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German Pages 272 Year 2015
Katrin Großmann Am Ende des Wachstumsparadigmas?
Katrin Großmann (Dr. phil.) arbeitet am Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziologie des Raumes, Transformation in Ostdeutschland und Osteuropa sowie Schreibdidaktik.
Katrin Grossmann
Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz
Dissertation an der Philipps-Universität Marburg, Institut für Soziologie
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz & Lektorat: Katrin Großmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-718-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Einleitung Forschungsinteresse: Vom Tabubruch zum Epochenwandel? Ausgangsheuristik: Eine Drift zwischen sozialem und kulturellem System Forschungsgegenstand: Wechselwirkungen zwischen kollektiven Sinnstrukturen und empirischem Ereignis Stand der Forschung: Schrumpfende Städte, Stadtumbau und die Rede vom Paradigmenwechsel Phasen und Themen des Diskurses Begriffsdefinitionen Vom Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung Theorie: Die Transformation kollektiver Sinnstrukturen Theoretische Verortung in der Kulturtheorie Kollektive Sinnstrukturen als vorbewusster Hintergrund von Handlungen Geertz: Sinnstrukturen als kulturelle Systeme Oevermann: Sinnstrukturen als Deutungsmuster Gemeinsamkeiten der Ansätze Kultureller Wandel Sahlins: Transformation kultureller Muster durch Ereignisse Oevermann: Transformation von Deutungsmustern als immer währender Veränderungsprozess Synthese: Charakteristika kulturellen Wandels Kultureller Wandel und Akteursbeziehungen Foucault: Sinnstrukturen als Diskursive Formationen Schwab-Trapp: Ein soziologisches Diskurs-Konzept
13 13 16 18 21 21 25 29 33 33 35 37 39 41 43 43 48 52 52 54 55
Methoden: Zwischen Ethnographie und Diskursanalyse Methodologischer Exkurs: ein qualitatives Projekt mit einer Ausgangshypothese? Datensammlung: Ethnographie im öffentlichen Diskurs Übersicht über die Daten Fehlerbetrachtung Datenauswertung: Akteursportraits, Kodierung und Feinanalyse Methodischer Exkurs: Einbeziehung von Sprache-Bild-Texten in die Auswertung
59 59 63 67 68 71 82
Das Fallbeispiel: Stadtentwicklungsdiskurs in Chemnitz Geschichte, Image und aktuelle Themen Bevölkerungsrückgang und Wohnungsleerstand Stadtumbau-Diskurs in Chemnitz Phase I: Die Verwaltung eröffnet den Diskurs Phase II: Eine hitzige öffentliche Diskussion Die Diskursgemeinschaften – eine Übersicht
89 89 100 106 106 116 119
Ergebnisse Teil I: Deutungsmuster von Stadtentwicklung Ein dynamisches Analyse-Modell für Raum Marktwirtschaftliches Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Standortentwicklung Gestalterisches Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Kreation Rationales Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Haushalten Integratives Deutungsmuster: Stadtentwicklung als interdependenter Prozess Lebensweltliches Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Lebensraumgestaltung Fragen aus der Deutungsmusteranalyse
127 127
Ergebnisse Teil II: Deutungsmuster und Akteursbeziehungen Symbiose: Die lokale Ausprägung des Wachstumsparadigmas Konkurrenz: Gründerzeit und Platte Isolation: Rationales Deutungsmuster Neue Diskursgemeinschaft: Wohnungswirtschaft und Planungspraktiker Unvereinbare Vorstellungen: Marktabhängigkeit oder Interdependenz? Zivilgesellschaftliche Koalition: Für Partizipation und starke Stadtteile
193 193 198 210
131 140 164 169 183 191
212 216 218
Annäherungen und Dissens: Integrative und gestalterische Perspektive Konsens: Brachflächen zu Grünflächen
222 228
Ergebnisdiskussion und Ausblick Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse Verallgemeinerbarkeit der Deutungsmuster Kultur- und diskurstheoretische Interpretation Neue Akteurskonstellationen in Sicht? Ende der Großwohnsiedlungen in Sicht? Was ist international in Sicht? Paradigmenwechsel in Sicht?
231 231 232 234 242 245 247 249
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12:
Abb. 13:
Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22:
Plan der Sanierungs- und Fördergebiete, Auszug aus dem Räumlichen Handlungskonzept Wohnen Funktionen diskursiver Formationen Diskursgemeinschaften, Diskursfeld und Diskursordnung Stufenmodell empirisch begründeter Theoriebildung Virtuelles Stadtmodell 1990 (links) und Vision 2000 (rechts) Bevölkerungsentwicklung der Stadt Chemnitz ab 1840 Dimensionen des Bevölkerungsrückgangs in Chemnitz Wanderungsziele 1995-2001 Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Chemnitz Lebensbaum der Stadt Chemnitz, Stand 31.12.2001 Szenarien der Bevölkerungsentwicklung in Chemnitz Wohnberechtigte Bevölkerung je Wohneinheit in Gebäuden mit Wohnraum zum 30.09.1995 in Chemnitz – mit Wohnungsleerstand Wohnberechtigte Bevölkerung je Wohneinheit in Gebäuden mit Wohnraum zum 31.12.2000 in Chemnitz – mit Wohnungsleerstand Rückbaupotenziale für verschiedene Strukturtypen Übersicht über die Diskursteilnehmer Organigramm des Arbeitskreises Wohnen Raummodell nach Sturm Raummodell im Zuschnitt auf Deutungsmuster von Stadtentwicklung Das marktwirtschaftliche Deutungsmuster Das gestalterische Deutungsmuster Das gestalterische Deutungsmuster und seine Vignetten Das rationale Deutungsmuster
8 56 57 79 95 100 101 102 102 103 104
105
105 113 120 124 129 130 132 141 142 165
Abb. 23: Abb. 24 Abb. 25: Abb. 26:
Das integrative Deutungsmuster Das lebensweltliche Deutungsmuster Übersicht über Deutungsmuster und Akteure Modell des Kreislaufs aus Wirtschaftskraft und Stadtgestaltung Abb. 26: Skizze zu Umbauvorstellungen im Bereich Hutholz Süd
169 184 191 194 199
Danksagung Mein Dank gilt HD Dr. Gabriele Sturm, Prof. Dr. Winfried Marotzki und Prof. Dr. Christine Weiske für ihre Betreuung und Beratung. Außerdem danke ich den Mitgliedern des Promotionskollegs „Nachhaltige Regionalentwicklung in Ostdeutschland“ sowie den Mitgliedern des Forschungskolloquiums von Prof. Dr. Marotzki für die anregenden Diskussionen. Besonders danke ich Dr. Sandra Huning, Dr. Andreas Hadjar, Dr. Sabine Gillmann, Dr. Annett Steinführer, Dr. Kerstin Dietze, Dr. Jürgen Schmitt und (Dr. in spe) Katharina Gajdukowa für ihren fachlichen Rat und ihre Hilfe bei der Überarbeitung der Rohfassung. Der Hans-Böckler-Stiftung, insbesondere Herrn Werner Fiedler, danke ich für ihre Unterstützung, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Und meinem Mann danke ich von Herzen für einfach alles, vor allem für seine Gelassenheit.
