte Fogg. Er wette 4.000 Pfund, daß dies nicht möglich sei, entgegnete Stuart und forderte Fogg auf, den Beweis anzutreten. „Will ich gern!“, erklärte Fogg. „Wann?“, fragte Stuart. „Auf der Stelle“, antwortete Fogg und wettete 20.000 Pfund, daß er die Weltreise in nur 80 Tagen bewältigen und noch heute beginnen würde. Mittlerweile war es sieben Uhr abends geworden. Der Zug nach Dover ging um 8 Uhr 45. Fogg blieben also noch knapp zwei Stunden, um sich für seine Weltreise vorzubereiten. Zuvor jedoch wollte er noch die Partie Whist zu Ende spielen. Um 7 Uhr 50 kommt er nach Hause und fordert seinen neuen, am Morgen dieses Tages eingestellten Diener Passepartout – den alten hatte er gekündigt, da dieser sein Rasierwasser statt auf 86 Grad Fahrenheit bloß auf 84 Grad erhitzt hatte – auf, zwei Hemden und drei paar Strümpfe in einen Reisesack zu geben, ihm seinen Mackintosh und seine Reisedecke zu bringen und sich selbst gute Schuhe anzuziehen. Ohne im folgenden alle Abenteuer und Erlebnisse von Phileas Fogg, der nach seiner Abreise in den Verdacht gerät, der gesuchte Bankräuber zu sein und daher von der englischen Polizei gejagt wird, zu schildern, möchte ich im folgenden nur seine Reiseroute skizzieren, um abschließend noch einmal die in diesem Kapitel zur Sprache gekommene und für den Fortschrittsgedanken entscheidende verkehrstechnische Revolution zu veranschaulichen. Die beiden wichtigsten Verkehrsmittel von Fogg sind die Eisenbahn und das Dampfschiff, das wichtigste Kommunikationsmittel im Rahmen der polizeilichen Verfolgungsjagd ist der Telegraph. Für seine Reise um die Welt bediente sich Fogg in erster Linie öffentlicher Verkehrsmittel und legte den Berechnungen für die Dauer seiner Reise auch 597 Ebenda, S. 19.
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die offiziellen Fahrzeiten zugrunde. Fogg ist kein exzentrischer Hasardeur, der sich waghalsig in ein Abenteuer mit vielen Unbekannten stürzt und auf seine eigenen außerordentlichen Fähigkeiten vertraut, dieses Unternehmen erfolgreich auszuführen, sondern eher ein fortschrittsgläubiger, kühl kalkulierender Jedermann, der nur zeigen möchte, was heutzutage aufgrund der technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen eigentlich bereits jedem „Zivilisierten“ ohne größere Schwierigkeiten möglich sei. London verläßt Fogg am 2. Oktober um 8 Uhr 45 mit der Eisenbahn Richtung Dover. Hier setzt er nach Frankreich über und fährt mit dem Zug nach Paris weiter. In der französischen Hauptstadt trifft er am Morgen nach seiner Abreise um 7 Uhr 20 ein. Von Paris fährt er mit dem Zug durch den Mont-Cenis-Tunnel, der – wie erwähnt – erst im Jahr zuvor eröffnet worden war, nach Turin. Hier steigt er um und erreicht Brindisi am 5. Oktober um 4 Uhr nachmittags. Am Abend desselben Tages schifft er sich ein und kommt am Vormittag des 9. Oktobers in Suez an. Seit seiner Abreise ist – wie vorgesehen – genau eine Woche verstrichen. In Suez geht er an Bord der „Mongolia“, die über Aden nach Bombay fährt. Für die rund 1.300 Meilen lange und im Jahr 1869 für die Dampfschiffahrt in Betrieb genommene, schwierige Strecke durch das Rote Meer von Suez nach Aden benötigt Fogg, der dem Maschinisten eine Prämie versprochen hatte, sollte das Schiff vor der geplanten Ankunft eintreffen, nur 123 statt wie vorgesehen 138 Stunden. Das Dampfschiff von Fogg fährt also mit einer Geschwindigkeit von etwa 10 Meilen in der Stunde. Für die Fahrt von Aden nach Bombay, eine Strecke von 1.650 Meilen, braucht Fogg sechs Tage, einen Tag weniger als vorgesehen. Mittlerweile schreiben wir den 20. Oktober und Fogg hat bereits „einen Vorsprung von zwei Tagen“.598 Am Abend des 20. Oktobers besteigen Fogg und sein Diener in Bombay den Zug nach Kalkutta. Drei Tage sind für diese Strecke quer durch die indische Halbinsel vorgesehen. Hierbei gilt es zu bedenken, daß die erste rund 20 Meilen lange Eisenbahnlinie Ostindiens, die von Bombay nach Tanna führte und die überhaupt die erste Eisenbahnstrecke Asiens war, erst im Jahre 1853 eröffnet worden war. Im Jahr 1860, als in Anatolien die zweite asiatische Eisenbahnstrecke von rund 25 Meilen Länge in Betrieb genommen wurde, betrug das Streckennetz der englischen Kolonie rund 850 Meilen, im Jahr 1870 bereits 4.800 Meilen, das Eisenbahnnetz des restlichen Asiens hingegen nur rund 300 Meilen.599 Als die Eisenbahn auf ihrem Weg nach Kalkutta in einem kleinen Dorf anlangt, erfährt Fogg, daß das rund 50 Meilen lange Teilstück bis Allahabad doch noch nicht fertiggestellt sei und er daher aussteigen müsse. Aber 598 Ebenda, S. 49. 599 MKL, 5, 51897, [„I. Entwickelung des Eisenbahnnetzes der Erde 18401891“, Beilage zum Stichwort:] Eisenbahn, S. 508-517, hier o. S. [nach S. 516].
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auch das kann den stoischen Engländer, dessen unbändiger Wille und Vertrauen in die moderne Welt durch seinen unglaublichen Gleichmut verdeckt wird, nicht aus der Ruhe bringen. Um die Strecke nach Allahabad zurückzulegen, kauft er einen Elephanten und mietet einen Parsen als Führer. Auf seinem Elefantenritt findet er noch Zeit, eine junge, hübsche und reizende Witwe, die einer Suttee zum Opfer zu fallen drohte, aus den Händen grausamer Brahmanen zu retten. Obgleich Fogg sich ansonsten kaum für die von ihm bereisten Länder und deren Sitten interessiert, entlockt ihm dieses Abenteuer doch einen Kommentar: „‚Was?‘ rief Phileas Fogg, ohne die geringste Erregung zu verraten, ,diese barbarischen Sitten bestehen immer noch in Indien? Und die Engländer sind nicht imstande, sie auszurotten?‘“600 Am 25. Oktober langten Fogg, sein Diener und die gerettete Witwe – übrigens eine Parsin, die akzentfrei Englisch sprach und durch ihre „Erziehung zur Engländerin“ geworden war – in Kalkutta ein.601 Fogg hatte seine zwei Tage Vorsprung eingebüßt, aber immerhin jene Frau kennengelernt, die er bei seiner Rückkehr nach England heiraten sollte. In Kalkutta schiffen sich Fogg und seine Begleiter noch am gleichen Tag auf dem Schraubendampfer „Rangun“ in Richtung Hongkong ein. Auf ihrer Fahrt auf der „Rangun“ passieren die Reisenden die im bengalischen Golf liegenden Inseln der Andamanen, auf der die „wilden Papuas“ beheimatet sind, „Geschöpfe, die auf der niedrigsten Stufe menschlicher Kultur stehen“.602 Am 30. Oktober passieren sie die Straße von Malakka, welche die Malaiische Halbinsel von Sumatra trennt. Am nächsten Morgen erreichen sie Singapur. Von Singapur nach Hongkong sind es etwa 1.360 Meilen. Fogg wird für diese Strecke aufgrund schlechter Witterungsbedingungen sieben Tage, einen Tag länger als geplant brauchen. Von Hongkong begeben sich die drei Reisenden nach Yokohama, eine Strecke, für die sechs Reisetage anberaumt sind. Trotz einiger unvorhergesehener Schwierigkeiten langt Fogg am 14. November frühmorgens in Yokohama ein, noch rechtzeitig, um sich auf dem am Abend nach San Francisco abgehenden Raddampfer „General Grant“ einzuschiffen. Der Kapitän des Dampfers versichert Fogg, für die rund 4.700 Meilen lange Strecke nach San Francisco nicht länger als einundzwanzig Tage zu benötigen. Der Dampfer fährt mit einer Geschwindigkeit von etwa 12 Meilen in der Stunde. Am 23. November passieren Fogg und seine Begleiter den 180. Längenkreis, auf dem sich die Antipoden von Greenwich befinden. Der englische Gentleman ist nun genau 52 Tage unterwegs, und Fogg hatte bereits 600 VERNE, Die Reise um die Erde in 80 Tagen, S. 69. Daß Fogg nicht nur ein Patriot ist, sondern auch ein sehr ausgeprägtes Ehrgefühl besitzt und immer wieder bereit ist, den Erfolg seiner Reise aufgrund höherer Werte – etwa die Rettung eines Menschenlebens – zu riskieren, sei hier nur am Rande bemerkt. 601 Ebenda, S. 81. 602 Ebenda, S. 94.
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17.500 Meilen zurückgelegt. Hätte er von London aus immer dem 50. Breitengrad entlang reisen können, hätte die Reise um die Welt rund 12.000 Meilen betragen. „Die Verkehrswege erforderten es aber, 26.000 Meilen zu reisen“ und so blieben Fogg für die restlichen 8.500 Meilen noch 28 Tage Zeit.603 Am Morgen des 3. Dezembers läuft die „General Grant“ plangemäß im Hafen von San Francisco ein. Am Abend des gleichen Tages steigen Fogg und seine Mitreisenden in den Zug der im Jahre 1869 fertiggestellten Pazifikbahn, die „durch ein metallenes Band“ San Francisco und New York, eine Strecke von knapp 3.800 Meilen, miteinander verband. Eine Woche ist für diese Eisenbahnfahrt vorgesehen. Eine Reihe von Zwischenfällen und noch nicht beherrschbaren „Naturkatastrophen“, unter anderem eine Büffelherde und ein Überfall von Indianern, verzögern jedoch die Reise, und so verpassen Fogg und seine Begleiter das am Abend des 11. Dezembers aus New York nach Liverpool auslaufende Schiff um 45 Minuten. Schon am nächsten Tag chartert Fogg jedoch einen Handelsdampfer und erreicht nach einer abenteuerlichen Fahrt Liverpool kurz vor Mittag am 21. Dezember. Am gleichen Abend mußte er, wollte er seine Wette gewinnen, um Punkt 8 Uhr 45 im Londoner Reformklub eintreffen. Da die Eisenbahnfahrt von Liverpool nach London nur sechs Stunden in Anspruch nahm, wäre dies auch kein Problem mehr gewesen. Doch bei seiner Ankunft in Liverpool wird Fogg verhaftet und als der vermeintliche Bankräuber ins Gefängnis gesteckt. Nach drei Stunden wird er wieder freigelassen. Der Verdacht gegen ihn hatte sich als Irrtum herausgestellt. Fogg mietet einen Sonderzug und rast nach London. Hier langt er um 8 Uhr 50 am Abend ein, hatte also, wie er dachte, seine Wette um wenige Minuten verloren. Doch einen für seine Planung entscheidenden Umstand hatte der penible Fogg übersehen. Da er seine Weltreise ostwärts, also der Sonne entgegen, gemacht hatte, waren für ihn die Tage pro Längengrad, den er passierte, um genau vier Minuten kürzer gewesen. Multipliziert man nun vier Minuten mit 360, also der Anzahl der Meridiane, kommt man auf 1.440 Minuten bzw. genau auf die Dauer eines Tages. Diesen hatte Fogg also auf seiner Reise gewonnen. Gerade noch rechtzeitig wird er dies am Tag nach seiner Ankunft in London bemerken und so seine Wette, daß die Erde kleiner geworden und in nur 80 Tagen zu bereisen war, doch noch gewinnen. Wie lange, fragt der englische Historiker Eric Hobsbawm, hätte Phileas Fogg wohl für seine Weltreise im Jahre 1848 benötigt, bei der er fast ausschließlich auf die Schiffahrt angewiesen gewesen wäre?604 Ohne die Zeit in den Häfen miteinzuberechnen und mit dem nötigen Glück, so Hobsbawm, hätte eine Weltreise im Jahre 1848 wahrscheinlich 11 Monate gedauert, also etwa viermal so lange wie jene von Fogg im Jahre 1872. 603 Ebenda, S. 148. 604 HOBSBAWM, The Age of Capital, S. 69.
II. ANFÄNGE DER ANTHROPOLOGIE: QUELLEN UND ANALYSEN | 271
Gleichsam als Post-Postskriptum sei noch angemerkt, daß, als Livingstone im Mai 1873, also im Jahr nach Foggs Weltreise, am Bangweulusee verstarb, seine beiden langjährigen afrikanischen Diener Susi und Chuma den Leichnam des Missionars einbalsamierten und, nachdem sie sein Herz in Afrika bestattet hatten, nach Sansibar an die ostafrikanische Küste zurücktrugen. Für diesen Marsch durch das nicht mehr ganz so „dunkle Afrika“, auf dem sie zwischen 1.000 und 1.500 Meilen – die Angaben hierüber variieren – zurücklegten, benötigten sie rund neun Monate. In mehr als der dreifachen Zeit bewältigten sie also eine Strecke, die in etwa ein Zwanzigstel der von Fogg auf seiner Weltreise zurückgelegten Distanz betrug. Als die beiden Diener im Februar 1874 die Ostküste erreichten, übergaben sie den Leichnam von Livingstone englischen Beamten. Zwei Monate später wurde der Leichnam in der Westminster Abbey beigesetzt.
C. Einige z usa mme nfasse nde Be merk unge n zur Fortschrittsidee in der „jungen“ An thropologie und z u ihren Vertretern
Vorrangiges Ziel der chronologischen Darstellung der „anthropologischen Gründerzeit“ war es, auf die ungemeine Strahlkraft aufmerksam zu machen, welche die Fortschrittsidee in diesem Zeitabschnitt entfalten konnte. In den folgenden Betrachtungen werde ich zunächst einige zusammenfassende Überlegungen zur „jungen“ Anthropologie anstellen. In einem zweiten Abschnitt möchte ich den Kulturevolutionismus im ausgehenden 19. Jahrhundert in einen wissenssoziologischen Kontext einbetten. Hierbei beschränke ich mich auf die Vereinigten Staaten von Amerika, auf jenes Land, in dem die Fortschrittsgläubigkeit ein herausragendes Charakteristikum der Mentalitätsgeschichte bildet.
1. Das Janusgesicht des Entwicklungsgedankens oder das „Spiel“ mit Nähe und Ferne Wie ich in meiner Chronologie zu zeigen versucht habe, sollte die Gleichzeitigkeit von revolutionären technischen Innovationen und Erfindungen auf der einen Seite und von prähistorischen Funden sowie geographischen Entdeckungsreisen auf der anderen Seite, in entscheidendem Maße dazu betragen, die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen der Welt der „Zivilisierten“ und der Welt der „Primitiven“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu vergrößern. Und in dieser Situation des Auseinanderklaffens vermochten gerade die sich überwiegend an den Naturwissenschaften orientierenden „jungen“ Anthropologen mit Hilfe des Entwicklungsgedanken gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits verbanden sie unter Berufung auf die Einheit der Natur und die Allmacht ihrer Gesetze das Ferne mit dem Nahen, das Fremde mit dem Eigenen, das „Rohe“ mit dem „Geschliffenen“ und konnten somit dem drohenden Dilemma eines axiologischen Relativismus entgehen, andererseits gelang es ihnen durch die Verweise auf die unzähligen Zwischenschritte, die das „Wilde“ und Vergangene vom „Zivilisierten“ und Gegen-
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wärtigen trennten, gleichsam die Distanz zu wahren. Dieses „Spiel“ mit Nähe und Ferne, die gleichzeitige Betonung der psychic unity of mankind und des infinite progress, verleiht dem Entwicklungsgedanken das ihm eigene Janusgesicht. Das unscheinbarste Staubkörnchen und der erhabenste Planet, die kannibalischen „Wilden“ und die in Eisenbahnen fahrenden „Zivilisierten“ – alle gehorchten den allmächtigen Gesetzen der Natur: Der „Wilde“ stehe nicht außerhalb, der „Zivilisierte“ nicht über den Gesetzen. Gebetsmühlenartig wiederholten die „jungen“ Anthropologen, daß die Scheidewände zwischen dem Anorganischen und dem Organischen, zwischen Pflanze und Tier und Tier und Mensch der Reihe nach gefallen seien. Wie ließe sich angesichts dessen noch die von der traditionellen Universalhistorie hartnäckig verteidigte Scheidewand zwischen dem „vorgeschichtlichen“ und dem „geschichtlichen“ Menschen sowie jene zwischen dem „Wilden“ und dem „Zivilisierten“ aufrechterhalten?605 Da sich die Vertreter der „jungen“ Anthropologie auf die Einheit der Natur beriefen, sollten gerade sie das dem „Wilden“ bislang verschlossene Tor der Geschichte aufstoßen. Zumindest einen Fuß durfte der „Naturmensch“ fortan über die in das Reich der Geschichte führende Schwelle setzen. Immer wieder betonten die „jungen“ Anthropologen, daß nicht „Unkultur“, sondern ein geringes Maß an Kultur die „Naturvölker“ kennzeichnete. Zusehends wurde in der „anthropologischen Gründerzeit“ der Begriff „Naturmensch“ durch das Attribut „sogenannter Naturmensch“ oder durch Apostrophierung relativiert oder durch andere Begriffe ersetzt. Zusehends rückte an die Stelle des „kulturlosen Naturmenschen“ der „kulturarme Primitive“. Die nähere Kenntnis der Bewohner ferner Länder, heißt es in einem Beitrag aus dem Jahre 1870, habe uns „den Begriff des sogenannten wilden Mannes entzogen“. Statt von „Wilden“ spreche man nun von „Naturvölkern, ohne daß es aber gelungen wäre für den neuen Taufnamen irgendeinen scharfen Begriff festzustellen oder die Grenzen zu finden wo die Naturvölker aufhören und das Culturvolk beginnt“. Die neuere Forschung habe selbst die Australier, die lange Zeit als die „wilden Menschen“ par excellence gegolten hätten, „als das letzte Glied einer langen Kette geistiger Entwicklung, […] [deren] Zustände als kindliche, aber keineswegs als thierische erscheinen“ lassen.606 Obgleich auf der untersten Sprosse, stünde auch der „Primitive“ auf der großen Leiter der Menschheitsentwicklung. „Nihil humanum a me alienum puto“, hieß es in dem erwähnten Bericht über die konstituierende Sitzung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Primitive Culture
605 Vgl. z. B. SCHAAFFHAUSEN, Über die anthropologischen Fragen der Gegenwart, S. 327. 606 N. N., Ueber die Anfänge der geistigen und sittlichen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes. 1. Die ersten religiösen Regungen, in: Das Ausland 43 (1870), S. 1033-1039, hier S. 1033.
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lautete der Titel des berühmten Werkes von Tylor, ein Titel, der, wie erwähnt, den „Alten“ als ein leicht anrüchiges Paradoxon erschienen sein mußte. Im Kleinen und in Keimen seien selbst bei den „primitivsten“ Völkern Regeln des wirtschaftlichen und politischen Lebens in Kraft, wirkten Traditionen; ja, sogar künstlerisches Streben, religiöse Vorstellungen, rechtliche und ethische Normen ließen sich bei den „Wilden“ nachweisen. Vom menschlichen Gemeinbesitz, von Elementargedanken und universellen Kulturelementen war fortan die Rede. „Es giebt kein Volk der Erde, welches nicht die Anfänge eines Rechts besäße. Das gesellige Leben gehört zur menschlichen Natur und mit jedem geselligen Leben ist auch ein Recht gegeben“, schrieb der deutsche Pionier der komparativen Rechtsethnologie Albert H. Post (1839-1895).607 „Kein Volk der Erde, das wir kennen“, erklärte sein Landsmann Friedrich Ratzel (1844-1904), „ist ganz ohne politische Organisation […].“608 „Cultur und Uncultur“, hatte der Marburger Anthropologe Theodor Waitz (1821-1864) im Jahre 1861 erklärt, bildeten „im Leben der Völker ein Continuum“.609 Begriffe wie „Geschichtslose“ oder „Kulturlose“ seien im Rahmen völkerkundlicher Studien abzulehnen, meinte Ratzel. „Naturvölker“ seien im Grunde genommen „kulturarme Völker“.610 Wer sich nur ein wenig mit den Schlüsselbegriffen der anthropologischen Schriften im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert befaßt, wird gewahr, wie sehr sich bereits in der Terminologie eine vehemente Absage an die alte von der Universalhistorie verfochtene strikte Dichotomie von staatenlosen „Naturvölkern“ und staatenbildenden „Kulturvölkern“ spiegelt. Die „jungen“ Anthropologen sprechen von „Entwicklungs-, Cultur und Gesittungsstufen“, von „wilden“, „rohen“ Nationen, die „geschliffen“ werden müssen, um zu „polirten“ Nationen zu werden, von „kulturarmen Nationen“, die der „Veredelung“, der „Verbesserung“ und der „Verfeinerung“ noch harren, von „Halbkulturund Vollkulturvölkern“. Allgegenwärtig sind nun die Bewegungsmetaphern wie „Entwicklung“, „Aufstieg“, „Fortschritt“, „Hebung“, „uplift“, „avanzamento“ usw. Ja, der Versuch, den neuen Gedanken einer aufsteigenden Entwicklung in der alten Terminologie zu fassen, sollte mitunter zu solch – scheinbar – paradoxen Titeln wie die „Kultur der Kulturlosen“ führen.611 „Entwicklung“, hatte Haeckel gemeint, „heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen oder wenigstens
607 Albert H. POST, Grundriss der Ethnologischen Jurisprudenz, S. 8. 608 Friedrich RATZEL, Völkerkunde. Erster Band: Die Naturvölker Afrikas, Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1887, S. 87. 609 Theodor WAITZ, Ueber die Einheit des Menschengeschlechtes, in: Historische Zeitschrift 5 (1861), S. 289-350, hier S. 292. 610 RATZEL, Völkerkunde, S. 10. 611 Vgl. Karl WEULE, Die Kultur der Kulturlosen. Ein Blick in die Anfänge menschlicher Geistesbetätigung, Stuttgart: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Franck’sche Verlagsbuchhandlung 1910.
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auf den Weg ihrer Lösung gelangen“.612 Kaum ein Gedanke hat die anthropologischen Apostel des wissenschaftsgläubigen Zeitalters in solch ekstatische Verzückungen zu versetzen vermocht wie jener an den sich aus allerrohesten Uranfängen mühseligst und selbständig emporarbeitenden „Wilden“. Je widriger und niedriger die Anfänge in der Vergangenheit, umso höher und strahlender erschien die Gegenwart – und umso verheißungsvoller auch die Zukunft. Zugleich jedoch wurde den Leistungen des „Wilden“, der ja unser Vorfahr war, von den Entwicklungstheoretikern auch Respekt und Achtung gezollt. Ich erinnere an die Worte von Boucher de Perthes über die werkzeugmachenden „Urmenschen“, diese Vorfahren eines Phidias. Wer will schon von splitternackten, dumpfen Einfaltspinseln abstammen? „Von der ersten Urhütte bis zum Wolkenkratzer – welch eine Entwicklung! Und doch stecken auch in dem modernsten Riesenpalast der Gegenwart noch unverkennbar die Elemente jedes menschlichen Wohnbaus überhaupt.“613 Die riesigen moralischen und intellektuellen Unterschiede zwischen einem Howard, Newton oder Shakespeare und einem „Wilden“, so Darwin in seinem Werk Descent of Man (1871), „are connected by the finest gradations. Therefore it is possible that they might pass into each other.“614 Für alle Bereiche der Kultur, für die Wirtschaft, das Recht, die Politik, die Kunst, die Religion, das soziale Gefüge und so weiter suchten und fanden die Vertreter des Kulturevolutionismus, der gleichsam das theoretische Destillat der Fortschrittsidee bildet, Entwicklungsgesetze. So wurde etwa im Bereich der Wirtschaft, wie bereits die schottisch-französischen Stufentheoretiker des 18. Jahrhunderts argumentiert hatten, eine allgemeingültige Entwicklungslogik vom Jäger- und Sammlertum über das viehzüchtende Nomadentum zur Landwirtschaft und schließlich zur Industriegesellschaft konstatiert. Karl Weule meinte gar, auf der ursprünglichsten Stufe der menschlichen Wirtschaft, der tierischen Wirtschaftsstufe, hätten noch Instinkt und Reflex vorgeherrscht.615 In diesen Zeiten war ein Anlegen von Vorräten noch unbekannt gewesen und für den Menschen bestand „ganz der Tierwelt entsprechend, die Nothwendigkeit, sich in guten Zeiten zu mästen, und zugleich auch die andere, Hungervirtuosen zu werden“.616 Im Bereich des Rechts und der Politik ließe sich eine naturgesetzliche Entwicklung von der Kollektivverantwortlichkeit zur Individualverantwort612 Ernst Haeckel zit. nach Ludwig BÜCHNER, Der Mensch und seine Stellung in der Natur, S. 28. 613 Karl WEULE, Kulturelemente der Menschheit: Anfänge und Urformen der materiellen Kultur, Stuttgart: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Franck’sche Verlagsbuchhandlung 1910, S. 82. 614 DARWIN, Descent, S. 35. 615 Der Ausdruck „tierische Wirtschaft“ findet sich bei dem Wirtschaftsethnologen Ernst Friedrich. Vgl. Karl WEULE, Die Urgesellschaft und ihre Lebensfürsorge, Stuttgart: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Franck’sche Verlagsbuchhandlung 1912, S. 17. 616 WEULE, Urgesellschaft, S. 21.
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lichkeit, vom Urkommunismus zum Individualismus, vom Gemeineigentum zum Privateigentum erkennen; im Bereich der Religion eine Entwicklung vom Fetischismus und Animismus über Polytheismus zum Monotheismus; im Bereich der Familie eine Entwicklung von ungezügelter Promiskuität und Gruppenehe über die etwas weniger sündhafte Polygamie zur vorbildhaften militanten Monogamie (ohne Scheidung).617 Ja, sogar die Entwicklung der Sinneswahrnehmungen wurde gemäß einer Stufenleiter rekonstruiert. Von der Farbenarmut der „Naturvölker“ war die Rede, davon, daß die „Wilden“ nur Extreme, gewissermaßen nur „Schwarz-Weiß“, sehen könnten und unfähig wären, die Mittelfarben zu unterscheiden.618 Dumpf und schmerzunempfindlich wären die „Naturvölker“. Ein „Indianer“ kenne keine Schmerzen, meinen bekanntlich noch heute manche Nicht-Indianer. Die Vorstellung einer gesetzmäßigen Entwicklung, also daß sich alle Völker aus einem gleichsam embyronalen, immer und überall gleichen Zustand auf einer für alle geltenden Stufenleiter empor arbeiteten, schlug in den 1860er und 1870er Jahren, wie bereits mehrfach erwähnt, selbst Wilhelm Dilthey in ihren Bann. „Unter den Wissenschaften“, schreibt Dilthey 1876, also nur sieben Jahre vor der „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883), „welche die letzten Jahrzehnte hervorgebracht haben, nimmt die vergleichende Anthropologie eine hervorragende Stellung ein“. Durch das Zusammenwirken der Naturwissenschaft, der Ethnographie, der Prähistorie, der historischen Sprachwissenschaft und der Erforschung der Rechtsaltertümer, seien unsere Kenntnisse der Geschichte der Menschheit beträchtlich erweitert worden. Aber erst durch das von der „jungen“ Anthropologie aufgestellte Prinzip – Dilthey verweist hierbei auf die Arbeiten der englischen Forscher Maine, Tylor, McLennan und Lubbock – konnten all die neuen Kenntnisse über die Vergangenheit miteinander verknüpft werden. Und dieser leitende Gedanke war in den Worten Diltheys: Alle Nationen durchlaufen in gesetzmäßiger Stufenfolge parallele Stadien ihrer Entwicklung, demgemäß kann man jedes uns bekannte Stadium der Kulturent-
617 Selbstredend bestanden beträchtliche Unterschiede in den Auffassungen der Entwicklungstheoretiker sowohl in bezug auf die Zahl als auch auf die Abfolge der Stufen. Mir geht es in dieser allgemeinen Skizze nur darum, die allgemeine Stoßrichtung dieses Denkens nachzuzeichnen. 618 Hinsichtlich der Entwicklung des Farbensinns formulierte etwa Lazarus Geiger folgendes „Gesetz“: „Die Gleichgültigkeit in Betreff der Mittelfarben steigert sich gegen die Urzeit hin immer stärker, bis zuletzt die äussersten Extreme, schwarz und roth, übrig bleiben. Ja es lässt sich nachweisen, dass der geschichtliche Fortschritt sich dem Schema des Farbenspectrums entsprechend bewegt hat, dass z. B. für Gelb die Empfindlichkeit früher als für Grün geweckt war.“ Zit. nach Richard ANDREE, Ueber den Farbensinn der Naturvölker, Zeitschrift für Ethnologie 10 (1878), S. 323334, hier S. 323.
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wicklung eines Volkes benutzen, um analoge und weniger bekannte parallele Zustände anderer Völker zu erläutern und aufzuklären. Dieser Satz führt zur Anwendung einiger Methoden, welche gewagt erscheinen bei dem ersten Anblick, sich aber bei ihrer Anwendung immer mehr durch den Zusammenhang und die widerspruchslose Ordnung welche sie in die ethnologischen Tatsachen bringen, bewähren.619
Aus der Fülle der entwicklungstheoretischen Stufenschemata, welche die Kulturevolutionisten im ausgehenden 19. Jahrhundert aufstellten, sollen im folgenden in aller Kürze drei vorgestellt werden. Ich beginne mit dem weniger bekannten Stufenschema von Gustav Jäger (1832-1917), da sich gerade bei ihm die Entwicklungstheorie in einer wahrlich hoch „entwickelten“ Form veranschaulichen läßt.620 Im Mittelpunkt des auf der Haeckelschen Rekapitulationstheorie basierenden komplexen Jägerschen Stufenmodells steht die Überlegung, daß die drei Entwicklungsreihen, nämlich die ontogenetische, die phylogenetische bzw. kulturgeschichtliche und die soziale Entwicklung parallel verlaufen. Die untergegangenen Kulturstufen spiegeln sich also einerseits in der psychischen Entwicklung des Individuums, andererseits auch in der sozialen Schichtung der Gesellschaft. So entspricht nach Jäger etwa die ursprüngliche Stufe des Tieres dem Säugling. Innerhalb der modernen Gesellschaft wiederum entsprächen diese beiden der durch den „Kretin“ und „viehischen“ Verbrecher repräsentierten „Brutalitätsstufe“. Auf der zweiten Stufe begegnen wir dem unberechenbaren „Wilden“, dem orientierungslosen Kleinkind und dem modernen „Lumpen“, auf der dritten dem „halbwilden“, „indischen Nomadentum“, dem eineinhalb bis zweieinhalbjährigen, zur Zerstörung neigenden Kind und in der sozialen Schichtung dem modernen „Zigeuner“, „wandernden Musikanten“ und Gaukler, auf der vierten dem „seßhaften“, „friedliebenden“, „gehorsamen“ Ägypter, dem reifen, liebenswerten und braven Kind sowie dem Bauern bzw. Handwerker, auf der fünften dem Handel treibenden Phönikier, dem heranreifenden, mit „Hosenknöpfen“, „Steinkugeln“ und „Rechenpfennigen“ „fuggernden“ und störrigen Knaben sowie dem „Hausierer und Handelsjuden“, auf der sechsten dem machtgierigen, habsüchtigen und verwöhnten Römer, dem Knaben in seinen „Flegeljahren“, der auf dieser „Alterstufe am strafbedürftigsten“ ist, sowie dem modernen „seßhaften Kaufmanns- und Handelsstand“, auf der siebten dem zu Verschwendung und Leichtsinn nei619 Wilhelm DILTHEY, 2. Literaturbrief (1876), in: DILTHEY, Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus ‚Westermanns Monatshefte‘: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen, 18671884 (Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 8-12, hier S. 8-9. 620 Vgl. im folgenden Gustav JÄGER, Die moderne Gesellschaft: Eine genetische Studie, in: Das Ausland 48 (1875), S. 18-21; ders., Die moderne Gesellschaft: Eine genetische Studie (Schluß), in: Das Ausland 48 (1875), S. 39-42.
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genden Griechen – bemerkenswerter Weise entwicklungsgeschichtlich nach dem Römer platziert –, dem Obergymnasiasten und dem Künstler sowie Literaten usw. Diese Parallele zwischen der kulturhistorischen, der individuellen und der sozialen Entwicklung sei, so Jäger, der Ausdruck eines wirklichen Naturgesetzes und gegenüber Aeußerungen, die meine früheren Aufsätze hervorriefen, weise ich die Behauptung, als sei das obengesagte eine geistreiche Spielerei mit zufälligen Analogien, zurück. Der Naturforscher kennt überhaupt das Wort „Zufall“ ebenso wenig, als es der Theologe gelten läßt, er kennt nur das Walten organogenetischer Gesetze.621
Wenden wir uns nach diesem heute etwas bizarr anmutenden Fallbeispiel eines Entwicklungsschemas nun jenem von Lewis H. Morgan (1818-1881) zu, dem wohl bekanntesten Kulturevolutionisten der Vereinigten Staaten im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nach den prähistorischen Funden, die das hohe Alter des Menschengeschlechtes bezeugten, und eingehenden ethnographischen Studien könne kein Zweifel mehr darüber bestehen, so Morgan, daß bestimmte Völker der „Wildheit“ angehörten, andere der „Barbarei“ und andere wiederum der „Zivilisation“. Eben so wenig könne man heute noch die Tatsache in Frage stellen, „that these three conditions are connected with each other in a natural as well as necessary sequence of progress“.622 Wie die meisten Kulturevolutionisten wird auch Morgan auf die Einheit des Menschengeschlechts und ein für alle „Völker“ und „Stämme“ naturgesetzliches Entwicklungsschema hinweisen. Dieses Entwicklungsschema gilt für die Wirtschaftsweise, die politische Ordnung sowie die Werte und Normen, wobei sich der Fortschritt gewissermaßen im Gleichschritt der einzelnen Subsysteme vollzieht. Auf dieser großen Stufenleiter seien jedoch nicht alle „Völker“ gleich rasch empor geklettert, so daß die auf den unteren Sprossen stehenden die Vergangenheit derjenigen repräsentierten, die sich bereits auf den oberen Sprossen befänden. So essentially identical are the arts[,] institutions and mode of life in the same status upon all the continents, that the archaic form of the principal domestic institutions of the Greeks and Romans will even now be sought in the corresponding institutions of the American aborigines […]. This fact forms a part of the accumulating evidence tending to show that the principal institutions of mankind have been developed from a few primary germs of thought; and that the course and manner of their development was predetermined, as well as restricted within narrow limits of divergence, by the natural logic of the human mind and the necessary limitations of its powers. Progress has been found to be substantially the
621 JÄGER, Die moderne Gesellschaft: Eine genetische Studie (Schluß.), S. 41-42. 622 Lewis H. MORGAN, Ancient Society: Or, Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization. Tucson: University of Arizona Press 1985 [1877], S. 3.
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same in kind in tribes and nations inhabiting different and even disconnected continents, while in the same status, with deviations from uniformity in particular instances produced by special causes. The argument when extended tends to establish the unity of origin of mankind.623
Morgan erweiterte bekanntlich die „klassische“ Dreiteilung von „Wildheit, Barbarei und Zivilisation“, indem er sowohl zwischen „unterer, mittlerer und höherer Wildheit“ als auch zwischen „unterer, mittlerer und höherer Barbarei“ unterschied.624 So kam er auf seine berühmten sieben ethnical periods, mit deren Hilfe er die Völker der Welt zu klassifizieren gedachte. In die Periode des lower status of savagery, der ursprünglichen Stufe der Kulturentwicklung, fielen nach Morgan die Anfänge der „articulate speech“. In dieser Zeit habe der Mensch die Verwendung des Feuers noch nicht gekannt und von Nüssen und Früchten gelebt. „No exemplification of tribes of mankind in this condition remained to the historical period.“ Den Beginn der zweiten Stufe, den middle state of savagery, markieren das Wissen um die Verwendung des Feuers sowie der Fischfang. Als Beispiel für diese Stufe nannte Morgan die Australier und weite Teile der Völkerschaften Polynesiens. Die dritte Stufe, der upper state of savagery, vertreten durch die „Athapascan tribes“ im Gebiet der Hudson Bay, sowie durch „Stämme“ im Tale des Columbia-Flusses und an den Küsten Nordund Südamerikas, beginne mit der Erfindung von Pfeil und Bogen. Den Übergang von dem upper state of savagery zum lower state of barbarism markiere die Erfindung der Töpferei. Repräsentiert werde diese Epoche in Amerika durch die indianischen „Stämme“ östlich des Missouri. Ab dem middle state of barbarism unterscheidet Morgan die Entwicklung in der westlichen und östlichen Hemisphäre. In der westlichen Hemisphäre seien die bestimmenden Merkmale die Einführung von Bewässerungssystemen für die Landwirtschaft und die Verwendung des Steins im Hausbau. Als Vertreter nennt Morgan unter anderem die „Village Indians“ von Neumexiko. In der östlichen Hemisphäre markiere die Domestikation von Haustieren den Beginn des middle state of barbarism. Als Beispiel verweist Morgan auf die „ancient Britons“. Den Anfang des upper state of barbarism datiert der amerikanische Kulturevolutionist mit der Erfindung von Verfahren zur Herstellung von Eisen. Als Vertreter verweist er auf die Griechen zur Zeit Homers, die italischen „Stämme“ vor der Gründung Roms und die Germanen zur Zeit von Cäsar. Die Einführung des phonetischen Alphabets und der Schrift stünden schließlich am Beginn der civilization. Abschließend sei noch auf das auf der klassischen Einteilung in „Wildheit, Barbarei und Zivilisation“ beruhende Kulturentwicklungsschema von John W. Powell hingewiesen, dem langjährigen Leiter des 623 Ebenda, S. 17-18. 624 Vgl. im folgenden ebenda, S. 10-13.
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Bureau of American Ethnology sowie des U. S. Geological Survey. Dieses Schema findet sich übrigens im ersten Band des American Anthropologist: The age of savagery is the age of stone; the age of barbarism the age of clay; the age of civilization the age of iron. The savage propels his canoe with a paddle; the barbarian propels his boat with oars; the civilized man navigates his ships propelled by sails. In savagery, music is only rythm [sic]; in barbarism it is rythm and melody; in civilization it is rythm, melody, and harmony. The age of savagery is the age of kinship clan, when maternal kinship is held sacred; the age of barbarism is the age of kinship tribes, when paternal kinship is held most sacred; the age of civilization is the age of nations, when territorial boundaries are held most sacred. In savagery, law is designed to secure peace; in barbarism, to secure peace and authority; in civilization, to secure peace, authority and justice. In savagery, law extends only to kindred; in barbarism, to kindred and retainers; in civilization, to all the people of the nation. The age of savagery is the age of sentence words; the age of barbarism the age of phrase words; the age of civilization the age of idea words. In savagery, picture-writings are used; in barbarism, hieroglyphs; in civilization, alphabets. In savagery, there is no verb „to be;“ in barbarism, there is no verb „to read;“ in civilization, verbs are resolved into parts of speech. In savagery, beast polytheism prevails; in barbarism, nature polytheism; in civilization, monotheism. In savagery, a wolf is an oracular god; in barbarism, it is a howling beast; in civilization, it is a connecting link in systematic zoology. In savagery, the powers of nature are feared as evil demons; in barbarism, the powers of nature are worshipped as gods; in civilization, the powers of nature are apprenticed servants. In savagery, men can only count; in barbarism, they have arithmetic; in civilization, they understand geometry. In savagery, vision is limited by opinion; in barbarism, vision is limited by horizon; in civilization, vision is limited by the powers of the telescope and microscope. In savagery, reason is based on zoomorphic analogies; in barbarism, on anthropomorphic analogies; in civilization, on intrinsic homologies. […] In savagery, the beasts are gods; in barbarism, the gods are men; in civilization, men are as gods, knowing good from evil.625
Ehe ich einige wissenssoziologische Überlegungen zum Kulturevolutionismus in den Vereinigten Staaten anstelle, sei noch eine abschließende Bemerkung erlaubt. Die entwicklungstheoretischen Theoriengebäude eines Morgan, Tylor, Lubbock und Post gelten heute bekanntlich nicht nur als 625 John W. POWELL, From Barbarism to Civilization, in: American Anthropologist 1 (1888), S. 97-123, hier S. 121-123.
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überholt und falsch, sondern werden vielfach auch als moralisch verwerflich, ja um den für einen Anthropologen wohl schlimmsten aller Vorwürfe zu erheben, als ethnozentrisch, ja noch schlimmer als eurozentrisch gebrandmarkt. Der Kulturevolutionismus, so der gängige – und wie man hinzuzufügen verpflichtet ist, berechtigte – Vorwurf, stellte, zumindest indirekt, eine ideologische Rechtfertigung kolonialistischer Bestrebungen dar und half so, zumindest ein klein wenig, die white man’s burden zu tragen. Es war keineswegs meine Absicht, hier den Versuch einer moralischen Rehabilitierung unappetitlicher und verpönter Konzepte zu unternehmen oder gar für eine Wiederbelebung der „großartigen“ Stufenschemata des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu plädieren. Da jedoch in der politisch korrekten Wissenschaftskultur der Gegenwart oftmals reflexartig zur „Eurozentrismuskeule“ gegriffen wird, wenn von den alten Stufenschemata die Rede ist, erschien es mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß gerade die Überlegungen der sich an den Naturwissenschaften orientierenden Entwicklungstheoretiker des 19. Jahrhunderts entscheidend dazu beigetragen haben, den „Wilden“ in das ehemals nur dem „Zivilisierten“ vorbehaltene Reich der Geschichte und der Kultur aufzunehmen. Unter Berufung auf die Einheit der Natur, auf die zu allen Zeiten und an allen Orten wirksamen Gesetze kam es zu einer für die Geschichte der Anthropologie folgenreichen Relativierung der dichotomen Gegenüberstellung von „Natur-“ und „Kulturvölkern“. Diese Integration des ehemals „geschichtslosen Wilden“ in die Menschheitsgeschichte war zwar nur ein erster Schritt der „modernen“ Anthropologie, aber er war der erste.
2. Wissenssoziologische Notizen zum Kulturevolutionismus in den V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n Am e r i k a Der idealtypisch kulturevolutionistische Theoretiker in den Vereinigten Staaten im ausgehenden 19. Jahrhundert ist Angehöriger der mainstreamGesellschaft, zumeist ein „WASP“, ein White-Anglo-Saxon-Protestant. Exemplarisch sei neben Lewis H. Morgan (1818-1881) auf Major John W. Powell (1834-1902), Daniel G. Brinton (1837-1899), Otis T. Mason (1838-1908), William J. McGee (1853-1912) und Frank H. Cushing (1857-1900) verwiesen.626 Selbstbewußt, fortschrittsgläubig, patriotisch gesinnt, preist er den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgten Auf-
626 Biographische Notizen zu den Vertretern des Kulturevolutionismus in den USA finden sich u. a. in Robert H. LOWIE, Reminiscences of Anthropological Currents in America Half a Century Ago, in: American Anthropologist 58 (1956), S. 995-1016; William Y. ADAMS, The Philosophical Roots of Anthropology, Stanford, Cal.: CSLI Publications 1998, S. 231236.
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stieg seines Landes zu einer Weltmacht.627 Sein Blick ist in die Zukunft gerichtet, auf die noch ungeborenen Taten, auf die von Walt Whitman prophezeiten „things soon to be“. Er wird Zeuge, wie die Grenze der „Zivilisation“ immer weiter gegen Westen vorrückt, unbesiedeltes Land urbar gemacht und die „Wildnis“ gerodet wird; Zeuge also jenes Prozesses, den der Historiker Frederick J. Turner am Ende des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll beschrieben hat.628 Lautstark stimmt der amerikanische Kulturevolutionist in das im ausgehenden 19. Jahrhundert zum geflügelten Wort gewordene „You can’t stop progress“ ein.629 Er sieht die Häuser in den Himmel wachsen und die Eisenbahn unaufhaltsam dem Pazifik entgegendampfen. Rund 27 Millionen Menschen aus dem In- und Ausland, nach Schätzungen etwa ein Viertel aller Bürger und Bürgerinnen der Vereinigten Staaten, besuchten zwischen dem 1. Mai und 31. Oktober 1893 die World’s Columbian Exposition in Chicago, übrigens eine Stadt, die zwischen 1860 und 1890 von etwa 100.000 auf knapp 800.000 Menschen angewachsen war.630 Im Mittelpunkt des 400-Jahr-Jubiläums der „Entdeckung“ Amerikas stand der Fortschritt der Zivilisation, das improvement. Im Palace of Electricity zelebrierte man die Erleuchtung der Welt. Mit dem Vorrücken der Zivilisation verschwindet die Wildnis – und mit ihr der Indianer.631 „Die Cultur kommt, und der Indianer geht“, hieß es in einem bereits erwähnten Beitrag aus dem Jahre 1870. Zum Stichwort „Aborigines, n.“ meinte Ambrose Bierce in seinem wahrlich „teuflischen“ Wörterbuch: „Persons of little worth found cumbering the soil of a newly discovered country. They soon cease to cumber; they fertilize“.632 Der Indianer ist der ferne Ausgangspunkt des „Marsches der Zivilisation“, die Antithese des Heute. „Savagery“, schreibt der kulturevolutionistische Theoretiker Powell, is sylvan life. Contrast Ka-ni-ga with New York. Ka-ni-ga is an Indian village in the Rocky Mountains. New York is, well – New York. The home in the forest is a shelter of boughs; the home in New York is a palace of granite. The dwellers in Ka-ni-ga are clothed in the skins of animals, rudely tanned, rudely wrought, and 627 Zur Fortschrittsgläubigkeit in den USA im 19. Jahrhundert vgl. Robert NISBET, History of the Idea of Progress, New York: Basic Books, Inc. 1980, insbesondere S. 193-206. 628 Vgl. hierzu die Aufsatzsammlung von Frederick J. TURNER, The Frontier in American History, New York: Dover Publications, Inc. 1996. 629 NISBET, Progress, S. 204. 630 Vgl. The World’s Columbian Exposition: A history of the Fair, online unter: http://xroads.virginia.edu/~MA96/WCE/history.html (Zugriffsdatum 31. Januar 2004). 631 Zur Vorstellung des vor der Zivilisation „dahinschwindenden Indianers“ vgl. insbesondere die kenntnisreichen Ausführungen von Brian W. DIPPIE, The Vanishing American: White Attitudes and U.S. Indian Policy, Lawrence, Kansas: University Press of Kansas 21991. 632 Ambrose BIERCE, The Devil’s Dictionary, New York-Oxford: Oxford University Press 1999, S. 2.
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colored with daubs of clay. For the garments of New York, flocks are tended, fields are cultivated, ships sail on the sea, and men dig in the mountains for a dyestuffs stored in the rocks. The industries of Ka-ni-ga employ stone knives, bone awls, and human muscle; the industries of New York employ the tools of the trades, the machinery of the manufactories, and the power of the sun – for waterpower is but sunshine, and the coal mine is but a pot of pickeled sunbeams.633
Für diesen „Wilden“ aus Ka-ni-ga in den Rocky Mountains ist kein Platz in New York, diesem Granitpalast der Neuen Welt.634 „Der Indianer, wie es ihn heute gibt, stirbt aus. Sein Leben führt er unter Bedingungen, die unsere Rasse schon vor so langer Zeit hinter sich gelassen hat, daß sie vergessen sind“635, erklärte Theodor Roosevelt im Jahre 1906 im Geleitwort zu Edward S. Curtis berühmten Photographien. Zivilisation, schrieb Lewis H. Morgan, sei sowohl „aggressiv“ als auch „progressiv“ – A positive state of society, attacking every obstacle, overwhelming every lesser agency, and searching out and filling up every crevice, both in the oral and physical world; while Indian life is an unarmed condition, a negative state, without inherent vitality, and without powers of resistance.636
Die Vorstellung, daß das „Vorrücken der Zivilisation“ den naturgesetzlichen Untergang des „Indianers“ herbeiführte, bildet ein Leitmotiv der amerikanischen Geschichtsschreibung, insbesondere im 19. Jahrhundert. Im Jahre 1824 schrieb der betagte Thomas Jefferson in einem Brief an William Ludlow: Let a philosophic observer commence a journey from the savages of the Rocky Mountains, eastwardly towards our sea-coast. These he would observe in the earliest stage of association living under no law but that of nature, subscribing and covering themselves with the flesh and skins of wild beasts. He would next find those on our frontiers in the pastoral state, raising domestic animals to supply the defects of hunting. Then succeed our own semi-barbarous citizens, the pioneers of the advance of civilization, and so in his progress he would meet the gradual sha633 John W. POWELL, Sketch of the Mythology of the North American Indians, in: First Annual Report of the Bureau of Ethnology to the Smithsonian Institution 1879-1880, Washington 1881, S. 17-69, hier S. 22. 634 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des „optimistischen“ Soziologen Lester F. WARD, Pure Sociology. A Treatise on the Origin and Spontaneous Development of Society, New York: August M. Kelley 1970 [Neudruck der 2. Aufl. von 1907; 1. Aufl. 1903], S. 437-454. 635 Theodore ROOSEVELT, [Geleitwort vom] 1. Oktober 1906, in: Edward S. CURTIS, Die Indianer Nordamerikas: Die kompletten Portfolios, Köln: Taschen Verlag 1997 [1907-1930], S. 32. 636 Lewis H. MORGAN, League of the Ho-De´-No-Sau-Nee or Iroquois, Two Volumes in One, North Dighton, Mass.: J. G. Press 1995 [1851], S. 122. Diese sowie die folgenden aus diesem Buch zitierten Passagen stammen aus dem 2. Band des Werkes, der mit Seite eins beginnt.
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des of improving man until he would reach his, as yet, most improved state in our seaport towns. This, in fact, is equivalent to a survey, in time, of the progress of man from the infancy of creation to the present day. I am eighty-one years of age, born where I now live, in the first range of mountains in the interior of our country. And I have observed this march of civilization advancing from the sea coast, passing over us like a cloud of light, increasing our knowledge and improving our condition, insomuch as that we are at this time more advanced in civilization here than the seaports were when I was a boy. And where this progress will stop no one can say. Barbarism has, in the meantime, been receding before the steady step of amelioration; and will in time, I trust, disappear from the earth.637
Nur wenige Jahre nach diesem Brief von Jefferson schrieb Tocqueville: Sämtliche Indianerstämme, die ehemals das Gebiet von Neuengland bewohnten, die Naragansett, die Mohikaner, die Pecot, leben nurmehr in der Erinnerung der Menschen. Die Lenap, die vor hundertfünfzig Jahren Penn am Ufer des Delaware empfingen, sind heute verschwunden. Ich traf die letzten Irokesen; sie bettelten. Alle genannten Stämme breiteten sich einst bis an die Meeresküste aus; jetzt muß man mehr als hundert Meilen ins Innere des Erdteiles hineinreisen, um einem Indianer zu begegnen. Diese Wilden haben sich nicht nur zurückgezogen, sie sind ausgerottet. In dem Grade wie die Eingeborenen sich entfernen und sterben, kommt und wächst an ihrer Stelle unaufhörlich ein gewaltiges Volk heran. Weder sah man unter den Völkern jemals eine so märchenhafte Entwicklung, noch eine so rasche Vernichtung.638
Wie bereits erwähnt, gehörte nach Lewis H. Morgan die Mehrzahl der indianischen „Stämme“ Nordamerikas der dritten (upper status of savagery) und vierten (lower status of barbarism) der insgesamt sieben Entwicklungsstufen (ethnical periods) an. Ohne die Hilfe der Zivilisierten, so Morgan, „the whole Indian family will ere long fade away, and finally become enshrouded in the same regretful sepulchre in which the races of New England lie entombed“.639 Die einzige Möglichkeit, den Indianer vor seinem manifest destiny, dem drohenden Untergang zu bewahren, bestand nach Morgan darin, ihn aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Dies sei möglich, da das Menschengeschlecht eine Einheit bildete und der „Barbar“ hinsichtlich seiner natürlichen Anlage dem „Zivilisierten“ gleich sei. Es gelte daher, die „Indianer“ vor der der Zivilisation innewohnenden aggressiven Kraft in Schutz zu nehmen und „then to mature such a system of supervision and tutelage, as will ultimately raise them for the enjoyment 637 Thomas JEFFERSON, Writings: Autobiography. A Summary View of the Rights of British America, Notes on the State of Virginia, Public Papers, Addresses, Messages, and Replies, Miscellany, Letters, New York: The Library of America 1984, S. 1496-1497. 638 Alexis de TOCQUEVILLE, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil, Zürich: Manesse Verlag 1987 [1835], S. 486-487. 639 MORGAN, League of the Ho-De´-No-Sau-Nee, S. 120.
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of those rights and privileges which are common to ourselves“.640 „Assimilation“ lautete das Gebot der Stunde für die kulturevolutionistisch gesinnten Sozialpolitiker.641 Das Fremde kann nur dann überleben, wenn es aufhört, fremd zu sein. Zu den wichtigsten sozialpolitischen Assimilationsmaßnahmen zählten die Beendigung der nomadischen Lebensweise, die Seßhaftmachung und der Unterricht in landwirtschaftlichen Fertigkeiten – der Indianer sollte sich seinen Weg in die Gegenwart im Schweiße seines Angesichts erarbeiten –, ferner die Aufhebung des Gemeineigentums, die Parzellierung und Zuteilung von Grund und Boden an einzelne indianische Familien, die sprachliche Assimilation, die Beseitigung traditioneller kultureller Praktiken und die Christianisierung.642 Besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang auch der Zwangsumsiedelung der indigenen Bevölkerung in Reservate zu, die von den „Weißen“ als pädagogische Keimzelle der „Zivilisierung“ geschaffen und gerechtfertigt wurden, wobei die Segregation als eine notwendige Vorstufe der Assimilation der indigenen Bevölkerung angesehen wurde. Major John W. Powell, der in den 1870er Jahren im Auftrag der Regierung das Gebiet des Colorado Plateau bereiste, um die Besiedelungsmöglichkeiten zu erkunden, gab in einem offiziellen Bericht folgende Empfehlungen für den Umgang mit jenen Indianern ab, die bereits in Reservaten lebten und keine „public enemies“ mehr waren.643 1. Kein arbeitsfähiger Indianer in einem Reservat sollte von der Regierung Essen oder Kleidung bekommen ohne entsprechende Arbeit hierfür zu leisten. 2. Anstelle fertiger Kleider sollte man den Indianern nur den hierfür notwendigen Stoff 640 Vgl. ebenda, S. 123. 641 Zu den sozialpolitischen Programmen amerikanischer Kulturevolutionisten vgl. DIPPIE, The Vanishing American, insbesondere S. 95-106 und S. 164-171. 642 Vgl. hierzu etwa Carl SCHURZ, Present Aspects of the Indian Problem, in: The North American Review 133 (Juli 1881), 1-24, hier S. 7. Der Text ist Teil der Cornell Digital Library und online abrufbar unter: http://cdl. library.cornell.edu/cgi-bin/moa/moa-cgi?notisid=ABQ7578-0133-3 (Zugriffsdatum 31. Juli 2003). Zur Politik, das Gemeineigentum von Grund und Boden aufzuheben und indianischen Familien ein Stück Land zuzuteilen, vergleiche den Kommentar von Ambrose Bierce: „Severalty, n. Separateness, as lands in severalty, i. e., lands held individually, not in joint ownership. Certain tribes of Indians are believed now to be sufficiently civilized to have in severalty the lands that they have hitherto held als tribal organizations, and could not sell to the Whites for waxen beads and potato whiskey.“ BIERCE, The Devil’s Dictionary, S. 182. 643 Siehe im folgenden John W. POWELL, From Warpath to Reservation [Auszug aus dem im Jahr 1874 erschienenen Report of Special Commissioners J. W. Powell and G. W. Ingalls on the Condition of the Ute Indians of Utah; the Pai-Utes of Utah, Northern Arizona, Southern Nevada, and Soutwestern California; the Go-si Utes of Utah and Nevada; the Northwestern Shoshones of Idaho and Utah; and the Western Shoshones of Nevada], in: Wilcomb E. WASHBURN (Hg.), The Indian Man and the White Man, Garden City, N. Y.: Anchor Books 1964, S. 377-385, hier S. 380-383.
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liefern und sie lehren, die Kleider selbst zu nähen. 3. Kein Indianer sollte ein Zelt bekommen, da dies ihn ermutigen könnte, sein nomadisches Leben fortzusetzen. „As fast as possible houses should be built for them.“ 4. Jede indianische Familie sollte eine Kuh bekommen, „to enable them to start in the accumulation of property.“ 5. Da der Boden der Reservate in diesen Gebieten ohne Bewässerungssystem nicht für die Landwirtschaft fruchtbar gemacht werden könnte, sei eine „careful superintendence“ vonnöten. In jedes Reservat sollte daher eine Reihe von „farmers“ entsendet werden, „to give general direction to all such labor“. 6. In jedes Reservat sollten ein Schmied, ein Zimmermeister und ein Sattler geschickt werden, die jeweils einige Indianer als Lehrlinge auszubilden hätten. Später könnte man dann noch andere Handwerksleute in die Reservate schicken. 7. In jedem Reservat gelte es, medizinische Einrichtungen zu schaffen. Gegenwärtig üben der „Zauberer“ und „Medizinmann“ noch großen Einfluß aus, „and such influence is always bad; but in the presence of an intelligent physician it is soon lost“. 8. Besondere Bedeutung komme der Gründung von Schulen in den Reservaten zu. Next to teaching them to work, the most important thing is to teach them the English language. Into their own language there is woven so much mythology and sorcery that a new is needed in order to aid them in advancing beyond their baneful superstitions; and the ideas and thoughts of civilized life cannot be communicated to them in their tongues.644
Um die sich aus dem Fortschrittsglauben speisende Assimilationspolitik zu veranschaulichen, sei kurz eine Zeremonie geschildert, im Rahmen derer einer Gruppe von Indianern zu Beginn des 20. Jahrhunderts die amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen wurde.645 Der Secretary of the Interior als Vertreter des Staates rief jeden „indianischen Bewerber“ mit seinem „weißen Namen“ auf und fragte ihn nach seinem „indianischen Namen“. Dann gab er ihm einen Bogen und forderte ihn auf, einen Pfeil abzuschießen. Den „indianischen Namen“ des Kandidaten wiederholend erklärte der Secretary of the Interior: You have shot your last arrow. That means that you are not longer to live the life of an Indian. You are from this day forward to live the life of the white man. But you may keep that arrow; it will be to you a symbol of your noble race and of the pride you feel that you come from the first of all Americans.646
Hierauf wandte sich der Secretary an den Indianer, sprach ihn mit seinem „weißen“ Namen an und forderte ihn auf, seine Hand auf einen Pflug zu legen: 644 Ebenda, S. 382-383. 645 Vgl. im folgenden DIPPIE, The Vanishing American, S. 193-194. 646 Zit. nach ebenda, S. 193.
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This act means that you have chosen to live the life of the white man – and the white man lives by work. From the earth we all must get our living, and the earth will not yield unless man pours upon it the sweat of his brow. Only by work do we gain a right to the land or to the enjoyment of life.647
Am Ende dieses Festaktes erhielt der zum „weißen Mann“ fortgeschrittene „Indianer“ eine lederne Geldbörse, um ihn daran zu erinnern, daß „the money you gain must be wisely kept“, eine kleine Flagge, „the only flag you have ever had or will ever have“ und auch ein goldfarbenes Abzeichen mit der Aufschrift: „A Citizen of the United States.“648 Um die oftmals verheerenden Auswirkungen dieser vom Kulturevolutionismus durchdrungenen Assimilationspolitik auf das Leben der indigenen Bevölkerung zumindest anzudeuten, möchte ich abschließend noch einen von diesen Maßnahmen betroffenen Indianer zu Wort kommen lassen. Der um 1870 in Taos Pueblo, Neu Mexico, geborene Tulto, auch bekannt als Sun Elk, wurde in den 1880er Jahren in die berühmte und als vorbildhaft geltende Carlisle School in Pennsylvania geschickt. In der Carlisle School war man bestrebt, indianische Kinder zu „heben“ und sie die Grundregeln der „Zivilisation“ zu lehren.649 In einem Interview mit dem Historiker Edwin Embree aus dem Jahre 1939 berichtete der rund siebzigjährige Tulto von seinen Erfahrungen in dieser Schule: They told us that Indian ways were bad. They said we must get civilized. I remember that word too. It means „be like a white man.“ I am willing to be like a white man, but I did not believe Indian ways were wrong. But they kept teaching us for seven years. And the books told how bad the Indians had been to the white man – burning their town and killing their women and children. But I had seen white men do that to Indians. We all wore whiteman’s clothes and ate whiteman’s food and went to whiteman’s churches and spoke whiteman’s talk. And so after a while we also began to say Indians were bad. We laughed at our own 647 Zit. nach ebenda, S. 194. 648 Ebenda. 649 Vgl. in diesem Zusammenhang den begeisterten Bericht von Carl Schurz, dem wohl bekanntesten deutschamerikanischen Politiker des 19. Jahrhunderts, über seinen Besuch der Carlisle School: „The results gained at these institutions are very striking. The native squalor of the Indian boys and girls rapidly gives way to neat appearance. A new intelligence, lighting up their faces, transforms their expression. Many of them show an astonishing eagerness to learn, quickness of perception, pride of accomplishment, and love for their teachers. Visiting the Carlisle school, I saw Indian boys, from ten to fifteen years old, who had arrived only five months before without the least knowledge of the English language, writing down long columns of figures at my dictation, and adding them up without the least mistake in calculation. Almost all submit cheerfully to the discipline imposed upon them. The boys show remarkable proficiency in mechanical and agricultural occupations, and the girls in all kinds of housework. They soon begin to take a lively and intelligent interest in the things they see around them.“ SCHURZ, Present Aspects of the Indian Problem, S. 14.
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people and their blankets and cooking pots and sacred societies and dances. I tried to learn these lessons – and after seven years I came home […].650
Als Tulto nach sieben Jahren aus der Schule entlassen wurde und am Bahnhof von Taos aus dem Zug stieg, bat er den ersten Indianer, den er traf, in das Pueblo zu laufen und seiner Familie zu sagen, daß er wieder zu Hause sei. Der Indianer sprach jedoch kein Englisch und Tulto hatte seine Muttersprache vergessen. Es dauerte eine Weile, ehe er sich verständlich machen konnte und der Indianer schließlich vorauseilte, um seine Familie von seiner Heimkehr zu benachrichtigen. Bei einem Bach, auf halbem Weg nach Hause, kamen Tulto sein Vater, seine Mutter, seine Brüder, seine Schwestern, gefolgt von anderen Verwandten, entgegen. They all began hugging me, and we all cried and were very happy. […] I have not thought about all this for many years. […] I guess I was happier at the little brook than I have ever been since. My family loved me and I was at home. We chattered and cried, and I began to remember many Indian words […]. Two little sisters and many little cousins had come along with the family to meet me. All these children liked me and kept running up and feeling my whiteman’s clothes and then running away laughing. The children tried to repeat the English words I said, and everyone was busy teaching me Pueblo words again. We sat down on the grass and talked until it became dark.651
Am nächsten Tag versammelten sich die indianischen Anführer des Pueblo im Haus seines Vaters. „They did not talk to me; they did not even look at me“, erzählte Tulto. Der „Häuptling“ wandte sich an seinen Vater und sagte: Your son who calls himself Rafael has lived with white men. He has been far away from the pueblo. He has not lived in the kiva nor learned the things that Indian boys should learn. He has no hair. He has no blankets. He cannot even speak our language and he has a strange smell. He is not one of us.652
Tulto mußte das Pueblo wieder verlassen. Mehrere Jahre lebte und arbeitete er als „white man“. Dann kam er zurück nach Taos. Sein Vater gab ihm ein Stück Land zur Bewirtschaftung. „I built a house just outside the pueblo. I would not live in the pueblo …“653
650 TULTO (SUN ELK), They Told us that Indian Ways were Bad (1939), in: Arlene HIRSCHFELDER (Hg.), Native Heritage: Personal Accounts by American Indians 1790 to the Present, New York: Macmillan 1995, S. 244-245, hier S. 244. 651 Ebenda, S. 244-245. 652 Ebenda, S. 245. 653 Ebenda.
III. Z U R K R IT IK I N D ER
AN D ER
F O R T SC H R IT T S ID E E
„ J U N G EN “ A N T HROPOL OG IE :
D I E C ULTUR AL A N THRO PO LOG Y F R AN Z B O AS D ER
UND DIE
E THNOL OG IE
VON
W I EN E R S C H U L E
Einleitende Bemerkungen zur a n t i e vo l u t i o n i s t i s c h e n W e n d e In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts kam es innerhalb der Anthropologie zu einer massiven Kritik an der Fortschrittsidee im allgemeinen und an den kulturevolutionistischen Stufenschemata des 19. Jahrhunderts im besonderen. Diese in mehreren Ländern nachweisbare „antievolutionistische Wende“ wird in der Fachliteratur zumeist unter Schlagworten wie Diffusionismus, ethnologischer Partikularismus, historische Völkerkunde, Kulturrelativismus und ethnologischer Historismus subsumiert. In Deutschland wird diese Wende gemeinhin mit der Anthropogeographie von Friedrich Ratzel (1844-1904), der Kulturmorphologie von Leo Frobenius (1873-1938) und der Kulturkreislehre von Fritz Graebner (18771934), Bernhard Ankermann (1859-1943) und Willy Foy (1873-1929) verbunden. In Österreich wiederum gilt die Wiener Schule der Ethnologie von Pater Wilhelm Schmidt (1868-1954) als Bollwerk des Antievolutionismus. In den Vereinigten Staaten ist die Abkehr vom Kulturevolutionismus untrennbar mit dem Namen von Franz Boas (1858-1942) und der von ihm begründeten Cultural Anthropology verbunden, in England mit dem ethnologischen Spätwerk von William H. R. Rivers (1864-1922) und dem heute zumeist nur mehr im ideengeschichtlichen „Kuriositätenkabinett“ zur Schau gestellten Schaffen der beiden Panägyptizisten G. Elliot Smith (1871-1937) und William J. Perry (1887-1949).1 1
Vgl. in diesem Zusammenhang die äußerst informative Überblicksdarstellung von Klaus E. MÜLLER, Grundzüge des ethnologischen Historismus, in: Wolfdietrich SCHMIED-KOWARZIK, Justin STAGL, Grundriss der Ethnologie: Beiträge zur gegenwärtigen Theoriediskussion, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 21993, S. 197-232; Fritz GRAEBNER, Methode der Ethnologie, Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1911; William H. RIVERS, The Ethnological Analysis of Culture [Opening Address, Section H: Anthropology), in: Nature 87 (September 14, 1911), S. 356-360; P. Wilhelm SCHMIDT, Die kulturhistorische Methode in der Ethnologie, in: Anthropos 6 (1911), S. 1010-1036; ders., Die kulturhistorische Methode und die nordamerikanische Ethnologie, in: Anthropos 14/15 (1919/1920), S. 546563; ders., Die Abwendung vom Evolutionismus und die Hinwendung zum Historizismus in der Amerikanistik, in: Anthropos 16-17 (1922/1923), S. 487-519; Alexander GOLDENWEISER, Diffusionism and The American
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Gemeinsam ist diesen – auch in Frankreich, Dänemark und in den skandinavischen Ländern nachweisbaren – neuen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kritik am sogenannten unilinearen Entwicklungskonzept des Kulturevolutionismus, also der Vorstellung, daß alle Völkerschaften unabhängig voneinander und aufgrund eines inneren Bauplanes die gleichen Stadien durchliefen bzw. auf einer für alle Völkerschaften gültigen, universalen Stufenleiter empor kletterten. Es war das Charakteristikum der alten, an den exakten Naturwissenschaften orientierten Vorgehensweise, schreibt Fritz Graebner in seinem richtungsweisenden, im Jahr 1911 erschienenen Werk Methode der Ethnologie (1911), daß die Methode der Entwicklungstheoretiker nicht in erster Linie den realen genetischen Beziehungen dieser oder jener Daten in Afrika, Ozeanien oder Amerika nachzugehen suchte, sondern die Gesamtkultur der Menschheit als eine mehr oder weniger homogene Masse mit ebenso mehr oder weniger einheitlicher Entwicklungstendenz betrachte.2
Die einfachste und von der alten Lehre auch befolgte Methode, ein Bild von der Entwicklungstendenz der Gesamtkultur zu erhalten, bestand nun darin, die beobachteten Völker in eine Reihe des Fortschritts zu bringen. „Je einfacher und ärmer eine Kultur“, so Graebner die Grundannahme der Vertreter der Stufenschemata zusammenfassend, desto „näher muß sie
2
School of Historical Ethnology, in: The American Journal of Sociology 31 (1925), S. 19-38; Robert H. LOWIE, The History of Ethnological Theory, New York: Rinehart & Company, Inc. 1937; Josef HAEKEL, Zum heutigen Forschungsstand der historischen Ethnologie, in: Josef HAEKEL, Anna HOHENWART-GERLACHSTEIN und Alexander SLAWIK (Hg.), Die Wiener Schule der Völkerkunde: Festschrift anläßlich des 25-jährigen Bestandes des Institutes für Völkerkunde der Universität Wien (1929-1954), Horn-Wien: Verlag Ferdinand Berger 1956, S. 17-90; Helmut PETRI, Leo Frobenius und die historische Ethnologie, in: Saeculum 4 (1953), S. 45-60; Paul LESER, Zur Geschichte des Wortes Kulturkreis, in: Anthropos 58 (1963), S. 1-36; Robert HEINE-GELDERN, One Hundred Years of Ethnological Theory in the German-Speaking Countries: Some Milestones, in: Current Anthropology 5 (1964), S. 407-418; Marvin HARRIS, The Rise of Anthropological Theory: A History of Theories of Culture, London: Routledge & Kegan Paul 21972, S. 373-392; Merwyn S. GARBARINO, Sociocultural Theory in Anthropology: A Short History, Prospect Heights, Ill.: Waveland Press 1983, S. 43-55; Karl-Heinz KOHL, Ethnologie – Die Wissenschaft vom kulturell Fremden: Eine Einführung, München: C. H. Beck 1993, S. 132-137; Miklós SZALAY, Historismus und Kulturrelativismus, in: Wolfdietrich SCHMIED-KOWARZIK, Justin STAGL, Grundriss der Ethnologie: Beiträge zur gegenwärtigen Theoriediskussion, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 21993, S. 233-253; Werner KUMMER, Franz Boas und die antievolutionistische Wende in Anthropologie, Ethnologie und Linguistik, in: Volker RODEKAMP (Hg.), Franz Boas 1858-1942: Ein amerikanischer Kulturanthropologe aus Minden (= Texte und Materialien aus dem Mindener Museum Heft 11), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1994, S. 39-54. GRAEBNER, Methode der Ethnologie, S. 77.
III. ZUR KRITIK AN DER FORTSCHRITTSIDEE | 293
doch wohl dem Anfangspunkte der menschlichen Kultur liegen, je reicher und komplizierter, um so weiter wird sie sich von ihm entfernen“.3 In den folgenden Ausführungen möchte ich aus den oben erwähnten antievolutionistischen Strömungen der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zwei Schulen behandeln, die sich gegen die den Kulturevolutionismus auszeichnende Annahme wandten, daß es möglich sei, Kulturen unter dem Gesichtspunkt ihrer „Primitivität“ bzw. „Komplexität“ in ein universelles, chronologisches Stufenschema einzuordnen. Die erste Denktradition, der ich mich zuwenden werde, ist die nordamerikanische Kulturanthropologie von Franz Boas, die zweite, die mit dem Namen von Pater Wilhelm Schmidt verbundene Wiener Schule der Ethnologie. Ziel ist es hierbei, einige antievolutionistische Kernthesen dieser Lehren zu skizzieren und diese in den Kontext der großen methodologischen Debatte der Jahrhundertwende, der Gegenüberstellung von Geistes- und Naturwissenschaft, einzubetten. Ferner möchte ich darlegen, wie die Kritik am Kulturevolutionismus in beiden Fällen auch eine strikte Absage an die ihn begleitende und ihn tragende Fortschrittsgläubigkeit bedeutete. In diesem Zusammenhang sollen auch einige biographisch-wissenssoziologische Überlegungen angestellt werden, um die diesen Lehren innewohnende Fortschrittsskepsis zu verstehen und zu erklären. Beide im folgenden erörterten Schulen argumentieren dahingehend, daß die Auffassung, das Fremde sei nichts anderes als eine Vorstufe des Eigenen, unhaltbar sei. Im Mittelpunkt ihres Denkens steht nicht wie im Kulturevolutionismus die Ungleichzeitigkeit, sondern die Ungleichheit des Fremden. Auf die später erörterte Paradoxie, daß gerade die Wiener Ethnologen ungeachtet ihres Feldzuges gegen die alten Stufenschemata diesen im Grunde genommen eng verbunden bleiben, sei an dieser Stelle gleich vorab hingewiesen. Beide Schulen werden betonen, daß der „Primitive“ nicht, wie naturwissenschaftliche Entwicklungstheoretiker behauptet hatten, „kulturarm“ ist, und schon gar nicht „kulturlos“, wie geisteswissenschaftliche Universalhistoriker argumentiert hatten. Immer wieder werden sowohl die nordamerikanischen Anthropologen im Umkreis von Franz Boas als auch die Wiener Ethnologen betonen, daß die eigene Kultur keineswegs die Etappe und das Ideal darstelle, das früher oder später auch von den anderen „rückständigen“ und fremden Kulturen erreicht werde und erreicht werden solle. Das Eigene gilt diesen Kritikern der Stufenschemata somit nicht mehr als ein notwendiges Stadium der geschichtlichen Entwicklung aller Kulturen, sondern bloß als eine Möglichkeit unter vielen. Die Erkenntnis kultureller Vielfalt kann eine beunruhigende Wirkung haben, da das Eigene seiner Selbstverständlichkeit entkleidet und seiner unumschränkten Monopolstellung in der Gegenwart beraubt wird. Hierdurch kann das Fremde einen neuen Wert erhalten, zur lebenspraktischen 3
Ebenda, S. 77-78.
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Alternative werden. Und gleich hier erscheint es wichtig zu betonen, daß sowohl die Schule von Franz Boas als auch jene von Pater Wilhelm Schmidt noch ganz im Banne der, wie ich meine, bis heute fortwirkenden, großen Verheißung der Anthropologie stehen, daß ihre Erkenntnisse über das Fremde für das Eigene einen Wert für die praktische Lebensgestaltung besitzen. Bei einigen, keineswegs bei allen Vertretern der kulturanthropologischen Lehre von Boas wird die Absage an die dem Entwicklungsgedanken zugrunde liegende fortschrittsoptimistische Gefühlswelt in eine skeptische und relativistische Grundhaltung münden. Soziale Verbände hatten die zentralen Probleme menschlichen Zusammenlebens auf unterschiedlichste Weise gelöst. Die Wege der Kulturen waren viele, die eigenen Lösungen keineswegs die einzigen. Gab es nicht bessere? Immer wieder werden die nordamerikanischen Kulturanthropologen ihre Erkenntnisse über das Fremde verwerten, um an der eigenen Gesellschaft Kritik zu üben. Der Hinweis auf Margaret Mead, neben Ruth Benedict wohl die bekannteste Schülerin von Franz Boas, mag in diesem Zusammenhang genügen. In der Tradition eines Michel de Montaigne werden die kulturrelativistischen Anthropologen und Anthropologinnen erklären, daß jeder das Barbarei nennt, was bei ihm ungebräuchlich ist – wie wir ja in der Tat offensichtlich keine andere Meßlatte für Wahrheit und Vernunft kennen als das Beispiel und Vorbild der Meinungen und Gepflogenheiten des Landes, in dem wir leben: Stets findet sich hier die perfekte Religion, die perfekte Staatsordnung, der perfekteste Gebrauch der Dinge.4
Wer vor einer Weggabelung steht, mag zögern, um sich schließlich durchzuringen, einen der Pfade zu beschreiten, von der steten Unsicherheit geplagt, ob dieser auch der richtige sei, ob er nicht doch umkehren und einen anderen wählen sollte. Der Kultur- und Wertrelativismus, wie er von manchen nordamerikanischen Kulturanthropologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten wurde, ist jedoch nur eine Antwort auf den fortschrittsoptimistischen Kulturevolutionismus. Wer vor einem solchen Scheideweg steht, kann nämlich auch felsenfest davon überzeugt sein, daß nur einer der vielen Wege zum Ziel führe. Durch ihre kulturgeschichtlichen Forschungen den einzig richtigen Pfad des guten Lebens eindeutig erkannt zu haben und daher befähigt zu sein, vor den zahlreichen sündhaften und verlockenden Irrwegen und Sackgassen der Moderne zu warnen, von diesem Glauben sind die Wiener Ethnologen um Pater Wilhelm Schmidt beseelt. Als gläubige Katholiken werden sie das Leben als strenge Prüfung begreifen, an dessen Ende der Einzelne mit den drei Möglichkeiten, „Himmel, Hölle oder Fegefeuer“, zu rechnen hat. Aus ethnologischen Quellen werden sie jenes Heilwissen zu schöpfen suchen, welches die ihrer Ansicht 4
Michel de MONTAIGNE, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag 21998, S. 111.
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nach morsche, vergnügungssüchtige, vom Übel des Relativismus befallene Gesellschaft der Gegenwart so bitter nötig habe. In düster-prophetischen und anklagenden Worten werden die Wiener Ethnologen immer wieder ihre blindlings und frohgemut ins Verderben laufenden Zeitgenossen ermahnen, sich endlich zu besinnen, stehen zu bleiben und umzukehren. Umzukehren – wohin? Auf diese Frage geben die Wiener Ethnologen eine klare Antwort: Man müsse sich an den Ursprüngen des gesellschaftlichen Lebens orientieren. Der historische Anfang sei das Maß aller Dinge. Die klassische Formulierung dieser Vorstellung, das noch nicht durch die Geschichte verunreinigte und verderbte Wesen einer Sache offenbare sich am Anfang, findet sich bekanntlich im ersten Satz von Rousseaus großen Erziehungsroman Émile (1762): „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“5 Wenden wir uns nun diesen beiden antievolutionistischen und fortschrittskritischen Strömungen zu. Ich beginne mit der Cultural Anthropology von Franz Boas.
5
Jean-Jacques ROUSSEAU: Émile oder Über die Erziehung, Stuttgart: Reclam 1998, S. 107.
A. Zur Kritik der Cultural Anthropolog y am Kulturkonzept der Entw icklungstheoretiker
Prolog: Über eine Schlittenexpedition, das Verzehren roher Seehundsleber und die Lektüre von Kant im Land der „Eskimos“ im Jahre 1883 s ow i e ü b e r e i n e R a d i o a n s p r a c h e i m J a h r e 1 9 4 1 Auf einer Schlittenexpedition im Dezember des Jahres 1883 war ein fünfundzwanzigjähriger deutscher Wissenschaftler namens Franz Boas, der sich gemeinsam mit Wilhelm Weike, dem Hausdiener seiner Familie, auf einer einjährigen Forschungsreise bei den Inuit von Baffin-Land befand, vom Weg abgekommen. Geführt wurden die beiden Deutschen auf dieser Schlittenexpedition von einem Inuit namens Ssigna, „mein Eskimo“, „ein sehr netter Mensch, besser als viele, viele Weisse, die ich kenne“ und „zuverlässiger […] als gute weisse Diener“, wie ihn Franz Boas in seinem Brieftagebuch charakterisieren sollte.6 Bei rund 45° Kälte und dichtem Nebel irrten die drei Männer durch die Eiswüste. Nach einem 26stündigen Marsch – Weike hatte sich am großen Zehen des linken Fußes schwere, Boas an den Fingerspitzen und Nasenflügeln leichte und Ssigna an den Wangen und der Nasenspitze ebenfalls leichte Erfrierungen zugezogen – erreichten sie schließlich „halb verhungert“ die kleine Siedlung von Anarnitung.7 Wenige Tage später wurde in Anarnitung im Iglu von Ocheitu, der zwei Seehunde erlegt hatte, ein „grosses Fest“ veranstaltet, an dem auch Franz Boas teilnehmen sollte. Ocheitu verteilte seine Beute unter den Männern der Siedlung. „Ist es nicht ein schöner Gebrauch unter diesen ,Wilden‘“, schrieb Boas in seinem Brieftagebuch an seine in New York lebende Verlobte Marie Krackowizer, „dass sie gemeinsam Entbehrungen 6
7
Franz BOAS, Bei den Inuit in Baffinland 1883-1884. Tagebücher und Briefe. Bearbeitung, Einleitung und Kommentare von Ludger Müller-Wille, Berlin: Reinhold Schletzer Verlag 1994, S. 106 und 104. Vgl. ebenda S. 158-159.
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ertragen, aber alle in glücklichem Beisein beim Essen und Trinken sind, wenn einer Jagdbeute erlegt?“8 Oft habe er sich während seiner Expedition die Frage gestellt, welche Vorzüge unsere „gute Gesellschaft“ vor den „Wilden“ hat und finde, je mehr ich von ihren Gebräuchen sehe, dass wir wirklich keinen Anlass haben[,] verächtlich auf sie herabzusehen. Wo giebt es bei uns solche Gastlichkeit wie hier! Wo Leute, die so willig und ohne Murren jede aufgetragene Arbeit ausführen! Für ihre Formen, ihren Aberglauben, die uns lächerlich scheinen[,] dürfen wir sie selbst nicht tadeln, den [sic] wir Hochgebildete sind verhältnismässig viel schlimmer. Die Furcht vor der alten Ueberlieferung und die alten Formen ist [sic] dem Menschengeschlecht wohl tief eingepflanzt und, wie sie hier das Leben regelt, hält sie bei uns allen Fortschritt auf. Ich glaube, in jedem Menschen und jedem Volke kostet es die schwersten Kämpfe, der Ueberlieferung zu entsagen, um der Spur der Wahrheit zu folgen. Aber wohin reisse ich mich?9
Gemeinsam mit den Eskimos sitzt Boas im Iglu und verzehrt rohe Seehundsleber. Der „Blutflecken“ auf der anderen Seite des Briefes, so Boas nicht ohne Stolz an seine Verlobte, „zeigt Dir, wie ich ihnen [beim Festmahl] geholfen habe“.10 Unmittelbar im Anschluß an diese Passage reflektiert Boas über die Erfahrungen, die er während seines Aufenthaltes bei den Inuit im Baffin-Land gemacht hatte: [W]enn diese Reise für mich als denkenden Menschen einen wesentlichen Einfluss hat, dann ist es die Befestigung meiner Anschauung von der Relativität aller Bildung und der Ueberzeugung, wie der Werth des Menschen in der Herzensbildung liegt, die ich ebenso hier finde und vermisse, wie bei uns und dass daher aller Dienst, den ein Mensch der Menschheit erweisen kann[,] in der Förderung der Wahrheit beruhen muss, die mag süss oder bitter sein. Ja, wer sie fördert, der Suche nach dem Wahren weite Verbreitung giebt, der darf sagen, dass er nicht vergeblich gelebt hat.11
Nicht immer war Boas während seines Aufenthalts den Inuit so nahe wie bei jenem Festschmaus im Iglu von Ocheitu. Nicht alle Passagen seines Brieftagebuchs spiegeln jenen relativistischen Grundton wider, wie er in den zitierten Zeilen zum Ausdruck kommt. An den langen Abenden im Baffin-Land wird er sich in sein Iglu zurückziehen und Kant lesen, „damit ich doch nicht ganz ungebildet bin, wenn ich zurückkomme“.12 Verschämt wird er darüber nachdenken, „wie gut doch ein Pudding mit Pflaumen-
8 9 10 11 12
Ebenda, S. 161. Ebenda. Ebenda, S. 161. Ebenda. Ebenda, S. 156-157.
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sauce schmecken würde“.13 Es sei schwer, sich vorzustellen, schreibt er an Marie, „wie Entbehrung und Hunger auf den Menschen einwirken. Vielleicht ist Herr Kant ein gutes Gegenmittel“.14 Wenn er daran denke, wie ich jetzt vor einem Jahr in Berlin in Gesellschaft war, und all den feinen Regeln des „guten Tones[“] folgte, und heute Nacht in einer Schneehütte mit Wilhelm und einem Eskimo sitze und ein Stück rohes, gefrorenes Seehundfleisch, das vorher mit der Axt in Stücke geschlagen ist[,] esse und dazu fast gierig den heissen Kaffee trinke, sind das nicht Gegensätze, wie man sie sich kaum grösser denken kann?15
Als Boas im Baffin-Land weilte, erkrankten und starben mehrere Inuit an Diphtherie. Boas mußte erleben, wie eine Mutter in einem Schneehaus bei ihrem kranken Kind saß, „das kaum noch Zeichen des Lebens von sich gab und noch die zärtlichsten Schmeichelnamen ihres Kindes rief! und wie Joe, der ja nun auch todt ist[,] mir sagte, dass das Andenken an seinen Jungen, der vorigen Frühling starb, ihn so elend machte“.16 Nicht nur wird Boas hierbei hilflos zusehen müssen, wie eine in diesem Gebiet bis dahin unbekannte Krankheit die Inuit hinwegraffte, sondern er wird auch verdächtigt werden, für diese Epidemie, die zeitlich mit seinem Aufenthalt zusammenfällt, verantwortlich zu sein. Er wird auf Mißtrauen stoßen und befürchten, daß die Inuit die ihm für seine Forschungen notwendige Unterstützung entziehen könnten. „Ich habe“, schreibt Boas, sehr unter den Krankheiten[,] die hier herrschen, zu leiden, denn ich weiss, dass viele Eskimos nur mit Widerwillen mit mir zu thun haben, obwohl sie es mir gegenüber nicht zu aeussern wagen. Sie wollten mir jetzt alle keine Hunde leihen, als ich aber dann frug, wagten sie doch nicht, es abzuschlagen.17
Um die Inuit wieder zur Kollaboration zu bewegen, wird Boas einem einflußreichen Schamanen drohen, daß er „nie irgend etwas von mir bekommen und wenn ich ihn vor meinen Augen verhungern sähe, wenn er nicht erst zu mir käme[,] um mich zu bitten, in sein Iglu zu kommen“.18 Durch diese „Einladung“ in das Haus des Schamanen, der für eine geplante Reise auf Boas angewiesen war, erhoffte sich Boas, von den Inuit wieder akzeptiert zu werden. In den Betrachtungen von Boas über seine Reise wechseln Momente der Nähe und Ferne zum Fremden, Engagement und Distanz, Augenblicke begeisterter Teilnahme und stumme Einsamkeit einander ab. Seiner Fest13 14 15 16 17 18
Ebenda, S. 157. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 177. Ebenda, S. 189. Ebenda, S. 176.
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stellung, er sei „jetzt wirklich gerade wie ein Eskimo, […] lebe wie sie, jage mit ihnen und zähle […] [sich] zu den Männern von Anarnitung“, stehe der Wunsch entgegen, der „Einsamkeit“ endlich zu entkommen, sowie die Sehnsucht nach „vernünftiger Unterhaltung“, nach „Menschen, wirklichen Menschen“.19 Leider, so Boas an Marie, habe er zur Zeit kein Buch bei sich und von „einem Blatt der Kölnischen Zeitung habe ich schon Annoncen und Alles durchgelesen“.20 Und an seine Schwester schreibt er gegen Ende seiner Reise: Du fürchtetest einst, wenn ich zurückkäme, würde ich wieder verschlossen sein wie einst, das lange Alleinleben würde mich stille gemacht haben, aber glaube das nicht. Send einen Menschen so in die Einöde, wie ich darin lebte – denn ist Wilhelm Gesellschaft? und er wird das Bedürfnis sich mitzutheilen empfinden, das Bedürfnis Menschen um sich zu sehen, mit denen er leben kann, und wie sehne ich mich nach dem Arbeiten. Du hast keine Ahnung davon – und wie, fast schäme ich mich, es zu gestehen, nach Gemüse und Kartoffeln. Das Leben, was wir jetzt führen – schon seit 8 Tagen haben wir kein Brot mehr, wirkt vollkommen […] demoralisierend auf den Menschen. […] Denke ich jetzt an das Leben zu Hause, so kommt es mir mit seiner Behaglichkeit und Bequemlichkeit fast undenkbar vor. Weisst Du, aber eines thut mir in der Seele weh. Meine rauhen, schwieligen Finger werden wohl nie wieder das Clavier spielen können und Musik bedarf ich doch einmal – sie ist mir wohl doch nicht ganz angelernt. Hier entbehre ich sie schwer. Dürfte ich einmal eine A-Dur Sonate oder Schumanns Fantasia hören oder die Eroica!21
Wechseln wir nun den Schauplatz. Am 27. September 1941, knapp sechs Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt im Baffin-Land und nur wenige Wochen vor dem Angriff auf Pearl Harbor, sendete das Radio eine Rede des mittlerweile dreiundachtzigjährigen Franz Boas, der in einer glänzenden akademischen Karriere zu einem der international renommiertesten Vertreter der Anthropologie avanciert war. Wer von uns, fragt Boas sich an seine wissenschaftlichen Kollegen wendend, kenne denn nicht das Gefühl, daß die Beschäftigung mit theoretischen Problemen irrelevant erscheine in einer Zeit, „when the whole world is aflame, when millions are dying by the sword, by bombs, by starvation?“22 Wer kenne nicht das Gefühl jenes unwiderstehlichen Drangs, einen Beitrag zu leisten und für die Freiheit zu kämpfen? Sollen wir unsere wissenschaftliche Arbeit niederlegen?
19 20 21 22
Ebenda, S. 186, 188 und 215. Ebenda, S. 188. Ebenda, S. 243. Franz BOAS, Introduction [International Broadcast Over National Broadcasting Company Networks, September 27, 1941, During International Conference on Science and the World Order of the British Association for the Advancement of Science], in: ders., Race and Democratic Society, New York: J. J. Augustin Publisher 1946 [1945], S. 1-2, hier S. 1.
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It seems to me that there is only one possible answer to this question. We cannot give up our work as scientists without irreparable damage to our culture, no matter how remote our subject may be from the urgent, practical needs of our time. The ice-cold flame of passion for seeking the truth for truth’s sake must be kept burning, and can be kept alive only if we continue to seek the truth for truth’s sake.23
Aber in so schwierigen Zeiten wie diesen käme noch eine Verpflichtung für den Wissenschaftler hinzu. „Die Suche nach der Wahrheit“ dürfe nicht länger das Privileg des Gelehrten und Forschers sein. Wir Wissenschaftler, so Boas, müssen danach trachten, that the hard task of subordinating the love of tradtional lore to clear thinking be shared with us by larger and larger masses of our people. We must do our share in trying to spread the art, and to engender the habit of clear thinking. It is not the spread of a superficial knowledge of the results of science that will accomplish this end. We must do our share in the task of weaning the people from a complacent yielding to prejudice, and help them to the power of clear thought, so that they may be able to understand the problems that confront all of us. Hasty discarding of the past and stubborn insistence upon old patterns are born of emotion, not of thought. It must be our task to see to it that those who control education are permeated by the conviction that it is one of their prime duties, to set free the minds of the youth of our generation, so that the young may learn to recognize bias and prejudice, that they may become respectors of truth for the sake of truth. A people, so educated, will be free in the fullest sense of the term. It will more nearly approach the ideal of democracy than has been attained by any of us.24
Einleitende Bemerkungen: Franz Boas und die C u l t u r a l An t h r o p o l o g y i n d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n Der aus einer deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Franz Boas (1858-1942), der in den 1880er Jahren seine Heimat verließ, gilt gemeinsam mit Lewis H. Morgan, Edward B. Tylor, James Frazer, Bronislaw Malinowski und Alfred R. Radcliffe-Brown als einer der „Klassiker“ der englischsprachigen Ethnologie. In den beiden im Prolog erwähnten Episoden verdichten sich meines Erachtens einige der großen Themen, die das gesamte Leben und Werk von Boas durchziehen. Es sind dies Themen, die durchaus in einem spannungsgeladenen Verhältnis zueinander stehen: einerseits sein kulturrelativistisches Grundbekenntnis, andererseits sein universalistischer Glaube an eine fundamentale Einheit des Menschengeschlechts und seine Auffassung, der Wert jedes Individuums liege in der 23 Ebenda, S. 1. 24 Ebenda, S. 2.
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„Herzensbildung“; einerseits seine Betonung der großen Macht der Tradition, die nicht nur den „Wilden“, sondern auch den „Zivilisierten“ in ihren Bann schlage und den „Fortschritt“ verzögere; andererseits seine sich aus einer zutiefst wissenschaftsgläubigen Grundhaltung speisende Überzeugung, diese Ketten der Tradition und „Vorurteile“ könnten und sollten mit Hilfe rationaler Methoden durchbrochen werden; einerseits seine Nähe zum Fremden, andererseits seine tiefe Verbundenheit mit den Werten der eigenen Kultur. Als langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für Anthropologie (18991937) an der renommierten Columbia University in New York, Herausgeber diverser Fachzeitschriften, wissenschaftlicher Leiter der berühmten Jesup North Pacific Expedition, Mitbegründer der American Anthropological Association (1902), Mitglied zahlreicher Fachgesellschaften sowie als Lehrer und Förderer von Alfred Kroeber, Robert Lowie, Ruth Benedict, Ruth Bunzel, Paul Radin, Edward Sapir, M. F. Ashley Montagu, Alexander Goldenweiser, Clark Wissler, Leslie Spier, J. Alden Mason, FayCooper Cole, Margaret Mead, Bernhard Laufer, Murray Emeneau, Gladys Richard, Alexander Lesser und Melville Herskovits sollte Boas, von seinen späteren Schülerinnen auch „Papa Franz“ genannt, die erste und zweite Generation akademisch ausgebildeter Kulturanthropologen prägen und die Entwicklung dieses Faches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen können.25 Nur am Rande sei bemerkt, daß die25 Im folgenden sei nur auf einige wichtige Werke von Boas, seinen Schülern und Schülerinnen hingewiesen: Franz BOAS, Kultur und Rasse, Leipzig: Verlag Veit & Comp. 1914; ders., The Mind of Primitive Man. Revised Edition. With a new foreword by Melville J. Herskovits, New York: The Free Press 1965 [1911]; ders. (Hg.), General Anthropology, Boston; Mass. et al.: D. C. Heath and Company 1938; ders., Race, Language, and Culture, Chicago-London: The University of Chicago Press 1982 [1940]; ders., Anthropology and Modern Life. With an introduction by Ruth Bunzel, New York: Dover Publications, Inc. 1986 [1928]; ders., Primitive Art, New York: Dover Publications, Inc. o. J. [1927]; ders., Race and Democratic Society, New York: J. J. Augustin Publisher 1946 [1945]; ders., A Franz Boas Reader: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. Edited by George W. Stocking, Jr., Chicago-London: The University of Chicago Press (Midway Reprint) 1989 [1974]; Robert H. LOWIE, Primitive Society, London: Routledge & Kegan Paul 51960 [1921]; ders., An Introduction to Cultural Anthropology, New York: Rinehart & Company 71947 [1940]; ders., Ethnologist, A Personal Record, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 1959; ders., Lowie’s Selected Papers in Anthropology. Edited by Cora Du Bois, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 1960; Ruth BENEDICT, The Patterns of Culture, Boston: Houghton Mifflin Company 1989 [1934]; Alfred L. KROEBER, An Anthropologist Looks at History, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 1963; ders., The Nature of Culture, Chicago-London: The University of Chicago Press 1952; Alexander GOLDENWEISER, Anthropology: An Introduction to Primitive Culture, New York: F. S. Crofts & Co. 51946 [1937]; Edward SAPIR, Die Sprache: Eine Einführung in das Wesen der Sprache, München: Hueber 1961 [1921]; ders., The Psychology of Culture. A Course of Lectures. Reconstructed and
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ser in der einschlägigen wissenschaftsgeschichtlichen Literatur immer wieder konstatierte herausragende Stellenwert von Boas, der auch die erste Ph.D. Thesis für Anthropologie in den Vereinigten Staaten betreute, unmittelbar damit zusammenhängt, daß die Zeit seines Wirkens mit der Institutionalisierung seines Faches an den Universitäten zusammenfällt. Um die Bedeutung von Franz Boas in der amerikanischen Anthropologie zu veranschaulichen, sollen im folgenden einige Einschätzungen von seinen Schülern und Schülerinnen, von Kritikern und „neutralen“ Beobachtern wiedergegeben werden. Beginnen wir mit den mitunter leicht hagiographisch anmutenden Kommentaren seiner Schüler und Schülerinnen.26 Nach Margaret Mead war Boas schlicht der Mann, „who made anthropology into a science“.27 Mit dem Tod von Franz Boas, schrieb Alfred Kroeber, „the world lost its greatest anthropologist, and America one of its most colorful intellectual figures“.28 Ruth Benedict erklärte: Boas „found anthropology a collection of wild guesses and a happy hunting ground for the romantic lover of primitive things; he left it a discipline in which theories could be tested and in which he had delimited possibilities from impossibilities“.29 In seinem Artikel über Franz Boas in der International Encyclopedia of the Social Sciences nannte Alexander Lesser den deutschamerikanischen Wissenschaftler „the most influential anthropologist of his time, a major force in the academic and professional development of the science, considered by many the architect of its modern structure“. Sein
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edited by Judith T. Irvine, Berlin-New York: Mouton de Gruyter 1994; Margaret MEAD, Coming of Age in Samoa. A Psychological Study of Primitive Youth for Western Civilisation. Foreword by Franz Boas, New York: Morrow Quill Paperbacks 1973 [1928]; dies., Continuities in Cultural Evolution, New Haven-London: Yale University Press 1966 [1964]; dies., Mann und Weib, Das Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt, Frankfurt a. M.-Berlin: Ullstein 1992 [1949]; Paul RADIN, Primitive Man As Philosopher, New York: Dover Publications, Inc. 1957 [1927]; ders. (Hg.), Crashing Thunder: The Autobiography of an American Indian. With a foreword and appendix by Arnold Krupat, New York: Appleton and Company 1983 [1926]; Melville J. HERSKOVITS, Man and His Works. The Science of Cultural Anthropology. New York: Alfred A. Knopf 1949; M. F. ASHLEY-MONTAGU, Man’s Most Dangerous Myth: The Fallacy of Race. Forword by Aldous Huxley, New York: Harper & Brothers Publishers 3 1952. Vgl. hierzu insbesondere Marvin HARRIS, The Rise of Anthropology. A History of Theories of Cultures, London: Routledge and Kegan Paul 21972, S. 252-253. Margaret MEAD, Apprenticeship under Boas, in: Walter GOLDSCHMIDT (Hg.), The Anthropology of Franz Boas. Essays on the Centennial of His Birth, American Anthropological Association, Memoir Nr. 89, Bd. 61, Nr. 5, Teil 2, San Francisco, Cal.: Howard Chandler 1959, S. 29-45, hier S. 35. Alfred L. KROEBER, Franz Boas: The Man, in: ders. (Hg.), Franz Boas, 1858-1942, American Anthropological Association, Memoir Nr. 61, Bd. 45, Nr. 3, Teil 2, San Francisco, Cal.: Howard Chandler 1943, S. 5-26, hier S. 5. Benedict zit. nach Robert H. LOWIE, Franz Boas, His Predecessors and His Contemporaries, in: Science 97 (February 26, 1943), S. 202-203, hier S. 202.
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Beitrag zum modernen Kulturkonzept war „fundamentally influential with respect to all modern thinking in behavioral sciences“.30 Um die Bedeutung von Franz Boas für die amerikanische Anthropologie zu skizzieren, sollte Alexander Goldenweiser gar auf den Vergleich mit übernatürlichen Wesen in der indianischen Mythologie zurückgreifen: Indian mythologies tell of culture-heroes, supernatural animals or birds who bestow culture upon man, teach him arts and crafts, introduce songs and ceremonies. To anthropology in this country Franz Boas, the „Man“, came as such a culture-hero. Brought up in the atmosphere and methods of natural sciences and steeped in the scholarly ideals of pre-war Germany, he bestowed upon American anthropology that clarification of issues and stiffening of scientific fiber which it stood so sorely in need of.31
Unschwer ließe sich diese wissenschaftsgeschichtliche Hagiographie erweitern. Im Jahr 1939, drei Jahre vor dem Tod Boas, stellte Clyde Kluckhohn nüchtern fest: Until very recently all but a few of the leading anthropologists in the United States had been trained by Boas or at any rate come under his personal influence. […] At least until quite lately one could, with little violence to the facts, speak of a single dominant tradition in American Anthropology, the tradition of Boas.32
Hören wir nun einige Boas kritisch gesinnte Geister. Der Kulturmaterialist Marvin Harris, der sich in seinem ideengeschichtlichen Werk intensiv mit der Lehre von Franz Boas und seinen Schülern auseinandergesetzt hat, kommt zu dem Ergebnis: From the very earliest period, the Boasian program suffered the embarrassment of a virtue which was at the same time its chief vice. It was inductive to the point of self-destruction. The proposal to substitute concrete historical data for speculative deductions about history needs no defense. On the other hand, to deprove science of speculation altogether is to deprive science of its very life blood.33
George P. Murdock, der durch seine kulturvergleichenden Analysen maßgeblich zur „Wiederbelebung“ nomothetischer Ansätze in der Anthropolo-
30 Alexander LESSER, Boas, Franz, in: David L. SILLS (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 5/6, New York et al.: Macmillan 1972 [1967], S. 99-110, hier S. 99. 31 Alexander Goldenweiser zit. nach Marvin HARRIS, The Rise of Anthropology. A History of Theories of Cultures, London: Routledge and Kegan Paul 2 1972, S. 253. 32 Clyde KLUCKHOHN, The Place of Theory in Anthropological Studies, in: The Philosophy of Science 6 (1939), S. 328-344, hier S. 336. 33 Marvin HARRIS, The Rise of Anthropology, S. 286.
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gie beigetragen hat, meinte, Boas wurde von seinen Anhängern „extravagantly overrated“.34 Boas, so Murdock, was the most unsystematic of theorists, his numerous kernels of genuine insight being scattered amongst much pedantic chaff. He was not even a good fieldworker. […] Despite Boas’ „five-foot-shelf“ of monographs on the Kwakiutl, this tribe falls into the quartile of those whose social structure and related practices are least adequately described among the 250 covered in the present study.35
Und im Jahre 1963, rund zwei Jahrzehnte nach dem Tod von Boas, sollte der berühmte Neo-Evolutionist Leslie A. White ein vernichtendes Urteil fällen: What, then, might reasonably be said in concluding our tour of much of Boas’ ethnography and ethnology? 1. He collected, and caused to be collected and recorded, a vast mass of factual material. But, 2. he not only did not produce a coherent and intelligible picture of Kwakiutl culture as a whole; it is not possible for others, to do this on the basis of Boas’ data […]. And, according to Ray […], Boas and some of his students have presented a distorted picture, not only of the Kwakiutl, but of the entire Northwest Coast. 3. His historical reconstructions are worthless, for the most part, and fantastic in some respects. He made a convincing case for the diffusion of myths, but in this respect he was not original, or outstanding among diffusionists. And if all of his detailed historical reconstructions could have been proved correct they would have added up only to the conclusions that contiguous sociocultural systems interact and affect one another, which is hardly a great scientific discovery. 4. His unwillingness to generalize tended to oppose the development of a science of culture. 5. His antievolutionism did cultural anthropology great harm from which it is only recently recovering.36
Aufgrund des überragenden Einflusses, den Boas auf die Entwicklung der nordamerikanischen Anthropologie ausübte – ein Einfluß, der, obgleich negativ bewertet, selbst von seinen vehementesten Kritikern anerkannt wird, und auch aufgrund der Tatsache, daß sich der deutschamerikanische Intellektuelle immer wieder in gesellschaftspolitischen Fragen zu Wort meldete und gleichsam eine Person des öffentlichen Lebens wurde, verwundert es wohl kaum, daß zu Boas und seiner Schule eine wahre „Flut“ an Sekundärliteratur existiert.37 Diese „exegetische Industrie“ kann ein 34 Vgl. ebenda, S. 605-633. 35 George P. MURDOCK, Social Structure, New York: The Free Press 31967, S. XIV. 36 Leslie A. WHITE, The Ethnography and Ethnology of Franz Boas (= Bulletin 6 of the Texas Memorial Museum), Austin: The Museum of the University of Texas 1963, S. 64-65. 37 Aus der Fülle der seit seinem Tod erschienenen Literatur sei hier nur auf einige Schriften verwiesen. Alfred L. KROEBER (Hg.), Franz Boas, 1858-
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reiches Material verarbeiten, umfaßt doch allein die Bibliographie von Boas rund 700, jene von Margaret Mead fast doppelt so viele Einträge. Diese einführenden Hinweise mögen als „Rechtfertigung“ dafür dienen, daß ich in den folgenden, sich in vier Abschnitte gliedernden Ausführungen nur einige ideengeschichtliche und wissenssoziologische Überlegungen zur nordamerikanischen Kulturanthropologie anstellen werde können. Im ersten Abschnitt möchte ich auf die meines Erachtens grundlegende Spannung zwischen dem relativistischen und dem universalistischen Strang innerhalb der nordamerikanischen Kulturanthropologie hinweisen. In einem zweiten Abschnitt werde ich auf drei idealtypisch zu unterscheidende ideengeschichtliche Wurzeln der immer wieder konstatierten No1942, American Anthropological Association, Memoir Nr. 61, Bd. 45, Nr. 3, Teil 2, San Francisco 1943; Melville J. HERSKOVITS, Franz Boas. The Science of Man in the Making, New York-London: Charles Scribner’s Sons 1953; Murray WAX, The Limitations of Boas’ Anthropology, in: American Anthropologist 58 (1956), S. 63-74; Walter GOLDSCHMIDT (Hg.), The Anthropology of Franz Boas. Essays on the Centennial of His Birth, American Anthropological Association, Memoir Nr. 89, Bd. 61, Nr. 5, Teil 2, San Francisco 1959; Wolfgang RUDOLPH, Die amerikanische „Cultural Anthropology“ und das Wertproblem (= Forschungen zur Ethnologie und Sozialpsychologie 3), Berlin: Duncker & Humblot 1959; ders., Der Kulturelle Relativismus: Kritische Analyse einer Grundsatzfragen-Diskussion in der amerikanischen Ethnologie (= Forschungen zur Ethnologie und Sozialpsychologie 6), Berlin: Duncker & Humblot 1968; Robert H. LOWIE, Franz Boas, 1858-1942 (1947), in: Lowie’s Selected Papers in Anthropology, hg. von Cora DU BOIS, Berkeley-Los Angeles 1960, S. 425-440; Abram KARDINER, Edward PREBLE, They Studied Man, London: Secker & Warburg 1962; Leslie A. WHITE, The Ethnography and Ethnology of Franz Boas (= Bulletin 6 of the Texas Memorial Museum), Austin: The Museum of the University of Texas 1963; Marvin HARRIS, The Rise of Anthropology. A History of Theories of Cultures, London 21972; Marshall HYATT, Franz Boas, Social Activist. The Dynamics of Ethnicity (= Contributions to the Study of Anthropology 6), New York et al.: Greenwood Press 1990; Michael DÜRR, Erich KASTEN, Egon RENNER (Hg.), Franz Boas: Ethnologe, Anthropologe, Sprachwissenschaftler. Ein Wegbereiter der modernen Wissenschaft vom Menschen (Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, 17. Dezember 1992 – 6. März 1993), Wiesbaden: Reichert 1992; George W. STOCKING, Race, Culture, and Evolution. Essays in the History of Anthropology, Chicago-London: The University of Chicago Press 1982 [1968]; ders., Introduction: The Basic Assumptions of Boasian Anthropology, in: Franz BOAS, A Franz Boas Reader: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. Edited by George W. Stocking, Jr. ChicagoLondon: The University of Chicago Press (Midway Reprint) 1989 [1974], S. 1-20; ders. (Hg.), Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition (History of Anthropology 8), Madison, Wisc.: The University of Wisconsin Press 1996; Volker RODEKAMP (Hg.), Franz Boas, 1858-1942: Ein amerikanischer Anthropologe aus Minden (= Texte und Materialien aus dem Mindener Museum, Heft 11), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1994; Douglas COLE: Franz Boas: The Early Years, 1859 [sic]-1906, Seattle, Washington: University of Washington Press 1999.
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mophobie von Boas aufmerksam machen. In diesem Zusammenhang werde ich argumentieren, daß sich diese Nomophobie auf jenes naturwissenschaftliche, nach Gesetzen suchende Forschungsethos zurückführen läßt, das ich im ersten Kapitel dieser Arbeit zu skizzieren versucht habe. Im dritten Abschnitt werden einige wissenssoziologische Überlegungen zur Cultural Anthropology angestellt. Im Mittelpunkt steht hierbei die Biographie von Franz Boas. In einem vierten Abschnitt möchte ich zeigen, welchen „Nutzen“ für das Eigene die nordamerikanischen Kulturanthropologen aus ihren Erkenntnissen über das Fremde zu ziehen erhofften. In einem abschließenden, sich in erster Linie auf Archivmaterialien stützenden Exkurs – und ich betone, es handelt sich um einen Exkurs – soll eine, meines Wissens bislang weitgehend unbekannte Episode aus dem Leben von Franz Boas zur Sprache kommen, nämlich seine Beziehung zur KarlFranzens-Universität Graz. Dieses biographische Mosaiksteinchen ist jedoch nicht nur aus lokalhistorischer Sicht interessant, sondern veranschaulicht auch einige der im wissenssoziologischen Abschnitt angestellten Überlegungen.
1 . D i e C u l t u r a l An t h r o p o l o g y i m S p a n n u n g s f e l d z w i s c h e n U n i ve r s a l i s m u s u n d R e l a t i v i s m u s 38 Neben der strikten Zurückweisung biologistischer Erklärungsversuche des sozialen Lebens, der Betonung der mühevollen Kleinarbeit der Feldforschungen als conditio sine qua non der Ethnologie und der „nomophoben“ Grundhaltung gilt die scharfe Kritik an der Fortschrittsidee und am Kulturevolutionismus als zentrales Merkmal der amerikanischen Kulturanthropologie. In seinem Werk Primitive Art (1927) hob Boas zwei grundlegende Prinzipien hervor, die jede ethnologische Untersuchung leiten sollten. Das erste gegen den radikalen Relativismus gewandte Prinzip betonte „the fundamental sameness of all mental processes in all races and in all cultural forms“, das zweite die Geschichtlichkeit aller kulturellen Erscheinungen.39 Steht das zweite Prinzip gleichsam für den relativistischen Strang, so steht das erste für den universalistischen. In den folgenden Ausführungen werde ich versuchen, diese beiden unterschiedlichen Stränge
38 Dieser sowie der nächste Abschnitt beruhen teilweise auf meinem bislang unpublizierten Manuskript: Bernd WEILER, Auf der Suche nach Universalien: Einige Überlegungen zur Kritik am Kulturrelativismus, 33 Seiten und 3 Seiten Literaturverzeichnis, Typoskript 1998. Aus diesem Manuskript hat Herr Karl Acham „wörtliche Anleihen“ genommen, ohne diese entsprechend auszuweisen. Vgl. hierzu die Stellungnahme von Karl ACHAM, Vorbemerkung zu Teil B: Von der eigenen Kultur und fremden Kulturen, in: ders. (Hg.), Geschichte und fremde Kulturen (= Geschichte der Humanwissenschaften 4), Wien: Passagen-Verlag 2002, S. 309-320, hier S. 313 [Anm. 5]. 39 Franz BOAS, Primitive Art, S. 3.
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der nordamerikanischen Kulturanthropologie zu erörtern. Anhand der Kritik am Kulturevolutionismus werde ich mich zunächst dem relativistischen, die Vielfalt der Kulturen betonenden Strang zuwenden. Sodann möchte ich zeigen, auf welche Universalien Boas und seine Schüler rekurrierten, um dem Dilemma eines axiologischen Relativismus zu entgehen. Die Entwicklungstheorie, so Franz Boas im Jahre 1924, habe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „beinahe uneingeschränkt“ dominiert und „Forscher wie Spencer, Morgan, Tylor und Lubbock, um nur einige Namen zu erwähnen, standen unter dem Zauber der Idee einer allgemeinen, gleichmäßigen Kulturentwicklung“.40 Der Gedanke einer „gleichmäßigen Kulturentwicklung“ beruhe auf der Annahme, daß unsere moderne westeuropäische Zivilisation die höchste Kulturentwicklung darstellt, welcher alle anderen primitiveren Kulturtypen zustreben, und daß wir daher rückblickend eine orthogenetische, das heißt in der Anlage vorausbestimmte Entwicklung unserer eigenen modernen Zivilisation konstruieren. Es ist klar, daß die Hypothese einer einzigen allgemeinen Entwicklungslinie nicht aufrechterhalten werden kann, wenn wir zugeben, daß es verschiedene nebeneinanderbestehende, letzte Kulturtypen gibt.41
Und daß es unterschiedliche „letzte Kulturtypen“ gibt, stand für Boas außer Zweifel. Der Tahitier sei nicht der kulturelle Nachfahre des Australiers und auch nicht der Vorfahre des Azteken. Das Fremde sei keine unterentwickelte, unreife Form des Eigenen, der „Wilde“ kein unfertiges Wesen, keine Vorstufe des „Zivilisierten“, sondern ein „Vollmensch“, um einen bewußt anti-evolutionistisch gewählten Begriff jener Zeit zu bemühen.42 Der „Wilde“ hinke dem „Zivilisierten“ nicht hinterher, sondern beschreite seinen eigenen Weg. Die „Naturvölker“ stünden nicht am „Anfang“ der Geschichte, sondern hätten andere Geschichten als der „Zivilisierte“. Nicht die Kultur und deren Entwicklung, sondern die Kulturen und deren Geschichten seien Gegenstand der Anthropologie. Soziale Verbände ließen sich nicht als abgeschlossene Gebilde konzipieren. Sie seien nicht mit Pflanzen vergleichbar, die sich gemäß eines inneren Bauplanes mit naturgesetzlicher Notwendigkeit entwickelten. Ständige, auch die Geschichte der „Naturvölker“ prägende Migrations-, Austausch- und Entlehnungsprozesse, deren Ausgang stets ungewiß sei, durchkreuzten den von den Entwicklungstheoretikern erstellten inneren, sich mit vermeintlich eherner Notwendigkeit vollziehenden Bauplan. In 40 Franz BOAS, Moderne Ethnologie, in: Deutsche Literaturzeitung 45 (1924), S. 1719-1730, hier S. 1719. 41 Ebenda, S. 1720. 42 Der Ausdruck „Vollmensch“ findet sich, wie später noch ausgeführt werden wird, in den Schriften der Vertreter der Wiener Schule der Ethnologie. Vgl. z. B. Wilhelm KOPPERS, Der historische Grundcharakter der Völkerkunde, in: Sonderabdruck aus Studium Generale 7/3 (1954), S. 135-143, hier S. 136.
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der Geschichte gebe es keine „reinen“ Kulturen. Jede „kulturelle Gruppe“, so Boas, habe „ihre eigentümliche Geschichte“, die teils von ihrer besonderen inneren Entwicklung, teils von den fremden Einflüssen abhängig ist, denen sie unterworfen ist. Differenzierung ursprünglich homogener Gesellschaften kommt ebensowohl vor, wie allmähliche Angleichung benachbarter Kulturzentren. Auf der Grundlage eines einheitlichen Entwicklungstyps wird es immer unmöglich bleiben, die kulturelle Eigenart irgendeines benachbarten Volkes zu verstehen.43
Boas wird also das Prinzip einer „inneren Entwicklung“ der Kultur nicht grundsätzlich verneinen. Er wird jedoch betonen, daß diese innere Entwicklung erst im Zusammenspiel mit den Einflüssen von Außen die Geschichte einer Kultur bestimme, und er wird ferner darauf hinweisen, daß es von einem methodischen Standpunkt aus „viel leichter“ sei, Entlehnungen, Übertragungen und Mischungen nachzuweisen.44 Die „Eigenart“ einer Gruppe ist keine autochthone Schöpfung, sondern eine Folge ihres Kontakts mit einer fremden Gruppe. Mit dieser Geschichtsauffassung wird Franz Boas auch immer wieder ganz bestimmte moralische Lehren verknüpfen. Jeder, der sich mit der Geschichte der Alten Welt befasse, wisse, daß seit „vorhistorischen“ Zeiten Kulturen miteinander in Austausch gestanden hätten und somit gleichsam in wechselseitiger Schuld stünden.45 „Ideas and Inventions“, schreibt er in seinem wohl bekanntesten Buch The Mind of Primitive Man (1938), were carried from one to the other; and although intercommunication was slow, each people which participated in the ancient development contributed its share to the general progress. Proofs without number have been forthcoming which show that ideas have been disseminated as long as people have come into contact with one another. Neither race nor language limit their diffusion. Hostility and timid exclusiveness against neighbors are unable to hinder their flow from tribe to tribe and they filter through distances that are measured by thousands of miles. Since many races have worked together in the development of the ancient civilizations, we must bow to the genius of all, whatever group of mankind they may represent, North African, West Asiatic, European, East Indian or East Asiatic.46
Gerade aufgrund der relativen Offenheit von Kulturen, Fremdes aufzunehmen, seien auch jene Erklärungsansätze zum Scheitern verurteilt, wel-
43 Franz BOAS, Moderne Ethnologie, S. 1725. 44 Ebenda, S. 1724. 45 In diesem diffusionistischen Geschichtsbild wurzelt auch das Interesse von Franz Boas hinsichtlich der Kontakte zwischen Sibirien und der pazifischen Nordwestküste der Neuen Welt, denen er im Rahmen der Jesup North Pacific Expedition nachgehen sollte. 46 Franz BOAS, The Mind of Primitive Man, S. 22-23.
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che die Errungenschaften und Leistungen einer Kultur aus den angeborenen Fähigkeiten ihrer Träger abzuleiten suchten. Dieses diffusionistische Geschichtsbild, das dem sogenannten „Flekkerlteppich-Kulturkonzept“ zugrunde liegt, hängt unmittelbar mit einer weiteren Leitidee von Franz Boas zusammen.47 Aufgrund des Zusammenwirkens endogener und exogener Faktoren sei es möglich, daß zwei soziale Verbände über materielle oder ideelle Kulturgüter verfügten, die zwar in ihrem äußeren Erscheinungsbild gleich, aber auf andere Weise entstanden sind. Zwar sei es richtig, so Boas, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkun-
47 Steht das skizzierte diffusionistische Geschichts- und Kulturkonzept im Mittelpunkt der frühen nordamerikanischen Kulturanthropologie, so sollten spätere Vertreter und Vertreterinnen zu zeigen versuchen, wie die Kultur eines „Stammes“ trotz ihres heterogenen Ursprungs eine gleichsam „organische Einheit“ bildete. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf Ruth Benedicts „Bestseller“ Patterns of Culture (1934) verwiesen, in dem sie ihre These, eine Kultur sei eine „personality writ large“, formulierte und zu belegen suchte. In der Einleitung zu dieser Studie skizzierte Boas den Übergang vom Kulturevolutionismus über den Diffusionismus zu den Ansätzen der sogenannten Culture-and-Personality-School, die wiederum an die ältere völkerpsychologische Tradition anschloß, wie folgt: „During the present century many new approaches to the problems of social anthropology have developed. The old method of constructing a history of human culture based on bits of evidence, torn out of their natural contacts, and collected from all times and all parts of the world, has lost much of its hold. It was followed by a period of painstaking attempts at reconstruction of historical connections based on studies of distribution of special features and supplemented by archæological evidence. […] Under the influence of the intensive analysis of cultures the indispensable collection of facts relating to cultural forms has received a strong stimulus. The material so collected gave us information on social life, as though it consisted of strictly separated categories, such as economic life, technology, art, social organization, religion, and the unifying bond was difficult to find. The position of the anthropologist seemed like that satirized by Goethe: Wer will was Lebendig’s erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in der Hand, Fehlt leider nur das geistige Band. The occupation with living cultures has created a stronger interest in the totality of each culture. It is felt more and more that hardly any trait of culture can be understood when taken out of its general setting.“ Franz BOAS, Introduction, in: Ruth BENEDICT, Patterns of Culture, S. XIX-XXI, hier S. XIX-XX. Nur am Rande sei hier angemerkt, daß von Ruth Benedict, die sich auch mit den patterns moderner Kulturen – man denke an ihre Studie über Japan – befaßte, eine ideengeschichtliche Linie zu den sogenannten national character studies führt. Geoffrey Gorer meinte gar, das Erscheinungsjahr von Ruth Benedicts Patterns of Culture (1934) markiere „the birth year of the scientific study of national character“. Siehe Geoffrey GORER, The Concept of National Character, in: Clyde KLUCKHOHN, Henry A. MURRAY (Hg.), with the collaboration of David M. Schneider, Personality in Nature, Society, and Culture, New York: Alfred A. Knopf 21955, S. 246259, hier S. 247.
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gen hervorrufen, gleiche Wirkungen könnten jedoch in der Kulturgeschichte oftmals auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden: „[U]nlike causes produce like effects.“48 Wenn nun äußerlich „Gleiches“ auf unterschiedliche Weise entstehen könne, sei es auch nicht möglich, eine allgemeingültige, auf den äußeren Erscheinungsformen beruhende Chronologie zu geben. Gerade deshalb sei „das ganze Problem der Kulturgeschichte […] in erster Linie ein historisches Problem. Um die Geschichte zu verstehen, ist es notwendig nicht nur zu wissen, wie die Dinge sind, sondern auch wie sie geworden sind.“49 Für die meisten schriftlosen Kulturen jedoch, also den Gegenstandsbereich der Ethnologie, ließe sich das „Beweismaterial für Veränderungen nur durch indirekte Methoden“ erschließen.50 Deshalb spiele auch in der Ethnologie – wie Boas im Anschluß insbesondere an die Überlegungen von Ratzel meint – „das geographische Element, nämlich die räumliche Verteilung der Erscheinungen, eine wichtige Rolle“.51 Im Unterschied zu den großen von Graebner, Ankermann und Schmidt postulierten Kulturkreisen meinte Boas, daß sich das Studium der Verteilungshäufigkeit bzw. der Wanderungsbewegungen von Kulturgütern auf ein „well-defined, small geographical territory“ zu beschränken habe.52 Erst wenn innerhalb eines eng umgrenzten „Kulturareals“ – etwa der pazifischen Nordwestküste – die Verbreitung bestimmter Kulturgüter ermittelt worden sei, könne man das räumliche Gebiet sukzessive erweitern. Als methodisches Leitprinzip gelte hierbei die räumliche Kontinuität des Kulturgutes. Die Annahme, so Boas, „of lost connecting links must be used sparingly“.53 Im Unterschied zu „radikalen“ Diffusionisten wird Boas auch betonen, daß man im Falle des Auftretens von ähnlichen Kulturgütern in räumlich weit auseinander liegenden Gebieten eher von einer unabhängigen Entstehung derselben als von einem gemeinsamen Ursprung auszugehen habe.54 Für zahlreiche Bereiche der Kulturgeschichte, also für die Entwicklung der Religion, der Familie und des Verwandtschaftssystems, für die Kunst, die politischen Ordnungen, suchten nun die Vertreter der nordamerikanischen Boas-Schule in den von ihnen erforschten Kulturarealen zu zeigen, daß die von den Kulturevolutionisten postulierten Stufenschemata keine universelle Gültigkeit besitzen. Exemplarisch sei in diesem Zusammen48 Franz BOAS, The Principles of Classification (1887), in: ders., A Franz Boas Reader: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911, S. 61-66, hier S. 61. 49 Franz BOAS, Moderne Ethnologie, S. 1723. 50 Ebenda. 51 Ebenda. 52 Franz BOAS, The Limitations of the Comparative Method of Anthropology (1896), in: ders., Race, Language, and Culture, S. 270-280, hier S. 277. Zu der Kulturkreislehre in Deutschland und Österreich vgl. die späteren Ausführungen zur Wiener Schule. 53 Ebenda. 54 Ebenda.
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hang auf Boas’ Studie über Primitive Art (1927) verwiesen, in der er argumentierte, daß im Bereich der Kunst die tatsächlichen Entwicklungen nicht, wie von prominenten Kulturevolutionisten behauptet, stets von der darstellenden zur geometrischen Form führen, sondern daß auch die umgekehrte Reihenfolge möglich sei; nämlich, daß sich aus einem geometrischen Muster durch Hinzufügen neuer Merkmale ein darstellendes entwickle. Neben der Betonung von Austauschprozessen, welche die innere Entwicklung einer Kultur durchkreuzten, verwiesen die nordamerikanischen Kulturanthropologen zudem auf ökologische Begebenheiten, die das Erstellen universeller Stufenschemata unmöglich machten. Die Ostsibirier kannten die Viehzucht, aber hätten aufgrund der klimatischen Verhältnisse keinen Ackerbau entwickelt. In Amerika wiederum fände sich bei vielen Kulturen der Ackerbau, aber nur selten die Viehzucht. Auch hier sei es nicht möglich, allgemeine Stufenschemata zu postulieren. Nur am Rande sei hier erwähnt, daß Boas, trotz seiner Betonung, jede Kulturgeschichte müsse der Landesnatur Rechnung tragen, sich entschieden gegen einen ökologischen oder geographischen Determinismus wandte. „Environment always acts upon a pre-existing culture, not on an hypothetical cultureless group.“55 In ähnlichen, ja zuweilen in nahezu identen Umwelten existierten daher unterschiedliche Kulturen. So hätten etwa im Unterschied zu den in ganz ähnlichen klimatischen Verhältnissen lebenden Inuit, die vom Fischfang und der Jagd auf Seerobben lebten, die Bewohner der nordischen Tundren und der ostsibirischen Küsten das Rentier gezähmt. Das ursprünglich bestimmende und viel wichtigere Element als die geographische Umwelt, schreibt Boas, ist der gegebene Gesellschaftszustand des Volkes, der sich historisch durch Einwirkung der verschiedenartigsten Umstände entwickelt hat, und dem durch die fördernde oder hemmende Wirkung der Umwelt sein örtlicher Stempel aufgedrückt wird. Es läßt sich sogar zeigen, daß manchmal alte Sitten, die im Einklange mit der Natur eines früher bewohnten Landes gestanden haben, unter neuen Verhältnissen erhalten bleiben können, obwohl sie durchaus nicht im Einklange mit den Lebensbedingungen in der neuen Heimat stehen. Ein derartiges Beispiel aus unserem eigenen Leben ist unsere Abneigung gegen unbekannte Nahrungsmittel neubesiedelter Gebiete; ein anderes das der renntierzüchtenden Tschuktschen, die bei ihrem Wanderleben ein höchst kompliziertes, schwerfälliges Zelt umherschleppen, dessen Typus offenbar dem früheren ständigen Hause der Küstenbewohner entspricht, aus denen die herdenbesitzenden Tschuktschen hervorgegangen sind, und das den auffallendsten Gegensatz gegen die Einfachheit und Leichtigkeit des Eskimozeltes bildet […].56
55 Franz BOAS, The Mind of Primitive Man, S. 175. 56 Franz BOAS, Rasse und Kultur, S. 130.
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Gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichte stellen die „Naturvölker“ auch keine homogene Masse dar. Die Behauptung von Dr. Johnson, ein „Haufen Wilder“ sei „wie der andere“, entbehre jeglicher Grundlage. „Primitive society“, meinte Robert Lowie, „wears a character rather different from that popularized by Morgan’s school. Instead of dull uniformity, there is mottled diversity“.57 Jedes „Naturvolk“ habe seine eigene „Kulturbrille.“ Durch den Nachweis, daß neben der inneren Entwicklung auch fremde Einflüsse, Kulturkontakte und Austauschprozesse sowie natürliche Faktoren die Geschichte eines sozialen Verbandes mitbestimmen, werden die nordamerikanischen Kulturanthropologen die konkreten vom Kulturevolutionismus postulierten Stufenfolgen zu widerlegen suchen. Aber ihre Kritik geht noch weiter und richtet sich auch gegen die den Kulturevolutionismus auszeichnende allgemeine Annahme, daß die Entwicklung stets vom Einfachen zum Komplexen, vom Primitiven zum Komplizierten führe. Zwar erklärte Boas, daß „die Geschichte der industriellen Entwicklung fast durchweg zunehmende Verwickelung aufweist. Andererseits bewegen sich Tätigkeiten, die nicht auf Vernunfthandlungen beruhen, durchaus nicht in gleichen Bahnen“.58 Dies zeige gerade das Beispiel der Sprachen vieler „Naturvölker“: Feine Bedeutungsunterschiede werden durch grammatische Formen ausgedrückt, und die grammatischen Kategorien des Lateinischen und noch mehr die der modernen europäischen Sprachen erscheinen plump im Vergleich zu dem Reichtum und der Feinheit psychologischer und logischer Formen, die in den Sprachen der kulturarmen Völker unterschieden werden, die wir aber ganz vernachlässigen. Im allgemeinen scheinen sich diese Feinheiten im Laufe der Entwicklung der Sprache zu verlieren. Man darf also sagen, daß in der Sprache vielfach die verwickelte Form den früheren Zustand darstellt, obwohl eine Bewegung in umgekehrter Richtung durchaus nicht ausgeschlossen ist.59
Ähnliches gelte für die Bereiche der Verwandtschaftsverhältnisse, der Moral, der Religion und der Kunst. The lack of system in religious behavior of primitive man subjects him to a mass of disconnected, apparently arbitrary rules and regulations. Dogma as well as religious activities are manifold and often without apparent coherence. When one clear and dominating idea controls religious life the aspect of religion becomes clearer and simpler and may lead to a religion without dogma and ritual.60
Und Boas fügte hinzu: „The opposite tendency of a systematic religion 57 58 59 60
Robert H. LOWIE, Primitive Society, S. 414. Franz BOAS, Kultur und Rasse, S. 166. Ebenda, S. 166-167. Franz BOAS, The Mind of Primitive Man, S. 160.
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taking on complex ritual forms is also common.“61 Auch sei bei manchen „Naturvölkern“ die „Kompliziertheit“ der Musik „so groß, daß ihre Nachahmung die Kunst eines vollendeten Virtuosen verlangt (Stumpf)“.62 Immer wieder werden Boas und seine Schüler betonen, daß das Einfache nicht notwendigerweise das „Ältere“ sei. Das „Primitive“ sei nicht, wie der Name suggeriert, immer das „Anfängliche“ und das „Einfache“; ja, Primitivität könne – wie man zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Entwicklungstheoretikern entgegenhielt – eine sekundäre Erscheinung sein. Richtete sich die bislang erörterte Kritik am Kulturevolutionismus gegen die ihn auszeichnende Sukzessionslogik, so wandte sich die nordamerikanische Kulturanthropologie auch gegen die ihm eigene Korrelationslogik; also gegen die Vorstellung, daß die unterschiedlichen Bereiche der Kultur eines sozialen Verbandes einander in bezug auf ihre Komplexität entsprächen. Wenn es wirklich eine einheitlich fortschreitende Kultur gibt, so müßten sich auch die frühesten Formen der Familie mit den einfachsten Formen menschlicher Kultur verbunden zeigen. Dieses ist aber nicht der Fall; vielmehr ergibt der Vergleich ein recht regelloses Durcheinander. Manche sehr einfache Stämme, wie die Eskimos oder die Indianer der nordwestlichen Hochländer Nordamerikas rechnen die Familienzugehörigkeit nach väterlicher und mütterlicher Seite; andere hochentwickelte Stämme erkennen nur die mütterliche Verwandtschaft an, während noch andere, z. T. industriell weniger entwickelte, väterliche Familienfolge haben (Swanton). So zeigt sich auch hier ein Mangel an Koordination und ein Widerspruch in der Entwicklungsrichtung je nach dem in den Vordergrund geschobenen Standpunkt.63
In seiner interessanten Untersuchung „Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective“ hat der Ideenhistoriker George W. Stocking die Bedeutung der hier skizzierten Kritik von Boas an der orthogenetischen oder unilinearen Entwicklungstheorie für die Herausbildung des „modernen“ Kulturkonzeptes erörtert.64 Indem Boas die Vorstellung einer einheitlichen, für alle sozialen Verbände gültigen Entwicklung verwarf, habe er, so die Argumentation Stockings, das Augenmerk der Anthropologen auf die Relativität, Pluralität und Geschichtlichkeit von Kulturen gelenkt und einen, wenn nicht den entscheidenden theoretischen Beitrag zum „modernen“ anthropologischen Verständnis von Kultur geleistet:65 61 62 63 64
Ebenda. Franz BOAS, Kultur und Rasse, S. 167. Ebenda S. 153-154. Vgl. George W. STOCKING, Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective, in: ders., Race, Culture, and Evolution, S. 195-233. 65 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die kommentierte, umfangreiche Sammlung von Kulturdefinitionen von Alfred L. KROEBER, Clyde KLUCKHOHN, Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, New York: Vintage Books 1963 [1952].
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Preanthropological culture is singular in connotation, the anthropological is plural. In all my reading of Tylor, I have noted no instances in which the word culture appears in the plural. In extended researches into American social science between 1890 and 1915, I found no instances of the plural form in writers other than Boas prior to 1895. Men referred to „cultural stages“ or „forms of stages“, as indeed Tylor had before, but they did not speak of „cultures“. The plural appears with regularity only in the first generation of Boas’ students around 1910.66
Dieser grundlegende theoretische Beitrag von Franz Boas, so Stocking, sei jedoch aus zwei eng miteinander verbundenen Gründen oftmals übersehen worden. Erstens habe Boas das moderne anthropologische Kulturkonzept nicht explizit formuliert, vielmehr bilde es einen impliziten Bestandteil seiner Kritik am Kulturevolutionismus und müsse daher aus seinen Gegenargumenten und Bedenken, gleichsam ex negativo rekonstruiert werden. Zweitens stehe das Boassche Werk an der Schwelle zwischen zwei ideengeschichtlichen Epochen. In seinem Denken spiegle sich dieser Übergangscharakter. Das Neue, sein „modernes“ Kulturkonzept, sei oftmals schwer erkennbar, da es von Altem überlagert werde, von Gedanken, die einer überwundenen Epoche anthropologischen Denkens angehörten.67 Hatte, wie erwähnt, der Kulturevolutionismus den Begriff der „Kulturlosigkeit“ verworfen und durch seine Betonung der „Anfänge“, der „ersten Regungen“, der „Keime der Kultur“ das universalhistorische Gegensatzpaar „Natur- und Kulturvolk“ bereits in entscheidendem Maße relativiert, hatte der Kulturevolutionismus von „kulturarmen Völkern“ sowie von der „Kultur der Kulturlosen“ gesprochen, so werden Boas und seine Schüler noch einen Schritt weiter gehen. Boas wird sich der Begriffe des „Primitiven“ und des „Kulturarmen“ bedienen, aber er wird die Vielfalt der Lebensweisen der „Kulturarmen“ betonen, auf die Komplexität des religiösen, moralischen, ästhetischen und sozialen Systems hinweisen und das Augenmerk gleichsam auf den „Kulturenreichtum“ der „Kulturarmen“ lenken.68 66 Vgl. George W. STOCKING, Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective, in: ders., Race, Culture, and Evolution, S. 195-233, hier S. 203. 67 Vgl. ebenda, S. 230. 68 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Begriffsklärungen für den Untersuchungsgegenstand der Völkerkunde aus den späten 1930er Jahren von Wilhelm E. MÜHLMANN, Geschichtliche Bedingungen, Methoden und Aufgaben der Völkerkunde, in: [1. Aufl.] Konrad Theodor PREUSS (Hg.), [unter Mitwirkung von Fachgenossen in 2. teilweise veränderter Aufl.] Richard THURNWALD (Hg.), Lehrbuch der Völkerkunde, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 21939, S. 2-43, hier S. 8: „Für den engeren Gegenstand der Völkerkunde, die ‚Völker armer Technik‘, sind folgende Bezeichnungen üblich: 1. Naturvölker. Wir verwenden ausschließlich diesen Terminus im Sinne von: Völker mit geringen Mitteln zur Naturbeherrschung, d. h. geringen technischen Mitteln. – Daneben kommen vor: 2. Kulturlose Völker. Als unzutreffend abzulehnen.
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Wenden wir uns nun dem universalistischen Strang im Denken der nordamerikanischen Kulturanthropologie zu. Immer wieder werden Boas und seine Schüler betonen, daß alle menschlichen Gruppen gleichermaßen „enkulturiert“ seien, ja daß der Mensch überall und immer in „kulturellen Ketten“ liege. Der „Primitive“ sprenge sie nicht mit seiner zügellosen Leidenschaft, der „Zivilisierte“ nicht mit seiner kühlen Vernunft. Der „Primitive“ und „der Zivilisierte“ unterscheiden sich zwar durch das, woran sie gebunden sind, nicht jedoch durch die Tatsache, daß sie gebunden sind. In dieser universellen Gebundenheit an eingelebte Traditionen erkennt Boas eine formale Einheit. Diese formale Einheit wiederum verringert den Abstand zwischen dem „Zivilisierten“ und dem „Wilden“, ohne die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Kulturen zu leugnen. „Keinem unter uns ist es gegeben“, so Boas, „sich frei zu machen von dem Bann, in den das Leben ihn geschlagen. Wir denken, fühlen und handeln getreu der Überlieferung, in der wir leben“.69 Vergleichen wir kurz das Menschenbild der Cultural Anthropology mit jenem der Kulturevolutionisten. Erscheint der Mensch in der Entwicklungstheorie als ein rastloser Homo Creator, ein besessen bastelnder Edison, in unendliche Versuchs- und Irrtumsreihen verstrickt, als ein ewiger Erfinder, Entdecker, Innovator, als ein von einer universell gültigen Kosten-Nutzen-Rechnung gesteuerter „hedonistic calculator“ – um mit Thorstein Veblen zu reden –, als ein aufstiegsorientierter rugged individualist, ständig bestrebt, die Natur besser zu beherrschen und seine materielle Lage zu verbessern, so erscheint der Mensch in der Boasschen Anthropologie als ein Homo Imitator, ein träger Nachahmer, der gleichsam hypnotisch in den ausgetretenen Pfaden seiner Vorfahren wandelt, der das Ungewohnte scheel beäugt und die Veränderung scheut. Betonte die Entwicklungstheorie die zweckrationalen Handlungen, so rückte die Cultural Anthropology die wertrationalen und traditionalen Handlungen in den Mittelpunkt. Der Gedanke der Gebundenheit an Traditionen führte Boas zum Studium der Geschichte. Im „So-und-nicht-anders-Gewordensein“ liege der Schlüssel zum Verständnis der Unterschiede zwischen den Kulturen. Ähnlich Herder suchte Boas die Einheit des Menschengeschlechts zu sichern, indem er in der Geschichte den Ursachen der kulturellen Vielfalt nachspürt. Zwar sei der Mensch, wie ihn das Naturrecht zeichne, eine Fiktion. 3. Kulturarme Völker. Ebenfalls abzulehnen. ‚Arm‘ ist nicht die Kultur, sondern ihr technischer Teil. Die einzelnen Systeme einer Kultur können sehr verschiedene ‚Höhe‘ besitzen. 4. Primitive: Diese Bezeichnung besitzt eine Gefühlstönung, die keinen zutreffenden Eindruck vermittelt und erweckt namentlich in der Form ‚die Primitiven‘ leicht den Eindruck einer durchgehenden Gleichartigkeit der Naturvölker. Sie ist daher zu vermeiden.“ 69 Franz BOAS, Brief an Friedrich S. Krauss [publiziert als Geleitwort zum ersten Band], in: Anthropophyteia: Jahrbücher für Folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral 1 (1904), S. V-VI, hier S. V.
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Auch sei der Mensch kein simples Reiz-Reaktions-Wesen, da die Wahrnehmung niemals Perzeption, sondern immer eine kulturell gebrochene Apperzeption darstelle, und doch könne man, so Boas’ tiefe Überzeugung, gerade durch eine historische Rekonstruktion der kulturellen Bedingtheit des Menschen dessen Denken, Fühlen und Wollen verstehen. Dieser historisch-ethnologische Relationismus, der die prinzipielle Verstehbarkeit des Fremden voraussetzt und somit am Prinzip der psychic unity of mankind festhält, ist eine Absage an einen radikalen Relativismus, wie er etwa, wenn auch nicht konsequent, von Lévy-Bruhl oder jenen „rassentheoretischen“ Anthropologen vertreten wurde, welche die Unterschiede zwischen den Kulturen auf biologische Ursachen zurückführten. Gerade das Feld der Linguistik sollte in diesem Zusammenhang jenes Hoffungsgebiet darstellen, auf welchem Boas Einsichten in die universelle Gebundenheit menschlicher Daseinsweisen zu gewinnen suchte. Wie alle anderen kulturellen Erscheinungen ist auch die Sprache ein geschichtliches Phänomen. Die sprachlichen Strukturen jedoch seien träger, ihre Veränderungen langsamer. Insbesondere unterscheide sich die Sprache von anderen Untersuchungsgegenständen der Kulturgeschichte dadurch, daß ihre Gesetze dem Sprecher unbekannt blieben, „that linguistic phenomena never rise into consciousness of primitive man, while all other ethnological phenomena are more or less clearly subjects of conscious thought“.70 Nach Boas ist der Mensch kein rationales, sondern ein rationalisierendes Wesen. Kulturelle Phänomene seien nicht einer abwägenden menschlichen Vernunft entsprungen; vielmehr sei ihr Ursprung unbewußt und ungewiß. Sobald sich jedoch bestimmte Bräuche, Sitten und Gewohnheiten herauskristallisiert haben, suche der Mensch nach Begründungen, um ihre Existenz zu erklären und zu rechtfertigen. Menschliches Handeln unterliegt nach Boas einem ständigen Begründungsbedarf. Im Gegensatz zu dem Handeln seien diese Begründungen jedoch brüchig. „In general we may observe that actions are more stable than thoughts.“71 Zumeist halte der Mensch an überkommenen Traditionen und Handlungen fest, werde diesen jedoch einen neuen Sinn beimessen. Diese relativ kurzlebigen Begründungen bezeichnet Boas als secondary explanations, secondary reasoning oder re-interpretations. Diese secondary explanations wiederum überschwemmen das menschliche Leben, überlagern und verdecken somit den unbewußten Ursprung kultureller Phänomene. Zur Veranschaulichung verweist Boas auf die Tischsitten: It is not customary to bring the knife to the mouth, and very readily the feeling arises, that the knife ist not used in this manner because in eating thus one would 70 Franz BOAS, Introduction, in: ders. (Hg.), Handbook of American Indian Languages. Part One (= Smithsonian Institution, Bureau of American Ethnology: Bulletin 40), Washington: Government Printing Office 1911, S. 1-83, hier S. 63. 71 Franz BOAS, Anthropology and Modern Life, S. 164.
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easily cut the lips. The lateness of the invention of the fork, and the fact that in many countries dull knives are used and that a similar danger exists of pricking the tongue or the lips with the sharp-pointed steel fork which is commonly used in Europe, show readily that this explanation is only a secondary rationalistic attempt to explain a custom that otherwise would remain unexplained.72
Unser Verhalten zu Tisch ist an Normen gebunden, deren Ursprung wir nicht kennen, die wir aber zu rechtfertigen suchen. Jede Abweichung von diesen Normen rufe gleichsam instinktiv Gefühle der Ablehnung hervor, die wiederum begründet werden. Was nun für die Tischsitten gelte, gelte auch für komplexere kulturelle Erscheinungen, für die Religion, die Moral, die Ästhetik, ja selbst für wissenschaftliche Ansichten. Überspitzt formuliert: Je stärker die emotionale Bindung an Traditionen, desto stärker auch das Bedürfnis, diese rational zu erklären. Der große Vorteil der Linguistik bestehe nun darin, daß im großen und ganzen the categories which are formed always remain unconscious, and that for this reason the processes which lead to their formation can be followed without the misleading and disturbing factors of secondary explanations, which are so common in ethnology, so much so that they generally obscure the real history of the development of ideas entirely.73
Boas meinte also, durch ein Freilegen der linguistischen Strukturen wäre es möglich, den unbewußten und unmittelbaren Einfluß ethnologischer Phänomene auf die Kultur eines sozialen Verbandes bzw. auf das Denken, Fühlen und Wollen des Einzelnen freizulegen, ohne daß secondary explanations diese Beziehungen überdeckten. Durch ein Studium der sprachlichen Strukturen können wir also nicht nur jene Kategorien kennen lernen, wie unterschiedliche Kulturen mit Hilfe ihrer klassifikatorischen Konzepte die Welt ordneten, sondern wir könnten auch den Einfluß eines ethnologischen Phänomens ohne die Brechung der secondary explanations verstehen lernen.74 Diente, wie ich zu zeigen versucht habe, das auf der diffusionistischen Geschichtsauffassung beruhende Kulturkonzept gleichsam als Beleg der historisch bedingten Vielfalt menschlicher Daseinsweisen, und läßt es sich somit dem relativistischen Strang der nordamerikanischen Schule zurechnen, so beinhaltete es doch auch, von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, ein universalistisches Element. Denn nicht nur die Wanderung, 72 Franz BOAS, Introduction, in: ders. (Hg.), Handbook of American Indian Languages, S. 69. 73 Ebenda, S. 71. 74 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Einschätzung von Claude LéviStrauss, der meinte, Boas „komme das Verdienst zu, mit bewundernswertem Scharfsinn die unbewußte Natur der kulturellen Phänomene definiert zu haben“. Claude LÉVI-STRAUSS, Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 33.
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die Aufnahme, der Austausch und die Absorption von Kulturgütern wurden hierbei betont, sondern auch die Tatsache, daß die Kulturträger selbst, also die Menschen unterschiedlicher sozialer Verbände, sich fortwährend untereinander mischten. Es gab also nicht nur keine „reine“, nur auf innerer Entwicklung beruhende Kultur, sondern es gab auch keine – wie man damals gesagt hätte – „reinen Rassen“. „Rasse, Sprache und Kultur“ – um die berühmte Boassche Trias zu gebrauchen – bildeten also keine Einheit, sondern wurden gleichsam entkoppelt. Immer wieder wird Boas in diesem Zusammenhang auf seine Forschungen unter den „Indianerstämmen“ der nordwestamerikanischen Pazifikküste zurückgreifen. Das kulturelle System zweier „Nachbarstämme“ kann durchaus ähnlich sein, in sprachlicher oder physischer Hinsicht jedoch können sich die beiden „Stämme“ grundlegend voneinander unterscheiden. Zwei „Stämme“ können jedoch auch über eine ähnliche Sprache verfügen, ohne daß sich eine kulturelle oder physische Verwandtschaft nachweisen ließe. Gerade aufgrund der historischen Diffusionsprozesse könne die Korrelation von „Rasse, Sprache und Kultur“ nicht aufrechterhalten werden. Es gelte also festzuhalten, daß a people may remain constant in type and language and change in culture, that they may remain constant in type, but change in language [and culture; B. W.]; or that they may remain constant in language and change in type and culture. If this is true, then it is obvious that attempts to classify mankind, based on the present distribution of type, language, and culture, must lead to different results, according to the point of view taken; that a classification based primarily on type alone will lead to a system which represents, more or less accurately, the blood relationships of the people, which do not need to coincide with their cultural relationships; and that, in the same way, classifications based on language and culture do not need at all to coincide with a biological classification.75
Der Gedanke der Entkoppelung von „Rasse, Sprache und Kultur“ führt uns 75 Franz BOAS, Introduction, in: ders. (Hg.), Handbook of American Indian Languages, S. 11. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen des Althistorikers Eduard MEYER, Geschichte des Altertums. Band 1: Einleitung: Elemente der Anthropologie, S. 74-76: „Völlig sicher ist […], daß alle Menschenrassen sich fortwährend mischen, daß sie alle sich nur a potiori definieren lassen, daß eine scharfe Scheidung zwischen ihnen nicht gelungen, sondern ganz unmöglich ist […], und daß sich ein sogenannter reiner Rassentypus nur da findet, wo Volksstämme durch äußere Umstände in künstlicher Isolirung gehalten worden sind, wie z. B. auf Neuguinea und Australien. […] Daß die Sprachstämme mit den physischen Gruppen in keiner Weise zusammenfallen, daß innerhalb einer Rasse ganz verschiedenartige Sprachen bestehen, und umgekehrt Sprachen auf fremde Völker, vielleicht von einer ganz anderen Rasse, übertragen werden können, […] ist so allbekannt, daß wir dabei nicht zu verweilen brauchen. Ebenso aber auch, daß in jeder Sprache eine geistige Eigenart und ein Schatz kultureller Erwerbungen enthalten ist, der sich, in größerem oder geringerem Maße, auf alle überträgt, welche diese Sprache sprechen.“
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zu der im Rahmen der physisch-anthropologischen Arbeiten der BoasSchule immer wieder betonten Vorstellung von der „Plastizität der menschlichen Natur“. Bis heute gilt es als eine der wissenschaftlichen – und in den Augen mancher auch moralischen – Leistungen der nordamerikanische Schule der Kulturanthropologie, im Namen der biologischen Gleichheit aller Menschen „rassistische“ Kulturtheorien bekämpft zu haben. Ohne hier auf die physisch-anthropologischen Studien der BoasSchule näher eingehen zu wollen, sei nur darauf hingewiesen, daß dieser universalistische Strang in ganz bestimmten historisch sozialen Kontexten in den Vordergrund treten sollte.76 Mit anderen Worten: Stand die Betonung der Relativität, des Partikularen und der Vielfalt im Mittelpunkt der Untersuchungen über fremde Kulturen, so steht die Betonung des Universellen und der Einheit im Mittelpunkt ihrer Studien über die marginalisierten ethnischen Minderheiten innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. So dominiert etwa in den berühmten, am Höhepunkt der süd- und osteuropäischen Einwanderungswelle in die Vereinigten Staaten durchgeführten Immigrant Head Studies das universelle Element der kulturanthropologischen Denktradition. In diesen liegt die Aufmerksamkeit ganz auf der potentiellen Gleichheit und der mehr oder minder raschen Assimilationsfähigkeit „benachteiligter“ Gruppen an die mainstream-Gesellschaft. Der melting pot ist hier nicht nur Faktum, sondern auch Norm. Ebenso über76 Da Boas heute oftmals als einer der großen Verfechter der „Rassengleichheit“ dargestellt wird, sei nur darauf hingewiesen, daß sich in seinem Werk durchaus Passagen finden lassen, in denen er es zumindest nicht ausschließt, daß Unterschiede zwischen den „Rassen“ bestehen. Vgl. etwa folgende Stelle, die auch für die vorsichtige Haltung von Boas in diesen Fragen typisch ist: „It may be well to state here once more with some emphasis that it would be erroneous to claim as proved that there are no differences in the mental make-up of the Negro race taken as a whole, and that their activities should run exactly the same lines. This would be a result of the varying frequency of personalities of various types. It may be that the bodily build of the Negro race taken as a whole tends to give a direction to its activities somewhat different from those of other races. An answer to this question cannot be given. There is, however, no evidence whatever that would stigmatize the Negro as of weaker build, or as subject to inclinations and powers that are opposed to our social organization. An unbiased estimate of the anthropological evidence so far brought forward does not permit us to countenance the belief in a racial inferiority which would unfit an individual of the Negro race to take its part in modern civilization. We do not know of any demand made on the human body or mind in modern life that anatomical or ethnological evidence would prove to be beyond his powers. The traits of the American Negro are adequately explained on the basis of his history and social status. The tearing-away from the African soil and the consequent complete loss of the old standards of life, which were replaced by the dependency of slavery and by all it entailed, followed by a period of disorganization and by a severe economic struggle against heavy odds, are sufficient to explain the inferiority of the status of the race, without falling back upon the theory of hereditary inferiority.“ Franz BOAS, The Mind of Primitive Man, S.239-240.
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wiegt im Rahmen der Studien von Boas über die Schwarzen in den USA der universalistische Strang. Auch hier treten die Unterschiede, die im Rahmen des relativistischen Stranges betont und als wünschenswert erachtet werden, in den Hintergrund. „[T]he greatest hope for the immediate future“, schreibt Boas, lies in a lessening of the contrast between Negroes and whites which will bring about a lessening of the class consciousness. […] [I]intermixture will decrease the contrast between the extreme racial forms, and in the course of time, this will lead to a lessening of the consciousness of race distinction. If conditions were such that it could be doubtful whether a person were of Negro descent or not, the consciousness of race would necessarily be much weakened. In a race of octoroons, living among Whites, the color question would probably disappear.77
Und am Schluß dieser Ausführungen erklärt Boas: Thus it would seem that man being what he is, the Negro problem will not disappear in America until the Negro blood has been so much diluted that it will no longer be recognized just as anti-Semitism will not disappear until the last vestige of the Jew as a Jew has diappeared.78
Im Rahmen meiner späteren Ausführungen zur Lebensgeschichte von Boas werde ich versuchen, die beiden hier skizzierten Stränge des Relativismus und Universalismus aus einer biographisch-wissenssoziologischen Perspektive etwas näher zu beleuchten.
2. Einige Überlegungen zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der „ G e n e r a l i s i e r u n g s p h o b i e “ vo n F r a n z B o a s Mit dem Tod von Rudolf Virchow (1821-1902), so Franz Boas in seinem Nachruf auf den Forscher und Politiker im Jahre 1902, habe die Wissenschaft einen ihrer großen Führer, Deutschland einen seiner großen Bürger und die Welt einen ihrer großen Männer verloren.79 In seinem Nekrolog erörtert und preist Boas, der in den frühen 1880er Jahren unter der Anleitung von Rudolf Virchow am Berliner Museum für Völkerkunde seine ersten anthropometrischen Studien durchgeführt hatte, die Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeitsweise seines Lehrers. Virchows skeptische Hal77 Franz BOAS, The Negro in America (1921), in: ders., Race and Democratic Society, S. 70-81, hier S. 80-81. 78 Ebenda, S. 81. 79 Franz BOAS, Rudolf Virchow’s Anthropological Work (1902), in: ders., A Franz Boas Reader: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911, S. 36-42, hier S. 36.
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tung gegenüber der Evolutionstheorie, die zu dem großes Aufsehen erregenden Streit mit Ernst Haeckel (1834-1919), ob die Abstammungslehre in der Schule unterrichtet werden sollte, geführt hatte, beruhte nach Boas auf dem grundlegenden wissenschaftlichen Prinzip, daß es gefährlich sei, to classify data that are imperfectly known under the point of view of general theories and that the sound progress of science requires of us to be clear at every moment, what elements in the system of science are hypothetical and what are the limits of that knowledge which is obtained by exact observation.80
So „unerschütterlich“ und „unbeugsam“ habe Virchow an diesem Prinzip festgehalten, daß viele „ungestüme Studenten“ der Ansicht waren, seine „ruhige und behutsame Kritik“ sei dem Erkenntnisfortschritt abträglich. Immer wieder sei Virchow aufgrund seiner wissenschaftlichen Prinzipien angefeindet worden. Aber schließlich sollte der Fortschritt der Wissenschaft zeigen, daß der „behutsame Meister“ Recht gehabt hatte, „die weitreichende auf unvollkommenem Beweis beruhende Schlußfolgerung“ zurückzuweisen. Es gebe nur wenige Studenten, die über „jenen kalten Enthusiasmus für die Wahrheit“ – that cold enthusiasm for truth – verfügten, der es ihnen zu allen Zeiten erlaube, sich der „klaren Trennlinie“ zwischen „attraktiver Theorie“ und der Beobachtung bewußt zu sein, die durch „harte und ernste Arbeit gesichert wurde“.81 Franz Boas’ akademische Ausbildung erinnert, wie George W. Stocking einmal treffend bemerkte, an eine geistige „Odyssee“, die ihn vom Studium naturwissenschaftlicher Fächer, vornehmlich der Physik, Chemie und Mathematik, über eine Beschäftigung mit neukantianischer Philosophie und Fragen der Psychophysik, ferner über die Geographie und Humanökologie zur Kulturanthropologie führte.82 Schon die Worte, die Boas 80 Ebenda, S. 39. 81 Ebenda. 82 George W. STOCKING, Introduction: The Basic Assumptions of Boasian Anthropology, in: Franz BOAS, A Franz Boas Reader: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911, S. 1-20, hier S. 9. Zum intellektuellen Werdegang von Boas vgl. insbesondere George W. STOCKING, From Physics to Ethnology, in: ders., Race, Culture, and Evolution, S. 133-160. Siehe auch Douglas COLE, Franz Boas: The Early Years, 1859 [sic]-1906, S. 38-62; Clyde KLUCKHOHN, Olaf PRUFER, Influences during the Formative Years, in: Walter GOLDSCHMIDT (Hg.), The Anthropology of Franz Boas. Essays on the Centennial of His Birth, S. 4-28; Matti BUNZL, Franz Boas and the Humboldtian Tradition: From Volksgeist and Nationalcharakter to an Anthropological Concept of Culture, in: George W. STOCKING (Hg.), Volksgeist as Method and Ethic: Essays on Boasian Ethnography and the German Ethnographical Tradition, S. 17-78. Zu den von Boas in seinem der Dissertation beigefügten Curriculum Vitae genannten berühmten deutschen Naturwissenschaftlern, deren Vorlesungen und Seminare er während seiner Universitätszeit in Heidelberg, Bonn und Kiel besuchte, zählen unter anderem der Wegbereiter der Spektralanalyse und Erfinder des Bunsenbrenners
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im Nachruf auf seinen verehrten Lehrer Virchow gebraucht, um dessen vorbildhafte wissenschaftliche Grundhaltung zu charakterisieren – am einprägsamsten wohl das Oxymoron vom „kalten Enthusiasmus für die Wahrheit“ –, verweisen auf das im ersten Kapitel meiner Arbeit skizzierte Forschungsethos, welches die Tradition naturwissenschaftlichen Denkens in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Deutschland maßgeblich bestimmen sollte und das, wie erwähnt, gerade mit dem Namen von Rudolf Virchow untrennbar verbunden war.83 Diesem naturwissenschaftlichen Ethos, gekennzeichnet durch eine tiefe positivistische Ehrfurcht vor dem mühseligen Sammeln von Tatsachen, durch eine selbst auferlegte, geradezu asketisch anmutende Enthaltsamkeit bezüglich theoretischer Spekulation, durch Furcht, den sündhaften Verlockungen der Theorie nicht widerstehen zu können und voreilige, falsche Schlußfolgerungen zu ziehen, diesem Ethos sollte Franz Boas auf seiner „Odyssee“ von der Physik zur Kulturanthropologie ein Leben lang verpflichtet bleiben. Die Urteile darüber, ob dieses Forschungsethos der Anthropologie genützt oder geschadet habe, gehen – wie ich auch in den einleitenden Bemerkungen zu diesem Teil gezeigt habe – weit auseinander. Für viele seiRobert Bunsen (1811-1899), „die erste wissenschaftliche Grösse, die ich mit eigenen Augen sah“, der Mitbegründer der Thermodynamik und kinetischen Gastheorie Rudolf Clausius (1822-1888), der den Begriff der Entropie prägte, der Chemiker August Kekulé von Stradonitz (1829-1896), bekannt unter anderem für die Entdeckung der Vierwertigkeit des Kohlenstoffs und für seine Klärung der ringförmigen Struktur der Kohlenwasserstoffverbindung Benzol, Karl August Möbius (1825-1908), einer der Pioniere der modernen Ökologie – er prägte den Begriff der Biozönose –, sowie der Mathematiker Rudolf Lipschitz (1832-1903). Franz Boas zit. nach Clyde KLUCKHOHN, Olaf PRUFER, Influences during the Formative Years, S. 4-28, hier S. 7. Vgl. auch Franz BOAS, Beiträge zur Erkenntnis der Farbe des Wassers. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwürde unter Zustimmung der philosophischen Fakultät zu Kiel, Kiel: Schmidt & Klaunig 1881. 83 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Charakteristik von Virchow in der Gedächtnisrede von Abraham Lissauer, die er anläßlich der Totenfeier des verstorbenen Gelehrten hielt. „So sah man oft in seiner Sprechstunde […] ganze Reihen von jüngeren und älteren Forschern, hinter einander aufmarschirt, um einer nach dem andern dem Meister sein Anliegen vorzutragen, seine Arbeit vorzulegen. Noch steht er vor unseren Augen, wie er zuerst mit ruhigem und prüfendem Blick die Vorlagen betrachtete, dann die Brille auf die Stirn schob und mit hochgezogenen Augenbrauen schärfer die Objecte untersuchte. – Freudig förderte er jedes wissenschaftliche Unternehmen, begrüsste er jeden neuen Fund und jede neue Beobachtung, – kühl aber, ja ironisch wurde er gegenüber jeder vorschnellen Schlußfolgerung. Auf die Erforschung und Sicherung der Thatsachen kam es ihm hauptsächlich an! Was Wunder, wenn er, den alle Forscher wie ein Orakel betrachteten, zuweilen entgegengesetzte Ansichten schroff zurückwies, solange er selbst nicht von deren Richtigkeit überzeugt wurde.“ Abraham LISSAUER, [Gedächtnisrede auf Rudolf Virchow am 13. Oktober 1902], in: Zeitschrift für Ethnologie 34 (1902), S. 318-330, hier S. 327.
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ner Schüler und Schülerinnen legte Boas mit seinem sich aus diesem Ethos speisenden Deskriptivismus das Fundament für eine wissenschaftliche Anthropologie. In den Augen seiner Kritiker hingegen galt der deutschamerikanische Forscher als ein – überspitzt formuliert – von einer „Generalisierungsphobie“ befallener neurotischer Idiograph. In den folgenden Ausführungen werde ich in diesem bis heute währenden Streit, ob der Deskriptivismus von Boas der Anthropologie förderlich oder schädlich war, keine Stellung beziehen.84 Vielmehr werde ich versuchen, diesen Deskriptivismus aus einer ideengeschichtlichen Perspektive zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang werde ich in aller Kürze auf drei unterschiedliche Quellen der nomophoben Grundhaltung von Boas aufmerksam machen. Die Boassche Skepsis gegenüber Gesetzen läßt sich, so meine Argumentation, als eine Art wissenschaftstheoretischer Konvergenzerscheinung verstehen.
2.1 Zuerst die Tatsachen, dann die Theorie Die Warnungen vor leichtfertigen und überhasteten Schlußfolgerungen sowie davor, Fakten in die – wie Boas es zuweilen nannte – „Zwangsjacke einer Theorie“ zu zwängen, durchziehen das Schaffen des deutschamerikanischen Kulturanthropologen.85 „[P]remature generalization – a development which he feared like the plague and against which he continually warned us“, berichtet Margaret Mead.86 Ein anderer Schüler erzählt: „Boas frequently said when students expressed the notion that they (or others) ,ought to be theoretical‘, ,you don’t just have theories, your materials furnish your theories‘.“87 Die erste ideengeschichtliche Quelle der Boasschen „Generalisierungsphobie“ ist seine Überzeugung, daß die Zeit noch nicht reif sei, daß die Daten einfach noch nicht ausreichten, um auf dem Gebiet der Kultur84 Zur a-theoretischen Stoßrichtung der nordamerikanischen Kulturanthropologie vgl. etwa den Kommentar von Clyde KLUCKHOHN, The Place of Theory in Anthropological Studies, in: The Philosophy of Science 6 (1939), S. 328-344, hier S. 333: „I must simply record my honest impression (and those anthropologists whom I have specifically questioned on the point agreed that it was theirs also) that the word ,theory‘ has a pejoratif connotation for most American anthropologists. To suggest that something is ,theoretical‘ is to suggest that it is slightly indecent. ,Theory‘ indeed tends to be roughly equated with ,speculation‘. This is of a piece with the too prevalent tendency to assume tacitly a kind of antinomy between ,facts‘ and ,theory‘.“ 85 Franz BOAS, The Limitations of the Comparative Method of Anthropology (1896), in: ders., Race, Language, and Culture, S. 270- 280, hier S. 277. 86 Margaret MEAD, Apprenticeship under Boas, in: Walter GOLDSCHMIDT (Hg.), The Anthropology of Franz Boas. Essays on the Centennial of His Birth, S. 29-45, hier S. 29. 87 Gladys A. REICHARD, Franz Boas and Folklore, in: Alfred L. KROEBER (Hg.), Franz Boas, 1858-1942, S. 52-57, hier S. 53.
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geschichte Schlußfolgerungen zu ziehen. Für den Moment gelte es, Daten zu sammeln. Gerade da, wie Boas immer wieder betonen wird, die Anthropologie Gefahr laufe, ihre „Daten“ – die vom westlichen Einfluß noch weitgehend unberührten, intakten indigenen Kulturen – für immer zu verlieren, sei Feldforschung das Gebot der Stunde. Ausdrücklich sei betont, daß im Rahmen der ersten hier idealtypisch isolierten Quellen des Boasschen Deskriptivismus nicht das prinzipielle Ziel in Frage gestellt wird, ethnologische Theorien zu erstellen. Im Gegenteil: Der Deskriptivismus ist hier nichts anderes als eine notwendige Vorstufe für das „Finden von Gesetzen.“ It may seem to the distant observer that American students are engaged in a mass of detailed investigation without much bearing upon the solution of the ultimate problems of a philosophic history of human civilization. I think this interpretation of the American attitude would be unjust because the ultimate questions are as near to our hearts as they are to those of other scholars, only we do not hope to be able to solve an intricate problem by a formula.88
Wie viele seiner Zeitgenossen teilte auch Boas die Auffassung, die Anthropologie sei eine „junge“, erst um 1850 entstandene Wissenschaft. Über die Arbeiten aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert meinte er in einem Vortrag: „[E]ven the best attempts of this period were essentially speculative and deductive, for the rigid method had hardly begun to be understood in the domain of the natural sciences, much less in that of the mental sciences.“89 Im Vergleich mit den Naturwissenschaften seien die Geisteswissenschaften also zurückgeblieben. Um ähnliche Erfolge wie die Naturwissenschaften aufzuweisen, müßten auch sie sich der induktiven Methode bedienen und sich aus den Fängen der Spekulation befreien. Aus wissenschaftspsychologischer Sicht ließe sich sagen, daß gerade die Verheißung, eines Tages weitreichende und auf gesicherter empirischer Basis beruhende Schlußfolgerungen zu ziehen, eine Quelle der „nomophoben“ Grundhaltung von Boas darstellt. Diese „Nomophobie“ ist also keine allgemeine, sondern eine gegenwartsbezogene. Scheinbar paradox formuliert: Gerade da Boas den Systemen der Zukunft einen so hohen Wert beimaß, war er nur allzu bereit, die Systeme der Gegenwart dem Einzelfall zu opfern.
2.2 Über zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen Jede Wissenschaft, so Boas in seinem Beitrag „The Study of Geography“ (1887), habe ihren Ursprung in zwei entgegengesetzten Triebfedern bzw. 88 Franz BOAS, Race, Language, and Culture, S. 283-284. 89 Franz BOAS, The History of Anthropology [= Address at the International Congress of Arts and Science, St. Louis, September 1904], in: ders., A Franz Boas Reader, S. 23-36, hier S. 25.
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Bedürfnissen des menschlichen Geistes.90 Das erste Bedürfnis – Boas spricht vom aesthetic impulse – gründe in der Angst vor dem Chaos und der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen oder – ins Positive gewendet – im Wunsch nach Ordnung, Klarheit und Regelmäßigkeit. Im Rahmen der Wissenschaft finde diese ordnungsliebende Triebfeder im Denkstil des Physikers, der alle konkreten Einzelerscheinungen abstrakten Gesetzen unterwirft, ihren Ausdruck. Als Beispiel verweist Boas hierbei auf das Wissenschaftsverständnis eines Auguste Comte, in dessen System „the single phenomenon itself is insignificant: it is only valuable because it is an exemplification of law, and serves to find new laws to corroborate old ones“.91 Diesem im Hang zur Abstraktion sich spiegelnden aesthetic impulse stellt Boas eine zweite Triebfeder gegenüber, nämlich den affective impulse. Hier ist es gerade die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die begrüßt wird und die den Einzelnen in ihren Bann zieht. Im Rahmen der Wissenschaft äußere sich der affective impulse nun nicht darin, die phänomenale Anarchie durch Gesetze beherrschen zu wollen, sondern darin, daß die ganze Aufmerksamkeit auf das Konkrete, auf den Einzelfall gerichtet sei. Goethe, so Boas, habe in seinen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter diesem Denkstil mit „wunderbarer Klarheit“ Ausdruck verliehen: It seems to me that every phenomenon, every fact, itself is the really interesting object. Whoever explains it, or connects it with other events, usually only amuses himself or makes sport of us, as, for instance, the naturalist or historian. But a single action or event is interesting, not because it is explainable, but because it is true.92
Als herausragendes Beispiel verweist Boas in diesem Zusammenhang auf die von Alexander von Humboldt in seinem Werk Kosmos angewandte Vorgehensweise. Unabhängig von der Bedeutung und dem Platz, den der Einzelfall in einem System einnehme, werde hier versucht, alle „Geheimnisse“ einer konkreten Erscheinung „liebevoll“ zu „durchdringen“: The cosmographer holds […] to the phenomenon which is the object of his study, may it occupy a high or a low rank in the system of physical sciences, and lovingly tries to penetrate into its secrets until every feature is plain and clear. This occupation with the object of his affection affords to him a delight not inferior to that which the physicist enjoys in his systematical arrangement of the world.93
90 Goethe zit. nach Franz BOAS, The Study of Geography (1887), in: ders., Race, Language, and Culture, S. 639-647, S. 643. 91 Ebenda, S. 642. 92 Ebenda, S. 644. 93 Ebenda, S. 645.
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Im Rahmen dieser Gegenüberstellung von zwei grundlegenden und entgegengesetzten Bedürfnissen des menschlichen Geistes, die in zwei konträren wissenschaftlichen Denkstilen ihren Niederschlag finden, wird Boas sein eigenes wissenschaftliches Schaffen als Ausfluß des affective impulse betrachten. Im Jahr 1936, also rund fünfzig Jahre nach seinem Aufsatz „The Study of Geography“ (1887), erklärte er: I aligned myself clearly with those that are motivated by the affective appeal of a phenomenon that impresses us as a unit, although its elements may be irreducible to a common cause. In other words the problem that attracted me primarily was the understanding of a complex phenomenon. When from geography my interest was directed to ethnology, the same interest prevailed.94
Der affective impulse kann als eine zweite Quelle des Boasschen Deskriptivismus verstanden werden. Wie Wilhelm Windelband in seiner sieben Jahre später gehaltenen, berühmten Straßburger Rektoratsrede „Geschichte und Naturwissenschaft“ (1894), in der er zwischen einem nomothetischen und einem idiographischen wissenschaftlichen Denken unterschied, wird Boas im Jahre 1887 zwei grundlegende Erkenntnisinteressen identifizieren.95 Wie Windelband wird auch Boas erklären, daß ein- und derselbe Gegenstand aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden könne. Nicht der Gegenstand, nicht das Beobachtete, sondern das Gemüt des Beobachters bestimme die Wahl der Methode. Im Rahmen dieser Quelle des Boasschen Deskriptivismus erscheint das Besondere somit nicht als eine Vorstufe des Allgemeinen, ist diesem nicht untergeordnet, sondern erscheint als ein „gleichberechtigter Partner.“
2.3 Über den ontologisch bedingten Deskriptivismus Eine dritte idealtypisch zu isolierende Quelle des Deskriptivismus von Boas besteht in seiner Vorstellung oder genauer gesagt in seiner Vermutung, daß auf dem Gebiet der Kulturgeschichte trotz aller empirischer Forschung und trotz des eifrigen Sammelns von Tatsachen vielleicht gar kein abschließendes System errichtet werden könne. Im Unterschied zur zweiten Quelle des Deskriptivismus ist hier die Hinwendung zum Besonderen also nicht durch das Erkenntnisinteresse des Beobachters bedingt, sondern durch den Gegenstand, durch das, was beobachtet wird. Obgleich die drei von mir unterschiedenen Quellen respektive Wissen94 Franz BOAS, History and Science in Anthropology: A Reply [to A. L. Kroeber] (1936), in: ders., Race, Language, and Culture, S. 305-311, hier S. 305. 95 Vgl. hierzu Wilhelm WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft (1894) [Straßburger Rektoratsrede], in: ders., Präludien: Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Band 2, Tübingen: J. C. B. Mohr 8 1921, S. 136-160.