Abb. 1: Plan der Sanierungs- und Fördergebiete, Auszug aus dem Räumlichen Handlungskonzept Wohnen
Quelle: Stadt Chemnitz 2002b: 6
Einleitung
Forschungsinteresse: Vom Tabubruch zum Epochenwandel? Im Frühjahr 2000, als die Entscheidung zu diesem Forschungsprojekt fiel, knisterte es auf den Schreibtischen ostdeutscher Stadtforscher. Ein neuer Gegenstand der Stadtforschung verlangte Aufmerksamkeit: schrumpfende Städte. Hochexplosiv erschien der Begriff, hochexplosiv das Thema Wohnungsleerstand; noch wurde darüber weder in Chemnitz – dem Schauplatz der vorliegenden Fallstudie í noch in anderen Teilen Deutschlands öffentlich geredet. Für das Exposé meiner Dissertation suchte ich die Buchstaben für „schrumpfende Stadt“ zum ersten Mal auf der Tastatur zusammen, der Schreibfluss stockte bei diesem ungewohnten Begriff. Einige Jahre später, beim Verfassen der fertigen Arbeit, finden die Finger beim Schreiben mühelos ihren Weg über die Tastatur. In Chemnitz brach das Tabu im Mai 2000 mit den ersten Artikeln zu Leerstandszahlen und Abrissplänen in der Lokalpresse. Dem folgte ein mühsamer und konfliktreicher Diskurs vor Ort. Etwa gleichzeitig tagte die von der Bundesregierung eingesetzte „Kommission für wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel“, die erörterte, was auf nationaler Ebene zu tun sei. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema innerhalb der Stadtforschung fand in kleinen Diskussionskreisen von wenigen Interessierten statt und drehte sich um die Radikalität der vollzogenen und vor allem der noch zu erwartenden Entwicklungen. Von einem historischen Bruch in der Entwicklung der Städte nach Jahrhunderte langem Wachstum war die Rede, von einem „Paradigmenwechsel hin zu Modellen der Stadtentwicklung, die unabhängig sind von der Idee quantitativen 13
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Wachstums“ (vgl. Weiske und Schmitt 2000: 161). Pointiert stellte Wolfgang Kil fest, dass wir uns am Ende einer Epoche befänden, nämlich am Ende des industriellen Zeitalters, und stellt die Frage, was das neue Zeitalter charakterisieren könnte und welche Zukunft Landstriche und Städte haben können, die staatlich nicht mehr zu versorgen sind und auf Dauer ausdünnen oder brach fallen werden. Noch eher als Zuhörerin denn als Mitdiskutierende faszinierte mich die Neuheit des Themas, die Energie, die in den Diskussionsrunden spürbar wurde, sobald der Begriff „Schrumpfung“ fiel. Und mich faszinierte die Tragweite der Fragen, die gestellt wurden. Ich fühlte mich als Zeitzeugin einer mittleren Revolution in meiner Lebenswelt und in der eigenen Disziplin. Ich las die Texte von Häußermann und Siebel aus den 1980erJahren, die den Begriff „Schrumpfende Städte“ eingeführt hatten. Inzwischen sind sie zu Standardwerken in den Literaturverzeichnissen über Stadtumbau und Leerstand geworden. Im Jahr 2000 holte man sie gerade erst aus den Schubladen. Häußermann und Siebel (1985, 1987, 1988) sprachen davon, dass die Stadtsoziologie in den schrumpfenden Städten einen neuen Gegenstand haben werde. Mit Bezug auf das Ruhrgebiet und vor dem Hintergrund des allgemeinen Geburtenrückgangs versuchten sie eine Auseinandersetzung mit dem Wachstumsparadigma anzuschieben. Spätestens seit der Industrialisierung sei Stadtentwicklung identisch mit Wachstum, von dem man aber in Zukunft nicht mehr ausgehen könne: „Seit über einem Jahrzehnt wachsen die Städte nicht mehr, ihre Einwohnerzahlen gehen zurück, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Fabrikhallen stehen leer, ebenso die neuesten Sozialwohnungen, die städtische Brache wird zum gewohnten Anblick, Schulen und Schwimmbäder werden geschlossen, sogar die Immobilienpreise fallen, und all dies sind nur schwache Indizien für das, was sich ab dem Jahr 2000, wenn die Bevölkerung der Bundesrepublik massiv zurückgehen wird, in den großen Städten abspielen könnte.“ (Häußermann u. Siebel 1987: 8)
Der Blick auf die ostdeutschen Städte im Jahr 2000 machte die Texte schlagartig zur wahr gewordenen Prophezeiung. Die städtische Brache war allseits Realität geworden. Etwa eine Million Wohnungen standen leer, Industriebrachen überall. Weiske und Schmitt diagnostizierten im Sommer 2000 noch ein allseits bedrücktes Schweigen zu diesem Phänomen. Für die städtische Öffentlichkeit sei der Rückgang ein UnThema, von dem lähmende und stigmatisierende Wirkung ausgehe. Die lokalen EntscheidungsträgerInnen erlebten die Entwicklung zwar als 14
EINLEITUNG
bewusst wahrgenommenes Problem, entwickelten aber keine positiven Handlungsmöglichkeiten, da sie in der Wachstumslogik verharrten. Die StadtforscherInnen als dritte Akteursgruppe schließlich hätten die Anregungen zur Diskussion bisher nicht aufgegriffen bzw. wieder fallen gelassen. Diskussionsbedarf gebe es nun „auf allen Ebenen bei den Praktikerinnen und den Theoretikerinnen der städtischen Entwicklungen“ (Weiske u. Schmitt 2000: 163). Um zu neuen Perspektiven und Verfahren zu kommen, sei eine „Qualifizierung des wissenschaftlichen und des alltagsweltlichen Denkens angesagt: die Entkoppelung der Idee der Entwicklung von der Idee des Wachstums“ (ebd.). Es ist die Frage nach dieser Entkoppelung des Entwicklungsbegriffs von der Wachstumserwartung, der die vorliegende Arbeit nachgeht. Mich interessierten weniger die praktischen Implikationen des Bevölkerungsrückgangs und des Wohnungsleerstands für die Stadtpolitik, stattdessen wollte ich herausfinden, was die vorbewussten aber handlungsleitenden Muster im Diskurs waren. Woher rührten all die Vorsichtigkeiten, Emotionen und Tabus, die schließlich zu der Deutung führten, dass eine Stadt, die schrumpft, eine Verliererin sei? Weshalb war es so lange nicht einmal möglich, öffentlich über die Schrumpfungserscheinungen zu reden? Was blockierte die Formulierung positiver Konzepte? Die Arbeit beleuchtet daher die Deutungsarbeit von Akteuren der Stadtentwicklung in einem ganz konkreten empirischen Fall, dem Diskurs um die schrumpfende Stadt Chemnitz. Neben der Frage nach den Deutungsmustern, die dem Diskurs zugrunde lagen, wollte ich herausfinden, ob das Ereignis des Schrumpfens von Städten die Deutungen von Stadtentwicklung so weit erschüttern kann, dass es zu Veränderungen der Deutungen kommt – und ob also zum prophezeiten Epochenwandel empirische Einsichten zu liefern wären. Die Arbeit leistet also einen Beitrag zur Reflexion der Ereignisse, die für PraktikerInnen und TheoretikerInnen in der Stadtentwicklung interessant sein dürfte sowie für alle, die sich für die Veränderung von Denkmodellen und Weltsichten interessieren. Dazu wurde der lokale Diskurs um die Entwicklung der schrumpfenden Stadt Chemnitz über 18 Monate beobachtet und aus den gewonnenen Daten herausgearbeitet, in welchen Deutungsmustern Stadtentwicklung gedacht wird. Mit Hilfe von Theorien zu kulturellem Wandel bzw. zur Transformation von Deutungsmustern werden die Befunde interpretiert und Tendenzen von Veränderungsprozessen herausgearbeitet. Die Arbeit hat einen zweiten Schwerpunkt. Quer zur Fragestellung räumt die der Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Forschungsprozesses sehr viel Raum in der Darstellung ein. Das betrifft die Entscheidungen und Überlegungen, die diese Anfangsphase des Projektes ge15
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prägt haben, des Weiteren methodische und methodologische Überlegungen sowie die pendelnde gedankliche Bewegung zwischen Theorie und Empirie. Einer nachvollziehbaren Darstellung der konkreten Vorgehensweise bei der Datenerhebung und -auswertung räume ich einen besonderen Stellenwert in der Niederschrift ein. Ich beginne im Folgenden mit der Darstellung der Entwicklung von Fragestellung und Forschungsgegenstand. Anschließend wird der Forschungsstand zu schrumpfenden Städten mit Fokus auf die Diskussion um den Paradigmenwechsel umrissen. Im zweiten Kapitel werden theoretische Bezugspunkte der Arbeit vorgestellt, gefolgt vom Kapitel zu methodischen/ methodologischen Fragen. Im vierten Kapitel führe ich die LeserInnen in den untersuchten lokalen Kontext ein. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in zwei Kapiteln: In Teil I werden zunächst die erarbeiteten Deutungsmuster zur Stadtentwicklung nacheinander dargestellt und in Teil II dann mit der Akteursebene zusammengebracht und zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei werden Tendenzen für Veränderungen im Gefüge der Deutungsmuster aufgezeigt. In der Diskussion werden die Ergebnisse auf dem Hintergrund von Theorie und Forschungsstand diskutiert sowie ein Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen gegeben.