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schaftspositionen des Boasschen Deskriptivismus nebeneinander bestehen und sich wechselseitig verstärken, ließe sich meines Erachtens im Laufe des rund sechs Jahrzehnte umfassenden Lebenswerkes des deutschamerikanischen Anthropologen eine Verlagerung von den ersten beiden Quellen seiner „Generalisierungsphobie“ zur dritten Quelle nachweisen. Ohne dies hier im Einzelnen textexegetisch belegen zu können, sei nur darauf hingewiesen, daß Boas im Laufe seiner Forschungen zusehends zur Überzeugung gelangt zu sein scheint, daß Gesetze im Bereich der Ethnologie entweder nicht gefunden werden können oder aber von so allgemeinem Charakter seien, daß sie trivial erschienen. „In my opinion“, schreibt Boas in dem bereits erwähnten Beitrag aus dem Jahre 1936, a system of social anthropology and „laws“ of cultural development as rigid as those of physics are supposed to be are unattainable in the present stage of our knowledge, and more important than this: on account of the uniqueness of cultural phenomena and their complexity nothing will ever be found that deserves the name of a law excepting those psychological, biologically determined characteristics which are common to all cultures and appear in a multitude of forms according to the particular culture in which they manifest themselves.96
Gerade diese Vermutung, daß im Bereich der Kulturgeschichte Gesetze gar nicht gefunden werden können, sollte seinem Deskriptivismus eine zusätzliche Schubkraft verleihen. Der Zufall spiele in der Geschichte eine herausragende Rolle. „[A]ccident that may depend upon the presence or absence of eminent individuals, upon the favors bestowed by nature, upon chance discoveries or contacts, and therefore prediction is precarious, if not impossible.“97 Entwicklungsgesetze, „except in most generalized forms“, ließen sich nicht finden. Eine Vorhersage des „detailed course of growth“ könne nicht gegeben werden. In diesem Deskriptivismus spiegelt sich – wie im zuerst besprochenen Fall – meines Erachtens die „naturwissenschaftliche Sozialisation“ von Boas wider. Boas suchte auf dem Feld der Kulturgeschichte nach Gesetzen, die jenen der „klassischen“ Physik entsprechen könnten. Je länger er jedoch suchte, desto mehr gelangte er zur Überzeugung, daß er diese nicht finden und am Ende der mühseligen empirischen Kärrnerarbeit nicht mit einer Theorie belohnt werde. Und gerade die Enttäuschung, der leicht resignative Ton, der diese Einsicht begleitet, verrät seine ursprüngliche, aus dem „Geist der Naturwissenschaften“ geborene Erwartungshaltung. „All we can do is to watch and judge day by day what we are doing in the light of what we have learned and to shape our steps accordingly.“98 96 Franz BOAS, History and Science in Anthropology: A Reply [to A. L. Kroeber] (1936), in: ders., Race, Language, and Culture, S. 305-311, hier S. 311. 97 Franz BOAS, Anthropology and Modern Life, S. 246. 98 Ebenda.
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3. Biographisch-wissenssoziologische Ü b e r l e g u n g e n z u r C u l t u r a l An t h r o p o l o g y Die formative Phase der Cultural Anthropology fällt in eine Zeit, in der sich das demographische, politische, ökonomische und kulturelle Profil der Vereinigten Staaten grundlegend ändern sollte. Für unseren Zusammenhang mag es genügen, auf die großen Einwandererströme aus Südund Osteuropa, auf das 1890 erfolgte Ende der Binnenbesiedelung, das rapide Anwachsen der Großstädte, den Beginn der imperialistischen Politik der USA, ferner auf die in der Neuen Welt bislang weitgehend unbekannten Erscheinungen der Arbeiterunruhen, Protestmärsche und Streiks – man denke an die Haymarket Riot Mitte der 1880er Jahre –, auf die Massenarbeitslosigkeit in den 1890er Jahren sowie auf die monopolistischen Tendenzen des amerikanischen Kapitalismus zu verweisen. Seinen Niederschlag fanden diese realgeschichtlichen Veränderungen in jener heterogenen intellektuellen Strömung, die man gemeinhin als Progressive Movement bezeichnet und die das geistige Leben in den Vereinigten Staaten in den Jahren von etwa 1890 bis 1917 entscheidend prägen sollte. Basically, it [the Progressive Movement, B. W.] was caused by a feeling that the political and economic direction of American life had been given into the hands of a few or had been seized by a few. „Democracy“, the progressive thought, „is ill“. The remedy they then prescribed was a series of stronger doses of democracy. In every case the purpose was to check the growth of privilege and monopoly.99
In den Aufsehen erregenden Berichten der Muckrackers und Sozialreporter – man denke an Sinclair Lewis’ erschütternde Schilderung der aus Osteuropa eingewanderten Industriearbeiter – waren die Mißstände der amerikanischen Gesellschaft in drastischen Farben offengelegt worden. Der Glaube an den naturgesetzlichen, sich über die Köpfe der Menschen hinweg vollziehenden Fortschritt geriet zusehends ins Wanken. Immer weniger schien das alte Ideal des fleißigen und unabhängigen yeoman den neuen Verhältnissen zu entsprechen. Schärfer wurde nun die Kritik von Intellektuellen an der sozialdarwinistischen Politik eines laissez faire, lauter der Ruf, lenkend und planend in das soziale Geschehen einzugreifen, schonungsloser und hämischer der Spott über die Widersprüchlichkeiten und die Heuchelei der amerikanischen Gesellschaft. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an den utopischen, sozialtechnologischen und pädagogischen Gehalt der Werke eines Edward Bellamy, Frank L. Ward und John Dewey, an die Kritik eines William G. Sumner an der aufsteigenden und mächtiger werdenden Schicht der Plutokraten, an den Glauben an die 99 Marshall SMELSER, Joan R. GUNDERSEN, American History at a Glance, New York et al.: Harper & Row 41978, S. 159.
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Allmacht der Konditionierung eines John B. Watson sowie an den meisterhaft entlarvenden Blick auf das soziale Geschehen eines Thorstein Veblen erinnert. Diese das Progressive Movement auszeichnende kritische Haltung zur amerikanischen Gesellschaft der Gegenwart sollte im Falle der Cultural Anthropology durch eine Reihe auffallender biographischer Momente verstärkt werden. Ziel des folgenden wissenssoziologischen Teils ist es, die im Rahmen der Boas-Schule geübte Zivilisations- und Fortschrittskritik aus den spezifischen Enkulturationsbedingungen ihrer Vertreter zu beleuchten. Hierfür werde ich in einem ersten Abschnitt ein idealtypisches Psychogramm des nordamerikanischen Kulturanthropologen skizzieren. Im zweiten Abschnitt werde ich einige Überlegungen zur Biographie von Franz Boas anstellen.
3.1 Zum Psychogramm des nordamerikanischen Kulturanthropologen Waren, wie erwähnt, die meisten Vertreter des Kulturevolutionismus als WASPs gleichsam fester Bestandteil der amerikanischen mainstreamGesellschaft, so sind die kulturrelativistischen Theoretiker in den USA oftmals „Neubürger“ und Angehörige einer religiösen, sprachlichen, ethnischen oder kulturellen Minderheit. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang neben Franz Boas auf Alfred L. Kroeber, Edward Sapir, Robert H. Lowie, Paul Radin und Alexander Goldenweiser verwiesen. Überspitzt formuliert: Ist der Vertreter der Fortschrittsidee und des Kulturevolutionismus in den Vereinigten Staaten ein Etablierter, so ist der kulturrelativistische Theoretiker ein gesellschaftlicher Außenseiter. Als klassische Bindestrich-Identität verspürt er den vom Etablierten ausgehenden Druck zur Konformität. Dieser Druck, sich sprachlich und kulturell anzupassen, sensibilisiert den Außenseiter für das, was ihn vom Etablierten unterscheidet. In dieser für viele Einwanderer, insbesondere jedoch für die secondgeneration-immigrants charakteristischen Situation lassen sich zwei Verhaltensweisen idealtypisch einander gegenüberstellen.100 Die erste kennzeichnet jenen Typus des Neubürgers bzw. Einwanderers, der, gerade aufgrund des Drucks zur Konformität, die Merkmale betont, die ihn vom Etablierten unterscheiden. Die zweite Verhaltensweise ist jenem Typus eigen, der die „alte“ Identität so rasch als möglich ablegen, sich anpassen und vom Außenseiter selbst zum Etablierten werden möchte.101 100 Vgl. Robert MICHELS, Materialien zu einer Soziologie des Fremden, in: Jahrbuch für Soziologie. Eine internationale Sammlung 1 (1925), S. 296317, hier S. 310-311. 101 Ebenda, hier S. 310-311. „Die einen stellen sich im Gegensatz zum Gesetz der Absorptionskraft des Milieus. Laut betonen sie ihre Heteregonie [sic]. Sie führen ein Eigenleben in ostentativer Absonderung. Sie betonen ihre tatsächliche oder angebliche Überlegenheit. Sie scheinen von dem festen Willen geleitet, den Einflüssen ihrer Umgebung Widerstand zu leisten.
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Im Rahmen dieser idealtypischen Gegenüberstellung entspricht das Psychogramm vieler prominenter Vertreter der nordamerikanischen Kulturanthropologie eher dem ersten Typus. Innerhalb der eigenen Gesellschaft erinnert er an den Simmelschen Fremden, nicht gemeint „als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“.102 In der Neuen Welt legt dieser Vertreter der Cultural Anthropology seine „alte“ Identität nicht ab, er möchte oder kann die letzte Sprosse der amerikanischen Leiter nicht erklimmen, er möchte oder kann sich nicht anpassen, er stürzt sich nicht in den assimilierenden melting pot, um als „neuer Mensch“ wieder aufzutauchen. Aufgrund seiner eigenen sozialen Positionierung am Rande der mainstream-Gesellschaft betont er die Vielfalt historischer Individualitäten, die Besonderheit der eigenen Kultur, aber auch die Besonderheiten der anderen Kulturen. Hierdurch wird der Kulturrelativist gleichsam zum Verbündeten des fernen Fremden. Weder er selbst noch der Fremde verkörpert das Gestern, eine Vorstufe zur Neuen Welt. Weder er noch der Fremde ist auf halbem Wege stehen geblieben. Die USA oder genauer: die Vertreter der amerikanischen mainstream-Gesellschaft sind nicht die Pioniere und Vorboten einer im Entstehen begriffenen Weltkultur, einer One World; die Gegenwart der USA ist nicht die Zukunft der Menschheit. Nur am Rande sei hier bemerkt, daß es der der Boas-Schule nahe stehende Intellektuelle und schlesisch-jüdische Einwanderer Horace M. Kallen war, der zu einem der herausragenden Kritiker des amerikanischen melting pot avancieren, den Begriff des cultural pluralism in die sozialwissenschaftliche Literatur einführen und die Unauslöschlichkeit der sich aus der Tradi-
[…] [D]er zweite Typus [ist] bestrebt, die alte Nationalität so schnell und restlos wie nur möglich abzustreifen und völlig in der Wohnnationalität aufzugehen. Er richtet seinen Verkehr ausschließlich auf Landeskinder, mit denen er auch seine Nachkommen zu verheiraten sucht und scheut, da er wünscht, seine Herkunft möglichst schnell vergessen zu machen, jede Verbindung mit allem, was an die alten Zeiten mahnen könnte.“ 102 Georg SIMMEL, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (= Simmel Gesamtausgabe 11), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 764. Ausgehend vom Simmelschen Fremden und dem Parkschen marginal man hat Stagl ein Psychogramm des Ethnographen skizziert. STAGL Justin, Kulturanthropologie und Gesellschaft: Wege zu einer Wissenschaft, München: List 1974, S. 65-96. Wie aus meinen Ausführungen hervorgeht, erscheint mir diese Skizze nur auf einen ganz bestimmten Typus des ethnologischen Forschers anwendbar. Im Rahmen der Cultural Anthropology scheint mir dieses Psychogramm auf die oben genannten Wissenschaftler zuzutreffen. Wie später noch ausgeführt werden soll, spiegelt sich etwa in Margaret Meads Fortschrittskritik ihre Zugehörigkeit zur mainstream-Gesellschaft. Sie ist eher eine immer wieder nach Hause zurückkehrende bewußte „Aussteigerin“ als eine „Außenseiterin“.
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tion speisenden „selfhood“ postulieren sollte. „Men“, so Kallen in seinem berühmten Aufsatz „Democracy versus the Melting-Pot“ (1915), may change their clothes, their politics, their wives, their religions, their philosophies, to a greater or lesser extent: they cannot change their grandfathers. Jews or Poles or Anglo-Saxons, in order to cease being Jews or Poles or Anglo-Saxons, would have to cease to be. The selfhood which is inalienable in them, and for th [sic] realization of which they require ,inalienable‘ liberty, is ancestrally determined, and the happiness which they pursue has its form implied in ancestral endowment. This is what, actually, democracy in operation assumes.103
Ehe wir uns ausführlich mit der Lebensgeschichte von Franz Boas befassen, sollen als Einstimmung knappe biographische Hinweise zu einigen seiner Schüler gegeben werden, um Boas nicht als „biographischen Sonderfall“ erscheinen zu lassen.104 Alfred L. Kroeber (1876-1960) wurde in 103 Horace M. KALLEN, Democracy versus the Melting-Pot: A Study of American Nationality (1915), in: Werner SOLLORS (Hg.), Theories of Ethnicity: A Classical Reader, Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Macmillan 1996, S. 67-92, hier S. 91. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen meinte Kallen, daß die räumliche Nähe von Angehörigen unterschiedlicher ethnisch-kultureller Gruppen in Großstädten nicht zu einem allmählichen Verschwinden, sondern zu einem stärkeren Bewußtwerden der Unterschiede beitrage. „The fact is that similarity of class rests upon no inevitable external condition, while similarity of nationality is inevitably intrinsic. Hence the poor of two different peoples tend to be less likeminded than the poor and the rich of the same people. At his core no human being, even in ,a state of nature,‘ is a mere mathematical unit of action like the ,economic man.‘ Behind him in time and tremendously in him in quality are his ancestors; around him in space are his relatives and kin, looking back with him to a remoter common ancestry. In all these he lives and moves and has his being. They constitute his, literally, natio, and in Europe every inch of his non-human environment wears the effects of their action upon it and breathes their spirit. The America he comes to, beside Europe, is nature virgin and inviolate: it does not guide him with ancestral blazings: externally he is cut off from the past. Not so internally: whatever else he changes, he cannot change his grandfather. Moreover he comes rarely alone; he comes companied with his fellow nationals; and he comes to no strangers, but to a kin and friend who have gone before. If he is able to excel, he soon achieves a local habitation. There he encounters the native American to whom he is a Dutchman, a Frenchy, a Mick, a wop, a dago, a hunky, or a sheeny, and he encounters these others who are unlike him, dealing with him as a lower and outlandish creature. Then, be he even the rudest and primeval peasant, heretofore totally unconscious of his nationality, of his categorical difference from other men, he must inevitably become conscious of it. Thus, in our industrial and congested towns where there are real and large contacts between immigrant nationalities the first effect appears to be an intensification of spiritual dissimilarities, always to the disadvantage of the dissimilarities.“ Ebenda, S. 78-79. 104 Vgl. zum folgenden Bernd WEILER, Die Kulturanthropologie von Franz Boas im ideengeschichtlichen und wissenssoziologischen Kontext. Soziologische Diplomarbeit, Graz 1997.
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der Hafenstadt Hoboken, New Jersey, geboren und kam in jungen Jahren nach New York. Sein Vater war der Sohn eines aus Köln emigrierten Protestanten, seine Mutter entstammte einer deutschamerikanischen Familie.105 Kroebers Familie verkehrte in den deutschamerikanischen Zirkeln von New York. Zu Hause wurde deutsch gesprochen. Als Kind sollte Kroeber von Dr. Bamberger, einem deutschen Privatlehrer, der später in Chicago die Ethical Culture Society mitbegründen sollte, unterrichtet werden. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr, dem Zeitpunkt als er an der Columbia University immatrikulierte, besuchte Kroeber das deutschsprachige humanistische Gymnasium von New York. Edward Sapir (18841937) wurde in Lauenburg in Pommern geboren und kam im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern nach New York, wo er in jüdisch-orthodoxem Glauben erzogen wurde. Seine Ausbildung erhielt er in den USA und in Deutschland. Während seiner Zeit als graduate student der Germanistik an der Columbia University kam er mit Boas in Kontakt.106 Aus einer jüdischen Familie stammte auch der in Wien geborene Robert H. Lowie (1883-1957). Seine Mutter war Österreicherin, sein Vater Ungar. Im Alter von zehn Jahren kam Lowie nach New York, wo er wie Sapir und Kroeber in den deutschsprachigen Zirkeln der Stadt aufwuchs. In einem Nachruf schildert der aus einer deutsch-russischen Familie stammende Paul Radin, Sohn eines emigrierten Rabbiners und ebenfalls ein Schüler von Boas, das geistige Ambiente, in dem Lowie groß wurde, wie folgt: The atmosphere in which he was raised was a completely German one. All his parent’s friends were Austrians, mainly Viennese, and Viennese German was the only language spoken at home. To all intents and purposes, the United States was a foreign and somewhat shadowy land, with which one came into contact when leaving the house and with which one lost contact when reentering it.107
Als Radin im Jahr 1896 den dreizehnjährigen Lowie kennen lernte, rezitierte dieser für ihn aus Klopstocks „Messias“. Bei seiner letzten Begegnung, im September 1957, zwei Wochen vor Lowies Tod, sollten die beiden amerikanischen Kulturanthropologen über Anzengrubers „Meineidsbauern“ diskutieren.108 Seine wahre Liebe, so Lowie in seiner Autobiographie, habe immer der deutschen Literatur gegolten, 105 Julian H. STEWARD, Obituary: Alfred Louis Kroeber, 1876-1960, in: American Anthropologist 63 (1961), S. 1038-1060, hier S. 1039-1041. 106 Klaus-Peter KOEPPING, Edward Sapir (1884-1939) und Benjamin Lee Whorf (1897-1941), in: Wolfgang MARSCHALL (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie: Von Montaigne bis Margaret Mead, München: C. H. Beck 1990, S. 1998-225, hier S. 202. 107 Paul RADIN, [Obituary:] Robert H. Lowie, 1883-1957, in: American Anthropologist 60 (1958), S. 358-361. 108 Ebenda, S. 359. Die deutschamerikanische Kultur, so Radin in seinem Nachruf, „with its broad and variegated interests, its customs, its formalities, its virtues, and its idiosyncrasies, he [Lowie; B. W.] was never to give
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in which I read avidly and widely – the classical writers, the Austrians – especially Rosegger, Nestroy, and Grillparzer – and modern authors, such as Stefan Zweig or Thomas Mann. I still keep a copy of Faust on my bedtable and dip into it when I cannot sleep. In my leisure I am still un-Americanized.109
Explizit bezeichnete sich Lowie in seiner postum erschienenen Autobiographie als „marginal man“, skizzierte seine gesellschaftliche Außenseiterposition und schilderte, wie der große amerikanische Schmelztiegel in seinem Falle versagt hatte. Schließen wir diese Hinweise auf die spezifischen Enkulturationsbedingungen und die soziale Positionierung einiger herausragender Vertreter der Cultural Anthropology mit einer längeren Passage aus dieser Autobiographie: The language spoken […] [at home] was exclusively German, except as I might exchange a few words with my younger sister who became Americanized sooner and much more thoroughly than I. As a result, after my marriage, my wife had to teach me the English names of the simplest household objects. For example, the only word I knew for „saucepan“ was the Austrian „Reindl“, and one morning, when the faucer in my bathroom would not quite turn off, I had to take a surreptitious peep into the German-American half of the dictionary to determine the proper word for „Wasserhahn“, in order to tell my wife what was amiss. In German I use spontaneously the many idiomatic expressions that one picks up in childhood but is rarely if ever taught. It is precisely this natural phraseology that is lacking in my English. Any good observer who has heard me speak both languages can note the difference, although I speak both languages without error. It is, of course, true that a bilingual person enjoys certain advantages, but he also suffers from handicaps. As my wife has often spontaneously noted, after I have up. The image of that culture – in many ways nostalgic and overidealized – always had a tremendous hold on him. How great that hold was is evidenced by the two books he wrote late in his career, The German People (1945) and Towards Understanding Germany (1954). He lived at all times in two cultures, a German-Austrian one and an American one. He spoke and wrote both languages perfectly. His knowledge of and affection for English literature was very great, yet he admitted to me once, not many years ago, that when he wished to be truly relaxed his instinct was to turn to Theodor Storm’s novelettes.“ 109 Robert H. LOWIE, Ethnologist. A personal record, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 1959, S. 170. Seine Frau, die Lowies Autobiographie herausgab, bemerkte in einer Fußnote zu dieser Stelle: „Whenever my husband had to wait a few minutes for me – which had happened often – he picked up, not a copy of Time or any of the hundreds of works in his professional library but some book from his grandfather’s collection of Goethe, Schiller, Lessing, von Humboldt, Herder or Wieland. These he read repeatedly. It is typical that on the last evening of his conscious life, as he waited for the doctor’s injection to take effect, he asked for his Faust, turned to a favorite passage, which he had read aloud to me every Easter morning for twenty-five years, and went into his last sleep to the accompaniment of the long-loved words: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche […].“
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been speaking German for a few hours, I become a different person, with different values and attitudes. It is the fate of the bilingual to be forever a split personality. However, there are compensations. The „marginal man“ starts with at least two modes of thinking and acting and is, therefore likely to be more perceptive of additional differences between groups than the average American who has had firsthand experience with only one mode.110
3.2 Biographisch-wissenssoziologische Überlegungen zum relativistischen und universalistischen Strang in der Lehre von Franz Boas111 3.2.1 Franz Boas in Deutschland Im Jahre 1938, vier Jahre vor seinem Tod, schrieb Franz Boas, daß seine geistige Entwicklung geprägt war durch ein „German home in which the ideals of the revolution of 1848 were a living force“.112 Der Vater, ein Kaufmann, war ein Liberaler, ohne sich jedoch für öffentliche Angelegenheiten zu engagieren. Seine idealistisch gesinnte Mutter verkehrte in ihrer Jugend in demokratischen Kreisen und hatte wesentlichen Anteil an der Gründung des Mindener Fröbel-Kindergartens, „devoted to science“.113 Seinen Eltern, so Boas, sei es gelungen, die „shackles of dogma“ zu durchbrechen. „My father had retained an emotional affection for the ceremonial of his parental home without allowing it to influence his intellectual freedom. Thus I was spared the struggle against religious dogma that besets the lives of so many young people.“114 Wie für weite Teile des assimilierten jüdischen Bürgertums kennzeichnend, sahen die Eltern von Franz Boas in der Erziehung ihrer Kinder ein zentrales Vehikel für die Integration in die deutsche Gesellschaft. Auf110 Ebenda, S.86. 111 Für die folgenden Ausführungen vgl. insbesondere Douglas COLE, Franz Boas: The Early Years, 1859 [sic]-1906, Seattle, Washington: University of Washington Press 1999 und ders., Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, in: Volker RODEKAMP (Hg.), Franz Boas, 1858-1942: Ein amerikanischer Anthropologe aus Minden (= Texte und Materialien aus dem Mindener Museum 11), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1994, S. 9-23; Ronald P. ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz Boas: Letters and Diaries of Franz Boas written on the Northwest Coast from 1886 to 1931, Chicago and London: The University of Chicago Press 1969. Leider war es mir nicht möglich, die umfangreiche Sammlung der Boas Papers der American Philosophical Society in Philadelphia selbst einzusehen. 112 Franz BOAS, An Anthropologist’s Credo, The Nation 147,9 (1938), S. 201-204, hier S. 201. 113 Ebenda. Vgl. die wohl ausführlichste und kenntnisreichste Biographie der ersten 48 Jahre des deutschamerikanischen Kulturanthropologen von Douglas COLE, Franz Boas: The Early Years, 1859 [sic]-1906, Seattle, Washington: University of Washington Press 1999, insbesondere S. 7-18. 114 BOAS, Anthropologist’s Credo, S. 201.
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gewachsen mit den Klassikern der deutschen Literatur und Musik verstand sich Boas sein gesamtes Leben als ein Vertreter des deutschen Sprach- und Kulturraumes und hatte, wie er in einem Brief an Friedrich Schmitt-Ott im Jahre 1933 meinte, ein „starkes Heimatgefühl“.115 Kindheit und Jugend von Boas fallen in die Zeit des nationalen Einigungsprozesses. Als Dreizehnjähriger erlebt er das Ende des deutsch-französischen Krieges und die Reichsgründung. In einem anläßlich seines Abiturs verfaßten Curriculum Vitae erinnert er sich, wie die damaligen Ereignisse „had gripped us Tertianer and we dreamed of all kinds of splendid deeds of war which we would have wanted to perform if we had been big“. Das neu gegründete Deutsche Reich „inspired us and increased our love for our fatherland and awoke our pride in it“.116 Die ersehnte Einigung, gekoppelt mit der im wilhelminischen Geschichtsbewußtsein mächtigen Erinnerung an eine Zeit der nationalen Schwäche, scheint auch für Boas ein entscheidendes Element gewesen zu sein, das seine Bindung an Deutschland stärkt. Als Student tritt Boas einer Burschenschaft bei, für ihn auch ein patriotisches Bekenntnis.117 Mehr als ein halbes Jahrhundert wird Boas mit seiner Bonner Burschenschaft Alemannia Kontakt pflegen, ehe er „im Zuge der Durchführung der Arierbestimmungen in den Studentenverbindungen“
115 Franz Boas an Schmitt-Ott, 2. Oktober 1933, zit. nach COLE, Franz Boas, S. 280. Im folgenden werde ich für Briefe von und an Franz Boas die Abkürzung FB gebrauchen. 116 Boas zit. nach COLE, Franz Boas, S. 21. 117 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Roland GIRTLER, Franz Boas: Burschenschafter und Schwiegersohn eines österreichischen Revolutionärs von 1848, in: Anthropos 96 (2001), S. 572-577; ferner Erich PÜSCHEL, Franz Boas (1858-1942), Amerikas großer Ethnologe als deutscher Student und Assistent. Zum 125. Geburtstag, in: Curare: Zeitschrift für Ethnomedizin und transkulturelle Psychiatrie 6,2 (1983), S. 81-84; Julia E. LISS, German Culture and Science in the Bildung of Franz Boas, in: George W. STOCKING (Hg.), Volksgeist as Method and Ethic: Essays on Boasian Ethnography and the German Ethnographical Tradition (= History of Anthropology 8), Madison, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 1996, S. 155-184, hier S. 167-170. Boas mußte – wie Michael Hacker anmerkt – zwar nach einer mißlungenen Säbelpartie im Jahre 1879 um seinen Austritt bitten, erhielt jedoch das Band im Jahre 1904 wieder verliehen. Vgl. hierzu Michael HACKER, Leserbrief: Boas war Bonner Alemanne, in: Burschenschaftliche Blätter 2/2000, S. 94-95, hier S. 94 [Der Leserbrief nimmt Stellung zu Roland GIRTLER, Franz Boas, der bedeutendste Völkerkundler der USA und Heidelberger Burschenschafter, in: Burschenschaftliche Blätter 2/99, S. 105-107]. Ich danke Herrn Roland Girtler und Herrn Michael Hacker, die mir einige Materialien über Boas’ Leben als Burschenschaftler zukommen ließen. Zur Rolle der Burschenschaften im deutschen Kaiserreich vgl. die Ausführungen von Norbert ELIAS, Studien über die Deutschen: Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21994, S. 61168.
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im Jahre 1935 sein Band zurückgibt.118 In seiner „jüdischen Abstammung“ sah er in seinem Leben niemals einen Widerspruch zu seiner Identität als Deutscher. Und doch wird Boas immer wieder von anderen an seine „Abstammung“ erinnert werden. Schon während seiner Zeit als Student und Burschenschafter ist Boas antisemitischen Schmähungen ausgesetzt. Er duelliert sich, trägt Schmisse davon, aber das ändert nichts an seinem patriotischen Bekenntnis.119 Später in seinem Leben wich Boas, wenn er auf 118 Michael HACKER, Franz Boas zum 60. Geburtstag: Bekannter Völkerkundler, aufrechter Burschenschafter und deutscher Patriot, in: Academicus, Wintersemester 2002/2003, S. 38-43, hier S. 42. Vgl. hierzu auch Roland GIRTLER, Franz Boas: Burschenschafter und Schwiegersohn eines österreichischen Revolutionärs von 1848, S. 576-577. Als Boas im Sommer 1929 Deutschland besuchte, nahm er auch am 85-Jahr-Jubiläum seiner Bonner Burschenschaft teil. Seiner Schülerin Ruth Benedict berichtete er hierüber in einem Brief vom August 1929: „It was a pleasure to meet after 50 years some of my student friends. There were at least 8 with whom I used to be very intimate. Can you imagine me wearing a red cap and a black, red and gold ribbon walking the streets with students and other old people adorned like myself?“ Im gleichen Brief schilderte er übrigens auch politische Einstellungen der jungen Leute wie: „It is the same in France and in Germany. The majority are violent nationalists, others extreme nationals. There is little heard from the unorganized middle group. It is sad but only too intelligible (that sounds very German; I mean easily understood). On account of the violence of the party feeling and the multiplicity of parties, based partly on economic, partly on religious and local lines they long for a strong discipline to which they are ready to submit. Fundamentally there are two opposed ideas: the need of social readjustment and the enthusiasm for a united nation. Everybody asks for ,unity‘ in all political affairs, but everybody means unity on the basis of his own views […].“ FB an Ruth Benedict, 21. August 1929, zit. nach: Margaret MEAD, An Anthropologist at Work. Writings of Ruth Benedict, London: Secker & Warburg 1959, S. 401-402. 119 In einem Brief aus dem Jahre 1880 mahnte ihn sein Vater zur Besonnenheit: „I know that you are very sensitive on this point, and it is easy for an attack to be made on you that you think you cannot avoid. I warn you, my dear son, to avoid such things. Ignore provocation, do not believe that you can improve the position of the Jews through your personal intervention.“ Meier Boas an FB, 17. November 1880, zit. nach COLE, Franz Boas, S. 59. In seiner Antwort schreibt Franz: „I remain unmolested since every student here knows that I would not be shy to defend my affairs with the sword“ und versprach „to remain distant from all occasions in which, as a Jew, I would be exposed to insult“. Franz Boas an Meier Boas, 18. November 1880, zit. nach COLE, Franz Boas, S. 59. Ob diese Worte auf seinen Vater eine beruhigende Wirkung gehabt haben, ist, wie Cole anmerkt, zu bezweifeln. In einem Brief aus dem nächsten Jahre warnte Boas seine Mutter, daß er wieder, diesmal allerdings zum letzten Mal, einige „Schmisse“, einen sogar auf der Nase, mit nach Hause bringe. „I hope you will not say too much about it, because with the damned Jew baiters this winter one could not survive without quarrel and fighting.“ FB an seine Mutter, 6. April 1881, zit. nach LISS, German Culture and Science in the Bildung of Franz Boas, S. 169. Wie Liss anmerkt, führte jedoch „Boas’ anger and resistance […] not […] to a heightened attachment to his own Jewishness.
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seine Narben angesprochen wurde, diesen Fragen aus und behauptete scherzhaft, er sei von Eisbären in der Arktis verwundet worden.120 Selbst das Aufkommen des Nationalsozialismus, der ihn zutiefst erschütterte, konnte seine Verbundenheit mit Deutschland nicht lösen. Im Gegenteil: Boas sah in dem Treiben des politischen Regimes nicht einen Ausdruck, sondern eine Perversion jener kulturellen Werte, denen er sich verpflichtet fühlte. Er bekämpfte den Nationalsozialismus in seiner Heimat unter Berufung auf die deutsche Kultur und verwehrte sich gegen die Zuschreibung einer jüdischen Identität durch den Antisemitismus. Am 27. März 1933, nur wenige Tage nach der Aufhebung des rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung im Rahmen des sogenannten „Ermächtigungsgesetzes“, schrieb Boas in einem offenen Brief an Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg: Der Antisemitismus ist ein Kapitel für sich. Auch hier nützt Leugnen nicht. Weiss ich nicht, dass tüchtige Männer, nur weil sie Juden sind, aus Amt und Stellung gejagt werden, weiss ich nicht, dass wehrlose Juden auf Schritt und Tritt gewärtig sein müssen, beleidigt zu werden, dass der Mund von Gift und Galle überläuft, wenn das Wort ‚Jude‘ genannt wird, habe ich nicht mit eigenen Ohren wieder und wieder gehört, ‚Juda‘ verrecke. Ich bin jüdischer Abstammung, aber im Fühlen und Denken bin ich Deutscher. Was verdanke ich meinem Elternhause? Pflichtgefühl, Treue, und den Drang die Wahrheit ehrlich zu suchen. Wenn dass eines Deutschen unwürdig ist, wenn Unfläterei, Gemeinheit, Unduldsamkeit, Ungerechtigkeit, Lüge heutzutage als deutsch angesehen werden, wer mag dann noch ein Deutscher sein? Ich habe mich immer mit Stolz einen Deutschen genannt, heute ist es fast so weit gekommen, dass ich sagen muß, ich schäme mich ein Deutscher zu sein. Glauben Sie, dass ich eine Flagge achten kann, deren Symbol für mich eine persönliche Beleidigung ist, die mich und meine Eltern zu beschmutzen sucht? Und trotz alledem kann ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Zeiterscheinungen Fiebersysteme eines kranken Volkskörpers sind, der, obwohl aufs tiefste verwundet, genesen wird, dass eine Zeit kommen wird, in der das Deutschland, das ich kenne und liebe, wieder entstehen wird. Möchte der Tag der Gesundung bald kommen!121 Instead, he seems to have been aware of his ethnicity only as a result of external designation rather than through any subjective identity. For this reason, his experience contributed to what might seem a paradoxical orientation: he grew increasingly impatient with prejudice, especially that deriving from generalizations about racial or physical characteristics, while at the same time trying to prove himself as part of the mainstream culture.“ Ebenda. 120 Vgl. Alfred L. KROEBER, Franz Boas: The Man, in: ders. (Hg.), Franz Boas, 1858-1942, S. 5-26, hier S. 7. 121 Offener Brief vom 27. März 1933 von Franz Boas an Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, in: Malinowski-File, Temp. Number 510, London School of Economics, British Library of Political and Economic Science. Ich möchte mich bei der European Social Science Information Research
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Leonhard B. Glick hat meines Erachtens überzeugend dargelegt, daß, obgleich Boas sich zeitlebens als Deutscher verstand und bezeichnete, die „jüdische Abstammung“ für seine persönliche und wissenschaftliche Weltanschauung doch eine entscheidende Rolle spielte.122 Wie Boas in seiner oben erwähnten autobiographischen Skizze betont, hatten seine Eltern die Ketten des Dogmas bereits abgeschüttelt. Als einem Angehörigen der zweiten Generation des jüdisch assimilierten Bürgertums blieb ihm daher dieser „Kampf“ erspart. Für sein eigenes Leben sah Boas, der nicht konvertierte, den Prozeß des Aufgehens der jüdischen in der deutschen Identität als vollzogen an. Für andere Juden, so meinte er, sei diese Assimilation nur mehr eine Frage der Zeit. Die Identität einer Gruppe ist für Boas nicht etwas Starres und Unauslöschliches, nicht an die „Rasse“ gebunden, sondern die kollektive Identität verändert sich oftmals grundlegend. „Das Blut“ bedeutete ihm – um mit dem Völkerpsychologen Moritz Lazarus zu sprechen – „blutwenig“. Seine Großeltern waren fromme Juden, er ist Deutscher. Die Deutschen und die Juden seien eben nicht durch unüberwindliche Grenzen voneinander geschieden. Das Trennende des Partikularismus sei schwächer als das Verbindende des Universalismus. Dieses Gemeinsame sei das Fundament, das die vollkommene Anpassung und Assimilation der einen Gruppe an die andere ermögliche. Immer wird Boas, wie ich insbesondere in bezug auf seine Überlegungen zu den Schwarzen in den USA zu zeigen versucht habe, argumentieren, daß ethnisch-kulturelle Gruppen – vor allem benachteiligte Gruppen – aufsteigen, verschwinden und von der mainstream-Gesellschaft aufgesogen werden können. Dem „jüdischen Element“ kommt in der Lebensgeschichte von Franz Boas somit gerade durch seine Negation eine zentrale Bedeutung zu. Es fungiert als Beweis einer das Partikulare transzendierenden Einheit, nämlich daß – um mit Herder zu sprechen – das „Menschengeschlecht allenthalben ein Brudergeschlecht“ sei. Andererseits – und hierin besteht eine eigentümliche, sein Denken charakterisierende Spannung – wird Boas immer wieder die Individualität, die Eigenart, das Partikulare und Relative bestimmter Gruppen gegenüber einem alle Unterschiede negierenden Universalismus verteidigen. Speist sich der Universalismus seines Denkens, zumindest teilweise, aus seiner lebensgeschichtlichen Erfahrung des jüdischen Assimilationsprozesses seiner eigenen Familie, so scheint sich in Facility (EUSSIRF) bedanken, die es mir durch ein Stipendium im Frühjahr 2000 ermöglicht hat, Teile der Malinowski-Archivalien an der London School of Economics zu studieren. Ferner danke ich der Belegschaft des Archivs an der London School of Economics für ihre freundliche Unterstützung während meines Aufenthaltes. Der gesamte Brief von Boas an Hindenburg ist abgedruckt in RODEKAMP (Hg.), Franz Boas, 1858-1942, S. 92-95. 122 Leonhard B. GLICK, Types Distinct from Our Own: Franz Boas on Jewish Identity and Assimilation, in: American Anthropologist 84 (1982), S. 545565. Dieser Arbeit verdanke ich wichtige Einsichten hinsichtlich der Bedeutung des „jüdischen Elements“ im Leben von Franz Boas.
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diesem relativistischen Argumentationsstrang seine starke Identifikation mit der deutschen Kultur zu spiegeln. Die deutsche Kultur wird und soll nicht erlöschen, nicht in einer anderen aufgehen, nicht einem Universalismus geopfert werden, der sie ihres Eigenwerts beraubt.123 Sie soll erhalten bleiben. Dies gilt auch für die Kulturen anderer Gruppen, aber eben nicht für alle. Trotz seines Bekenntnisses zur deutschen Kultur reifte in Boas Anfang der 1880er Jahre der Entschluß heran, sein Heimatland zu verlassen und in die USA zu emigrieren. Es waren wohl mehrere Gründe und Motive, die hierbei eine Rolle gespielt haben.124 Nach Bismarcks konservativem Kurswechsel und seinem Bruch mit dem Bürgerliberalismus Ende der 1870er Jahre stand Boas der Politik seines Heimatlandes zusehends skeptisch gegenüber. Mit Sorge verfolgte er die Aufsplitterung und den Zerfall der liberalen Kräfte in seiner Heimat, die bei den Wahlen von 1884 rund ein Drittel ihrer Sitze einbüßten. Als einundzwanzigjähriger Student erlebt Boas den Beginn des Berliner Antisemitismusstreites. Der Historiker Heinrich von Treitschke erklärte, daß die Juden endlich Deutsche werden sollten, ein Ziel, mit dem Boas ja grundsätzlich übereingestimmt hätte. Aber die aggressive Art und Weise, wie Treitschke seine Forderungen erhob, seine Klage, daß die „Juden […] unser Unglück“ seien, seine Behauptung, daß die Aufgabe der Assimilation der Juden, insbesondere der osteuropäischen, „niemals ganz gelöst werden“ könne, da seit jeher „eine Kluft zwischen abendländischem und semitischem Wesen […] bestanden“ habe, daß es „immer Juden geben werde, die nichts sind als deutsch redende Orientalen“, daß „die laute Agitation des Augenblicks doch nur als eine brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element [erscheine], das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat“ – all das hatte nichts mit jenem Assimilationsprozeß gemein, den Boas für seine jüdisch-deutschen Mitbürger vorsah.125 Und Treitschke, der noch zwischen „guten“ und „schlechten“ Juden zu unterscheiden suchte, war bekanntlich nur die aka123 Trotz seines kulturrelativistischen Bekenntnisses scheint Boas vor allem in jungen Jahren ziemlich genaue Vorstellungen davon gehabt zu haben, was im Bereich der Moral und Kunst „gut“ und „schlecht“ ist. Um die Doktorwürde zu erlangen, mußte er, wie damals an der Universität in Kiel üblich, neben seiner Dissertation auch mehrere Thesen verteidigen. Die sechste dieser Thesen von Boas, der ein begeisterter Klavierspieler war, lautete: „Die moderne Operette ist vom Standpunkt der Kunst und Sittlichkeit gleich verwerflich.“ Franz BOAS, Beiträge zur Erkenntnis der Farbe des Wassers. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwürde unter Zustimmung der philosophischen Fakultät zu Kiel, Kiel: Schmidt & Klaunig 1881, o. S. 124 Zu den Motiven der Auswanderung vgl. insbesondere COLE, Franz Boas, S. 83-104. 125 Heinrich von TREITSCHKE, Unsere Aussichten (1879), in: Walter BOEHLICH (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1988 [1965], S. 7-14, hier S. 13-14.
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demische Speerspitze einer mit einer Gruppe antisemitischer Journalisten und dem Hofprediger Adolf Stöcker verbundenen Bewegung.126 Wieder „dünkten“ einigen fanatischen Edelgermanen die Juden als eine fremdartige und, wie Ludwig Börne schon sechs Jahrzehnte vor Treitschke mit der ihm eigenen schneidenden Schärfe bemerkte, eine „harte unverdauliche Speise“. Wieder gesellte sich zu dem Haß „allerlei theatralischer Spuk“. Wieder wollten einige in Deutschland „nur Deutsche, wie sie aus den Wäldern des Tacitus gekommen, mit rothen Haaren und hellblauen Augen“.127 Jüdische und nicht-jüdische Intellektuelle meldeten sich zu Wort und wiesen Treitschke zurecht. Im Leben von Franz Boas sollte der Antisemitismusstreit nicht nur die körperlichen Narben zurücklassen, die er sich in den Duellen zugezogen hatte. Als er rund zwanzig Jahre später in den Vereinigten Staaten die diskriminierende color line geißelte, welche die Schwarzen, aber auch die osteuropäischen Einwanderer, von einer Teilnahme an der mainstream-Gesellschaft ausschloß, wird er sich auch der Argumente der Kritiker Treitschkes bedienen, zum Teil sogar der gleichen Worte. Nicht nur die innenpolitischen Entwicklungen waren für Boas besorgniserregend, sondern er war auch über die Wende in der deutschen Außenpolitik bestürzt. Die englische Besetzung von Ägypten im Jahre 1882 hatte jenen kolonialen „Wettlauf“ um die Aufteilung Afrikas eingeleitet, bei dem auch Deutschland Anspruch auf – wie es Wilhelm II. einige Jahre später formulierte – „einen Platz in der Sonne erhob“. 1884 werden Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Togo, 1885 Deutsch-Ostafrika zu sogenannten „deutschen Schutzgebieten“ erklärt. In die gleiche Zeit fällt die deutsche Annexion einiger Inseln in der Südsee (Kaiser-WilhelmLand, Bismarck-Archipel usw.). Diese imperialistische Großmachtsucht der deutschen Außenpolitik, begleitet von einem nationalistischen Fieber, war Boas zuwider. Ganz Deutschland, so Boas in Briefen aus dem Jahre 1885, liege im Staub „before the brutal power of Bismarck“. Man höre von nichts anderem als von „the splendor of the German Empire and the advancement of national interests“. Er war entsetzt von der Einstellung, daß „thank God, we have overcome our old idealismus and now strive for national ideas“. Auch sein ehemaliger Lehrer Theobald Fischer sei der kolonialen Begeisterung erlegen. Alle redeten nur mehr vom „Deutschtum“, niemand von der „Menschlichkeit“.128 Zu dieser Abneigung gegenüber der 126 Vgl. hierzu Walter BOEHLICH, Nachwort, in: ders. (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 239-266; ferner Notker HAMMERSTEIN, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871-1999, Frankfurt a. M. und New York: Campus Verlag 1995. 127 Ludwig BÖRNE, Für die Juden (1819), in: ders., Gesammelte Schriften. Vollständige Ausgabe in drei Bänden, Erster Band, Leipzig: Philipp Reclam jun. o. J., S. 210-215, hier S. 214. 128 FB an Marie Krackowizer (2. und 10. April 1885) und Abraham Jacobi (20. April 1885) zit. nach COLE Franz Boas, S. 87.
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imperialistischen Politik Deutschlands gesellte sich die Anziehungskraft, welche die Vereinigten Staaten auf ihn auszuüben vermochten. „At the time of my arrival here“, so Franz Boas rückblickend im Jahre 1916, I was filled with admiration of American political ideals. While in Europe I had grown up under the pressure of national contentions and conflicts of interests that were difficult to harmonize. I had been taught to look upon the United States as the one country that had the good fortune to be free from the pressure produced by the great density of population, and that sought satisfaction in perfecting its inner development. I thought of it as a country that would not tolerate interference in the affairs of others, and would never become guilty of the oppression of unwilling subjects. Events like the great movement westward, and the Mexican war, appeared rather as digressions from the self-imposed path of selfrestraint.129
Zu diesen für Boas unerfreulichen politischen Entwicklungen gesellten sich berufliche und private Überlegungen, die seinen Wunsch, Deutschland zu verlassen, verstärkten. Nach Beendigung seiner Studien im Jahre 1881 – Boas dissertierte mit einer physikalischen Arbeit – verliebte er sich auf einer Harzreise in die gerade in Deutschland weilende Marie Krackowizer, die Tochter des aus Spital am Pyrhn in Oberösterreich stammenden Ernst Krackowizer (1821-1875), einem 1848er Revolutionär, der in die USA geflohenen war. Nach Ableistung eines einjährigen freiwilligen Militärdienstes entschließt sich Boas zu der im Prolog erwähnten Forschungsexpedition nach Baffinland im Norden der Hudson Bay. Es ist die Blütezeit der deutschen Polarforschung. Der Nationalstolz erweist sich für wissenschaftliche „Entdeckungsreisen“ als günstig. Vorrangiges Ziel von Boas ist es, die geographischen und anthropogeographischen Verhältnisse von Baffinland zu studieren. Intensiv bereitet er sich im Winter 1882/83 auf diese Reise vor. Ehe er jedoch im Sommer 1883 nach Baffinland aufbricht, fährt er zu Marie Krackowizer, die damals in Stuttgart eine Schule besuchte. „I could not bring myself to begin this trip“, schreibt Boas an seinen in den USA lebenden Onkel Abraham Jacobi, „without having spoken to her“.130 Bei ihrem Treffen reden Marie und Boas über alles, „except what we really thought“.131 In einem Brief gestand Boas Marie schließlich seine Liebe. Kurz bevor er im Juni 1883 an Bord der Germania Deutschland verläßt, verloben sie sich. Während seines einjährigen Forschungsaufenthaltes führt Boas für seine Verlobte jenes Brieftagebuch, aus dem ich eingangs
129 Franz BOAS, Social Justice – Individuals (1916), in: ders., Race and Democratic Society, New York: J. J. Augustin Publisher 1946, S. 168-171, hier S. 168. 130 Boas an Abraham Jacobi, 2. Mai 1883, zit. nach COLE, Franz Boas, S. 70. 131 Boas zit. nach COLE, Franz Boas, S. 70.
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zitiert habe.132 In diesem formuliert er am 22. Januar 1884 seine etwas vagen und idealistischen Zukunftsvorstellungen: Wird das Glück mir günstig sein, dass ich bald, bald die Erfüllung unserer sehnlichsten Wünsche erhoffen darf? Es ist nicht mein Wunsch, eine deutsche Professur zu erlangen, weil ich weiss, dass ich nicht auf meine Wissenschaft und den Lehrberuf, zu dem ich wenig Neigung habe, angewiesen bin. Viel lieber möchte ich in Amerika wohnen, um für die Ideen, in denen ich lebe, auch wirken zu können. Aber wie? das weiss ich nicht. Nun ich kann jetzt nichts dazu tun und muss geduldig warten, wie sich die Dinge gestalten werden, wenn ich zurückkomme. Und was ich will, wofür ich leben und sterben will, ist gleiches Recht für Alle, gleiche Möglichkeiten zu [arbeiten] und zu wirken für Arm und Reich! Glaubst Du nicht, dass, wenn man darin auch nur ein wenig gethan hat, das mehr ist, wie alle Wissenschaft zusammen? Und das wird mir in Deutschland wohl nie vergönnt sein.133
Nach seiner Reise in die Arktis bleibt Boas für sechs Monate in den Vereinigten Staaten. Seine Versuche, eine wissenschaftliche Anstellung zu finden, schlagen trotz der Unterstützung seines Onkels fehl. Seine Eltern in Deutschland mahnen ihn zur Rückkehr. „Boas bowed to his parents’ wishes – at least temporarily.“134 132 Vgl. Franz BOAS, Bei den Inuit in Baffinland 1883-1884. Tagebücher und Briefe. Bearbeitung, Einleitung und Kommentare von Ludger MüllerWille, Berlin: Reinhold Schletzer Verlag 1994. Sowohl in dem Brieftagebuch an Marie als auch in der Korrespondenz mit der Familie sind – wie der Herausgeber Müller-Wille anmerkt – „die Stellen ausgelassen worden, die persönliche Äußerungen und Liebesbezeigungen enthalten und die meines Erachtens wegen ihres intimen Charakters hier nicht veröffentlicht werden sollten.“ Ludger MÜLLER-WILLE, Einleitung, in: BOAS, Inuit in Baffinland, S. 1-24, hier S. 22. Zu den wissenschaftlichen Ergebnissen der Forschungsreise von Boas vgl. Ludger MÜLLER-WILLE, Franz Boas und seine Forschungen bei den Inuit: Beginn einer arktischen Ethnologie, in: Volker RODEKAMP (Hg.), Franz Boas, 1858-1942, S. 25-38; Eric A. SMITH, Approaches to Inuit Sociology, Études/Inuit Studies 8,1 (1984), S. 65-87; Carol K. KNÖTSCH, Franz Boas als teilnehmender Beobachter in der Arktis, in: Michael DÜRR, Erich KASTEN, Egon RENNER (Hg.), Franz Boas, S. 57-78; Douglas COLE, Ludger MÜLLER-WILLE, Franz Boas’ Expedition to Arctic Island, 1883-1884, in: Études/Inuit Studies 8,1 (1984), S. 37-63. Eine kurze, mit Einleitung versehene Fassung des Brieftagebuchs bietet Ludger MÜLLER-WILLE, Franz Boas: Auszüge aus seinem Baffin-Tagebuch, 1883-1884 (19. September bis 15. Oktober 1883), in: DÜRR, KASTEN, RENNER (Hg.), Franz Boas, S. 39-56. Für eine gekürzte englische, mit Einleitung versehene Übersetzung des Brieftagebuchs siehe Douglas COLE, The Value of a Person lies in his „Herzensbildung“: Franz Boas’ Baffin Island Letter-Diary, 1883-1884, in: George W. STOCKING (Hg.), Observers Observed: Essays on Ethnographic Fieldwork (= History of Anthropology 1), Madison, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 1983 , S. 13-52. 133 BOAS, Inuit in Baffinland, S. 175-176. 134 COLE, Franz Boas, S. 85.
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Im Frühjahr 1885 kehrt er nach Deutschland zurück. Seine Forschungsergebnisse stoßen auf Anerkennung, aber auch zu Hause stehen die Aussichten auf eine Anstellung ungünstig. Schließlich holt ihn Adolf Bastian als Assistenten an das Berliner Museum für Völkerkunde. Ein Kollege von Boas am Berliner Museum ist der Österreicher Felix von Luschan. In diese Zeit fällt auch der für seine geistige Entwicklung so wichtige persönliche Kontakt mit Rudolf Virchow. Im Jahr 1885 besucht eine Gruppe von Bella Coola Indianern aus Britisch Kolumbien das Museum.135 Boas beginnt sich intensiv mit den Kulturen der pazifischen Nordwestküste auseinanderzusetzen, nicht zuletzt deshalb, weil er hofft, diese Studien könnten seine Aussichten auf eine Anstellung in den USA vergrößern.136 Im gleichen Jahre veröffentlicht er in Petermanns Mitteilungen seine Studie über Baffinland.137 Im nächsten Jahr habilitiert er sich auf Grundlage dieser Arbeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten, in Berlin und wird Privatdozent für Geographie. Doch Boas will nicht länger in Deutschland bleiben. Seinen Eltern gegenüber verwies er vor allem darauf, daß für ihn die beruflichen Aussichten in den USA besser seien. Im Sommer 1886 besucht er erneut die USA, trifft seine Verlobte und knüpft weitere wissenschaftliche Kontakte. Im Herbst 1886 sagt er seine für das nächste Jahr bereits angekündigten Vorlesungen in Berlin ab, reist nach Britisch Kolumbien und führt seine ersten Feldforschungen an der nordwestpazifischen Küste durch.138 Boas befaßt sich mit der Sprache und Kultur der „Indianerstämme“, nimmt anthropometrische Messungen vor und schändet hierfür, im Namen der heiligen Wissenschaft, einige Gräber.139 Seine Ergebnisse veröffentlicht Boas 135 Als Einführung in die ethnographischen Forschungen über die nordwestpazifische Küste von Boas, seinen Schülern (Lowie, Sapir usw.) sowie von seinen Kritikern vgl. insbesondere die Sammlung von Originaltexten von Tom MCFEAR (Hg.), Indians of the North West Coast: Studies in Selected Topics. [Mit Einleitung von T. McFear] (= Carleton Library Series 25), Ottawa: Carleton University Press 1992 [1978]; ferner Erich KASTEN, Masken, Mythen und Indianer: Franz Boas’ Ethnographie und Museumsmethode, in: DÜRR, KASTEN, RENNER (Hg.), Franz Boas, S. 79-102. 136 Seiner Verlobten verspricht Boas: „I will do everything to force the people over there to recognize me.“ Boas verfaßt einen Aufsatz über die „Indianerstämme“ und schickt diesen an die amerikanische Zeitschrift Science. „Who knows“, schreibt Boas an Marie, „if this work will be decisive for America!“ FB an Marie Krackowizer, 28. Februar und 1. Februar 1886, zit. nach COLE, Franz Boas, S. 97. 137 Franz BOAS, Baffin Land. Geographische Ergebnisse einer in den Jahren 1883 und 1884 ausgeführten Forschungsreise, in: Ergänzungsband 17, Ergänzungsheft 80, Petermanns Mitteilungen 80 (1885), S. 1-100. 138 Vgl. Ronald P. ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz Boas: Letters and Diaries of Franz Boas written on the Northwest Coast from 1886 to 1931, Chicago and London: The University of Chicago Press 1969. 139 „The Indians always try to bluff strangers with their impudence. Nowhere have I had such trouble as here. There is supposed to be an old cemetery up here. I shall go there tomorrow and try to get some skulls.“ FB an seine Eltern, 8. November 1886, in: ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz
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sowohl in amerikanischen als auch in deutschen Zeitschriften.140 In diesen kurzen Aufsätzen beklagte er wiederholt den Untergang der alten Kultur und verwies auch darauf, daß „Völker verschiedenartiger Abstammung und Sprache von Oregon bis Alaska an dieser Kultur teilnehmen“.141 Es ist dies wohl eine seiner frühesten Formulierungen der berühmten, sein Lebenswerk durchziehenden These, daß die Kategorien „Rasse, Sprache und Kultur“ nicht zusammenfielen und im Rahmen anthropologischer Forschung stets getrennt untersucht werden müßten.142
Boas, S. 55. Auch während seiner nächsten Reise wird Boas zu diesem Mittel greifen, um wertvolles anthropologisches Material zu beschaffen: „[B]y appointment, Mr. Hastings, the photographer, came to show me a place where there are Indian skulls. […] We discovered that someone had stolen all the skulls, but we found a complete skeleton without head. I hope to get another one either today or tomorrow. […] It is most unpleasant work to steal bones from a grave, but what is the use, someone has to do it. I have carefully locked the skeleton into my trunk until I can pack it away. I hope to get a great deal of anthropological material here.“ FB, Diary, 6. Juni 1888, in: ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz Boas, S. 88. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rolle von Franz Boas in der erschütternden Geschichte über den New Yorker „Eskimo“ Minik, der um die Jahrhundertwende gemeinsam mit seinem Vater und einer Gruppe anderer Inuit als „Studienobjekt“ vom Nordpolforscher Commander Robert Peary nach New York gebracht wurde. Nach dem frühzeitigen Tod von Miniks Vater inszenierten die Anthropologen des American Museum of Natural History ein „fake burial“. Der Leichnam wurde nicht, wie vorgetäuscht, begraben, sondern kam ins Museum. Das Gehirn bekamen die Anatomen. Als die Affäre später aufgedeckt wurde, sollte Boas das Vorgehen des Museums verteidigen. Ziel des Begräbnisses, so Boas gegenüber der Zeitung Evening Mail am 24. April 1909, sei es gewesen, „to appease the boy, and keep him from discovering that his father’s body had been chopped up and the bones placed in the collection of the institution.“ Er sehe hierin „nothing particularly deserving of criticism.“ Die anderen „Eskimos“, die zu dem Zeitpunkt noch lebten, „were not very well, and then there was Minik, and of course it was only reasonable to spare them the shock or uneasiness. The burial accomplished that purpose I suppose.“ Kevin HARPER, Give Me My Father’s Body: The Life of Minik, The New York Eskimo, London: Profile Books 2001 [1986], S. 88. In seinem Beitrag hat der Reporter die inhaltliche Position von Boas wahrscheinlich korrekt wiedergeben. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß er diese Worte verwendet hat. 140 Vor allem in Science, Bulletin of the American Geographical Society, Proceedings of the American-Philosophical Society, Globus, Zeitschrift für Ethnologie, Petermanns Mitteilungen usw. Vgl. hierzu ANDREWS H. A. et al., Bibliography of Franz Boas, in: Alfred L. KROEBER (Hg.), Franz Boas, 1858-1942, American Anthropological Association, Memoir Nr. 61, Bd. 45, Nr. 3, Teil 2, San Francisco, Cal.: Howard Chandler 1943, S. 67109, hier S. 69-71. 141 Franz BOAS, Zur Ethnologie Britisch-Kolumbiens, in: Petermanns Mitteilungen 33 (1887), S. 129-133 [sowie Karten], hier S. 129. 142 Siehe in diesem Zusammenhang auch Franz BOAS, Die VancouverStämme, in: Zeitschrift für Ethnologie: Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 19 (1887), S. 64-66.
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Blenden wir kurz zurück zum Antisemitismusstreit, in dem Lazarus in seinem in Berlin gehaltenen Vortrag „Was ist national?“ am 2. Dezember 1879 Treitschke heftig kritisiert und „mit wissenschaftlichen Gründen das irrige und nichtige Vorurtheil bekämpft [hatte], als ob die deutschen Juden von der Gesammtheit des deutschen Volkes wie eine nationale Besonderheit verschieden wären“. Er habe, so Lazarus, „auf’s Strengste zu beweisen gesucht, daß wir Juden trotz unserer Abstammung zur deutschen Nation gehören, National-Deutsche sind“.143 Kurz vor Weihnachten 1886 kehrt Boas von Britisch Kolumbien nach New York zurück. Noch im November hatte er seinen Eltern die Ankündigungen für seine Vorlesungen in Berlin für das nächste Jahr geschickt.144 Doch er kam nicht mehr nach Deutschland zurück. Unerwartet erhält er ein Angebot als Mitherausgeber der in New York wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Science. Im Januar 1887 sendet er ein Telegramm an seine Eltern, in dem er ihnen seine Emigration mitteilt.145 Im März heiratet er Marie Krackowizer. In Briefen und Gesprächen aus dieser Zeit führt er für seine Entscheidung politische und berufliche Gründe an. Rückblickend, im Alter von 72 Jahren, schrieb er an seine Schwester über die Gründe, die ihn veranlaßten, Deutschland zu verlassen: You asked me the other day why I wanted to leave Germany in 1885 [sic]. The main reason was probably that I saw no future there and that I wanted to get married. But there was more behind it. The anti-Semitism during my university years, the intrigues in Berlin when I wanted to habilitate myself, and the idea that America was politically an ideal country seem to have been the main motives. The draft probably also had a part in it.146 143 Moritz LAZARUS, An die deutschen Juden. Berlin, Verlag von Walther & Apolant 1887, S. 3. Nur um hier keine Verwirrung aufkommen zu lassen, sei folgendes klargestellt: Im Vortrag von 1887 bezieht sich Lazarus auf seine Ausführungen aus dem Jahr 1879. Das Argument von Lazarus, daß eine Nation ein ethnisch gemischtes Gebilde darstelle, durchzieht die Kritik an Treitschke im Antisemitismusstreit. Siehe etwa auch Manuel JOËL, Offener Brief an Herrn Professor Heinrich von Treitschke (1879), in: BOEHLICH (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 15-27, hier S. 22: „Baut sich denn eine heutige, eine moderne Nationalität aus lauter Menschen von gleicher Abstammung auf? Wollen Sie jedem Deutschen das Bürgerrecht versagen, dessen Backenknochen bezeugen, daß er von Mongolen stammt? Sind die Engländer keine große Nation, weil sie ein Mischvolk sind, ja sind sie nicht vielleicht gerade darum eine so große Nation?“ 144 FB an seine Eltern, 18. November 1886 in: ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz Boas, S. 61. 145 Vgl. COLE, Franz Boas, S. 104. 146 FB an Toni Wohlauer, 8. Dezember 1930 in: ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz Boas, S. 295-296. Wie viele andere fürchtete wahrscheinlich auch der wehrdienstpflichtige Boas im Jahre 1885/86, Deutschland könnte in einen Zweifrontenkrieg mit Rußland und Frankreich, wo sich nach dem Wahlerfolg der monarchistischen Kräfte um Kriegsminister Boulanger, den „Général Revanche“, eine nationalistische Bewegung formiert
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3.2.2 „Removing the Hyphen: Now it Must be Either One or the Other“147: Franz Boas und die Vereinigten Staaten von Amerika zur Zeit des Ersten Weltkrieges Am Beginn ihrer Ehe leben Franz Boas und seine Frau in New York. Im Jahr 1888 erhält Boas seine erste akademische Anstellung als Dozent an der Clark University in Worcester. Nach Streitigkeiten mit der Universitätsadministration verläßt er vier Jahre später die Clark University. Es folgen einige schwierige Wanderjahre, getrübt von Zukunftssorgen, beruflicher Unsicherheit und dem Tod einer Tochter. Während dieser Zeit ist Boas unter anderem als Assistent der anthropologischen Abteilung der Chicagoer Weltausstellung tätig, setzt – hierbei vor allem im Dienste der British Association for the Advancement of Science – seine Feldforschungen an der nordwestpazifischen Küste fort und arbeitet für das National Museum in Washington, D.C. Mehrmals reisen Boas und seine Frau in diesen Jahren auch nach Deutschland, um ihre Familien, Freunde und Kollegen zu besuchen. Zu Jahresbeginn 1896 erhält Boas eine Stelle als Kurator am American Museum of Natural History in New York. Im gleichen Jahr wird er Lektor für physische Anthropologie an der Columbia University. Drei Jahre später wird er an dieser Universität auf den Lehrstuhl für Anthropologie berufen. Diesen hatte er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1936/37 inne. Als Franz Boas in den 1880er Jahren in die Vereinigten Staaten emigrierte, befand sich die deutsche Einwanderungswelle auf ihrem historischen Höhepunkt. Zwischen 1881 und 1892 kamen rund 1,7 Millionen
hatte, verwickelt werden. Vgl. hierzu Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München: Verlag C. H. Beck 1998, S. 455. 147 Der Satz „Removing the Hyphen: Now it Must Be Either One or the Other“ findet sich auf einem amerikanischen Plakat aus dem Jahr 1915. Das Plakat zeigt mehrere im Meer schwimmende Leichen. Aus dem Wasser ragt ein riesiger Unteram. Auf diesem steht Lusitania. Die Hand packt und reißt den Bindestrich zwischen German-American weg. Siehe Monika BLASCHKE, ,Deutsch-Amerika‘ in Bedrängnis: Krise und Verfall einer ‚Bindestrichkultur‘, in: Klaus J. BADE (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München: C. H. Beck 1993, S. 170-179, hier S. 178. Zur Geschichte der Deutschamerikaner vgl. insbesondere die Studie von Frederick C. LUEBKE, Bonds of Loyalty: German Americans and World War I, De Kalb, Ill.: Northern Illinois University Press 1974. Zur Geschichte der deutschen New Yorker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe die detaillierte Untersuchung von Stanley NADEL, Little Germany: Ethnicity, Religion, and Class in New York City, 1845-1880, Urbana-Chicago: University of Illinois Press 1990; ferner John HIGHAM, Strangers in the Land: Patterns of American Nativism 1860-1925, New Brunswick-London: Rutgers University Press 21988, S. 194-222.
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Deutsche in die USA.148 1882, im Rekordjahr, waren es allein 250.600 Menschen, die von Deutschland nach Amerika einwanderten.149 Um die Jahrhundertwende wohnten rund 2,5 Millionen Menschen in den USA, die in Deutschland geboren waren. Mit den Kindern der deutschen First Generation Immigrants stieg die Zahl der German-Americans auf über 8 Millionen. Die deutschen Immigranten, die rund 10 % der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten ausmachten, bildeten die größte nicht-englischsprachige Einwanderergruppe.150 Diese große Zahl an German-Americans ermöglichte im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert ein blühendes ethnic life, das sich in zahlreichen deutschen Sport- und Kulturorganisationen, in urbanen Wohnvierteln, die von der deutschen Kultur und Sprache geprägt waren, sowie in den rund 800 deutschen Tageszeitungen und Wochenschriften niederschlug.151 Insbesondere in New York war das deutsche Element stark vertreten. Zwischen 1855 und 1880 war New York nach Berlin und Wien die drittgrößte deutsche Stadt.152 Im Jahre 1871 wäre das als Kleindeutschland bzw. Little Germany bekannte Wohnviertel von New York, in dem zu diesem Zeitpunkt rund die Hälfte der deutschen New Yorker lebte, die fünftgrößte Stadt des neu gegründeten deutschen Kaiserreichs gewesen.153 Das gesellschaftliche Leben der Familie Boas war eng mit den aktiven deutschamerikanischen Zirkeln in New York verbunden, in denen auch Deutsche jüdischer „Abstammung“ in großer Zahl vertreten waren. Aus dem engeren Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis von Boas und seiner Frau seien im folgenden nur einige prominente deutschamerikanische Persönlichkeiten kurz vorgestellt. Maries Vater, den Boas nicht mehr kennen lernen sollte, war einer der führenden deutschamerikanischen Intellektuellen in New York gewesen. Er hatte das German Hospital in New York mitbegründet und sich in politischen Reformbewegungen engagiert, ehe er im Alter von nur 54 Jahren starb. Einer seiner besten Freunde und Kollegen war der ebenfalls in die USA geflohene 1848er Revolutionär Abraham Jacobi. Jacobi war mit einer Schwester von Boas’ Mutter verheiratet gewesen und hielt auch nach dem frühzeitigen Tod seiner Frau engen 148 Vgl. Frederick C. LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 45. 149 Vgl. Robert A. BURCHELL, Die Einwanderung nach Amerika im 19. und 20. Jahrhundert, in: Willi P. ADAMAS (Hg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika (= Fischer Weltgeschichte 30), Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 184-234, hier S. 191. 150 Die First und Second Generation Immigrants, deren Muttersprache in den allermeisten Fällen das Deutsche war, bildeten den Grundstock der German-Americans. Vgl. BLASCHKE, ,Deutsch-Amerika‘ in Bedrängnis, S. 176. 151 Vgl. hierzu LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 45. 152 NADEL, Little Germany, S. 1. 153 NADEL, Little Germany, S. 1. Vgl. auch Christiane HARZIG, Siedlungsschwerpunkte und Wegbereiter der Auswanderung, in: BADE (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, S. 157-170, hier S. 164-170.
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Kontakt zur Familie von Franz Boas. Als Mentor stand er Boas bei seiner Emigration und seiner Suche nach einer Anstellung zur Seite. Abraham Jacobi gilt als einer der Begründer der amerikanischen Pädiatrie. Er war Arzt am New Yorker German Hospital sowie am Mt. Sinai Hospital und lehrte am Medical College sowie am Columbia College of Physicians and Surgeons. Im Jahre 1912 wurde er zum Präsidenten der American Medical Association gewählt.154 Einer der engsten Freunde von Jacobi war Carl Schurz, der ebenfalls zu Beginn der 1850er Jahre in die USA geflohen war. Schurz war ein Mitstreiter und großer Bewunderer von Abraham Lincoln. Er war der wohl bekannteste deutschamerikanische Politiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.155 Alle drei genannten – Maries Vater, Abraham Jacobi und Karl Schurz – waren republikanisch gesinnt und entschiedene Gegner der Sklaverei. Enge Kontakte pflegten Franz und Marie auch zur Familie des ebenfalls emigrierten Chirurgen Willi Meyer, einem Cousin und Bundesbruder von Boas, und zum Sohn eines Rabbiners Felix Adler, der im Jahr 1876 die Society for Ethical Culture in New York ins Leben gerufen hatte. Adler wollte eine säkularisierte Ersatzreligion bzw. eine rationalistische Morallehre schaffen, die ohne Metaphysik und Theologie auskam.156 Einige Jahre später gründete er eine Schule, die auf diesen Prinzipien beruhte und die auch von einigen Kindern des Ehepaares Boas besucht wurde. Mit ihren Kindern sprachen Franz und Marie zu Hause ausschließlich deutsch. Wie bereits erwähnt, waren auch unter der ersten Studentengeneration von Franz Boas an der Columbia University viele Deutschamerikaner. Im Mittelpunkt des sozialen Lebens der Familie Boas stand der deutsche Gesellig-Wissenschaftliche Verein von New York.157 Kurz nach der Jahrhundertwende beteiligte sich Boas an der Gründung der Germanistic Society of America, deren Ziel es war, die „Kenntnis über die deutsche Kultur in Amerika und über die amerikanische Kultur in Deutschland“ zu fördern.158 Für beide Kulturvereine war Boas auch vorübergehend als Sekretär tätig. Für die Finanzierung der Forschungsprojekte von Boas erwie154 Vgl. hierzu NADEL, Little Germany, S. 102. In den 1850er Jahren, als Jacobi – übrigens nach einem Besuch bei Karl Marx in England – in die USA flüchtete, war rund ein Drittel der Ärzte von New York in Deutschland geboren und ausgebildet. Ebenda, S. 83. 155 Vgl. hierzu unter anderem Carl SCHURZ, Als Amerika noch jung war. Amerikanische Erinnerungen: Lebenserinnerungen aus den Jahren 18521869. Herausgegeben von Ernst L. Werther, Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt 1941; Joachim MAASS: Der unermüdliche Rebell: Leben, Taten und Vermächtnis des Carl Schurz. Mit einem Anhang: Carl Schurz über Abraham Lincoln, Hamburg: Claassen & Goverts 1949. 156 Vgl. hierzu Felix ADLER, Founding Address, May 15, 1876, New York Society for Ethical Culture. Siehe http://roots.ethicalmanifold.net/archives/ 000014.html#000014 (Zugriffsdatum 4. November 2003). 157 COLE, Franz Boas, S. 109 und 210. 158 COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 14.
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sen sich seine Kontakte zu Geschäftsleuten aus den deutschamerikanischen Kreisen als nützlich. Durch eine umfangreiche Korrespondenz und Reisen nach Deutschland konnte Boas die enge Verbindung mit seiner Heimat aufrechterhalten.159 Kurz vor der Jahrhundertwende erhielt er einen Ruf nach Wien, 1906 nach Berlin, zehn Jahre später nach München. Durch seine guten Kontakte mit der Berliner Universität gelang es Boas, in Zusammenarbeit mit amerikanischen Universitäten ein internationales archäologisches und anthropologisches Forschungszentrum in Mexiko zu etablieren.160 Franz Kerkhof, der als Stipendiat in den frühen 1930er Jahren mehrere Semester am Amherst College in Massachusetts studierte, schildert in seinen Erinnerungen den deutschamerikanischen Kreis in New York, dem Franz Boas angehörte: Nach meinen Notizen aus der damaligen Zeit fuhr ich am 17. Dezember 1932 zur Weihnachtskneipe der Vereinigung Alter Burschenschafter und Landsmannschafter in New York City. Es gab viel Bier (z. Z. der Prohibition) und Altes Haus Boas bezahlte alles, wenn er auch des schlechten Wetters wegen selbst nicht teilnahm […]. Es wurden deutsche Lieder gesungen, Reden gehalten und neue deutsche Witze erzählt […]. Am Sonntag darauf habe ich Boas in seinem Haus besucht und war tief beeindruckt, wie er – der schon vor vielen Jahren nach den USA immigriert war – in seinem Haus das Deutschtum bewahrte. Er reiste etwa jährlich nach Deutschland per Schiff […]. Er brachte seinen Enkeln regelmäßig deutsche Kinderbücher und deutsche Grammophonplatten mit und sang mit ihnen deutsche Lieder. Boas war in erster Linie ein Deutscher […].161
In der ersten Phase seiner Emigration scheinen sich für Boas kaum Spannungen aus seiner Bindestrichidentität als Deutschamerikaner ergeben zu haben. Dies sollte sich jedoch entscheidend ändern. „A rude awakening“, so Boas, came in 1898, when the aggressive imperialism of that period showed that the ideal [of political freedom and self-restraint; B. W.] had been a dream. Well I remember the heated discussions which I had that year with my friends when I maintained that control of colonies was opposed to the fundamental ideas of right held by the American people, and the profound disappointment that I felt when, at the end of the Spanish war, these ideals lay shattered. The America that had stood for right and right only, seemed dead; and in its place stood a young giant, eager to grow at the expense of others, and domineered by the same desire of aggrandizement that sways the narrowly confined European States. The hope that the United States would guide the world to a saner concept of national aspi159 Insbesondere im ersten Jahrzehnt seiner Emigration veröffentlichte Boas viele seiner Aufsätze auch in deutschsprachigen Fachzeitschriften. 160 Vgl. COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 12. 161 Franz Kerkhof zit. nach GIRTLER, Franz Boas, S. 575-576.
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rations seemed gone. What wonder if, during the period of ambitious attempts to extend our political power, many took the view that control of alien peoples is destructive to the principles on which our nation is founded, that we have a higher duty to ourselves than to those whom, flattering ourselves, we like to call the wards of the nation. I still admire the keen insight of Carl Schurz, who, when this question first came to the front, recognized the importance of this issue, and subordinated to it all other questions as momentarily of minor importance.162
Diese Worte, mit denen Boas die imperialistische Wende der amerikanischen Außenpolitik geißelte, schrieb er allerdings nicht zur Zeit des Spanisch-amerikanischen Krieges, sondern rückblickend, im Jahre 1916, unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges. Wie für viele andere GermanAmericans bedeutete auch für Franz Boas der Erste Weltkrieg einen entscheidenden Einschnitt in seine Bindestrich-Identität.163 Trotz Wilsons 162 Franz BOAS, Social Justice – Individuals (1916), S. 168-169. Carl Schurz galt als einer der prononciertesten Kritiker der amerikanischen Okkupation der Philippinen. Ein demokratisches System im eigenen Land, so der Kern der Argumentation von Schurz, sei mit einer autoritären und willkürlichen Herrschaftsausübung über eine unterjochte Bevölkerung in der Fremde unvereinbar. Die Unterdrückung führe notwendigerweise zu einer Demoralisierung, nicht nur der Beherrschten, sondern auch der Herrscher. Amerika sei in den Krieg mit Spanien im Namen der Freiheit und der Menschlichkeit eingetreten. Doch nun führten die USA einen „Eroberungskrieg“, „a land-grabbing foray“. Amerika werde vor der Welt stehen als ein „selfconvicted hypocrite. It will have verified all that has been said in this respect by its detractors. Nobody will ever trust its most solemn declarations or promises again. […] And what will become, with all this, of the responsibility of the American people for the maintenance of the ,government of the people, by the people, for the people,‘ and of our great progress of civilization by enhancing the prestige of democratic institutions? It will be only the old tale of a free people seduced by false ambitions and running headlong after riches and luxuries and military glory, and then down the fatal slope into vice, corruption, decay, and disgrace. The tale will be more ignominious and mournful this time, because the opportunities had been more magnificent, the fall more rapid, and the failure more shameful and discouraging than ever before in history.“ Carl SCHURZ, Thoughts on American Imperialism, in: The North American Review 56,5 (1898), S. 781788, hier S. 783. Der Text ist online abrufbar unter: http://cdl.library. cornell.edu/gifcache/moa/cent/cent0056/00791.TIF6.gif (Zugriffsdatum 31. Juli 2003). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik an der imperialistischen Politik der Vereinigten Staaten des „Sozialdarwinisten“ William G. SUMNER, The Conquest of the United States by Spain (1898), in: ders., War and Other Essays. Edited with Introduction by Albert G. Keller, New Haven: Yale University Press 1919, S. 297-334. 163 Zu Spannungen zwischen den Deutschamerikanern und der mainstreamGesellschaft war es bereits im Zuge der großen Einwanderungswelle in den 1880er Jahren gekommen. Damals waren deutsche Einwanderer maßgeblich an der Organisation der Arbeitsniederlegungen, der Acht-StundenProtest- und Streikbewegungen, beteiligt gewesen, die in der berühmten Haymarket-Affäre in Chicago im Mai 1886 gipfelten. Nachdem im Rahmen einer anarchistischen Kundgebung eine Bombe explodiert war und ein
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proklamierter Neutralitätspolitik „in thought as well as in deed“ waren die Sympathien weiter Teile der amerikanischen Öffentlichkeit von Beginn an eindeutig auf Seiten der Alliierten, die von Boas hingegen auf Seiten der Mittelmächte.164 Der Krieg mit Deutschland, so der Historiker John Higham, „called forth the most strenuous nationalism and the most pervasive nativism that the United States had ever known“.165 Die Tatsache, daß die GermanAmericans um die Jahrhundertwende eine relativ stark ausgeprägte ethnisch-kulturelle Identität entwickelt hatten, nicht zuletzt aufgrund ihrer Polizist getötet wurde, wurden sechs Einwanderer, darunter fünf Deutsche, und ein Amerikaner als geistige Anstifter des Bombenattentats zum Tod, ein weiterer Deutscher zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Die Beweislage war äußerst dürftig. Die Zeitungen schrieben damals, daß die „enemy forces are not American [but] rag-tag and bob-tail cutthroats of Belzebub from the Rhine, the Danube, the Vistula and the Elbe“. Zit. nach HIGHAM, Strangers in the Land, S. 54. Einige Jahre nach der HaymarketAffäre betonte Theodore Roosevelt die Wichtigkeit, aus den neu ins Land Kommenden „Amerikaner [zu] machen: in jeder Hinsicht; in der Sprache, in den politischen Anschauungen und Grundbegriffen, in ihrer Auffassung über das Verhältnis von Staat und Kirche“. Jeder Deutsche und jeder Ire sei „willkommen, der Amerikaner werden will, aber wir können keinen Fremdling gebrauchen, der nicht von seiner Nationalität lassen will. Wir brauchen keine Deutsch-Amerikaner und Irisch-Amerikaner, die eine besondere Schicht in unserm politischen und gesellschaftlichen Leben bilden wollen. Wir können nichts andres [sic] gebrauchen, als nur Amerikaner […].“ Theodore ROOSEVELT, Der wahre Amerikanismus (1894), in: ders., Amerikanismus: Schriften und Reden von Theodore Roosevelt. Ins Deutsche übertragen und mit einem Vorwort versehen von Dr. Paul Raché, Leipzig o. J., S. 15-28, hier S. 22. Das anti-hyphenism movement des Ersten Weltkrieges sollte an die Rhetorik und Argumente der 1880er und 1890er Jahre anschließen, jedoch in einer wesentlich aggressiveren Art und Weise. Auch um 1900 hatten der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands und die imperiale wilhelminische Politik, die den Interessen der USA im pazifischen Raum zuwiderlief, das Verhältnis zwischen den Deutschamerikanern und den Amerikanern getrübt. Trotz dieser Spannungen genossen die German-Americans um 1900 jedoch, vor allem verglichen mit den südund osteuropäischen Einwanderern, in den Augen der amerikanischen Bildungselite hohes Ansehen. Das deutsche Bildungswesen galt als vorbildlich. Die deutschen Universitäten, an denen viele Amerikaner vor dem Ersten Weltkrieg studierten, zählten zu den besten der Welt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die rhetorische Frage von Prescott Hall von der Immigration Restriction Society, ob die Amerikaner wollten, daß dieses Land „to be peopled by British, German, and Scandinavian stock, historically free, energetic, progressive, or by Slav, Italian, and Asiatic races, historically down-trodden, atavistic, and stagnant?“ Zit. nach LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 64. 164 Vgl. hierzu Alfred L. KROEBER, Boas, S. 19. Zu Boas und dem Ersten Weltkrieg siehe insbesondere den Abschnitt „Trial by War“ in dem Buch von Marshall HYATT, Franz Boas: Social Activist: The Dynamics of Ethnicity (= Contributions to the Study of Anthropology 6), New York et al.: Greenwood Press 1990, S. 123-141. 165 HIGHAM, Strangers in the Land, S. 195.
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numerischen Größe und des hohen Ansehens, das ihnen als Vertretern einer anerkannten „Kulturnation“ von Seiten der mainstream-Gesellschaft entgegengebracht wurde, sollte ihnen nun zum Verhängnis werden. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges sank die Toleranz der amerikanischen Gesellschaft gegenüber dem Sonderstatus der Bindestrich-Identitäten zusehends auf den Nullpunkt. „100 Per Cent Americanism“, lautete die Parole, mit der gegen vermeintlich illoyale Mitbürger vorgegangen wurde. Berühmte amerikanische Politiker, wie etwa Theodore Roosevelt, gehörten zu den prononciertesten Vertretern, die wortgewaltig gegen die Bindestrich-Identität der deutschamerikanischen Mitbürger zu Feld zogen. In diesem Land, so Roosevelt im Jahre 1915, gebe es keinen Platz für „hyphenated Americanism“.166 Als eine Gruppe führender German-Americans im Winter 1914/15 ein Embargo amerikanischer Waffenlieferungen nach England forderte und sich Ende Januar 1915 – nur wenige Tage bevor Deutschland zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg überging – in Washington zu einer großen Protestkundgebung versammelte, schrieb die New York Times: „Never since the foundation of the Republic has any body of men assembled here who were more completely subservient to foreign influence and a foreign power and none ever proclaimed the un-American spirit more openly.“167 Nachdem deutsche U-Boote im Mai 1915 die englische Lusitania versenkt hatten und 1.200 Menschen, darunter 124 Amerikaner umgekommen waren, spitzte sich die antideutsche Stimmung in den USA weiter zu.168 Patriotische Organisationen wie die einflußreiche American Defense Society, die Theodore Roosevelt und Madison Grant, einen der bekanntesten amerikanischen „Rassetheoretiker“, zu ihren Mitgliedern zählte, begannen einen Propagandafeldzug gegen die deutsche Sprache und Kultur in den Vereinigten Staaten. In einem Pamphlet aus dieser Zeit mit dem Titel „Throw Out the German Language and All Disloyal Teachers“ heißt es: Any language which produces a people so ruthless conquestadors [sic] such as now exists in Germany, is not a fit language to teach clean and pure American boys and girls. [The Germans are] the most treacherous, brutal and loathsome nation on earth […]. The sound of the German language […] reminds us of the murder of a million helpless old men, unarmed men, women, and children; [and] the driving of about 100.000 young French Belgian, and Polish women into compulsory prostitution.169
166 Theodore Roosevelt zit. nach LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 144. 167 Zit. nach HIGHAM, Strangers in the Land, S. 197. 168 „No event in World War I“, schreibt Luebke, „stirred American emotions more profoundly. Appalled by the destruction of civilian life, most Americans condemned the sinking as a revolting crime against humanity.“ LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 131. 169 Vgl. ebenda, S. 216.
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Mit dem Kriegseintritt der USA auf Seiten der Alliierten Anfang April 1917 erreichte die Propaganda gegen die German-Americans schließlich ihren Höhepunkt. Der berühmte „Evangelist“ Billy Sunday erklärte, nun ginge es einfach um die Frage, „Bill against Woodrow, Germany against America, Hell against Heaven“. Entweder man sei loyal oder illoyal, entweder „a patriot or a blackhearted traitor“.170 Wiederholt wurden Deutschamerikaner der Spionage und der Kollaboration mit dem Kriegsgegner bezichtigt, waren Einschüchterungen ausgesetzt und Opfer tätlicher Übergriffe. Nachdem im südlichen Illinois der Deutschamerikaner Robert Prager wegen vermeintlicher Spionagetätigkeit, ein Verdacht, der sich später als falsch herausstellte, gelyncht worden war – der einzig bezeugte Lynchmord an einem Deutschamerikaner –, verteidigte die angesehene Washington Post das Vorgehen des aufgebrachten mob mit den Worten: „Enemy propaganda must be stopped, even if a few lynchings may occur.“171 Obgleich bereits in den beiden Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Bedeutung des deutschen ethnic life abgenommen hatte – so war etwa die Zahl der 800 Tageszeitungen, Kirchenblätter und Wochenschriften bis 1917 auf 522 gefallen –, führte der Kriegseintritt der USA zu einer rasanten Beschleunigung dieser Entwicklung und trug entscheidend dazu bei, daß aus Deutschamerikanern endgültig Amerikaner wurden.172 Von 1917 bis 1919 fiel die Anzahl der deutschsprachigen Tageszeitungen und Wochenschriften auf die Hälfte, die Zirkulation auf ein Drittel.173 Viele deutsche Kulturorganisationen in den USA stellten in dieser Zeit ihre Tätigkeit ein. Als auch die Germanistic Society of America darüber abstimmte, ob sie ihre Arbeit während des Krieges fortsetzen sollte oder nicht, war Boas der Einzige, der gegen eine Einstellung dieser Kulturorganisation votierte.174 Sukzessive wurde das „deutsche Element“ während des Ersten Weltkrieges aus dem amerikanischen Leben entfernt. Die 170 Billy Sunday zit. nach LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 245. 171 Zit. nach LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 268-269. 172 Vgl. BLASCHKE, ,Deutsch-Amerika‘ in Bedrängnis, S. 176-177. Die Zahl an deutschen Tageszeitungen und Wochenschriften war im Jahr 1917, wie Luebke bemerkt, noch immer fast so groß wie die Gesamtzahl aller anderen nicht englischsprachigen Publikationen in den Vereinigten Staaten zusammen. LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 45. 173 LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 271. 174 In einem Brief an seinen Onkel Abraham Jacobi meinte Boas damals: „Wenn es je eine Zeit gegeben hat, in der es notwendig war, ein Beispiel dafür zu geben, daß die ewigen und idealen Ziele der Menschheit höher sind als wechselnde nationale Freundschaften und Feindschaften, so ist es jetzt. Die Gesellschaft sollte ihren Einfluss verstärken und wo immer nötig, durch ihre Hilfe die Hände derer stärken, in deren Obhut die schwierige Aufgabe gelegt wurde, den jungen Leuten zu vermitteln, was gut und erhebend in deutschem Leben und deutsche Errungenschaften sind.“ FB an Abraham Jacobi, 25. April 1917, zit. nach COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 14.
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deutsche Sprache, deutsche Musik und Kultur galten in der Öffentlichkeit als verpönt. Öffentliche Einrichtungen, Plätze und Straßen mit deutschen Namen wurden umbenannt. Das German Hospital etwa, an dem Maries Vater und Abraham Jacobi gewirkt hatten, wurde zum Lenox Hill Hospital. Das Deutsche Haus an der Columbia University, der Sitz des German Department, wurde zum Columbia House. Noch vor Kriegsende verboten einzelne Staaten – unter anderem Delaware, Iowa, Montana – Deutsch als Unterrichtsgegenstand.175 An Schulen und Universitäten wurden deutschsprachige Lehrer und Professoren wegen vermeintlich unpatriotischen Verhaltens entlassen. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im privaten Bereich entschieden sich viele deutschamerikanische Eltern dafür, mit ihren Kindern nur mehr Englisch zu sprechen. Nach Luebke änderten Tausende German-Americans im Zuge des Ersten Weltkrieges ihre Namen, um ihre ethnisch-kulturelle Identität zu verheimlichen. Schmidt easily translated to Smith, Koch to Cook, Schwartz to Black; Strauss was transformed to Stratford; Rosenstein was shortened to Rose and Morgenwerk to Morgan. In Milwaukee, court records show more than two hundred such cases during the first four months of the war. George Washington Ochs of Philadelphia asked the court to change his name to Oakes. „Your petitioner“, he wrote, „has no purpose or reason in changing the spelling of his father’s name, except the desire to relieve his sons of a Teutonic appellation which he believes will arouse hostility and prove an unnecessary burden in their future social, personal, commercial, and professional relations.“176
Durch den Espionage Act von 1917 und den berüchtigten Sedition Act von 1918 wurden die rechtlichen Grundlagen für eine rigide Überwachung und harte Strafen unpatriotischer Mitbürger geschaffen. Unter dem Alien Enemies Act waren zu Kriegsende 6.300 German-Americans interniert.177 Der Sozialwissenschaftler Alvin Johnson schildert in seiner Autobiographie die Kriegshysterie in den USA wie folgt: Naturally America, being fresh to the war, had had no time to calculate costs. To Berlin! And fertilize the fields all the way with German blood. Kill Huns – kill them. A screaming hurricane of wild hate swept America. One who did not throw his own screams of hate into the venomous cacophony was pro-German, or at least „seditious“, the term used in that old time where now we would say „subversive.“ […] All through the country solid citizens drunk with hate were ramping gloriously. To hell with the Huns and everything Hunnish – German names, the German language, Goethe and Lessing – to hell with them! German was ripped out of the high-school curricula. My own sedate birth state penalized
175 HIGHAM, Strangers in the Land, S. 208. 176 LUEBKE, Bonds of Loyalty, S. 282. 177 Vgl. ebenda, S. 210.
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the teaching of German, even by a father to his little son within the four walls of his house. I winced for shame of America, my own beloved America.178
Anfang August 1914, wenige Tage nach dem Einmarsch der Deutschen in Belgien, schrieb Boas, der zu diesem Zeitpunkt an der pazifischen Nordwestküste Feldforschungen durchführte, an seine Frau: I don’t feel like working at all. The terrible war drives me crazy. Why did Germany overrun Belgium and thereby lose the sympathy of the whole world? There must have been a reason which we do not know. Did she want to beat France to it? Anyway […] German arrogance, French lust for revenge, English envy, lust for power – these are behind the whole thing […].179
In Briefen an seine Kinder vom August 1914 versuchte Boas, die Ereignisse nüchtern und distanziert zu betrachten und unparteilich zu analysieren. Wenn Deutschland verliert, so meint er in einem Brief an seinen Sohn Ernst, such hatred will be created that it will stir up her nationalism for centuries to come; if she is victorious, such arrogance, that will lead to the same consequence. If people would only realize what a source of hatred and misfortune the highly praised patriotism represents! That one cherishes one’s own way of life is a natural thing. But does one need to nourish the thought that it is best of all, that everything which is different is not good but useless, that it is right to despise the people of other nations? In our private lives we would not follow such an unethical rule; why should it prevail in our national life? If one only could exclude this „Patriotismus“ from our schools and teach our children the good in our culture, and appreciation of the good in other cultures. Instead they artificially cultivate envy and rivalry.180
Als ihn seine Tochter fragte, was er über den Krieg dachte, antwortete ihr Boas: „First of all, I think that it is horrid and there is no excuse for the people who bring such a disaster to mankind.“ Mit einem einfachen Gleichnis versuchte er seiner jungen Tochter das Dilemma des Patriotismus zu erklären. Wenn ihre Schule gegen einen andere ein Baseballspiel bestreite, freute sie sich über einen Sieg und wäre traurig über eine Niederlage. Gemäß den Prinzipien der Ethical Culture School hätten er und ihre Mutter ihr immer versucht klar zu machen, daß man nicht nur an die eigene Mannschaft denken, sondern auch den guten Leistungen der anderen Mannschaft Anerkennung zollen sollte. 178 Alvin JOHNSON, Pioneer’s Progress. An Autobiography, New York: The Viking Press 1952, S. 261-265. Ich danke Herrn Christian Fleck, der mich auf diese Autobiographie aufmerksam gemacht hat. 179 FB an Marie, 7. August 1914, zit. in: ROHNER, The ethnography of Franz Boas, S. 272. 180 FB an Ernst Boas, 6. August 1914, zit. in: ebenda, S. 271.
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It is only a coincidence that you are in the same school with one boy one day; tomorrow you could be in school with another; and it does not make us better to be in school with the good players. The only thing that counts is the good play, and you can try to get as good as the good players. It is a sign of a bad school when its students are envious of other schools and are against them, just because they don’t belong to them. […] Now think what they told you in school about the flag; that you should carry it high and there is nothing better than America. Of course it is right that we feel like this, and we should always try to contribute as much as we can to the community to which we belong and in which we live. At the same time, however, it is easy to forget one thing – the „school spirit“ is good if everyone is doing the best he can for his school. It is bad if he belittles everything good which goes on in another school. Thus, although the need to feel like an American is impressed on you, we don’t hear enough that there is the good and the beautiful also in other countries, that the people there strive also for the good and the beautiful just as we do, and that we should not be envious of them but give them their due. If we work and live as Americans, we are working for mankind and it cannot be justified that we begrudge others for what we did in our own country.181
Weiters meinte Boas, Deutschland sei stolz auf seine Erfolge der letzten fünfzig Jahre, habe jedoch seine Nachbarn durch Eigensinn und schlechte Umgangsformen beleidigt. Frankreich hingegen sinne seit dem Jahr 1870 nur mehr auf Rache an Deutschland. England wiederum sei eifersüchtig auf den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands und suchte diesen zu behindern. „You see, it is altogether the same as with schools which are envious of each other and which fight with each other.“182 Er selbst, so Boas an seine Tochter, sei unparteilich und halte zu keiner der kriegführenden Parteien: „I cannot warm up for either side. If the war was unavoidable, the brutal actions of Germany can be explained by her emergency. But I cannot forgive them the breach of their contract with Belgium.“183 Es gebe jedoch eine Lehre, die alle aus dem Kriege ziehen sollten, nämlich one should kill false patriotism. […] This is true of all things, from the small to the great ones: family pride, party hatred, etc. All this originates from the fact that we always consider the little group to which we belong better than the whole world, and therefore we always want the best for it. Instead we should do the best we can for our own group and always appreciate what other people achieve also.184
Doch die Bemühungen von Franz Boas, den Krieg aus einer unparteilichen Perspektive zu analysieren, scheiterten. Er beklagte sich über die „fast unerträglichen Provokationen“, denen die Deutschamerikaner seitens der an181 182 183 184
FB an Heini, 15. August 1914, zit. in: ebenda, S. 272-273. Ebenda, S. 274. Ebenda. Ebenda, S. 275.
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glophilen amerikanischen mainstream-Gesellschaft ausgesetzt waren.185 In Briefen an seine Mutter aus dem Jahre 1915 verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, daß Deutschland die feindlichen Nationen „verhauen“ werde. „Mit meinem Verstand“, so Boas, „sage ich mir immer, dass ich genug antinational bin, dass der ganze nationale Neid keinen Sinn und Verstand hat. Aber ins Gefühl umgesetzt bin ich und bleibe ich eben doch deutsch“.186 In seinen populärwissenschaftlichen und zeitdiagnostischen Schriften aus den Kriegsjahren plädierte Boas für eine neutrale Haltung der USA und geißelte die Auswüchse des Patriotismus sowie des Nationalismus in seiner Wahlheimat.187 In seiner Kritik an der amerikanischen mainstreamGesellschaft bediente er sich hierbei sowohl universalistischer als auch relativistischer Argumente. Als Universalist betonte Boas, daß dem Ideal des Humanismus stets der Vorrang vor jenem des Patriotismus gegeben werden sollte.188 Der Patriotismus entbehrte der rationalen Grundlage und beruhte auf einer rein gefühlsmäßigen Bindung des Einzelnen an sein Land. Diese Gefühle in Kindern einzupflanzen sei „one of the most serious faults in our educational systems, particularly when we compare these methods with the lukewarm attention that is given to the common interests of humanity“.189 Als Weltbürger betonte Boas, daß Nationen und „Rassen“ nicht durch unüberwindliche Schranken voneinander getrennt seien: „I can imagine myself much more at home in a company of sympathetic Chinese, Malay, Negroes and whites who have interests and ideals in common than in a bigoted or presumptuous company of whites who might grate on my feelings by every word and action.“190 Doch die Berufung auf vermeintlich allgemeine Werte war nur eine Strategie, mit der Boas gegen den amerikanischen Patriotismus ankämpfte. Als Relativist verwies er darauf, daß jede Nation ihre „Individualität“ besitze und daß diese von anderen zu respektieren sei. Im allgemeinen, so Boas, seien die Amerikaner zu selten willens und fähig, „to enter into the modes of thought of other nations“. Die Amerikaner machten – um mit Herder zu sprechen – die „enge Binde ihres Haupts zum Gehirnmesser der 185 Boas zit. nach COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 13. 186 FB an Sophie Boas, 4. April und 13. Mai 1915, zit. nach COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 13. 187 Zum Einfluß des Ersten Weltkrieges auf das Schaffen von Boas vgl. insbesondere George W. STOCKING, Anthropology as Kulturkampf: Science and Politics in the Career of Franz Boas, in: Walter GOLDSCHMIDT (Hg.), The Uses of Anthropology (= Special Publication of the American Anthropological Association 11), Washington, D.C. 1979, S. 32-50, hier S. 39-42. 188 Franz BOAS, Patriotism (1917), in: ders., Race and Democratic Society, New York: J. J. Augustin Publisher 1946, S. 156-159, hier S. 156. 189 Ebenda, S. 157. 190 Ebenda, S. 158.
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ganzen Welt und die Sitten ihres eingeschränkten Winkels zur Regel und Richtschnur aller Zeiten, aller Klimata und Völker“ und sähen sich in der Rolle eines globalen Schiedsrichters. Sie erachteten ihre Regierungsform nicht nur als für sie am besten geeignet, sondern waren vom Glauben beseelt, daß auch der Rest der Menschheit diese übernehmen sollte. Den gleichen Anspruch erhoben die meisten Amerikaner auch in bezug auf ihre moralischen und religiösen Anschauungen: Therefore, he [the American; B. W.] is inclined to assume the role of a dispenser of happiness to mankind. We do not often find an appreciation of the fact that others may abhor where we worship. I have always been of the opinion that we have no right to impose our ideals upon other nations, no matter how strange it may seem to us that they enjoy the kind of life they lead, how slow they may be in utilizing the resources of their countries, or how much opposed their ideals may be to ours. […] The technical difficulties of organizing democratic control of the government have found a different solution in different countries. To claim, as we often do, that our solution is the only democratic and the ideal one, is a one-sided exaggeration of Americanism. I see no reason why we should not allow other nations to solve their problems in their own ways, instead of demanding that they bestow upon themselves the benefactions of our regime. The very standpoint that we are right and they are wrong is opposed to the fundamental idea that nations have distinctive individualities, which are expressed in their modes of life, thought and feeling.191
Betonte Boas als Universalist den Vorrang allgemeiner und zeitloser Werte gegenüber den besonderen und vergänglichen des American Creed, so war er als Relativist bestrebt, den Eigenwert der Kultur seiner alten Heimat zu verteidigen. Die Voraussetzungen in dem dicht besiedelten Deutschland unterschieden sich grundlegend von jenen in den Vereinigten Staaten. In Deutschland, das im Unterschied zu England über keine großen Kolonien verfüge, sei es unumgänglich, den Handlungsspielraum und die Freiheit des Einzelnen zugunsten des Gemeinwohls stärker einzuschränken, das Individuum der Gesellschaft mehr unterzuordnen und demgemäß den institutionellen Rahmen anders zu gestalten als in den dünn besiedelten Vereinigten Staaten, wo dem Individualismus mehr Raum bleibe. Im Lichte der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges scheint Boas auch das politische System des wilhelminischen Deutschland, das er Jahrzehnte zuvor scharf kritisierte, einer neuen Bewertung zu unterziehen. Auch er sei in jungen Jahren von der Idee der individuellen Freiheit in den Vereinigten Staaten fasziniert gewesen, „but maturer years have shown to me the necessity that this freedom should co-ordinate with the necessary amount of subordination of the actions of the individual to society“.192 Als die Society of the Friends of the German Republic im Jahr 1917 Boas die Mitglied191 Franz BOAS, Social Justice – Individuals (1916), S. 169-171. 192 Ebenda, S. 171.
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schaft antrug, lehnte er diese ab und argumentierte, daß „to promote peace by republic form of government is not convincing, as is demonstrated by the action of the United States, Russia. […] It is evident that the form of government does not determine the desire of a nation to preserve peace.“193 Immer wieder ist Boas in seinen Schriften aus der Zeit des Ersten Weltkrieges bemüht, bei seinem Balanceakt zwischen Universalismus und Relativismus nicht zu straucheln und das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er versucht, die beiden Stränge seines Denken und Fühlens miteinander auszusöhnen und argumentiert, daß der gute Nationalismus eine schöpferische Kraft sei, die dem Leben des Einzelnen Sinn und Wert verleihe und keineswegs im Widerspruch zum Universalismus stehe. Im Gegenteil, gerade der friedliche Wettstreit der Nationen wirke der nivellierenden Kraft des Universalismus entgegen und sei Garant der Vielfalt, der Möglichkeit, auf unterschiedlichen Wegen nach Lösungen für allgemeine Probleme zu suchen. Indem die einzelnen nationalen Individualitäten auf unterschiedlichen Pfaden wandelten, sei es auch möglich, voneinander zu lernen, Erfahrungen und Wissen auszutauschen. Boas scheint überzeugt gewesen zu sein, daß es ihm gelungen sei, den heiklen Balanceakt zu bewältigen; aber das ist ihm freilich nur gelungen, weil er die Augen verschloß und auf einem vom Idealismus durchtränkten Boden Halt fand, nur, weil er seine Argumentation genau dort abbrach, wo die Schwierigkeiten eigentlich erst beginnen. Obgleich er immer wieder die ethnozentrische Grundlage des bösen, engstirnigen Nationalismus anprangert, verrät uns Boas nicht, wo die Grenzen zwischen friedlicher, gutartiger und kriegerischer, feindseliger Konkurrenz verlaufen; er verrät uns nicht, wieviel nationale Individualität die Weltgemeinschaft der Staaten vertrage, wie die Mechanismen der Inklusion, die den Einzelnen an seine Gruppe binden, ohne die Mechanis193 Boas zit. nach Erich KASTEN, Franz Boas: Ein engagierter Wissenschaftler in der Auseinandersetzung mit seiner Zeit, in: DÜRR, KASTEN, RENNER (Hg.), Franz Boas, S. 7-37, hier S. 30. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen von Robert H. Lowie, dem Schüler von Franz Boas: „World War I and its aftermath brought to the fore some littlesuspected facets of Boas’s personality. He had long aquired American citizenship, but like many others found himself beset by a conflict of emotions. He was an internationalist if there ever was one; but he was also steeped in the culture of his native land, had close relatives living there, was linked by personal and professional ties with innumerable Germans. What is more, he had been in his teens when the millenial dream of a united Reich had come true; had lived through a period of spectacular positive achievement in Germany. His attitude could not well be that of the fortyeight immigrants. He himself was aware of the difference and – probably thinking of his uncle, Dr. A. Jacobi – alluded in conversation to this disagreement between the two generations of German-Americans.“ Robert H. LOWIE, [Obituary] Franz Boas, 1858-1942, in: ders., Lowie’s Selected Papers in Anthropology. Edited by Cora du Bois, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 1960, S. 425-440, hier S. 429-430.
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men der Exklusion, die andere von dieser Gruppe ausschließen, funktionierten, wie eine Hingabe an die eigene Gruppe, ein Aufgehen in einem „Wir-Gefühl“ ohne Abgrenzung, ohne „Sie-Gefühl“ zu bewältigen sei, wie man in einem Baseballspiel ein Mannschaftsethos erzeugt, ohne den Wunsch zu hegen, die Gegenspieler könnten an diesem Tag schwächer sein und eventuell Fehler begehen. Vom Aufflammen des Patriotismus, antideutscher Propaganda, Solidaritätsbekundungen mit alliierten Kräften und xenophoben und nativistischen Reaktionen blieben auch die amerikanischen Universitäten nicht verschont. Schon vor dem Kriegseintritt der USA im April 1917 war auch an den Universitäten, die zum Teil als militärische Ausbildungslager dienten, preparedness das Wort der Stunde. Mit der Kriegserklärung vom 6. April 1917, so der amerikanische Wissenschaftshistoriker R. L. Geiger, „[a]n orgy of patriotic rhetoric swept over college campuses, and the chauvinistic consensus was given real force by systematic purges of faculty suspected of German and pacifist sympathies“.194 An der Columbia University konnte Franz Boas unmittelbar die weitreichenden Auswirkungen miterleben, welche die politischen Ereignisse des Ersten Weltkrieges auf die Freiheit der Lehre und Forschung hatten.195 Nach der Versenkung der Lusitania propagierte Franklin H. Giddings, Soziologe und Kollege von Franz Boas an der Columbia University, den Kriegseintritt der USA auf Seiten der Alliierten. Andere Kollegen von Boas folgten. Zu nennen wäre hier insbesondere John Dewey, der ursprünglich für eine neutrale Rolle der USA eingetreten war und nunmehr zu einem der prononciertesten Kriegsbefürworter wurde.196 Anfang des Jahres 1917 forderten die Columbia-Professoren Edward L. Thorndike, Robert L. Schuyler und James H. Robinson einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland. Nachdem an der Universität ein Komitee gegründet worden war, das die Loyalität und politische Gesinnung der Professoren prüfen sollte, verlas Boas im März 1917 in den Hörsälen der Columbia sein politisches Glaubensbekenntnis. Dies führte zu heftigen Protesten von Seiten der Studenten und Absolventen.197 Im Unterschied zu 194 Robert L. GEIGER, To Advance Knowledge: The Growth of American Research Universities, 1900-1940, New York-Oxford: Oxford University Press 1986, S. 102. 195 Zur Chronologie der Ereignisse an der Columbia University während des Ersten Weltkrieges vgl. „The Butler Imperium: 1902-1945: An Annotated Timeline,“ online unter: http://beatl.barnard,columbia.edu/learn/timelines/ ButlerTLine.htm (Zugriffsdatum 24. September 2003). 196 Zu John Dewey im Ersten Weltkrieg vgl. u. a. Robert B. WESTBROOK, John Dewey and American Democracy, Ithaca-London: Cornell University Press 1986, S. 202-210; siehe ferner Christopher LASCH, The New Radicalism in America, 1889-1963: The Intellectual as a Social Type, New York-London: W. W. Norton & Company 1986 [1965], S. 181-224. 197 Dieses politische Credo wurde in die postum veröffentlichte Sammlung Race and Democratic Society aufgenommen. Vgl. Franz BOAS, Patriotism
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seinen zwei Kollegen, James McKeen Cattell und Henry W. L. Dana, die wegen antimilitaristischer Aktivitäten und Kritik an der amerikanischen Politik die Universität verlassen mußten, konnte Boas seine Stelle behalten.198 Über die Entlassung seiner Kollegen war Boas bestürzt und versuchte namhafte Professoren zu mobilisieren, um diese zu verhindern.199 Ein deutschamerikanischer Kollege von Franz Boas, dem er zu einer Stelle [Preserving our Ideals. Read at Columbia University, March 7, 1917, after appointment of a committee to investigate the loyalty of the faculty], in: ders., Race and Democratic Society, S. 156-164. Herskovits schreibt über diese Grundsatzerklärung seines Lehrers: „Boas with his customary fortrightness, refused to be silenced. When Columbia University invited its students to report to it on opinions expressed in their classes by faculty members he prepared a statement of his views, read this to the classes on March 7, 1917, and offered to provide a copy to anyone who wished to forward it to the Trustees. Scanned from the perspective of three decades, one wonders how this statement […] could ever have been regarded as other than a tightly-argued, intellectual presentation of idealistic principle. Yet at the time it was a courageous expression of a dangerous position. […] [T]he article […] was ready for the presses of the New York Evening Post. Its editor, Oswald Garrison Villard was scarcely a man to be accused of lack of courage in the face of popular position. Yet the tensions of the moment were too great, and he could not risk in publishing the statement Boas was willing to place on public record.“ Melville J. HERSKOVITS, Franz Boas: The Science of Man in the Making, New York-London: Charles Scribner’s Sons, Ltd. 1953, S. 116. Ende März 1917 faßte Boas seine politischen Überzeugungen in einem halbseitigen, ebenfalls postum erschienenen Text nochmals zusammen. Franz BOAS, Ideals of the State (1917), in: ders., Race and Democratic Society, S. 155: „The foremost duty of every individual and every country is to serve the interests of mankind. While the nearest duty of each state is to its citizens, no State has the right to perform acts the evil effects of which upon mankind outweigh the benefits accruing to the citizens of the State. It is nobler to suffer intimidation than to act unjustly. For this reason we should be slow to maintain our rights by force when patience promises redress by peaceful means. War is justifiable only by self-defense and for the maintenance of great principles acknowledged by the consensus of opinion of the best of mankind. There are higher duties than patriotism, as at presently [sic] generally conceived. I wish to see the United States of America the exponent of the highest ideals of the State as a servant of mankind.“ Ebenfalls vom März 1917 stammt ein Brief von Boas, in dem er meinte: „Die letzte Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten ihren alten Idealen je gerecht werden könnten ist, glaube ich, absolut verschwunden […].“ FB an A. Wisbrun, 21. März 1917, zit. nach COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 13. 198 Als Protest gegen den Ausschluß der beiden Professoren verließ übrigens der Historiker Charles A. Beard Columbia. 199 Vgl. hierzu unter anderem HYATT, Franz Boas: Social Activist, S. 127128.
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beim Bureau of American Ethnology verholfen hatte, verlor diese während des Krieges aufgrund vermeintlich pro-deutscher Äußerungen. Nicholas M. Butler, der als Präsident mehr als vier Jahrzehnte die Geschicke der Columbia University leitete und sich ursprünglich gegen eine Intervention der USA ausgesprochen hatte, erklärte nach dem Kriegseintritt, daß an der Columbia kein Platz sei für jene, „who are not with whole heart and mind and strength committed to fight with us to make the world safe for democracy“. „What had been wrongheadedness“, so Butler weiter, „was now sedition. What had been folly was now treason“.200 Von April 1917 bis zum Ende des Krieges wird sich Boas mit offener Kritik an der Politik der Vereinigten Staaten zurückhalten.201 Tief enttäuscht war Boas von der zunehmenden Beschneidung der akademischen Lehr- und Forschungsfreiheit. Er fürchtete, daß seine Universität immer mehr den Entscheidungen des mächtigen Board of Trustees ausgeliefert werden könnte. Zugleich kritisierte er seine Professorenkollegen, welche sich den Trustees nur allzu willig unterordneten. Im Mai 1918 veröffentlicht die Zeitschrift The Nation ein Schreiben von Boas, in dem er festhielt: The most serious effect of the subjection of the investigator or teacher to the pleasure of the trustees is the creation of an unhealthy atmosphere in the life of 200 Nicholas M. Butler zit. nach WESTBROOK, John Dewey and American Democracy, S. 211. 201 Schon während des Krieges erfuhr Boas, daß einige seiner Anthropologenkollegen ihre Arbeit in den Dienst der Regierung gestellt hatten. Im Jahr 1919 schrieb Boas einen aufsehenerregenden und folgenreichen Leserbrief, in dem er vier Anthropologen anklagte, während des Krieges im Rahmen ihrer Feldforschungen als Spione tätig gewesen zu sein. Präsident Wilson, so Boas, hatte in seiner Kriegsansprache gemeint, nur Autokratien bedienten sich der Spionagetätigkeit, obgleich zu diesem Zeitpunkt mehrere Spione für die Regierung gearbeitet hätten. „I am not concerned here with the familiar discrepancies between the President’s words and the actual facts, although we may perhaps have to accept his statement as meaning correctly that we live under an autocracy; that our democracy is a fiction. The point against which I wish to enter a vigorous protest is that a number of men who follow science as their profession, men whom I refuse to designate any longer as scientists, have prostituted science by using it as a cover for their activities as spies. […] They have not only shaken the belief in the truthfulness of science, but they have also done the greatest possible disservice to scientific inquiry. In consequence of their acts every nation will look with distrust upon the visiting foreigner investigator who wants to do honest work, suspecting sinister designs. Such action has raised a new barrier against the development of international cooperation.“ Franz BOAS, Scientists as Spies [Letter to the Editor], in: The Nation 109 (1919), S. 797. Zu den Auswirkungen dieses Leserbriefes auf die anthropologische scientific community der Nachkriegsjahre vgl. insbesondere George W. STOCKING, The Scientific Reaction Against Cultural Anthropology, 1917-1920, in: ders., Race, Culture, and Evolution: Essays in the History of Anthropology, Chicago-London: The University of Chicago Press 1982 [1968], S. 270-307.
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scientific institutions. Consciously or subconsciously, it calls forth the everpresent doubt in the minds of the officers whether their activities, the results of their inquiries, or the field of their work may be agreeable to the governing board – a mental attitude that is fundamentally opposed to the development of a true scientific spirit and to that staunch independence of thought that is the first requisite of the true scientist and of the teacher who is to instil into the minds of his students his enthusiasm for the search after truth.202
Unter dieser ungesunden Atmosphäre litten insbesondere die Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft. Gerade hier werde die Freiheit des Wissenschaftlers, seine Forschungen ohne Rücksicht auf „current opinion“ durchzuführen, nicht anerkannt.203 Die Skepsis gegenüber der Wissenschaftspolitik an den amerikanischen Universitäten verstärkte auch seine kritische Haltung gegenüber dem Demokratieverständnis seiner Wahlheimat. Im Oktober 1918, kurz vor dem Waffenstillstand, erklärte Boas in einem Leserbrief, die wichtigste Frage bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen bestünde für ihn in der rehabilitation of our civic liberties. Under the Federal Espionage Act and similar State laws, the free expression of opinion that used to be the foundation of our liberty no longer exists. Citizens feel intimitated and, for fear of denunciation, do not dare to express their convictions and opinions even in private conversation. I shall, therefore, vote for the Socialist party, that stands for the repeal of those laws that have resulted in an abridgment of the freedom of speech and of the press, of the right of the people peaceably to assemble and to petition the government for the redress of grievances.204
Während des Krieges und danach fühlte Boas, wie er in einem Brief Jahre später an seine Schwester schrieb, „that I was emotionally through with America“.205 Seine Tochter berichtete, daß ihr Vater nach dem Krieg unfähig war, am Klavier seine Beethoven-Sonaten zu spielen, da diese ihn zu sehr an seine zerstörte Heimat erinnerten.206 Nach dem Waffenstillstand prophezeite Boas, „daß die Qual noch nicht vorbei ist“.207 Am 4. März 1919 wandte er sich in einem offenen, in der Zeitschrift The Nation unter dem Titel „Vain Waiting“ erschienenen Brief an Franz Sigel, den Präsidenten der Friends of German Democracy: 202 Franz BOAS, University Government (1918), in: ders., Race and Democratic Society, S. 209-214, hier S. 213. 203 Ebenda. 204 Franz BOAS, A Sturdy Protest [Letter to the Editor], in: The Nation 107 (1918), S. 487. 205 FB an Toni Wohlauer, 8. Dezember 1930 in: ROHNER (Hg), The Ethnography of Franz Boas, S. 296. 206 KASTEN, Franz Boas: Ein engagierter Wissenschaftler, S. 35. 207 FB an A. M. Tozzer, 27. November 1918, zit. nach COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 15.
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Dear Sir: For weeks I have listened in vain, waiting to hear the voice of the Friends of German Democracy raised on behalf of the New Germany. I have been expecting to hear your orators and to read your messages, awakening America to the consciousness of the fact that German Democracy is being starved to death by a blockade maintained against all laws of humanity. I have waited to hear you remind our countrymen that the war was fought against the past German Government, not against the German people; that the sudden demobilization of millions of soldiers must lead to incredible suffering, unless the resumption of industrial work is made possible by the importation of raw materials. You know that Germany cannot much longer subsist without supplies and that without these death and ruin are unavoidable. You are aware that the raising of the blockade is deferred only by the failure of the Powers to agree on the payment that they want to exact from the hungry for the permission to buy food. You have constituted yourselves helpers of the new-born German Democracy. If ever help was needed, it is needed now! Then how can your conscience be aroused to the fulfilment of your self-imposed duties? It is only necessary to make it clear to our people that permission to buy food and clothing for the needy, for women and children, is all that is needed, to be sure of a quick and generous response that will compel the bickering politicians to come to a speedy argument. Show yourself what you claim to be and give help to those as whose friends you proclaim yourself.208
Mit Skepsis und Sorge verfolgte Boas die Verhandlungen von Versailles. In einem Leserbrief verlieh er seiner Befürchtung Ausdruck, daß der Friedensvertrag „ein ganzes Volk der Knechtschaft unterwerfen und […] der Ursprung zukünftiger Kriege und Rebellionen sein“ werde.209 Seine Erfahrungen als Deutscher in den Vereinigten Staaten sollte Boas in dem bereits erwähnten Schreiben an Hindenburg wie folgt zusammenfassen: Es gibt Zeiten, in denen Schweigen Feigheit und bescheidene Zurückhaltung unwürdige Schwäche ist. Während des Weltkrieges verlangten die perfiden Verleumdungen Deutschlands ein Heraustreten aus der Stille des Gelehrtenlebens, und ich darf mich rühmen, dass zu einer Zeit, als die meisten DeutschAmerikaner sich ängstlich verkrochen und nicht einmal deutsch zu sprechen wagten, ich einer der wenigen war, die mit Wort und Schrift dem Lügengewebe entgegentraten und die ihren deutschen Ursprung nicht zu verleugnen suchten; dass ich, als der verstorbene Dr. Bünz zu schmählicher Zuchthausstrafe verurteilt wurde, weil er deutschen Schiffen Proviant verschafft hatte, während Engländern das gleiche nachgesehen wurde, wohl der einzige war, der öffentlich dagegen protestierte, dass Engländer und Deutsche mit verschiedenem Maasse gemessen wurden. Als der Krieg für Deutschland verloren war, und der frivole Lloyd George und 208 Franz BOAS, Vain Waiting [Letter to the Editor], in: The Nation 108 (1919), S. 503-504. 209 Boas zit. nach ebenda, S. 15.
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der rachsüchtige Clemenceau durch Aushungerung des deutschen Volkes einen für die Sieger schmachvollen Frieden erzwangen, stand mir in schlaflosen Nächten die Not des alten Vaterlandes lebendig vor Augen. Ich konnte keine Ruhe finden, bis ich nicht etwas nach meinen Kräften tun konnte zu helfen Deutschlands innere Kräfte zu erhalten. So kam es, dass ich Jahre meines Lebens der Hilfe für deutsche Kultur und Wissenschaft hingab.210
Als Franz Boas im Jahre 1933 diese Zeilen schrieb, hatte er bereits wiederholt gegen die unheilvolle nationalsozialistische „Rassenlehre“ Stellung bezogen. Es kann hier nur angedeutet werden, daß sich Boas gerade in den 1930er Jahren wieder vermehrt Fragen der physischen Anthropologie zuwenden sollte. Dominierte, wie ich zu zeigen versucht habe, in den Jahren während des und nach dem Ersten Weltkrieg gleichsam der kulturrelativistische Strang, so tritt nun mit dem aufkommenden Nationalsozialismus das universalistische Erbe seines Denkens wieder in den Vordergrund. Auch die „Rassenlehre“ postulierte eine Ungleichheit der „Kulturen“, führte diese jedoch auf biologische Faktoren zurück. Gegen diesen „Relativismus“ wird Boas nun im Namen der Gleichheit aller – oder genauer: fast aller – Menschen zu Felde ziehen. Er will beweisen, daß die „Rassenlehre“ aus wissenschaftlich anthropologischer Sicht unhaltbar ist und hofft hierdurch, die vom nationalsozialistischen Wahn befallenen Menschen zu läutern. Nun kreist sein Werk wieder um das Gemeinsame und Verbindende. „Es liegt kein Grund vor zu behaupten“, so Boas in einer anläßlich seines 50jährigen Doktorjubiläums im Jahre 1931 in Kiel gehaltenen Rede, daß eine Rasse durch ihre Körperstruktur so viel intelligenter, willenskräftiger, stabiler sei als eine andere, daß dieser Unterschied die Kultur wesentlich beeinflussen könnte. Besonders ist diese Annahme in dem ganzen europäischwestasiatischen Völkerkreise wissenschaftlich unzulässig.211
Geradezu prophetisch muten die auch seine tiefe Wissenschaftsgläubigkeit spiegelnden Schlußworte seiner Rede aus dem Jahr 1931 an: Für jedes Gemeinwesen lauert eine Gefahr in der Bildung scharf geschlossener Gemeinschaften, weil diese unweigerlich heftige Antagonismen hervorrufen. Die Identifikation von Rasse und Kultur beruht auf zwei grundlegenden Denkfehlern. Einmal werden die Beobachtungen über individuelle Erblichkeit auf Völkergruppen übertragen, ohne daß man bedenkt, daß jede Volksgruppe aus unendlich vielen untereinander stark verschiedenen Erblinien besteht, die sich zudem in verschiedenen Völkern wiederfinden. Ferner wird die geographische Verteilung
210 Boas an Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, 27. März 1933. 211 Franz BOAS, Rasse und Kultur, Rede gehalten am 30ten Juli 1931 in der Aula der Christian-Albrechts-Universität in Kiel bei Gelegenheit des 50jährigen Doktorjubiläums des Verfassers, Jena: Gustav Fischer 1932, S. 15-16.
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verschiedener Kulturen, die mehr oder weniger mit der Verteilung der Volkstypen zusammenfällt, als ein geistiger Ausdruck der Typen aufgefaßt, ohne daß der Versuch gemacht wird, einen inneren Zusammenhang nachzuweisen. Eine genaue Prüfung beweist, daß der Zusammenhang nur scheinbar ist, da dieselben Typen unter verschiedenen Verhältnissen auch verschiedenes Verhalten aufweisen, während verschiedene Typen unter gleichen Verhältnissen gleich reagieren. Die Anpassungsfähigkeit verschiedener Typen an dieselben Kulturbedingungen darf meines Erachtens nach als ein Axiom aufgestellt werden. Das Verhalten eines Volkes wird nicht wesentlich durch seine biologische Abstammung bestimmt, sondern durch seine kulturelle Tradition. Die Erkenntnis dieser Grundsätze wird der Welt und besonders Deutschland viele Schwierigkeiten ersparen.212
4 . Ü b e r d e n N u t z e n d e r C u l t u r a l An t h r o p o l o g y für das Leben Wie bereits erörtert, waren die fortschrittsgläubigen Kulturevolutionisten des 19. Jahrhunderts bestrebt gewesen, aus ihren anthropologischen Erkenntnissen über das Fremde ein Ideal für das Eigene zu entnehmen, indem sie die Geschichte der Menschheit als eine große Einheit begriffen und teleologisch deuteten, wobei sie die Entdeckung der Bewegungsgesetze nicht nur proklamierten, sondern die Richtung bzw. das Ziel der Geschichte auch als erstrebenswert erachteten. Hierbei wurde – wie erwähnt – eine im Zuge des Studiums der Vergangenheit erkannte und als „Fortschrittsgeschichte“ interpretierte Chronologie in die Zukunft projiziert, um das Bild der idealen Gesellschaft zu erhalten, das wiederum der wertenden Beurteilung gegenwärtiger und vergangener Verhältnisse zugrunde gelegt wurde.213 Im Rahmen dieser Verwertungsstrategie anthropologischer Erkenntnis gewann das Fremde als negatives und zurückgebliebenes Antonym des Eigenen an Bedeutung. Im Bann der strahlenden Zukunft wurden Fremde zu „Wildfremden“, zu verabscheuungswürdigen Barbaren, zu all dem, was man selbst nicht ist oder zumindest nicht sein will oder nicht sein soll.214 Die scharfe Kritik an diesem Ethnozentrismus, der viele kulturevolutionistische Theorien des späten 19. Jahrhunderts zweifellos auszeichnet, gilt bekanntlich als eines der herausragenden Merkmale der Cultural Anthropology. Wichtig erscheint es mir nun darauf hinzuweisen, daß die Schule von Franz Boas zwar den normativen Gehalt des Fortschrittsden212 Ebenda, S. 19. 213 Zur Kritik an dieser Geschichtsphilosophie vgl. Karl R. POPPER, Das Elend des Historizismus, Tübingen: J. C. B. Mohr 61987. 214 Vgl. in diesem Zusammenhang Urs BITTERLI, Die ‚Wilden‘ und ,die Zivilisierten‘: Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München: C. H. Beck 21991, insbesondere S. 367-376.
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kens vehement anprangerte, jedoch keineswegs den Glauben an die außerwissenschaftliche Bedeutung ihrer Disziplin verwarf. Auch die Cultural Anthropology stellt nicht in Frage, daß uns die Wissenschaft prinzipiell helfen könne, den – um mit Max Weber zu sprechen – richtigen Dämon für unser Leben zu wählen. Die Cultural Anthropology kritisiert somit die besonderen, vom Kulturevolutionismus propagierten Werte, wendet sich jedoch nicht gegen die allgemeine Verheißung, daß sich aus den Erkenntnissen über das Fremde normative Schlußfolgerungen für das Eigene ableiten ließen. Dieser fortschrittskritische, keineswegs jedoch wertfreie Gehalt der Cultural Anthropology ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Anhand von Fallbeispielen sollen hierbei vier idealtypische Strategien skizziert werden, wie Vertreter der Cultural Anthropology ihre antievolutionistischen Erkenntnisse „verwertet“ haben, um die eigene Gesellschaft zu kritisieren. In diesem Zusammenhang werde ich mir auch gestatten, einige Bezüge zu gegenwärtigen Debatten herzustellen, um zu verdeutlichen, daß diese maßgeblich vom Kulturrelativismus geprägten Argumentationsmuster auch heute – zumindest teilweise – zum Repertoire anthropologischer Verheißungsrhetorik gehören.
4.1 Margaret Mead und die sozialrevolutionäre Verheißung des „Edlen Wilden“ Eine der wohl beliebtesten Strategien, derer sich Anthropologen immer wieder bedient haben, um an den ethnozentrischen Grundfesten und am Fortschrittsdünkel der eigenen Gesellschaft zu rütteln, besteht darin, zu erklären, daß die vollkommene Gesellschaft zwar existierte, aber leider eben nicht bei uns, sondern in der fernen Fremde. Er jedoch, so der Anthropologe, sei dort gewesen, habe gesehen, daß die Menschen dort in Eintracht miteinander leben und um vieles besser und auch glücklicher seien als in der Heimat. An dieser Gesellschaft, die in den Rang eines zeitlosen Ideals erhoben wird, gelte es, sich zu orientieren. Es ist dies die Gesellschaft, in welcher der klassische „Edle Wilde“ beheimatet ist. In sozialen Verbänden lokalisiert, in denen die Primärbedürfnisse ohne Mühsal befriedigt werden können, die von der Unrast und dem unseligen Wandel verschont geblieben sind und in einem nunc stans, einer ewigen Gegenwart, glücklich verharren, dient der „Edle Wilde“ als Inbegriff des natürlichen, einfachen und überschaubaren Lebens, der ausruft: „Verweile doch, du bist so schön“. Obgleich selten gesichtet, scheint der Hauptwohnsitz des „Edlen Wilden“ übrigens irgendwo in der Südsee zu sein. Es sei ausdrücklich betont, daß der Anthropologe die normativen Schlußfolgerungen aus seinen Erkenntnissen nicht selbst und auch nicht explizit ziehen muß. Oft mag es genügen, die Idylle der fremden Gesellschaft oder auch nur einzelne mustergültige Merkmale derselben zu beschreiben und diese dem Zuhause kommentarlos gegenüberzustellen. Der Anthropologe muß die vergleichende Bewertung des Fremden und des
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Eigenen also nicht selbst vornehmen. Er kann die Tatsachen so sprechen lassen, daß der aufmerksame Leser seine Botschaft nicht überhören wird. Diesem Vorgehen des Anthropologen, eine ganz bestimmte Gesellschaft zum Ideal zu erheben, entspricht die Strategie des Universalhistorikers, eine ganz bestimmte Epoche als vorbildhaft zu charakterisieren. So besteht etwa bezüglich zahlreicher Eigenschaften eine auffallende Seelenverwandtschaft zwischen dem „Edlen Wilden“ des Anthropologen und dem vorindustriellen „Edlen Bauern“ des Universalhistorikers. Gegenüber dem Historiker hat der Anthropologe jedoch einen entscheidenden Vorteil. Sind die Quellen des Historikers zumeist auch anderen Menschen zugänglich und somit prinzipiell kritisierbar, verfügt der Anthropologe oftmals über eine Art Wissensmonopol, das untrennbar mit seiner Methode der Feldforschung verbunden ist. Er ist der einzige, der bei dem „Stamm“ des „Edlen Wilden“ zu Besuch war. Nur er war dort. Nur er kennt ihn. Und sollte sich eines Tages ein zweiter Forscher tatsächlich zu dem als glücklich und friedfertig porträtierten „Stamm“ begeben und dort eine „Horde“ griesgrämiger Streitbolde vorfinden, dann haben sich die Menschen eben – vielleicht gerade wegen der in der Zwischenzeit eingetretenen „Verwestlichung“ – grundlegend geändert. Soziologisch formuliert: Gegenüber dem Universalhistoriker besitzt der Anthropologe oftmals den Vorteil der Reliabilitätsimmunität. Der „Edle Wilde“, eine der Schlüsselfiguren anthropologischer Verheißungsrhetorik, ist in der abendländischen Ideengeschichte bekanntlich eine der wichtigsten Quellen des utopischen Denkens und der Zivilisationskritik.215 Der „Edle Wilde“ fungiert als Beweis dafür, daß das Nirgendwo bereits existiert und nimmt dem Utopischen somit den Stachel des Unmöglichen. Das Nirgendwo ist eigentlich ein Anderswo. Und warum sollte das, was dort möglich ist, nicht auch hier, bei uns, möglich sein? Als anderswo bereits realisierte Utopie kann der Glaube an den „Edlen Wilden“ sozialrevolutionäre Sprengkraft besitzen. Es ist wohl kein Zufall, daß sich Reformbewegungen, Verfechter einer Gegenkultur und „Aussteiger“ – von Anarchisten und Pazifisten über Feministen und Umweltschützer bis zu den Hippies – immer wieder auf Reiseliteratur und anthropologische „Erkenntnisse“ berufen, um ihren Forderungen die Legitimation des empirisch Gegebenen zu verleihen. Gibt es nicht Gesellschaften, die ohne Herrschaft und ohne Krieg auskommen? Gibt es nicht Gesellschaften, welche die Geschlechterrollen auf eine ganz andere Art und Weise definieren als wir? Gibt es nicht Gesellschaften, die sich die Natur nicht untertan machen, sie nicht ausbeuten, sondern im Einklang mit ihr leben? Gibt es nicht Gesellschaften, in denen Homosexualität soziales Prestige besitzt? Nicht 215 Die Strategie, die Mängel der europäischen Gesellschaft durch einen außereuropäischen Betrachter aufzuzeigen, war bekanntlich ein beliebter literarischer Topos in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Vgl. hierzu BITTERLI, Die ‚Wilden‘ und die ,Zivilisierten‘, S. 411-425.
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solche, in denen freie Liebe ohne Schuldgefühle und ohne Konflikt zwischen den Beteiligten praktiziert wird? Und der Anthropologe in seiner Rolle als Weltweiser wird den verzweifelt um Rat suchenden Sozialreformern sagen: „Ja, es gibt sie!“ Es verwundert wohl kaum, daß im Rahmen der von der Boas-Schule geübten Fortschrittskritik der „Edle Wilde“, der von den Kulturevolutionisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Hirngespinst schwärmerischer Träumer gebrandmarkt worden war, eine Wiederauferstehung erleben durfte. Um diese normative Stoßrichtung der Cultural Anthropology an einem Fallbeispiel zu veranschaulichen, sei an das zum Bestseller avancierte Buch Coming of Age in Samoa (1928) von Margaret Mead erinnert. Meads Samoastudie war bekanntlich Teil des gegen die Eugenikbewegung gerichteten kulturdeterministischen Programms ihres Lehrers Franz Boas und gehört noch heute zum Kanon der periodisch aufflammenden Nature vs. Nurture-Debatte.216 Es ist im folgenden nicht möglich, auf den ideengeschichtlichen und wissenssoziologischen Kontext der Samoastudie von Mead einzugehen.217 Vielmehr soll jenes typische Argumentationsmuster skizziert werden, dessen sich Mead bedient, um aus ihren Erkenntnissen über das Fremde ein Ideal für zu Hause zu gewinnen. Amerikanische Psychologen, so Margaret Mead in der Einleitung zu ihrem Buch, hätten behauptet, die Adoleszenz sei aufgrund des sich regenden Geschlechtstriebs eine prekäre, stürmische Entwicklungsphase und durch Gereiztheit, Idealismus sowie rebellisches Verhalten gegenüber Autorität geprägt. Doch haftete, so Mead, der Adoleszenz wirklich jener biologisch bedingte Makel der Unausweichlichkeit an? Blieb den Eltern, wie von den Psychologen suggeriert, wirklich keine andere Wahl als zu warten, bis sich die Wogen der Pubertät wieder geglättet hätten? Waren die für Familien oftmals kaum zu ertragenden Konflikte zwischen den Generationen wirklich ein Schicksal, dem man sich mit Resignation und Verbitterung unterwerfen mußte? „Nein!“, wird Mead ihren Lesern verkünden. Als Anthropologin wisse sie nämlich, daß „aspects of behaviour which we had been accustomed to consider invariable complements of our humanity were found to be merely a result of civilisation, present in the inhabitants of one country, absent in another country, and this without a change of ra216 Vgl. hierzu die Darstellung von Meads „großem“ Widersacher Derek FREEMAN, Liebe ohne Aggression: Margaret Meads Legende von der Friedfertigkeit der Naturvölker. Mit einem Vorwort von Irenäus EiblEibesfeldt, München: Kindler 1983. Zur Mead-Freeman-Kontroverse vgl. insbesondere die Arbeit von Martin ORANS, Not even wrong: Margaret Mead, Derek Freeman, and the Samoans, Novato, Cal.: Chandler and Sharp Publishers, Inc. 1996. 217 Für ideengeschichtliche und wissenssoziologische Hinweise siehe George W. STOCKING, The Ethnographic Sensibility of the 1920s and the Dualism of the Anthropological Tradition, in: ders. (Hg.), Romantic Motives: Essays on Anthropological Sensibility (= History of Anthropology 6), Madison, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 1989, S. 208-276.
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ce“.218 Und gerade dieses Wissen um die Plastizität der menschlichen Natur werfe die Frage auf, ob nicht fremde Kulturen das vermeintlich universelle Problem der Adoleszenz anders gelöst hätten als wir. Schon nach wenigen Seiten der Einleitung ahnt die aufmerksame Leserschaft, was Mead ihr schlußendlich sagen wird. Ja, es gibt Kulturen, in denen sich die Phase der Adoleszenz anders, und nicht nur anders, sondern besser gestaltet. Und Mead hat eine solche Kultur für uns gefunden, im fernen Samoa.219 Gerade unter dem Gesichtspunkt der anthropologischen Verheißungsund Legitimationsrhetorik sei hier auf einen interessanten rezeptionsgeschichtlichen Aspekt des Meadschen Werkes hingewiesen. In ihrer Studie hatte Mead erklärt, die ungezwungenen Liebschaften der Samoaner erinnerten in vielem an die Affären von Schnitzlers Helden Anatol. „Romantic love as it occurs in our civilisation, inextricably bound up with ideas of monogamy, exclusiveness, jealousy and undeviating fidelity does not occur in Samoa.“220 In der samoanischen Einstellung zur Sexualität, die eine breite Palette sexueller Praktiken als „normal“ klassifizierte, sah Mead einen wesentlichen Grund, warum auf der pazifischen Insel Neurosen viel seltener vorkamen als in der amerikanischen Gesellschaft.221 Obgleich die218 Margaret MEAD, Coming of Age in Samoa: A Psychological Study of Primitive Youth for Western Civilisation, New York: Morrow Quill Paperbacks 1973 [1928], S. 4. Schon im Vorwort zu Meads Untersuchung verweist ihr Mentor Franz Boas auf die Bedeutung ihrer Ergebnisse. Diese, so Boas, würden die von Anthropologen seit langem gehegte Vermutung bestätigen, „that much of what we ascribe to human nature is no more than a reaction to the restraints put upon us by our civilisation“. Siehe Franz BOAS, Foreword, in: MEAD, Samoa, o. S. 219 Im letzten Satz ihrer Einleitung kündigt Mead an, daß, nachdem sie den Verlauf von Kindheit und Jugend in Samoa geschildert habe, „we may be able to turn, made newly and vividly self-conscious and self-critical, to judge anew and perhaps fashion differently the education we give our children“. MEAD, Samoa, S. 13. In den letzten beiden Kapiteln ihres Werks („Our educational problems in light of Samoan contrasts“ und „Education for choice“) wird Mead schließlich die Lehren aus der Anthropologie ziehen. 220 MEAD, Samoa, S. 105. 221 Vgl. MEAD, Samoa, S. 223: „By discounting our category of perversion, as applied to practice, and reserving it for the occasional psychic pervert, they legislate a whole field of neurotic possibility out of existence. Onanism, homosexuality, statistically unusual forms of heterosexual activity, are neither banned nor institutionalised. The wider range which these practices give prevents the development of obsessions of guilt which are so frequent a cause of maladjustment among us. The more varied practices permitted heterosexually preserve any individual from being penalised for special conditioning. This acceptance of a wider range as ,normal‘ provides a cultural atmosphere in which frigidity and psychic impotence do not occur and in which a satisfactory sex adjustment in marriage can always be established. The acceptance of such an attitude without in any way accepting promiscuity would go a long way towards solving many marital impasses and emptying our park benches and our houses of prostitution.“
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se aus dem rebellischem Geist des Jazz Age und der Roaring Twenties gespeiste Kritik an der puritanisch-amerikanischen Sexualmoral einen Teil ihres Werks bildet, war Mead doch überrascht, als Studenten im Jahre 1930 meinten, ihr Buch sei „mainly about sex education and sex freedom“ und hielt fest, daß „out of 297 pages there are exactly sixty eight which deal with sex“.222 Bis heute ist Coming of Age in Samoa (1928) in erster Linie als Plädoyer für Friedfertigkeit, freie Liebe und als Kreuzzug gegen die christliche, mit der Wunderwaffe des schlechten Gewissens operierende Sexualmoral bekannt. Weite Teile der Meadschen Studie sind heute in Vergessenheit geraten. Oder vielleicht wurden diese Teile auch nie beachtet. Überlebt haben die natürliche Auslese anthropologischer Verheißungsrhetorik im Falle von Meads Samoastudie jedenfalls die nackten Tatsachen, jene Erkenntnisse, die einen Wert besitzen.223 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte Margaret Mead in den USA bekanntlich zu einer persona publica. Kaum ein gesellschaftspolitisch bedeutendes und unbedeutendes Thema – von den „Rassenunruhen“, über die Drogenproblematik, die Geschlechterrollen, die Kindererziehung, die Gefahr der nuklearen Bedrohung bis hin zu der Frage nach der Existenz extraterrestrischer Wesen –, zu dem sie sich nicht als Anthropologin berufen fühlte, Stellung beziehen zu können. Als auskunftswillige Intellektuelle sollte Mead hierdurch wesentlich zur Legitimierung der Anthropologie im Bewußtsein der amerikanischen Öffentlichkeit beitragen. Wer die Schriften von Mead liest, wird unschwer bemerken, wie sehr gerade bei ihr das Wissen über das Fremde Teil eines auf die eigene Gesellschaft gemünzten riesigen Erziehungsprogramms ist. Schließen wir diese Ausführungen mit einem Zitat von Derek Freeman, der in seinem Beitrag „Reflections of a Heretic“ (1997) über das Prestige, das Mead als Wissenschaftlerin und Guru genoß, meinte: In 1969, Time magazine named her ,Mother of the World‘. She went on to become, in the words of her biographer Jane Howard, ,indisputably the most publicly celebrated scientist in America‘. Indeed, during the last decade of her life, she came to be viewed as an omniscient, wonder-working matriarch. One of the jokes circulating in America at this time was that when Dr Mead called on the 222 Mead zit. nach STOCKING, The ethnographic sensibility of the 1920s, 247. Eine „sexuelle Botschaft“ vermittelte, wie Stocking anmerkt, bereits das Umschlagbild einer frühen Ausgabe von Meads Samoastudie, das eine junge halbnackte Frau und einen jungen nackten Mann zeigt, die Hand in Hand auf mondbeschienene Palmen zueilen, um ihre Liebesnacht genießen zu können. Vgl. STOCKING, The ethnographic sensibility of the 1920s, 246. 223 Dieser Selektionsprozeß bewirkte wohl auch, daß jene Passagen, in denen Mead darauf hinwies, „that important personalities and great art are not born in so shallow a society [like the Samoan]“, weitgehend unbeachtet blieben bzw. verdrängt wurden. MEAD, Samoa, S. 200. Vgl. hierzu STOCKING, The Ethnographic Sensibility of the 1920s, S. 245.
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Oracle at Delphi, she addressed the age-old sibyl with the words, ,Hullo there, is there anything you’d like to know?‘ She was said in the American Anthropologist of 1980 to have been ,truly the most famous and influential anthropologist in the world‘. A huge impact crater on the planet Venus – measuring some 175 miles across – has been named after her.224
4.2 Der kulturpessimistische Anthropologe: Edward Sapirs Gegenüberstellung von „genuine“ und „spurious“ culture Trotz ihrer Kritik an der amerikanischen Gesellschaft ist der Grundtenor des pädagogisch-anthropologischen Aufklärungsprojekts von Margaret Mead zumeist zuversichtlich. Der bessere Fremde erscheint bei ihr in unserer unmittelbaren Nachbarschaft angesiedelt zu sein. Wir sind nicht unrettbar verloren, nur ein kleiner Schritt, dann könnte auch ich glücklich sein. Hierfür müssen wir jedoch bereit sein, vom Fremden zu lernen und auf Margaret Mead zu hören. Sie hat uns ja gezeigt oder besser gesagt, wie es möglich ist, auf chamäleonhafte Weise in eine andere Kultur einzutauchen und hiernach als neuer, besserer Mensch wieder aufzutauchen. Neben dieser – insbesondere mit Margaret Mead verbundenen – „optimistischen Fortschrittskritik“ durchzieht auch ein Strang resignativ anmutender, „pessimistischer Fortschrittskritik“ die nordamerikanische Kulturanthropologie. Diese pessimistische Linie zeichnet sich nun dadurch aus, daß die eigene Gesellschaft nicht nur angeprangert und das Fremde als überlegen dargestellt wird, sondern auch dadurch, daß das Fremde als mehr oder minder unerreichbar erscheint, in weite Ferne entrückt. In diesem Zusammenhang bedeutet nun die Erkenntnis über das Fremde oftmals nichts anderes als die tragische Einsicht in die Unrettbarkeit, Trost- und Wertlosigkeit des Eigenen. Um diesen Strang der Fortschrittskritik zu veranschaulichen, sei auf den berühmten, im Jahre 1924 erschienenen, vor kulturpessimistischen Tönen berstenden Aufsatz „Culture, Genuine and Spurious“ (1924) von Edward Sapir verwiesen.225 „Genuine Culture“, so Sapir ganz in der Tradition der ehrwürdigen und zumeist von „Fortschrittskritikern“ verfochtenen Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation, habe nichts mit dem zu tun, was man gemeinhin unter Effizienz verstehe. In einer „genuine culture“ müßten die entscheidenden Handlungen des Einzelnen
224 Derek FREEMAN, „Reflections of a Heretic“ (1997), http://www.lse.ac. uk/Depts/cpnss/darwin/evo/freeman.htm (Zugriffsdatum 14. Oktober 2003). Da sich der Beitrag Freemans auf der offiziellen homepage der London School of Economics befindet und somit nicht zum Internetschrott gehört, erlaube ich mir, hieraus zu zitieren. 225 Vgl. im folgenden Edward SAPIR, Culture, Genuine and Spurious, in: American Journal of Sociology 29 (1924), S. 401-429.
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directly satisfy his own creative and emotional impulses, must always be something more than means to an end. The great cultural fallacy of industrialism, as developed up to the present time, is that in harnessing machines to our uses it has not known how to avoid the harnessing of the majority of mankind to its machines. The telephone girl who lends her capacities, during the greater part of the living day, to the manipulation of a technical routine that has an eventually high efficiency value but that answers to no spiritual needs of her own is an appalling sacrifice to civilization. As a solution of the problem of culture she is a failure – the more dismal the greater her natural endowment. As with the telephone girl, so, it is to be feared, with the great majority of us, slave-stockers to fires that burn for demons we would destroy, were it not that they appear in the guise of benefactors. The American Indian who solves the economic problem with a salmon-spear and rabbit-snare operates on a relatively low level of civilization, but he represents an incomparably higher solution than our telephone girl of the questions that culture has to ask of economics. There is here no question of the immediate utility, of the effective directness, of economic effort, nor of any sentimentalizing regrets as to the passing of „natural man.“ The Indian’s salmonspearing is a culturally higher type of activity than that of the telephone girl or mill hand simply because there is normally no sense of spiritual frustration during its prosecution, no feeling of subservience to tyrannous yet largely inchoate demands because it works in naturally with all the rest of the Indian’s activities instead of standing out as a desert patch of merely economic effort in the whole of life.226
Ganz in der Tradition eines amerikamüden Europäers wird Sapir fortfahren und erklären, daß die Zivilisation zwar fortschreite, dies jedoch keineswegs bedeute, daß die Kultur Schritt halte. „A reading of the facts of ethnology and culture history“, so Sapir, „proves plainly that maxima of culture have frequently been reached in low levels of sophistication; that minima of culture have plumbed in some of the highest. Civilization, as a whole, moves on; culture comes and goes.“227 Wenn alles Streben auf die Befriedigung von „immediate ends“ gerichtet sei, entbehre das Leben der Harmonie, der Tiefe, der Kultur. Und gerade hierin liege die große Gefahr für das Amerika der Gegenwart: The vast majority of us, deprived of any significant and culturally abortive share in the satisfaction of the immediate wants of mankind, are further deprived of both opportunity and stimulation to share in the production of non-utlitarian values. Part of the time we are dray horses; the rest of the time we are listless consumers of goods which we have received no least impress of our personality. In other words, our spiritual selves go hungry, for the most part, pretty much all of the time.228
226 Ebenda, S. 411-412. 227 Ebenda, S. 413. 228 Ebenda, S. 417.
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Es kann hier nur angedeutet werden, daß meines Erachtens die Unterschiede innerhalb der frühen Cultural Anthropology zwischen dem optimistischen, vorwärts gewandten und pessimistischen, rückwärts gewandten Strang der Fortschrittskritik, hier exemplarisch und skizzenhaft anhand von Mead und Sapir gezeigt, als biographischer Indikator für die gefühlsmäßige Bindung an die amerikanische Gesellschaft dienen könnten. Trotz all ihrer Kritik ist Mead aufgrund ihrer sprachlichen und kulturellen Enkulturation dieser doch viel „näher“ und inniger verbunden als Sapir, der Sohn eines aus Pommern stammenden Rabbiners. Sapir ist ein enttäuschter, sich nach dem Anderswo sehnender sozialer Außenseiter, Mead hingegen eine fröhliche Aussteigerin; eine Aussteigerin, die weggeht, um wiederzukommen und ihren Leuten zu Hause zu sagen, wie sie leben und was sie tun sollen.
4.3 Über die „demokratische Verheißung“ der Cultural Anthropology: Melville Herskovits und die Universalität der Menschenrechte Eine weitere im Rahmen der Cultural Anthropology nachweisbare Linie der Fortschritts- und Ethnozentrismuskritik besteht in der gemeinhin mit dem Schlagwort des moralischen Relativismus verbundenen Vorstellung, daß alle Kulturen gleich wertvoll seien und sich daher nicht in eine hierarchische Ordnung bringen ließen. Dieser Gedanke einer Gleichwertigkeit aller Kulturen scheint sich bekanntlich in der gegenwärtigen Diskussion bei bestimmten Ideologen eines sich als „demokratisch“ verstehenden Multikulturalismus großer Beliebtheit zu erfreuen. Die kulturelle Vielfalt wird bejubelt und als große Chance begriffen, die eigenen Lebensoptionen ins schier Unermeßliche zu steigern. Um diese Chance zu wahren, müsse man jedoch zuerst den Hegemonialanspruch und Überlegenheitsdünkel der eigenen Kultur aufgeben und das andere als wertvoll schätzen lernen. In diesem Zusammenhang wird dann oftmals zum Sturm auf den verstaubten Westlichen Kanon geblasen, der nur mehr von streitsüchtigen Fossilen vom Schlage des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Harold Bloom verteidigt wird und der, so meint man, auch einem möglichen symbiotischen Austauschverhältnis mit dem anderen im Wege stehe. Nein, die heutige ethnisch kulturell pluralistische Gesellschaft könne sich nicht länger an den Werken und Werten einiger weniger – um mit Bloom zu sprechen – Dead White European Males orientieren, sondern müsse der Vielfalt der Kulturen Rechnung tragen und gerade aus dieser Vielfalt ihre Kraft schöpfen.229 Wenn, wie die Multikulturalisten unter Berufung auf die demographischen Entwicklungen verweisen, Einwanderung zudem für die durch Geburtenschwäche und Überalterung gezeichneten europäischen Gesell229 Vgl. Harold BLOOM, The Western Canon: The Books and School of the Ages. New York-San Diego-London: Harcourt Brace & Company 1994, S. 7.
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schaften dringend notwendig sei, um das soziale Absicherungssystem zu erhalten, dann sei es nicht gerecht, von den Einwanderern zu verlangen, ihre kulturellen Traditionen aufzugeben und sich zu assimilieren. Vielmehr gelte es, auf den Hegemonialanspruch der eigenen Kultur zu verzichten und alle Kulturen als gleichberechtigte Partner in einem basisdemokratisch partizipativen und herrschaftsfreien Prozeß am Aufbau der „neuen“ Gesellschaft zu beteiligen. Überspitzt formuliert: Nicht nur Grillparzer, Walzer und Schweinsbraten – und nicht nur Puschkin, Polka und Piroggen, sondern auch ein „bisserl“ Schamanen, afrikanische Aphorismen, Feng Shui, Ethno, Burritos, indische und indianische Weisheit, Salsa, Sushi, Hip-Hop und Buddha. Alles hat Platz und alles ist gleichwertig. Je bunter, desto besser. All das freilich im fröhlichsten und friedlichsten Kulturtransfer miteinander vereint – gewürzt mit einer Prise Hybridität. Alles hat dann, das müssen selbst radikale Vertreter des Multikulturalismus bei wiederholtem Nachfragen zähneknirschend eingestehen, freilich doch nicht Platz. Steinigung, Witwenverbrennung, Infantizid und ähnliche kulturelle Praktiken gelten als unappetitlich und unpassend. Diese werden dann freilich nicht unter Berufung auf deren Inkompatibilität mit den eigenen Traditionen verworfen – denn dies käme ja einem Rückfall in den verpönten Ethnozentrismus oder gar in den noch verpönteren Eurozentrismus gleich –, sondern die Zurückweisung erfolgt im Namen der Unvereinbarkeit mit universalistischen Werten und Normen. Mit anderen Worten: Das Eigene zieht sich zuerst würdevoll, leise und freiwillig in den Hintergrund zurück und kehrt einige Zeit später, nunmehr im Gewande des Universalismus, mit lautem Gepolter und großer Eile zurück, um im Namen eines consensus gentium über Gut und Böse zu Gericht zu sitzen.230 230 Vgl. in diesem Zusammenhang die kritischen Überlegungen zur Ideologie dieses Multikulturalismus von Frank BÖCKELMANN, Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag 1998, S. 440: „Aber Multikulturalisten fragen nicht danach, wer da zu ihnen kommt. Sie benutzen die Einwanderung als Vorwand für erzieherischen Tugendterror. Die Notdurft der Asiaten und Afrikaner verzaubern sie in bereichernde Vielfalt zur Steigerung des Lebensgefühls. Sie predigen Achtung für alle Lebensstile und achten dabei allein das westliche Gleichheitsmaß. Für keine der vielen Herkünfte haben sie etwas übrig, aber alle zusammen sind gut genug, um die nationale Gesellschaft durch den erstrebten kulturellen Pluralismus abzulösen. Fremde Kulturen werden wie Anschaffungen gezählt – drei sind mehr als zwei, fünf mehr als vier. Schwangere Frauen empfinden Genugtuung bei dem Gedanken, daß ihre Kinder ,mindestens zwei Kulturen in sich tragen‘ werden, und deren Kinder einst vielleicht vier oder fünf. Man schwelgt in Differenzen, die sich im allseitigen Austausch multiplizieren. Mehr Sprachen, Märchen und Emotionen. Mehr Frisuren und Kochrezepte. Buntere Musik und Mode. Mehr von den ,wundervollen Gesichtern‘ der cross culture people. Ohne etwas davon zu wissen, sind Türken, Pakistani, Vietnamesen, Nigerianer und Indios als Entwicklungshelfer der europäischen Lebensfreude tätig. Sie sorgen für Abwechslung, sollten dabei allerdings die wichtigsten Regeln des Zusammenlebens in der Toleranzgesellschaft einhalten: An-
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Um zu veranschaulichen, daß auch jene Anthropologen, die vehement für die Erhaltung der Vielfalt und für die Gleichwertigkeit der Kulturen eingetreten sind, sich immer wieder genötigt sahen, an die Universalität bestimmter Werte zu appellieren, um der Gefahr eines moralischen Indifferentismus zu entkommen, sei kurz auf die im Jahre 1947 verfaßte und maßgeblich von den Überlegungen von Melville Herskovits beeinflußte Menschenrechtserklärung seitens des Executive Board der American Anthropological Association (AAA) eingegangen.231 Diese programmatische Erklärung, von der Wolfgang Rudolph einmal meinte, daß man sie geradezu als eine „Magna Charta des kulturellen Relativismus“ bezeichnen könnte, wurde den Vereinten Nation vorgelegt und zugleich im American Anthropologist veröffentlicht.232 Nach Ansicht des Ausschusses der AAA galt es, bei einer Menschenrechtserklärung folgende Frage zu beantworten: „How can the proposed Declaration be applicable to all human beings, and not be a statement of rights conceived only in terms of the values prevalent in the countries of Western Europe and America?“233 Nach scharfer Kritik am westlichen Imperialismus und Kolonialismus, der Feststellung, daß der Einzelne seine Persönlichkeit nur in seiner Kultur entfalten könne und dem Hinweis, daß es keine wissenschaftlichen Kriterien gebe, den Wert von Kulturen zu beurteilen, heißt es: „Standards and values are relative to the culture from which they derive so that any attempt to formulate postulates that grow out of the beliefs or moral codes of one culture must to that extent detract from the applicability of any Declaration of Human Rights to
sprüche der Familienehre sind dem Recht des Individuums auf freie Selbstentfaltung nachzuordnen. Frauen sind als gleichwertige Wesen zu behandeln, Kinder nach dem Erreichen des achtzehnten Lebensjahres freizugeben. Klitorisbeschneidung widerspricht der Menschenwürde. Versuche, den Koran oder andere heilige Bücher zum Leitfaden der Staatstätigkeit zu machen, sind zu unterlassen. Der Neubürger sollte weder lebende Tiere herunterschlucken noch Hunde schlachten. In der Öffentlichkeit hält er sich zurück, zügelt spontane Aktionsimpulse und unterdrückt den Wunsch zu schreien. Er distanziert sich von reaktionären Institutionen und unlogischen Glaubenssätzen. Außerdem unterläßt er es, das Wirtsvolk erziehen zu wollen. Dann steht seiner Gleichbehandlung nichts im Wege.“ 231 Vgl. Wolfgang RUDOLPH, Der Kulturelle Relativismus, Kritische Analyse einer Grundsatzfragen-Diskussion in der amerikanischen Ethnologie (= Forschungen zur Ethnologie und Sozialpsychologie 6), Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 101-103. 232 Wolfgang RUDOLPH, Der Kulturelle Relativismus, S. 103; Executive BOARD (American Anthropological Association), Statement on Human Rights submitted to the Commission on Human Rights, United Nations, in: American Anthropologist 49,4 (1947), S. 539-543. Die sieben damaligen Ausschußmitglieder der AAA waren Clyde Kluckhohn, Melville J. Herskovits, Charles F. Voegelin, Cora Du Bois, William W. Howell, Ralph L. Beals und W. W. Hill. Maßgeblichen Anteil am Text dieser programmatischen Erklärung hatte Herskovits, ein Schüler von Franz Boas. 233 EXECUTIVE BOARD, Human Rights, S. 539.
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mankind as a whole.“234 Die Vorstellungen von „right and wrong“, von „good and evil“, fänden sich zwar in allen Gesellschaften, though they differ in their expression among different peoples. What is held to be a human right in one society may be regarded as anti-social by another people, or by the same people in a different period of their history. The saint of one epoch would at a later time be confined as a man not fitted to cope with reality. Even the nature of the physical world, the colors we see, the sounds we hear, are conditioned by the languages we speak, which is part of the culture into which we are born.235
Interessant ist nun, wie die Unterzeichner dieser Erklärung, trotz ihrer sowohl moralisch als auch erkenntnistheoretisch axiologisch-relativistischen Position, ein Vorgehen gegen politisch unerwünschte Systeme zu rechtfertigen versuchen: Even where political systems exist, that deny citizens the right of participation in their government, or seek to conquer weaker peoples, underlying cultural values may be called on to bring the peoples of such states to a realization of the consequences of the acts of their governments, and thus enforce a brake upon discrimination and conquest. For the political system of a people is only a small part of their total culture.236
Selbst die Verfasser dieser Erklärung suchen also dem Dilemma eines in politischer Tatenlosigkeit und Fatalismus mündenden axiologischen Relativismus dadurch zu entkommen, daß sie sich auf „underlying cultural values“ berufen. Gerade dieser Appell an „underlying cultural values“ widerspricht jedoch sowohl einem axiologisch-erkenntnistheoretischen als auch einem axiologisch-moralischen Relativismus. Denn erstens wird hier von der Existenz kultureller Werte ausgegangen, die in allen Gesellschaften eventuell vorhandenen intoleranten Tendenzen zuwiderlaufen, zweitens wird – wie aus dem letzten Satz des Zitats ersichtlich – angedeutet, daß diese Werte von der Mehrheit der Menschen auch in politisch autoritären Systemen geteilt werden und drittens wird ein Eintreten für diese, mit der Aura der Majoritären versehenen Werte ausdrücklich befürwortet.
4.4 Das Studium des Fremden als Mittel der Selbsterkenntnis und Emanzipation: Bemerkungen zur Wissenschaftsgläubigkeit von Franz Boas Eine weitere uns im Rahmen der Cultural Anthropology immer wieder begegnende Verheißung spiegelt sich in der wissenschaftsgläubigen Vor234 Ebenda, S. 542 [Hervorhebung im Original]. 235 Ebenda. 236 Vgl. ebenda, S. 543.
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stellung, daß das Studium des Fremden die Gelegenheit biete, von dessen Standpunkt aus auf das Eigene zurückzuschauen und sich so selbst mit den Augen oder durch die Brille eines anderen kritisch zu betrachten. Erst durch die Anthropologie, durch das Einnehmen einer fremden, außerhalb unserer Kultur liegenden Perspektive, sei es möglich, sich der eigenen Traditionen gewahr zu werden und das Bekannte zu erkennen. Immer wieder werden Anthropologen gerade in ihren Feldforschungsberichten den Zuhausegebliebenen erzählen, wie ihnen die anfangs exotisch, unsinnig und unheimlich scheinenden fremdartigen Daseinsweisen mit der Zeit vertraut, verständlich und auch teuer geworden waren. Mit der allmählichen Initiation in eine fremde Kultur, so die Feldforscher, habe schließlich auch das Eigene seine unreflektierte Unschuld eingebüßt, sei seiner Selbstverständlichkeit entkleidet worden und zu einer Möglichkeit unter vielen geraten. Mit dieser durch das Studium des Fremden gewonnenen Einsicht in die Relativität und Bedingtheit des Eigenen verbanden Anthropologen, insbesondere jene der Schule von Boas, nun immer wieder die Hoffnung, die Fähigkeit, sich von Außen zu sehen, würde es auch ermöglichen, die Ketten der eigenen Tradition ein wenig zu lockern, ja die Tradition selbst in Frage zu stellen.237 Gerade dieser der anthropologischen Erkenntnis der Relativität innewohnende Skeptizismus steigere, so der Glaube, die für jeden Fortschritt unentbehrliche Lust am Neuen und Devianten zu Hause und am Fremden in der Ferne. Auch im Rahmen dieser anthropologischen „Verwertungsstrategie“ ist also das Studium des Fremden wertvoll, da es uns jene Selbsterkenntnis ermöglicht, die wiederum – und dies ist wichtig zu betonen – nicht Selbstzweck ist, sondern ein Mittel, eine neue und bessere Gesellschaft aufzubauen. Franz Boas sollte diesem Glauben, das Verstehen des Fremden sei der Schlüssel zu einer Befreiung verheißenden Selbsterkenntnis, einmal wie folgt Ausdruck verleihen:
237 Zur Rolle der Anthropologie als wichtiger Teil der europäischen Tradition der Selbstkritik vgl. Leszek KOLAKOWSKI, Die Moderne auf der Anklagebank, Zürich: Manesse 1991, S. 17-34, hier S. 18-19: „Diese Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen und – selbstverständlich gegen einen starken Widerstand – pharisäerhafte Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit aufzugeben, ist die Ursache der geistigen Kraft Europas. Aus ihr erwuchs das Bemühen, die ‚ethnozentrische‘ Befangenheit zu durchbrechen, und sie hat seine Kultur definiert. Dank dieser Fähigkeit wurde deutlich, daß das Spezifische und der einzigartige Wert der europäischen Kultur in der Bereitschaft liegen, nicht in ewiger Selbstgenügsamkeit und Selbstgewißheit zu verharren. Letztlich kann man sagen, daß die kulturelle Identität Europas sich in der Weigerung äußert, eine vollständige Identifikation zuzulassen, daß sie also in der Ungewißheit und in der Unruhe besteht. Zwar sind sämtliche Wissenschaften […] innerhalb der europäischen Kultur entstanden oder zu ihrer (natürlich relativen) Reife gelangt, doch ist eine – und zwar aufgrund ihres Inhalts – eine schlechthin europäische Wissenschaft: die Anthropologie.“
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Das Endziel der Volkskunde erachten wir als ein viel tieferes. Sitten, Bräuche, Denkformen und ethisches Bewußtsein einer jeden Zeit fussen auf überlieferten Kulturformen. Keinem unter uns ist es gegeben, sich frei zu machen von dem Bann, in den das Leben ihn geschlagen. Wir denken, fühlen und handeln getreu der Überlieferung, in der wir leben. Das einzige Mittel uns zu befreien ist die Versenkung in ein neues Leben und Verständnis für ein Denken, ein Fühlen, ein Handeln das nicht auf dem Boden unserer Zivilisation erwachsen ist, sondern das seine Quellen in anderen Kulturschichten hat. So dürfen wir hoffen, bei umfaßender [sic] Rundschau einen Einblick in die geistigen Quellen unseres Seelenlebens zu gewinnen. Wie die Geschichte der Philosophie die psychologischen Bedingungen der Weltauffassung verschiedener Zeiten und Länder aufspüren soll, so will die Volkskunde die unbewußten Quellen unserer Urteile, der Formen in denen unser Gefühlsleben sich äußert, und der Formen unserer Willensäußerungen erforschen.238
238 Franz BOAS, Brief an Friedrich S. Krauss, in: Anthropophyteia: Jahrbücher für Folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwickelungsgeschichte der geschlechtlichen Moral 1 (1904), S. V-VI, hier S. V [Der Brief diente als Geleitwort der von Krauss gegründeten skandalumwitterten Zeitschrift]. Diese Verheißung, daß erst das Kennenlernen einer fremden Kultur jenen Perspektivenwechsel ermögliche, der die Bedingung wahrer Selbsterkenntnis sei, führte auch John Stuart Mill in seiner bemerkenswerten und noch heute lesenswerten Rektoratsrede aus dem Jahre 1867 ins Treffen, in der er für den Unterricht in den klassischen Sprachen des Altertums plädierte: „Without knowing the language of a people, we never really know their thoughts, their feelings, and their type of character: and unless we do possess this knowledge, of some other people than ourselves, we remain, to the hour of our death, with our intellects only half expanded. Look at a youth who has never been out of his family circle: he never dreams of any other opinions or ways of thinking than those he had been bred up in; or, if he has heard of any such, attributes them to some moral defect, or inferiority of nature or education. If his family are Tory, he cannot conceive the possibility of being a Liberal; if Liberal, of being a Tory. What the notions and habits of a single family are to a boy who has had no intercourse beyond it, the notions and habits of his own country are to him who is ignorant of every other. Those notions and habits are to him human nature itself; whatever varies from them is an unaccountable aberration which he cannot mentally realize: the idea that any other ways can be right, or as near an approach to right as some of his own, is inconceivable to him. This does not merely close his eyes to the many things which every country still has to learn from others: it hinders every country from reaching the improvement which it could otherwise attain by itself. We are not likely to correct any of our opinions or mend any of our ways, unless we begin by conceiving that they are capable of amendment: but merely to know that foreigners think differently from ourselves, without understanding why they do so, or what they really do think, does but confirm us in our self-conceit, and connect our national vanity with the preservation of our peculiarities. Improvement consists in bringing our opinions into nearer agreement with facts; and we shall not be likely to do this while we look at facts only through glasses coloured by those very opinions. But since we cannot divest ourselves of preconceived notions, there is no known means of eliminating their influence but by frequently using the differently coloured glasses of other people: and those of other nations, as the most different, are
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Wie bereits erwähnt, war auch für Boas die Anthropologie zentraler Bestandteil eines großen aufklärerischen Projekts. Obgleich gerade er den Menschen immer wieder als ein a-rationales und rationalisierendes Wesen zeichnen sollte, hatte er doch ein so tiefes Vertrauen in die läuternde Macht der Rationalität, war er doch so wissenschaftsgläubig, daß er meinte, die Erkenntnis der Relativität der eigenen Traditionen einerseits, sowie die Erkenntnis der biologischen Gleichheit der Menschen andererseits, würden zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Kulturen beitragen, einen wechselseitig befruchtenden Austausch befördern und zudem dem Einzelnen innerhalb seiner Kultur ein größeres Maß an Freiheit gewähren. Es ist dieses bis in die Ethnographie des Altertums zurückreichende Leitmotiv anthropologischer Verheißungsrhetorik, das auch heute in den immer wieder zu hörenden feierlichen Erklärungen mitschwingt, wie wichtig es sei, die ethnozentrischen Scheuklappen abzulegen, den Horizont zu erweitern, fremde Sprachen und Kulturen zu studieren, den – um mit Herder zu sprechen – sensus humanitatis zu schärfen, den engen Zirkel der Lokalkenntnis zu sprengen und Generalkenntnis zu erwerben. Gerade diese der Phraseologie diverser Festtagsreden entnommenen Lebensweisheiten scheinen zu zeigen, daß die Verheißung, die Anthropologie vermittle nicht nur Kenntnisse, sondern das, was im Deutschen mit dem bedeutungsschwangeren Wort „Bildung“ bezeichnet wird, noch nicht versiegt ist. Ein hoffnungsloser Pessimist, der einer dieser Festtagsreden beiwohnt, würde sich hier vielleicht die Frage stellen, ob denn das Wissen um die Relativität des Eigenen nicht in manchen Fällen gerade dazu führt, daß Intoleranz und Haß gegen den Fremden geschürt und die ethnozentrischen Scheuklappen festgezurrt werden, um der beunruhigenden Vielfalt zu entgehen; ja ob nicht mitunter der Fanatismus desjenigen, der gesehen hat, was er nicht sehen wollte, furchtbarer ist als jener des Blinden?239 the best.“ John Stuart MILL, Inaugural Address. Delivered to the University of St. Andrews, Feb. 1st, 1867, in: The Living Age 92 (1867), S. 643-671, hier S. 649 [Meine Hervorhebung]. Dieser Beitrag ist Teil der digitalen Bibliothek „Making of America“ der Cornell University. http://cdl.library. cornell.edu/cgi-bin/moa/moa-cgi?notisid=ABR0102-0092-13 (Zugriffsdatum 8. Februar 2004). 239 Gerade der Glaube, daß Rassismus und kulturelle Vorurteile durch Aufklärungsarbeit, Erziehungsprogramme und interkulturelle Kommunikation bekämpft und besiegt werden könnten, gehört zu den Leitmotiven dieser anthropologischen Legitimationsrhetorik. Es gelte, die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu überwinden, den anderen kennenzulernen und die auf Unwissenheit beruhende barbarische Intoleranz würde ein Ende finden. In einer beeindruckenden Passage seines Buches Das europäische Alphabet (2000) stellt der Essayist Karl-Markus Gauß das optimistische Menschenbild, das dieser Hoffnung zugrunde liegt, radikal in Frage: „Seit der Aufklärung hält sich bei wohlmeinenden Erziehern der Glaube, die Völker müßten einander nur kennenlernen, um füreinander Sympathie oder immerhin Respekt zu empfinden, und der Haß, in dem sie sich periodisch gegen-
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Exkurs: Franz Boas – Ehrendoktor der Karl-FranzensUniversität Graz: Eine Episode aus dem Leben des deutschamerikanischen Kulturanthropologen Dem Andenken an Franz Boas „Es ist für mich eine Quelle der Freude zu denken daß ich klein weniges habe tun können um die Schwierigkeit unter denen die Wissenschaft Deutschlands und Oesterreichs nach dem Kriege litt, zu überwinden zu helfen.“240 Diese Worte schrieb Franz Boas am 6. August 1928 an den Deeinander hetzen lassen, wurzle in der Unkenntnis, die sie voneinander haben, also letztlich in etwas, das gar nicht vorhanden ist, im Nichts. Dieser Glaube ist achtbar, ja edel, und die sich ihm verschrieben, mögen die achtbarsten und edelsten Menschen sein. Doch haben die Serben, Kroaten und Muslime Bosniens einander nicht gekannt? Sie haben doch jahrhundertelang in denselben Dörfern und Städten gewohnt, sie gemeinsam aufgebaut, miteinander fortwährenden Austausch getrieben, nicht nur von Waren, sondern von Auffassungen, Lebenshaltungen und Einsichten; und in unzähligen Familien über die ethnische Schranke hinweg geheiratet, die dadurch auch keine mehr war, und Kinder gezeugt, die selbst nach dem Maß der Blutstatistiker das Erbteil nicht einer Gemeinschaft allein, vielmehr mehrerer, aller Nationalitäten der Region in sich tragen! Und wissen die irischen Katholiken und die irischen Protestanten wirklich nichts voneinander? Sind die Albaner des Kosova, wie sie das von ihnen bewohnte Gebiet nennen, und die Serben aus dem Kosovo, wie diese es bezeichnen, einander etwa fremd? Haben die Rumänen und die Ungarn Siebenbürgens, ehe sie mit Zaunlatten aufeinander losstürmten, den Nachbarn tatsächlich für einen landfremden Blutsauger gehalten, der zufolge einer internationalen Verschwörung das Land besetzt hält? Nein, sie alle kennen einander und haben sich doch immer wieder gegeneinander mobilisieren lassen. Ist ihr Haß aus der Unkenntnis geboren? Er gilt jedenfalls keineswegs dem unbekannten Fremden, der sich in Sitten und Gebräuchen, in religiösen Riten und alltäglichen Gewohnheiten wunders was von ihnen unterscheiden würde. Nein, dieser Haß gilt nicht dem Fernsten, sondern dem Nächsten, dem Nachbarn, dem nur zu gut Bekannten. Man könnte sagen, er gilt jenem, der einem so nahe ist, daß man er selber sein könnte, daß nur ein Kleines fehlt und man wäre er geworden; ein winziger biographischer Zufall, eine geringfügige, doch folgenreiche Entscheidung weit zurück in der Familiengeschichte hat genügt, daß man sich auf der anderen Seite befindet.“ KarlMarkus GAUSS, Das europäische Alphabet, München: DTV 2000 [1997], S. 78-79. Ähnlich argumentiert der slowenische Schriftsteller und Essayist Drago Janþar, der meint, das „Wesen der modernen europäischen Xenophobie […] ist nicht Feindschaft gegenüber dem wahren Fremden, gegen den, der jenseits der Berge wohnt oder von weither kommt, der wahre xénos ist jetzt der Nachbar, jener, der seit jeher in der Nachbarschaft lebt, aber nicht so sein will, wie wir es sind, der kein Mensch unsere[r] Sprache und unserer Kultur sein will“. Drago JANýAR, Lieber rauchgeschwärzte Trümmer, in: ders., Brioni und andere Essays, Wien-Bozen: Folio Verlag 2002, S. 34-40, hier S. 37-38. 240 Universitätsarchiv der Karl-Franzens Universität Graz, Philosophische Fakultät Dekanats-Zahl 1922 ex 1927/28. Franz Boas an den Dekan der
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kan der Philosophischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Wenige Wochen zuvor hatte ihn der Dekan im Namen der Fakultät zu seinem 70. Geburtstag beglückwünscht und ihm „den innigsten Dank für die unvergänglichen Verdienste“ ausgesprochen, die sich Boas „um die Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Grazer Universität in der Zeit der grössten Not durch Vermittlung hochherziger Zuwendung erworben“ hatte.241 Daß Franz Boas im Jahre 1922 für seine materielle Hilfeleistung zum Ehrenmitglied und im Jahre 1923 für seine wissenschaftlichen Verdienste zum Ehrendoktor der Universität Graz ernannt wurde, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten.242 In der Dekade nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hingegen scheinen sich viele Grazer Professoren und Universitätsangehörige des persönlichen Einsatzes von Franz Boas für ihre Institution bewußt gewesen zu sein. Gerade in der Zeit der schwersten wirtschaftlichen Bedrängnis bildete es, so Prorektor Hans Rabl anläßlich der Inaugurationsfeier für den neuen Rektor im Studienjahr 1925/26, „einen Lichtblick […], daß wir erkennen durften, daß die österreichischen Universitäten in der ganzen Welt Freunde besitzen und daß sich darum auch außerhalb der Grenzen unseres Staates Kräfte rührten, um ihren Niedergang hintanzuhalten“.243 Eine der gravierendsten Folgen des Krieges für die österreichische Wissenschaft, so Rabl, sei die Schwierigkeit der Beschaffung der in den Kriegs- und Nachkriegsjahren in den feindlichen Ländern erschienenen Veröffentlichungen gewesen: Hier griffen vor allem zwei Gesellschaften helfend ein: Die „Emergency Society for German and Austrian Science and Art“ unter dem verdienten Präsidenten Professor Franz Boas, und die „Society of Friends“, welche die Universität nicht nur durch Übersendung amerikanischer und englischer Zeitschriften, sondern
philosophischen Fakultät der Universität Graz, 6. August 1928. Im folgenden verwende ich die Abkürzung UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 241 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 1764 ex 1927/28, Dekan der philosophischen Fakultät an Franz Boas, o. D. 242 Eine Erwähnung des Ehrendoktorats findet sich bei Helen HUDGENS, Boas, Franz, in: The Universal Jewish Encyclopedia 2, New York: Universal Jewish Encyclopedia Co., Inc. 1948, S. 430-432, hier S. 432. Auf die materielle Unterstützung der Grazer Universität durch Franz Boas und seine Ernennung zum Ehrenmitglied verweist Walter HÖFLECHNER, Die Baumeister des künftigen Glücks: Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 23), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1988, S. 166. 243 Hans RABL, Die feierliche Inauguration des Rektors der Grazer Universität für das Studienjahr 1925/26, I. Bericht des Prorektors, Graz: Leuschner & Lubensky’s Universitätsbuchhandlung 1925, S. 3-36, hier S. 20.