Ausgangsheuristik: Eine Drift zwischen sozialem und kulturellem System Die zündende Idee für das Projekt lieferte der Aufsatz „Ritual und sozialer Wandel: ein javanisches Beispiel“ von Clifford Geertz (1995: 96ff.). Er beschreibt die Konflikte und Verwirrungen um das Begräbnis eines kleinen Jungen in Modjokuto, einer kleinen Stadt im östlichen Zentraljava, das beinahe nicht zustande kommt, zumindest erfolgt es zu spät. In der Lesart der Beteiligten kann eine verzögerte Beisetzung verheerende Folgen für die Seele des kleinen Jungen haben. Weil aber die Personen, die für das Begräbnisritual kooperieren müssten, inzwischen zu verfeindeten politischen Gruppierungen gehörten und sich weigerten, das Begräbnis miteinander durchzuführen, verzögerte sich die Beisetzung. Geertz diagnostiziert, dass die soziale Realität in der Stadt ein neues soziales Rollengefüge hervorgebracht hat, das sich entfernt hat von kulturellen Mustern, die auf der alten dörflichen sozialen Realität basierten. „Insgesamt kann der Bruch bei Padjans Begräbnis auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden: auf eine Inkongruenz zwischen dem sozialen Bedeutungsrahmen und den Formen der gesellschaftlichen Interaktion – eine Un-
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EINLEITUNG
stimmigkeit, die daher rührt, dass ein religiöses Symbolsystem, das einer bäuerlichen Sozialstruktur entspricht, in einer urbanen Umgebung fortbesteht.“ (ebd.: 131)
Das Ereignis des prekären Begräbnisses hat also einen systematischen Hintergrund: Das Auseinanderdriften von aktuellem sozialem Gefüge und (noch gültigen) kulturellen Vorstellungen. Das Ereignis, definiert als Irritation von Handlungs- und Deutungsroutinen, wertet Geertz als Indikator für eine solche Drift zwischen sozialem und kulturellem System1. Irritationen könnten als Voranzeiger für gesellschaftlichen Wandel gelesen werden, denn eine solche Drift sei der Motor jedweden gesellschaftlichen Wandels (vgl. ebd.: 98f.). Liegt hier auch die Erklärung dafür, dass allein das Reden über Einwohnerrückgang und Leerstand, geschweige denn über ein langfristiges Schrumpfen von Städten, so Tabu-Beladen und konflikthaft war? Liegt im Fall der schrumpfenden Städte eine solche Drift zwischen sozialem und kulturellem System vor? Oder genauer: verändert sich die soziale Realität der Stadt schneller als kulturell verankerte Konzepte darüber, was eine Stadt ausmacht? Falls ja, würde das bedeuten, dass im Zuge dieses Ereignisses mit Prozessen kulturellen Wandels zu rechnen wäre? Würden die Schrumpfungsprozesse die Vorstellungen davon, was eine Stadt sei und wie sie sich entwickeln müsse, derart erschüttern, dass sich die Vorstellungen ändern? Im Exposé zum Dissertationsprojekt formulierte ich im Sommer 2000 mit Bezug auf das anvisierte Forschungsfeld Chemnitz folgende Hypothesen2: „(1) Der aktuelle Stadtentwicklungsdiskurs (in Chemnitz) ist vermutlich geprägt von einer zunehmenden Inkongruenz zwischen gesellschaftlicher Realität und den kulturellen Mustern der Akteure. Diese Inkongruenz zieht sich durch öffentliche, planerische und teilweise auch wissenschaftliche Diskussionen und wirkt sich vermutlich hemmend auf die Entwicklung positiver Handlungskonzepte aus. (2) Diese Inkongruenz ist sehr wahrscheinlich gekennzeichnet durch eine dynamische Entwicklung im sozialen System, während die kulturellen Muster an überkommenen städtischen Konzepten festhalten. Damit ergäben sich nach Geertz’ Konzept ... Potenziale für den Wandel der Kultur, der Vorstellungen, der Bilder.“3
1 2 3
Zu den Begriffsdefinitionen S. 33f. Zum Status dieser Hypothesen S. 59f. Unveröffentlicht, aus dem Exposé zur Bewerbung um ein Stipendium bei der Hans-Böckler-Stiftung.
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Mein Hauptinteresse galt also dem Potenzial einer Drift zwischen Modell und Wirklichkeit für eine Veränderung der Entwicklungskonzepte. Sind die schrumpfenden Städte tatsächlich einer der Glockenschläge, die ein Ende des Wachstumsparadigmas einläuten könnten? Und was käme dann? Die Frage, die ich verfolgen wollte, war die nach kulturellem Wandel.
Forschungsgegenstand: Wechselwirkungen zwischen kollektiven Sinnstrukturen und empirischem Ereignis Diese erste Konkretisierung des Forschungsinteresses brachte neue Fragen mit sich. Hieße das, der Gegenstand des Forschungsprojekts wären sowohl die Deutungen als auch die Realität? Doch wie sollte man „die Realität“ erheben? Und wie sollte man eine objektive Realität in Bezug zur kulturellen Vorstellung von der Welt setzen, und das in einer empirischen Untersuchung? Innerhalb einer gemäßigt konstruktivistischen Position, die davon ausgeht, dass Menschen die Welt anhand von historisch entwickelten, sich verändernden Sinnsystemen wahrnehmen und interpretieren, kann man nicht gleichzeitig davon ausgehen, die soziale Welt als eine objektive Realität beschreiben zu können. Schließlich ist es das Kennzeichen konstruktivistischer Positionen, dass „von den verschiedenen Konstruktivismen von Schütz bis Glasersfeld in Frage gestellt [wird], dass die äußere Realität unmittelbar (Hervorhebung im Original) zugänglich sei – d.h. unabhängig von Wahrnehmung und Begriffen, die wir verwenden und konstruieren. ... Dies hat Konsequenzen für die Frage, ob eine Repräsentation (der Wirklichkeit, eines Prozesses oder Gegenstandes) auf ihre Richtigkeit hin am ‚Original überprüftǥ werden kann.“ (Flick 2000: 152f.)
Diese Diskussion ist vor allem aus der philosophischen Debatte um den Konstruktivismus oder aus den Theorien der Semiotik bekannt. Letztere „weisen auf die Unmöglichkeit einer Weltsicht hin, die nicht in irgendeiner Form auf einem Beschreibungssystem und einer Interpretation in dessen Rahmen beruht.“ (Plümacher 1998: 49) Bei der Analyse der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, von Signifikat und Signifikant, geht es nicht um die Relation von Zeichen und Welt, die Symboltheorie hat sich auf die Analyse des Symbolgebrauchs und der Beziehung der Zeichensysteme zueinander zu beschränken (vgl. ebd.). Das heißt jedoch nicht, dass man die Existenz der sozialen Realität als theoretische Kategorie in Frage stellen muss. Die entscheidende Fra18
EINLEITUNG
ge ist vielmehr: Wenn man die Realität empirisch nicht beschreiben kann, weil auch sozialwissenschaftliche Kategorien bereits Konstruktionen der Wirklichkeit sind, wie soll man also das Vorhandensein einer Drift zwischen kulturellem und sozialem System, zwischen Vorstellungen und Realität diagnostizieren? Ich möchte diese Frage mit einem kurzen Vorgriff auf das Theoriekapitel beantworten. Sahlins (1992, 1994) greift die Heuristik der Reibung zwischen kulturellem System und Realität wieder auf und beschreibt differenzierter den Wandlungsprozess des kulturellen Systems. Dabei bezieht er sich empirisch auf die Ereignisse zwischen Landung und Tod des Kapitän Cook auf Hawaii. Das Ereignis der Landung stellt aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Beobachters, der sowohl mit der Kultur der Entdecker als auch mit der Kultur der Hawaiianer vertraut ist, eine Wirklichkeit dar, die den hawaiianischen kulturellen Kategorien gegenüber widerständig ist. Widerständig heißt, das Ereignis reibt sich an den vorhandenen Deutungsstrukturen, eine spontane, routinierte Interpretation ist den Hawaiianern nicht möglich. Welche Bedeutung soll man der Landung eines sehr großen Boots mit weißen Männern an Bord zuschreiben? „Die Welt ist nicht gezwungen, sich der Logik zu fügen, mit der manche Menschen sie wahrnehmen.“ (Sahlins 1992: 135) Nichtsdestotrotz wurde das Ereignis der kulturellen Logik Hawaiis unterworfen. Die Landung Cooks wurde als die Ankunft des Gottes Lono interpretiert. Im Zuge dieses und der folgenden Ereignisse veränderten sich kulturelle Kategorien indem sie angewendet, reproduziert wurden. Sahlins kommt also zu dem Schluss, dass „die Transformation einer Kultur ein Modus ihrer Reproduktion ist.“ (ebd.), siehe dazu ausführlich ab Seite 39. Damit lenkt Sahlins die Aufmerksamkeit von der Beziehung zwischen kulturellem und sozialem System weg in Richtung der Wechselwirkung von Struktur und Ereignis í Struktur meint hier das kulturelle System. Das Ereignis ist sowohl bei Geertz als auch bei Sahlins Ausdruck einer Erschütterung der kulturellen Kategorien durch einen konkreten empirischen Kontext.4 Im Falle des Begräbnisses auf Java besteht der empirische Kontext in den neuen sozialen und politischen Gruppierungen, die den gleichzeitig bestehenden kulturellen Kategorien von 4
Die Formulierung „empirischer Kontext“ wird von Sahlins parallel zu „Wirklichkeit“ gebraucht. Ich entscheide mich für den Begriff der empirischen Kontexte, da er genauer auf eine konkrete Situation abzielt und nicht den Beiklang hat, objektive Erkenntnis zu suggerieren. Im Gegenteil, empirische Arbeit ist immer der methodisch begründete Versuch, die empirische Welt zu erfassen.
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Trauer, Begräbnis und Seelenwanderung gegenüberstehen. Im Falle der Landung Kapitän Cooks muss die Landung eines ungewohnt großen und fremdartigen Schiffes mit weißhäutigen Fremden als Besatzung erklärt werden. Bestehende Bedeutungsstränge werden also durch empirische Kontexte herausgefordert, die gewohnte Wahrnehmungsroutinen überlasten. Demzufolge ist es also das Ereignis, das für den wissenschaftlichen Beobachter als Indikator fungiert, um eine Drift, einen Reibungsprozess zwischen Realität und Kultur zu erkennen. Belege für eine solche Drift zwischen kulturellem und sozialem System wären dann in Irritationen, in Sprachlosigkeit und vor allem in der Deutungsarbeit zu suchen, die im Zuge des Ereignisses aufflammt. Deutungsroutinen dürften nicht mehr die vertraute empirische Unterstützung finden, die gewohnten Konstruktions- und Argumentationsmechanismen müssten versagen bzw. deutlich irritiert werden. Wenn man davon ausgeht, dass Bedeutungssysteme die Basis für Handlungsentscheidungen sind, dann müssten im Falle solcher Ereignisse auch die Handlungsroutinen irritiert werden bzw. aussetzen. Es müsste eine Reflexion der Handlungsoptionen beobachtbar sein und evtl. die Entwicklung neuer, bis dahin unbekannter Handlungsmöglichkeiten. Der Gegenstand, der zu erforschen ist, wenn man sich der Analyse kultureller Wandlungsprozesse widmet, sind also die Deutungen von Ereignissen bzw. die Deutungsarbeit der Subjekte bzw. Kollektive, die in das Ereignis involviert sind. Der Gegenstand des Projekts ist also nicht die schrumpfende Stadt, sondern das Interesse gilt den kulturellen, historisch gewordenen Vorstellungen von Stadtentwicklung, den Deutungsmustern bzw. den kollektiven Sinnstrukturen (zu den Begriffen ab Seite 31) In einem frühen Stadium des Projekts formulierte ich die Fragestellung noch so, dass ich die Veränderung der Vorstellungen von Stadt untersuchen wolle. Während der Erhebung wurde deutlich, dass die Deutungsmuster, die im Feld verhandelt wurden, sich nicht auf ein statisches, ausformuliertes Modell von ‚Stadtǥ beziehen, sondern allesamt Entwicklungskonzepte sind. Gegenstand meiner Forschung sind also Deutungsmuster von Stadtentwicklung und ihre Reibung mit dem empirischen Ereignis des Schrumpfens von Städten.