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auch durch Bargeld unterstützten. Ihrem Beispiele folgen später noch verschiedene andere amerikanische Stiftungen und Gesellschaften […].244
Im Mittelpunkt des folgenden Exkurses steht die Beziehung von Franz Boas zur Grazer Universität. Die Ausführungen gliedern sich hierbei in zwei Teile. In einem ersten Teil möchte ich die verheerenden Zustände an den österreichischen Universitäten, insbesondere an der Karl-Franzens-Universität Graz, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren besprechen. Hierfür werde ich ausführlich aus Aktenbeständen des Grazer Universitätsarchivs zitieren.245 Im zweiten Abschnitt soll anhand von Archivmaterialien die materielle Unterstützung durch Franz Boas sowie seine Ernennung zum Ehrenmitglied und Ehrendoktor der Karl-Franzens-Universität Graz erörtert werden. Die Beziehung von Franz Boas zur Grazer Universität ist freilich nur eine kleine Episode aus dem bewegten Leben des Deutschamerikaners. Aber diese Episode gewährt doch, wie ich meine, einige interessante Einblicke in eine Spannung, die sein Leben und Werk kennzeichnet; die Spannung zwischen seiner tiefen Wissenschaftsgläubigkeit, seiner Vorstellung einer grenzüberschreitenden Solidarität der scientific community, und seiner lebenslangen gefühlsmäßigen Verbundenheit mit dem deutschen Sprach- und Kulturraum, den er im Alter von 28 Jahren, als er in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierte, verließ.
1. Die Karl-Franzens-Universität Graz: Der Erste Weltkrieg und seine Folgen246 Zur Orientierung über die Verhältnisse an der Grazer Universität zur Zeit des Ersten Weltkrieges seien einleitend einige Zahlen genannt. Im Sommersemester 1914 waren an der Grazer Universität 2.070 Studierende inskribiert. Rund ein Zehntel der Studierenden kam aus dem Ausland.247 Zwei Jahre nach Kriegsausbruch, im Sommersemester 1916, sank die Hö244 Ebenda, S. 21. Rabl verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Hilfe, welche die Rockefeller-Foundation den drei österreichischen medizinischen Fakultäten zukommen ließ. 245 Für die Situation der Grazer Studentenschaft stütze ich mich hierbei weitgehend auf – wie ich annehme – unveröffentlichtes Archivmaterial. Für die Lage der österreichischen Professoren nach dem Ersten Weltkrieg vgl. vor allem die Sammlung von Alois KERNBAUER, Svante Arrhenius’ Beziehungen zu österreichischen Gelehrten: Briefe aus Österreich an Svante Arrhenius (1891-1926) (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 21), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1988. 246 Vgl. hierzu insbesondere HÖFLECHNER, Baumeister des künftigen Glücks, S. 162-167. 247 Rabl, dem ich diese Zahl entnehme, zählte zu den ausländischen Studierenden der Monarchie diejenigen, die von außerhalb der Grenzen Österreichs kommen, also auch Ungarn, Kroaten, Slawonier sowie die Bewohner von Bosnien und Herzegowina. Vgl. RABL, Die feierliche Inauguration, S. 5.
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rerzahl auf den Tiefstand von 673. Nach Kriegsende, im Wintersemester 1918/19, inskribierten 1.952 Hörer an der Grazer Universität.248 In der Mitte der 1920er Jahre, im Wintersemester 1924/25, betrug die Gesamtzahl der Studierenden 2.347. Untersuchungen nach dem Krieg ergaben, wie Rektor Hans Rabl in seinem kurzen Beitrag „Die Verluste der Grazer Universität im Weltkrieg“ (1927) festhielt, daß die Grazer Universität den Tod von 2 Privatdozenten, einem Assistenten und einem Laboranten, 137 Studierenden und eben promovierten Doktoren „deutscher Volkszugehörigkeit“ zu beklagen hatte.249 Meinen Berechnungen zufolge fiel rund ein Drittel der Grazer Universitätsangehörigen in Galizien. Am 11. November 1926, am achten Jah248 Vgl. RABL, Die feierliche Inauguration, S. 5-6 und 29. Nach dem Zerfall der Monarchie kamen viele junge Leute aus den ehemaligen Kronländern nach Graz, um hier zu studieren. Dadurch stieg, wie Rabl bemerkt, der Anteil ausländischer Studierender. Zwischen dem Wintersemester 1920/21 und dem Sommersemester 1925 schwankte dieser Anteil zwischen 34 % und 48 %. Im gleichen Zeitraum variierte der Anteil der Studierenden, die deutsch als Muttersprache angaben, zwischen zwei Drittel und vier Fünftel. Eine große Zahl der ausländischen Hörer kam aus Bulgarien. Im Wintersemester 1921/22 waren 470 Bulgaren an der Grazer Universität inskribiert. Die größte Zahl an ausländischen Studierenden verzeichnete übrigens die medizinische Fakultät. Hier waren im Sommersemester 1924 331 Inländer und 690 Ausländer inskribiert. Knapp mehr als die Hälfte (522) hatte Deutsch als Muttersprache. Vgl. ebenda, S. 5-10 und 29-30; siehe auch Ferdinand G. SMEKAL, Alma Universitas: Die Geschichte der Grazer Universität in vier Jahrhunderten, Wien: Verlag der Vereinten Nationen 1967, S. 122-126. Nur am Rande sei hier bemerkt, daß Teile der inländischen Studentenschaft den zahlreichen ausländischen Hörer scheinbar ablehnend gegenüberstanden. So berichtet etwa das Rektorat in einem Schreiben an das philosophische Dekanat, „daß der Allgemeine StudentenAusschuß beim Rektorate die Bitte gestellt hat, in diesem Semester keine Ausländer mehr zur nachträglichen Inskription zuzulassen, weil die schwierigen Lebensverhältnisse, die Wohnungsnot und die Notwendigkeit, für Heimkehrer Plätze vorzubehalten, eine weitere Aufnahme von Ausländern untunlich erscheinen lassen. In besonders berücksichtigungswürdigen Fällen wird es jedoch dem Herrn Dekan selbstverständlich unbenommen sein, im Einvernehmen mit dem Rektorate Gesuche um nachträgliche Inskription dem Akademischen Senate vorzulegen. Als solche Fälle sind besonders jene zu bezeichnen, in welchen Studierende deutscher Nationalität, die durch den Friedensvertrag Ausländer geworden sind, um nachträgliche Inskription ansuchen.“ UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 294 ex 1919/20, Schreiben des Rektorats an das Dekanat der philosophischen Fakultät, 3. November 1919. Daß in den Nachkriegsjahren Gesuche ausländischer Studierender um Inskription abgelehnt wurden, geht aus den Akten des Grazer Universitätsarchivs hervor. Ob es hierzu statistische Untersuchungen gibt, ist mir leider nicht bekannt. 249 Hans RABL, Die Verluste der Grazer Universität im Weltkrieg, in: UNIVERSITÄT GRAZ, Beiträge zur Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Herausgegeben zur hundertjährigen Gedenkfeier ihrer Widererrichtung, Graz: Verlag der Universitäts-Buchhandlung Leuschner & Lubensky 1927, S. 51- 60, hier S. 52.
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restag des Waffenstillstandes, wurden beim Eingang zur Aula zwei rotbraune, marmorne Gedenktafeln enthüllt, auf denen die Namen der Gefallenen eingraviert waren.250 Besonders schwierig, so Rabl, sei die Frage zu entscheiden gewesen, „ob auch die nichtdeutschen Hörer auf den Gedenktafeln zu verewigen seien“. Ohne diese bleibe die Verlusttafel naturgemäß unvollständig, „denn zweifelsohne hatte auch so mancher von ihnen an der Seite seiner deutschen Kommilitonen den Heldentod gefunden“. Wäre die Monarchie nicht zerfallen, so Rabl, hätte es diese Frage freilich gar nicht gegeben. „Nun aber, da sich die fremdsprachigen Nationen von Österreich losgelöst hatten, waren auch die slawischen und italienischen Studenten an unserer Universität Fremde geworden.“ Die mit den Nachforschungen beauftragten Beamten hätten zwar versucht, auch das Schicksal dieser Studierenden zu erkunden, doch ihre Ermittlungen seien ergebnislos geblieben. „So enthält denn das Verzeichnis […] nur Deutsche, und die Überschrift, welche die Gedenktafeln tragen, ist vollberechtigt. Es sind ‚Unsere Toten‘, die sich stets als Deutsche bekannt haben und für die Ehre des deutschen Volkes und die Wohlfahrt ihrer deutschen Heimat gestorben sind.“251 Die beiden Gedenktafeln mit der Überschrift „Unsere Toten“ sind noch heute in dieser Form beim Eingang zur Aula der Grazer Universität zu besichtigen. Keine Erklärung, kein Zusatz, keine Erläuterung – nichts erinnert daran, daß auf dem Schlachtfeld auch Studierende der Grazer Universität den Tod fanden, die in ihren Gräbern nach 1918 zu „Fremden“ wurden. Die katastrophalen Lebensverhältnisse der Studierenden in den Nachkriegsjahren lassen sich aus den Stipendienanträgen, den Ansuchen um Befreiung von Taxen, Gebühren und Kolleggeldern, den Ansuchen um Anrechnung der Kriegssemester sowie aus den offiziellen ,Armutszeugnissen‘, den sogenannten Mittellosigkeitsbekenntnissen, erahnen.252 Im folgenden sollen anhand einiger dieser Anträge, die allesamt vom Oktober und November des Jahres 1919 stammen, Einblicke in die überaus desolate Situation der Studierenden vermittelt werden. Emil Haring wurde 1899 geboren.253 Er absolvierte alle acht Klassen des Realgymnasiums sowie die im März 1917 abgelegte Reifeprüfung mit 250 Vgl. ebenda, S. 51. 251 Vgl. ebenda, S. 53. 252 Ich bin mir bewußt, daß jene Studenten, die um Stipendien ansuchen, nicht im strengen Sinn repräsentativ für die gesamte Studentenschaft sind. Aber die Vielzahl der Stipendiengesuche binnen zweier Monate – wobei ich in meiner kleine Stichprobe nur jene berücksichtigt habe, die an das Philosophische Dekanat gerichtet waren – scheint es doch zu rechtfertigen, einige Schlußfolgerungen über die schwierige Situation der Studentenschaft im allgemeinen zu ziehen. 253 Vgl. UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 283 ex 1919/1920, Emil Haring an das Philosophische Dekanat, [Betreff:] Stipendiengesuch an den Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz um Gewährung des 2. Platzes der Friedr.Anton-Neuholdschen Studentenstiftung, 29. Oktober 1919. Ich habe mir beim Entziffern der mitunter schwer lesbaren handschriftlichen Stipen-
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Auszeichnung. Am 10. März 1917 mußte er seine eben an der Philosophischen Fakultät begonnenen Studien unterbrechen und zum Militärdienst einrücken. Von September 1917 bis November 1918 leistete er Feld- und Frontdienst und wurde mit verschiedenen Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Am 4. November 1918 geriet er in italienische Kriegsgefangenschaft, aus der er neun Monate später, am 6. August 1919, entlassen wurde. Drei Tage später schied er aus dem Militärdienst aus. In seinem Stipendiengesuch vom 29. Oktober 1919 an den Grazer Bürgermeister, das von der Philosophischen Fakultät begutachtet werden mußte, heißt es: So hat er mindestens 4 Semester regelrechten Studiums verloren (lt. MilitärBestätigung). […] Seine unterbrochenen Studien nahm der Gefertigte sogleich wieder auf […]. Ist der Gefertigte selbst vollständig mittellos, was ja auch beiliegendes Mittellosigkeitszeugnis bestätigt. Wenn er diese Geldhilfe [nicht] bekäme, so wäre er wohl zur Aufgabe seines Studiums gezwungen. Seine Mutter, die ihn zu erhalten hätte, ist angewiesen auf die geringe Witwenpension nach ihrem am 13. Oktober 1919 verstorbenen Gatten Johann Haring, Oberlehrer i.R. […]. Der Monatsgehalt belief sich bis jetzt (also noch vor dem Tode des Vaters) auf 270 Kronen […], obwohl der Vater 52 Jahre im Lehrdienste gewirkt hatte. Mit diesem geringen Betrage hatten bis jetzt die Eltern die vollständig arbeitsunfähige Großmutter, ferner 8 unmündige, unversorgte Kinder zu erhalten. Bei der riesigen Teuerung wäre es natürlich unmöglich gewesen zu leben (mit solch geringem Gehalte) wenn nicht der Bittsteller mit seinen ganzen militärischen Bezügen zur Hilfe gekommen wäre, wodurch noch ein karges Fristen des Lebens bis jetzt ermöglicht wurde. Dadurch war es dem Bittsteller aber überhaupt unmöglich gemacht, sich fürs spätere Weiterstudium etwas zurück zu legen. Nun aber starb der Vater am 13. Okt. l. J., seinen Tod beschleunigten wohl in riesigem Ausmaße Sorgen und Entbehrungen der Kriegsjahre. Die Mutter wartet nun auf Gewährung der Witwenpension […]; diese Pension wird natürlich noch wesentlich geringer sein als die bisher bezogene […]. So ist es der Mutter unmöglich gemacht, für ihre 72-jährige Mutter, die bei ihr wohnt, und für alle 8 Kinder zu sorgen, und ist der Gefertigte, ohne alle Geldmittel dastehend, auf Gewährung der erbetenen Stiftung angewiesen, da ihm sonst eine Vollendung seiner Studien unmöglich gemacht wäre.254
Arnulf Solty, Student im ersten Semester, bewarb sich um ein Stipendium in der Höhe von 400 Kronen.255 In seinem Gesuch wies er darauf hin, daß er über „kein wie immer geartetes Vermögen“ verfüge und, wie aus dem
diengesuche Mühe gegeben. Daß mir bei der Transkription Fehler unterlaufen sind, kann ich freilich nicht ausschließen. 254 Ebenda. Das Professorenkollegium unterstützte das Stipendiumsgesuch von Haring mit dem Hinweis auf die „ausgezeichneten“ Studienerfolge und die „besonders schlechte materielle Lage“ des Bewerbers. 255 Vgl. UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 245 ex 1919/1920, Arnulf Solty an das Professorenkollegium [der philosophischen Fakultät], Bitte um Verleihung der Zinsen der Dr Franz Irsa-Stiftung im Betrag von 400 K, 25. Oktober 1919.
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beiliegenden Mittellosigkeitsbekenntnis ersichtlich, „bezüglich seines Lebensunterhaltes auf seine Eltern angewiesen“ sei. Außer für ihn müsse der Vater noch für seinen Bruder Roland, einen Medizinstudenten, der infolge einer dreieinhalbjährigen russischen Kriegsgefangenschaft sieben Semester verloren habe sowie für seine „minderjährige Schwester sorgen“.256 Die Pension seines Vaters, eines Zollinspektors im Ruhestand, reiche „für eine Familie in der gegenwärtig teuren Zeit kaum zur Bestreitung der wichtigsten Lebensmittel“ aus. In seinem Gesuch um das Stipendium der Franz-Irsa-Stiftung schrieb ein Student der Chemie, daß er sich in „großer materieller Notlage“ befände.257 Sein Vater, ein Oberlehrer, beziehe „nur geringen Gehalt“. Das Studium der Chemie „erfordert viel Geld, namentlich heute bei den großen Kosten der Materialien zur Beschaffung von Laboratoriumseinrichtungsgegenständen.“ Ein weiterer Bewerber um das Stipendium der Franz-Irsa-Stiftung verwies in seinem Antrag darauf, daß seine „kranke Mutter“, wie aus dem beigelegten „Armutszeugnis“ hervorginge, nur eine monatliche Pension in der Höhe von 72 Kronen erhielte.258 Seine Mutter sei „vollkommen mittellos“ und müsse „mit dieser kleinen Pension eine Familie von 3 unversorgten Kinder [sic] [erhalten]“. Bislang hätte er „durch Instruktionen für die Kosten“ seines Studiums „aufkommen und auch meiner Mutter (Vater ist gestorben) eine kleine Unterstützung zuwenden“ können. „Nun von der ital. Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, war es mir bis jetzt unmöglich, einen Nebenerwerb zu finden, um wenigstens die Kosten meines Studiums zu bestreiten.“259 Die Hälfte der erbetenen Summe wurde dem Bittsteller gewährt. Walther Graber berichtet in seinem Gesuch, daß sein Vater zu Kriegsausbruch als Gymnasiallehrer in Pola, Istrien, tätig war. Derzeit sei sein Vater „stellenlos“ und müsse „mit der Geldaushilfe (geringer als das Normaleinkommen) die Familie erhalten“.260 Die „ganze Wohnungseinrichtung“ befände sich noch in Istrien. „Kurz nach Kriegsbeginn imperativ aus dem Kriegshafen evacuirt, muß sich die Familie seit fünf Jahren mit einer dürftig möblierten Wohnung in Graz behelfen und ist bis heute noch nicht 256 Ebenda. 257 Vgl. UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 246 ex 1919/20, Franz […] [Nachname unlesbar; B. W. ] an das Kuratorium der Dr Franz Irsa-Stiftung, o. D. [Beim Dekanat eingelangt am 25. Oktober 1919]. 258 Vgl. UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 293 ex 1919/20, […] [Name unlesbar; B. W.] an das Professorenkollegium der philosoph. Fakultät, Graz, Bitte um Verleihung des Stipendiums der Dr Franz Irsa-Stiftung zu Beginn des Wintersem. 19/20 mit Jahresbezug 400 K., 26. Oktober Graz. 259 Ebenda. 260 Vgl. UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 301 ex 1919/1920, Walther Graber an das Professorenkollegium der philosophischen Fakultät der Karl-FranzensUniversität, Bitte um Verleihung des Stipendiums der Dr Franz IrsaStiftung zu Beginn des Wintersemesters 1919/20, 4. November 1919.
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in der Lage, die Wohnungseinrichtung aus Pola nach Graz zu schaffen, so daß seit diesen langen Jahren doppelter Wohnungszins bezahlt werden muß.“261 Udo Illig, Student im sechsten Semester und Sohn eines Grazer Kaufmanns, schrieb in seinem Stipendiumsgesuch, daß er „infolge des finanziellen Zusammenbruchs seines Vaters“ „genötigt“ sei, „sich seit seiner 1916 mit Auszeichnung abgelegten Maturitätsprüfung ohne Unterstützung von Daheim durch Instruktionen zu erhalten“.262 Dies fiele „ihm bei den gegenwärtigen Lebensverhältnissen umso schwerer“, da er nunmehr im 6. Semester sei und „mit den Vorarbeiten für seine Doktordissertation, seinen Privatstunden, die seinen einzigen Lebensunterhalt ausmachen, nicht mehr genügend Zeit zu widmen vermag“. Illig, der später in der Kulturpolitik des Landes eine wichtige Rolle spielen sollte, war knapp zwei Jahre in „militärischer Dienstleistung“ und wurde schließlich, „wegen mehrfacher Kniegelenksverletzung super-arbitriert, dem Divisionsgerichte in Graz zugeteilt“.263 Felix Machatschki bat in seinem am 22. November 1919 verfaßten Gesuch um ein Stipendium in der Höhe von 680 Kronen jährlich.264 Er sei, wie er in seinem Schreiben festhielt, römisch-katholisch getauft und „Deutschösterreicher“: Sein Vater war als Staatsbeamter stets in Deutschösterreich, zuletzt in Feldbach, Steiermark, bedienstet und ist an einem im Staatsdienste durch Überanstrengung zugezogenen, langjährigen, schweren Nervenleiden, das infolge der damit verbundenen hohen Behandlungskosten die ganze Familie in bedrängteste finanzielle Lage brachte, im Jahre 1916 gestorben. Seiner Mutter, die noch 2 unversorgte Geschwister zu erhalten hat, kann Gefertigter bei der ohnehin unzureichenden Witwenpension nicht mehr zur Last fallen; ihm selbst wurde die Auszahlung des Erziehungsbeitrages mit Erreichung des 24. Lebensjahres im September 1919 eingestellt; da er wegen der 4 im Kriegsdienste verlorenen Jahre seine Studien nach Möglichkeit zusammendrängen muß, kann er sich das zum Lebensunterhalte Nötige durch Privatstunden nicht verdienen und wäre so, ohne irgendwelche Hilfe, gezwungen, trotz guten Fortganges seine Studien knapp vor dem Abschlusse abzubrechen. Die Mutter des Bittstellers wohnt in Waltendorf b. Graz […]. Weder er noch
261 Ebenda. 262 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 303 ex 1919/20, Udo Illig an das Philosophische Dekanat, Stipendiengesuch an den Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz um Verleihung des 1. Platzes der Friedr.-Anton-Neuholdschen Studentenstiftung mit einem Jahresbezug von 630 K, 5. November 1919. 263 Ebenda. 264 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 466 ex 1919/20, Felix Machatschki an das Philosophische Dekanat, Gesuch an den Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz um Verleihung des von der steiermärkischen Landesregierung ausgeschriebenen III. Adolf-Prellogschen [?] Studenten-Stiftungsfonds-Stipendiums jährlicher 680 K, 22. November 1919.
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seine Geschwister sind im Genusse einer Unterstützung; seine ältere Schwester kann als absolvierte Lehramtskanditatin [sic] wegen Überfüllung in ihrem Berufe keine Stellung finden. Der Gefertigte selbst stand 4 Jahre hindurch im Militärdienste, und zwar fast ununterbrochen an der Front. Er wurde, wie aus dem Mil.-Entlassungsschein zu entnehmen ist, einmal verwundet und fünfmal ausgezeichnet.265
Albin Lesky, Sohn eines Staatsbeamten, berichtete in seinem Gesuch, daß er „durch den Krieg zu einer vierjährigen Unterbrechung seiner Studien gezwungen“ wurde.266 Er leistete vom 1. März 1915 bis zum 25. November 1918 Militärdienst. Einunddreißig Monate stand er „ununterbrochen […] im Felde“. Lesky wurde mehrfach ausgezeichnet. Erst am 8. November 1918, „kurz vor dem allgemeinen Zusammenbruche, kam er mit „schwerer Krankheit (Rippenfellentzündung und Grippe) in das Hinterland“. Zur Fortsetzung seiner Studien, so Lesky, wäre eine „Unterstützung dringend notwendig“. Seinem Schreiben legte Lesky, der zu einem berühmten Altertumswissenschaftler avancieren sollte, unter anderem ein Mittellosigkeitsbekenntnis, ein Sittenzeugnis und einen Nachweis seiner guten Studienerfolge bei. Am oberen Rand seines Gesuches, neben seinem Namen, steht „abgewiesen.“ Oscar Haider schrieb in seinem Ansuchen, daß er, wie aus dem beigelegten Mittellosigkeitszeugnis hervorgehe, „gänzlich mittellos“ sei und sein Vater „bei den jetzigen schwierigen Verhältnissen“ ihn finanziell nicht genügend unterstützen könne.267 Niemand von seinen Geschwistern beziehe ein Stipendium. „Bittsteller erlaubt sich noch anzuführen, dass er seit Mai 1916 bis September ds. J. in Militärdienstleitung stand, davon die meiste Zeit in exponierten Stellungen an der italienischen Front und am 3. November v. J. am Tonalepass in Gefangenschaft geriet, aus der er Mitte September ds. J. zurückkehrte. Der Bruder des Gesuchsstellers, Franz Haider, ist als Kadett […] am 4. Juni 1915 am Pruth gefallen.“268 Immer wieder zeigt sich in den hier skizzierten Stipendienanträgen der Bruch, den der Krieg im Leben der jungen Studenten bedeutete. Die Erfahrung des Krieges steht außerhalb ihrer bisherigen Biographie. Einige wechseln direkt von der Schulbank zum Militär, andere werden aus ihren 265 Ebenda. 266 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 479 ex 1919/20, Albin Lesky an das Philosophische Dekanat, [Betreff:] Gesuch an den Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz um Verleihung des von der steiermärkischen Landesregierung ausgeschriebenen III. Adolf-Prellogschen [?] Studenten-StiftungsfondsStipendiums jährlicher 680 K, 24. November 1919. 267 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 492 ex 1919/20, Oscar Haider an das Philosophische Dekanat, [Betreff:] Gesuch an die steiermärkische Landesregierung um Verleihung des steiermärkischen Konviktfondsstipendiums II, VIII, XXII, jährlicher K 300.-, samt Fakultätszuschuß jährlicher K 200.-, 24. November 1919. 268 Ebenda.
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Universitätsstudien herausgerissen. Nach Ende des Krieges, der für manche erst nach der Gefangenschaft aufhörte, kehren sie nach Hause zurück und bemühen sich, an jenem Punkt in ihrem Leben fortzusetzen, an dem sie Jahre zuvor angelangt waren. Doch dies wird den meisten wohl kaum gelungen sein. Die Uniform konnte man ablegen, das Erlebte kaum. Der Krieg hat die Gymnasiasten und Studenten entscheidend verändert und die Welt, in die sie zurückkommen, ist nicht mehr die, die sie verlassen haben. Kurt Schuschnigg (1897-1977), der an einer Jesuitenschule in Feldkirch seine Matura abgelegt und im Sommer desselben Jahres eingerückt war, schreibt in seinen Erinnerungen an diese Zeit: „Das Einrücken war nun für uns eine ganz besondere Sache. Trotzdem bereits ein Jahr lang Leid und Not des Krieges herrschte, trieben jeden von uns aufrichtige Begeisterung und selbstverständliches Pflichtgefühl zu den Waffen. Als junger Mensch, von der Schule weg kann man ja auch nicht wissen, was Krieg in Wirklichkeit bedeutet!“269 Als Schuschnigg vier Jahre später, im Herbst 1919, aus der italienischen Kriegsgefangenschaft in die Heimat zurückkehrte, „war die Trostlosigkeit der Eindrücke dennoch überstark, die den Heimkehrer auf Schritt und Tritt überfielen. Wo war das Vaterland? Existierte es überhaupt noch?“ „Alles ringsum“, so Schuschnigg, „war zertrümmert“.270 Zu den auf dem Schlachtfeld verbrannten Idealen kam die materielle Not, die aus den Stipendienanträgen immer wieder hervorgeht. Nach Gehler lebten rund vier Fünftel der Innsbrucker Studierenden im Jahre 1920 unter dem „genügsamsten Bedürfnissen hohnsprechende[n] Existenzminimum von [monatlich] 955 Kronen“.271 Höflechner meint, dies sei „nahezu der Normalzustand“ der Nachkriegsjahre gewesen, der sich durch die Geldentwertung noch verschlechterte.272 Der desolate Zustand der österreichischen Hochschulen, an welche die jungen Leute nach dem Krieg zurückkehrten, wird aus einem Schreiben von Ende November 1920 deutlich, in dem der Historiker und Rektor der Universität Wien, Alfons Dopsch (1868-1953), dem Vizekanzler der Republik, Walter Breisky, die Lage der österreichischen Universitäten und Wissenschaft schildert.273 Es sei das Recht und die Pflicht, so Dopsch, 269 Kurt SCHUSCHNIGG, Dreimal Österreich, Wien: Thomas-Verlag Jakob Hegner 1937, S. 39-40. 270 Ebenda, S. 66. 271 GEHLER zit. nach HÖFLECHNER, Baumeister des künftigen Glücks, S. 163. Höflechner erwähnt in diesem Zusammenhang auch eine Studie über die Situation der Hörer an deutschen Universitäten aus dem Winter 1922, der zufolge „85 % der Studierenden nicht über das erforderliche Existenzminimum verfügten“. 272 Ebenda. 273 UAG Phil. Dek. Zl. 623 ex 1920/21 [auch UAG Rektorat Zl. 1187 ex 1920/21], Abschrift des Schreibens von Alfons Dopsch an den Vizekanzler, Wien 22. November 1920. Das Schreiben ist auch abgedruckt in HÖFLECHNER, Baumeister des künftigen Glücks, S. 604-608.
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die verantwortlichen Leiter des Staates gleich zu Beginn ihrer Arbeit der schweren Gefahren zu erinnern, die unseren Universitäten und damit der Wissenschaft und allen auf Wissenschaft gegründeten Funktionen des Gemeinwesens droht: Die Universitäten verkümmern: Notorisch und von der Öffentlichkeit ebenso bekannt, wie beklagt ist die furchtbare Notlage aller unserer wissenschaftlichen Institute; der medizinischen vor allem, deren Versagen der Bevölkerung unmittelbar fühlbar wird, deren immer rascherer Zusammenbruch bald erschreckende Wirkungen zeitigen wird.274
„Im Interesse der geistigen und körperlichen Gesundheit unseres Volkes“ forderte Dopsch die Regierung auf, für die sachlichen Bedürfnisse des wissenschaftlichen Betriebes die nötigen Mittel [zu schaffen], gehen Sie – für diese Lebensnotwendigkeit des Staates – bis an die äussersten Grenzen Ihrer finanziellen Möglichkeiten zu. Sparen Sie überall, nur nicht hier; denn gerade hier hiesse Sparsamkeit: Verschwendung, Vergeudung eines durch Jahrhunderte angesammelten Schatzes wertvollster geistiger Erfahrung, Vernichtung unersetzlicher Tradition wissenschaftlicher Arbeit und damit zugleich Verschüttung einer natürlichen Quelle künftigen Wohlstandes.275
Nicht nur die materiellen Bedürfnisse der Forschung seien „unbefriedigt“, sondern auch die „persönlichen Verhältnisse des Trägers aller Wissenschaft, des akademischen Lehrers, sind gänzlich unhaltbar geworden“.276 Die desolate Lage an den Hochschulen mache es notwendig, daß der Wissenschaftler für die für seine Forschungen notwendigen Mitteln selbst aufkomme. Er sei „ein Arbeiter, der sich sein Werkzeug vom Lohne anschaffen muss“.277 Gegenwärtig verdiene ein akademischer Lehrer weniger als ein Handwerker. Hat der Gelehrte Familie, nimmt ihn in dieser Zeit, die ihm das erforderlichen [sic] Dienstpersonal zu halten, nicht mehr gestattet, häusliche Sorge und hauswirtschaftliche Arbeit so sehr in Anspruch, daß für freie wissenschaftliche Betätigung fast keine Zeit und keine Spannkraft mehr übrig bleibt. In der kalten Jahreszeit fehlt es ihm an einem geheizten Arbeitsraum, in den Abendstunden Licht. Trotz der kürzlich erfolgten Gehaltsreform ist er hinsichtlich der Ernährung und Bekleidung auf milde Gaben angewiesen, die ihm das Ausland schenkt, ja um die er ein Ausland bitten muss, das noch heute der deutschen Kultur feindlich gesinnt ist, weil der Gelehrte der vornehmste Träger dieser Kultur ist, wird die Nation gerade in ihrem Gelehrten aufs Tiefste gedemütigt.278
Im Unterschied zu anderen Staatsbeamten verfüge der Wissenschaftler, so Dopsch, zumeist über keine privaten Nebeneinkünfte. Es drohe die Gefahr, 274 275 276 277 278
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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daß „keiner unserer akademischen Lehrer mehr einem Rufe ins Ausland wird widerstehen können und daß jede Berufung aus dem Auslande unmöglich wird“. Dadurch würde man gerade die „besten heimischen Kräfte [verlieren], ohne sie durch ausländische Kräfte ersetzen zu können“.279 Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das wissenschaftliche Niveau in Österreich seien verheerend und die Universitäten laufen Gefahr, mit anderen europäischen Hochschulen „nicht mehr konkurrieren [zu] können“, zumal „die wissenschaftliche Lebensader: der freie Austausch der Gelehrten mit dem Deutschen Reiche unterbunden bleibt“.280 Die Grazer Universität, an welche die Studierenden nach dem Krieg zurückkehrten, war kaum in der Lage, ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Im folgenden soll nur ein schwerwiegendes Problem des universitären Lebens der Nachkriegszeit erörtert werden, nämlich die unzureichende Versorgung mit Brennmaterial. In den Hörsälen, Bibliotheken und Leseräumen herrschte Kälte. Bereits im ersten Kriegswinter war, wie Hirschegger schreibt, die Versorgung mit Kohle zusammengebrochen, so daß „die Bibliothek mehrere Wochen geschlossen blieb. Diese Engpässe wiederholten sich regelmäßig während der gesamten Kriegszeit. Die Öffnungszeiten mußten generell stark reduziert werden.“281 Wie aus den Akten des Grazer Universitätsarchivs hervorgeht, war das Problem der Kohlenlieferungen und der Beheizung der Räumlichkeiten in den ersten beiden Nachkriegswintern für die Verwaltung kaum zu bewältigen. Einige Gebiete, wie etwa die Krain, aus denen die Grazer Universität in der Monarchie Kohle bezogen hatte, lagen nach 1918 außerhalb der Staatsgrenzen. Am 8. November 1918 informierte der Grazer Rektor Paul Puntschart (1867-1945) den Dekan der Philosophischen Fakultät von einem Gespräch, das er mit Herrn Dr. Wutte von der Steiermärkischen Statthalterei über die Versorgung der Universität mit Kohle und Petroleum geführt hatte.282 Nach Auskunft von Wutte, so der Rektor, steht es zur Stunde um die Kohlenversorgung der Stadt für die nächste Zukunft geradezu trostlos. […] Gegenwärtig könne an eine selbst kärgliche Belieferung der Universität mit Kohle nicht gedacht werden. Herr Dr. WUTTE meinte, dass vielleicht in einem Teile der Räume Öfen aufzustellen wären, deren Röhren zum Fenster hinausgeleitet werden könnten; er denkt dabei namentlich an Institute und Sammlungen, deren Objekte Gefahr laufen, bei Kälte geschädigt zu werden oder zu Grunde zu gehen. Unter diesen Umständen ist es zur Zeit natürlich un-
279 Ebenda. 280 Ebenda. 281 Manfred HIRSCHEGGER, Geschichte der Grazer Universitätsbibliothek bis zum Jahre 1918, Sonderdruck aus der Zeitschrift: biblos: Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift 44,2 (1995), S. 297-324, hier S. 317. 282 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 265 ex 1918/19, Schreiben des Rektors Paul Puntschart an das Dekanat der philosophischen Fakultät, 8. November 1918.
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möglich, dem Lehrkörper für das private Studierzimmer eine Sonderlieferung von Kohlen zur Verfügung zu stellen.283
Knapp zwei Wochen später, am 21. November 1918, heißt es in einer Kundmachung des Rektorats, daß die Vorlesungen „wegen andauernden Kohlenmangels […] bis 7. Jänner 1919 sistiert“ bleiben.284 Nach Hirschegger war die Universitätsbibliothek „im Winter 1918/19 nur vormittags geöffnet oder sie blieb überhaupt geschlossen“.285 Diese Schließung bedeutete nicht nur eine erhebliche Einschränkung des Lehrbetriebs, sondern „für viele Benützer [fiel] damit die Möglichkeit aus, sich […] lesend in der Bibliothek zu wärmen“.286 Die Statistik der Frequenz im Lesesaal zeigt, daß die Benützerzahlen in den Nachkriegsjahren während der Wintersemester „besonders hoch“ waren.287 Im Mai 1919 bittet der Rektor die steiermärkische Landesregierung, die Kohlenlieferungen das ganze Jahr hindurch weiter zu führen, damit sich das Brennmaterial zu Beginn des Wintersemesters 1919/20 bereits in den Lagerräumen der Universität befinde.288 Auf diese Weise könnten nämlich eine Reihe von empfindlichen Schwierigkeiten beseitigt [werden], die sich einzustellen pflegen, wenn die Zufuhr im Winter fällt: Schwierigkeiten des Transportes, der Ablagerung und der Arbeitsverhältnisse, störende Witterungseinflüsse, häufige Erkrankungen von Bediensteten, starke Verteuerung der Zufuhr, z. B. durch die Notwendigkeit die Zahl der Zugpferde zu vermehren. […] [Dies ist besonders wichtig,] damit den Studierenden, die durch den Krieg in verschiedener Weise ohnehin ganz ungeheuerlich geschädigt wurden, im kommenden Winter nicht abermals viel kostbare Zeit durch die Notwendigkeit, den Unterrichtsbetrieb wegen Kohlenmangels zu unterbrechen, verloren gehe.289
Trotz dieser vorbeugenden Maßnahmen sollte die Versorgung der Grazer Universität mit Kohle auch im zweiten Nachkriegswinter ein zentrales Problem der Verwaltung bleiben. Angesichts des drohenden Kohlenman283 Ebenda. „Bezüglich des Petroleums“, so Puntschart, „stünde die Sachlage etwas günstiger. Herr Dr. WUTTE hofft, Petroleum in einem bescheidenen Ausmaße der Universität verschaffen zu können. Ich habe auf Grund dessen mein vor kurzem gestelltes Ansuchen um Petroleum, welches soeben abgewiesen worden ist, als dringlich erneuert.“ 284 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 326 ex 1918/19, Kundmachung des Rektorats, 21. November 1918. 285 Manfred HIRSCHEGGER, Geschichte der Universitätsbibliothek Graz 1918-1945 (= Biblos-Schriften 148), Wien: Österr. Inst. für Bibliotheksforschung, Dokumentations- u. Informationswesen 1989, S. 47. 286 Ebenda, S. 47. 287 Ebenda, S. 47-48. 288 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 1298 ex 1918/19, Rektorat an das Dekanat der philosophischen Fakultät, Abschrift der Eingabe an die steiermärkische Landesregierung betreffend der Kohlenversorgung der Universität für den Winter 1919/20, 18. Mai 1919. 289 Ebenda.
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gels ersuchte der Rektor in einem Schreiben vom September 1919 den Landeshauptmann der Steiermark Anton Rintelen, „die bevorstehende Inskription jugoslawischer Studenten zu benutzen, um von der jugoslawischen Regierung Kohlenlieferungen für unsere Hochschule zu erlangen“.290 Da die Qualität der Ausbildung, insbesondere der medizinischen, an den jugoslawischen Hochschulen noch nicht dem Niveau in Österreich entspreche, sei „also bestimmt ein stärkerer Zuzug jugoslawischer Studenten notwendig zu erwarten“. Läßt man diese Studenten „die Vorteile unserer Hochschule […] geniessen, so ist es nur recht und billig, dass ihre Regierung in der Kohlenlieferung entgegenkommt“.291 Kurz danach teilte der Rektor den Dekanaten mit, daß er mit Rintelen ein Gespräch geführt hatte, in dem dieser ihm erklärte, daß die Verhandlungen mit der jugoslawischen Regierung voraussichtlich länger dauern würden als die Inskriptionsfrist.292 Es wird sich daher empfehlen, südslawischen Inskriptionswerbern zu erklären, daß sie sich bis zum Abschluss der Verhandlungen mit ihrer Regierung wegen Beistellung von Kohle gedulden mögen. Die Akademischen Behörden seien bereit, ihnen die Gleichstellung mit deutschen Studierenden in jeder Weise zu gewähren, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß auch die südslawische Regierung den Universitätsbehörden durch Beistellung von Kohle entgegenkommt. Es kann den südslawischen Studenten bei Eintreffen der eben angeführten Voraussetzungen die Bewilligung zur nachträglichen Inskription bestimmt in Aussicht gestellt werden. Es wäre vielleicht gut, wenn man die südslawischen Studenten auffordern würde, sich selbst für die Durchsetzung einer Belieferung der Grazer Universität mit Kohle bei ihrer Regierung einzusetzen.293
Im Oktober 1919, also in jenem Zeitraum, aus dem die oben erwähnten Stipendienansuchen stammen, berief der Rektor eine allgemeine Studentenversammlung ein, um das Problem der Kohlenlieferungen zu erörtern.294 Eine Woche später berichtete der Rektor von seiner Unterredung mit der Betriebsführung des Kohlenwerkes Zanktal bei Voitsberg in der Steier290 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 52 ex 1919/20: Rektorat an den Landeshauptmann der Steiermark Anton Rintelen, 29. Sept. 1919 [oder 20. September 1919; B. W.]. 291 Ebenda. 292 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 52 ex 1919/20: Rektorat an das Dekanat der philosophischen Fakultät, 30. September 1919. 293 Ebenda. Wenige Tage später heißt es in einem Schreiben des Rektors an den Dekan der philosophischen Fakultät: „Vertraulich! […] Ich bitte die Aufnahme jugoslawischer (slawischer) Studenten noch hinauszuschieben und ihnen mitzuteilen, dass ihre Aufnahme beabsichtigt sei, jedoch ein Entgegenkommen ihrer Regierung gegen die Universität abgewartet werden müsse.“ UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 75 ex 1919/20: Schreiben des Rektors an den Dekan der philosophischen Fakultät, 4. Okt. 1919. 294 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 153 ex 1919/20, Rektorat an das Dekanat der philosophischen Fakultät, 14. Oktober 1919.
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mark.295 Die Universität hatte sich zu einer bemerkenswerten Selbsthilfeaktion entschlossen. Unter der Leitung des Zanktaler Kohlenwerkes sollte an zwei Sonntagen im Herbst 1919 unter Mitwirkung von Studierenden Kohle befördert werden. Der Rektor forderte 90 Hörer der beiden Grazer Hochschulen auf, sich für diese Arbeiten zu melden.296 Nach dem ersten Sonntag akademischer Kohlenbeförderung wandte sich der Rektor erneut an die Studierenden.297 Leider, so der Rektor, hätten sich für den ersten Aktionstag nur 47, keiner Korporation angehörige Studenten der Universität, hingegen 270 der Technischen Hochschule gemeldet. Da der Kohlenbedarf der Universität weitaus höher sei als jener der Technischen Hochschule, hänge die Fortsetzung der Aktion von „einer weitaus zahlreicheren Beteiligung der Universitätshörer“ ab.298 Der Rektor ersuchte „alle körperlich geeigneten“ Studenten, sich „vollzählig“ an der Aktion zu beteiligen.299 Auch im Winter 1919/20 war der Lehrbetrieb nur eingeschränkt möglich. So meinte etwa der spätere Rektor Robert Sieger in einem Schreiben an das Professorenkollegium der Philosophischen Fakultät, daß er im Winter nicht in der Lage gewesen sei, in seinem Institut Übungen, Vorlesungen und Sprechstunden abzuhalten, da er „bei Temperaturen von 5-11° seine „Gesundheit dort nicht riskieren könne“.300 Nur allmählich sollte sich die Situation der Kohlenversorgung verbessern. Noch im April des nächsten Studienjahres war die Direktion der Universitätsbibliothek Graz genötigt, ihre Räumlichkeiten, „da nicht geheizt werden kann, bis zum Eintritt wärmerer Tage an allen Wochentagen“ nachmittags zu schließen.301 Wurde in den Wintersemestern nach dem Krieg Kohle befördert, so wurde 295 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 221 ex 1919/20, Rektorat an das philosophische Dekanat, Zur Verlautbarung, 22. Oktober 1919. 296 Ebenda. 297 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 273 ex 1919/20, Rektor an das philosophische Dekanat, Aufforderung zur Beteiligung an der Kohlenförderungsaktion an der Universität, 29. Oktober 1919. 298 Ebenda. 299 Ebenda. Über die studentische Kohlenbeförderung der Grazer Hochschulen schreibt N. N., Oesterreich: Die Notlage der wissenschaftlichen Bibliotheken, Zentralblatt für Bibliothekswesen 37 (1920), S. 134: „Besser [als die Universitätsbibliothek in Wien] war während dieser Zeit die Universitätsbibliothek in Graz daran. Denn Dank dem Umstande, daß die Studierenden der Universität und der Technischen Hochschule an mehreren Wintersonntagen in einem Tagbau des Köflacher Revieres selbst Kohle förderten, konnten sie den normalen Betrieb nicht nur voll aufrecht erhalten, sondern auch die Abendlesezeit um eine Stunde verlängern.“ Vgl. hierzu auch HIRSCHEGGER, Geschichte der Universitätsbibliothek Graz 1918-1945, S. 48. 300 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 1584, Robert Sieger an das Professorenkollegium der philosophischen Fakultät, 8. Juni 1920. 301 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 1207 ex 1920/21, Direktion der Universitätsbibliothek Graz an das Rektorat der Karl-Franzens-Universität Graz, 20. April 1921.
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während der Sommersemester auf dem ehemaligen Universitätssportplatz, auf jenem Areal, wo in den 1990er Jahren das neue Gebäude der Rechtsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät errichtet werden sollte, ein Gemüsegarten angelegt.302 War die Universität in den Nachkriegsjahren, wie ich zu zeigen versucht habe, kaum imstande, die Primärbedürfnisse ihrer Angehörigen zu befriedigen, so überrascht es wohl kaum, daß die Forschung in ihren Existenzgrundlagen bedroht war. Vergegenwärtigt man sich die damaligen Arbeitsbedingungen, so ist es wohl um so bemerkenswerter, daß Fritz Pregl (1869-1930) im Jahr 1923 als erster Grazer den Nobelpreis für Chemie gewinnen konnte. Drei Jahre zuvor, anläßlich der Gründung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, hatte ihr Präsident Friedrich Schmidt-Ott die Situation der deutschen und österreichischen Wissenschaft geschildert und gemeint, sie könne „nur mit der nach dem Dreißigjährigen Kriege verglichen werden“.303 Im März 1920 hatte Adolf von Harnack erklärt, daß in Deutschland keine ausländischen Bücher und Zeitschriften mehr gekauft werden könnten. Die Berliner Staatsbibliothek wäre imstande, „mit den bisherigen Mitteln statt 2.300 ausländischen Zeitschriften nur noch 170 [zu] halten“. Die in Deutschland veröffentlichten wissen302 Vgl. SMEKAL, Die Geschichte der Grazer Universität in vier Jahrhunderten, S. 120. Bereits im Dezember 1918 war übrigens eine „Kriegsküche deutscher Studenten“ eingerichtet worden. Diese in den 1920er Jahren als „Deutsche Hochschulmesse“ bekannte Einrichtung bildete „für nicht wenige Hörer die Basis für ihre Existenz in Graz“. An der Spitze dieser Organisation stand übrigens der langjährige Obmann des Senatsausschusses Fritz Pregl. Vgl. RABL, Die feierliche Inauguration, S. 23. 303 „Damals waren unsere Fluren verwüstet und die gesamte Initiative gelähmt. In der Wissenschaft stehen wir heute vor einem ganz ähnlichen Schicksal. Der Forscher kann nicht mehr seiner Wissenschaft leben. Er kann das notwendige Material für seine Arbeiten nicht mehr bekommen. Unsere großen Institute können ihre Publikationen nicht mehr herausgeben. Sie haben das Bücher-, Instrumenten- und Tiermaterial nicht mehr, dessen Kosten ungeheuer gesteigert sind. Überall müssen die Forscher die Hände sinken lassen, und wer kann unter diesen Umständen noch hoffen, daß wir einen Nachwuchs bekommen, wie wir ihn brauchen? Ist der Faden der Entwicklung aber einmal gerissen, dann ist es vorbei mit der deutschen Wissenschaft auf Jahrhunderte.“ Friedrich Schmidt-Ott zit. nach NEUNTER BERICHT DER NOTGEMEINSCHAFT DER DEUTSCHEN WISSENSCHAFT (Deutsche Forschungsgemeinschaft) umfassend ihrer Tätigkeit vom 1. April 1929 bis zum 31. März 1930, Aus dem Werden der Notgemeinschaft, Wittenberg: Herrosé & Ziemsen 1930, S. 941, hier S. 23. Vgl. auch Friedrich SCHMIDT-OTT, Erlebtes und Erstrebtes 1860-1950, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, S. 174-184. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die mahnenden Worte von Sven Hedin, der auf der Hundertjahrfeier der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte im Jahre 1922 meinte, „daß der akademische Mittelstand in Österreich nahezu zertrümmert ist und daß der deutsche gebildete Mittelstand im Begriffe steht zu verschwinden“. Zit. nach HÖFLECHNER, Baumeister des künftigen Glücks, S. 163.
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schaftlichen Zeitschriften stünden auf dem „Aussterbeetat“. Ähnliches gelte für die Monographien, die ohne die Unterstützung der Akademien nicht erscheinen könnten. „Die Bücher, die wir im Lande besitzen, besonders die großen Sammelwerke auf naturwissenschaftlichem Gebiete, gehen ins Ausland ab.“304 Am letzten Tag des Jahres 1920 beklagte der Grazer Bibliotheksbedienstete Hans Schleimer in einem Artikel in der Tagespost den trostlosen Zustand, in dem sich die wissenschaftlichen Bibliotheken befänden und fragte: „Woher soll Hilfe kommen in solcher Not?“305 Einer von jenen, die sich bemühen sollten, in dieser schwierigen Zeit der Grazer Universität beizustehen, war Franz Boas. Durch seine zahlreichen brieflichen Kontakte war Boas über die katastrophalen Verhältnisse an den deutschsprachigen Universitäten in den Nachkriegsjahren informiert. Um Deutschland und Österreich in dieser Notlage zu helfen, erweckte Boas im Jahre 1919 die Germanistic Society of America zu neuem Leben und gründete im Jahr 1920 die Emergency Society for German and Austrian Science and Art.306 Beide Organisationen arbeiteten eng mit der 1920 ins Leben gerufenen „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ zusammen. Schon bald wurde seiner Bemühungen in der alten Heimat mit dankender Wertschätzung gedacht. Im Zentralblatt für Bibliothekswesen aus dem Jahre 1920 heißt es: Inzwischen regt sich tätiges Verständnis für die Valuta-Not der deutschen Bibliotheken auch im Auslande. In Nordamerika hat sich unter der Führung von Prof. Franz Boas von der Columbia-Universität zunächst ein Kreis von DeutschAmerikanern zusammengefunden, der sich jetzt zu einer „Emergency Society“ auf breiterer Grundlage erweitert hat. Die Gesellschaft wird in erster Linie be304 Harnack zit. nach Hofrat Dr. FRANKFURTER, [Vortrag über die Notlage der deutschen Wissenschaft], in: Wiener Zeitung, Nr. 69, Mittwoch, 24. März 1920, S. 2. 305 Hans SCHLEIMER, Die Notlage unserer wissenschaftlichen Bibliotheken, in: Tagespost (Morgenblatt), Nr. 360, Graz, Freitag, 31. Dezember 1920. 306 Ziel der Emergency Society war die Förderung deutschsprachiger Veröffentlichungen, Ziel der Germanistic Society die finanzielle Hilfe der Universitäten beim Kauf amerikanischer Fachliteratur. Cole merkt an, daß Boas „auch aufrichtige Gesten der Hilfe an italienische, französische, polnische und ungarische Institutionen“ macht, sich jedoch „aus verschiedenen Gründen […] auf Deutschland und Österreich“ konzentrierte. Es sei schwierig, so Cole, das gesamte Ausmaß der Wissenschaftshilfe von Franz Boas zu beurteilen, da Arbeit auch im Kontaktherstellen bestand und zudem auf verschiedene fachliche Bereiche verteilt war. „Dennoch – allein im Jahre 1926 – so berichtete die ‚Germanistic Society‘, habe sie 1362 Abonnements, die 167 amerikanische Zeitschriften repräsentierten, an 85 Bibliotheken und Institute geschickt, außerdem 14 Kisten mit Zeitschriften alter Ausgaben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die ‚Emergency Society‘ fast 89.000 $ an Hilfsgeldern für deutsche und österreichische Veröffentlichungen verteilt. Bald jedoch erlahmte die Spendenbegeisterung.“ Vgl. COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 15-17.
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strebt sein, mit den gesammelten Mitteln deutschen und deutsch-österreichischen Bibliotheken die Fortsetzung der früher von ihnen gehaltenen amerikanischen Zeitschriften zu verschaffen. Es ist bereits eine größere Wunschliste hinübergeschickt, ein Verzeichnis von Buchfortsetzungen, die während des Krieges erschienen sind, soll folgen.307
Zwei Jahre später meinte Adolf Jürgens in seinem „Bericht über die Tätigkeit des Bibliotheksausschusses der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“, daß es gelungen sei, das Ausland auf die schwierige Situation der deutschen Wissenschaft aufmerksam zu machen. Für die Erfolge, „die dabei in Amerika erzielt wurden“, so Jürgens, „muß auch an dieser Stelle Herrn Professor Boas der Dank der Notgemeinschaft ausgesprochen werden, daß er die ersten Beziehungen anbahnte und noch jetzt für die Notgemeinschaft tätig ist“.308 Neben seinen Bücher- und Zeitschriftensendungen und seinen Geldspenden an Kulturorganisationen versuchte Franz Boas, auch jenen jungen Wissenschaftlern Mut zu zusprechen, die angesichts der Trostlosigkeit ihre Heimat verlassen wollten.309 307 N. N. [Rubrik: Umschau und Neue Nachrichten], Zentralblatt für Bibliothekswesen 37 (1920), S. 184-185, hier S. 184. Eine zweite Hilfsaktion, die vom Zentralblatt in diesem Zusammenhang erwähnt wird, ist die von englischen und amerikanischen Quäkern organisierte Society of Friends, die sich insbesondere um die Lieferung von Nahrungsmitteln bemühte. 308 Adolf JÜRGENS, Bericht über die Tätigkeit des Bibliotheksausschusses der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft bis zum März 1922, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 39 (1922), S. 247-256, hier S. 252. Wenn man diese Worte des Dankes bedenkt, kann man vielleicht die Verbitterung nachvollziehen, die Boas in den 1930er Jahren empfand, als das nationalsozialistische Regime ihn zu einer persona non grata erklärte und einige seiner Schriften verbieten ließ. 309 Einem Kollegen aus Deutschland, der ihn gebeten hatte, ihm bei der Auswanderung in die USA behilflich zu sein, schreibt er in einem offenen Brief: „Ich kann ihren Wunsch verstehen, Ihr Heil in der Fremde zu suchen. Scheint doch die heutige wirtschaftliche Lage Deutschlands es fast unmöglich zu machen, Ihr Können zum Besten der Wissenschaft mit Erfolg zu verwenden. Obwohl ich ganz mit Ihnen darin übereinstimme, daß die Wissenschaft keine nationalen Grenzen kennt und nur im Dienste der Erforschung der Wahrheit stehen soll, kann ich doch Ihren Wunsch nicht billigen. Es fragt sich für Sie, wo Sie durch Ihr Wissen und Können am Fruchtbarsten wirken können; und da scheint mir die unzweifelhafte Antwort zu sein: In der Heimat, die der Hilfe aller bedarf, die über Vorzüge des Geistes und des Charakters verfügen. Das geistige Leben der Menschheit verlangt von Ihnen, daß Sie Deutschland nicht geistig verarmen lassen, und das Aufgeben des Vaterlandes in jetziger Zeit, von jedem, der etwas zu leisten imstande ist, bedeutet nicht nur einen unersetzlichen Verlust für Deutschland, sondern auch einen Verlust für die Menschheit […]. Die wahre Größe zeigt sich, in der Überwindung äußerer Widerstände […]. Wenn dem Staate wegen der Bürden, die ihm auferlegt sind und die er nicht abschütteln kann, die Mittel versagt sind, die Erziehung genügend zu pflegen […], dann ist es Ihre Aufgabe, diese Hemmnisse zu überwinden und zwar dadurch, daß Sie die Erziehung und Forschung, die der Staat
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Um die Wissenschaftshilfe von Franz Boas nach dem Ersten Weltkrieg zu verstehen, scheint es wichtig darauf zu verweisen, daß das Ende des Krieges keineswegs zu einer raschen Normalisierung der schwer gestörten Beziehungen innerhalb der internationalen scientific community führte. Nur langsam sollte es nach dem Krieg zu einer Anbahnung der Kontakte zwischen den Wissenschaftlern der im Krieg befeindeten Staaten kommen. Viele Gelehrte in den Siegerstaaten konnten nicht vergessen, daß deutsche Wissenschaftler während des Krieges in Aufrufen und Ansprachen die Politik ihrer Heimat verteidigt hatten; konnten nicht vergessen, daß es in einer, nach Angaben von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, von mehr als 3.500 Hochschullehrern unterzeichneten und zu Kriegsbeginn verfaßten Erklärung, die „an alle Hochschulen der Welt ergangen“ war, geheißen hatte: Die Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, daß die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unseren Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Dieser Geist lebt nicht nur in Preußen, sondern ist derselbe in allen Landen des deutschen Reiches. Er ist der gleiche in Krieg und Frieden. Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit und damit für alle wahre Größe zeigt sich, in der Überwindung äußerer Widerstände […]. Wenn dem Staate wegen der Bürden, die ihm auferlegt sind und die er nicht abschütteln kann, die Mittel versagt sind, die Erziehung genügend zu pflegen […], dann ist es Ihre Aufgabe, diese Hemmnisse zu überwinden und zwar dadurch, daß Sie die Erziehung und Forschung, die der Staat nicht ausreichend pflegen kann, selbständig machen. Der Drang nach Wissen ist so heiß wie je, und der junge Mann ist stets zu Opfern bereit, um sich zu vervollkommnen und zum Kampfe fürs Leben auszurüsten. Verlangen sie von jedem, daß er als Ersatz für das Recht auf eine Erziehung, die seinen Anlagen entspricht, einen entsprechenden Teil seiner produktiven Kraft widmet, und Sie werden sich zum großen Teile von dem Zwange der Verhältnisse befreien. Mein Zweck ist, Ihnen zu zeigen, daß Ihnen, dem jungen Gelehrten, der Sie Jahre ihres Lebens dem Kampf für das Vaterland gewidmet haben, wichtige Aufgaben zufallen, die lösbar sind und die sie berufen sind zu lösen und denen Sie sich nicht entziehen dürfen. Haben Sie Mut! Dann wird sich auch ein Weg finden, der aus dem Elend der Gegenwart zu einer glücklichen Zukunft führt.“ FB an G. Wolf, Offener Brief in der Alemannen Zeitung, Juni 1921, zit. nach GIRTLER, Franz Boas: Burschenschafter und Schwiegersohn eines österreichischen Revolutionärs von 1848, S. 575.
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Güter des Friedens und der Gesittung nicht nur für Deutschland. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche „Militarismus“ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.310
Bereits im Oktober 1918 war auf einer in London abgehaltenen „Konferenz der interalliierten Akademie der Wissenschaften“ beschlossen worden, deutsche Gelehrte von „Kontakten, Treffen und Veranstaltungen“ auszuschließen.311 Diese Resolution wurde in Konferenzen im nächsten Jahr bestätigt und verlängert.312 „Soeben noch bewundert und als Gastgeber gefragt, in der internationalen gelehrten Welt auf einer Spitzenposition“, so Notker Hammerstein, „stürzten viele deutsche Professoren in einen Abgrund der Ablehnung und Isolierung. Auch im Geistigen gab es insoweit ein Versailles. Ja, diese mehr als distanzierte, fast feindselige Haltung gegenüber den deutschen Gelehrten hielt sich viel länger als die vergleichbare Ausgrenzung in der Politik.“313 Trotz Zeichen der Annäherung und der Wiederaufnahme des wissenschaftlichen Austausches zwischen den ehemals befeindeten Staaten nach dem Krieg warnte das Zentralblatt für Bibliothekswesen im Jahre 1920 davor, diese freundliche „Stimmung überall vorauszusetzen“. Es gelte, „Zurückhaltung“ zu üben „und unbedingt die fremde Initiative abzuwarten. Fälle, in denen dies nicht beobachtet worden ist, z. B. Leihgesuche, haben schon zu beschämenden Zurückweisungen geführt, die wir uns unter allen Umständen ersparen müssen“.314 Auch Franz Boas scheint im Zuge seiner Bemühungen in den Vereinigten Staaten, Hilfsaktionen für deutschsprachige Hochschulen zu organisieren, nicht immer auf Wohlwollen und Verständnis gestoßen zu sein. In der New Yorker Zeitschrift The Library Journal aus dem Jahr 1920 ist die Verbitterung über die Haltung der deutschen Gelehrten während des Krieges nur allzu spürbar: Several German universities have made the request, thru the Germanistic Society of which Franz Boas is secretary, for the gratuitous supply by American publishers of publications issued since the beginning of the war and this request is en310 Zit. nach Ulrich von WILAMOWITZ-MOELLENDORF, Militarismus und Wissenschaft [Rede gehalten im Festsaale des Zoologischen Gartens am 20. November 1914], in: ders., Reden aus der Kriegszeit, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1915, S. 75-94, hier S. 77-78. Vgl. in diesem Zusammenhang Notker HAMMERSTEIN, Die Deutsche Forschungsgesellschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich: Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920-1945, München: Beck 1999, S. 25-27. 311 Ebenda, S. 30. 312 Ebenda. 313 Ebenda, S. 31. 314 N. N. [Rubrik: Umschau und Neue Nachrichten], Zentralblatt für Bibliothekswesen 37 (1920), S. 184-185, hier S. 185.
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dorsed by a number of Americans of the highest public standing and of all professions and political parties. […] Doubtless these university libraries would be glad to have cooperation and contribution of other libraries and the request should have careful attention and sympathetic consideration. The libraries are in like position with our own whose files of foreign periodicals have been kept up with difficulty and are for the most part lacking in continuity, and possibly some system of exchange of publications can be arranged which would mitigate the difficulties of money exchange conditions. It can scarcely be forgotten, however, that university professors in Germany joined in the famous manifesto of German scholars, which was so disappointing to scholars in this country and elsewhere, in approval of the Kaiser’s War, and to the many Americans who ardently desire that the peoples of the world especially those joined by literature and science should come together again in human brotherhood it would be helpful if there should now come from the scholars who endorsed this wicked war in its beginning some evidence of a change of heart and repentant recognition of the cruel consequences of their blow at world peace.315
Nach dem Krieg reiste Boas nach Deutschland und Österreich. In Österreich besuchte er die Universitäten von Wien und Innsbruck und konnte sich vor Ort von deren Notlage überzeugen.316 Im Zuge dieser Besuche wurde er auf die Situation an der Grazer Universität aufmerksam gemacht. Auch die Grazer Universität wurde, wie ich im folgenden zeigen möchte, in das Projekt der Wissenschaftshilfe von Franz Boas miteinbezogen.
2. Franz Boas als Förderer der Karl-Franzens-Universität Graz Wie wohl viele andere Universitätsbibliotheken war auch die Grazer nach Kriegsende vor „ein schier unlösbares Problem“ gestellt: „Einerseits sollten die großen Lücken im Bestand durch Nachkauf gefüllt werden, andererseits stand es um die Finanzen so schlecht, daß selbst die wichtigsten Neuerscheinungen nicht angeschafft werden konnten.“317 Um die Schwierigkeiten der Literaturbeschaffung anhand eines einprägsamen Beispiels zu veranschaulichen, sei auf ein Schreiben der Universitätsbibliothek Graz vom April 1919 an das „Ministerium für auswärtige Angelegenheiten im Haag [sic]“ verwiesen. Darin heißt es:
315 N. N., The Library Journal, September 1, 1920, 45 (1921), S. 702. 316 Nach Cole organisierte Boas übrigens in Wien „Spenden für Lebensmittelscheine für österreichische Anthropologen und für Mitglieder der Wiener Universitätsfakultät“. COLE, Franz Boas: Ein Wissenschaftler und Patriot zwischen zwei Ländern, S. 16. Leider finden sich bei Cole keine näheren Hinweise und meine diesbezüglichen Anfragen an das Archiv der Wiener Universität blieben unbeantwortet. 317 HIRSCHEGGER, Geschichte der Universitätsbibliothek Graz 1918-1945, S. 21. Zu den Schwierigkeiten der Grazer Universität siehe auch HÖFLECHNER, Baumeister des künftigen Glücks, S. 162-167.
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Bei dem ungeheuren Interesse, welches heute die ganze Welt der Verwirklichung des Völkerbundes entgegenbringt, muss die Grazer Universitäts-Bibliothek auf die Ausfüllung der empfindlichsten Lücken ihrer Buchbestände hinsichtlich völkerrechtlicher Literatur das grösste Gewicht legen. Leider gestatten die ihr zu Gebote stehenden geringen Geldmittel nicht die Anschaffung aller wichtigsten neuesten wissenschaftlichen Werke, namentlich auch nicht die Erwerbung der kostspieligeren, für die wissenschaftliche Forschung jedoch unerlässlichen Literatur des Völkerrechts, unter der die Verhandlungen und Beschlüsse der Haager Friedenskonferenzen in erster Linie zu nennen sind.318
Die Grazer Universität hatte Hilfe bitter nötig. Daß auch hier die Ressentiments mit Kriegsende nicht verschwunden waren und daß auch hier eine skeptisch-mißtrauische Haltung sowohl auf Seiten der Sieger als auch der Besiegten die Wiederanbahnung internationaler wissenschaftlicher Kontakte erschwerte und überschattete, geht aus einem Briefwechsel aus den Jahren 1920/21 hervor. In einem Schreiben an Oxforder Gelehrte meinte der damalige Rektor Fritz Pregl: Mit Ihnen beklagen wir die Unterbrechungen der für Wissenschaft und Technik unentbehrlichen persönlichen Beziehungen der Gelehrten, weil wir Ihrer Ansicht sind, daß nur eine große und weite Arbeitsgemeinschaft die Forschung als Kulturfaktor fördern kann. Auch wir glauben an eine Weltmission der Gelehrten, die nicht bloß Erkenntnis und Kenntnisse zu verbreiten haben, sondern auf Grundlage der Erforschung der Wahrheit auch wahre Geistes- und Herzensbildung. Wir erachten Ihren Brief als eine mutige Tat des Bekenntnisses zur reinen Wissenschaft, die ohne Aufgeben ihrer nationalen Verwurzelung jedwede tüchtige Gelehrtenarbeit sachlich und vorurteilslos zu bewerten hat und auf Grund gegenseitiger Achtung solcher Leistungen freundliche Beziehungen zwischen einzelnen Gelehrten erzeugen muss. Diese wiederum mögen auf dem von Ihnen beschrittenen Wege zu besserem Verständnis der gegenseitigen Kulturverhältnisse unserer stammverwandten Völker führen. Wir wollen Ihnen hierin eifrig und gerne folgen, im Vertrauen darauf, daß es den gutgesinnten geistigen Führern in der ganzen Welt gelingen werde, jene unhaltbaren Friedensbedingungen, die der Wissenschaft und ihren Vertretern in höchstem Grade abträglich sind, so umzugestalten, daß ein wirklich lebenskräftiger Unterrichts- und Bildungsbetrieb für Mitteleuropa wieder ermöglicht werde. Dann wird unsere persönlich und wissenschaftlich so eng verknüpfte Gelehrtenrepublik Deutschlands und Österreichs wieder als jener vollwertig schaffende Fortschritts-Faktor in der Welt dastehen,
318 Universitätsbibliotheksarchiv Graz, Zl. 76, Schreiben der UB an das Minist. für auswärtige Angelegenheiten vom 9. April 1919. Ursprünglich lautete der Text wie folgt: „Leider gestatten die ihr zu Gebote stehenden geringen Geldmittel nicht einmal die Anschaffung der aller wichtigsten neuesten wissenschaftlichen Werke, geschweige denn die Erwerbung der kostspieligen […].“ Im folgenden werde ich Universitätsbibliotheksarchiv Graz mit UBA-G abkürzen.
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dessen sich Ihr freundlicher Brief aus alten Zeiten her erinnert; dann wird es an unserer alten Begeisterung, an unserem alten Ehrgeiz und Wetteifer bei der Erstrebung der Ziele, welche auch Ihnen als Ideal vorschweben, ebensowenig fehlen, wie in Ihren Reihen.319
In seiner Antwort versicherte Robert Bridges dem Rektor, daß Ihre gegenwärtigen Leiden und die Schwierigkeiten Ihrer Lage – angesichts der nationalen Anfeindungen, welche der Krieg und die Friedensbedingungen geschaffen haben – vollauf gewürdigt werden. Auch in unserem Vaterlande herrscht noch viel Bitternis, die nur durch persönliche Beeinflussung überwunden werden kann; und hierin werden wir tun, was immer wir vermögen. Inzwischen bitte ich Sie dringend, daß Sie in Ihren großen Kümmernissen nicht vergessen mögen, wie schrecklich und unheilbar auch wir in diesem Kriege gelitten haben und noch leiden durch die Wirrnisse, die er über die ganze Welt gebracht hat, welche noch Tag für Tag das öffentliche Interesse von der Notwendigkeit ablenken, unsere Beziehungen zu Ihnen (selbst) zu bessern.320
Angesichts des verlorenen Krieges und eines Friedensvertrags, der zumindest einigen Gelehrten in den besiegten Staaten nur als eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mittel erschien, ist es wohl verständlich, daß man unter allen Umständen zu vermeiden suchte, von den Siegern als Bittsteller gedemütigt und abgewiesen zu werden. Gerade in dieser so schwierigen Lage war die von Prorektor Rabl eingangs erwähnte rasch einsetzende Hilfe von Franz Boas und jene der „Society of Friends“ um so wertvoller.321 319 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 445 ex 1920/21, [Entwurf eines Schreibens von] Rektor Pregl an die Doktoren, College-Vorsteher, Professoren und anderen Amtsverweser und Lehrer der Universität Oxford, 26. November 1920. 320 UAG Phil. Fak. Dek. Zl. 796 ex 1920/21, Schreiben von Robert Bridges an den Rektor der Grazer Universität, 18. Januar 1921 [Das Schreiben wurde von Prof. Eichler, dem Direktor der Universitätsbibliothek, ins Deutsche übertragen]. 321 Da ich mich in den folgenden Ausführungen weitgehend auf die Hilfe von Franz Boas beschränke, sei ausdrücklich betont, daß auch andere Organisationen der Grazer Universität großzügige Unterstützungen zukommen ließen. Insbesondere wäre in diesem Zusammenhang auf die Spenden der Rockefeller-Foundation zu verweisen, die in erster Linie der medizinischen Fakultät zu Gute kamen. Wie Rabl anmerkt, langten Gelder und Nahrungsmittel in den Nachkriegsjahren aus den Vereinigten Staaten, Argentinien, England, Holland, der Schweiz, Schweden und „sogar aus dem so schwer bedrängten Deutschen Reiche“ ein. Unter den amerikanischen Nahrungsmittellieferungen wäre vor allem die American Relief Administration zu nennen, welche die „Kriegsküche Deutscher Hochschüler“ unterstützte. „Aber auch der gesamten Hochschullehrerschaft, sowohl der Universität wie der Technik wurden solche von der gleichen Stelle mit dem ausdrücklichen Wunsche gewidmet, daß davon ein Mittagstisch für Professoren, Dozenten und Assistenten errichtet werde. […] Mit weiterer dankenswerter Unterstützung der American Relief Administration, ferner des Landeshauptmannes von Stei-
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Die ersten Hinweise auf Kontakte zwischen Franz Boas und der Grazer Universität, auf die ich im Zuge meiner Recherchen gestoßen bin, fallen in das Jahr 1920. In einem Schreiben vom 20. Dezember 1920 informierte die „AMBA“ (Arbeitsmittelsbeschaffungsanstalt), eine Teilorganisation des Allgemeinen Verbandes geistiger Arbeiter Deutschösterreichs, den Rektor der Grazer Universität, sie sei von der Emergency Society of Amerika [sic] aufgefordert worden, die amerikanischen Zeitschriften, die in Österreich vor dem Kriege bezogen wurden, anzugeben, weil die genannte Gesellschaft die Absicht hat, sie uns unentgeltlich oder zu sehr ermässigten Preisen zu verschaffen. Eure Magnifizenz werden daher höflichst ersucht, diese Mitteilung den Professorenkollegien zur Kenntnis zu bringen und den Bedarf der Universitätsbibliothek und der verschiedenen Institute der Universität an seit 1914 ausständigen Jahrgängen solcher Zeitschriften uns sobald als möglich in dreifacher Ausfertigung zukommen zu lassen.322
Der Rektor ließ dieses Schreiben den Fakultäten zukommen und bat „bis spätestens 3. Jänner 1921“ um Bekanntgabe der fehlenden bzw. gewünsch-
ermark, Professor Rintelen und der Stadtgemeinde Graz wurde zu Beginn des Jahres 1922 im Kellergeschoß des Universitätshauptgebäudes eine Küche samt Nebenräumen eingerichtet und ein Hörsaal der juristischen Fakultät in ein Speisezimmer umgestaltet. Auf diese Weise wurden zur Zeit der stärksten Inanspruchnahme dieser Einrichtung im Oktober 1923 zirka 100 Lehrpersonen täglich zu Mittag verköstigt.“ Unter den Stiftungen und Anstalten, welche die Grazer Universitätsbibliothek nach dem Krieg unentgeltlich mit ausländischer Literatur unterstützten, führte Rabl (neben den von Boas geleiteten Organisationen) an: die Rockefeller Foundation, New York, die Carnegie Institution For The Increase And Diffusion Of Knowledge Among Men, Washington, die New York Public Library, die Universitätsbibliothek Lund, die Königliche Akademie der Wissenschaften in Brüssel, die Finnisch-Ugrische Gesellschaft in Helsingfors, die Akademie der Wissenschaften in Paris, die Accademia nazionale dei Lincei in Rom, das National-Research Council in Tokyo, die Tohokou Imperial University in Sendai, die Kyoto Imperial University, die Societas scientiarum in Warschau, die Polnische Akademie in Krakau, die Gesellschaften in Lemberg, die Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften, die Rumänische Akademie in Bukarest, die Akademie der Wissenschaften von Leningrad, das Internationale Arbeitsbureau und die Gesellschaft der Nationen in Genf. RABL, Die feierliche Inauguration, S. 21-22 und 33-34. 322 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 644 ex 1920/21, Schreiben der „AMBA“ an Seine Magnifizenz, den Herren Rektor der Universität, Wien 20. Dezember 1920. Die in Wien ansässige AMBA hatte bereits im Juni 1920 der Grazer Universität mitgeteilt, daß sie sich um die „Behebung der bei uns herrschenden Büchernot“ bemühe und Kontakt mit Einrichtungen in Holland, der Schweiz, Schweden, England und Amerika aufgenommen habe. Vgl. UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 1868 ex 1919/20, Schreiben der „AMBA“ an das Professorenkollegium der Universität Graz, 25. Juni 1920.
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ten amerikanischen Zeitschriften.323 Die Philosophische Fakultät übermittelte dem Rektorat eine Wunschliste, die rund ein Dutzend Zeitschriften umfaßte. In den folgenden Jahren sollte diese Liste um ein weiteres Dutzend deutscher und österreichischer Zeitschriften ergänzt werden. Aus den Akten geht hervor, daß die Grazer Universität durch die Vermittlungstätigkeit von Franz Boas in der Lage war, viele der Kriegslücken in diesen Beständen zu füllen und auch neue Zeitschriften zu erwerben.324 Auf den ersten Seiten dieser Zeitschriften wurde oftmals vermerkt, daß sie ein Geschenk von Franz Boas bzw. der von ihm geleiteten Organisationen seien. Größere Lieferungen wissenschaftlicher Literatur durch Franz Boas lassen sich mindestens bis in die Mitte der 1920er Jahre nachweisen. In einem Schreiben aus dem Jahre 1922 gab Franz Boas der Universitätsbibliothek detaillierte Empfehlungen, wie die von der Germanistic Society of America übermittelten Zeitschriften zu benutzen seien: During the year 1921 we have sent to you a number of journals and we are continuing the subscriptions. We have received numerous requests from University Institutes and Seminars for duplicate copies. It is understood that in most cases journals are most intensively used in institutes rather than in the central libraries, and for this reason, it is our wish in subscribing for the general library that the journals be made available in the most liberal way to the institutes in question. If, on account of local conditions, such as distance, it should be difficult for the institutes and seminars to use the journals in the general library, it is our wish that they be deposited at least for a period in the institutes or seminars. In those cases in which there is a somewhat greater danger of loss in institutional libraries, we should rather supply lost numbers than restrict the use of the journals. On the other hand, we expect that the institute libraries and seminar libraries will give full facilities to outsiders to use journals whenever they are required for research or special study.325
Außer Zeitschriften schickte Boas der Grazer Universität auch Gutscheine, um bestimmte Neuerscheinungen erwerben zu können.326 Es ist schwierig, 323 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 644 ex 1920/21, Schreiben des Rektors an das Dekanat der philosophischen Fakultät, 27. Dezember 1920. 324 Zu der ersten Lieferung der von Franz Boas für die Grazer Universität subskripierten naturwissenschaftlichen Zeitschriften zählten: Abstracts of Bacteriology, Journal of Bacteriology, Journal of Comparative Psychology, Journal of Cancer Research, Journal of Dairy Science, Journal of Immunology, Archives of Occupational Therapy, Comparative Psychology Monographs, Soil Science, Journal of Urology, American Journal of Tropical Medicine, Journal of Personnel Research. Vgl. UBA-G, Zl. 193 ex 1921/22, FB to the Librarian of the University Library of Graz, Januar/März 1922. 325 UBA-G, Zl. 193 ex 1921/22, FB to the Librarian of the University Library of Graz, Januar/März 1922. 326 Vgl. etwa UBA-G, Zl. 260 ex 1922/23, FB an den Direktor der Universitätsbibliothek Dr. Eichler, November 1922: „My dear Sir: Will you kindly order „Die Vitamine“ by Casimir Funk from your bookseller and send us
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das genaue Ausmaß der Bücher- und Zeitschriftenspenden von Franz Boas für die Grazer Universität zu bestimmen. Seine Hilfe wurde jedoch oftmals als großzügig und wertvoll bezeichnet. Im „Zustandsbericht“ der Grazer Universitätsbibliothek aus dem Jahre 1920/21 heißt es: Die Vermehrung der Bibliothek betrug im Berichtsjahre 2.250 Werke in 3.627 Bänden. Es wurden erworben durch Kauf 143 Werke in 575 Bände, als Geschenk 1.940 Werke in 2.795 Bänden und als Pflichtexemplare 156 Werke in 241 Bänden. […] Wegen des immer noch anhaltenden Tiefstandes der Valuta konnten auch im Berichtsjahr 1920/21 von den Neuerscheinungen wie von den Fortsetzungswerken nur die notwendigsten und wichtigsten angeschafft werden. Die dadurch in den Bücherbeständen entstehenden Lücken würden sich in der Zukunft nur durch Zuweisung außergewöhnlich hoher Mittel annähernd ausfüllen lassen. […] Eine ganz bedeutende Erhöhung der Ausgaben verursachten die Bucheinbände. Den Buchbindern mußte, damit sie überhaupt noch für die Bibliothek arbeiten konnten, vom 2. Juni 1920 an ein Zuschlag von 1.400 % zu den Tarifpreisen bewilligt werden. Dieser Zuschlag war im Juni 1921 schon auf 8.000 % gestiegen. […] Die Geschenkliste 1920/21 weist im ganzen 315 Einläufe auf. Besonders wertvolle Geschenke haben gespendet Prof. Franz Boas in New York, Carnegie Endowment f. intern. Peace in Washington, Rockefeller Foundation in New York, Smithsonian Institution in Washington und die Germanistic Society of America in New York.
Als österreichische Kontaktperson von Franz Boas fungierte insbesondere der Botaniker und Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften Richard Wettstein. Dieser informierte am 4. Mai 1922 den Rektor der Grazer Universität Anton Michelitsch in einem Schreiben über die Tätigkeit der „Emergency Society“ in Österreich und gab auch eine detaillierte Aufschlüsselung der finanziellen Zuwendungen, welche Angehörige der Grazer Universität durch die von Boas geleiteten Organisationen bis dahin erhalten hatten: Die Mitteilungen, welche Ihnen einige Kollegen über die Tätigkeit der Emergency Society in New York machten, sind nicht ganz richtig. Zunächst muss ich erwähnen, daß die Wiener Universität und ihre Institute bisher (mit Ausnahme des paleobiologischen Institutes) von der Emergency Society meines Wissens nicht [keine Geldzuwendungen; B. W.] erhielten. Die Emergency Society hat sich hauptsächlich für die Subventionierung von Zeitschriften interessiert und eine Reihe von Wiener wissenschaftlichen Zeitschriften von ihr Subventionen erhalten. Universitäts-Institute haben in Innsbruck Subventionen erhalten (meines Wissens ca 500 Dollar) u. zw. in Folge des Umstandes, daß Prof. Boas, der Präsident der Emergency Society voriges Jahr in Innsbruck war. Mir als sozusagen Vertrauensmann der Emergency Society wurden in den beiden letzten Jahren wiederholt Summen zur Subventionierung österr. Wissenschaft the bill. It will be best to have the bill made out at the date of issue in the equivilent [sic] in dollars so that we may send the correct amount.“
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zur Verfügung gestellt. Diese Summen sind relativ klein, da die meisten Sendungen der Society eine ganz bestimmte Widmung haben und ich habe dabei (wie überhaupt in meiner Eigenschaft als prov. Geschäftsführer der österr. Notgemeinschaft) allen Wünschen Grazer Kollegen, die mir bekannt wurden, Rechnung getragen, weil ich auch [sic] dem Standpunkt stehe, daß wir in erster Linie an unsere Grazer und Innsbrucker Collegen denken müssen, da in Wien denn doch relativ leichter Geld aufzutreiben ist. So erlaube ich mir zu Ihrer Orientierung mitzuteilen, daß bisher in Graz erhalten haben: 1920 Prof. LINSBAUER für sein Werk: Anatomie der Pflanzen Naturwissenschaftler Verein [:] Beträge mir nicht mehr erinnerlich 1921/22 Naturwissenschaftlicher Verein Graz […] 100.000 K.Prof. Kubart […] 60.000 [K.-] […] Univ.-Bibliothek Graz […] 50.000 [K.-] […] Rektor Pregl für diverse wissenschaftl. Zwecke […] 80.000 M […] ca […] 500.000 [K.-] Dekanat der philosopischen Fakultät […] 200.000 [K.-] […] Ich habe jeden Grazer Collegen, den ich den letzten beiden Jahren sprach, auf die Tätigkeit der Emergency Society aufmerksam gemacht und um Verbreitung der Nachricht in Graz ersucht. Was den Weg anbelangt, der einzuschlagen wäre, um die Aufmerksamkeit der Emergency Society auf die Grazer Universitäts-Institute zu lenken, so erlaube ich mir meine Meinung dahin auszusprechen, daß es wohl das Beste wäre, wenn Euer Magnifizenz sich darüber mit einer Darlegung an den Präsidenten der Society wenden würden. Seine Adresse ist: Prof. Dr. Franz Boas, New York, Columbia University, Department of Anthropology.– Die Emergency Society gibt am liebsten Mittel für Zeitschriften und bestimmte wissenschaftliche Untersuchungen her, doch hoffe ich, daß sie in ihrem Falle, geradeso wie in Innsbruck eine Ausnahme machen wird.327
327 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 1174, ex 1921/22: [Abschrift vom] Schreiben von Wettstein an den Rektor der Universität Graz, 4. Mai 1922. Aufgrund der Inflation in den frühen 1920er Jahren ist es schwierig, den „Wert“ dieser Geldspenden abzuschätzen. Nach Hirschegger betrug der Gesamtetat der UB Graz vor Einführung der Schillingwährung 1920/21 447.271 Kronen, 1921 964.481 Kronen und 1922 11.159.484 Kronen, 1923 109.618.341 Kronen und 1924 196.734.173 Kronen. Vgl. HIRSCHEGGER, Geschichte der Universitätsbibliothek Graz 1918-1945, S. 20. Auch in späteren Jahren sollte Boas der Philosophischen Fakultät durch Vermittlung von Wettstein Geldspenden zukommen lassen. Vgl. etwa UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 1561, ex 1922/23, Schreiben der Philosophischen Fakultät an FB, Juli 1923: „Hochzuehrender Herr Professor! Herr Prof. Dr. Wettstein übersandte mir 75 $ als neuerliche Gabe der „Emergency Society for German and Austrian Science and Art“ für die Institute der philosophischen Fakultät unserer Universität. Ich beehre mich, Ihnen hochzuehrender Herr Professor als dem Präsidenten der Emergency Society den verbindlichsten Dank der philosophischen Fakultät für diese gütige Spende auszusprechen.“ Siehe auch UAG, Phil. Fak. Dek Zl. 1623, ex 1922/23, Richard Wettstein an den Rektor der Grazer Universität, 26. August 1923.