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EINLEITUNG
Stand der Forschung: Schrumpfende Städte, Stadtumbau und die Rede vom Paradigmenwechsel Phasen und Themen des Diskurses Nicht nur die Praxis der Stadtentwicklung, auch der wissenschaftliche Diskurs wurde im 20. Jahrhundert von der Vorstellung permanenten Wachstums dominiert, die Faszination von Größe und Wachstum begleitete die stadtsoziologische Forschung über Jahrzehnte. Wirths Definitionskriterien für Städte – Größe, Dichte und Heterogenität (vgl. Wirth 1974: 48) – prägten das wissenschaftliche Verständnis von Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bevölkerungswachstum durch Arbeitsmigration war dabei die Entwicklungsdynamik, die benötigt wurde, um diese Kriterien zu erfüllen. Wachstum wurde so in der Stadtforschung zum konstitutiven Element des Stadt-Begriffs. Die „urban-size-ratchet“-Theorie5 des amerikanischen Stadtökonomen Wilbur Thomson (1965: 24) stellte gar die Behauptung auf, dass Städte mit mehr als einer viertel Million Einwohnern aufgrund der Binnennachfrage nicht mehr schrumpfen könnten. Kabisch u.a. (2004: 24) stellen fest, dass die sozialökologischen und die politökonomischen Theorieansätze der Stadtsoziologie – zwei der großen klassischen Theorieströmungen, die stadtsoziologische Arbeiten im vergangenen Jahrhundert bestimmt haben í nur in der Lage sind, Prozesse aus der Wachstumsperspektive heraus zu betrachten. „Schrumpfung liegt also quer zu den wesentlichen Theoriesträngen der Stadtsoziologie, und in der Folge hat die wissenschaftliche Debatte Schwierigkeiten, das Thema aufzunehmen, abzugrenzen und in der gebotenen intellektuellen Tiefe zu behandeln.“ (ebd.)
Gegen Ende der 1990er Jahre, angestoßen durch die Wohnungsleerstände im Osten Deutschlands, wurde das Diskussionsangebot von Häußermann und Siebel, auf das die Autoren nach eigenen Angaben über Jahre nur „steinernes Schweigen“ ernteten (zitiert nach Hannemann 2004: 74) wieder aufgenommen. Die Artikel werden heute in fast allen stadtsoziologischen Beiträgen zum Thema zitiert. Der Diskurs hat seine ersten Klassiker. 5
„Ratchet“ kann übersetzt werden mit „Ratsche“ und meint das Prinzip des Sperrens der Rückwärtsbewegung.
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Der Aufruf von Weiske und Schmitt (2000) zu einem breiten Dialog unter WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen wurde mitgerissen von einer Welle plötzlich gleichzeitig entstehender Beiträge, nachdem die so genannte „Leerstandskommission“ mit ihrem Bericht (Pfeiffer u.a. 2000) das Eis brach, jener Bericht, in dem die Zahl der leer stehenden Wohnungen im Osten der Republik erstmals mit ca. einer Million beziffert wurde. Nur sechs Jahre später (mit Stand 24. Nov. 2006) zählt die Bundestransferstelle Stadtumbau Ost 1536 Publikationen zum Thema auf ihrer Homepage, einschließlich der grauen Literatur6. Inzwischen ist es Alltagsgeschäft der Stadtforschung, von schrumpfenden Städten zu sprechen und über sie zu forschen. Längst ist anerkannt, dass Schrumpfungsprozesse zu Dauerphänomenen der Stadtentwicklung in Deutschland zählen werden, dass die Stadtpolitik und die Stadtplanung sich in einer schrumpfenden Entwicklung neu finden und definieren müssen, und das nicht nur in Ostdeutschland, nicht einmal nur in Deutschland. Einen Überblick über die weltweiten Ausmaße städtischer Schrumpfungsprozesse gibt der „Atlas der schrumpfenden Städte“ (Oswalt und Rieniets 2006) Der Diskurs zum Thema schrumpfende Städte lässt sich m.E. rückblickend in drei Phasen einteilen. Da wäre zunächst die Phase der Tabuisierung des Themas in Politik und Wissenschaft, die bis in das Jahr 2000 hineinreicht und spätestens mit der Veröffentlichung des Berichts der Leerstandskommission endet (ausführlich beschrieben bei Hannemann 2004: 77ff.). Dem folgte etwa von 2000 bis etwa 2003 die Phase der Problematisierung, für die eine Mischung aus praxisbezogenen und alarmierenden, appellierenden Beiträgen charakteristisch war. Etwa seit etwa 2004 beginnt nun eine Phase der Differenzierung des Themas und der Beiträge, die zunehmend analytischer und weniger normativ gestaltet werden. In der Phase der Problematisierung durchziehen zwei wesentliche Motive die Beiträge zum Thema: Auf der einen Seite ist von Schwierigkeiten die Rede, von einer Krise, von Verlusten und Abwärtsspiralen. Auf der anderen Seite, meist in denselben Beiträgen – und tendenziell am Schluss – werden Chancen und Möglichkeiten beschrieben, Experimente eingefordert, Kreativität und Mut oder Gelassenheit angemahnt. Exemplarisch stehen für letzteren Komplex der Aufsatz von Schröer (2002), das Initiativprojekt „Shrinking Cities“ der Kulturstiftung des Bundes, das 2002 startete (Oswalt 2005, 2004b) oder die IBA Stadtumbau 2010 in Sachsen-Anhalt (zur IBA vgl. Publikationsreihe „Die ande6
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Vgl. http://www.stadtumbau-ost.info/, zuletzt aufgerufen am 24.11.2006.
EINLEITUNG
ren Städte“, Band 1 und 2 – IBA-Büro 2004). Diese parallele Darstellung von Problemen einerseits und Chancen andererseits ist charakteristisch für viele Praxisberichte, so zum Beispiel bei Fischer (2001a und b, 2002), Lütke Daldrup (2003) oder für die frühen Problemaufrisse in den Fachpublikationen, etwa bei Glock (2002), Müller u.a. (2003a) oder Winkel (2003). Obwohl sich das Thema also mit einer Fülle von Beiträgen in der Stadtforschung etabliert hat, kommen Kabisch u.a. (2004: 23) zu dem Schluss, dass „originär stadtwissenschaftliche Beiträge“ selten geblieben seien. Ihrer – und meiner Einschätzung zufolge stehen die meisten Beiträge in einer anwendungsorientierten Perspektive, die sich mit Fragen der (statistischen) Ursachen, der Folgen für die Wohnungswirtschaft, die Infrastruktur oder die Kommunalhaushalte beschäftigen, das städtebauliche Instrumentarium reflektieren, aus der Praxis berichten und die praktischen Erfahrungen reflektieren. Parallel zu den praxisbezogenen Beiträgen entstand in der Phase der Problematisierung eine Vielzahl von Beiträgen mit appellativem Charakter. Sie rufen zur Reflexion und zur gesellschaftlichen bzw. historischen Einordnung des Themas auf und bieten ihrerseits Reflexionsansätze. Bernt, der diese Zweiteilung des Diskurses ebenfalls beobachtet, charakterisiert letztere als stark normativ orientierte Beiträge, die sich wenig „um einen Bezug zur politischen Wirklichkeit ... scheren“ und nennt exemplarisch Oswalt et al. 2002, Lang, Tenz 2003 sowie Kil 2004a (vgl. Bernt 2005: 109). All dies sind Beiträge, die auf verschiedene Art den offenen, reflexiven Umgang mit der eingetretenen Entwicklung fordern. Der Artikel von Weiske und Schmitt (2000) war hier einer der Pionierartikel, der zum breiten Diskurs auf allen Ebenen und zur Neubestimmung des Entwicklungsbegriffs aufrief. In diesem Sinne wird – zumindest in der wissenschaftlichen Reflexion – das Ende des Wachstumsparadigmas eingeläutet und die Ausgestaltung einer neuen Epoche im Städtebau bzw. in der (ostdeutschen) Gesellschaft eingefordert. Diese Epoche habe mit anhaltenden und irreversiblen Schrumpfungsprozessen zu rechnen. Mit Titeln bzw. Schlagworten wie „Luxus der Leere“ (Kil 2004a), „Stadtumbau und Spaß dabei“ (Schröer 2002), „less is more“ (Schröer u.a. 2003), werden Skizzen einer neuen Zeit, eines neuen Selbstverständnisses von Stadtplanung entworfen. Themen wie städtebauliche Experimente, Kreativität, demokratische Nutzung von Freiräumen bzw. frei gewordenen Räumen und alternative Denkweisen des Städtischen – oder eben nicht mehr Städtischen – stehen hier im Vordergrund. Hier einzuordnen sind auch die zahlreichen künstlerischen Beiträge, v.a. das oben bereits erwähnte Initiativprojekt „Shrinking Cities“ (vgl. 23
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
Oswalt 2004b) oder das Projekt „Superumbau – die verkunstete Platte“ in Hoyerswerda7, charakteristisch für diesen Strang etwa der Beitrag von Steiner (2003): „Wenn alles leer steht ... Kunst!“. Betont wird der Leerstand als Freiraum für experimentelles Handeln, das neue Orientierungen in kultureller oder sozialer Hinsicht befördern soll. Die oben bereits erwähnte Internationale Bauausstellung „IBA Stadtumbau 2010“ in Sachsen-Anhalt und ihre Publikationsreihe „Die anderen Städte“ gehören ebenfalls zu dieser Gruppe von Beiträgen, entsprechend ist der Titel des ersten Bandes auch „Experiment“ (IBA-Büro 2004). Inzwischen beginnt sich die wissenschaftliche Diskussion zu differenzieren und tritt damit in die dritte Phase, die durch die Ausbildung von speziellen Themenstellungen gekennzeichnet sein wird. Das Thema ist nun nicht mehr neu, die Beiträge beginnen nicht mehr mit der Verkündung der ungeheuerlichen Nachricht. Die experimentellen, appellativen Texte werden von systematischeren und spezialisierteren Darstellungen abgelöst. Die ersten Monographien von Forschungsprojekten erscheinen wie beispielsweise die Pionierstudie von Hannemann (2004), die Schrumpfungsprozesse in ostdeutschen Kleinstädten untersucht, eine Fallstudie zum Stadtumbau, seinen Akteuren und dessen Wahrnehmung (Kabisch u.a. 2004), ein Vergleich der Stadtpolitik in schrumpfenden Städten (Glock 2006), oder eine systematische Ausarbeitung des Themas aus planerischer Sicht bei Weidner (2005). Der ausgeblendete Teil der Stadtgeschichte – die Schrumpfungsprozesse, die es in Mitteleuropa wiederholt gegeben hat, werden aufgearbeitet (vgl. Benke 2004). Das Thema wird international in den Blick genommen (Berliner Debatte Initial 18, 1/2007, Steinführer und Haase 2007, Kunzmann 2003, www.shrinkingciteies.com), es wird an Theorien angebunden, etwa an die Urban Regime Theorie (vgl. Bürkner 2005) oder an demographische Theorien wie den Zweiten Demographischen Übergang (vgl. Steinführer und Haase 2007). In der stadtsoziologischen bzw. raumwissenschaftlichen Diskussion bilden sich Themencluster heraus, etwa die Thematisierung von Prozessen der Entscheidungsfindung und den dazugehörigen Akteurskonstellationen (vgl. v.a. Weiske u.a. 2005), die Beziehung zwischen Schrumpfung und Suburbanisierung (vgl. u.a. Köppen 2005, Nuissl und Rink 2004, Kühn 2001). Ein Thema, das quasi für verschiedene Diskursstränge verbindend wirkt, ist das Potenzial von Brachflächen. Diese werden von den Planungspraktikern genauso besprochen wie von den Künstlern,
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Vgl. http://www.spirit-of-zuse.de/kunstbereich/verkunsteteplatte/platte/ index2.htm, zuletzt aufgerufen am 04.08.2005.
EINLEITUNG
Architekten und Philosophen, von den Ingenieurwissenschaftlern und Ökologen genauso wie von den Beteiligungsforschern und -praktikern8. Kennzeichnend für die jetzige, dritte Phase der Diskussion ist auch, dass Einigkeit darüber besteht, dass die Phänomene in Ostdeutschland kein Sonderfall sind, sondern nur zuspitzen, was sich als grundsätzliche, allgemeine Tendenz auch in weiten Teilen der Bundesrepublik, Europas bzw. überhaupt der westlichen Welt abspielen wird. Überall da, wo die Deindustrialisierung bzw. Deökonomisierung Wanderungsschübe auslöst, wo aufgrund einer Geburtenrate unterhalb des Reproduktionsniveaus, aufgrund von Suburbanisierung oder neuer, noch nicht beobachteter Ursachenkomplexe die Einwohnerzahlen in Zukunft sinken und bauliche Strukturen brach fallen, wird über kurz oder lang die Rede sein von schrumpfenden Städten und Regionen. (Kil 2004a, Hannemann 2004, Müller u.a. 2003a: 12) Die Bundesregierung hat längst ein Programm Stadtumbau-West aufgelegt, seitdem ist die Version vom spezifisch ostdeutschen Problem offiziell ad acta gelegt. Die Brücke wird geschlagen zu den Erfahrungen des Ruhrgebiets (exemplarisch Ganser 2003). Die Erfahrungen in ostdeutschen Städten werden nun als Vorausphänomene gewertet (Hannemann u.a. 2002a: 263), der Osten als Testgelände angesehen (Kil 2004b: 20f.) bzw. die beobachteten Phänomene als lediglich quantitative Zuspitzung allgemeiner Phänomene (Müller u.a. 2003a: 12) betrachtet.
Begriffsdefinitionen Dass in den 1990er Jahren noch eine Tabuisierung des Themas vorherrschte, war auch damit verbunden, dass ein Begriffsapparat fehlte, der allgemein anerkannt und verwendet wurde. Diese Begriffslosigkeit ist inzwischen überwunden. Man spricht von der Entwicklung als dem „Schrumpfen von Städten“, die Städte heißen entsprechend „schrumpfende Städte“. „‚Schrumpfende Stadtǥ ist in Stadtplanung und Stadtsoziologie ein terminus technicus geworden, mit dem man Städte klassifiziert, deren Einwohnerzahl in erheblichem Maße zurückgeht, und bei denen es so aussieht, als wäre dies von Dauer.“ (Führ 2004: 129)
Alternative Vorschläge wie etwa die lean city (Lang und Tenz 2003) oder auch die Charakterisierung der entstandenen Räume als deep space 8
Vgl. exemplarisch den Sammelband „Stadtentwicklung rückwärts! Brachen als Chance?“ Müller u.a. 2003b.