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Angesichts der „außergewöhnlichen Hilfeleistungen auf geistigem und materiellem Gebiet“ der Nachkriegsjahre entschloß sich die Grazer Universität im Jahre 1922 „zu einer außergewöhnlichen Form des Dankes“.328 Im Januar 1922 betraute der Akademische Senat einen Ausschuß, dem die vier Dekane Gutjahr, Hanausek, Rabl und Zauner angehörten, mit der Aufgabe, Vorschläge zur Schaffung eines Ehrenzeichens für jene Personen auszuarbeiten, welche nach dem Krieg die Universität durch Bücher- und Zeitschriftenspenden, die Bereitstellung von Lehrmitteln und Unterstützung studentischer Einrichtungen großzügig gefördert hatten. Unter der Leitung des Dekans der theologischen Fakultät, Hofrat Prof. Dr. Franz Seraph. Gutjahr, beschloß dieser Ausschuß in seiner Sitzung vom 7. März 1922, „die Zuerkennung des Titels ,Ehrenmitglieder der Universität Graz‘ mit Diplom und die Widmung einer Rosette als äusseren Ehrenzeichens zu beantragen“.329 In der Sitzung des Akademischen Senats am 21. Juli 1922 beantragte Rudolf Heberdey, der vom Rektor Anton Michelitsch mit der Berichterstattung in der Angelegenheit der Ehrenmitgliedschaft beauftragt worden war, daß „von der […] in Aussicht genommenen Rosette zum Diplom […] mit Rücksicht auf deren grosse Herstellungskosten und die Unzulänglichkeit der zur Verfügung stehenden Mittel Abstand genommen“ werde.330 Der Antrag, von der Rosette aus Kostengründen abzusehen, wurde einstimmig angenommen. Dem Germanisten Bernhard Seuffert fiel die Aufgabe zu, den Text für das vorgesehene Diplom zu verfassen. Die obere Hälfte der großformatigen Ehrenurkunde schmückte eine Abbildung der Grazer Universität. Der von Seuffert verfaßte und in Frakturschrift gehaltene Text des Diploms lautete: „Ehrenbrief, Der Rektor magnificus der Universität Graz urkundet hiermit, daß der hohe Akademische Senat [Name] bezeigter edeler Wohlgesinnung für die steirische Geisteshochschule zum Ehrenmitglied der Karl-Franzens-Universität in Dankbarkeit und zu währendem Gedächtnis erkoren hat.“331 In der Sitzung vom 21. Juli 1922 wurde beschlossen, folgenden Personen den Titel „Ehrenmitglied“ der Universität Graz zu verleihen: Herbert C. Hoover und Prof. Franz Boas mit der lapidaren Begründung „Förderer der Universität“, Lady Mary Murray (Gattin des Oxforder Professors Gilbert Murray) als „Beweis innerer Dankbarkeit für ihr selbstloses Wirken im Dienste der Völkerversöhnung“, Frau Dr. Jenny von Hibler, Dresden („rege charitative Tätigkeit zu Gunsten der Grazer Bevölkerung […]), Miss Francesca Wilson aus London wegen „besondere[r] Verdienste in 328 RABL, Die feierliche Inauguration, S. 22. 329 UAG, Karton 81/1, Ehrenmitgliedschaften, Ehrenbürger, Ehrendoktoren: Aktenstücke zur Ehrung amerikanischer Staatsbürger und Ehrenmitglieder/Ehrenzeichenschaffung [Gutjahr für die Kommission für Schaffung eines Ehrenzeichens für Förderer der Universität Graz, 7. März 1922]. 330 Ebenda [Heberdey, 20. Juli 1922]. 331 Ebenda [Ehrenbrief].
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wirtschaftlicher Beziehung“, Dr. Walter Lock, Oxford, ebenfalls wegen „besondere[r] Verdienste in wirtschaftlicher Beziehung“, Miss Eleonora Iredale, London, Sekretärin des „Imperial War Relief Fund“, ebenfalls wegen „besondere[r] Verdienste in wirtschaftlicher Beziehung“, Mr. Donald Grant, Leiter der Europäischen Studentenhilfe in Österreich, „hervorragend verdient gemacht um die Organisation des Hilfswerkes unter den Studenten Österreichs“, Herr Konrad Hoffmann, Leiter der Europäischen Studentenhilfe, „Oberleitung der Studentenhilfe in allen notleidenden Ländern Central- u. Osteuropas“, Dr. Hermann Rutgers aus Holland, Vorstandsmitglied der „Europäischen Studentenhilfe“, „Hauptförderer des Hilfswerkes in Holland. Hat speziell für Graz durch geldliche Zuwendungen viel getan. Stipendien Unterstützung.“332 332 Ebenda. Die Begründungen finden sich auf einer eigenen, später verfaßten Liste, auf der auch die in den folgenden Jahren ernannten Ehrenmitglieder verzeichnet sind. Mitte der 1930er Jahre zählte die Universität Graz rund 30 Ehrenmitglieder. Vgl. Verzeichnis der akademischen Behörden: Professoren, Privatdozenten, Lehrer, Beamte usw. an der Karl-FranzensUniversität zu Graz für das Studienjahr 1937/38 (Mit dem Stande vom 1. Jänner 1938), Graz: Verlag des Akademischen Senats o. J., S. 10. Im Jahr 1925 wurde übrigens auch John Rockefeller (Junior) zum Ehrenmitglied der Grazer Universität ernannt. In einem diesbezüglichen Schreiben des Akademischen Senates an das medizinische Professorenkollegium heißt es: „Schon während, besonders aber nach dem Kriege hatten die Preise für alle Hilfsmittel des Unterrichtes und der Forschung eine rapide, ausserordentliche Steigerung erfahren, während die Dotationen der Institute nur langsam und immer nur in geringem Ausmass erhöht wurden. Das hatte zur Folge, dass die durch den fortlaufenden Institutsbetrieb notwendiger Weise entstehenden Lücken im Besitzstande der Lehrkanzeln nicht mehr ausgefüllt, verbrauchtes Material nicht mehr ersetzt werden konnte, sodass man mit tiefer Sorge die Zeit immer näher kommen sah, in der der Unterricht eine immer weitergehende Einschränkung erfahren musste. In dieser kritischen Situation griff im Sommer-Semester 1921 die Rockefeller-Foundation rettend ein. In zielbewusster Weise wurden alle dringenden Bedürfnisse der Lehrkanzel unserer Fakultät befriedigt, sodass die Not mit einem Schlage gebannt war. Ja darüber hinaus wurden fast alle Institute mit kostbaren Apparaten ausgestattet, die sie in Friedenszeiten von der eigenen Regierung nur auf Grund wiederholter Eingaben und langwieriger Verhandlungen erlangt hätten. Dass durch den Krieg keine Unterbrechung in Unterricht und Forschung eintrat, ja, dass die letztere jetzt an die Bearbeitung mancher wissenschaftlicher Probleme herantreten kann, auf die sie früher mangels geeigneter Hilfsmittel verzichten musste, verdanken wir somit einzig und allein der Rockefeller-Foundation. Ganz besonders wertvoll erscheint aber auch ihre Sorge für die Erhaltung und Ausbildung unseres wissenschaftlichen Nachwuchses. Indem sie den Besten unter unseren Schülern Stipendien verleiht, damit sie Zeit und Musse haben, eine grössere Arbeit auszuführen oder um auf Reisen auswärtige Institutseinrichtungen und Arbeitsmethoden kennen zu lernen, gewinnen diese Anregungen und Eindrücke, die bleibend und bestimmend für ihr ganzes Leben sein werden. […] Der Grazer akademische Senat hat bereits 18 hervorragende Persönlichkeiten um ihrer Verdienste um die Universität willen zu Ehrenmitgliedern ernannt. Der Name Rockefeller wird sich wür-
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In ihrem Dankesschreiben für die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft meinte Lady Murray, „as to what I have been able to do, it is nothing, but you will believe that our feelings are much more than our acts. We are full of sympathy for our Colleagues a[nd] their families, and of more ardent desire to heal the wounds of war […].“ Donald Grant schrieb: „Zu einer Zeit, da das Zusammenwirken der einzelnen Nationen noch erschwert ist, sind alle solchen Zeichen der Verstaendigung, besonders in Kreisen der Wissenschaft und des Lernens, als besonders hoffnungsvoll zu begruessen. In diesem Sinne zu arbeiten, bemueht sich die Europaeische Studentenhilfe, nicht nur in den Laendern Europas, sondern in allen Laendern, in denen es Hochschulen, Professoren und Studierende gibt.“ Hermann Rutgers antwortete: „Es hat mir stets grosze Freude gemacht als Mitglied des Zentral Ausschuszes der Europäischen Studentenhilfe und als Schatzmeister des Niederländischen Nationalen Studentenhilfeausschuszes mein Bestes zu thun um die grosze Not zu lindern in welcher die Folgen des Krieges die Studentenschaft von einem groszen Teil Europas, und namentlich Österreich, versetzt haben […].“333 Franz Boas meinte in seinem Dankschreiben an Rektor Michelitsch: Magnifizenz: Ich gestatte mir Euer Magnifizenz und dem akademischen Senat der KarlFranzens Universität meinen aufrichtlichen [sic] Dank für die Ernennung zum Ehrenmitglied der Karl-Franzens Universität in Graz auszusprechen. Obwohl ich die Ehrung aufrichtig würdige, möchte ich wiederholen was ich schon früher zum Ausdruck gebracht habe, nämlich dass was wir tun ein schwacher Versuch ist einen Teil des Schadens gut zu machen den wir angerichtet haben, und dass wir deshalb keinen Dank verdienen und keinen Dank wollen. Ihr aufrichtig ergebener, Franz Boas334
In der Debatte des Akademischen Senats um die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft war diese Form der Anerkennung in den Fällen von Hoover und Boas als „zu geringfügig bezeichnet“ worden.335 Es wurde daher beschlossen, im Falle von Hoover bei der Medizinischen, im Falle von Boas bei der Philosophischen Fakultät anzufragen, ob den beiden Förderern der Grazer Universität, außer der ihnen bereits zuerkannten Ehrenmitgliedschaft, auch das Ehrendoktorat der jeweiligen Fakultät verliehen werden könnte. Nachträglich wurde von Fritz Pregl auch noch der Antrag gestellt, dig diesen 18 anschliessen, um so mehr, als die Leistungen Rokefellers [sic] für die Grazer Universität 2-3 Milliarden ausmachen und daher alle Beträge, die ihr von anderer Seite zuflossen, um ein Vielfaches übertreffen.“ Vgl. UAG Karton 81/1. 333 UAG Karton 81/1 [Briefe von Lady Murray, 29. November 1922; D. Grant 14. November 1922; H. Rutgers 11. November 1922]. 334 Ebenda [Brief von FB an Michelitsch, 11. November 1922]. 335 Ebenda [Schreiben von Fritz Pregl, 21. Oktober 1922].
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den Chicagoer Professor Adolf Carl Noé von Archenegg, „jenen Akademiker, der sich in Amerika am meisten Mühe um die Grazer Universität gegeben hat“, zum Ehrenmitglied zu ernennen und ebenfalls eine Promotion zum Ehrendoktor in Erwägung zu ziehen.336 In der Sitzung des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät vom 20. Oktober 1922 wurde beschlossen, „in Angelegenheit der Verleihung des Ehrendoktorates an Herrn Prof. F. Boas (Columbia University, New York) eine Kommission einzusetzen“. Der Kommission gehörten der Sprachwissenschaftler Rudolf Meringer, der Geologe Vincenz Hilber sowie der Geograph und Historiker Robert Sieger an. Letzterer wurde mit der Berichterstattung in bezug auf die wissenschaftlichen Verdienste von Boas betraut.337 Nachdrücklich empfahl Sieger in seinem Bericht, den ich im Anhang zeilengetreu abgedruckt habe, die Verleihung des Ehrendoktorates an Franz Boas. Ohne hier seinen Bericht eingehend kommentieren zu wollen, seien nur zwei Überlegungen gestattet: In bezug auf die Ausführungen zur Lebensgeschichte von Franz Boas ist wohl bemerkenswert, welch große Bedeutung in diesem Kommissionsbericht auf die deutsche Herkunft von Franz Boas gelegt wird. Hinsichtlich der Einschätzung der wissenschaftlichen Leistungen von Franz Boas sei insbesondere auf die Siegersche Interpretation seines Werkes The Mind of Primitive Man (1911) hingewiesen. Im Unterschied zu der Auffassung vieler zeitgenössischer Interpreten, die in diesem Werk vornehmlich einen Versuch erkannten, die Gleichartigkeit der Denkweisen von „Primitiven“ und „Zivilisierten“ nachzuweisen, argumentiert der Kommissionsbericht, das Buch behandle „die gefühlsmäßigen Associationen bei den Kulturarmen und das ganz anders erscheinende Geistesleben der Kulturvölker“.338 Der Kommissionsbericht wurde in der Sitzung des Professorenkollegiums vom 24. November 1922 einstimmig angenommen.339 Nach der eingeholten Zustimmung des Ministeriums teilte der Dekan Franz Boas in einem Schreiben vom 13. Juni 1923 die Verleihung des Ehrendoktorates mit: Als Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Graz habe ich die Ehre, Ihnen, hochzuehrender Herr Professor, zur Kenntnis zu bringen, dass das Professoren-Kollegium der philosophischen Fakultät einstimmig beschlossen hat, Ihnen in Würdigung der außerordentlichen wissenschaftlichen Verdienste, die sie
336 Ebenda. Vgl. auch UAG, Phil. Dek. Zl. 1761 ex 1921/22 und Med. Fak. Zl. 1969 ex 1921/22. 337 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 126 ex 1922/23, Dekan an Meringer, 21. Oktober 1922 [Kommission Nr. 54]. 338 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 299 ex 1922/23, Kommissionsbericht – Ehrendoktorat Franz Boas. 339 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 345 ex 1922/23 [Protokoll der Sitzung des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät vom 24. November 1922].
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sich auf den Gebieten der Anthropologie und Ethnologie sowie um die wissenschaftlichen Institute der österreichischen Hochschulen, besonders auch der Grazer Universität, erworben haben, das Ehrendoktorat zu verleihen und dass das Ministerium für Unterricht diesen Beschluss bestätigt hat. Ich bitte mir bekannt geben zu wollen, ob Ihnen das Diplom zugesandt werden soll, oder ob Sie dasselbe selbst hier in Empfang zu nehmen wünschen. In diesem Falle bitte ich um Mitteilung und den Zeitpunkt Ihrer Anwesenheit in Graz.340
In seinem Antwortschreiben übermittelte Franz Boas dem Dekan seinen „aufrichtigen Dank für die große Ehrung, die sie [die Philosophische Fakultät] mir durch die Verleihung des Ehrendoktorates erwiesen hat“.341 In einem späteren Brief bedauerte Boas, daß es ihm nicht möglich wäre, „nach Graz zu kommen und das Ehrendiplom, das die Fakultät mir gütigst verliehen hat in Empfang zu nehmen. Darf ich Sie deshalb bitten, das Dokument an meine Berliner Adresse nachsenden lassen zu wollen.“342 Im Jahre 1928 übermittelte der Dekan Franz Boas Glückwünsche zu seinem 70. Geburtstag. Danach verlieren sich – so weit ich feststellen konnte – die Spuren. Bis zum Wintersemester 1937/38 wurden die Namen der Ehrenmitglieder und Ehrendoktoren der Grazer Universität noch in den Vorlesungsverzeichnissen genannt. Dann sollten auch hier die Namen gestrichen werden.
Anhang zum Exkurs: Kommissionsbericht zur Verleihung des Ehrendoktorates an Franz Boas UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 299 ex 1922/23, Kommissionsbericht – Ehrendoktorat Franz Boas. [Zeilengetreue Abschrift]: Die unterzeichnete Kommission beantragt Die Fakultät beschließe, den Professor für Anthropologie an der Columbia University in New York, Dr. Franz Boas zum Ehrendoktor der Philosophie
340 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 126 ex 1922/23, Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät Böhmig an FB, 13. Juni 1923. Auch dem in Chicago lebenden Botaniker Adolf Carl Noé von Archenegg, der in Graz studiert und hier seine wissenschaftliche Karriere begonnen hatte, wurde von der Philosophischen Fakultät das Ehrendoktorat verliehen. Zu Leben und Werk von Noé vgl. UAG, Phil. Fak., Dek. Zl. 302 ex 1922/23, 22. November 1922 [Kommissionsbericht Nr. 55]. Die Medizinische Fakultät hingegen scheint sich gegen eine Verleihung des Ehrendoktorates an Hoover ausgesprochen zu haben. Ob die Sache im Falle von Hoover anders gelaufen wäre, wenn er zu diesem Zeitpunkt bereits Präsident der Vereinigten Staaten gewesen wäre, mögen jene beurteilen, die die „gefühlsmässigen Associationen“ und das „Geistesleben“ der Professorenschaft besser kennen als ich. 341 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 126 ex 1922/23, Schreiben von FB an den Dekan der Philosophischen Fakultät Böhmig, 18. Juni 1923. 342 UAG, Phil. Fak. Dek. Zl. 126 ex 1922/23: Schreiben von FB an den Dekan der Philosophischen Fakultät Böhmig, 26. Juni 1923.
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zu ernennen und diesen Beschluss dem Unterrichtsamt zur Bestätigung vorzulegen. Wenn die Fakultät den Wunsch des akademischen Senats, dem Präsidenten der Emergency Society for German and Austrian Science and Art den Dank der Universität für die werktätige Hilfe dieser Gesellschaft zu bekunden, durch die höchste Form einer akademischen Ehrung, das Doktorat honoris causa, zu verwirklichen beschließt, so geschieht dies in der Erwägung, dass Prof. Boas ein Forscher hohen Ranges ist, den zu ihren Angehörigen zu zählen sich jede Fakultät zur Ehre rechnen darf und für den eine andere Ehrung, etwa die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Hochschule, nicht als eine seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit angemessene Auszeichnung gelten könnte. Franz Boas ist nicht nur der hervorragendste wissenschaftliche Erforscher der nordamerikanischen Indianer, sondern der bedeutendste Anthropolog und Ethnolog Amerikas überhaupt. Sein Ansehen in den Fachkreisen der Alten Welt beweisen zahlreiche Auszeichnungen wissenschaftlicher Art, z. B. die corresp. Mitgliedschaft der preußischen Akademie, das Ehrendoktorat der Universität Oxford (1912), die goldene Medaille der Anthropologischen Gesellschaft in Berlin. Geboren am 9. Juli 1858 zu Minden in Westfalen, studierte Boas in Heidelberg, Bonn und Kiel Naturwissenschaften und wurde 1882 in Kiel zum Dr. phil. promoviert. 1883 übernahm er die Verwaltung der meteorologischen Station in Baffinsland [sic] und bereiste 1883-4 dieses Gebiet, wobei er u.a. die ehemalige Verbreitung der Eskimos untersuchte und Beiträge zur geographischen Kenntnis von Baffinsland und dem Hudsonbaygebiet lieferte. Hierauf wurde er wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Museum f. Völkerkunde in Berlin und habilitierte sich 1885 an der dortigen Universität. Aber schon 1886 ging er nach Nordwestamerika und begann mit einer Bereisung von BritischKolumbien 1886/7 die lange Reihe seiner Forschungsreisen im Nordwesten, von Kalifornien bis Alaska. 1889 bis 1892 war er Dozent der Anthropologie an der neuerrichte ten Clarks [sic] University in Worcester (Mass.), 1892 bis 1894 erster Direktorialassistent der anthropologischen Abteilung der Weltausstellung in Chicago, der er zu vollem wissenschaftlichen Erfolge verhalf; auch organisierte er die anthropologische Abteilung des Field Columbian Museum in Chicago. 1896-1900 war er Unterkurator, dann bis 1905 Kurator der anthropologischen Abteilung des naturhistorischen Museums in N. York und zugleich von 1896 bis 1899 Lektor, seit 1900 aber ordentlicher Professor der Anthropologie an der dortigen Columbia University. 1899 wurde Boas Philologist des Bureau of American Ethnology, 1910
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bis 1912 wirkte er in Mexico als Professor an der Nationaluniversität und zugleich seit 1911 als Direktor der internationalen Schule für Archäologie und Ethnographie Amerikas. In diesen Betrauungen und Berufungen spiegelt sich die Tatsache, dass Boas’ Beobachtungen und Forschungen sich immer vielseitiger auf die Gebiete der Anthropologie, Ethnographie, Urgeschichte und Sprachwissenschaft erstreckten, dass er als „Amerikanist“ schlechtweg Ansehen gewann, wie er denn auch zu den führenden Persönlichkeiten der internationalen Amerikanistenkongresse zählt. Als Forscher und Organisator zugleich bewies er sich bei der Leitung des Systems von Reisen, die er und andere von 1897 angefangen durch eine Reihe von Jahren unter dem Gesamtnamen The Jesup Expedition nach den Ländern beiderseits der Beringstraße unternahmen. Ihre Aufgabe war, durch systematische anthropologische, ethnographische und linguistische Untersuchung die Beziehungen zwischen den Eingeborenen Nordwestamerikas und Nordostasiens aufzuhellen. Boas gelangte zu dem Ergebnis, dass die Eskimos eine einheitliche Bevölkerung amerikanischer Herkunft sind, diesich [sic] als ein Keil zwischen die Nordwestamerikaner und die Palaeoasiaten [sic] drängten. Diese beiden Gruppen aber bilden, obwohl durch eingedrungene amerikanische und asiatische Völker getrennt, eine Menschheitsgruppe. Boas hat die Ergebnisse der Expedition in einem Riesenwerk von 1899 bis 1912 herausgegeben. Von seinen sonstigen Arbeiten aus diesem Gebiete seien genannt: Baffinsland 1885, The Central Eskimos 1888, Indianische Sagen 1895, Chinook texts 1894, Social organization and secret societies of the Kwakiutl Indians 1897, Mythology of the Bella Coola Indians 1898, Kathlamat texts 1901, The Eskimos of Baffinland and Hudsonbay 1901 u. 1907, Tsimshian texts 1902, Kwakiutly texts 1910, Tsimshian tales 1912. Daran schließen sich seine Beträge zu dem seit 1911 von ihm herausgegebenen, auf viele Bände berechneten Handbook of the American Indian languages.
Die allgemeinen ethnologischen Ergebnisse, die ihm aus seinen amerikanistischen Arbeiten erwachsen waren, legte Boas 1911 in der wichtigen Arbeit „The mind of primitive man“ nieder. Sie ist in ausgestalteter Form in die weiter reichende 1914 deutsch erschienene Veröffentlichung „Kultur und Rasse“ übergegangen, welche die verschiedensten Fragen der Vererbung und der kulturellen Entwicklung, u.a. in besonders bemerkenswerter Weise die gefühlsmäßigen Associationen bei den Kulturarmen und das ganz anders erscheinende Geistesleben der Kulturvölker behandelt. Boas konnte an derlei Probleme umso eher herantreten, als sich seine Untersuchungen nicht auf die Primitiven beschränkt hatten. Er zog auch Kulturvölker in den Bereich seiner Stu-
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dien, insbesondere der anthropologischen. Eine 1912 erschienene Arbeit „Changes in bodily forms of descendents of immigrants“ beruht auf den seit 1907 fortgesetzten, auf 18.000 Personen in New York erstreckten Untersuchungen über die Abschwächungen, welche die Verschiedenheiten der eingewanderten europäischen Typen von einer Generation auf die andere, ja vielleicht innerhalb der einwandernden Generation selbst erfahren und die doch nach Boas nicht zur Entstehung eines einheitlichen amerikanischen Typus hinzielen. Der Umstand, dass bei den besonders in Betracht gezogenen Umgestaltungen der Schädelform der Einfluss des städtischen Lebens in Frage kommen konnte, führte Boas zu italienischen Forschungen, die sich mit diesen beschäftigt hatten, und der 1912 veröffentlichte Aufsatz The headforms of the Italians as influenced by the heredity and environment gewann diesem Material, z. T. mit Hilfe einer kartographischen Methode neue selbständige Ergebnisse ab. Über Boas’ Veröffentlichungen seit Kriegsbeginn fehlen uns nähere Angaben, aber schon das Angeführte gibt ein Bild seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit. Boas ist sowohl reisender Beobachter, als auch Museumsmann und vor allem auch ein grosszügiger Organisator wissenschaftlicher Arbeiten. Er gehört zu denjenigen Ethnologen, welche den Völkergedanken nicht völlig ablehnen, aber sich gegen alle konstruierten Reihen wenden und insbesondere auch der anthropogeographischen Betrachtungsweise Raum geben. Obwohl naturgemäß die Mehrzahl seiner Schriften in englischer Sprache erschienen ist, muss Boas zu den hervorragenden Vertretern deutscher Wissenschaft gezählt werden, zumal da er ja auch immer gern in seiner Muttersprache veröffentlicht hat. Dass er, mit einer Deutschen verheiratet, sich als Angehöriger unseres Volkes fühlt, beweist besonders auch die großzügige Art, in der er nach Kriegsende durch die Gründung der Emergency Society die Fürsorge für die deutsche Wissenschaft innerhalb des Gesamtvolks in die Hand genommen hat. Wir ehren in Franz Boas auch einen Mann, der wesentlich zum Ansehen deutscher Wissenschaft in der Welt beigetragen hat. Dr. Robert Sieger Vinzenz Hilber Meringer
B. Zur Kritik der Wiener Schule der Ethnologie am kulturevolutionistischen Bild vom „Wilden“ im allgemeinen und vom Feuerlandindianer im besonderen ode r: „ Am Anf a ng w ar das nic ht s o!“ 1
Prolog: Das Bild des Feuerlandindianers als Homo totius mundi ferocissimus Im Dezember des Jahres 1774 ging das von Kapitän James Cook kommandierte Schiff „Resolution“ vor der Westküste von Tierra del Fuego vor Anker. An Bord der „Resolution“ befand sich der knapp zwanzigjährige Georg Forster (1754-1794), der seinen Vater Reinhold, einen Naturforscher, als Zeichner auf der zweiten Cookschen Weltumsegelung begleitete. Zwei Jahre war die „Resolution“ bereits unterwegs, und der junge Forster hatte in dieser Zeit reichlich Gelegenheit gehabt, Erfahrungen mit den Bewohnern sogenannter exotischer Länder zu sammeln. Zahlreiche „rohe“, „ungesittete“, „barbarische“ Völker hatte er kennengelernt, um den paradiesischen Naturzustand des Menschen als Träumerei der Zivilisation überdrüssiger Schwärmer zu entlarven. Forsters Kritik wandte sich nicht bloß gegen jene Philosophen, die Systeme bauten, obgleich sie den Menschen nur von der Studierstube her kannten, sondern auch gegen jene Forscher, die „bis zum Unsinn nach Factis jagten“ und „unfähig“ waren, „auch nur einen einzigen Satz zu bestimmen und zu abstrahiren“. Auf seiner Reise wollte Forster Stoff sammeln, um hier-
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Die folgenden Ausführungen überschneiden sich weitgehend mit dem Beitrag von Bernd WEILER, „Vollmenschen“, Feuerlandindianer und das Rote Wien der 1920er Jahre, in: Andreas BALOG, Gerald MOZETIý (Hg.), Soziologie in und aus Wien, Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang 2004, S. 49-103.
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nach die „Natur des Menschen so viel möglich in mehreres Licht zu setzen“.2 Dem „Wilden“ von Tierra del Fuego sollte hierbei eine besondere Bedeutung zukommen. Schon die erste Begegnung mit den Feuerlandindianern, die sich ohne Begrüßung, ohne Anzeichen der Freude oder Neugier, vor Kälte zitternd, unentwegt bloß den Laut „Pesseräh“ ausstoßend der englischen Expedition näherten, beeindruckte, ja bestürzte Forster zutiefst: Anstatt des Barts standen einige einzelne Borsten auf dem Kinn, und von der Nase bis in das häßliche, stets offene Maul, war ein beständig fließender Canal vorhanden. Diese Züge machten, zusammen genommen, das vollständigste und redendste Bild von dem tiefen Elend aus, worinn dies unglückliche Geschlecht von Menschen dahinlebt.3
Als einen Indikator für die monströse Häßlichkeit dieser „nackend“ gehenden Menschen, aus deren Körpern zudem ein „unerträglicher fauler Gestank“ ausdunstete, so daß man sie „mit geschloßnen Augen […] bereits in der Ferne wittern“ konnte, führte Forster übrigens das keusche Verhalten der ansonsten in bezug auf ihre Liebschaften nicht allzu wählerisch agierenden englischen Matrosen an: Wer die Seeleute, und ihre sonst eben nicht ekle Begierden kennt, wird kaum glauben, was doch wirklich geschah, nemlich, daß es ihnen, dieser unerträglichen Ausdünstung wegen, gar nicht einmal einfiel, mit dem saubern Frauenzimmer genauere Bekanntschaft zu machen.4
Dem häßlichen, an das Tier gemahnenden Körper entsprachen nach Forster – im Sinne einer ins Negative gewandten Fassung des griechischen Ideals der Kalokagathia – die beschränkten geistigen Fähigkeiten der Feuerlandindianer: „Mit unsrer Zeichensprache, die doch sonst überall gegolten hatte, war bey diesen Leuten hier nichts auszurichten; Geberden, die der niedrigste und einfältigste Bewohner irgend einer Insel in der Südsee verstand, begriff hier der Klügste nicht.“5 Nichts erregte ihre Bewunderung, ja – so Forster – sie „schienen unsre Überlegenheit und unsre Vorzüge gar nicht zu fühlen“. Diesen niederen Geisteskräften wiederum entspräche das Fehlen jeglicher gesellschaftlicher Einrichtungen. Die „Wilden“ im „ödesten unfruchtbarsten Theil von Tierra del Fuego“ hätten scheinbar „fast jeden Begrif verlohren“, welcher „nicht mit den dringendsten Be-
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Georg FORSTER, Reise um die Welt. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Steiner. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1983, S. 17. Ebenda, S. 920. Ebenda, S. 924. Ebenda, S. 922.
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dürfnissen in unmittelbarer Verbindung steht“.6 „Ihre ganze Lebensart“, so Forster, käme dem „thierischen Zustande näher, als bey irgend einem andern Volk“.7 Rund sechs Jahrzehnte nach Georg Forster besuchte Charles Darwin auf seiner berühmten Reise auf der H.M.S. Beagle (1831-1836) den kalten Südzipfel Amerikas. Seine einprägsame Schilderung der Bewohner dieses meer- und sturmumtosten, rauhen Landstriches trug maßgeblich dazu bei, daß der Feuerlandindianer für viele Gebildete des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff des „rohen Wilden“ wurde; ja, daß der Feuerlandindianer in dem heute bizarr anmutenden, die Fortschrittsgläubigkeit der damaligen Zeit jedoch kennzeichnenden Ringen um den nicht allzu schmeichelhaften Titel des homo totius mundi ferocissimus, des „Wildesten aller Wilden“, des Elendsten aller Geschöpfe, des „tierischsten Menschen“, als einer der aus-
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Ebenda, S. 923 und 925. Ebenda, S. 924. Am Ende seiner Reise erklärt Forster, daß durch die Kenntnis der verschiedenen Völker „jedem Unpartheyischen die Vortheile und Wohlthaten, welche Sittlichkeit und Religion über unsern Welttheil verbreitet haben, immer deutlicher und einleuchtender“ werden müssen. Und noch einmal gedenkt er in diesem Zusammenhang des Feuerlandindianers, der „zur niedrigsten Stufe der menschlichen Natur bis an die Gränzen der unvernünftigen Thiere herabgewürdigt“ war. Ebenda, S. 998. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Schilderung in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, der sich hierbei unter anderem auf Forsters Reiseberichte stützen sollte: „[H]inter ihnen [den Patagoniern] ist Nichts übrig als der arme kalte Rand der Erde, das Feuerland und in ihm die Pescherähs, vielleicht die niedrigste Gattung der Menschen. Klein und häßlich und von unerträglichem Geruch; sie nähren sich mit Muscheln, kleiden sich in Seehundfelle, frieren jahrüber im entsetzlichsten Winter; und ob sie gleich Wälder gnug haben, so mangelts ihnen doch sowohl an dichten Häusern als an wärmendem Feuer. Gut, daß die schonende Natur gegen den Südpol die Erde hier schon aufhören ließ; tiefer hinab, welche armselige Bilder der Menschheit hätten ihr Leben im gefühlraubenden Frost dahingeträumet.“ Johann Gottfried HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791), Leipzig: Verlag des Bibliographischen Institutes o. J. (= Herders Werke 3, herausgegeben von Heinrich Kurz), S. 192-193.
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sichtsreichsten Kandidaten angesehen wurde.8 Wie Forster sollte auch Darwin in der Wahl des „Niedersten aller Menschen“ dem feuerländischen 8
Bezüglich des „schlechten Rufs“, den der Feuerlandindianer im 19. Jahrhundert in den für das deutsche Bildungsbürgertum verfaßten Nachschlagewerken genoß, vgl. etwa die Schilderung von Theile: „Der Ausdruck ihrer Physiognomien ist sehr roh und unangenehm; eine sehr breite und platte Nase, klaffende Nasenlöcher, ein großer Mund, dickwulstige Lippen, gewölbte Backenknochen, tiefliegende kleine Augen, Augenlider, die vom Rauche des überall hin mitgenommenen Feuers angegriffen sind, vereinigen sich mit einem scheuen, oft tückischen, immer aber geistlosen Blicke, um diesen Wilden ein ungemein thierisches bußere zu geben. Sie gehören zu den unreinlichsten aller bekannten Völker […]. Ungeachtet des rauhen Himmels besitzen sie wenige oder keine Kleidung, und keiner hat mehr als ein über die Schultern geworfenes, mit einem Hautstreifen über der Brust zusammengebundenes, Seehundsfell, welches, vor Unreinlichkeit starrend, einen unerträglichen Geruch verbreitet. Ihre Hütten bestehen aus Baumzweigen, die, im Kreise in den Boden gesteckt, oben zusammengebunden, außen mit Gras und Fellen belegt sind und im Innern höchstens zehn Fuß Durchmesser haben. […] Wenige Stunden genügen zur Herstellung eines so armseligen Obdaches, welches nie länger als einige Tage bewohnt wird. Werden diese Wilden bei ihrem planlosen Herumstreifen von der Nacht an Orten überfallen, wo die Errichtung solcher Hütten nicht möglich ist, so kriechen sie wie wilde Thiere zusammen und schlafen, kaum gegen Sturm und Regen geschützt, auf dem nassen Boden. […] Ein Glücksfall ist es, wenn eine herumstreifende Familie einen Seehund erlegt, oder gar auf einen gestrandeten Walfisch trifft; denn obgleich der letztere in Fäulniß übergegangen sein möge, so zehrt man doch so lange, als irgend möglich, von seinen ekelhaften Resten. Mit thierischer Gier fallen sie über Alles her, was ihnen die Seefahrer reichen, und als Leckerbissen genießen sie den Talg, mit welchem man das Lederwerk am Takelwerke geschmeidig erhält und das Senkblei anfüllt. […] [F]ehlt es dann auch an dem Pilze der Buchenstämme und den wenigen geschmacklosen Beerenarten des Landes, so ergreift der härteste Mangel diese elenden Horden, die ohne Vorräthe, ohne Eigenthum ihr ganzes Leben in einem engen Bezirke herumziehend verbringen und ihr Dasein mühsam von einem Tage zum anderen fristen. Ein Wunder ist es freilich nicht, daß sie dann auf die niedrigste Stufe hinabsinken, die der Mensch überhaupt erreichen kann und zu Canibalen werden. Aus den Untersuchungen der englischen Seefahrer geht mit Sicherheit hervor, daß sich die kleineren Stämme nur in der Absicht bekriegen, um die Erschlagenen zu verzehren, und daß diejenigen wandernden Haufen, welchen selbst hiezu die Gelegenheit abgeht, ihre alten Weiber durch Rauch ersticken und aufessen. Dieser Mangel an Nahrung ist nicht die Folge von Trägheit oder großen Ungeschicks […]; vielmehr liegt der Grund dieses Elends in der natürlichen Beschaffenheit des Landes selbst, die es sogar jeder größeren Gesellschaft unmöglich macht, vereint zu bleiben, oder gar feste Wohnsitze anzulegen. […] Unter solchen Umständen können sie niemals Liebe zur Heimath oder ihren Familien, noch ein Bedürfniß fühlen zur Bildung eines, wenn auch noch so rohen, bürgerlichen Vereins. Man hat daher auch keine Spur von irgend einer Autorität unter ihnen wahrgenommen; sie sind ohne Häuptlinge, Einer gilt dem Anderen völlig gleich, und höchstens wird dem ältesten Manne einer Familie, der gemeinhin eine Art von Zauberer vorstellt, ein geringer Einfluß oder doch eine entscheidende Stimme eingeräumt. Jede Familie, wenn man anders ein Verhältniß so nennen kann wo die Weiber mishandelte Sklavinnen sind und vom
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Urmenschen seine gewichtige Stimme geben.9 „I believe“, so Darwin, der sich knapp zwei Monate in Tierra del Fuego aufgehalten hatte, „in this extreme part of South America, man exists in a lower state of improvement than in any other part of the world“.10 Darwin zeichnet den Feuerlandindianer als einen passiven Spielball der natürlichen Elemente, einen der vorausschauenden Lebensfürsorge unfähigen, reflexartig agierenden, sich nur ungenügend vor der Kälte zu schützen wissenden „Augenblicksmenschen“, im steten Kampf ums Dasein darbend, mehr überlebend als lebend, als einen der Natur vollkommen
vom Manne ohne das geringste Bedauern verlassen werden – steht allein, und führt, wenn es ihr Vortheil erheischt, mit der benachbarten offenen Krieg. Ob die Feuerländer irgend einen Begriff von einem höheren Wesen haben, ist unentschieden, da man nie die geringste Spur irgend eines Cultus, nicht einmal Fetische unter ihnen bemerkt hat. […] Dennoch sind sie nicht so völlig ohne natürliche Anlagen, wie die früheren Seefahrer behaupteten; denn die drei Individuen, welche man nach England brachte und dort ein Jahr lang erziehen ließ, eigneten sich die Formen der Civilisation und eine Menge Begriffe in kurzer Zeit an. Unter dem Drucke der äußeren Noth können freilich diese Anlagen nicht zur Entwickelung kommen, oder sie äußern sich höchstens als List, Tücke, Begehrlichkeit und als das Talent, fremde Eigenthümlichkeiten in Gang und Sprache aufzufassen und treu genug wiederzugeben. Zum Diebstahle sind Alle im auffallendsten Grade geneigt, und scheuen sich nicht, Gewalt zu brauchen, wo sie sich für die Stärkeren halten. Sie suchen daher selbst Veranlassungen zu Streiten, und können nur durch ernstes und consequentes Benehmen im Zaume gehalten werden. […] [I]hnen [sind] Geselligkeit, Spiele und Vergnügungen fremd. Ihre Sprache zerfällt in drei bis vier, wie es scheint nahe verwandte, Dialekte von großer Rauheit, deren sehr eigenthümliche Laute man umsonst versucht hat, mit europäischen Schriftzügen wiederzugeben. […] Die Möglichkeit, diese Volksstämme zu civilisiren, ist sehr gering, theils wegen der Noth, mit der sie immerdar kämpfen, theils weil sie ohne ein erhebliches Besitzthum im unaufhörlichen Wandern begriffen sind. [U]nbeachtet von Europäern werden diese zahlenarmen Horden in ihrer Rohheit verharren, bis vielleicht ein unvorhergesehener Grund auch dort die Weißen zur Niederlassung veranlaßt, und durch sie, wie überall da, wo sie in der neuen Welt festen Fuß faßten, der Untergang der Urbevölkerung herbeigeführt wird.“ Fr. W. THEILE, Feuerland, in: J. S. ERSCH und J. G. GRUBER (Hg.), Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Teil 43 Ferdinand I. – Fichten-Tinctur, Erste Sektion A.G. Unveränderter Nachdruck der 1846 bei Johann Friedrich Gleditsch in Leipzig erschienenen Ausgabe. Graz: Akademische Drucksund Verlagsanstalt 1971, S. 360-367, hier S. 365-366. 9 Für einen Überblick über die Geschichte der Forschungen im Feuerland siehe Martin GUSINDE, Die Feuerland-Indianer. Ergebnisse meiner vier Forschungsreisen in den Jahren 1918 bis 1924, unternommen im Auftrag des Ministerio de Instruccion Publica de Chile. Band 1: Die Selk’nam: Vom Leben und Denken eines Jägervolkes auf der grossen Feuerlandinsel. Mödling bei Wien: Verlag der Internationalen Zeitschrift „Anthropos“ 1931, S. 18-62. 10 Charles DARWIN, Journal of Researches into the Natural History and Geology of the Countries Visited during the Voyage of H.M.S. „Beagle“ Round the World. London-New York-Melbourne: Ward, Lock and Co. 81890, S. 166.
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hörigen Untertanen. Seine Beschreibung der Feuerlandindianer verdichtet sich in dem Bild einer jungen, ihr Kind stillenden Mutter, die sich dem englischen Schiffe neugierig nähert, stehen bleibt, während der Schneeregen fällt und auf ihrer nackter Brust und auf der Haut ihres nackten Säuglings zu Wasser gerinnt.11 „Viewing such men“, so der englische Biologe, one can hardly make oneself believe that they are fellow-creatures, and inhabitants of the same world. It is a common subject of conjecture what pleasure in life some of the lower animals can enjoy; how much more reasonably the same question may be asked with respect to these barbarians!12
Darwin vergleicht die Fertigkeiten des Feuerländers auf der Jagd mit dem Instinkt eines Tieres; „for it is not improved by experience“.13 Die völlige soziale Gleichheit, die nomadische Lebensweise und das Fehlen privaten Eigentums seien dem Fortschritt abträglich.14 Der Feuerlandindianer sei abergläubisch, jedoch ohne religiöse Praktiken und ohne Begriff eines Jenseits. Er kenne das Gefühl „of having a home“ nicht, „and still less that of domestic affection; for the husband is to the wife a brutal master to a laborious slave“.15 Für den Feuerlandindianer als homo totius mundi ferocissimus sprachen ferner seine äußerst dürftige Bekleidung, seine Praktiken des Infantizids und Senilizids, sowie seine kannibalistischen Neigungen. Bei Darwin erscheint der Feuerländer als grausames, gefühlloses, stumpfsinniges Geschöpf.16 Darwin berichtet, daß in den Wintermonaten, in denen oft 11 12 13 14
Ebenda, S. 154. Ebenda. Ebenda, S. 156. Vgl. in diesem Zusammenhang Charles DARWIN, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. With an introduction by John Tyler Bonner and Robert M. May. Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1981 [= Photoreproduction of the 1871 edition published by J. Murray, London], S. 167: „Whilst observing the barbarous inhabitants of Tierra del Fuego, it struck me that the possession of some property, a fixed abode, and the union of many families under a chief, were the indispensable requisites for civilisation. Such habits almost necessitate the cultivation of the ground; and the first steps in cultivation would probably result […] from some such accident as the seeds of a fruit-tree falling on a heap of refuse and producing an unusually fine variety. The problem, however, of the first advance of savages towards civilisation is at present much too difficult to be solved.“ 15 DARWIN, Voyage, S. 156. 16 Ebenda, S. 156: „Was a more horrid deed ever perpetrated, than that witnessed on the west coast by Byron, who saw a wretched mother pick up her bleeding dying infant-boy, whom her husband had mercilessly dashed on the stones for dropping a basket of sea-eggs?“ Wie erwähnt, sollte Darwin in seinem Werk über die Abstammung des Menschen (1871) den Feuerländer zwar einerseits dem Tier annähern, andererseits jedoch auch wiederholt betonen, daß dieser sich hinsichtlich seiner fundamentalen Anlagen vom „Zivilisierten“ nicht unterscheide. In seinem Reisetagebuch steht jedoch die „Strategie der Erniedrigung“ im Mittelpunkt seines Porträts dieser am Südzipfel Amerikas lebenden Menschen.
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Hungersnot herrschte, die alten Frauen der steten Gefahr ausgesetzt gewesen wären, über rauchendem Feuer zum Ersticken gebracht und anschließend von den eigenen Verwandten verspeist zu werden. Als der englische Weltreisende einen Jungen fragte, warum man denn nicht die Hunde anstelle der alten Frauen verzehrte, antwortete ihm dieser: „,Doggies catch otters, old women no‘“. Der Junge, der dies erzählte, ahmte im Spaß die Schreie der sterbenden alten Frauen nach und beschrieb anschließend auch „the parts of their bodies which are considered best to eat“. Oft versuchten die alten, verzweifelten Frauen, so Darwin, ihrem Schicksal zu entkommen und in die Berge zu entfliehen. Doch die Männer verfolgten sie und brachten sie zurück, zurück zu den „slaughter-houses at their own firesides“.17 Hier – in Darwins Feuerland – war das Leben der Menschen tatsächlich „solitary, poor, nasty, brutish, and short“.18
Einleitende Bemerkungen Vorrangiges Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die von der Wiener Schule der Ethnologie geübte Kritik an dem im Prolog skizzierten ForsterDarwinschen Bild vom kulturevolutionistischen „Urmenschen“ und „Wilden“ im allgemeinen und vom Feuerlandindianer im besonderen einer ideengeschichtlichen und wissenssoziologischen Analyse zu unterziehen.19 Die untrennbar mit dem Schaffen von Pater Wilhelm Schmidt (1868-1954) verbundene Wiener Schule der Ethnologie galt vom Zeitpunkt der Gründung ihres wichtigsten Publikationsorgans im Jahre 1906, der Zeitschrift Anthropos: Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde, bis zur erzwungenen Emigration von Pater Schmidt im Jahre 1938 sowie der Verlegung des von ihm geleiteten Instituts von St. Gabriel in Mödling bei Wien nach Froideville bei Fribourg in der Schweiz als eines der internationalen Zentren der ethnologischen Forschung. Das Oberhaupt der Wiener Schule, Pater Wilhelm Schmidt, geboren in Hörde bei Dortmund, war als Fünfzehnjähriger in den von dem Deutschen Arnold Janssen im Jahre 1875 im niederländischen Steyl an der Maas gegründeten katholischen Missionsorden der „Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ (Societas Verbi Divini, S.V.D.) eingetreten.20 Die Gründung dieses Ordens fällt in die Zeit des großen missionarischen Aufbruchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nur wenige Jahre vor der „Gesell17 DARWIN, Voyage, S. 155. 18 Thomas HOBBES, Leviathan, Oxford-New York: Oxford University Press 1998 [1651], S. 84. 19 In der Literatur finden sich auch die Bezeichnungen „Wiener Schule der Völkerkunde“, „Kulturkreislehre“, „Kulturhistorische Schule der Ethnologie“, „Historische Schule der Ethnologie“. 20 Da das erste Missionshaus in Steyl gegründet wurde, werden die Angehörigen des Ordens auch als „Steyler Missionare“ bezeichnet.
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schaft des Göttlichen Wortes“ waren der Orden der Salesianer, der Orden der Comboni Missionare sowie die von Algerien ausgehende Missionsbewegung der Weißen Väter ins Leben gerufen worden.21 Nachdem Schmidt die Missionsschule absolviert, die Priesterweihe empfangen und kurze Zeit als Lehrer gewirkt hatte, hörte er in den Jahren von 1893 bis 1895 Vorlesungen über semitische Sprachen an der Universität in Berlin. Danach wurde er, ohne seine Studien zu beenden, von Pater Arnold Janssen als Lektor an das 1889 gegründete Missionspriesterseminar in St. Gabriel in Mödling bei Wien berufen. Schon bald nach seiner Ankunft in St. Gabriel konnte Schmidt Kontakte zu einflußreichen Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und öffentlichen Lebens in Wien herstellen, unter anderem zu dem bgyptologen und Afrikanisten Leo Reinisch (1832-1919) und dem Indogermanisten Leopold von Schröder (1851-1920), beide Professoren an der Wiener Universität, sowie zu dem Geologen und Anthropologen Ferdinand Freiherr von Andrian-Werburg (1835-1914), der eine führende Rolle in der Wiener Anthropologischen Gesellschaft spielte, und schließlich zu dem katholischen Zirkel um Richard Kralik (1852-1934). In den Jahren unmittelbar vor und während des Ersten Weltkriegs unterhielt Schmidt enge Beziehungen zum Kaiserhaus, insbesondere zu Kaiser Karl. Neben seiner allseits anerkannten, ungemein produktiven wissenschaftlichen Tätigkeit sollte Schmidt zeitlebens auch zu verschiedenen tagespolitischen und zeitgeschichtlichen Fragen Stellung beziehen. Auch bemühte er sich – insbesondere in der Zwischenkriegszeit –, seinen großen Einfluß auf wissenschaftliche und religiöse Kreise zu nutzen, um eigene gesellschaftspolitische Vorstellungen in die Tat umzusetzen.22 21 Anläßlich des 75jährigen Bestehens der „Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ meinte Robert von Heine-Geldern: „Nie vorher […] hat sich eine Missionsgesellschaft so systematisch der praktischen sowohl als der theoretischen Forschung auf diesem Gebiet gewidmet wie jene des Göttlichen Wortes. Die Anregung zu dieser wissenschaftlichen Tätigkeit verdankt sie der Begeisterung, dem überragenden Wissen und Können und der beinahe übermenschlichen Arbeitskraft eines Mannes: des heute 82jährigen, aber immer noch rüstig schaffenden P. Wilhelm Schmidt.“ Robert von HEINEGELDERN, Pioniere der Völkerkunde, in: Die Warte, [Beilage zu:] Die Österreichische Furche, 21. Oktober 1950, Jg. 6, Nr. 43. 22 Neben zahlreichen gesellschaftspolitischen Aufsätzen in Tageszeitungen und Zeitschriften verfaßte Schmidt unter dem Pseudonym Austriacus Observator in den Jahren 1917 auch zwei Bücher, die sich mit der Frage der Neuordnung des Vielvölkerstaates nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. Vgl. AUSTRIACUS OBSERVATOR [= Wilhelm Schmidt], Zur Wiederverjüngung Österreichs: Versuch eines Entwurfes der Verfassungsreform, Wien und Leipzig: Wilhelm Braumüller 1917; AUSTRIACUS OBSERVATOR [= Wilhelm Schmidt], Germanentum, Slaventum, Orientvölker und die Balkanereignisse: Kulturpolitische Erwägungen, München: Kösel, Kempten 1917. Für Hinweise zu Leben und Werk von Schmidt siehe u. a. Fritz BORNEMANN, Verzeichnis der Schriften von P. W. Schmidt S.V.D. (1868-1954), in: Anthropos 49 (1954), S. 385-432; ders., P. Wilhelm Schmidt S.V.D. 1868-1954. Rom: Apud Collegium Verbi Divini 1982; Arnold BURG-
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Für Schmidts Hinwendung zu sprachwissenschaftlichen und völkerkundlichen Fragen waren die Berichte aus den Missionsgebieten, insbesondere aus der deutschen Kolonie bzw. dem – wie man damals auch sagte – deutschen „Schutzgebiet“ Papua-Neuguinea, wo die S.V.D. 1896 eine Niederlassung gegründet hatte, von zentraler Bedeutung. In einer Denkschrift, in der Schmidt auf die Notwendigkeit der Gründung einer katholisch-ethnologischen Zeitschrift hinwies, betonte er, daß sich die modernen völkerkundlichen Studien über vermeintlich „religionslose“ Naturvölker und „heidnische“ Kulturvölker oftmals durch eine „ablehnende Geringschätzung und nicht selten aggressive Feindschaft“ gegen das Christentum auszeichneten.23 Aufgrund dieser antiklerikalen Orientierung vieler moderner Ethnologen, die ihre Forschungen über Ursprungsfragen und die Abstammung der „Menschenrassen“ auch als Kampfmittel gegen das christliche Weltbild einsetzten, sei, so Schmidt, das völkerkundliche Material der Missionare weitgehend ignoriert worden. Gerade dieses Wissen der Missionare, die oftmals Jahrzehnte unter den „Eingeborenen“ gelebt und deren Sprachen perfekt erlernt hatten, für die Ethnologie zu erschließen und so an die große Tradition christlicher Gelehrter im Dienste der Völkerkunde – man denke an Lafitau – anzuknüpfen, war Schmidts Absicht, als er im Jahre 1906 die Zeitschrift „Anthropos“ gründete.24 Vom Zeitpunkt seiner Gründung an war der „Anthropos“ für Schmidt, seinem ersten und langjährigen Herausgeber, auch eine apologetische Kampfschrift, um gegen evolutionistische, materialistische, religionsfeindliche MANN, P. W. Schmidt als Linguist, in: Anthropos 49 (1954), S. 627-658; Wilhelm KOPPERS, Professor Pater W. Schmidt S.V.D.: Eine Würdigung seines Lebenswerkes, in: Anthropos 51 (1956), S. 61-80; Edouard CONTE, Wilhelm Schmidt: Des letzten Kaisers Beichtvater und das neudeutsche Heidentum, in: Helge GERNDT (Hg.), Volkskunde und Nationalsozialismus (= Münchner Beiträge zur Volkskunde: Referate und Diskussionen einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, München, 23. bis 25. Oktober 1986, Band 7), München: Münchener Vereinigung für Volkskunde 1987, S. 261-278; Ernest BRANDEWIE, When Giants Walked the Earth. The Life and Times of Wilhelm Schmidt, Freiburg, Schweiz: Univ.-Verlag 1990; ders., Wilhelm Schmidt and Politics during the First World War, in: Britta RUPP-EISENREICH, Justin STAGL (Hg.), Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat: Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780-1918 (= Ethnologica austriaca 1), Wien: Böhlau 1995, S. 268-283. 23 Schmidt zit. nach BORNEMANN, P. Wilhelm Schmidt, S. 34. 24 Gegenwärtig, so Schmidt, ertöne auf dem Gebiet der Ethnologie „allgemein der Ruf nach besserer und reichlicherer Materialzufuhr. Und wiederum fast mit gleicher Allgemeinheit wird es von hervorragenden, einsichtsvollen Ethnologen ausgesprochen, daß gerade die Missionare zur Abhilfe dieses Mangels vor allem berufen seien. Die leider so lange abgerissen gewesene Verbindung, deren Fäden hie und da schon wieder angeknüpft worden sind, wird, so Gott will, unsere Zeitschrift auf der ganzen Linie wieder herstellen […].“ Siehe Wilhelm SCHMIDT, Die moderne Ethnologie, in: Anthropos 1 (1906), S. 134-163, S. 318-387, S. 592-643, S. 950-997, hier S. 156.
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und andere modernistische „Irrwege“ der Völkerkunde zu Felde zu ziehen.25 Als Lektor in St. Gabriel gelang es Schmidt, eine Reihe von wissenschaftlich hochbegabten Geistlichen für die Völkerkunde zu gewinnen. Als seine bekanntesten Schüler sei hier auf Wilhelm Koppers (1886-1961), der 1928 auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Völkerkunde an der Universität Wien berufen wurde und denselben bis zu seiner 1938 erfolgten Zwangspensionierung inne hatte, auf Martin Gusinde (1886-1969), dessen Namen insbesondere mit seinen Feldforschungen bei den Feuerlandindianern in den Jahren 1918 bis 1924 verbunden ist sowie auf Paul Schebesta (1887-1967), berühmt für seine Forschungen unter den Semang der malaiischen Halbinsel und bei den „Pygmäenstämmen“ am Ituri-Fluß, wo er auch den für einen Ethnologen ehrenhaften Namen „Baba wa Bambuti“, Vater der Bambuti, erhielt, verwiesen.26 Für den großen Einfluß, den die 25 Zur Geschichte dieser Zeitschrift siehe insbesondere Rudolf RAHMANN, Fünfzig Jahre ‚Anthropos‘, in: Anthropos 51 (1956), S. 1-18. Der berühmte amerikanische Kulturanthropologe Robert Lowie meinte 1937 über den Anthropos: „Ethnology owes much to Schmidt for the establishment of Anthropos, a journal second to none in the field. With unsurpassed energy Schmidt enlisted the services of missionaries scattered over the globe and thereby secured priceless descriptive reports from men resident in remote regions for a long span of years, hence thoroughly conversant with the customs and language of their native parishioners. Major contributions of this sort have been published in monographs of the ,Anthropos-Bibliothek‘. The journal has not by any means been restricted to missionaries, but has numbered among its contributors such scholars as Birket-Smith, Ernst Grosse, Berthold Laufer, A.L. Kroeber, F.G. Speck, and Erich von Hornbostel.“ Robert LOWIE, The History of Ethnological Theory. New York: Rinehart & Company, Inc. 1937, S. 192. 26 Ohne auf die Problematik des Schulbegriffs hier näher einzugehen, seien im folgenden einige weitere weltliche und geistliche Gelehrte aufgezählt, die der Wiener Schule zugerechnet werden können bzw. in enger geistiger Beziehung zu derselben standen: Josef Haekel, Robert von Heine-Geldern, Fritz Flor, Fritz Röck, Dominik Wölfel, Christoph von Fürer-Haimendorf, Paul Arndt S.V.D., Fritz Bornemann S.V.D., Georg Höltker S.V.D., Rudolf Rahmann S.V.D, Joseph Henninger S.V.D., Michael Schulien S.V.D., Damian Kreichgauer S.V.D., Peter Schumacher, Arnold Burgmann S.V.D., Franz Müller S.V.D., Alexander Slawik und Gaston van Bulck. Sehr enge Verbindungen bestanden auch zu Oswald Menghin, der die ethnologischen Methoden der Wiener Schule in seiner „Weltgeschichte der Steinzeit“ auf die Prähistorie anzuwenden versuchte. Siehe Oswald MENGHIN, Geist und Blut: Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien: Anton Schroll 1934, insbesondere S. 68-86. Vgl. hierzu Wilhelm KOPPERS, [Rezension von Oswald Menghin:] Weltgeschichte der Steinzeit, in: Anthropos 26 (1931), S. 223-243. Für ideengeschichtliche und bio-bibliographische Hinweise zur Wiener Schule vgl. insbesondere Josef HAEKEL, Anna HOHENWART-GERLACHSTEIN und Alexander SLAWIK (Hg.), Die Wiener Schule der Völkerkunde: Festschrift anläßlich des 25-jährigen Bestandes des Institutes für Völkerkunde der Universität Wien (1929-1954), Horn-Wien: Verlag Ferdi-
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Wiener Schule auszuüben vermochte, war, neben der Zeitschrift „Anthropos“ und dem 1931 in St. Gabriel gegründeten „Anthropos-Institut“, die institutionelle Verankerung an der Wiener Universität, an der auch Schmidt seit 1921 regelmäßig lehrte, von entscheidender Bedeutung.27 nand Berger 1956; Rudolf RAHMANN, Vier Pioniere der Völkerkunde. Den Patres Paul Arndt, Martin Gusinde, Wilhelm Koppers und Paul Schebesta zum 70. Geburtstag, in: Anthropos 52 (1957), S. 263-276; ANTHROPOSINSTITUT, Verzeichnis von Beiträgen [von P. Martin Gusinde] zur Anthropologie und Ethnologie, die in 50jähriger Forschungsarbeit entstanden sind (1916-1966). Den Freunden und Helfern von P. Martin Gusinde SVD. Mödling, Wien: Missionsdruckerei St. Gabriel 1966; Karin R. ANDRIOLO, Kulturkreislehre and the Austrian Mind, in: Man, N.S. 14,1 (1979), S. 133-144; Henryk ZIMOē, Wilhelm Schmidt’s Theory of Primitive Monotheism and Its Critique Within the Vienna School of Ethnology, in: Anthropos 81 (1986), S. 243-260; Hans BRUNNER, S.V.D., 100 Jahre Missionshaus St. Gabriel, Mödling, Wien: Verlag St. Gabriel 1989, S. 52-59; Peter LINIMAYR, Wiener Völkerkunde im Nationalsozialismus: Ansätze zu einer NSWissenschaft, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1994; Walter DOSTAL, Silence in the Darkness: German Ethnology in the National Socialist Period, in: Social Anthropology 2/3 (1994), S. 251-262; Hedwig KÖB, Die Wiener Schule der Völkerkunde als Antithese zum Kulturevolutionismus: Pater Wilhelm Schmidt und der Streit um Evolutionismus und Naturwissenschaft in der Ethnologie. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie. Diplomarbeit zur Erlangung d. akadem. Grades Magister phil. Wien 1996; Bernd WEILER, Über das Identische im Vielfältigen und die Monotonie des Uniformen: Einige Überlegungen zur österreichischen Ethnologie und zu deren Ursprung im Vielvölkerstaat der Monarchie, in: Barbara BOISITS, Sonja RINOFNERKREIDL (Hg.), Einheit und Vielheit: Organologische Denkmodelle in der Moderne (Studien zur Moderne 11), Wien: Passagen Verlag 2000, S. 273301. 27 Vgl. in diesem Zusammenhang das an das Amt Rosenberg gerichtete denunziatorische Schreiben von Hugo A. Bernatzik über „Die Völkerkunde an der Universität Wien“. „An der Wiener Universität herrschten in der Völkerkunde Vertreter der Kulturkreislehre. Diese ursprünglich von Frobenius und Graebner ins Leben gerufene Lehre wurde von der katholischen Geistlichkeit sehr gegen die Absicht der ehemaligen Begründer abgebogen und dazu verwendet, die katholischen Dogmen wissenschaftlich zu untermauern. So kam es, daß der Leiter der einzigen Lehrkanzel für Völkerkunde in Österreich der katholische Geistliche Pater Koppers, der Extraordinarius Pater Schmidt und der zweite Dozent der Jude Heine Geldern gewesen ist. Es war vom Standpunkt der katholischen Kirche sehr richtig, so kluge Köpfe als Vertreter ihrer Sache an die Universität zu setzen, weniger gut allerdings für die Wissenschaft. Die Herren verstanden es im übrigen, auch außerhalb des eigentlichen Berufskreises, sich bei den Vertretern der benachbarten Lehrkanzeln (Urgeschichte und Geschichte) freundliche Beziehungen zu sichern. Keiner von den Vertretern dieser Richtung hatte je in seinem Leben Gelegenheit gehabt, die Völker, über die sie lehrten näher kennen zu lernen. Pater Koppers hatte lediglich einmal in seinem Leben mehrere Woche auf einer Missionsstation im Feuerland zugebracht, Heine Geldern in seiner Jugend als Tourist eine Ostasienreise unternommen, zu einem Zeitpunkt, als er sich noch nicht mit Völkerkunde befaßte. Pater Schmidt aber hatte bis zu seinem 65. Lebensjahr überhaupt noch keinen Eingeborenen außerhalb Europas gesehen. Umso raffinierter wurde die Völkerkunde zu einer historischen Geis-
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Die folgenden Ausführungen gliedern sich in fünf Teile. Im ersten Teil sollen einige zentrale Überlegungen zum von der Wiener Schule postulierten „historischen Charakter“ der Völkerkunde angestellt werden, die als Kritik am naturwissenschaftlich orientierten, kulturevolutionistischen Kulturkonzept gedacht war. Im zweiten Teil soll einerseits das „revisionistische Urmenschenbild“ der Wiener Ethnologen, andererseits ihre Forschungen zur Urfamilie, jener Institution, der neben der Religion ihr Hauptaugenmerk galt, zur Sprache kommen. Im dritten Teil wird das deszendenztheoretische Geschichtsbild der Wiener Ethnologen thematisiert. Im vierten Abschnitt möchte ich einige der nach dem Ersten Weltkrieg unternommenen berühmten Feldforschungen im Feuerland von Pater Martin Gusinde besprechen. Im fünften und letzten Teil werde ich aus der Ferne, aus Feuerland, dieser entlegenen Provinz „Weltösterreichs“ zurückkehren, zurück in das Rote Wien der 1920er Jahre, um zu zeigen, wie die Schule um Pater Wilhelm Schmidt bemüht war, ihre in der und über die Fremde gewonnenen Erkenntnisse zu verwenden und zu verwerten, um die eigene lasterhafte und kranke Gesellschaft zu kritisieren und reformieren. teswissenschaft ausgebaut, die mit dem Leben der Völkerr [sic] überhaupt nichts mehr zu tun hatte, die aber dogmatischen Zwecken diente“. Schreiben von Hugo A. BERNATZIK, Die Völkerkunde an der Universität Wien, in: Institut für Zeitgeschichte, München, Amt Rosenberg Akte, Hauptamt – Wissenschaft, Bernatzik 142/2 490-534 o. J. Ich bedanke mich bei Herrn Christian Fleck, der mir dieses Dokument in Kopie zur Verfügung gestellt hat. Das gesamte Schreiben von Bernatzik ist abgedruckt in LINIMAYR, Wiener Völkerkunde im Nationalsozialismus, S. 213-216. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die publizierte wissenschaftliche Kritik an der Wiener Schule von Hugo A. BERNATZIK, Historische Entwicklung der Völkerkunde, in: ders. (Hg.), Die große Völkerkunde: Sitten, Gebräuche und Wesen fremder Völker. Band 1: Europa – Afrika, Leipzig: Bibliographisches Institut 1939, S. 5-13, hier S. 9-11: „Die extreme Richtung dieser historischen Schulen, die Wiener Schule unter Schmidt-Koppers, bemüht sich in der Hauptsache damit, Kulturkreise und -schichten aufzusuchen, zu umgrenzen und deren relatives Alter zu bestimmen. […] Das Arbeitsmaterial der historischen Schulen bildeten ursprünglich die ethnographischen Sammlungen in den Museen. Es ist kein Zufall, daß hervorragende Vertreter dieser Richtungen noch niemals die Träger der Kulturen, die sie bearbeiteten, an Ort und Stelle kennengelernt haben. Das mag wohl ein Grund dafür sein, daß sich diese Richtung (an ihrer Spitze die Wiener Schule) immer mehr zu einer pseudohistorischen, theoretisierenden Geisteswissenschaft entwickelte, die kaum mehr mit dem Leben der Völker etwas zu tun hat. Über diesen toten Punkt hinwegzuführen, kann lediglich Aufgabe der Naturwissenschaften sein. […] Daß die Völkerkunde keineswegs eine ausschließlich historische Wissenschaft ist, wie die extremen Vertreter der historischen Schulen behaupten, ergibt sich wohl schon aus der Tatsache, daß die Völker ja leben. Es lebt das einzelne Individuum ebenso wie die Gesamtheit des Volkes. Es gilt für den Menschen das gleiche Gesetz in der Phylogenese wie in der Ontogenese. Jede Lebensäußerung ist abhängig vom Erbgut sowie von der Umwelt. Kein Volk kann Träger einer Kultur werden, die seinem Erbgut nicht entspricht. Die erbbiologischen Grundlagen aber sind, da rassenmäßig bedingt, bei den Naturvölkern durchaus verschieden.“
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Um falschen Erwartungen vorzubeugen, sei ausdrücklich angemerkt, daß es nicht meine Absicht ist, hier einen mit vielen Namen, bibliographischen Hinweisen und Schlüsselbegriffen garnierten lexikalischen Überblick über das gesamte Schaffen der Wiener Schule zu geben; vielmehr möchte ich den antievolutionistischen Gehalt ihrer Lehre in den Mittelpunkt rücken sowie jene „Werte“ beleuchten, von denen sie überzeugt waren, daß sie durch „objektive“ ethnologische Forschung bewiesen werden könnten. Wiederum sei hier als Vorbemerkung darauf hingewiesen, daß ich im folgenden versuchen werde, jenes Bild nachzuzeichnen, das sich die Wiener Schule von der kulturevolutionistischen Ethnologie machte, und ihre teilweise auf Mißverständnissen beruhende Interpretation der Gedanken ihrer Vorläufer wiederzugeben. Gerade da sich die eigenen Überlegungen oftmals in Abgrenzung von und in Auseinandersetzung mit den Überlegungen anderer entwickeln, mag es als ein hermeneutisches Gebot der Ideengeschichte erscheinen, die Ansichten, die dem wissenschaftlichen Kontrahenten unter Umständen auch fälschlicherweise zugeschrieben werden, zu rekonstruieren. In Abwandlung des Thomas-Theorems könnte man für die Ideengeschichte sagen: Wenn Menschen Ideen als real definieren, sind sie real in ihren Konsequenzen. Das im Prolog skizzierte ForsterDarwinsche Bild vom Feuerlandindianer wurde von mir bewußt zugespitzt und einseitig dargestellt. Es ist ein Versuch, jenes Bild zu rekonstruieren, von dem die Wiener Ethnologen behaupten sollten, Forster, Darwin und die Kulturevolutionisten hätten es gezeichnet.
1. Über den historischen Charakter der Völkerkunde und die Kritik am e vo l u t i o n i s t i s c h e n K u l t u r k o n z e p t Wie bereits erwähnt, wird die Wiener Schule um Pater Wilhelm Schmidt aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive gemeinhin als Teil der sogenannten antievolutionistischen Wende in der Ethnologie gesehen. Nach den verkehrten Anschauungen des Kulturevolutionismus, so Schmidt, sei die Entwicklung des Menschengeschlechts im großen und ganzen überall eine aufsteigende, aus niedrigster Tiefe zu glorreicher Höhe hinaufführende gewesen. Je unbeholfener ein Werkzeug, eine Waffe, je seltsamer, gräßlicher ein Brauch, eine gesellschaftliche Form oder Einrichtung, eine religiöse Anschauung oder Kulthandlung wäre, um so älter sei sie, um so näher zum Anfang der Entwicklung hin sei sie anzusetzen.28 28 Wilhelm SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, in: Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers, Völker und Kulturen. Erster Teil: Gesellschaft und Wirtschaft der Völker (= Der Mensch aller Zeiten: Natur und Kultur der Völker der Erde 3), Regensburg: Josef Habbel 1924, S. 1-374, hier S. 31.
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Unschwer, so Schmidt, könne man ersehen, daß hier nach „subjektiven Werturteilen“ erstellte „Klassifikationsreihen“ zu „tatsächlichen Ursprungs- und Entwicklungsreihen“ gemacht würden. Die Entwicklungstheoretiker, so Schmidt, hätten es schlicht verabsäumt, den Beweis zu liefern, „daß die angesetzte Reihenfolge der einzelnen Entwicklungsglieder auch der Wirklichkeit entspricht und die einzelnen Stücke dieser Reihe sich derart in zeitlicher und räumlicher Hinsicht berühren, daß ursächliche Beziehungen zwischen ihnen möglich gewesen wären“.29 Die grundlegende Prämisse einer für alle Bereiche der Kultur – Technik, Wirtschaft, Sprache, Religion, Sitte usw. – aufsteigenden Entwicklungslogik sei falsch. Primitivität, so werden die Wiener Ethnologen im Anschluß an das berühmte Graebnersche Diktum betonen, kann auch eine sekundäre Erscheinung sein. An die Stelle der „konstruierten Evolution“ der Naturwissenschaften müsse die „wirkliche Evolution“ der Geschichtswissenschaften treten.30 Der Entwicklungsbegriff der Völkerkunde könne sich nicht, so Pater Wilhelm Koppers, an der „organische[n] Entfaltung der Naturdinge“ orientieren, nicht an der „Naturgeschichte“, sondern an der „Geschichte der spezifisch menschlichen Taten“.31 Und wer menschliche Geschichte sage, sage Wanderung, Kontakt, Kreuzung, Austausch, Entlehnung, Berührung, Übertragung und Befruchtung – also jenes Begriffsinstrumentarium, dessen sich die Diffusionstheoretiker bedienen sollten. „Zwischen den einzelnen Menschengruppen“, so Eduard Meyer in seinen „Elementen der Anthropologie“, bestehen „ununterbrochen Berührungen der verschiedensten Art, teils feindlich, teils freundlich; sie alle führen zu fortwährenden Mischungen“.32 Und ganz ähnlich: Niemand könne, so Ratzel, die „Naturvölker“ verstehen, „der nicht ihren manchmal freilich verhüllten Verkehr und Zusammenhang untereinander und mit den Kulturvölkern würdigt“. „[A]lle Erfahrung in ethnographischen Dingen“, so Ratzel weiter, „[lehre] die große Bedeutung der Verbreitung der Kulturerrungenschaften von Ort zu Ort und von Volk zu Volk“.33 Da „Naturvölker“ sich nicht isoliert voneinander entwickelten, sondern sich fortwährend berühr29 Ebenda. 30 Wilhelm KOPPERS, Der historische Gedanke in Ethnologie und Prähistorie, in: Wilhelm KOPPERS, Robert HEINE-GELDERN und Josef HAEKEL (Hg.), Kultur und Sprache (= Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik, Jg. 9), Wien: Verlag Herold 1952, S. 11-65, hier S. 56. 31 Wilhelm KOPPERS, Der historische Grundcharakter der Völkerkunde, in: Studium Generale 7/3 (1954), S. 135-143, hier S. 136. 32 Eduard MEYER, Geschichte des Altertums. Band 1: Einleitung: Elemente der Anthropologie – Die bltesten geschichtlichen Völker und Kulturen bis zum sechzehnten Jahrhundert – bgypten bis zum Ende der Hyksoszeit. Essen: Phaidon Verlag o. J. [Unveränderter Nachdruck der zuletzt 1952-1958 bei der J.G. Cotta’schen Buchhandlung Nachf. erschienenen Neuauflage], S. 71. 33 Friedrich RATZEL, Völkerkunde. Erster Band: Die Naturvölker Afrikas. Leipzig: Bibliographisches Institut 1887, S. 49-50.
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ten, miteinander tauschten und handelten, sich bekriegten, sich einander anglichen, sich zuweilen auch stärker voneinander abgrenzten, dann wieder zu größeren Einheiten verschmelzen, um nach einiger Zeit vielleicht wieder in kleinere, nun neu gemischte Verbände zu zerfallen, schien es unsinnig, eine einheitliche, für alle sozialen Verbände gültige Stufenleiter zu postulieren. „Tatsächlich“, schreibt Graebner, „sehen wir mehr und mehr, daß die Kulturformen der Naturvölker nicht Phasen einer, sondern mehrerer verschiedenartiger Entwickelungen darstellen“.34 Naturgesetze, wie sie Physiker oder Chemiker in ihren Laboratorien nach ungezählten Experimenten ,fanden‘, existierten auf dem Gebiet der Kulturgeschichte nicht. „Wer immer und überall“, so Heinrich Schurtz, „nach Entwicklung, nach historischen Reihen sucht, muss bei gründlicher Erwägung der Verhältnisse am Erfolg seiner Mühen verzweifeln“. Es sei „unmöglich“, die einzelnen bei den Völkern anzutreffenden Gesittungsstufen „einfach auf einander zu setzen und so ein klares Bild der ganzen Menschheitsgeschichte zu gewinnen“. Jedes Volk, so Schurtz, sei das Ergebnis einer eignen Reihe der Entwicklung, die sich wohl vielfach mit anderen Reihen kreuzt, gelegentlich mit ihnen zusammenläuft oder durch sie von ihrer Bahn abgelenkt wird, aber doch in ihrer Art einzig ist. Erst wer alle diese Reihen kennt, hat die Menschheitsgeschichte wahrhaft begriffen […].35
Neben den Hinweisen auf die Komplexität und Verwicklung historischer Prozesse, welche die vermeintlich stets vom Niederen zum Höheren führende Entwicklungslogik durchkreuzten, führten die Wiener Ethnologen immer wieder ein weiteres Argument ins Treffen. Zu lange sei die Ethnologie unter dem Joch kollektivistischer Anschauungen gestanden, denen zufolge der Mensch und insbesondere der „Naturmensch“ als ein in seinem Denken, Fühlen und Wollen zur Gänze von der äußeren Natur, seinen inneren Trieben und von seiner sozialen Umgebung determiniertes Geschöpf gesehen worden sei. Vor allem Bastian, Post und Gumplowicz hätten dieses deterministische, die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen betonende Menschenbild propagiert.36 Immer zahlreicher wurden jedoch die 34 Fritz GRAEBNER, Das Weltbild der Primitiven. Eine Untersuchung der Urformen weltanschaulichen Denkens bei Naturvölkern, München: Verlag Ernst Reinhardt 1924, S. 11. 35 Heinrich SCHURTZ, Altersklassen und Männerbünde: Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft, Berlin: Verlag von Georg Reimer 1902, S. 8. 36 „Der einzelne Mensch einer primitiven Gruppe“, heißt es etwa in der Danzelschen Charakteristik des homo divinans, „geht fast völlig in dem Leben seiner Gemeinschaft auf. Das primitive Denken und Verhalten ist ,kollektiv‘, d. h. es besteht eine außerordentlich große Gebundenheit des Einzelnen in Anschauungen, bußerungen und auch Empfindungen. Mythos, Kunst, Religion usw. sind demgemäß nicht so sehr Ausdruck individuellen Lebens als der Ausdruck von Gemeinschaften, die gleichsam als Individuen höherer Ordnung sich in ihnen auswirken.“ Theodor-Wilhelm DANZEL, Kultur und
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Belege, daß man selbst bei den „Naturmenschen“ auf große Unterschiede und Schwankungen in den Begabungen und Charakteranlagen stoße. Der „Naturmensch“ sei kein Herdentier. Die Vorstellung eines Bastian und Gumplowicz, „es denkt in uns“, meint Wilhelm Schmidt, sei eine „lächerliche Übertreibung“: Zunächst einmal: ein Gedanke hat nie und nirgends ein wirkliches Dasein, als in dem menschlichen Einzelgeist, der allein ihn aktuieren kann. Der Anstoß zu dieser Aktuierung mag von andern ausgehen, der Inhalt des Gedankens mag von ihnen aus vermittelt werden, aber ein neues, lebendiges Dasein desselben bewirkt nur der Einzelgeist aus eigener Kraftquelle. Und nicht bloß das: niemals ist dieser neuerweckte Gedanke vollständig seinem von aussen kommenden Urbilde gleich, er enthält stets aus der Tiefe der Eigenart dieses Geistes miteinfließende Abweichungen, mögen dieselben in vielen Fällen auch Verschlechterungen, Verdunkelungen sein. Ein wenn auch noch so geringes Etwas von dieser Nuancierungskraft wohnt jeder Einzelseele inne.37
Auch der „Naturmensch“ habe einen freien Willen, der mitunter „ein Neues, ein Originales, ein Mehr“ schaffe. Bedeutende Individuen könnten auch bei den „Naturvölkern“ in den Gang der Geschichte eingreifen. Gerade deshalb, so Schmidt, gelte es, die Individualforschung unter den „Naturvölkern“ zu forcieren und als Vertreter einer „Art Carlylismus in der Ethnologie“ aufzutreten. Auch bei dem „Wilden“ müsse man stets mit der Unberechenbarkeit des Individuums rechnen.38 Als Geisteswissenschaft könne die Ethnologie keine Gesetzeswissenschaft sein. Ohne hier auf die vor allem von Fritz Graebner begründete ausgeklügelte, auf kulturvergleichende Beziehungskriterien rekurrierende Methodik näher eingehen zu wollen, sei bloß der grundlegende Gedankengang skizziert, wie die kulturhistorische Schule der Ethnologie die „wirkliche Evolution“ schriftloser Kulturen ermitteln wollte.39 Den Ausgangspunkt bildete die den Diffusionismus kennzeichnende Überlegung, daß die meisten
Religion des primitiven Menschen, Stuttgart: Strecker und Schröder 1924, S. 5. 37 Wilhelm SCHMIDT, Die moderne Ethnologie, S. 634-636. 38 Ebenda, S. 616 und 634-636. 39 Vgl. hierzu Wilhelm SCHMIDT, Handbuch der Methode der kulturhistorischen Ethnologie. Mit Beiträgen von Wilhelm Koppers. Münster: Aschendorff 1937; Gaston van BULCK, Beiträge zur Methodik der Völkerkunde (= Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik, Jg. 2), Wien: Universitäts-Institut für Völkerkunde 1931.
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geistigen und materiellen Kulturgüter im Laufe der Menschheitsgeschichte nur wenige Male und nur an wenigen Orten entstanden seien.40 Von diesen 40 In seiner dogmatischen Form besagt der Diffusionismus, daß alle über die einfachsten menschlichen Bedürfnisse hinausgehenden geistigen und materiellen Kulturgüter nur ein einziges Mal und an einem einzigen Ort entstanden seien, um schließlich durch Migration von anderen sozialen Verbänden als Neuerungen übernommen zu werden. Der extreme Kulturevolutionismus hingegen besagt, daß in allen sozialen Verbänden spontan und unabhängig voneinander die gleichen Erfindungen in der gleichen Reihenfolge gemacht werden. Aus ideengeschichtlicher Perspektive erinnert die Auseinandersetzung zwischen Diffusionisten und Kulturevolutionisten um 1900 an die im 18. Jahrhundert geführte Kontroverse zwischen Monogenisten und Polygenisten. Die „kulturhistorische Schule“, so Schmidt, bringe „keinerlei inhaltliche Voraussetzung mit […]. Einzig ist sie geneigt, den einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechts an einer Stelle der Erde anzunehmen und daß es von diesem einheitlichen Ausgangspunkt auch bereits die allerersten Anfänge einer einfachen, noch wenig charakteristisch-besonderen Kultur mitgenommen habe.“ SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, S. 35. Zu den Grundannahmen des Diffusionismus vgl. die kritische Erörterung von Franz HAMPL, Universalgeschichte am Beispiel der Diffusionstheorie, in: ders., Geschichte als kritische Wissenschaft. Band 1: Theorie der Geschichtswissenschaft und Universalgeschichte. Herausgegeben von Ingomar Weiler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 182-236. Zur Veranschaulichung der beiden unterschiedlichen Ausgangspunkte sei hier auf die Kontroverse zwischen Michael Haberlandt und Fritz Graebner verwiesen. In seiner Kritik an den „weltumspannenden Kühnheiten“ der Graebnerschen „Verpflanzungslehre großen Stils“ meinte der kulturevolutionistisch gesinnte Haberlandt, gemeinsam mit seinem Wiener Kollegen, dem Prähistoriker Moritz Hoernes, einer der schärfsten Kritiker der neuen Lehre: „Nicht Raum- und Zeitfurcht, sondern ein regeres chronologisches und ethnographisches Gewissen ist es, welches es uns unmöglich macht, Graebners kulturhistorisch-genetische Zusammenhänge zwischen ganzen Weltteilen, ja zwischen allen Weltteilen untereinander, bloß auf Grund angeblicher Verwandtschaft einer im Verhältnis zu dem jeweiligen Kulturganzen verschwindenden Anzahl von Kulturmerkmalen gutgläubig hinzunehmen, von Kulturmerkmalen, die noch dazu ganz allgemeinen Charakters sind und jeder näheren Determinierung entbehren. […] Unwiderlegt und unwiderlegbar bleibt vielmehr die landläufige und vollkommen einleuchtende Anschauung, daß an unendlich vielen Punkten des menschlichen Wohngebietes, abhängig von der Gunst oder Ungunst der äußeren Faktoren sowie anderseits von der größeren oder geringeren Zahl fähiger und produktiver Individuen, über welche die einzelnen Kulturgemeinschaften (Rassen, Völker, Stämme) verfügen, seit jeher die kleineren und größeren Erfindungen, Verbesserungen, Veränderungen jeder Art entstehen, wobei selbstverständlich unzählige Parallelen und Konvergenzerscheinungen auf allen Punkten der Erde […] auftreten.“ Michael HABERLANDT, Kritik an der Lehre von den Kulturschichten und Kulturkreisen, in: Petermanns Mitteilungen 57 (1911), S. 113-118, hier S. 117-118. Vgl. auch ders., Völkerkunde. I. Allgemeine Völkerkunde. Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin und Leipzig: Göschen’sche Verlagsbuchhandlung 1917, S. 16-20. In seiner Antwort argumentiert Graebner: „Die These, daß irgendwo oder irgendwann qualitativ oder quantitativ weitgehende Gleichungen selbständig entstanden
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Schöpfungszentren aus seien die Neuerungen schließlich durch Wanderungsprozesse verbreitet und von anderen sozialen Verbänden übernommen worden. Ziel war es nun – ähnlich der Vorgehensweise der komparativen Linguistik –, mit Hilfe der Kartographie jene Völkerschaften und „Stämme“ zu größeren geographischen Einheiten, sogenannten Kulturkreisen, zusammenzufassen, welche durch die mehr oder minder kontinuierliche Verbreitung einer Reihe ähnlicher materieller und geistiger Kulturgüter charakterisiert waren.41 Zudem galt es, das Schöpfungs- oder Ausstrahlungszentrum ausfindig zu machen und sodann die Wanderungsprozesse innerhalb des kulturell zusammenhängenden Gebietes zu rekonstruieren. Durch das Studium dieser Verbreitungsprozesse im Raum hoffte man, zu einer relativen Chronologie zu gelangen und den „Naturvölkern“ somit eine zeitliche Tiefe zu verleihen. Der Streit zwischen Diffusionisten und Evolutionisten kreist im wesentlichen um die Frage, ob zwei an unterschiedlichen Orten auftretende Kulturelemente durch Übertragung von dem einen Ort zu dem anderen gelangt sind oder ob die beiden Kulturelemente unabhängig voneinander entstanden sind. Gemäßigte Vertreter beider Schulen werden betonen, daß die Frage, ob es sich um „Übertragung“ oder „spontane Entstehung“ handle, empirisch beantwortet und von Fall zu Fall geprüft werden müsse. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte bzw. Vorannahmen, nämlich ob dem Faktor der „Übertragung“ oder jenem der „unabhängigen Erfindung“ eine größere Bedeutung in der Kulturgeschichte zukomme, scheinen hierbei in erster Linie unterschiedliche Menschenbilder widerzuspiegeln. Der Evolutionist betont eher das schöpferische Element, der Diffusionist eher die Trägheit des Menschen. Die kulturhistorische Schule, so erklärte auch Schmidt, schließe eine „psychologische Erklärung“ paralleler Erscheinunseien, ist nie bewiesen worden, während Kulturwanderungen und Kulturbeziehungen in den quellenmäßig besser verfolgbaren Teilen der Kulturgeschichte in großer Zahl und als Ursache der weitaus meisten einschlägigen Kulturgleichungen erwiesen sind. Es ist demnach eine Umkehrung der Tatsachen, wenn die Theorie der selbständigen Entstehung als ,unwiderlegt oder unwiderlegbar‘ hingestellt, die Annahme des historischen Zusammenhanges als Hypothesenbau bezeichnet wird.“ Fritz GRAEBNER, Prof. Haberlandts Kritik an der Lehre von den Kulturschichten und Kulturkreisen, in: Petermanns Mitteilungen 57 (1911), S. 228-230, hier S. 230. Vgl. hierzu auch Willy FOY, Ethnologie und Kulturgeschichte: Eine Antwort an Prof. Dr. M. Haberlandt, in: Petermanns Mitteilungen 57 (1911), S. 230-233. 41 Kulturkreise sind keine invarianten Größen, sondern werden von den Wiener Ethnologen als historische Gebilde begriffen, die miteinander interagieren. Hierdurch kommt es zu Vermischungen und Überlagerungen und in Folge zur Herausbildung neuer Kulturkreise. Dieses im Falle von Schmidt auf eine Universalgeschichte hinauslaufende Kulturkreissystem kann hier nicht näher dargestellt werden. Für eine Übersicht der Kulturkreise siehe Wilhelm SCHMIDT, Das System der Kulturkreise (1924), in: ders., Wege der Kulturen. Gesammelte Aufsätze herausgegeben vom Anthropos-Institut, Bonn: Verlag des Anthropos-Instituts 1964, S. 3-11.
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gen, die von einer Uniformität der Reaktion auf ähnliche Stimuli ausgehe, keineswegs aus: Was diese Schule will, ist vielmehr, daß mit tief eindringender Methode zuvörderst einmal möglichst restlos alle diejenigen Erzeugnisse im Völkerleben bestimmt und ausgeschieden werden, die ihr Dasein dem historischen Zusammenhang, der Verursachung oder Beeinflussung durch schon Bestehendes, verdanken; erst dann, nachdem dies geschehen, könnten sich auch diejenigen Erzeugnisse klar als solche herausstellen, die originaliter neu entstanden und in letzter Linie auf den menschlichen Geist als Ursprungsquelle zurückzuführen seien; bei diesen sei dann natürlich die psychologische Erklärung die zulässige und selbst einzig legitime.42
2 . Ü b e r d i e S u c h e n a c h d e m An f a n g des Menschengeschlechts: Das Beispiel der „Urfamilie“ Eine Besonderheit der Wiener Schule der Ethnologie, ja eine sie auszeichnende Antinomie liegt nun gerade darin, daß sie ungeachtet ihres Postulats einer historischen Vorgehensweise der Völkerkunde ihr Hauptaugenmerk gerade auf jene wenigen sozialen Verbände richtete, die sich ihrer Ansicht nach einer historisierenden Betrachtungsweise weitgehend entziehen. Für diese sozialen Verbände, die sie als „Urkulturen“, „Altvölker“ oder „älteste uns derzeit erreichbare Menschheitsschichten“ bezeichneten und die sie als dem „ursprünglichen“ Zustand der Kulturentwicklung am nächsten kommend betrachteten, waren somit die oben erwähnten Merkmale des diffusionistischen Kulturbegriffs, also Mischung, Kreuzung, Kontakt, ohne Bedeutung. Obgleich die Wiener Ethnologen also im Anschluß an Ernst Bernheim immer wieder beteuern sollten, daß es keine „unhistorischen“ Völker gebe, erscheinen gerade die von ihnen erforschten „Urkulturen“ als dem Wandel entrückte, zeitlose, in einer ewigen Vergangenheit, um nicht zu sagen, in einem Goldenen Zeitalter verortete Gebilde.43 In abgelegenen Rückzugsgebieten sei es dem Ethnologen noch möglich, das – nahezu – reine, unberührte, das – um eine ihrer beliebten Wendungen zu gebrauchen – „unverfälschte“ Menschentum zu studieren.44 Überall auf der Welt, so 42 Wilhelm SCHMIDT, Die Anwendung der kulturhistorischen Methode auf Amerika, in: Anthropos 7 (1912), S. 505-506, hier S. 506. 43 Aus diesen „Urkulturen“ entwickeln sich ohne Kulturkontakt die sogenannten „Primärkulturen“. Auch die „Primärkulturen“ gehen also nicht – wie die späteren Sekundär- und Tertiärkulturen – aus Mischungs- und Überlagerungsprozessen hervor, sondern verdanken ihre Entstehung endogenen Kräften. 44 Zum Beleg, daß es sich bei diesen Völkern um die ältesten handelte, führte Schmidt neben der geographischen Randlage noch die Tatsachen an, daß alle diese sozialen Verbände auf der „Anfangsstufe der wirtschaftlichen Entwick-
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die Wiener Ethnologen, seien die zentralen Merkmale dieser „Urkulturen“, ihre materielle Ausstattung und Lebensfürsorge, ihre politische und soziale Struktur sowie ihre ethischen und religiösen Anschauungen, einander ähnlich. Zu diesen „Urkulturen“ sollte Pater Wilhelm Schmidt die abgeschotteten, in geographischen Randgebieten bzw. schwer zugänglichen Gegenden beheimateten „Zentralen Urkulturen der Pygmäen und Pygmoiden der süd- und südostasiatischen Inseln und Halbinseln sowie Zentralafrikas“, die „Südlichen Urkulturen der Tasmanier, Südostaustralier und Feuerländer“ und die „Nördlichen Urkulturen der Urvölker von Nordostasien, Nordostamerika und Kalifornien“ zählen.45 Geringfügige Unterschiede zwischen diesen „Urkulturen“ wurden anerkannt und damit erklärt, daß auch die einzelnen „Urkulturen“ bereits gewisse Entwicklungsschritte gemacht und sich von dem einen Ausgangspunkt, in unterschiedliche Richtungen wandelnd, entfernt hätten. Aber eine Zusammenschau der gemeinsamen Charakteristika dieser „Urkulturen“ unter Ausscheiden der individuellen Besonderheiten, eine – in den Worten Schmidts – „Endsynthese“ erlaubte es, noch einen Schritt weiter nach rückwärts zu machen, dem einen Ausgangspunkt noch näher zu kommen.46 Es ist also die Suche nach dem vermeintlichen Anfang des Menschengeschlechts, die Suche nach lung, der Sammelstufe“ stünden, ferner die „allgemeine […] Primitivität von Wohnung, Kleidung, Werkzeugen, Waffen dieser Völker und der Einfachheit ihrer sozialen Konstruktion“ sowie die weitgehende Absenz jener Erscheinungen, die sich in jüngeren Entwicklungsphasen fänden. Siehe Wilhelm SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee: Eine historisch-kritische und positive Studie. Band 2: Die Religionen der Urvölker: Die Religionen der Urvölker Amerikas. Münster: Aschendorff 1929, S. 7-12. 45 Auch die von Schmidt in der Zwischenkriegszeit initiierten und teilweise vom Vatikan subventionierten Expeditionen galten diesen vermeintlich „ältesten uns derzeit erreichbaren Menschheitsschichten“. Neben den Forschungen in Feuerland von Gusinde und Koppers sei hier insbesondere auf die Feldforschungen von Paul Schebesta, Viktor Lebzelter, Peter Schumacher und Morice Vanoverbergh verwiesen. Paul Schebestas langjährige Feldforschungen galten auch jenen „Pygmäenvölkern“ Zentralafrikas, die Schweinfurth „entdeckt“ und auf wenigen Seiten beschrieben hatte. In den 1920er Jahren sollte Schmidt übrigens von Papst Pius XI. mit der Vorbereitung der ethnologischen Sektion der Missionsausstellung betraut und auch zum Direktor des im Lateran eingerichteten Missions-Ethnologischen Museums ernannt werden. Vgl. hierzu BORNEMANN, P. Wilhelm Schmidt, S. 183-198. 46 Vgl. hierzu Wilhelm SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee: Eine historisch-kritische und positive Studie. Band 6: Endsynthese der Religionen der Urvölker Amerikas, Asiens, Australiens, Afrikas, Münster: Aschendorff 1935. Die ersten „Urkulturen“, denen Schmidt seine Aufmerksamkeit widmen sollte, waren die „Pygmäenvölker“, bestehend aus der asiatischen Gruppe der „Negritos“ von den Philippinen, der „Semang“ auf Malacca und der „Andamanen-Insulaner“ sowie der Gruppe der zentralafrikanischen „Negrillen“ und der südafrikanischen „Buschmänner“. Seine Forschungen hierüber veröffentlichte Schmidt in seinem Werk Die Stellung der Pygmäenvölker in der Entwicklungsgeschichte des Menschen (Stuttgart 1910).
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dem Ursprung der Familie, des Eigentums, der Wirtschaft, des Staates, nach dem „Ursprung der Gottesidee“, welche die Wiener Ethnologen in ihren Bann zieht. Und gerade diese Faszination, die das Autochthone, Unberührte und Ursprüngliche auf ihr ethnologisches Schaffen auszuüben vermögen, verbindet sie mit ihren erbittertsten Gegnern, den Kulturevolutionisten. Mit den Kulturevolutionisten teilen die Wiener Ethnologen auch den Glauben, daß die technologisch einfachsten „Naturvölker“ der Gegenwart am getreuesten das menschliche Zusammenleben der fernsten Vergangenheit bewahrt haben. Die Suche des Kulturevolutionisten nach dem ‚Ersten Menschen‘, dem ‚Urmenschen‘, ist auch die ihre. Und da beide, die Kulturevolutionisten und die Wiener Schule, das Gleiche suchen und völlig Unterschiedliches finden, bekämpfen sie sich. Trotz ihrer vehementen Kritik bleiben die Wiener Ethnologen somit dem kulturevolutionistischen Erkenntnisinteresse für den „Anfang“ des Menschengeschlechts verhaftet. Und gerade in ihrer Verneinung spiegelt sich die ungemeine Strahlkraft, welche die von der Entwicklungs- und Fortschrittsidee geprägte Gründerzeit der Anthropologie auch auf ihr Schaffen auszuüben vermochte. Wie zuweilen in der Ideengeschichte zu beobachten, verrät auch in diesem Fall die große Distanz, welche die Ideen der Wiener Schule von jenen der Kulturevolutionisten des 19. Jahrhunderts zu trennen scheint, die enge geistige Nähe in bezug auf die fundamentale, nicht explizit formulierte Fragestellung und das die Forschung treibende Erkenntnisinteresse. Erst wenn man diese Nähe, diese Verwandtschaft, diese beiden gemeinsame Faszination mit dem vermeintlich Ursprünglichen ins Auge faßt, eine Faszination, die ein Leitmotiv des ethnologischen Denkens bildet, wird man auch die dem Kulturevolutionismus entgegenbrachte Feindseligkeit der Wiener Ethnologen und ihr revisionistisches Familien- und Urmenschenbild verstehen, dem ich mich nun zuwenden möchte. Im Gegensatz zu den „Niederungstheorien“ der Kulturevolutionisten, die fast ausnahmslos damit beschäftigt gewesen wären, „Menschen zu finden ohne Sprachen, ohne Kultur, ohne Ehe, ohne Sitte, ohne Religion“, die dann als das ersehnte „Bindeglied von der Menschheit zur Tierheit“ dienen könnten, im Gegensatz zu diesen Theorien über den „Ohne-Menschen“ bzw. den „Menschen ohne Alles“, hätten, so Schmidt, die „tiefer eindringenden Untersuchungen ein ‚ohne‘ nach dem anderen“ verschwinden lassen.47 Immer klarer, so Schmidt, hätte die neuere Forschung erwiesen, daß 47 Wilhelm SCHMIDT, Die Pygmäenvölker als älteste derzeit uns erreichbare Menschheitsschicht, in: Hochland: Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 23/1 (1925/26), S. 574-592, hier S. 575. Nur ein kurzer Einspruch – diesmal aus der Sicht des „ideengeschichtlichen Schiedsrichters“ – gegen diese Schmidtsche Darstellung der kulturevolutionistischen Ethnologie sei hier erhoben. Im Mittelpunkt des Kulturevolutionismus stand gerade nicht, wie Schmidt behauptet, der „Ohne-Mensch“, sondern vielmehr die Suche nach den ersten Regungen, Keimen, Anlagen
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der „älteste Mensch […] in höherem Maße ein Ganz- und Vollmensch [ist], als es in späteren Kulturen der Fall ist; er stellt sich allein der Natur entgegen und ringt mit ihr und erringt sich Leben und Freiheit und Glück“. Die zum Lebensunterhalt erforderliche Arbeit verrichte er „in der freien Natur. Die Jagd des Mannes kennt alle Spannungen und Freuden eines ernsten Sports, und das Pflanzensammeln der Frau ergeht sich in dem reizvollen Reichtum der sprossenden und reifenden Natur.“ Die Arbeitsbelastung sei nicht allzu hoch, ja meist „geringer als ein moderner Achtstundentag“. Dem ältesten Menschen bleibe „Muße zur Ruhe, zu Spiel und Tanz, zu Besuch, zu geistigen Schöpfungen in Liedern und Mythen“, worin einige der „Altvölker“ die „ersten Meisterwerke der Weltliteratur“ hervorbringen.48 Um das Bild der Wiener Ethnologen von diesem urzeitlichen „Vollmenschen“ nachzuzeichnen, genügt es, das kulturevolutionistische Bild auf den Kopf zu stellen bzw. in das Gegenteil zu verkehren. Wenden wir also unseren Blick nun der Urfamilie zu und schauen wir uns durch die Brille der Wiener Ethnologen das Bild an, welches die Kulturevolutionisten hiervon zeichneten. Im Jahre 1861 hatte der Schweizer Philologe und Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen seine für die ethnologische Familienforschung richtungsweisende These von der Universalität einer durch das hetärisch-aphroditische Prinzip gekennzeichneten ursprünglichen Epoche formuliert, die er als Vorstufe zu dem gynaikokratisch-demetrischen Weltalter betrachtete. Auf der tiefsten Stufe des Daseins zeigt der Mensch neben völlig freier Geschlechtsmischung auch Öffentlichkeit der Begattung. Gleich dem Tiere befriedigt er den Trieb der Natur ohne dauernde Verbindung mit einem bestimmten Weibe und vor aller Augen.49
In diesem Weltalter des aphroditischen Hetärismus hatte nach Bachofen das ius naturale, das Gesetz der Stofflichkeit und des Tellurismus, uneingeschränkt geherrscht. Und diesem Gesetz sei „die eheliche Verbindung fremd und geradezu feindlich“ gewesen. Pandora habe Helena nicht deshalb „mit allen Reizen“ ausgestattet, „daß sie nur Einem zu ausschließlichem Besitz sich hingebe“.50 Dem ius naturale zufolge sei die
der Gesittung, Religion, Wirtschaft usw., aus denen sich in der Folge spätere Formen entwickeln. Dieses Bestreben, die „Anfänge“ der „Kultur“ bei den „Naturvölkern“ nachzuweisen, zeichnet die Entwicklungstheorie aus. 48 Wilhelm SCHMIDT, blteste Menschheit (1935-1937), in: ders., Wege der Kulturen. Gesammelte Aufsätze herausgegeben vom Anthropos-Institut, Bonn: Verlag des Anthropos-Instituts 1964, S. 45-98, hier S. 65. 49 Johann J. BACHOFEN, Der Mythos von Orient und Occident: Eine Metaphysik der Alten Welt. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler. Herausgegeben von Manfred Schroeter. München: Beck 1926, S. 238. 50 Ebenda, S. 241.
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Frau buhlerischer Natur, eine Acca Larentia, die „dem der kommt“ sich hingibt, wie der Erdstoff, der als Penia nach immer erneuter Befruchtung sich sehnt. Das Weib soll, gleich der arabischen Königstochter, bis zur Ermüdung dem Manne sich hingeben, wie Hortas Tempel bei den Römern immer offen stand. Sünde ist es ihr, durch List und Verfertigung falscher Stäbe sich Ruhe zu verschaffen. Sie soll eine Obsequens, eine Lubentina, eine stets aufmunternde, nie zaudernde, sondern antreibende wahre Horta sein.51
Die Ausschließlichkeit der Ehe widerspreche dem Recht der Mutter Erde.52 Nach dem Naturrecht ist der Ehebrecher „nur der Geschlechtsfremde, niemals der Blutsverwandte. Eine solche Familie pflanzt sich durch stete Selbstumarmung fort.“53 Mit der üppig chaotischen Vegetation eines Sumpfes sollte Bachofen diesen geschlechtlichen Urzustand der Sippe vergleichen, ja auch von einem Zeitalter der Sumpfzeugung sprechen, in dem alle Mitglieder „durch das engste Verhältnis, das des ersten Grades der Blutsgemeinschaft, untereinander verbunden“ seien. Dem ius naturale zufolge gelte die „Wiedervereinigung durch Begattung“ von Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Bruder und Schwester nicht nur als erlaubt, sondern als geboten.54 Die Bachofenschen Vorstellungen einer hetärischen, ehelosen, dem Mutterrecht vorangehenden Entwicklungsstufe begegnen uns, obgleich in weniger poetischer Form als bei dem Schweizer Rechtshistoriker, in der kulturevolutionistischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts immer wieder. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an die Ausführungen eines Lewis H. Morgan, John McLennan, John Lubbock, Albert H. Post oder Josef Kohler erinnert, die alle von einem ursprünglichen Zustand des sozialen Geschlechtsverkehrs, der Ehelosigkeit, Gruppen- und Hordenehe, Promiskuität, Geschlechtsgenossenschaft bzw. der Consanguine Family ausgingen und die Monogamie als die historisch jüngste Form des geschlechtlichen Zusammenlebens betrachteten. Albert H. Post erfüllt gleich auf den ersten Seiten seines Werks Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz (1894) die Erwartungen seiner fortschrittsgläubigen, zivilisierten Leser, indem er sie mit der Feststellung schockiert, daß für manche
51 Ebenda, S. 242. 52 Da diese chaotisch ehelosen Verhältnisse den Frauen weniger gefielen als den Männern, waren es nach Bachofen bekanntlich auch die Frauen, die zuerst Regeln des Zusammenlebens aufstellten, als Gesetzgeber auftraten und das Mutterrecht durchsetzten. 53 Ebenda, S. 242. 54 Ebenda, S. 242. Es sei hier nur angemerkt, daß Bachofen zufolge die Geschichte dem Okzident „die Aufgabe zugewiesen [habe], durch die reinere und keuschere Naturanlage seiner Völker das höhere demetrische Lebensprinzip zum dauernden Siege hindurchzuführen, und dadurch die Menschheit aus den Fesseln des tiefsten Tellurismus, in dem sie die Zauberkraft der orientalischen Natur festhielt, zu befreien“. Ebenda, S. 37.
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„Wilden“ die „Ehe etwas Naturwidriges und Unerlaubtes sei“.55 Lewis H. Morgan gibt in seiner Ancient Society (1877) den Bericht eines Missionars wider, der von dem geschlechtlichen Leben der „Wilden“ auf den Sandwich Islands, die seiner Ansicht noch viel von dem ursprünglichen Charakter des menschlichen Zusammenlebens bewahrt hätten, folgendes zu erzählen weiß: Polygamy, implying plurality of husbands and wives, […] fornication, adultery, incest, infant murder, desertion of husband and wives, parents and children; sorcery, covetousness, and oppression, extensively prevailed, and seem hardly to have been forbidden by their religion.56
Der vergleichende Rechtsethnologe beginnt seinen Überblick über die Geschichte des Eherechts mit den Worten: Der Geschlechtsverkehr der Menschen ist zunächst ein sozialer gewesen und dieser soziale Geschlechtsverkehr stand im Zusammenhang mit der ganzen sozialen Einrichtung des menschlichen Lebens. Je weiter wir zurückgreifen, desto mehr enthüllt sich die menschliche Natur als zum Gruppenleben gestaltet und mehr oder minder einfache oder verwickelte Gemeinschaften bildend.57
Wohl in Hinblick auf solche Anschauungen stellte Bronislaw Malinowski einmal fest, die evolutionistische Ehegeschichtsschreibung lese sich „like a sensational and somewhat scandalous novel, starting from a confused but interesting initial tangle, redeeming its unseemly course by a moral dénouement, and leading, as all proper novels should, to marriage, in which ,they lived happily ever after‘“.58 Daß die Lektüre ethnographischer Schilderungen „kollektiver Ausschweifungen“ von „Wilden“ mitunter auch gewisse voyeuristische Bedürfnisse gebildeter Schichten zu befriedigen schien, kann hier nur angedeutet werden. Zugleich jedoch, und dies festzuhalten erscheint wichtig, besteht in den Mehrzahl der kulturevolutionis55 Albert H. POST, Grundriss der Ethnologischen Jurisprudenz. Band 1: Allgemeiner Teil. Aalen: Scientia Verlag 1970 (= Neudruck der Ausgabe Oldenburg 1894), S 18. 56 Lewis H. MORGAN, Ancient Society: Or, Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization. Tucson: University of Arizona Press 1985 [1877], S. 415. Seine Theorie einer ursprünglichen Gruppenehe hatte Morgan übrigens erstmals in seinem 1871 erschienenen Werk „Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family“ ausformuliert. 57 Josef KOHLER, Rechtliche Grundlagen der Ehe, in: R. KOSSMANN, J. WEISS (Hg.), Mann und Weib: Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart. Stuttgart-Berlin-Leipzig: Union Deutsche Verlagsanstalt o. J., S. 251-298, hier S. 251 58 Bronislaw MALINOWSKI, Edward Westermarck (1922), in: ders., Sex, Culture, and Myth, New York: Harcourt, Brace & World, Inc., S. 117-122, hier S. 118.
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tischen Beschreibungen der ursprünglichen Geschlechtsverhältnisse kaum ein Zweifel darüber, daß die strikte Monogamie nicht nur die historisch jüngste, sondern auch die „beste“ Form der Regelung der intimen Beziehungen zwischen Mann und Frau sei. Formlos, zwanglos, lax und locker vollziehe sich der Geschlechtsverkehr zwischen Männern und Frauen auf den untersten Stufen der Entwicklung. Kommt es zur Schwangerschaft, sei es aufgrund des häufigen, wahllosen und ungebundenen Verkehrs unmöglich, den Vater zu bestimmen. Da der Vater bei den „Primitiven“ immer incertissimus sei und manchen sehr „rohen Stämmen“ der Zusammenhang zwischen Beischlaf und Schwangerschaft ohnehin unbekannt bleibe – man denke an die conceptio per os –, „gelten die Kinder nicht als Kinder eines individuellen Elternpaars, sondern als Kinder der ganzen Genossenschaft oder wenigstens bestimmter Gruppen derselben“.59 Selbst wenn eheliche Bande zwischen Mann und Frau bestehen, seien dieselben auf den untersten Stufen nur sehr schwach ausgeprägt und eheliche Treue sei nicht verlangt. „Bessels“, so Post, sagt von dem Ita-Stamme, welcher wahrscheinlich auf der tiefsten Stufe steht, die in der menschlichen Rasse zur Zeit auf der Erde vorkommt, und mit besonderer Vorliebe den Beischlaf nach Art der Vierfüsser vollzieht, dass das Band der Ehe sehr locker sei und nichts gewöhnlicher sei, als dass die Itaner die Frau eines Stammgenossen benutzen und dass in Vermischungen von Nichtehegatten kein Verstoss gegen die Sittlichkeit erblickt wird.60
Im Zuge der antievolutionistischen Wende in der Ethnologie sollten gerade diese Vorstellungen vom ungeregelten, zügellosen, ursprünglichen Sexualleben der „Wilden“ immer wieder zur Zielscheibe der Kritik werden.61 Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an die Forschungen des Finnen Edward Westermarck erinnert, dessen Werk The History of Human Marriage 1891 in erster Auflage erschienen war. Weitere vermehrte Auflagen folgten in knappen Abständen. Die Hypothese, so Westermarck, daß Promiskuität eine allgemeine Stufe in der sozialen Entwicklung der Menschheit gewesen sei, „is in my opinion one of the most unscientific ever set forth within the whole domain of sociological speculation“.62 Die Monogamie sei die am weitesten verbreitete Form der Ehe. In allen sozia59 Albert H. POST, Die Anfänge des Staats- und Rechtslebens. Ein Beitrag zu einer vergleichenden Staats- und Rechtsgeschichte, Oldenburg: Schulze 1878, S. 16. 60 Ebenda, S. 19. 61 Vgl. unter anderem Robert H. LOWIE, Primitive Society, London: Routledge & Kegan Paul 51960, S. 38-60; Bronislaw MALINOWKSI, Marriage (1929), in: ders., Sex, Culture, and Myth, New York: Harcourt, Brace & World, Inc. 1962, S. 3-35. 62 Edward WESTERMARCK, The History of Human Marriage. In Three Volumes. Vol. 1, London: Macmillan and Co. 51921, S. 336.
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len Verbänden sei sie geduldet, in vielen die einzig erlaubte eheliche Verbindung. „In mankind the absorbing passion for one is found not only among civilised but also among savage men and women.“63 Romantik, ja auch der Selbstmord aus enttäuschter Liebe, seien keine ,Privilegien‘ des Zivilisierten, sondern finden sich auch bei den „Wilden“.64 Auch die Wiener Ethnologen sollten cum ira et studio in den Chor der Kritiker der entwicklungstheoretischen Thesen über den ehe- und familienlosen „Wilden“ einstimmen. Wie falsch, wie gräßlich, so die Wiener Ethnologen, sei dieses Bild eheloser Urmenschen, die in Sumpfzeugung versunken sich fortwährend begatteten; ein Bild, das, wie sie betonten, nur der grauenhaften Phantasie evolutionistischer Denker entsprungen sein konnte. Nein, bei den Urvölkern finde sich keine tierische Promiskuität, kein sexueller Kommunismus, kein hetärisch-aphroditisches Treiben, keine Morgansche Gruppenehe, keine Postsche Geschlechtsgenossenschaft, keine Raub- oder Kaufehe, sondern eine auf freier Wahl und „Liebesneigung“ beruhende und strikt monogame Individualehe von Mann und Frau; ja „gerade von diesen Urvölkern [werde] ausdrücklich die Freiheit auch von seiten der Braut bei Eingehung der Ehe bezeugt“.65 Zudem – und auch dies, so die Wiener Ethnologen, mag nach all den evolutionistischen Greuelmärchen verwundern – zeichne sich die Individualehe der Urkultur durch eine „Festigkeit und Reinheit des einmal geschlossenen Ehebandes [aus], wie sie bei den Naturvölkern späterer Stufen und selbst bei vielen Kulturvölkern nicht mehr angetroffen wird“.66 Wo polygame Praktiken bestehen, seien diese erst später und unter dem Einfluß von außen entstanden. Bei den „Urvölkern“ sei die Frau noch nicht zur Arbeitssklavin, noch zum bloßen Lustobjekt hinabgesunken, noch auch sozialer und wirtschaftlicher Unmündigkeit, Rechtlosigkeit oder Verächtlichkeit verfallen. Ihre seelischen und sittlichen Kräfte sind noch nicht ausgeschaltet aus dem sozialen und kulturellen Leben. Das kommt natürlich auch der Gesamtheit, wie ihrer Stellung als Person, als Gattin und Mutter weithin zugute.67
Der Ehebruch bei „Urvölkern“ sei selten, werde streng bestraft, oftmals sogar unter Todesstrafe gestellt; die Ehescheidung sei ebenfalls selten, die lebenslange eheliche Treue hingegen die Regel, „so daß, besonders wenn 63 Edward WESTERMARCK, The History of Human Marriage. In Three Volumes. Vol. 3, London: Macmillan and Co. 51921, S. 102. 64 Vgl. ebenda, S. 102-103. 65 Wilhelm SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, S. 160; vgl. auch Wilhelm KOPPERS, Familie: I. Ehe und Familie, in: Alfred VIERKANDT (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1931, S. 112-122. 66 SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, S. 162. 67 SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee. Band 6, S. 431.
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Kinder da sind, stellenweise selbst von einer tatsächlichen Unauflöslichkeit der Ehe gesprochen werden kann“.68 Uneheliche Kinder gälten „als Schande, die besonders auf die Mutter zurückfällt und oft Verstoßung und andere Strafen nach sich zieht“.69 Selbst bei den „Urvölkern“, wo eine gewisse voreheliche Freiheit bestehe, höre diese mit der „Eheschließung sofort vollständig auf, und – was die Evolutionisten gar nicht beachten – sie hört für alle auf. Niemand beharrt für die ganze Lebenszeit in dieser Freiheit, bleibt unverheiratet. Das zeigt deutlich, daß es sich selbst dort, wo diese Zügellosigkeit besteht, nicht um eine dauernde, feste soziale Einrichtung, einen Stand, handelt, sondern daß hier nur etwas freiere Formen der zur Ehe führenden Werbung vorliegen.“70 Die Freiheit vor der Ehe finde sofort ein Ende, wenn sich zwischen zwei Personen eine starke gefühlsmäßige Bindung entwickelt, oder aber wenn das Mädchen schwanger geworden ist. In dem letzteren Falle muß der Vater des Kindes unweigerlich das Mädchen heiraten; es wird nicht geduldet, daß ein Kind ohne den Schutz der festen Ehe zur Welt kommt, noch weniger liegt – außer in einem einzigen Fall bei einem zentralafrikanischen Negrillenstamme – irgendein Zeugnis vor, daß Tötung der Leibesfrucht oder gar des neugeborenen Kindes hier in Übung wäre.71
Bei keinem der ältesten Völker komme „völlige Nacktheit vor: bei den allermeisten tragen Männer und Frauen, jedenfalls aber die letzteren, Kleidung, und zwar nicht aus Schmuckbedürfnis, sondern aus Schamgefühl. Nirgendwo baden Männer und Frauen zusammen“. Hinzuschauen, „wenn Hunde sich paaren, der geschlechtliche Verkehr auch von Eheleuten bei Tage, Aneinanderschmiegen von Eltern mit Kindern des anderen Geschlechts beim Schlafen“, gelte bei den von Schebesta erforschten Semang-Pygmäen als Sünde, die oftmals nur „durch das Opfer des eigenen Blutes an das Höchste Wesen gesühnt werden“ könne.72 Immer wieder werden Schmidt und seine Mitstreiter im Zuge ihres wissenschaftlichen Feldzugs die Kindererziehung bei den verkannten „Wilden“ als mustergültig preisen. Von den Gabun-Pygmäen werde, so Schmidt, berichtet, daß, wenn einem Knaben zum erstenmal im Traume die emissio seminis begegnete, er gehalten war, das dem Vater mitzuteilen. Dieser wusch ihn dann am Flussufer und ermahnte ihn, niemals Selbstpollution zu treiben, die übrigens immer als verächtlich betrachtet wurde. Er zeigte ihm die Frauen an, die er nicht berühren 68 Wilhelm SCHMIDT, Familie (1925), in: ders., Wege der Kulturen. Gesammelte Aufsätze herausgegeben vom Anthropos-Institut, Bonn: Verlag des Anthropos-Instituts1964, S. 13-42, hier S. 21. 69 SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee. Band 6, S. 431-432. 70 SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, S. 168. 71 Ebenda. 72 SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee. Band 6, S. 432.
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darf, die Mutter, die Tanten, die Schwestern, die Halbschwestern. Ebenso wird die Tochter von der Mutter zur Zeit der Reife in den Wald geführt, und es werden ihr analoge Verbote wie dem Knaben auferlegt. Männer dürfen gar niemals Menstrualblut sehen. Auch bei den Südostaustraliern und Nordzentralkaliforniern werden in den Knabenweihen die Kandidaten streng ermahnt, sich vor sexuellen Vergehungen zu hüten und überhaupt nicht den Mädchen nachzulaufen.73
Besonderen Wert in der Erziehung ihrer Kinder legten die „Urvölker“ auf Sauberkeit und Körperpflege. Beschneidungen, Tätowierungen und Verstümmelungen kämen bei den ältesten Menschen nicht vor. Nur am Rande sei hier erwähnt, daß der Urmensch selbstredend weder Tabak raucht noch berauschende Getränke konsumiert. Daß die Eltern ihre zahlreichen Kinder liebten und daß diese die Liebe ihrer Eltern erwiderten und ihnen Respekt und Dank zollten, sei durch die neueren Forschungen über die Urvölker immer wieder bezeugt worden. „Daß schon das unmündige Kind der ältesten Völker sinnliche Gelüste gar auf den eigenen Vater und die eigene Mutter“ habe, so Schmidt, dessen Antisemitismus nicht immer latent ist, sei „eine pure Erfindung der Freudschen Psychoanalyse, oder aber eine Verallgemeinerung von Fällen korrumpierten Familienlebens, die unter liberalen Juden allerdings häufiger zu sein scheinen“.74 Die Kinder, so der Wiener Ethnologe, gehorchten willig ihren Eltern, die Mutter sei die Herrin des Heimes, der Vater aber das Haupt der ganzen Familie. „Daß, wo mehrere zusammenwirken sollen, eine einheitliche letzte Leitung sein muß, ist klar. Daß diese Leitung letzten Endes in der Hand des Mannes liegt, war der Zustand in der ältesten Familie der Urzeit.“75 Abtreibung und Kindsmord kommen bei den ältesten Menschen nicht vor. Aufopfernd und liebevoll pflegten die Jungen die arbeitsunfähigen Alten. Die Quelle dieser altruistischen Gesinnung sei die Familie. Nirgendwo kommt es hier vor, daß das unmündig gewordene Alter geringgeschätzt oder verspottet würde […]; und ganz unfaßbar wäre es, daß ältere, unnütz gewordene Leute getötet würden […]. Sondern es liegen Fälle vor, daß bei den Südostaustraliern alte, schwach und krank gewordene Leute jahrelang auf den mühseligen Wanderungen mit herumgetragen wurden, und daß bei den Feuerländern ihr Tod, der für sie und die anderen eine Erlösung hätte scheinen können, Anlaß zu schmerzlichen Totenklagen und selbst bitteren Anklagen gegen das höchste Wesen geben konnte.76
Die Familie war die wichtigste Institution im Leben der Urmenschen. Sie war zugleich „Hervorbringerin und Erzieherin neuer Menschen“, „Seelen73 Ebenda. 74 Wilhelm SCHMIDT, Sechs Bücher: Von der Liebe, von der Ehe, von der Familie, Luzern: Verlag Josef Stocker 1945, S. 21. 75 Ebenda, S. 209. 76 SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee. Band 6, S. 430.
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und Lebensgemeinschaft“ sowie „Produktions-, Konsumtions- und Vermögensgemeinschaft“.77 „Wir wissen“, so Schmidt, „mit Sicherheit, daß die Familie früher, um Jahrzehnttausende früher da war als der Staat, daß also die Familie ihre Autorität nicht vom Staat, sondern eher umgekehrt der Staat sie von der Familie erhalten hat; […] die höchste Autorität in den ältesten schwachen Staatsformen lag […] bei der Gesamtheit der Familienväter“. Damit erwiese „sich also die in der Familie wirkende Autorität als die Quelle aller Autorität auf Erden“.78 Die eben skizzierte Kritik an der kulturevolutionistischen Urfamilie sollte die Vorgehensweise von Schmidt und seinen Schülern veranschaulichen. Viele Argumente, die sich bei anderen zeitgenössischen Gegnern der Vorstellung einer urzeitlichen Promiskuität finden, finden sich auch bei den Wiener Ethnologen. Aber gerade die moralische Entrüstung, die Bedingungslosigkeit, mit der sie das alte Bild verwerfen und die uneingeschränkte Gewißheit ihres Glaubens, das Rätsel der Urfamilie ein für alle Mal gelöst zu haben, unterscheiden sie von anderen bedächtigeren Kritikern des Kulturevolutionismus. Unschwer ließe sich zeigen, wie die Wiener Ethnologen auch in anderen Bereichen – etwa im Bereich der Wirtschaft oder der Politik – die Vorstellungen der Entwicklungstheoretiker geradezu umkehrten; wie nicht Kollektiveigentum, sondern Privateigentum, wie der Mensch nicht im Banne des Fetischismus, Animismus oder Magismus stand, sondern einen klaren Begriff von einem Höchsten Wesen hatte – Schmidts berühmte These des „Urmonotheismus“ –, wie nicht das Joch eines diffusen Allgemeinwillens, sondern die Achtung vor der natürlichen Führerschaft bestimmter Individuen die Urzeit kennzeichneten. Und doch bleiben die Wiener Ethnologen in entscheidender Hinsicht dem evolutionistischen Denken eng verbunden. Auch sie suchen gebannt nach dem „Anfang“ und tragen empirisches Material aus allen Erdteilen zusammen, um ein für alle Kulturen gültiges Bild der Urzeit zu entwerfen. Und auch ihr Bild der fernsten Vergangenheit ist klar und läßt keine Fragen offen.
3. Über den Gang der Menschheitsgeschichte: Bedeutungsloser Fortschritt und verhängnisvoller Rückschritt im notwendigen Gleichschritt Wer die von der kulturevolutionistischen Gedankenwelt durchdrungene ethnologische Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts studiert, wird,
77 SCHMIDT, Familie (1925), in: ders., Wege der Kulturen. Gesammelte Aufsätze herausgegeben vom Anthropos-Institut, Bonn: Verlag des AnthroposInstituts, S. 13-42, hier S. 35-39. 78 SCHMIDT, Sechs Bücher: Von der Liebe, von der Ehe, von der Familie, S. 160.
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wie erwähnt, immer wieder auch der fortschrittsgläubigen Gefühlswelt vieler Autoren dieser Zeit gewahr werden. Der „Wilde“ wird – wie aus den im Prolog angeführten Urteilen von Darwin und Forster ersichtlich – zum Antonym des Eigenen. Wenn man von den fast unbekleideten Feuerländern liest, die sich nachts bei Kälte und Schneeregen in Ermangelung eines Obdachs wie ein Rudel Tiere aneinander kauern, dann wird man sich in dem mit einem Kamin ausgestatteten geräumigen Schlafzimmer zu Hause gleich um einiges behaglicher fühlen. Wenn man von den Sitten der Blutrache und des Hexenzaubers liest und von ekstatisch tanzenden, blutüberströmten menschenfressenden „Wilden“ hört, dann wird man – vielleicht – den modernen Rechtsstaat, Aufklärung, Bildung und Wissenschaft sowie manierliche Tischsitten um so mehr zu schätzen wissen. Der „Wilde“ stellt keine unmittelbare Bedrohung dar; ist er doch in sicherer Entfernung zum Eigenen angesiedelt. Wenn man die „Kluft“ ermesse, so heißt es in einem Bericht über die Forschungen von Charles Lyell, die zwischen einem Menschen wie Alexander von Humboldt und einem Feuerlandindianer liege, werde man „auch die Kluft zwischen diesem und dem Gorilla wieder um vieles kleiner finden“.79 Wenn man vom Fremden spricht, spricht man, zumindest ein klein wenig, auch von sich selbst. Die Geschichte der Ethnologie ist bekanntlich eng verknüpft mit utopischem Denken, mit Zivilisations- und Gesellschaftskritik. Über den faktischen Gehalt hinaus drängen sich gerade in der Ethnologie ethische Fragen immer wieder in den Vordergrund. Ist der Fremde ein besserer, gerechterer, glücklicherer Mensch als wir? Immer wieder scheinen diese außerwissenschaftlichen Fragen die Suche nach der ethnologischen Erkenntnis zu begleiten, ihr zuweilen vorauszueilen oder auch nachzuhinken. In diesem Zusammenhang bedeutete die wissenschaftliche Absage an den Kulturevolutionismus oftmals eine moralische Umwertung des Fremden und des Eigenen und implizierte eine scharfe Kritik an jenen, die sich in Lobgesängen auf die Zivilisation und in Fortschrittsgläubigkeit übten. Im Falle der Wiener Schule scheint das ethnologische Denken oftmals unmittelbar in eine von Werturteilen triefende, pessimistische Gegenwartsdiagnostik überzugehen; ja am Ende scheint man oft mehr über das zu wissen, was die Wiener Ethnologen über das Eigene „fühlen“ als über das, was sie über das Fremde „wissen“. Auch hier fungiert der „Wilde“ als Antonym des Eigenen. Er ist all das, was man selbst nicht ist, aber sein möchte oder sein sollte. Er ist – wie für kulturverfallstheoretische Ansätze kennzeichnend – der bessere, von den Lastern der Zivilisation nicht befallene, natürliche, unverderbte Mensch, der „Edle Wilde“, einer der wohl bekanntesten Protagonisten der Ethnologie. Ist der Kulturevolutionismus somit Ausdruck einer fortschrittsgläubigen, die Zukunft herbeisehnenden Epoche, so spiegelt das ethnologische 79 N. N., Sir Charles Lyell über das Alter des Menschengeschlechtes, in: Das Ausland 36 (1863), S. 325-331, hier S. 326.
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Denken von Schmidt und seinen Schülern die ehrwürdige Tradition abendländischer Untergangsprophetie wider. Das Thema des Kulturverfalls scheint in den Schriften der geistlichen Ethnologen allgegenwärtig zu sein. Ihre pessimistische Weltsicht speist sich wohl in erster Linie aus der Überzeugung, daß das christliche Fundament der modernen Gesellschaft ins Wanken geraten ist und immer größer werdende Sprünge und Risse zeigt. Wenn das Heute auch nicht stets explizit verdammt wird, so läßt sich doch aus dem, was über die idyllische Urzeit gesagt wird, unschwer erschließen, was über die selbstsüchtige, von liberalen und sozialistischen Irrlehren verseuchte Gegenwart gedacht wird. Die Ethnologie der Wiener Schule – und auch hierin ist sie ihrem evolutionistischen Gegenspieler eng verwandt – mündet in eine großartige, geschichtsphilosophische Deutung des Gangs der Menschheit. Zwar sei, so werden Schmidt und seine Schüler beteuern, die Behauptung der Kulturevolutionisten wahr, daß die „Urvölker“ im Bereich der Wirtschaft auf der untersten Stufe, der „Sammelstufe“, stünden und in der materiellen Kultur, der „Sachkultur“, nicht über die „primitivsten Formen“ hinausgekommen wären; zwar sei es ferner wahr, daß die chronologischen Entwicklungsschritte der „Sachkultur“ eine gewisse logische Abfolge darstellten, aber – so die Wiener Ethnologen – gänzlich anders lägen die Dinge in der „soziologisch-geistigen“ Kultur, der „Persönlichkeitskultur“, die das ungleich bedeutsamere Gebiet des menschlichen Daseins umfasse. Die Menschheit schreitet nicht auf allen Gebieten voran und nicht auf allen Gebieten zurück, sondern hier offenbart sich eben eine Zweiteilung der Gebiete: in der einen Gruppe macht sie unablässige glänzende Fortschritte, in der andern Gruppe aber steht sie in Gefahr, unaufhaltsame gefährliche Rückschritte zu erleiden. Der Fortschritt waltet auf allen Gebieten, welche sich beziehen auf die Beherrschung der äußern Natur, die formale, besonders die intellektuelle Geistesbildung und die quantitativ-äußerliche Entwicklung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens, d. h. die äußerlich reichere Differenzierung desselben. Es ist unleugbar, daß die Menschheit hier rastlos voranschreitet. […] Ganz anders verhält es sich mit der zweiten Gruppe der Kulturgebiete. Zu dieser gehören die qualitativ-innerliche Entwicklung des sozialen Lebens, das gemütliche und charakterliche Geistesleben und in engem Zusammenhang damit die ethische und religiöse Entwicklung. Hier fördert die neuere ethnologische Forschung immer mehr Tatsachen zutage, welche deutlich dartun, daß die Entwicklung auf allen diesen Gebieten jedenfalls inhaltlich genommen nach abwärts geht.80
Mit seinen Überlegungen zum Kulturverfall schließt Schmidt auch an die im 19. Jahrhundert vor dem Aufkommen des Entwicklungsgedankens populär gewesenen ethnologischen Degenerations-, Verwilderungs- und Ent80 SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, S. 45-46.
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artungstheoretiker an, als deren wichtigste Vertreter oben bereits auf den Duke of Argyll und den Dubliner Erzbischof Richard Whately hingewiesen wurde. Schmidt sprach von einem „Gesetz der Kulturentwicklung“, demzufolge der Fortschritt der „Sachkultur“ den Rückschritt der „Persönlichkeitskultur“ bedinge.81 So sehr es ein Gesetz der Kulturentwicklung ist, daß nur beim Entstehen größerer Menschenmassen höhere technische und wirtschaftliche Kultur und damit verbunden eine höhere intellektuelle Kultur möglich ist, und diese ganz höhere Kultur bei Abnahme der Menschenmassen ebenfalls verfallen muß, so sicher ist auch ein anderes Gesetz der Kulturentwicklung, das zu dem ersteren in paradoxem Gegensatze zu stehen scheint: je höher die technische, wirtschaftliche und intellektuelle Kultur steigt, um so mehr nehmen die sittlich-altruistischen Kräfte ab, die erforderlich sind, um in der Familie die der Kulturentwicklung notwendige Zahl von Menschen zu zeugen und zu erziehen. Beide Gesetze zusammengefaßt würden danach ein unheimliches drittes Gesetz ergeben: je höher eine Kultur steigt, um so sicherer und schneller bereitet sie sich selbst den Untergang, indem sie sich die Menschen verweigert, die zu ihrer Fortführung erforderlich sind. Ein Menschenhasser würde das so ausdrücken: Die menschliche Kultur führt sich selbst ad absurdum, indem sie auf ihrer höchsten Stufe sich selbst umbringt.82
Der Vergleich mit dem „urzeitlichen Vollmenschen“ zeige, daß die Menschen aller späteren Epochen verkümmerte Wesen seien. Durch das Versiegen der „Persönlichkeitskultur“ seien im Laufe der Geschichte „so schale kraftlose bsthetenvölker wie die späteren Griechen, so ländergierige Soldatenvölker wie die Römer, so habsüchtige Krämervölker wie die Yankees“ entstanden.83 Wie sich der ethnologische „Carlylismus“ mit diesen unentrinnbaren Gesetzen des Kulturverfalls verträgt, verrät Schmidt uns leider nicht. Diese keineswegs originelle deszendenztheoretische Interpretation der Universalgeschichte verbindet Schmidt mit seinem Glauben an die große historische Mission des Christentums. „Eine Macht“, so Schmidt, gäbe es nämlich in der modernen Welt, „die ihrer Natur nach berufen und befähigt wäre, in die Speichen des stockenden Rades zu greifen und es wieder zu lebendigem Umschwung zu bringen. Das ist die Religion, insofern sie die kulturfeindliche Selbstsucht bekämpft und den kulturfördernden Altruismus pflegt.“ Nicht jede Religion freilich könne den Niedergang der „Kulturvölker“ aufhalten, sondern nur das Christentum.84 Obgleich auch das 81 SCHMIDT, Sechs Bücher: Von der Liebe, von der Ehe, von der Familie, S. 111. 82 Ebenda. 83 SCHMIDT, Werden und Wirken der Völkerkunde/Die menschliche Gesellschaft, S. 56. 84 Der Buddhismus könne diese Aufgabe nicht erfüllen, denn dieser sei „ein genuines Produkt der Kulturmüdigkeit, nichts anderes als die in ein kompli-
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Christentum im Laufe der Geschichte immer wieder geschwächt worden sei, verbleibe ihn ihm ein unzerstörbarer Kern von Licht und Kraft, der stets wieder hervorbricht und aus dem die zu ihm gehörenden Völker schöpfen, um in umfassenden Reformen sich zu erneuern und die Anfänge neuer Kulturperioden zu legen. […] Von den mannigfachen Kräften, mit denen es hier wirksam ist, seien nur zwei hervorgehoben, durch die es gewissermaßen die ersten Anfänge der ganzen Kulturentwicklung wieder aufnimmt, aber in einer so umfassend gründlichen Weise und mit einer solchen Läuterung und Festigung, daß eben darin die dauernde Bürgschaft unerschütterlichen Bestandes gegeben ist. Das Christentum war es, das die Familie in ihrer alten Innigkeit und Festigkeit wieder herstellte und damit eine lange verschüttet gewesene Quelle wieder eröffnete, die reichlichste Spenderin menschenverbindender Sympathie und opfer- und arbeitsfreudigen Altruismus. Und diesen Begriff der Familie dehnte es auf die ganze Weltanschauung aus, indem es wiederum die höchste Weltursache klar und überzeugend als Person und Vater hinstellte, zu dem alle Menschen in Kindesverhältnis stehen, so daß sie untereinander Familienglieder, Brüder sind, und von diesem ihrem höchsten Vater nun ihre Pflichten und Aufgaben im irdischen Bereich zugeteilt bekommen. Damit ist der alte Familien-Altruismus der Urzeit aus seiner kindlichen Beschränktheit und seiner naiven Unbewußtheit herausgehoben und in reifer, fester Bewußtheit auf das grandiose Fundament einer ganzen Weltanschauung gestellt. Und indem diese jetzt sowohl die Forderungen des Herzens und des Gemütes befriedigt und die Sittlichkeit regelt, als auch den Fragen des forschenden Verstandes Antwort gibt und zugleich die äußere Kulturarbeit heiligt, überwindet sie den alten Zwiespalt zwischen den beiden großen Kulturgebieten zu vollkommener Harmonie und wird dadurch zur sicheren Trägerin einer neuanhebenden Kultur, in der kein innerer Keim des Verfalles mehr zu finden ist.85
Immer wieder werden Schmidt und seine Schüler betonen, daß die revolutionäre Kraft des Christentums darin bestehe, daß es den Weg zurück, den Weg zum Ursprung weise und ein lautes „Am Anfang war das nicht so“ ertönen lasse. Als Deszendenztheoretiker sind die Wiener Ethnologen davon überzeugt, daß im Lauf der Entwicklung das bei seiner Entstehung Vollkommene nicht nur verändert, sondern verzerrt, ja verunreinigt werde. ziertes System gebrachte Verzweiflung an der Ersprießlichkeit jeglichen Kulturstrebens. Dieser müde Pessimismus kommt mit unendlichen Umschweifen und Künsteleien schließlich zu ganz demselben Ergebnis, das der abendländische Pessimist Ed. von Hartmann kurz entschlossen in dem grausigen Satze formuliert, der gesamte unermeßliche Kulturfortschritt habe keinen anderen Zweck und werde keinen anderen Ausgang haben, als das Gefühl für das Elend des Daseins bis zu einem so unerträglichen Grade zu steigern, daß endlich die gesamte Menschheit zu einem gewaltigen Massenselbstmorde sich entschließen werde. Der Buddhismus vernichtet freilich die Selbstsucht, aber auf dem radikalen Wege, daß er jegliche Sucht, jegliches Streben ertötet.“ Ebenda, S. 50. 85 Ebenda, S. 51.
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Daß der „Ursprung“ des menschlichen Zusammenlebens in soziologischgeistiger Hinsicht besser sei als der gegenwärtige gesellschaftliche Zustand, ja daß der „Urmensch“ dem modernen Menschen sittlich überlegen sei, dafür glaubten die Wiener Ethnologen die endgültigen Beweise erbracht zu haben. Im Unterschied zu anderen, ja zu den meisten antievolutionistischen Strömungen – man denke insbesondere an Franz Boas und an einige seiner Schüler – mündet die Kritik der Wiener Ethnologen am Entwicklungsgedanken also nicht in einer ethisch-relativistischen, die Gleichwertigkeit fremder Kulturen betonenden Grundhaltung, sondern in einem moralischen Absolutismus. In lebenspraktischen Belangen ist ethnologisches Wissen bei Schmidt und seiner Schule niemals Quelle des Zweifels und der Verunsicherung, sondern – im Gegenteil – eine Quelle der Gewißheit und Sicherheit. Das bltestseiende ist auch das Seinsollende, die für alle Zeiten verbindliche Richtschnur. Die deszendenztheoretische Geschichtsphilosophie wird von Schmidt und Koppers untrennbar mit ihrer ethnologischen bzw. theologischen Lehre des „Urmonotheismus“ und der „Uroffenbarung“ verbunden. Insbesondere im Anschluß an die religionsethnologischen Überlegungen des Schotten Andrew Lang, der bestrebt war, monotheistische Vorstellungen bei „primitiven“ Völkern nachzuweisen, versuchte Schmidt in seinem monumentalen zwölfbändigen Werk Der Ursprung der Gottesidee (1912/19261955) zu zeigen, daß die „Urvölker“ keineswegs einem animistischen, magischen, totemistischen oder fetischistischen Glauben anhingen, sondern einen klaren Begriff von einem Höchsten Wesen hatten. Dieses Höchste Wesen gelte den „Urvölkern“ als Schöpfer der Welt und ihrer sittlichen Ordnung. Es sei gütig, allwissend und allmächtig. Es wache über die Menschen im Diesseits und warte auf sie im Jenseits. Der reine Eingottglaube, der auch die Sittengesetze für das Diesseits vorschreibe, begründe die soziologisch-geistige Überlegenheit der „Urvölker“. An die Stelle des ursprünglichen düsteren Geisterglaubens trat ein eindeutiger Hochgottglaube. Die Frage nach der Herkunft dieses klaren Eingottglaubens beantwortete bekanntlich Schmidt auch mit seiner umstrittenen und viel diskutierten These der „Uroffenbarung“. Das Höchste Wesen habe, so Schmidt, der ältesten Menschheit, die sich auf keine Tradition stützen konnte, eine „außergewöhnliche Hilfe zuteil werden“ lassen, indem es „als Wirklichkeit“ vor sie hintrat und „ihr Wahrheiten“ offenbarte, „an die sie mit eigenem Denken und Forschen entweder gar nicht oder nur in schwankender Ungewißheit und Unvollständigkeit hätte heranreichen können“.86 „Edel“ ist der „Wilde“, weil Gott sein Lehrer war.87 86 SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee. Band 6, S. 494; vgl. auch ders., Historische Tatsächlichkeiten des Zustandekommens meines „Ursprung der Gottesidee“, in: Anthropos 23 (1928), S. 471-474; Wilhelm KOPPERS, Der Urmensch und sein Weltbild, Wien: Herold o. J. [1949], S. 231-240. 87 Für Überblicksdarstellungen zur Religionsethnologie im allgemeinen und zu Schmidts „Urmonotheismus“ im besonderen siehe Edward E. EVANS-
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4. Über die „letzten“ Feuerlandindianer und die Grausamkeit der „Weißen“ Die Pläne der Wiener Ethnologen, ethnologische Forschungen unter den vom Aussterben bedrohten Feuerlandindianern durchzuführen, reichen zurück in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, konnten aber erst danach verwirklicht werden.88 Untrennbar verbunden sind die Feuerlandstudien mit dem Namen von Pater Martin Gusinde, der seit 1912 als Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer an der von der Gesellschaft des Göttlichen Wortes geleiteten katholischen Privatschule in Santiago de Chile tätig war und seit 1913 auch am völkerkundlichen Museum dieser Stadt wirkte. In den Jahren zwischen 1918 und 1924 unternahm Gusinde vier Expeditionen zu den Feuerlandindianern, wobei er auf der dritten von seinem Ordensbruder Pater Wilhelm Koppers begleitet wurde. Jedem der drei von ihm untersuchten „Stämme“ hat Gusinde eine eigene Monographie gewidmet. Im Jahr 1931 erschien seine über 1.100 Seiten umfassende Arbeit über die Selk’nam (auch: Ona), 1937 seine noch umfangreichere Abhandlung über die Yamana (auch: Yaghan), 1939 ein Werk zur physischen Anthropologie der Feuerlandindianer und postum, PRITCHARD, Theories of Primitive Religion, Oxford: Oxford University Press 1965; Paul SCHEBESTA, Das Problem des Urmonotheismus: Kritik einer Kritik, in: Anthropos 49 (1954), S. 689-697; Hans WALDENFELS, Wilhelm Schmidt (1868-1954), in: Axel MICHAELS (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft: Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München: Beck 1997, S. 185-197; Josef F. THIEL, Der Urmonotheismus des P. Wilhelm Schmidt und seine Geschichte, in: Britta RUPPEISENREICH, Justin STAGL (Hg.), Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat: Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780-1918 (= Ethnologica austriaca 1), Wien: Böhlau 1995, S. 256-267; ders., P. Wilhelm Schmidt, S.V.D., in: Christian F. FEEST, Karl H. KOHL, Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart: Kröner Verlag 2001, S. 418-423. 88 „Schon lange Jahre vor dem Weltkriege“, schrieb Schmidt in der Tageszeitung Reichspost im Jahre 1922, „war mein Augenmerk darauf gerichtet gewesen, eine Forschungsreise zu den Feuerländern zustande zu bringen. Diese, aus den drei Stämmen der Ona, Yamana (Yagan) und Alakaluf bestehend, bilden die älteste Schicht der indianischen Urbevölkerung von Südamerika. Es war deshalb für alle Frage[n] der menschlichen Kulturentwicklung, der Ergologie, Wirtschaft, Soziologie und Religion, von der größten Bedeutung, die bei ihnen vorhandenen Zustände mit wissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen. […] Die Erforschung dieser Stämme drängte aber um so mehr, weil sie ihrem Untergang entgegengehen: die Yagan zählen kaum noch 70 Personen, die Alakaluf kaum noch 200, die Ona vielleicht etwas über 200 Personen. So wird es verständlich, daß einer der hervorragendsten amerikanischen Ethnologen, Professor Dr. Boas (New York), bei seinem vorjährigen Besuch hierselbst mir sagen konnte, daß eine Expedition zu den Feuerländern augenblicklich das dringendste Bedürfnis der gesamten amerikanischen Völkerkunde sei.“ Wilhelm SCHMIDT, Auf den Spuren der Urweltkultur [I.], in: Reichspost (Wien), Sonntag, 18. Juni 1922, Nr. 165.
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1974, die wesentlich kürzere Monographie über die Halakwalup (auch: Alakaluf).89 In diesen, nach traditionellem Muster verfaßten ethnographischen Werken schildert Gusinde zunächst das Land, die Topographie, die Fauna und Flora, den natürlichen Lebensraum der Indianer und die Entdeckungs- und Forschungsgeschichte. Sodann versucht Gusinde, ein Gesamtbild der Kultur zu zeichnen, einen „Totaleindruck“ der Lebensweise dieser Guanaco jagenden und fischenden Nomaden zu geben, bevor diese durch die „Zivilisation“ zerstört werden sollte. Alle Bereiche des Lebens – Wirtschaft, Politik, Recht, Mythologie, Religion, Gesellschaft usw. – werden von Gusinde in seinen Monographien berührt, die noch heute als die ethnographischen Klassiker zur Kultur der Feuerlandindianer gelten. Sie werden es auch bleiben. Das Volk der Feuerlandindianer wurde weitgehend ausgerottet, ihre Kultur vernichtet. Nach jeder Expedition mußte der Steyler Missionar und Ethnologe feststellen, daß die Zahl der „Stammesmitglieder“ sich stetig verringert hatte. Nach den Schätzungen von Gusinde betrug die Zahl der Feuerlandindianer in den 1850er Jahren mindestens 10.000; „heute zählen sie knapp 600. Man fragt sich mit berechtigtem Befremden: Was hat sie in so kurzer Zeit dem baldigen Aussterben nahegebracht? – Die einzige Antwort ist: Nur die Berührung mit der europäischen Kultur und deren Vertretern!“ Insbesondere die Selk’nam seien im ausgehenden 19. Jahrhundert „einem brutalen Ausrottungssystem gewinnsüchtiger Europäer zum Opfer gefallen“. Diese wollten die Insel für die Schafzucht nutzen, doch die „Eingeborenen“ standen diesem Plan buchstäblich im Wege. Deren Jahrhunderte hindurch angestammte Eigentumsrechte auf den heimatlichen Boden schonungslos niedertretend, griff der europäische Eindringling zu den schändlichsten Mitteln, um die wehrlosen Indianer kurzerhand zu beseitigen: diese wurden unter erheuchelter Freundschaft herangelockt und meuchelmörderisch niedergeschossen, man schenkte hungernden Familien als ‚Liebesgabe‘ das mit Strychnin vergiftete Fleisch von Schafen; regelrechte Jagden mit eigens dressierten, aus Europa bestellten Hunden wurden gegen die schutzlosen Eingeborenen inszeniert; und das Paar Ohren eines Erwachsenen oder der noch blutende, eben abgeschnittene Kopf wurde vom Farmer dem in seinen Diensten stehenden Indianerjäger ausgiebig entlohnt. In diesem furchtbaren Vernichtungskampfe des ‚zivilisierten Kulturmenschen‘ gegen den harmlosen Naturmenschen mußte dieser unterliegen! – […] Sie haben das unausweichliche Geschick, das ihrer wartet, vollauf begriffen: sie sehen mit stummer Resignation dem Tage entgegen, an dem der letzte der Ihrigen ins Grab sinken wird – aber mit einem entsetzlichen Fluch auf jene entarteten Europäer, die zu Mördern ihres Volkes geworden sind! Jetzt kommt kein lautes Klagen über ihre Lippen; nur mir ver-
89 Vgl. hierzu die überaus informative und knappe Darstellung von Iris GAREIS, P. Martin Gusinde, S.V.D., in: Christian F. FEEST, Karl H. KOHL (Hg.), Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart: Kröner Verlag 2001, S. 152156.
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trauten sie leise ihr Urteil an: ‚Wie maßlos schlecht ist doch der Weiße: er raubte dieses Land, das unser Eigentum ist seit alters her, er entehrte unsere Frauen, er mordete unsere Stammesbrüder hin! – und wir hatten ihm doch kein Leid zugefügt.‘ […] Es drängt sich mir eine letzte Frage auf die Lippen: Wer verdient es mehr, ein ‚Wilder‘ genannt zu werden: jener europäische Eindringling oder das harmlose Naturkind auf Feuerland?90
Gerade die „Entdeckungsgeschichte“ und die „Begegnung“ zwischen den vermeintlich „Wilden“ und den vermeintlich „Zivilisierten“ dient den Wiener Ethnologen immer wieder dazu, die „Fortschrittsidee“ radikal in Frage zu stellen und ihrer kulturpessimistischen Grundhaltung Ausdruck zu verleihen. Gusinde war sich bewußt, daß er zum Zeugen des Untergangs der Feuerlandindianer und zum Archivar einer verschwindenden Kultur wurde. Zumindest in und durch seine Schriften hoffte er diese unwiederbringlich verlorene Kultur zu verewigen; eine Hoffung, die das Unternehmen der Salvage Ethnography kennzeichnet. Zuweilen träumte Gusinde davon, die Regierung von Chile möge das Gebiet der noch existierenden Feuerlandindianer mit einem Stacheldraht einzäunen, sie dort nach alter Sitte weiterleben lassen und gleichzeitig bei Todesstrafe allen Weißen verbieten, dieses Areal zu betreten.91 Aber er wußte, daß dieser Wunsch wohl kaum in Erfüllung gehen würde. Gusinde ist kein nüchterner Aufzeichner, kein unparteiischer Beobachter. Immer wieder wird er in seinen Schriften auch von seinen eigenen Empfindungen und Gefühlen Zeugnis ablegen und über seine inneren Monologe berichten. Dieses subjektive Element mischt sich in und färbt seine wissenschaftliche Beschreibung, verleiht dieser einen literarischen Charakter. Seine Monographien können somit auch als ein mit Wehmut, Verbitterung, Zorn und Pathos verfaßter Nekrolog auf die von ihm mit tiefer Sympathie geschilderten, idealisierten, sterbenden Feuerlandindianer gelesen werden. Im folgenden soll eine längere, eindrucksvolle Passage wiedergegeben werden, um diesen Aspekt seines Werkes am Originaltext zu veranschaulichen: In grauer Vergangenheit haben die Träger der Selk’nam-Kultur zum erstenmal die heutige Magellan-Straße überquert und das menschenleere Gebiet der Isla Grande als erste Ankömmlinge für sich selber zum Wohnsitz erwählt. Ein weiterer Vorstoß nach Süden war ihnen versperrt. Mit dieser ihrer Heimat sind sie fest verwurzelt. Rauh und unwirtlich ist die Landschaft. Bei aller Einförmigkeit, mit der hier
90 Martin GUSINDE, Feuerland und seine Bewohner, in: Hochland 26,2 (1929), S. 494-509, hier S. 508-509; vgl. auch ders., Die Sünden Europas an den Naturvölkern [und] Die Sünden der Weißen an den Naturvölkern Amerikas, in: Schönere Zukunft 5,1 (1929), S. 1077-1079 und S. 1100-1102. 91 Vgl. Martin GUSINDE, Urmenschen im Feuerland: Vom Forscher zum Stammesmitglied, Berlin: Zsolnay 1946, S. 126.
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Mutter Natur ihre Gaben bietet, erweist sie sich überdies noch ungewöhnlich karg und geizig. Aus dem dunklen Grün ihres Kleides tritt nur vereinzelt eine buntfarbige Blüte hervor, der artenarmen Tierwelt fehlt die Mannigfaltigkeit der Farben, ein Jahresdrittel lang hüllt das Totentuch des Winterschnees alles Leben ein. Dem allen aber hat in wunderbarer Anpassung der freie Indianer mit scharfsinniger Findigkeit sich anzubequemen verstanden. Er hat die kargen Gaben der Natur in seinen Dienst gestellt, und in Entwicklung seiner Geistesfähigkeiten auch eine seelische Bereicherung sich zu schaffen gewußt. Als ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen hat er seine Daseinsform zu einer menschenwürdigen gestaltet und darin sein Erdenglück erlebt. So wurde er, der Sohn der Wildnis, zum harmonischen Gleichklang mit der ihn umgebenden Naturwildheit. Geschlecht folgte sich auf Geschlecht, einem nach dem andern sangen die nimmermüden Ozeanwellen das Abschiedslied. Eine Generation nach der anderen erstand in ununterbrochener Kette, und der ewige Schnee von den Bergesgipfeln winkte einer jeden wieder neue Lebensfreude zu. In der Stille des Waldes, in der offenen Weite der Pampalandschaft blühten Gattenfreuden und Kinderglück, die leichten Anstrengungen der Jagd schafften die nötige Nahrung herbei, das wohltuende Hüttenfeuer lud ein zu gemächlicher Ruhe im Familienkreise. Hier gab es für Sorgen keinen Platz. Nur Leidenschaften und Kämpfe, Enttäuschungen und Trauer traten bisweilen dazwischen. So muß es sein; denn Erschütterungen braucht der Mensch, um seelisch nicht zu erschlaffen. […] Man muß den Reiz dieses Lebens als Sohn der Wildnis im Schweigen jener Weltferne selber empfunden haben, um zu verstehen, daß diese Menschen im ausreichenden Genuß ihrer Wünsche standen und nach Weiterem nicht verlangten. […] Da brach, wie über Nacht, ganz unerwartet und mit schauererregender Gewalt, das Unheil herein in diese jahrtausendelange Ungestörtheit seelischen Friedens und harmonischen Volkstums. Wie ein Pesthauch ertötete das Auftreten der Europäer augenblicklich das Stammesidyll der bisher nie gekannten Eingeborenen und raffte sie in Massen hinweg, noch ehe einer sich der umstürzenden Geschehnisse bewußt werden konnte. Generationenaltes Volksgut wurde mit einem einzigen, gewalttätigen Faustschlag zur Unkenntlichkeit vernichtend zerstäubt. Das reiche ausgeglichene Glück, das zufriedene Dasein des Einzelmenschen wie des geschlossenen Volksganzen war im Augenblick zur Staubwolke auseinandergerissen […]. Denn was sind dreißig, vierzig Jahre tobender Verfolgungen gegen den jahrtausendealten Bestand des indianischen Volkstums! So wütet die zermalmende Gewalttätigkeit europäischer Gewinnsucht, so rasend hastig feiert die „auri sacra fames“ ihre Orgien! […] Nur kaum ein Jahrzehnt noch, dann ist der letzte klägliche Rest dieses anheimelnden Indianeridylls in der Vergangenheit versunken. Dann wird die ewige Schneelast der Bergesgipfel vergebliche Ausschau halten nach den friedlichen Standlagern unten im geschützten Tale, der Fuchs wird ohne die Partnerschaft des Indianers vorsichtig schlangenhaft durch die Wälder schleichen, die offene Pampa sieht die munteren Wettspiele einer zahlreichen Menge oder den ergiebigen Erfolg einer gemeinschaftlichen Jagd nie wieder, und von den Felsen prallt das Jauchzen einer lebensfrohen Jugend niemals mehr zurück. Wenn jetzt die Abendsonne blutrot in den weiten Ozean untertaucht, wird kein Abschiedsgruß des Indianers ihr folgen. Früher eilte Jung und Alt zur Hütte,
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wenn die Nacht ihren dunklen Vorhang über die Landschaft zog. Nun wirft kein schüchtern flackerndes Lagerfeuer mehr seinen matten Schein auf die knorrigen Buchen, durch deren Kronen sich der bläulichmatte Rauch emporkräuselte. […] Wo sind sie nur, die schönen braunen Menschen, die ehedem voll Lebensfreude im hastigen Schritt die weite Isla Grande durchquerten? […] Wo ist das Volk, das in diesen Erdenflecken eingepaßt, die einförmige Landschaft belebt hielt? […] Nach all dem fragte ich mich selber, als ich eines Tages auf den morschen, flechtenübersäten Holzzaun des kleinen Friedhofes beim Cabo Domingo gelehnt, sinnend über die leere Ebene hinstarrte […] Alles ist dahin. Alle sind sie vernichtet von der nimmersatten Habgier des Europäers. […] Das Indianeridyll auf Feuerland ist für immer vorüber. Nur die ewig unruhigen Wellen rauschen noch den toten Indianern ihr Trauerlied. In den Einsamkeiten der weltfernsten Gegend haben Menschen der einfachsten Lebenshaltung jahrhundertelang in Glück und Zufriedenheit gelebt, Geschlechter haben sich abgelöst in der Unwandelbarkeit ihrer lebensfähigen, kraftbetonenden Daseinsform. In dieser Reihe hätten noch viele andere Geschlechter sich folgen können. Bisher hatte der Indianer niemandem auf der weiten Welt im Wege gestanden. Eine Handvoll habgieriger Europäer wollte sich irdischen Reichtum zusammenraffen. Kaum fünf Jahrzehnte reichten hin, um den jahrtausendealten Bestand des indianischen Volkstums spurlos zu vernichten. Das ist das Schicksal des vielverkannten Selk’nam-Volkes!92
Auf der dritten Expedition hatte Martin Gusinde, der diesmal von Wilhelm Koppers begleitet wurde, einen Phonographen mitgenommen, mit Hilfe dessen die beiden Missionare die Gesänge zweier Feuerlandindianerinnen aufnehmen und dadurch auch – zumindest ein klein wenig – die Geschichte der Kolonialisierung aus der Sicht jener dokumentieren konnten, die derselben zum Opfer fielen. Im vollen Bewußtsein des drohenden Untergangs ihres Volks beklagen die zwei betagten Frauen das tragische und nahende Schicksal: Oh, wie arm sind wir doch daran, daß diese beiden (Gusinde und Koppers) uns zwingen, Talauwáia (den Trauergesang) zu singen. Diese kommen von einem Volke, das sehr zahlreich ist, und wir sind so wenige. Die wenigen, die von uns übrig sind, sind wie einige Vögelchen, die durch Zufall dem Jäger entwischt sind. Und Watauinéwa hat uns hinweggenommen die Guten, nur die Häßlichen und Unansehnlichen blieben bis auf die letzten Tage des Yamana-Volkes. Wir Schlechten, wir Kranken blieben bis heute. Uns ließ er noch leben, uns, die wir die Schwachen sind, die wenigen. Mir hat er die Kinder hinweggenommen, die ganze Familie. Und die zwei Kinder, die mir bleiben, werden wohl auch bald den gleichen Weg gehen müssen (beide sind nämlich schwach und kränklich), den die anderen gegangen sind. […] O wehe, o wehe, mein Vater, du läßt mich schwer leiden, du hast mich schwer gestraft. Wie viele Leute gab es einst im Westen […]. Jetzt sind wir höchstens nur noch zwei oder drei übrig. Und mir hat er
92 GUSINDE, Die Feuerland-Indianer. Band 1, S. 188-191.
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nur noch eine Verwandte […] von dort gelassen, um sie schließlich wohl auch hinwegzuraffen.93
Nach diesem Blick auf die Geschichte der Beziehungen zwischen den „Weißen“ und den „Eingeborenen“ soll im folgenden das von Gusinde und Koppers rekonstruierte „intakte“ Leben der Feuerlandindianer skizziert werden. Entschieden treten die beiden Ethnologen der insbesondere mit Lévy-Bruhl assoziierten Auffassung einer prälogischen Mentalität der „Primitiven“ entgegen und betonen, daß das Handeln der „Urmenschen“ keineswegs auf instinktive, tierähnliche Regungen zu reduzieren sei. Vielmehr entspringe es „überlegenden Erwägungen und freien Entschließungen“. Ständig überdenke der Feuerlandindianer seine Pläne, wertet wiederholt seine Absichten, prüft die ihm verfügbaren Mittel und Kräfte, sieht den Werdegang des Unternehmens voraus, erörtert und bespricht auch mit andern seine Ziele und das, was nach den besonderen Umständen ihm zu diesen verhelfen kann. Nicht der unbewußte, triebhafte Instinkt, sondern die bewußte Überlegung läßt ihn so oder so entscheiden und sich für dies oder jenes entschließen.94
Die Fähigkeiten, Naturvorgänge objektiv zu beobachten, kausale Verbindungen zwischen Ereignissen herzustellen, logische Schlüsse zu ziehen und sich zweckrational zu verhalten, zeichneten den Feuerlandindianer ebenso aus wie den „Zivilisierten“. Ohne diese Fähigkeiten hätte er es nie geschafft, sich in dieser unwirtlichen, niederschlagsreichen Gegend, dessen Temperatur im Jahresmittel bei 5-6° liege, so hervorragend anzupassen. 93 Zit. nach KOPPERS, Der Urmensch und sein Weltbild, S. 211-212. Vgl. auch: „Ich bin nicht wie die alten Frauen unseres Volkes. Diese sangen und sprachen sehr gut und schön, viel schöner und besser als wir es heute tun. Und alle diese schönen Worte sind uns verlorengegangen, uns, die wir jetzt englisch und spanisch zu sprechen so vielfach gezwungen sind. So vergessen wir unsere schönen alten Yamana-Worte. Unsere Zunge hat nicht mehr die alte Sicherheit. Oh, wie arm sind wir daran! Und siehe, wie leiden wir in dieser Welt! Wie wenige sind wir! Aber in der anderen Welt, dort, wo die Europäer sind, da sind viele. Wenn da auch mal einer stirbt, so ist das nicht so schlimm, da bleiben dann immer noch viele übrig. Aber bei uns ist es anders. Stirbt einer von uns, so gilt das mehr als tausend bei den Europäern, die so zahlreich sind. Wie schlimm sind mein alter blinder Vater und meine Mutter daran! An dem Tage, wo sie sterben, werde ich in den Wald laufen, werde mich verlieren, werde weder essen noch trinken, werde zugrunde gehen aus Betrübnis. Wenn ich [ein; B. W.] Mann wäre, ginge ich dann hinaus, um alle Tiere draußen totzuschlagen und brächte nichts davon nach Hause. Alles würde ich zerschlagen. Würde es ebenso machen wie der da oben, der auch alles vernichtet und zerschlägt, als wollte er es essen. Dann könnte er ja auch einmal zuschauen, wie ihm das gefiele. Dann freilich hätte er schließlich auch wirklich Grund, mich zu strafen.“ Ebenda, S. 212-213. 94 GUSINDE, Die Feuerland-Indianer. Band 1, S. 1085-1086.
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Im Bereich der Religionsethnologie, einem zentralen Forschungsgebiet der Wiener Schule, sollten Martin Gusinde und Wilhelm Koppers ihrem Lehrer Wilhelm Schmidt die erhofften Beweise von der Existenz eines Höchsten Wesens liefern, das von den Feuerlandindianern verehrt und angebetet wurde. Begeistert wird Schmidt in der konservativen Wiener Tageszeitung „Reichspost“ in den frühen 1920er Jahren aus den Briefen seiner Schüler zitieren, die ihm von ihrer Entdeckung eines Gottes bei den Feuerlandindianern berichteten, der in seinen Eigenschaften und seiner Allmacht dem Gott der Christen gleiche. Dies sei ein wahrlich sensationeller religionsethnologischer „Fund“, hatten doch andere Forschungsreisende, darunter „auch die dortigen protestantischen Missionare“, bis dahin behauptet, die Feuerländer hätten keine Vorstellung und nicht einmal einen Namen für Gott.95 Nachdem in Gesprächen mit den Feuerlandindianern wiederholt ein übernatürliches Wesen namens „Watanineuwa“ erwähnt worden war, wollten Koppers und Gusinde mehr über dieses in Erfahrung bringen. Doch die Feuerlandindianer zeigten in dieser, ihnen scheinbar bedeutsamen Angelegenheit wenig Bereitschaft, Auskunft zu geben. Eines Tages jedoch erklärte eine Frau, welche die beiden Missionare über „Watanineuwa“ befragt hatten: „Like God, like Christian God“.96 Doch mehr war auch von ihr nicht zu erfahren. „Wir fühlten aber deutlich, da steckt mehr, und wir müssen dahinterkommen.“97 Durch Vermittlung einer YamanaIndianerin, die mit einem Europäer verheiratet war, sollte es den beiden schließlich gelingen, das Geheimnis um „Watanineuwa“ zu lüften und von zwei Frauen über die Religion dieser „Urkultur“ unterrichtet zu werden. Nun fingen sie langsam an und setzten uns mehr und mehr in Erstaunen mit dem, was allmählich ans Licht trat. So klar und bestimmt den Glauben an ein höchstes Wesen vorzufinden, hatten wir wirklich nicht erwartet. Und welche Rolle es spielt im täglichen Leben dieser Primitivsten, das ist wirklich frappant. Freilich möchte ich bemerken, daß die relativ hohe Moralität dieser Leute, wie sie im tagtäglichen Verkehr einem bald entgegentritt, mich schon auf den Gedanken gebracht hatte: Ohne Gottesidee ist diese stramme ethische Haltung kaum denkbar, wo steckt nur die Geschichte?98
Die Frauen teilten den beiden Missionaren die unterschiedlichen Bezeichnungen für das Höchste Wesen bei den Yamana mit. Gemeinhin werde dieses als „mein Vater“ bezeichnet, zuweilen auch als „der Starke“, „der Harte“, „der Fürchterliche“ und „der Allmächtige“.99 Zudem konnten die 95 96 97 98 99
SCHMIDT, Auf den Spuren der Urweltkulturen (I.). Koppers zit. nach Wilhelm SCHMIDT, Auf den Spuren der Urweltkultur II., in: Reichspost (Wien), Samstag, 24. Juni 1922, Nr. 171. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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Missionare zahlreiche Redeweisen und Formeln aufzeichnen, die sich unmittelbar auf das „Höchste Wesen“ beziehen und seine zentrale Bedeutung im täglichen Leben der Feuerlandindianer erhellen. Schon die wenigen bislang erhaltenen Informationen, so Koppers in seinem Brief an Schmidt, zeigten, daß das Volk der Feuerländer, „das seit Darwin in so vielen Büchern als sprach- und religionslos, als eine menschenfressende Bande figuriert“, einen „relativ klaren und lebendigen“ Glauben an ein „Höchstes Wesen“ besitze.100 Am Rande bemerkte Koppers in seinem Brief noch, der Abscheu gegen Menschenfleisch ist dem Volke so tief eingewurzelt, daß es Tiere (wie Füchse, Ratten, Hunde), die im Verdachte stehen, gelegentlich Menschenfleisch nicht zu verschmähen, niemals isst. Als Grund der Totenverbrennung, die hier früher allgemein war, wird immer wieder nur angegeben: damit kein Tier den Leichnam fresse und schände.101
Im Ursprung der Gottesidee (1912/1926-1955) faßte Pater Wilhelm Schmidt, der selbst nie Feldforschungen durchgeführt hatte, die zentralen Ergebnisse der religionsethnologischen Studien seiner Schüler unter den Feuerlandindianern zusammen. Das „Höchste Wesen“, das entwicklungsgeschichtlich „vor allen Formen des Zaubers, des Geisterglaubens, des Totemismus“ liege, sei bei den Feuerlandindianern, ebenso wie bei den „ältesten nordamerikanischen Indianern“, mit den „hohen Gaben der größten Macht, des größten Wissens, der größten Güte und ähnlichen Gaben ausgestattet“.102 Das „Höchste Wesen“ sei, obgleich es als „Himmelswesen“ verehrt werde, von allen naturmythologischen Vorstellungen unberührt und frei von jeglicher Beziehung zu Blitz und Donner. Weder habe es Weib, noch Kinder, noch Verwandte. Bei den Feuerlandindianern werde das „Höchste Wesen“ ferner als absoluter Herrscher „über Leben und Tod der Menschen“ betrachtet. Er läßt sie sterben, wann es ihm gefällt; und kurzes Leben ist eine besondere Strafe, wie langes Leben eine der wertvollsten Belohnungen ist, die er verleiht. […] Auch kein so mächtiger Zauberer vermag einen Menschen zu retten, wenn das Höchste Wesen den Tod über ihn verhängt hat, noch ihm am Leben beikommen, wenn dieses ihn schützt.103
Das „Höchste Wesen“ nehme im Leben der Feuerlandindianer einen zentralen Stellenwert ein, es werde angebetet und ihm zu Ehren werden feier-
100 Ebenda. 101 Ebenda. 102 Wilhelm SCHMIDT, Der Ursprung der Gottesidee: Eine historischkritische und positive Studie. II. Teil: Die Religionen der Urvölker. II. Band: Die Religionen der Urvölker Amerikas. Münster i. W.: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1929, S. 1009. 103 Ebenda, S. 1011.
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liche Zeremonien veranstaltet. Ferner finde sich, so Schmidt, bei den Feuerlandindianern der Glaube an die nur dem Menschen eigene „Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele“, die sich nach dem Tod zum Himmel, dem Wohnsitz des „Höchsten Wesens“, erhebe.104 Das „Höchste Wesen“ der Feuerlandindianer erscheint bei Schmidt tatsächlich wie „God, like Christian God.“ Besondere Aufmerksamkeit widmeten Koppers und Gusinde der Tugendlehre der ehemals als amoralisch porträtierten Feuerlandindianer. Gemeinsam durften sie auch an der Jugendweihe der Feuerlandindianer teilnehmen, wodurch sie offiziell zu „Stammesmitgliedern“ wurden. Eines der populärwissenschaftlichen Bücher von Martin Gusinde trägt übrigens bezeichnenderweise jenen den Stolz des Feldforschers spiegelnden Untertitel „Vom Forscher zum Stammesmitglied“.105 Die Jugendweihe ist die wichtigste formale sozial-pädagogische Institution, ein „systematischer Erziehungskurs“ für Jungen und Mädchen; allerdings bedeute die geschlechtliche Gleichberechtigung bei den Feuerlandindianern, wie Koppers anmerkt, „keineswegs eine restlose Koedukation“.106 Im Rahmen der Jugendweihe vermitteln ältere Männer und Frauen den heranwachsenden „Stammensmitgliedern“ praktische Fertigkeiten, lehren sie konkrete Normen des Sozialverhaltens, unterrichten sie in Religion und Mythologie und geben ihnen ihre Erfahrungen und Weisheiten auf den zu beschreitenden Lebensweg mit: Um den Geist vorzubereiten und für die Aufnahme ernster Belehrungen und Ermahnungen empfänglich zu machen, gilt für die Kandidaten während der oft monatelang währenden Veranstaltungen ständig strenges Stillschweigen; Nahrung und Schlaf werden stark eingeschränkt; in der Hütte und selbst beim Schlafe müssen sie regungslos in Hockerstellung verharren; schließlich während einiger Stunden am Tage praktischen Übungen im Handhaben der Waffen oder in Erledigung sonstiger Arbeiten unter Anleitung erfahrener Männer bzw. Frauen sich widmen. Gegen Abend versammelt ein ehrwürdiger Alter die Kandidaten um sich und übermittelt ihnen mit eindringlichen Worten die erprobten Grundsätze für ihr späteres, selbständiges Leben. Mit Nachdruck werden sie hingewiesen auf Arbeitsamkeit und Fleiß, gute Ausnützung des Tages und zeitiges Aufstehen am Morgen, auf uneingeschränkten Altruismus und unbedingte Hilfeleistung jedem Stammesmitglied gegenüber; auf Ehrfurcht vor den eigenen Eltern und Verwandten nicht weniger wie vor älteren Personen im allgemeinen; auf das Ungeziemende, als jüngere Leute in deren Reden sich einzumischen oder gebrechliche Personen ihrer Körperdefekte wegen zu verlachen. Man ermahnt sie zur Verträglichkeit und zum Vermeiden von Feindseligkeiten; zur Treue im späteren ehelichen Stande und zu der den Kindern notwendig zu bietenden Erziehung nach dem Brauch der Vorfahren; in allem und jedem zur pünktlichen Be-
104 Ebenda, S. 1028. 105 Vgl. GUSINDE, Urmenschen im Feuerland: Vom Forscher zum Stammesmitglied, Berlin: Zsolnay 1946. 106 KOPPERS, Der Urmensch und sein Weltbild, S. 191 und 194.