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(Haas und Schulze-Bäing 2003) haben sich nicht durchgesetzt. Dafür ist der Begriff „perforierte Stadt“ zur Beschreibung des sozialräumlichen Zustands schrumpfender Städte inzwischen gebräuchlich (vgl. Doehler 2003, Stadtbauwelt Heft 24/2001). Der Begriff des Schrumpfens wird hin und wieder als eigentlich nicht zutreffend kritisiert, da die Städte sich nicht in der Fläche zusammenziehen, wie das Wort „Schrumpfen“ suggeriert. (u.a. Weiske und Schmitt 2000, Führ 2004: 130f., 145, Fischer 2002) Weitere dominierende Begriffe sind der „Stadtumbau“ sowie der „Rückbau“ als Antwort der Stadtplanung auf den Schrumpfungsprozess. Zu Recht stellen Kabisch u.a. (2004: 16) fest, dass die Begrifflichkeiten zunehmend unscharf verwendet werden und dass diese mangelnde Begriffsschärfe „zum Großteil eine Folge politischer Motive in der Problembeschreibung (ist, KG), denn in der öffentlichen Diskussion wird nach wie vor versucht, negative Assoziationen zu vermeiden und nur positive Botschaften zu vermitteln. Abrisse werden dabei als ‚Rückbauǥ oder ‚Umbauǥ etikettiert, der Rückgang an Einwohnerzahlen, Wirtschaftskraft und Infrastruktur wird nicht als ‚Schrumpfungǥ beschrieben, sondern als ‚Verkleinerungǥ, ‚Rückzugǥ, oder sogar als Bewegung zur ‚lean cityǥ.“ (Kabisch u.a. 2004: 16)
Viele Autoren weisen darauf hin, dass eine Reduzierung des Themas auf Bevölkerungsrückgang und Wohnungsleerstand zu kurz greift, um das Phänomen der Stadtschrumpfung adäquat zu erfassen, so wie etwa Hannemann feststellt: „Zusammenfassend folgt die Debatte folgender Formel: Bevölkerungsrückgang = Leerstand = „Platte“ = Rückbau (Abriss).“ (Hannemann 2002: 67). Haller, dessen Ziel es ist, Begrifflichkeiten zu klären, kritisiert diese Engführungen ebenfalls, versucht den Begriff Schrumpfung zu erweitern und schreibt: „Es geht also um die ‚Schrumpfungǥ von Städten, um den dauerhaften Verlust von Einwohnern sowie die anhaltend nachlassende wirtschaftliche Dynamik in vielen Regionen Deutschlands, Europas und der Welt.“ (Haller 2004)
Diese und ähnliche Definitionen sind m.E. nicht weiterführend, da mit der nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik nur eine von mehreren Ursachen in eine Definition integriert wird. Schrumpfungsprozesse, die durch andere Ursachenkomplexe, etwa Kriege, Suburbanisierung oder demographische Faktoren ausgelöst werden, würden hier nicht erfasst. Eine ganz andere Variante ist die Definition von Bürkner (2003), der ebenfalls aus einer Kritik der Verengungen des aktuellen stadtpolitischen Diskurses heraus folgende Definition vorschlägt:
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EINLEITUNG
„Schrumpfung wird als Prozess der sozialräumlichen Restrukturierung begriffen, d.h. sowohl soziale als auch physische Räume (z.B. gebaute Strukturen) sowie ihr Verhältnis zueinander wandeln sich – teilweise recht abrupt. Ihre wechselseitige Passfähigkeit nimmt ab.“ (Bürkner 2003: 1)
Diese Definition fokussiert die Wechselwirkungen zwischen sozialen Prozessen und räumlichen Strukturen und trifft m.E. als genuin stadtsoziologische Definition den Kern. Der Verzicht auf eine Festlegung von Ursachen und Phänomenen macht diese Definition besonders auch zur Einordnung von historischen und anderen internationalen Schrumpfungsprozessen fruchtbar. Lediglich fehlt hier die Ausrichtung auf abnehmende Prozesse, sie könnte so auch für ein explosionsartiges Wachstum von Städten stehen. Ich schlage in Anlehnung an Bürkner also folgende Definition vor: Stadtschrumpfung wird als Prozess der sozialräumlichen Restrukturierung unter den Bedingungen einer dauerhaft sinkenden Einwohnerzahl begriffen, bei dem sich soziale und physische Räume sowie ihr Verhältnis zueinander wandeln und ihre wechselseitige Passfähigkeit abnimmt. Mit der abnehmenden Passfähigkeit kommt es zu den für schrumpfende Städte typischen Phänomenen wie etwa dem Brachfallen gebauter Strukturen oder der Unterauslastungen der städtischen Infrastruktur. Weitere Forschung wird sehr wahrscheinlich noch andere solche Phänomene herauszuarbeiten helfen, etwa die Auswirkungen auf Segregationsprozesse, auf soziale Netze oder stadtökologische Problemstellungen. Ansätze dazu finden sich bei Heydenreich (2002), Wiest und Hill (2004), Schiller u.a. (2003). Ich schlage vor, alle weiteren Merkmale als verschiedene Ursachen von Schrumpfungsprozessen zu fassen, die von Fall zu Fall variieren können. Über verschiedene Ursachenkomplexe ließen sich Typen von schrumpfenden Städten beschreiben. Die Diskussion der Ursachen für Schrumpfungsprozesse bezog sich zunächst auf die aktuellen Phänomene in Ostdeutschland und erfuhr dann eine Erweiterung sowohl für historische sowie andere weltweite Schrumpfungsprozesse. Für Ostdeutschland gilt ein Komplex aus drei wesentlichen Ursachen als anerkannt: die Deindustrialisierung, die Suburbanisierung und der demographische Wandel (vgl. exemplarisch Banse und Effenberger 2002, Glock 2002, Hannemann u.a. 2002b, Prigge 2005, Rietdorf 2001). Von Hannemann werden diese drei Komplexe im Kontext ihrer Forschung zu Kleinstädten noch weiter zugespitzt. Sie stellt fest, dass es sich bei den wirtschaftlichen Prozessen nicht nur um Deindustrialisierung handelt, sondern 27
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
dass auch andere Wirtschaftsbereiche, wie Landwirtschaft oder Militär zusammenbrechen und man demzufolge von einer Deökonomisierung sprechen müsse. Auch schlägt sie vor, von Desurbanisierung statt lediglich von Suburbanisierung zu sprechen und von Depopulation statt von Bevölkerungsrückgängen (vgl. Hannemann 2003, 18f.). Der Begriff Stadtumbau wurde in der Stadtforschung bereits früher verwendet, – etwa als ökologischer Stadtumbau. Er erhielt im Zuge der Diskussion um schrumpfende Städte eine neue Ausrichtung (vgl. Haller 2004). Heute steht er allgemein für den Maßnahmenkomplex, der ergriffen wird, um den Schrumpfungsprozess der Städte zu gestalten, vgl. dazu vor allem die Dokumentationen der Programme Stadtumbau Ost und Stadtumbau West (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a, 2003b, 2004). Der Begriff ist ebenso unscharf gefasst wie der der schrumpfenden Städte. Er reicht von der Fokussierung auf AbrissMaßnahmen über eine „Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität“ (Häußermann 2002: 29) bis hin zu dem Versuch, dem Begriff eine neue inhaltliche Ausrichtung zu geben als „eine umfassende Strategie zur Auseinandersetzung mit den neuen Herausforderungen von Stadtentwicklung unter Nachhaltigkeitsprämissen“ (Kabisch u.a. 2004: 16). Eine m.E. gute Definition von Stadtumbau gibt Haller (2004): „Es geht – im Unterschied zu bisherigen Erfahrungen der Stadtentwicklung – erstmals in der deutschen Städtebaugeschichte um die systematische Operationalisierung eines Schrumpfungsprozesses mit ökonomischen, rechtlichen und planerischen Instrumenten“ (Haller 2004)
Zwei weitere Begriffe, die den Diskurs bestimmen, sind die Begriffe Abriss und Rückbau, die häufig synonym verwendet werden. Kabisch u.a. schlagen vor, diese beiden Begriffe sauber zu trennen, indem Rückbau für „sowohl den vollständigen Abriss eines Baukörpers als auch dessen teilweise Rückbildung im Sinne von Terrassierung von Gebäudeetagen oder dem Abtragen von Obergeschossen bis hin zur Umformung von Blockstrukturen zu freistehenden Wohngebäuden,“ stehen soll, Abriss dagegen für „die vollständige Beseitigung eines Baukörpers in relativ kurzer Zeit“ verwendet werden soll. (Kabisch u.a. 2004: 17) Als letztes möchte ich noch explizit auf die Diskussion um einen möglichen Paradigmenwechsel in der Entwicklung der Städte eingehen, da dies für die Frage nach dem Wandel von Sinnstrukturen besonders relevant ist.