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achtung der alten Tradition. Solche Lehren, an Beispielen erörtert, von einem ehrfurchtgebietenden Alten in der Stille der Nacht unter respektvoller Anteilnahme aller Personen den durch Fasten und Schweigen wohlvorbereiteten Kandidaten vorgetragen, graben sich tief und unauslöschlich in die jugendliche Seele ein und werden ihr zur unverrückbaren Lebensnorm. – So treten die herangereiften Feuerländer in ihren späteren Beruf und in die selbständige Lebensführung besser vorbereitet ein als manches Europäerkind; – sonder Zweifel könnte da auch der moderne Kulturmensch noch dies und das lernen von jenen vielverkannten Primitiven auf Feuerland.107
Gemäß „der Geisteslage dieser primitiven Menschen“, so Wilhelm Koppers, erfolge der Unterricht anhand konkreter Beispiele aus dem täglichen Leben.108 Im folgenden möchte ich eine kleine Auswahl aus der Tugendlehre und der sozialen Verhaltenskunde der Feuerland-Indianer geben:109 Wenn du demnächst verheiratet bist und eine eigene Hütte hast, und dann die Leute zu dir kommen und von den Miesmuscheln nehmen, die am (offenen) Feuer liegen und braten, darfst du nicht böse sein, sondern du mußt dich darüber freuen, denn es ist doch eine Ehre für dich, wenn andere in deiner Hütte weilen und mit dir speisen. Wenn du ein Kind findest, das sich verirrt hat, dann nimmst du es auf deine Arme und bringst es den Leuten zurück, denen es gehört. Dieses mußt du auch in dem Falle tun, wenn es das Kind deines Feindes sein sollte; denn das Kind trägt keine Schuld daran, daß ihr euch nicht vertragen könnt. Und wenn dein Feind sieht, daß du ihm sein Kind zurückbringst, wird er sich sagen: nun, so ein schlechter Mensch, ist er doch nicht. Und ihr werdet euch wieder vertragen, so wie es sich gehört. Wenn du mit alten Leuten sprichst, höre aufmerksam zu, auch dann, wenn es einmal langweilig sein sollte. Denn auch du wirst vielleicht einmal alt. Da würdest du es nicht gerne sehen, wenn die jungen Leute deine Gesellschaft meiden wollten. Wenn du etwas verschenken willst, denkst du vielleicht, ich habe da eine schlechte Harpune oder einen schlechten Speer, den will ich weggeben, will damit diesem oder jenem eine Freude machen. Wenn du das tust, tust du nicht recht. Denn der Empfänger sieht ja gleich, ob das Ding etwas wert ist oder nicht. Ist es schlecht, so wirft er es beiseite und sagt, das hätte er mir überhaupt nicht zu schenken brauchen. Nein, wenn du etwas schenken willst, gib eine gute Sache her. Der Empfänger merkt das sofort, und er wird dann überall erzählen, was für ein guter Mensch du bist.
Den jungen Mädchen wird folgendes geraten: Wenn du einhergehst, so blicke nicht vorwitzig nach allen Seiten umher, sondern halte den Kopf ein wenig gesenkt und schaue vor dich. 107 GUSINDE, Das Feuerland und seine Bewohner, S. 505-506. 108 KOPPERS, Der Urmensch und sein Weltbild, S. 191 109 Ebenda, S. 191-195.
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Den jungen Männern wird für den Umgang mit verheirateten Frauen folgendes empfohlen: Wenn du von einer Frau, die du als Kind gut gekannt hast, weißt, daß sie bestimmte Fische oder Muscheln gerne ißt, so darfst du ihr, wenn du einen guten Fang gemacht hast, damit schon eine Freude machen. Aber du gibst ihr dann die guten Sachen nicht selbst, sondern du gibst sie ihrem Manne, etwa mit dem Bemerken: ‚Deine Frau ißt diese Sachen so gerne, gib sie ihr‘.
Immer wieder werden die Wiener Ethnologen versuchen, ihren Lesern anhand solcher Beispiele das tadellose Benehmen, die altruistische Gesinnung und auch die sittliche Überlegenheit der „vollmenschlichen Naturkinder“ vor Augen zu führen. Wenden wir uns abschließend noch kurz dem Wirtschaftsleben der Feuerlandindianer zu. Gusinde und Koppers widersprechen der landläufigen, schon bei den schottisch-französischen Stufentheoretikern des 18. Jahrhunderts anzutreffenden Vorstellung, daß die Menschen auf den untersten Stufen der Entwicklung ein kärgliches, von steter Sorge um den Lebensunterhalt geplagtes Dasein fristeten. Den evolutionistischen Wirtschaftsethnologen, welche Nahrungssicherheit erst als ein Ergebnis der neolithischen Revolution betrachteten, hielt Gusinde das Beispiel der in einem relativen Überfluß lebenden Feuerlandindianer entgegen. Der Tisch, so Gusinde, sei diesen „überreichlich gedeckt“. Verfehlt sei es daher, bei ihnen von einem „Kampf ums Dasein“ zu sprechen.110 Der Europäer, dem der Hausrat des Feuerländers dürftig erscheine, verkenne, daß dieser Nomade mit seinen wenigen Gerätschaften seine Bedürfnisse vollauf befriedigen könne. Sachgüter seien für den Indianer eher Ballast. Je weniger Eigentum er besitze, desto leichter falle es ihm, seine Heimat zu durchwandern. Über den wirtschaftenden Selk’nam, einem der drei „Stämme“ im Feuerland, schrieb Gusinde: Niemals wird er überlastet: denn alle Arbeit verteilt sich innerhalb der Familie auf die Schultern von Gatte und Gattin, die beide sowohl zu einer wirtschaftlichen wie auch zu einer seelischen Gemeinschaft verbunden bleiben. Der Feuerland-Indianer ist kein Sklave der Arbeit, sondern er bewegt sich frei, weil nichts ihn an Grund oder Boden kettet. Das Ringen ums Dasein bedeutet ihm weniger Kampf, als Antrieb zu erfrischender, belebender Geschäftigkeit, die ihn auch geistig rege erhält. Passender und in der Herstellung bequemer hätten sich die Selk’nam ihre Wohnung, Kleidung und Ernährungsweise nicht einrichten können, die von ihnen erdachten Waffen und Gerätschaften bieten die vollkommenste Hilfe und erfüllen restlos ihren Zweck […]. All ihre Sachgüter zeigen eine vollendete Anpassung an die Umwelt. Daraus schöpft ein jedes dieser Naturkinder sein unerschütterliches Vertrauen auf das eigene Können und gewinnt damit seine unbedingte 110 GUSINDE, Das Feuerland und seine Bewohner, S. 502.
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Sicherheit in all seinen Unternehmungen oder Bestrebungen, mögen diese auch noch so begrenzt sein. Ihm ist seine heimatliche Welt völlig untertan und er beherrscht sie gänzlich. Nichts fehlt ihm darum zu seinem Glück, weil der Ausgleich zwischen Verlangen und Erfüllung hier erreicht wurde; unzufriedenes Klagen und mürrisches Weiterschleppen der Daseinsketten, was manchem lebensüberdrüssigen Europäer aus dem Gesichte spricht, findet im frostigen Feuerlande keinen Platz. Dieser vielverkannte Sohn der Wildnis freut sich vollauf seines Daseins, weil er, es beherrschend, dessen auch froh wird. Sein ganzes geistiges und körperliches Können vermag er an der belebten und unbelebten Umwelt zu erproben: Immer triumphiert er über sie!111
Abschließend sei noch bemerkt, daß sich rund vierzig Jahre nach den Feuerlandforschungen der österreichischen Missionare der amerikanische Kulturanthropologe Marshall Sahlins im Rahmen seiner berühmten Überlegungen zur primitive affluent society und seiner Kritik an der kulturevolutionistischen Wirtschaftstheorie auch auf deren Ergebnisse beziehen sollte. Und, wie Gusinde, wird auch Sahlins seine Erkenntnisse über den „wirtschaftenden Urmenschen“ verwenden und verwerten, um die vermeintlichen Auswüchse des Kapitalismus zu geißeln.112
5. Über „Urmenschen“ und „Neue Menschen“: Wissenssoziologische Überlegungen zur Gesellschaftskritik der Wiener Ethnologen i n d e r Zw i s c h e n k r i e g s z e i t In der Zwischenkriegszeit verfaßten Pater Wilhelm Schmidt und seine Schüler eine Reihe von Aufsätzen für konservative Tageszeitungen und Wochenschriften – insbesondere für die „Reichspost“, das „Neue Reich“, die „Schönere Zukunft“ –, in denen sie zu unterschiedlichsten gesellschafts- und kulturpolitischen Fragen Stellung bezogen: Die Themenpalette reichte hierbei von Fragen der politischen Neuordnung nach dem Krieg, Fragen der seelsorglichen Betreuung in den Großstädten, über Fragen der Pressefreiheit, der Beziehung zwischen Kirche und Proletariat, der Beziehung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, über Fragen der Steuer-, Wohnbau- und Schulpolitik, der staatlichen Familienfürsorge, ferner über Fragen der „praktischen Rassenpflege“ bis hin schließlich zu den tiefschürfenden Fragen nach der Bedeutung des Kulturerbes Österreichs sowie nach dem „Werden, Entwerden und Neuwerden des Abendlandes.“ Ziel dieses letzten, wissenssoziologischen Teils ist es zu zeigen, wie 111 GUSINDE, Die Feuerland-Indianer. Band 1, S. 306. 112 Vgl. Marshall SAHLINS, Notes on the Original Affluent Society, in: Richard B. LEE, Irven DeVORE (Hg.), Man The Hunter, Chicago: Aldine Publishing Company 1968, S. 85-89; ders., Stone Age Economics. Hawthorne, N. Y.: de Gruyter 1972.
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Schmidt und seine Schüler in der Zwischenkriegszeit bestrebt waren, ihre ethnologischen Erkenntnisse im Rahmen dieser gesellschaftskritischen, zeitdiagnostischen und tagespolitischen Überlegungen zu „verwerten“. Um diese Haltung zu den Ereignissen der unmittelbaren Gegenwart zu verstehen, scheint es notwendig, in einem ersten Abschnitt dieses Kapitels einige knappe Bemerkungen zur Schmidtschen Interpretation der Weltgeschichte der letzten zwei Jahrtausende im allgemeinen und zur Bedeutung des untergegangenen Vielvölkerstaates im besonderen anzustellen. Im zweiten Abschnitt soll das von den Wiener Ethnologen gezeichnete, auch der Kritik an der eigenen Gesellschaft dienende Bild vom „Urmenschen“ aus dem fernen Feuerland in einen wissenssoziologischen Kontext der geistigen Strömungen des „Roten Wien“ der 1920er Jahre eingebettet werden. Das Ende der Republik, der gleichzeitige „Fall“ des „Roten Wien“ und das Aufkommen des christlich-sozialen Ständestaates sollten für die Wiener Ethnologen einen bedeutenden Einschnitt markieren. Da ich im folgenden die Haltung der Wiener Schule zum Ständestaat nicht erörtern werde, sei nur bemerkt, daß Schmidt in dieser Zeit als einer der führenden Intellektuellen angesehen wurde und als erster Rektor für die geplante katholische Universität in Salzburg vorgesehen war, deren Eröffnung durch den Nationalsozialismus verhindert wurde.
5.1 Zur „welthistorischen“ Mission des Südostreiches, zur „Barbarei“ des Islams und zum Ende des Ersten Weltkrieges Schmidt war ein glühender Vertreter der österreichischen Gesamtstaatsidee. Die „welthistorische Mission“ der Habsburgermonarchie – und Schmidt dachte wahrlich in universalgeschichtlichen Zusammenhängen – lag seiner Ansicht nach darin, eine Brücke zwischen Okzident und Orient zu schlagen und somit den Weg dafür zu ebnen, daß die christliche Kultur in den Osten getragen werden könnte. Diese Verbindung zwischen Europa und Asien, so der Diffusionstheoretiker Schmidt, habe bereits einige Jahrhunderte vor und nach Christi Geburt bestanden, zu einer Zeit, in der „das ganze Kulturgebiet der Alten Welt ein ununterbrochenes Ganzes“ gebildet habe: Kulturwellen, die an den Gestaden des Atlantischen Ozeans im äußersten Westen ansetzten, konnten in weiten Schlägen die ganze breite Zone durcheilen, in den großen Kulturzentren sich heben und steigern, um dann wenn auch leise, so doch schließlich an den Küsten des Stillen und Indischen Ozeans im äußersten Osten auszuklingen.113
113 AUSTRIACUS OBSERVATOR [= Wilhelm Schmidt], Germanentum, Slaventum, Orientvölker und die Balkanereignisse, S. 11.
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Mit der Ausbreitung des Islams seit dem siebten Jahrhundert sei diese fruchtbare alte Kulturbrücke jedoch zerschlagen worden. Wie ein Keil habe sich der Islam zwischen Europa und Ostasien geschoben, so daß „Ländermassen voll eisig starrender Barbarei“ sich zwischen den beiden erstreckten.114 Für Schmidt war der Islam, dessen Religion einen blinden Fatalismus, Polygamie und Sklaverei sanktionierte, der Inbegriff einer kulturfeindlichen Macht. Insbesondere mit dem zu Beginn des ersten Jahrtausends einsetzenden Siegeszug des „islamitischen Türkentums“ sei eine „kulturelle Eiszeit, eine alles höhere Kulturleben ertötende Vergletscherung“ über all jene Gebiete hereingebrochen, die von ihm unterworfen wurden. „Nie und nirgends in den mehr als tausend Jahren, die er im Licht der Geschichte steht, hat der turkotartarische Islam bis jetzt auch nur die Höhe einer mäßigen Mittelkultur erreicht.“115 Der Islam habe der Kultur Mesopotamiens und bgyptens den Todesstoß versetzt, durch die Eroberung Konstantinopels und Griechenlands auch die griechische Kultur vernichtet und den Verfall des einst so reichen Völkerlebens an den Ufern des Mittelmeeres herbeigeführt. Nach der Unterwerfung Konstantinopels habe der Islam begonnen, seinen ländergierigen Blick nach Europa zu wenden und zog, nachdem er die christlichen Balkanstaaten eroberte hatte, bis ins „Herz Europas, vor die Mauern Wiens“.116 Erst wenn man diese weltgeschichtlichen Zusammenhänge bedenke, könne man, so Schmidt, die heldenhafte Verteidigung Wiens angemessen verstehen: Ein ewiger Ruhm, bedeutsam für die ganze Menschheitsgeschichte, für die Entwicklung der Gesamtkultur der Menschheit, kränzt die glorreichen Taten, die dort verrichtet wurden. Wäre Wien damals gefallen, so bestand die äußerste Gefahr, daß ganz Europa unter die Herrschaft des turkotartarischen Islams geraten wäre. Dann würde das verwüstende Nomadentum dieser Horden nicht nur die beiden Kulturgebiete des Ostens und des Westens voneinander geschieden haben, sondern es hätte das westliche Kulturgebiet der gleichen kulturellen Erstarrung überantwortet, in welche es die alten Kulturmittelpunkte der Welt, Mesopotamien und bgypten schon versetzt hatte. Mit dem Erlöschen des Kulturlebens im Westen der Alten Welt wäre natürlich auch die Möglichkeit abgeschnitten gewesen, eine frische Kulturblüte in die damals entdeckte Neue Welt hinüber zu verpflanzen. Und kein Zweifel: bei solch entsetzlicher Übermacht barbarischer Unkultur würden auch die Kulturgebiete Ostasiens über kurz oder lang ihrem blindgierigen Eroberungsdrange erlegen sein. Damit wäre dann das höhere Kulturerleben der ganzen Welt zum Stillstand des Todes gebracht worden, der Erdplanet würde in kulturellem Tode durch den Weltenraum gerollt sein, ein frühes Vorbild der physischen Erstarrung, der er nach dem ehernen Zwang des bquivalenzgesetzes anheimfallen muß.117
114 115 116 117
Ebenda, S. 15-16. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 17-18.
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Glücklicherweise jedoch habe die Geschichte einen anderen Gang genommen. Vor den Toren Wiens „lagerte der turkotartarische Kulturgletscher seine letzten Endmoränen ab“, dessen sichtbarsten Ausdruck die zahllosen zerstörten und verwüsteten Dörfer und Siedlungen bildeten. „Vor der Glut der flammenden Begeisterung, die ihm vor Wien entgegenschlug, begann er unaufhaltsam zurückzuschmelzen.“118 Und in diesem welthistorisch so bedeutsamen Befreiungsschlag hatten, so Schmidt, Deutsche und Slawen Seite an Seite gekämpft, verbunden durch die „Begeisterung des einen christlichen Glaubens“. Brüderlich vereint schlugen sie den „Erbfeind“, drängten ihn dann immer weiter zurück und konnten die „alte Völkerstraße der Donau“ wieder in ihren Besitz bringen. Wenn es nur so weitergegangen wäre! Wenn Österreich seinen ureigensten Beruf, eine Austria, ein Südösterreich zu sein, nur fester im Auge behalten hätte! Aber statt dem lebenbringenden Morgen entgegenzuschauen, blieb dann sein Auge fast eineinhalb Jahrhunderte lang auf den Abend gebannt, wo es doch nicht hindern konnte, daß seine Sonne unterging!119
Gerade der „slavischen Völkerfamilie“, die nach Schmidt durch den zivilisatorischen Einfluß der katholischen Bevölkerung Mitteleuropas zur Blüte gelangt war, sollte im Rahmen der „welthistorischen Mission“ des Habsburgerreiches eine zentrale Bedeutung zukommen, bildete sie doch aufgrund ihrer geographischen Lage das natürliche Bindeglied zu Asien. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges sollte Schmidts Traum, der Vielvölkerstaat werde als Angelpunkt für eine Wiedervereinigung der Alten Welt dienen, ein jähes Ende bereiten. Tief verbittert über die Friedensverträge prangert er die Politik der Siegerstaaten an: Wie dann die Feinde im Bewußtsein ihrer unbegrenzten Siegermacht die Ketten ihrer Friedensbedingungen zu schmieden anfingen, eine immer härter und schwerer als die andere, mit denen sie unseren Handel und Wandel, unsere Arbeit und unsere Ruh, unser nationales und staatliches Dasein knebeln, erdrosseln wollten, da begann ein zweiter Absturz, aus allen den Hoffnungen heraus, die man uns gemacht hatte, tief in den Abgrund selbst, in die dunkelsten Tiefen der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung hinein, immer tiefer, bis dorthin, wo die Unmöglichkeit tiefer zu sinken, die äußerste Schranke bildete – bis zur Ehrlosigkeit. Tigerische Rachewollust, kaltberechnende Händlerbosheit und eine unendlich widerliche pharisäische Doppelzüngigkeit zwangen einem hilflos Gefesselten die Feder in die Hand, um ein Urteil zu unterzeichnen über eigene Verbrechen und schimpfliche Strafen, das von einem Gericht gefällt war, in dem diese selben haßerfüllten Feinde, und nur sie, Ankläger, Zeugen und Richter in einer Person waren.120
118 Ebenda, S. 18. 119 Ebenda, S. 19. 120 Wilhelm SCHMIDT, Der deutschen Seele Not und Heil, Paderborn: Schöningh 1920, S. 3-4.
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Mit scharfen Worten kritisiert Schmidt den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, diesen „Vertreter einer Kultur von vorgestern“. Ihm gab Schmidt die Schuld, daß der auf dem Boden des ehrwürdigen Habsburgerreiches organisch gewachsene Völkerbund, der für Gleichgewicht und „friedliche Kolonisationsarbeit“ im Osten und Südosten Europas gesorgt hatte, zertrümmert und an seine Stelle ein neuer Völkerbund von „amerikanisch pomphafteren Dimensionen“ gesetzt worden sei. Freilich, so Schmidt, sei dieses unhistorische Unterfangen des amerikanischen Präsidenten von Anfang an zum kläglichen Scheitern verurteilt gewesen; die „Unfähigkeit zum Bauen“ offenbarte sich, was blieb „war ein grauenhaftes Chaos“. Die früheren Gegensätze seien nicht beseitigt, sondern zur höchsten Erbitterung gesteigert worden. Und Schmidt hoffte auf eine Rückkehr der Habsburger, auf ein Ende der „kaiserlosen, […] wahrhaft schreckliche[n] Zeit“ und auf eine Wiederaufnahme des doch nicht „völlig vernichtete[n], sondern nur unterbrochene[n] Werk[es] des Aufbaus“ des alten Völkerbundes.121 In den Jahren nach dem Krieg hegte Schmidt große Zweifel, ob Österreich in seiner Rumpfform überhaupt existieren könnte. Von zwei Seiten drohte Gefahr, von West und Ost. Der Westen war nach Schmidt das Reich des Liberalismus, der Osten das des Sozialismus. Sowohl der Liberalismus als auch der Sozialismus waren ihm zutiefst zuwider und doch scheint seine Angst, Österreich könnte von dem Ungeheuer im Osten aufgesogen werden und sich in einen atheistisch-barbarischen Staat nach russischem Muster verwandeln, größer gewesen zu sein als seine Angst, die österreichische Eigenart könnte durch den alles nivellierenden Westen eingeebnet werden und in der amerikanischen „Oberflächenkultur“ untergehen. Waren für ihn die österreichischen Sozialdemokraten die Pioniere des gottlosen Bolschewismus, so waren die kapitalistischen Unternehmer die Pioniere der vergnügungssüchtigen allzu Neuen Welt. Schmidt verwünschte das drakonische Steuerprogramm der Wiener Sozialdemokraten, das darauf abzielte, die Unterschiede im Leistungsvermögen und in der Begabung der einzelnen Menschen zu leugnen. Gleichzeitig geißelte er aber auch die Auswüchse des Kapitalismus, forderte eine redemptio proletariorum, eine Erlösung des Proletariats, Schutzbestimmungen, eine Beschränkung der Arbeitszeit und der Frauenarbeit, eine Schließung von Großbetrieben, eine Neugründung von Klein- und Mittelbetrieben und eine Stärkung berufsständischer Vertretungen. Schmidt sollte sogar die Beschneidung der politischen Rechte jener Unternehmer erwägen, welche die Arbeiter bloß ausbeuteten und ihr Kapital nicht in den Dienst des Gemeinwohls stellten. War ihm der sozialistische Staat zu mächtig, so war ihm der kapitalistische zu ohnmächtig. Mit scharfen Worten kritisierte Schmidt auch die unvernünftige Pres121 Wilhelm SCHMIDT, Staatliche Zukunftsnotwendigkeiten Deutschösterreichs, in: Das Neue Reich 2 (1919/1920), S. 709-710, hier S. 710.
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sefreiheit, „die uns die Republik gebracht hat“. Er klagte über die seines Erachtens schmähliche sozialistische Presse, eine „Presse ärgster und schmutzigster Art“, die „sich breit machen und den guten Ruf Wiens in den Kot zerren“ konnte.122 Der gute Ruf von Wien ist wahrlich schon arg genug durch diese Dinge geschändet worden und ein Staat, der so sorgfältig die Bazillen ansteckender körperlicher Krankheiten bewacht, kann unmöglich an den stinkenden Pestbeulen dieser niedrigsten Art von Presse vorübergehen, die so viele Keime verderblichsten seelischen und körperlichen Ruins in jungen Seelen verbreiten.123
Da, so Schmidt, „sollte nun wirklich die Gemütlichkeit aufhören“.124 Aber auch an der liberalen Presse journalistischer Krämerseelen, die dem krassesten Materialismus huldigten, sollte Schmidt kein gutes Haar lassen und sich dem Urteil jener anschließen, die meinten, die „Neue Freie Presse“ sei „nichts anderes als eine Umschreibung des Kurszettels“, der zuweilen mit ein wenig Kunst und Literatur garniert und manchmal gar „mit Weltanschauung verbrämt“ werde.125 Ehe ich mich nun der unmittelbaren Kritik der Wiener Ethnologen am „Roten Wien“ und deren Argumenten zuwende, sei noch bemerkt, daß Pater Wilhelm Schmidt in den 1930er Jahren auch die „neuheidnischen“ Tendenzen des Nationalsozialismus wiederholt anprangern sollte. So tadelte er etwa Teile der katholischen Jugend Österreichs, daß sie ihre Unterstützung der christlich-sozialen Partei entzogen hatten und in das Lager der Nationalsozialisten gewechselt waren: Wenn jetzt die katholische Jugend auf eigenem Boden kraftvoll sich sammelt, so wäre es schon ein Stück Felonie und Selbstverachtung, wenn einzelne katholische Jugendliche voll Misstrauen, voll Misstrauen auf die eigene Kraft, einem fremden Heerhaufen sich anschließen würden, in dem sie doch nur Mitläufer, nein Nachläufer wären. Ganz utopistisch ist doch die Hoffnung, daß diese Nachläufer imstande wären, so viel Einfluß zu gewinnen, daß sie die Mängel, die dem Nationalsozialismus, vom österreichischen und katholischen Standpunkt betrachtet, anhaften, verschwinden lassen könnten; die Intoleranz und die straffe einheitliche Leitung jener Partei schließt das völlig aus. Gewiß ist manches beim Nationalsozialismus anzuerkennen, und besonders die Kraft und die Entschlossenheit seines Willens.126
In vielen wichtigen Fragen jedoch, so Schmidt, würde der Nationalsozia122 Wilhelm SCHMIDT, Zur Pressefrage, in: Das Neue Reich 7 (1924/1925), S. 997-999, hier S. 997. 123 Ebenda, S. 998. 124 Ebenda, S. 997. 125 Ebenda, S. 998-999. 126 Wilhelm SCHMIDT, Unaufhaltsam!, in: Reichspost, Wien, Sonntag, 29. Mai 1932, Nr. 149.
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lismus von der katholischen Lehre, die doch die alleinige Richtschnur moralischen Handelns bilden sollte, abweichen und einem oberflächlichen, verwässerten, neuheidnischen Christentum Vorschub leisten. Zudem rede der Nationalsozialismus einem „übertriebenen rassenhaften Nationalismus“ das Wort und verkenne, daß „das deutsche Volk aus mehreren verschiedenen Rassen zu einer Volkseinheit zusammengewachsen sei“. Niemand werde wohl gegen seine folgende, „überaus einfache Definition des Hakenkreuzes etwas einwenden können: das Hakenkreuz ist ein Kreuz, das seine Haken hat“. Es sei ein „geknicktes, gebrochenes Kreuz“, das vom hohen Ansehen des geraden, schlichten und christlichen Kreuzes „profitieren“ wolle.127
5.2 Zur Kritik der Wiener Ethnologen am „Roten Wien“ und an seinen „Neuen Menschen“ Schon bald nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches mußten die Führer der österreichischen Sozialdemokratie erkennen, daß sich ihre Hoffnungen auf die Entstehung eines großdeutschen Reiches des Sozialismus, das als Ausgangspunkt einer proletarischen Weltrevolution hätte fungieren können, – zumindest in naher Zukunft – nicht verwirklichen ließen. Und auch in dem weltpolitisch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen und von der austromarxistischen Führungsriege nicht ohne eine gewisse Skepsis beäugten „Rumpf- und Kleinstaat“ Österreich schien ein baldiges Ende der kapitalistischen Klassengesellschaft unwahrscheinlich, bildete doch hier das bürgerlich-konservative Lager die Mehrheit. Der Bourgeoisie, so Otto Bauer in einem historischen Rückblick auf die Gründungsjahre der Republik, war es in den Nachkriegsjahren gelungen, die Sozialdemokraten von der Macht zu verdrängen und die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die durch kapitalistische Methoden herbeigeführte „Stabilisierung“ führte zur Massenarbeitslosigkeit und zu einem Versiegen des „revolutionäre[n] Schwung[s]“.128 Fortan, so Bauer verbittert und hämisch, sei die Staatsgewalt in Österreich von „Kleinbürger[n] der alpenländischen Provinzstädte und […] Honoratioren der Dörfer“ ausgeübt worden. Diese repräsentierten freilich „[n]icht eine gebildete, weltläufige, herrschgewohnte Bourgeoisie, sondern ein unwissendes, provinzielles, klerikales, vom Ressentiment gegen alles Großstädtische, alles Neue, alles Europäische erfülltes Spießbürgertum“.129 Den Sozialdemokraten, die nach dem Bruch der Koalition im Jahre 1920 bis zum Ende der parlamentarischen bra in Opposition verharrten, blieb jedoch ein mächtiges Bollwerk, eine Festung, eine „rote Insel im
127 Ebenda. 128 Otto BAUER, Die Bourgeois-Republik in Oesterreich, in: Der Kampf: Sozialdemokratische Monatsschrift 23 (1930), S. 193-202, hier S. 195-196. 129 Vgl. ebenda, S. 197.
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schwarzen Meer“, auf die sie sich zurückziehen konnten, um ihre Kräfte zu sammeln und zum Gegenschlag gegen den Klassenfeind auszuholen: Wien – die erste sozialdemokratisch verwaltete Millionenstadt der Welt. „Rot flammt es am Horizont und kündigt den herrlichen, unwiderruflichen Sieg des Sozialismus an“, jubelte die Arbeiter-Zeitung am 5. Mai 1919, am Tag nach den ersten in der Republik abgehaltenen Wiener Gemeinderatswahlen, bei welchen die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit erringen konnten.130 Von 1919 bis zu den Ereignissen vom 12. Februar 1934, jenem Tag, an dem auch der langjährige Wiener Bürgermeister Karl Seitz in seinem Amtszimmer verhaftet wurde, bildete die Bundeshauptstadt das unumstrittene Machtzentrum der österreichischen Sozialdemokratie. In dieser Zeit wurde das „Rote Wien“ zu einem der wohl bekanntesten geflügelten Worte in der von Polemik und Unversöhnlichkeit gekennzeichneten politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung der Ersten Republik.131 Die Stadt Wien, nach der Trennung von Niederösterreich im Jahre 1922 als eigenständiges Bundesland konstituiert, bot – wie unter anderem Norbert Leser zeigte – den Sozialdemokraten eine Gelegenheit, ihre politi130 Zit. nach Alfred G. FREI, Rotes Wien: Austromarxismus und Arbeiterkultur: Sozialdemokratische Wohnungs- und Kommunalpolitik 1919-1934. Berlin: DVK-Verlag 1984, S. 52. 131 Neben dem „Roten Wien“ sprachen die Sozialdemokraten auch von „NeuWien“, um es vom „Alt-Wien“ der Monarchie abzugrenzen. Aus der Fülle der Literatur zum „Roten Wien“, seiner Realität und seinem Mythos, sei hier – neben der bereits erwähnten Arbeit von Frei – auf einige weitere Werke hingewiesen. Helmut GRUBER, Red Vienna: Experiment in Working-Class Culture 1919-1934, New York-Oxford: Oxford University Press 1991; Wolfgang HÖSL, Gottfried PIRHOFER (Hg.), Wohnen in Wien 1848-1938: Studien zur Konstitution des Massenwohnens, Wien: Franz Deuticke 1988; Gerhard KAPNER, Der Wiener kommunale Wohnbau: Urteile der Zwischen- und Nachkriegszeit, in: Franz KADRNOSKA (Hg.), Aufbruch und Untergang: Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Wien-München-Zürich: Europaverlag 1981, S. 135-165; Helene MAIMANN (Hg.), Ausstellungskatalog. Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918-1934; dies. (Hg.), Die ersten 100 Jahre: Österreichische Sozialdemokratie 1888-1988. Wien-München: Verlag Christian Brandstätter 1988; Walter ÖHLINGER (Hg.), Das Rote Wien 1918-1934, Historisches Museum der Stadt Wien, 17.6.-5.9.1993; Susanne REPPÉ, Der Karl-Marx-Hof: Geschichte eines Gemeindebaus und seiner Bewohner, Wien: Picus Verlag 1993; Stefan RIESENFELLNER, Josef SEITER (Hg.), Der Kuckuck: Die moderne Bild-Illustrierte des Roten Wien. Mit einem Beitrag von Murray G. Hall. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1995 (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 5); Friedrich STADLER, Spätaufklärung und Sozialdemokratie in Wien 19181938: Soziologisches und Ideologisches zur Spätaufklärung in Österreich, in: Franz KADRNOSKA (Hg.), Aufbruch und Untergang, S. 441-473. Zur Ideengeschichte des Austromarxismus vgl. ferner die einschlägigen Arbeiten von Albert Fuchs, Norbert Leser, Gerald Mozetiþ sowie für die hier zur Sprache kommende Thematik insbesondere Paul M. ZULEHNER, Kirche und Austromarxismus: Eine Studie zur Problematik Kirche – Staat – Gesellschaft, Wien-Freiburg-Basel: Herder 1967.
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sche Schwäche auf Bundesebene zu kompensieren. Wien – und hierin lag die strategische Bedeutung der Hauptstadt – sollte als Laboratorium und Demonstrationsobjekt dienen, um die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen zu beweisen und das revolutionäre Bewusstsein der Menschen zu schärfen.132 Am Beispiel von Wien, so Julius Braunthal nach den Wahlen von 1923, werde die österreichische Bevölkerung erkennen, „welch gewaltige Schöpferkraft Demokratie und Sozialismus bergen. Dieses glanzvolle Wirken in der Folie des düsteren Tod und kulturellen Verfall bergenden Abbaues unter der reaktionärkapitalistischen Regierung“ werde den Sozialdemokraten bei den nächsten Wahlen zum Sieg verhelfen.133 Und noch bei den letzten freien Nationalratswahlen in der Ersten Republik im November 1930 lautete eine der Wahlkampfparolen der österreichischen Sozialdemokraten: „Vom roten Wien zum roten Österreich“.134 Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, versuchten die Sozialdemokraten in Wien bekanntlich eine alle Lebensbereiche durchdringende Gegenkultur zu schaffen und eine die bürgerliche Lebensweise konterkarierende Ersatzwelt aufzubauen.135 Hier im „Roten Wien“ sollte der Proletarier – und wohl auch der ihn erziehende Intellektuelle – schon ein klein wenig die heiß ersehnte sozialistische Zukunftsluft schnuppern können; hier im „Roten Wien“ sollte der von Max Adler geistig gezeugte „Neue Mensch“ das Licht der Welt erblicken.136 132 Vgl. Norbert LESER, Zwischen Reformismus und Bolschewismus: Der Austromarxismus als Theorie und Praxis. Wien-Frankfurt-Zürich: Europa Verlag 1968, S. 373-375; FREI, Rotes Wien, S. 66-68. 133 Zit. nach LESER, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, S. 373. 134 Vgl. FREI, Rotes Wien, S. 66. 135 Vgl. Norbert LESER, Austromarxistisches Geistes- und Kulturleben, in: Norbert LESER (Hg.), Das Geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1981 (= Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Band 1), S. 9-17, hier S. 10-12. 136 Das proletarische Erziehungsprojekt in der Ersten Republik steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der von führenden Austromarxisten geübten Kritik an einer ökonomisch-deterministischen Geschichtsauffassung marxistisch-orthodoxer Spielart und mit der von ihnen akzentuierten (relativen) Autonomie des Überbaus, insbesondere des kulturellen Faktors. So wandte sich etwa Max Adler explizit gegen die Vorstellung eines „ökonomischen Fatalismus“, der zufolge die wirtschaftliche Entwicklung ein „rühriges Heinzelmännchen“ darstellte, das „für sich allein das Umgestaltungswerk der Gesellschaft besorgen würde. […] Die Menschen dürfen nicht so gedacht werden, wie dies gerade die Materialisten getan haben und noch tun, bloß als Produkte ihrer Umstände, sondern zugleich als die Umformer und Umgestalter derselben, also, wie sie zugleich Schauspieler und Verfasser ihrer Geschichte sind. Die Erziehung fällt daher im folgerichtig gedachten Marxismus so wenig als ein durch die ökonomische Entwicklung überflüssig gemachter Faktor aus der sozialen Gesetzmäßigkeit heraus, wie die menschliche Tätigkeit überhaupt, d. h. die ethische Zielsetzung und die planmäßige Wirksamkeit.“ Vgl. Max ADLER, Neue Menschen: Gedanken über sozialistische Erziehung, Berlin: E. Laub’sche Ver-
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Massenmedial wirksam zelebrierten die Sozialdemokraten ihr „Aufbauwerk“ in der Bundeshauptstadt, ihre Errungenschaften in der Wohnbau-, Finanz-, Gesundheits-, Fürsorge- und Schulpolitik, die untrennbar mit Namen wie Karl Seitz, Julius Tandler, Hugo Breitner, Otto Glöckel und Robert Danneberg verbunden sind.137 Ein flächendeckendes, von der Stadtverwaltung organisiertes, modernes Fürsorgesystem sollte die alte, nur punktuell wirksame Wohltäterei reicher Philanthropen aus der Kaiserzeit ersetzen. „Wenn“, so eine Sozialdemokratin auf einer Parteiveranstaltung, „Christus in Wien auf die Welt gekommen wäre, hätte er nicht auf Stroh zu liegen brauchen, weil ihm das Rote Wien die Windeln gegeben hätte“.138 An die Stelle der elitären Drillschule der Monarchie, in der nach Darstellung der Sozialisten den Schülern Fragen und selbständiges Denken untersagt worden waren, sollte in Wien eine allen sozialen Schichten offen stehende, die Neugier und Initiative des Kindes fördernde und auch die Eltern einbindende „Freie Schule“ entstehen. Ihren wohl sichtbarsten Ausdruck fand die neue Politik der Sozialdemokraten jedoch in den durch die sogenannten „Breitnersteuern“ finanzierten kommunalen Wohnbauten. Der sozialistische Gemeindebau wurde zum sonnigen, lichten und luftigen Wahrzeichen vom sich fortschrittlich gerierenden „Roten Wien“.139 Die „Rote Burg“ mit ihren Gemeinschaftseinrichtungen, ihrem Kindergarten, ihrem Planschbecken, ihrer Zahnklinik und ihrer Waschküche diente den Sozialdemokraten als steinernes Zeugnis dafür, daß die bra der dunklen, feuchten, schlecht belüfteten, überfüllten, individualistischen „Zinskaserne“ der Monarchie mit ihrem hohen Mietzins, ihrem engherzigen, preistreibenden, kinderfeindlichen und kapitalistischen Hausherrn, ihrer „Bassena“, ihrer „Gangküche“, ihrem „Gangklo“ und ihren berüchtigten Bett-
lagsbuchhandlung 21926, S. 24-25. Die österreichischen Kommunisten sahen in der großen Bedeutung, welche die Austromarxisten dem kulturellen Faktor beimaßen, einen Ausdruck ihrer Ohnmacht, grundlegende politische und ökonomische Veränderungsprozesse einzuleiten. 137 Vgl. Rudolf NECK, Karl Seitz und seine Mitarbeiter, in: Walter POLLAK (Hg.), Tausend Jahre Österreich: Eine biographische Chronik. Band 3: Der Parlamentarismus und die beiden Republiken. Wien-München: Jugend und Volk 1974, S. 274-291. 138 Zit. nach FREI, Rotes Wien, S. 54. 139 „Unsere Gegner“, so Karl Renner stolz, „müssen erleben, daß ein wissenschaftlicher, ein wirtschaftlicher Kongreß nach dem anderen, der nach Wien kommt, an Lobpreisungen des bei uns Gesehenen sich nicht genugtun kann! Sie möchten unsere Stimme in der Welt überschreien, sie möchten uns am liebsten durch Gewalt stumm machen – wir aber können ihnen gegenüber uns auf die stolzen Wohn- und Wohlfahrtsbauten Wiens verlassen und das Evangelienwort auf uns variieren: Wenn wir zum Schweigen gezwungen wären, würden die Mauern für uns reden!“ Karl RENNER, Großen Entscheidungen entgegen!, in: Der Kampf: Sozialdemokratische Monatsschrift 23 (1930), S. 401-406, hier S. 403.
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gehern endgültig vorüber war.140 Während ihre bürgerlich-klerikalen Gegner den Wiener „Steuersadismus“ und „Wohnungsbolschewismus“ beklagten, pochten die Sozialdemokraten auf ein „Naturrecht auf Wohnen“, erkoren den Gürtel „zur Ringstraße des Proletariats“ und trällerten die Melodie des Arbeiterlieds „Mit uns zieht die neue Zeit!“141 Zentraler Bestandteil des „Aufbauwerks“ im „Roten Wien“ war, wie bereits angedeutet, die Schaffung eines engmaschigen, mit der politischen Partei vielfach verwobenen Netzwerkes kultureller Organisationen, in welches das Individuum von der „Wiege bis zur Bahre“ eingebunden sein sollte.142 Dieses Netzwerk umspannte Privates und Öffentliches, Profanes und Sakrales. Durch eine umfassende sozialistische Quarantäne sollte der Proletarier vor den schädlichen, alltäglichen Einflüssen des Klerus und Bürgertums bewahrt werden. Unüberhörbar war bereits die antiklerikale Spitze der sozialistischen Grußformel „Freundschaft“. Unterschiedlichste Arbeiter-Vereine wurden gegründet, um den Proletariern den richtigen Umgang mit dem eigenen Körper und der Sexualität zu lehren, sie zum Wohnen, zur Kleidung, zur Ernährung, zu Ehe- und Familienleben, zum Sport, zur Freizeitgestaltung und Bildung im Sinne des Sozialismus zu erziehen. Sozialistische Intellektuelle bemühten sich, eine eigene proletarische Fest- und Feiertagskultur zu schaffen. Man müsse, so Otto Felix Ka140 Zur Wohnungsmisere im Wien der Kaiserzeit vergleiche etwa die „Wanderungen“ von Emil Kläger durch die „Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“, die Sozialreportagen von Max Winter und die Lebenserinnerungen von Adelheid Popp. 141 Vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik von Eli Rubin, genannt Sozius, aus dem Jahre 1930: „Die asiatische Pest des Marxismus hat Österreich ergriffen. Asiatische Gehirne haben einen wüsten Götzendienst aus Menschenhaß und Gier ausgebrütet, wie aus beklemmend riechenden Höhlen dunstet Übles aus den Raubburgen des österreichischen Marxismus […]. [In Wien] türmen sich, zyklopenhaft aufgeschichtet, die Würfelkolosse der marxistischen Wohnbauten, zumeist blutigrot, dunkelrot wie frisch vergossenes Blut […]. Diese ganze Stadt ist eine einzige Festung“. Zit. nach Jan TABOR, Das Pathos des Kampfes, das Chaos des Kompromisses, das Weh des Erinnerns: Zur Baugeschichte der österreichischen Sozialdemokratie, in: Helene MAIMANN (Hg.), Die ersten 100 Jahre, S. 298-306, hier S. 298. 142 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Erinnerungen der 1907 geborenen Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda an ihre Jugendjahre in Wien: „Als ich allmählich zum Bewußtsein der sozialen Welt außerhalb des Elternhaus erwachte, stand die sozialdemokratische Bewegung in Wien auf ihrem sozialen, intellektuellen und kulturellen Höhepunkt. […] Austromarxismus war nicht nur ein Versprechen für eine bessere Zukunft, sondern eine das ganze Leben umfassende Aktivität. Von den Wohnbauten zu den ArbeiterSymphoniekonzerten, von der Schulreform zum Schilaufen, von den Kinderkolonien zum Kaninchenzüchten, tatsächlich von der Wiege bis zum Grabe hat die Bewegung das Leben von Hunderttausenden bereichert“. Marie JAHODA, Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich, in: LESER (Hg.), Das Geistige Leben Wiens, S. 216222, hier S. 216.
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nitz, „in kleinen Kindern das Gefühl wecken“, daß der erste Mai „etwas Großes, etwas Heiliges“ sei.143 Ja, selbst der Tod und die Bestattung, welche die Kirche immer schon als ihre ureigensten Bereiche betrachtet hatte, sollten in die sozialistische Weltanschauung eingegliedert werden. „Proletarisch gelebt, proletarisch gestorben und dem Kulturfortschritt entsprechend eingeäschert“, lautete das Motto des von der Kirche heftig angefeindeten Arbeiter-Feuerbestattungsvereins Die Flamme. Die tiefe Fortschrittsgläubigkeit, die ich in einem früheren Kapitel ausführlich darzulegen versucht habe, prägte die Arbeiterbewegung seit ihrem Aufkommen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die großen historischen Umwälzungen im Bereich der Ökonomie, Politik und Kultur dienten den sozialistischen Reformern als Belege, daß die Verhältnisse in der Gegenwart nicht als ewig und unveränderlich zu betrachten seien, sondern vorübergehende Erscheinungen darstellten, die typisch für eine ganz bestimmte Etappe, die kapitalistisch-bürgerliche, im großen Gang der Weltgeschichte waren. Gerade die in der Gegenwart Benachteiligten und Unzufriedenen sollten mit diesem Hinweis auf die Vergänglichkeit des Gegebenen getröstet werden. Es sei, so das Versprechen der sozialistischen Führer, gewiß, daß die bürgerliche Gesellschaft an inneren Widersprüchen zugrunde gehen und daß danach eine glücklichere Zeit beginnen werde – eine Zeit ohne Ausbeutung und Klassengegensätze. Indem die unliebsame Gegenwart somit als ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur Erlösung gedeutet wurde, wurde ihr auch etwas von ihrem Schrecken genommen; ja, das in der Gegenwart erfahrene Leid konnte gleichsam als untrügliches Zeichen der nahenden Rettung verstanden werden. Der sozialistische Reformer ist kein orakelnder, schwärmerischer Scharlatan, sondern ein nüchterner, strenger Wissenschaftler, der die grundlegenden Bewegungsgesetze der Geschichte entdeckt zu haben meint. Er weiß, was die Zukunft bringen wird, ist imstande, das Kommende mit Exaktheit zu berechnen und fordert, daß die gesellschaftlichen Reformen im Einklang mit diesen unabänderlichen, historischen Entwick143 Otto F. KANITZ, Sozialistische Gefühlsbildung (1925), in: N. N., Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung: Texte aus der Zwischenkriegszeit. Wien: Junius Verlag 1981, S. 56-65, hier S. 62.; vgl. ferner LESER, Austromarxistisches Geistes- und Kulturleben, S. 9-17, hier S. 10. Zur sozialistischen Kulturpolitik der Zwischenkriegszeit siehe auch Henriette KOTLAN-WERNER, Otto Felix Kanitz und der Schönbrunner Kreis: Die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher 1923-1934, Wien: Europaverlag 1982; Josef WEIDENHOLZER, Auf dem Weg zum ,Neuen Menschen‘: Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Wien: Europaverlag 21983. Einige kurze Texte zur sozialistischen Erziehung – unter anderem von Max Adler, Otto F. Kanitz, Anton Tesarek und David J. Bach – finden sich in der bereits erwähnten, vom Junius Verlag herausgegebenen Sammlung: Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung: Texte aus der Zwischenkriegszeit. Wien: Junius Verlag 1981. Ich danke Gerald Mozetiþ für diese Literaturhinweise.
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lungsgesetzen stehen. Sozialreform hat ihm zufolge weniger mit Ethik als mit angewandter Wissenschaft zu tun. So ist auch der austromarxistische „Neue Mensch“ keineswegs ein der Phantasie eines liebenswerten Träumers entsprungenes Hirngespinst, kein luftiger Bewohner eines sektiererischen Nirgendwo, sondern der stramme Bürger jenes zukünftigen Gemeinwesens, auf welches das welthistorische Flaggschiff mit eherner Notwendigkeit zusteuert. Der sozialistische Erzieher versucht also nicht, den Kurs der Geschichte zu ändern; er rudert nicht verzweifelt und hilflos gegen den Wind, sondern hißt ein großes Segel, damit die Menschen schneller an ihr Ziel gelangen, endlich im lang ersehnten und vorausbestimmten Hafen der Geschichte einlaufen. „Rezepte für die Garküche der Zukunft“ zu erstellen und sich dem Gang der Weltgeschichte entgegenzustemmen, gilt bekanntlich als töricht, aber mittels eines Erziehungsprogramms die historische Entwicklung in die richtige Richtung zu beschleunigen, – wie man in Österreich sagen würde – ein ,bisserl anzutauchen und nachzuhelfen‘, ist allemal erlaubt. Der sozialistische Reformer bedient sich also des Arguments der notwendigen geschichtlichen Entwicklung, um dem eigenen Wollen die Aura wissenschaftlicher Legitimität zu verleihen. Das, was man wolle, sei das, was ohnedies sein werde. Es verwundert wohl kaum, daß der „Neue Mensch“ und seine Heimat, das von den Sozialisten gefeierte „Rote Wien“, für weite Teile des konservativen Lagers in Österreich eine tiefe Brüskierung und Provokation darstellten; ja, daß dieses „Rote Wien“, wie Norbert Leser einmal treffend bemerkte, „dem österreichischen Bürgertum ein Dorn im Auge und ein Pfahl im Fleische“ war.144 Und zu den scharfen Kritikern des „Roten Wien“ und seinem Bewohner, dem „Neuen Menschen“, zählte auch die Schule um Pater Wilhelm Schmidt. Zweimal in der Geschichte, so Schmidt, habe das „katholische Wien“ das Abendland aus „schwerer Gefahr gerettet“ – das eine Mal vor den Muslimen, das andere Mal vor den Protestanten.145 Und in dieser Stunde war Wien erneut bedroht, von einem ungleich gefährlicheren Feind, von den atheistischen Sozialisten – angeführt oder besser verführt von der austromarxistischen Führungsriege. „Wehe ganz Europa“, schreibt Schmidt, wenn der rote Feind, der Wien bereits beherrscht, aus Wien ein zweites Moskau machen würde, dem er in seinem ganzen Denken und Wollen ganz nahe steht: Er getraut sich ja bereits, offen davon zu träumen, daß er in absehbarer Zeit die rote Fahne auf dem Stephansturm hissen könne. Er schreibt bereits Zukunftsromane, in denen er den Stephansdom als Zentrum seiner Irreligion erblickt. Die Notzeichen, die damals die wackeren Verteidiger von Wien, Graf Starhemberg und 144 LESER, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, S. 373. 145 Wilhelm SCHMIDT, Kirche und Proletariat: Unter besonderer Berücksichtigung Wiens – Die Pflichten des katholischen Auslandes gegenüber dem katholischen Wien, in: Schönere Zukunft 4 (1928/29), S. 861-863, hier S. 862.
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Graf Salm, dem christlichen Entsatzheer entgegenschickten, sind heutzutage noch weit mehr am Platze; denn der Feind, ein weit gefährlicherer und gottloserer Feind als damals, ist bereits in die Stadt eingedrungen und hat ihre volle legale Macht in seinen Händen. Wenn je einmal in der Geschichte Wiens, dann ist jetzt die Zeit, die Solidarität der ganzen katholischen Welt anzurufen.146
Schon vor dem Krieg habe sich diese Gefahr abgezeichnet. Die überfallsartige Industrialisierung habe in Wien ein „Industrieproletariat“ geschaffen, das in mächtigen Organisationen zusammengefaßt war und in den fabrikreichen Bezirken jenseits des Gürtels lebte, in denen nur selten ein Kirchturm gegen den Himmel ragte.147 Seit dem Ende des Krieges habe sich die Lage zusehends verschlechtert. Die große Zahl an Kirchenaustritten im Wien der Nachkriegsjahre zeigte, daß der „rote Feind“ auf dem besten Weg war, die Seelen der Menschen zu erobern. Rund 1.000 Seelen, so Schmidt im Jahre 1929, habe die katholische Kirche in Wien in jedem Monat in den Jahren nach dem Krieg verloren.148 Noch bestünde jedoch Hoffnung, diese verlorenen Schafe wieder in den Schoß der Kirche zurückzuholen, handelte es sich hierbei ja um Menschen, die seinerzeit in einer katholischen Umgebung aufgewachsen waren: Wehe aber, wenn man so langsam vorgehen würde, bis auch die letzten Erinnerungen und Nachwirkungen einer besseren Zeit in den Seelen dieser ersten Generation verschwunden wären! Und doppelt und dreifach wehe, wenn man erst die Kinder dieser ersten Generation groß werden ließe, die nicht bloß durch keine katholische Umgebung und Erziehung mehr hindurchgegangen wären, sondern bereits von zarter Jugend an das Gift sozialistischer Verhetzung und religionsfeindlicher Agitation in sich aufgenommen hätten! Die nicht mehr vereinzelten Proben, die wir bereits jetzt schon von den Früchten dieser sozialistischen „Erziehung“ zu sehen bekommen, lassen ahnen, was für eine grimmige Gottes- und Religions-Feindschaft so heranwächst, und was für eine harte, fast trostlose Arbeit die Seelsorge zu leisten hätte in der steinigen, distel- und dornenbedeckten Wüstenei, die da sich vorbereiten würde, wenn man jetzt mit der schnellen und radikalen Hilfe säumen würde.149
Im Rahmen des Beitrags der Wiener Ethnologen zur „Verteidigungsschlacht“ um Wien ließen sich unschwer zahlreiche Berührungspunkte mit den von Alfred Diamant eingehend analysierten Strömungen der katholischen Soziallehre der Ersten Republik herstellen, insbesondere mit der anti-demokratischen und anti-kapitalistischen Orientierung von Othmar 146 Ebenda, S. 862. 147 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das von Schmidt mehrfach erwähnte, bereits vor dem Krieg erschienene, „klassische“ religionssoziologische Werk von Heinrich SWOBODA, Großstadtseelsorge: Eine pastoraltheologische Studie, Regensburg et al.: Friedrich Pustet 21911. 148 SCHMIDT, Kirche und Proletariat, S. 861. 149 Ebenda, S. 862.
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Spann und dem Vogelsang-Kreis.150 Die Zeitdiagnostik und die gesellschaftspolitischen Reformvorschläge der Wiener Ethnologen sind insofern bemerkenswert, weil Schmidt und seine Schüler immer wieder auf die von ihnen erforschten „Urkulturen“ rekurrieren, um die Irrwege der Gegenwart aufzuzeigen. Im Rahmen dieser Überlegungen sollte die „Urkultur“ gleichsam zu einem funktionalen, mit der Aura der Wissenschaftlichkeit umgebenen bquivalent des vom romantischen Katholizismus verherrlichten Mittelalters werden. Im Mittelpunkt des sozialpolitischen Denkens steht hierbei die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen Staat und Familie. Bestand der verhängnisvolle Irrtum der liberalen Lehre darin, die Gesellschaft als ein lose zusammenhängendes, aus atomisierten Individuen bestehendes Agglomerat begriffen, das Gemeinwohl dem hemmungslosen Hedonismus geopfert und die Pflichten des Einzelnen gegenüber seiner natürlichen Gemeinschaft ignoriert zu haben, so bestand der unverzeihliche Fehler des Sozialismus darin, die Bedeutung der wichtigsten intermediären gesellschaftlichen Institution, nämlich der Familie, verkannt zu haben. Der Sozialismus habe versucht, die Bindungen des Einzelnen zu den ihm Nächsten zu zerschneiden, ihn aus seiner natürlichen häuslichen Gemeinschaft herauszureißen und einer gesichtslosen, kalten, anonymen Masse zu unterwerfen. Typisch für das Vorgehen der Wiener Schule ist bereits der Untertitel eines Aufsatzes von Gusinde über das feuerländische Familienwesen: „Ethnologische Tatsachen zur Korrektur wissenschaftlicher Lehrmeinungen und parteipolitischer Programme.“151 Gegenwärtig, so Gusinde, tobe in Europa ein erbitterter Kampf um die Erziehung der Jugend und den Zusammenhalt der Familie. In dieses Ringen um das Kind, in das leidenschaftliche Rufen nach Emanzipation der Frau, in diese Zerrissenheit und Verworrenheit familialer Verhältnisse […] trete ich, fast wie ein gänzlich Unorientierter, heute hinein, von einem Volke herkommend, das auf all diese Fragen, obwohl dieselben bei ihm solch hochgesteigerte Verwicklung noch nicht erreicht haben, trotzdem, und zwar durch die Tatsächlichkeit seiner Lebensführung, eine bis zu gewissem Grade abschließende Antwort zu geben imstande ist. Ich meine die Feuerländer […].152
Unermüdlich werden die Vertreter der Wiener Schule vom Staat fordern,
150 Alfred DIAMANT, Die österreichischen Katholiken und die Erste Republik: Demokratie, Kapitalismus und soziale Ordnung 1918-1934, Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung o. J. [Engl. Original 1960]. 151 Martin GUSINDE, Eltern und Kind bei den Indianern im Feuerland: Ethnologische Tatsachen zur Korrektur wissenschaftlicher Lehrmeinungen und parteipolitischer Programme, in: Das Neue Reich 10 (1927/1928), S. 600-602 und 621-622. 152 Ebenda, S. 600.
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alles zu unternehmen, um die Familie, diese älteste und wichtigste Institution, zu fördern.153 „Aelter sind die Rechte der Familie und unabhängig vom Staat, der diese älteren Rechte anzutasten keine sittliche und rechtliche Befugnis hat“.154 Der Staat verdanke der häuslichen Gemeinschaft seine Existenz. Diese sorge für neue Menschen. Der Staat dürfe die ehelichen Bande daher nicht schwächen, die Scheidung nicht erleichtern, er dürfe die Erziehungsrechte der Eltern nicht beschneiden, die Autorität des Vaters nicht untergraben und in die Besitz- und Eigentumsverhältnisse der Familie nicht eingreifen. Anstatt neue Freizeit-, Kultur- und Sportvereine zu gründen, anstatt künstlicher Massenbewegungen, in denen der Einzelne verschwinde und untergehe, sollte man bemüht sein, daß der Mensch wieder in seiner häuslichen Gemeinschaft aufgehe. Diese Forderungen entsprächen den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die von Engels, Kautsky und Bebel übernommenen Evolutionstheorien eines Bachofen und Morgan seien von der objektiven Forschung widerlegt worden; ja, die Tatsachenforschung der „aufrichtigen“ Wissenschaft bestätige das, was auf den ersten Seiten der Bibel von den gesellschaftlichen Anfängen des Menschenlebens berichtet werde. Oftmals warnte Schmidt in diesem Zusammenhang auch vor den falsche wissenschaftliche Ansichten propagierenden, sozialdemokratischen Parteiführern in Deutschland und den Austromarxisten, die – wie er in einer seiner haßerfüllten antisemitischen Tiraden behauptete – nichts weiter waren als ein „paar land- und stammfremde, förmlich dahergelaufene Menschen von teilweise abenteuerlichster Vergangenheit und zweifelhaften moralischen und intellektuellen Qualitäten“, welche die Jugend verführt und die Herrschaft an sich gerissen hätten.155 Immer, so Koppers in dem von Vierkandt herausgegebenen Handwörterbuch der Soziologie (1931), gelte es „eingedenk der großen, unverrückbar feststehenden Lehre [zu sein], welche uns die Kulturgeschichte im allgemeinen und die Kulturgeschichte der Familie im besonderen erteilt: mit 153 Vgl. hierzu Wilhelm SCHMIDT, Ehe und Staat, in: Reichspost, Wien, 5. September 1925, Nr. 248; ders., Geburtenbeschränkung und Sozialismus, in: Das Neue Reich 13 (1930/1931), S. 427-429; ders., Probeehe und Kindesmord, in: Das Neue Reich 13 (1930/1931), S. 351; ders., Familie und Staat, in: Schönere Zukunft 6 (1930/31), S. 505-506; ders., Mehr Familienfürsorge im Staat! Unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Österreich, in: Schönere Zukunft 6 (1930/31), S. 528-529; ders., Der Eigentumsgedanke hinter der Enzyklika ‚Rerum novarum‘, in: Schönere Zukunft 6 (1930/1931), S. 851-852; ders., Zur Enzyklika ‚Quadragesimo Anno‘ Pius’ XI., in: Schönere Zukunft 6 (1930/1931), S. 919-921. 154 SCHMIDT, Katholizismus und Intelligenz: Der Bankrott des neueren, unchristlichen Geisteslebens. – Annäherungen in der heutigen außerkirchlichen Philosophie, Naturwissenschaft, Völkerkunde, Bibelforschung an den katholischen Standpunkt, in: Das Neue Reich 5 (1922/1923), S. 10111015, hier S. 1013. 155 Wilhelm SCHMIDT, Fragen des Zusammenbruchs und Wiederaufbaus: Entwicklungen und Aufgaben in Deutschland, in: Das Neue Reich 2 (1919/1920), S. 505-507, hier S. 506.
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dem Schicksal der Familie steht und fällt die menschliche Kultur“.156 Nur am Rande sei angemerkt, daß sich die Erkenntnisse über die Urfamilie und deren Verhältnis zum Staat in voller inhaltlicher und teilweise sogar wörtlicher Übereinstimmung mit Abschnitten aus den beiden Sozialenzykliken „Rerum novarum“ von Leo XIII und „Quadragesimo anno“ von Pius XI. befinden. So heißt es etwa in der Enzyklika „Rerum novarum“: [Die Familie] ist eine wahre, wenn auch noch so kleine Gesellschaft, und zwar als solche älter als der Staat; deshalb kommen ihr gewisse, ihr eigentümliche Rechte und Pflichten zu, die in keiner Weise vom Staate abhängen. […] Wenn also der Bürger und die Familie dadurch, daß sie in die gesellschaftliche und staatliche Gemeinschaft eingehen, statt der Hilfe Bedrängung, statt der Sicherung Schmälerung ihrer Rechte im Staate finden würden, dann müßte man das staatliche Zusammenleben eher verabscheuen als herbeiwünschen.157
Immer wieder mischten sich in diese allgemeinen Mahnrufe der Wiener Ethnologen auch konkrete sozialpolitische Forderungen. Kinderreiche Familien seien steuerlich zu begünstigen, kinderarme zu belasten. Väter kinderreicher Familien sollten ein Mehrstimmenwahlrecht erhalten. Strenge Strafen für Abtreibung sowie für Werbung und Verkauf empfängnisverhütender Mittel seien einzuführen. Selbstredend ist Schmidt und seinen Schülern der Wiener Wohnungsbolschewismus ein Dorn im Auge. Die Errichtung von Gemeinschaftsküchen, von Miet- und Zinskasernen, die sie als „eine neue Art Potemkinscher Dörfer, als moderne Zwingburgen“ bezeichneten, drohe die häusliche Gemeinschaft zu vernichten.158 „Eigener Herd und eigenes Heim“ seien der „Familie ebenso notwendig wie der Pflanze Licht und Luft“. Weder Frauen noch Kinder gehörten in die Fabriken. Die Arbeitszeit des Mannes dürfe sich „nicht so weit ausdehnen, daß für das Leben und Wirken im Familienkreis keine ausreichende Möglichkeit mehr bleibt. Ein angemessener Lohn ist notwendig, weil eine zu große Not und Sorge um das tägliche Brot ein warmes und gemütliches Familienleben nicht aufkommen läßt“. Diese „Folgerungen und Forderungen“, so Wilhelm Koppers, „erfließen alle notwendig aus Geschichte und Wesen der Ehe und der Familie“.159 Die Ethnologie sei, so werden die Wiener Ethnologen immer wieder beteuern, nicht nur die Wissenschaft, die uns über das Fremde berichte, sondern auch die Wissenschaft, die uns lehren könne, wie wir leben und
156 Wilhelm KOPPERS, Ehe und Familie, in: Alfred VIERKANDT (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1931, S. 112-122, hier S. 121. 157 Leo XIII. zit. nach Johannes SCHASCHING (Hg.), Die soziale Botschaft der Kirche. Von Leo XIII. bis Johannes XXIII, Innsbruck-München-Wien: Tyrolia Verlag 1962, S. 76-77. 158 Wilhelm SCHMIDT, Zur Pressefrage, S. 998. 159 Wilhelm KOPPERS, Ehe und Familie, S. 121.
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was wir tun sollten; jene Wissenschaft, welche gleichsam die Objektivität sozialpolitischer Erkenntnis ermögliche, wobei Schmidt und seine Schüler den Ausdruck Objektivität eben nicht – wie Max Weber – unter Gänsefüßchen gesetzt hätten. Die Gewißheit in bezug auf die Objektivität ihrer Werte schöpfen die Wiener Ethnologen aus ihrem „Wissen“ über den Urzustand der Menschheit. Der Feuerlandindianer gilt ihnen als Beweis dafür, daß die „Massenabfütterung“ in Großküchen im besonderen und die Politik des „Roten Wien“ im allgemeinen falsch ist. Indem die Wiener Ethnologen ihrem Zuhause eng verbunden bleiben, den „Urmenschen“ zum vorbildhaften österreichischen Bürger stilisieren und mit ihm gleichsam eine „katholische Ausgabe des Edlen Wilden“ präsentieren, scheinen sie auch der großen, ihrer Disziplin zugrundeliegenden Verheißung gerecht zu werden: Kehret heim und lehret Euer Volk! Die scharfe Kritik der konservativen Ethnologen am vom Fortschrittsglauben durchdrungenen, sozialistischen Erziehungsideal des „Neuen Menschen“ sollte nicht den Blick auf jene grundlegenden Gemeinsamkeiten verstellen, welche die beiden feindlichen Lager miteinander verbinden. Diesen oftmals verkannten Gemeinsamkeiten möchte ich mich abschließend noch kurz widmen. Sowohl der sozialistische Erzieher als auch sein konservativer Kritiker sind der Auffassung, daß die eigenen gesellschaftsreformatorischen Forderungen das Ergebnis universalgeschichtlicher und ethnologischer Forschungen darstellen. Beide sind sich der „Objektivität“ ihrer sozialpolitischen Erkenntnis sicher; beide sind überzeugt, daß demjenigen, der sich in das Studium der Kulturgeschichte versenke, auch die Offenbarung zu Teil werde, was das Gute sei, welchen Werten der Mensch zu folgen und welchen Göttern er zu opfern habe. Beide sind somit bemüht, aus dem Seienden bzw. Gewesenen das Seinsollende abzuleiten. Gebetsmühlenartig berufen sich Sozialisten und Konservative auf das vermeintlich wissenschaftliche Fundament ihrer Reformvorschläge, um dem postulierten Gesellschaftsideal den Stachel des Fiktiven, Unerreichbaren und Utopischen zu nehmen. Es ist diese zutiefst „wissenschaftsgläubige“ Grundhaltung, welche die konservativen Wiener Ethnologen mit ihren sozialistischen Widersachern auf Ellenbogenfühlung einander anzunähern scheint. Ist der kulturevolutionistische Sozialist bestrebt, die Gültigkeit seiner normativen Forderungen in erster Linie damit zu beweisen, daß er auf die sozialen Entwicklungsgesetze verweist, so sucht sein konservativer Widersacher die Gültigkeit seiner Werte damit zu begründen, daß er auf den ursprünglichen Zustand der Gesellschaft rekurriert. Der Sozialist lenkt also die Aufmerksamkeit seiner unter den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen leidenden Zuhörer auf die Zukunft, der Konservative auf die Vergangenheit. Der eine späht hoffnungsvoll und unermüdlich nach neuen Revolutionen, den lärmenden „Lokomotiven der Geschichte“, der andere sehnt sich wehmütig nach der guten alten Zeit. Es wäre jedoch ein Irrtum zu
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glauben, daß es sich bei diesen beiden Argumentationsstrategien um einander ausschließende Verfahren handelt. Vielmehr spielt – wie hier abschließend nur angedeutet werden kann – im sozialistischen Denken das Argument des Anfangs qua Norm ebenso eine Rolle wie die Berufung auf historische Bewegungsgesetze in der sozialreformatorischen Lehre der Wiener Schule der Ethnologie. Auch der Sozialist argumentiert, daß die kommunistische Gesellschaft der Zukunft, in der das Privateigentum und der Klassengegensatz aufgehoben sein werden und in der es dem Einzelnen möglich sein werde, seine Persönlichkeit allseitig zu entwickeln, morgens zu fischen, nachmittags zu jagen, abends Viehzucht zu betreiben und nach dem Abendessen zu diskutieren und zu kritisieren, daß diese Gesellschaft der Zukunft in einer fernen Vergangenheit bereits einmal existierte. Auch der „Neue Mensch“ des Sozialismus ist eigentlich ein „Urmensch“ in zweiter Auflage. Die menschliche Gesellschaft habe, so August Bebel, in Jahrtausenden alle Entwicklungsphasen durchlaufen, um schließlich dahin zu gelangen, von wo sie ausgegangen ist, zum kommunistischen Eigenthum und zur vollen Gleichheit und Brüderlichkeit, aber nicht mehr blos der Gentilgenossen, sondern aller Menschen. […] Die Gesellschaft nimmt zurück, was sie einst besessen und selbst geschaffen, sie ermöglicht aber Allen, entsprechend den neugeschaffenen Lebensbedingungen, die Lebenshaltung auf höchster Kulturstufe, d. h. sie gewährt Allen, was unter primitiveren Verhältnissen nur das Privilegium Einzelner oder einzelner Klassen sein konnte.160
Spielt das Argument des historischen Ursprungs qua Norm im sozialistischen Denken eine – wenn auch untergeordnete – Rolle, so greift der konservative Wiener Ethnologe auf die Bewegungsgesetze der Geschichte bzw. das deszendenztheoretische Argument vom unvermeidbaren Untergang zurück, dem die gegenwärtige Gesellschaft entgegen gehe. Der Fortschritt der „Sachkultur“, so die Wiener Ethnologen, führe notwendigerweise zu einem Verkümmern der „Persönlichkeitskultur“, zu einem Versiegen jener sittlich-altruistischen Kräfte, die das gedeihliche Zusammenleben der Menschen ermöglichten. Nur eine revolutionäre Macht gebe es, die dieses grausame Kulturgesetz aufheben und außer Kraft setzen könne: das Christentum. Und das Wesen der christlichen Morallehre bestehe eben darin, dass es inmitten des sündhaften Treibens orientierungslos gewordener Menschen ein lautes „Am Anfang war das nicht so!“ erschallen lasse. Ja, die bhnlichkeiten gehen noch weiter, wenn man bedenkt, daß sich auch in der sozialistischen Lehre ein deszendenztheoretisches Motiv feststellen läßt. Um hier nicht mißverstanden zu werden, sei ausdrücklich auf das geschichtsphilosophische Janusgesicht des Sozialismus hingewiesen. Der hier gemeinte deszendenztheoretische Gehalt der sozialistischen Lehre 160 August BEBEL, Die Frau und der Sozialismus, Vierundvierzigste Auflage, Stuttgart: Dietz Nachf. o. J., S. 439.
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bezieht sich auf die Vorstellungen eines Exodus aus dem ursprünglich klassenlosen Paradies sowie eines notwendigen Zusammenbruchs, auf den die gegenwärtige Gesellschaft zusteuert. Da dieser Zusammenbruch jedoch auch die conditio sine qua non für die Etablierung einer „besseren“ Gesellschaftsordnung in der Zukunft bzw. einer Wiederkehr des Goldenen Zeitalters bedeutet, läßt sich die sozialistische Kulturentwicklungstheorie auch als Fortschrittsgeschichte verstehen. Sowohl der Sozialist als auch sein konservativer Kritiker verknüpfen also kulturverfallstheoretische Überlegungen mit der Lehre von der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters. Für beide bedeutet zudem das Wiedererreichen des Ausgangspunktes auch den Endpunkt der Geschichte. Die Geschichte der Menschheit dreht sich im Kreis, aber – wie beide zu meinen scheinen – nur einmal. Daß die sozialistischen und konservativen Intellektuellen völlig unterschiedliche Gründe angeben, warum die gegenwärtige Gesellschaft zusammenbrechen müsse und daß sie völlig unterschiedliche Bilder vom Goldenen Zeitalter der Vergangenheit zeichnen, dessen Wiederkehr beide prophezeien, scheint – wenn man die hier skizzierten bhnlichkeiten in der geschichtsphilosophischen Argumentationsstrategie ins Auge faßt – bloß eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Sc hlußbe merkung
Ziel dieser Arbeit war es, die Rolle der Fortschrittsidee im Rahmen des anthropologischen Denkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Ich habe zu zeigen versucht, daß gerade die sich aus den Naturwissenschaften rekrutierende Generation der anthropologischen Gründerzeit ganz im Banne der Fortschrittsidee stand. Einerseits wurde hierbei der „Wilde“ als vom „Zivilisierten“ durch unzählige Zwischenschritte getrennt erachtet, andererseits jedoch waren es gerade die Naturwissenschaftler, die unter Berufung auf die Einheit der Natur und der in ihr waltenden, unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten zu einer entscheidenden Relativierung der Dichotomie von „Natur- und Kulturvölkern“ beitragen sollten. Der „Wilde“ war fortan nicht mehr jenseits der „Geschichte“, sondern wurde gleichsam zu einem lebenden Zeugnis der Vergangenheit der eigenen Gesellschaft und Kultur. Ihre wissenschaftliche „Übersetzung“ fand die Forschrittsidee in den kulturevolutionistischen Stufenschemata. Sodann habe ich auf zwei berühmte antievolutionistische Schulen hingewiesen, die sich beide nicht nur gegen die Vorstellung einer „Kulturlosigkeit“, sondern auch gegen jene einer vermeintlichen „Kulturarmut“ des „Wilden“ wandten. Der hier skizzierte ideengeschichtliche Prozeß ließe sich also in der Formel zusammenfassen: „Von der Kulturlosigkeit über die Kulturarmut zum Kulturenreichtum.“ Betonte nun die Boas-Schule im Rahmen ihrer kulturrelativistischen Position die prinzipielle Schwierigkeit, den „Fortschritt“ zu messen, so läßt sich die Grundhaltung der Wiener Schule der Ethnologie, insbesondere von Pater Wilhelm Schmidt, als eine deszendenztheoretische charakterisieren. Die Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts, die ich im Rahmen dieser Arbeit anhand unterschiedlicher Beispiele veranschaulicht und erörtert habe, mag heutigen Lesern mitunter bizarr erscheinen. Und doch scheint es, daß trotz der scharfen Kritik, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts gerade auch innerhalb der Anthropologie am Denken in „Kulturstufen“ geübt wurde, trotz der Brandmarkung desselben als ethno- und euro-
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zentrisch und trotz der Katastrophe der beiden Weltkriege, die Fortschrittsidee bis heute im Westen ihre Anziehungskraft als Denk- und Handlungsmuster nicht verloren hat. Von dieser Strahlkraft, die den Entwicklungsgedanken noch heute auszeichnet und die sich aus einer langen Tradition der Fortschrittsgläubigkeit speist, zeugt nicht nur das Selbstverständnis jener politischen, kulturellen und ökonomischen Eliten, die sich als „Vorreiter“ einer besseren und gerechteren Weltordnung verstehen und im Rahmen demokratischer Erziehungsprogramme bemüht sind, das Fremde dem Eigenen anzugleichen, sondern auch die Terminologie, die von Entwicklungs- und Schwellenländern spricht, die das Fremde als rückständig klassifiziert, die vom Erreichen vermeintlich universell gültiger menschenrechtlicher Werte und Normen spricht und die barbarische Akte in der Gegenwart als „Rückfall ins Mittelalter“ bezeichnet. Gerade hier ist der ungebrochene Glaube spürbar, daß die in der Geschichte wirkenden Gesetzmäßigkeiten schon dafür Sorge tragen werden, daß die Probleme mit der Zeit gelöst werden. Die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen dem Eigenen und dem Fremden kann, insbesondere wenn letzteres negativ bewertet wird, eine beunruhigende Wirkung haben. Eine Möglichkeit, dieser Verunsicherung zu entkommen, besteht – wie ich an mehreren Stellen meiner Arbeit zu zeigen versucht habe – darin, die Ungleichheit der anderen auf eine Ungleichzeitigkeit zu reduzieren und sich mit der Erkenntnis zu trösten, daß sie eines Tages so sein werden wie wir.
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Nac hw ort GERALD MOZETIý
Dass es an der Qualität eines wissenschaftlichen Werkes nichts ändert, wenn man über seinen Autor spricht, stand für Bernd Weiler außer Zweifel. Er selbst bevorzugte einen Platz im Hintergrund, von wo aus er die Inszenierungen der wissenschaftlichen Selbstvermarktung wie ein Ethnologe beobachten konnte, dem das Gefühl für die Distanz zwischen dem Fremden und der eigenen Weltauffassung nie abhanden kommt. Genauer gesagt, fühlte er sich innerhalb seines eigenen Stammes – der scientific community der Soziologie – manchmal etwas fremd, insbesondere dann, wenn er spürte, dass das Mitschwimmen in der jeweils modischen Rhetorik nichts mit Erkenntnisanliegen zu tun hatte, sondern bloß mit dem Bestreben, sich innerhalb eines herrschenden Diskurses zu positionieren. Bernd Weiler hatte ein ganz anderes, ein sehr eigenständiges Format. Die vorliegende Studie – die im Februar 2004 unter dem Titel „Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der ‚jungen‘ Anthropologie. Ein Beitrag zur Ideengeschichte und Wissenssoziologie“ als soziologische Dissertation an der Universität Graz angenommen wurde – lässt einige Rückschlüsse auf die Person des Verfassers zu: Offensichtlich stammt sie von jemandem, der über ein ungewöhnliches breites Wissen verfügt, dabei die großen Stoffmassen mit gedanklicher Klarheit und analytischer Kompetenz zu strukturieren vermag und der nicht zuletzt mit einem weit überdurchschnittlich entwickelten Problembewusstsein von der Verschränkung des Historischen und des Systematischen dem viel bearbeiteten Thema des „Fortschritts“ neue Seiten und Einsichten abzugewinnen vermag. In der Soziologie ist eine derartige Kombination von Fähigkeiten zur seltenen Ausnahme geworden – mit den vielen Schmalspur-„Nichts-als-Soziologen“ hatte Bernd Weiler wenig gemein. Einige biographische Daten mögen andeuten, welchen durchaus eigenständigen Weg er ging. 97 in Innsbruck in eine Familie hineingeboren, in der die antike Gesellschaft und Kultur eine bedeutende Rolle spielte, wuchs er nach der durch die Berufung seines Vaters als Universitätsprofessor für Alte Ge-
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schichte veranlasste Übersiedelung in Graz auf; er verbrachte aber einen Teil seiner Schulzeit am United World College of the Adriatic in Duino/Trieste (Italien). In Graz begann er 989 das Studium (Soziologie, Italienisch, Sportwissenschaften), das er 99-94 an der University of Saskatchewan in Saskatoon, Kanada, fortsetzte und mit Bachelor-Abschlüssen beendete. Nach Graz zurückgekehrt, schloss er 997 das SoziologieStudium mit einer Diplomarbeit über „Die Kulturanthropologie von Franz Boas im ideengeschichtlichen und wissenssoziologischen Kontext“ ab. Lehraufträge am Institut für Soziologie der Universität Graz folgten. 999/2000 arbeitete er an einem Forschungsprojekt über Ludwig Gumplowicz mit, danach war er in Graz bis 2004 am „Spezialforschungsbereich Moderne – Wien und Zentraleuropa um 900“ beschäftigt. Nach dem Abschluss des Doktoratsstudiums fand er im Sommer 2004 am KarlMannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften an der Zeppelin University in Friedrichshafen bei Nico Stehr eine Anstellung als wissenschaftlicher Assistent, und durch seine Kompetenz und Leistungsfähigkeit entstanden nun innerhalb kurzer Zeit zahlreiche Arbeiten, die auf eine glänzende wissenschaftliche Karriere hindeuteten. Völlig unerwartet ist Bernd Weiler am 3. März 2006 einen plötzlichen Herztod gestorben. Zwei Geschichten aus Bernd Weilers wissenschaftlichem Leben seien hier kurz erzählt. Als ich Bernd Weiler im Jahre 999 als Hauptmitarbeiter am soziologiegeschichtlichen Forschungsprojekt „Ludwig Gumplowicz – Leben und Werk“ gewinnen konnte, gab dies der Gumplowicz-Forschung neue Impulse. Er arbeitete sich innerhalb kurzer Zeit in das Thema ein, durchforstete die vorhandenen Materialien mit der ihm eigenen Akribie, schloss etliche der vorhandenen Lücken durch archivalische Nachforschungen und präzisierte die Fragestellungen und Forschungsperspektiven. Es war nie unsere Intention, einen frühen Soziologen zu rehabilitieren oder zu einem auch heute noch wegweisenden Klassiker zu stilisieren. Vielmehr sollte durch die genaue Rekonstruktion der biographischen, kommunikativen und institutionellen Bedingungen zur Lebenszeit von Ludwig Gumplowicz (838-909) ein adäquates Bild der realen Wissenschaftsgeschichte der Soziologie entworfen werden. Die von Bernd Weiler favorisierte Zugangsweise ermöglicht ein besseres Verständnis der Verflechtungen von Ideen und Lebenserfahrungen, der Bedingungen von Erfolgen und Misserfolgen, der Begrenztheit von Denkweisen und Handlungsoptionen. Das Idiosynkratische und das Typische, die „persönliche Gleichung“ und die institutionellen Rahmungen greifen ineinander, und nur indem man sie ins richtige Verhältnis zueinander setzt, ist es möglich, eine soziologisch gehaltvolle Soziologiegeschichte zu schreiben. Als mich Bernd Weiler im Frühjahr 200 mit der Nachricht schockierte, es habe sich etwas Ungeheuerliches und für ihn völlig Unverständliches
Vgl. meinen Nachruf in „Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie“, H. 3, 2006, 379-38.
GERALD MOZETIý: NACHWORT | 52
zugetragen, ging es darum, dass sein Dissertationsbetreuer Teile einer Privatissimum-Arbeit Weilers für einen eigenen Aufsatz in wörtlicher Anlehnung übernommen hatte. Da Weiler Opportunismus völlig fremd war, begann für ihn eine sehr schwierige Zeit. Diese Plagiats-Affäre hat ihm als Opfer viel Substanz gekostet – zumal der Täter, der Plagiator, weit weniger Einsicht zeigte, als man nach seiner wissenschaftlichen Reputation und seinen moralischen Ansprüchen hätte annehmen sollen. Selbstverständlich erklärte ich mich in dieser Situation dann bereit, die Betreuung der Dissertation zu übernehmen. Wie ich es schon vom gemeinsamen Forschungsprojekt her kannte, erwies sich Bernd Weiler auch jetzt als ein ungemein kenntnisreicher und reflektierter Kollege, und zu meiner Freude häuften sich jene langen und intensiven Gespräche, die zu den größten „Privilegien“ eines akademischen Lebens gehören. Weiler verkörperte einen Typus Wissenschaftler, der einerseits stark an die Figur des umfassend gebildeten Gelehrten früherer Zeiten erinnerte, andererseits aber hellwach die Probleme der Gegenwart wahrnahm. Von wissenschaftlichen Moden ließ er sich nie beeindrucken; er war aber auch frei von nostalgischer Bezugnahme auf Vergangenes. Mit einem Wort: Er war auf dem besten Wege, sich auf dem Feld der Soziologie eine eigene, unverwechselbare Position zu erarbeiten. Was der soziologischen community infolge seines frühen Todes vorenthalten bleibt, kann niemand sagen. Aber eine Untersuchung wie die vorliegende – die er für die Publikation nicht mehr, wie geplant, überarbeiten und kürzen konnte – vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, was einem so viel bearbeiteten Thema wie dem wissenschaftlichen Fortschritt noch an Neuem abgewonnen werden kann, wenn sich jemand mit hohen analytischen Fähigkeiten und großer Sachkenntnis ans Werk macht. Eine aufmerksame Rezeption dieses Buches sollte zu einem besseren Verständnis der Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert beitragen können.
Science Studies Tatjana Zimenkova Die Praxis der Soziologie: Ausbildung, Wissenschaft, Beratung Eine professionstheoretische Untersuchung
Sebastian Linke Darwins Erben in den Medien Eine wissenschafts- und mediensoziologische Fallstudie zur Renaissance der Soziobiologie
Dezember 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-519-7
Oktober 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-542-1
Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman
Martin Voss, Birgit Peuker (Hg.) Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion
Dezember 2006, 412 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 3-89942-571-5
Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte Oktober 2006, ca. 360 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 3-89942-579-0
Bernd Weiler Die Ordnung des Fortschritts Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der »jungen« Anthropologie Oktober 2006, 524 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 3-89942-590-1
Oktober 2006, 260 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-528-6
Amalia Barboza, Christoph Henning (Hg.) Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft September 2006, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-502-2
Wolf-Andreas Liebert, Marc-Denis Weitze (Hg.) Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion Juli 2006, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-448-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Science Studies Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) ANThology Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie Juni 2006, 584 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-479-4
Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler März 2006, 274 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-475-1
Alexander Peine Innovation und Paradigma Epistemische Stile in Innovationsprozessen Januar 2006, 274 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-458-1
Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Unbestimmtheitssignaturen der Technik Eine neue Deutung der technisierten Welt 2005, 362 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-351-8
Niels C. Taubert Produktive Anarchie? Netzwerke freier Softwareentwicklung
Natàlia Cantó Milà A Sociological Theory of Value Georg Simmel’s Sociological Relationism
März 2006, 250 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-418-2
2005, 242 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-373-9
Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (Hg.) Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften
Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft
März 2006, 226 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-446-8
Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.) »Intellektuelle Anschauung« Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen März 2006, 362 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 3-89942-354-2
2005, 322 Seiten, kart., ca. 50 Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-317-8
Markus Buschhaus Über den Körper im Bilde sein Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens 2005, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-370-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Science Studies Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem, Wolfgang Krohn Realexperimente Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft 2005, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-304-6
Michael Guggenheim Organisierte Umwelt Umweltdienstleistungsfirmen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik 2005, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-296-1
Jacqueline Holzer Linguistische Anthropologie Eine Rekonstruktion 2005, 322 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-301-1
Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher Wissenschaft, die Grenzen schafft Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich 2004, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-196-5
Peter Weingart Wissenschaftssoziologie 2003, 172 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-933127-37-8
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de