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EINLEITUNG
Vom Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung „Das Wort vom Paradigmenwechsel geistert bereits seit längerem in der fachlichen Literatur herum. Jede kleine Veränderung ist plötzlich ein Paradigmenwechsel. Stadtumbau-Ost ist aber wirklich einer. Denn hier geht es darum, dass die Grenzen des Wachstums überschritten sind und unser Denkmodell vom ‚Schneller – Höher – Weiterǥ nicht mehr greift. Schrumpfung wird zum zukünftigen Alltag unserer Gesellschaft gehören.“ (Bohne 2003)
Der Begriff des Paradigmenwechsels ist ein prominenter Terminus im Stadtumbau-Diskurs. Er wird benutzt, um auf die Radikalität der eingetretenen bzw. zu erwartenden Entwicklungen zu verweisen. Dabei wird auf unterschiedlichen – nur analytisch trennbaren Ebenen – von einem Paradigmenwechsel gesprochen. In Politik und Wohnungswirtschaft wird eine Trendwende im Wohnungsbau beschrieben: vom Neubau zum Rückbau. In der Stadtplanung wird von einem Paradigmenwechsel im Planungsverständnis, nämnlich „vom ‚gesteuerten Wachstumǥ auf ‚geordneten Rückzugǥ“9 gesprochen. Hier geht es vor allem um die Planungspraxis, ihre Ziele und Instrumente. Auf einer weiteren, eher gesellschaftstheoretischen bzw. historischen Ebene wird anhand der eingetretenen Entwicklung das Ende des Wachstumsparadigmas als Vorzeichen gesellschaftlicher Entwicklung eingeläutet. Doch was ist nun im soziologischen Sinne ein Paradigma bzw. ein Paradigmenwechsel? Prominent geworden ist der Begriff des Paradigmas bzw. des Paradigmenwechsels über Thomas Kuhns Ausführungen über „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, in der er den Wechsel von vortheoretischen Modellen, die Forschungsansätzen zugrunde liegen, analysiert (Kuhn 1973). Im „Soziologielexikon“ heißt es, ein Paradigma sei ein vortheoretisches Modell der Wirklichkeit, das Grundlage von Handlungen, Wahrnehmungen und Zukunftserwartungen ist (Reinhold 2000: 482). Paradigmen gibt es aber nicht nur in der Wissenschaft. Auch in der Gesellschaft gibt es Paradigmen, die „auf einem bestimmten zeitgebundenen Verständnis von Wirklichkeit (beruhen, K.G.). Im Zusammenhang mit einer Umbildung des allgemeinen Wirklichkeitsverständnisses werden sie abgelöst und durch neue beispielhafte Grundkonzeptionen ersetzt.“10, 9
http://www.stadtumbauwest.info/konzept/stadtumbau.html, zuletzt aufgerufen am 20. 5. 2004 10 http://www.sociologicus.de/lexikon/lex_geb/begriffe/paradigm.htm, zuletzt aufgerufen am 20. 5. 2004
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so ein weiteres soziologisches Lexikon. Die Formulierung „Grundkonzeptionen“ weist darauf hin, dass nicht jedes Verständnis von Wirklichkeit schon ein Paradigma ist, sondern nur jene, die unhinterfragt die Basis allen Verständnisses von Wirklichkeit bilden. Im Diskurs über schrumpfende Städte diskutieren also nur jene Beiträge einen Paradigmenwechsel in diesem Sinne, die die Ebene der Konzeption von Wirklichkeit besprechen, und dies sind lediglich die Beiträge, die sich mit einem grundlegenden Wandel in der (vorbewussten) Konzeption von Stadtentwicklung beschäftigen. In diesem Sinne sind die Trendwende im Wohnungsbau und der Wandel im Planungsverständnis nur Teilbereiche der komplexeren Frage, ob sich grundlegende Annahmen über die Entwicklung von Städten ändern, die bislang unhinterfragt die Basis von Wahrnehmungen, Handlungen und Zukunftserwartungen gewesen sind. Einige Positionen aus der Fachliteratur möchte ich dazu kurz skizzieren. Schröer u.a. (2003) beziehen sich auf die Ebene der Stadtstruktur und überlegen, wie eine „alternative Urbanität“ aussehen könnte. Im Kern plädieren sie für eine ökologische und gestalterisch-funktionale Aufwertung der Gründerzeitstrukturen, wie sie beispielsweise im Leipziger Osten verfolgt werden. Stadtentwicklungsziele wie etwa die ökologische und landschaftsgestalterische Aufwertung von Flussläufen, die bereits seit längerem auf der Agenda von PlanerInnen und PlanungswissenschaftlerInnen stehen, finden in schrumpfenden Städten neue Spielräume und treffen auf weniger Konkurrenz im Zugriff auf innerstädtische Flächen. Ein Höhepunkt dieser Debatte war die Marienthaler Erklärung des Instituts für ökologische Raumentwicklung Dresden (IÖR), und des Instituts für Entwicklungsplanung und Strukturforschung an der Universität Hannover (ies). Sie ist ein Aufruf zur Diskussion über die Auswirkungen des demographischen Wandels auf das Ziel einer ökologischen Siedlungsentwicklung. Hier wurden gebündelt Risiken und Chancen benannt, die der Einwohnerrückgang für ökologische Ziele bringt, etwa die Chance, den Flächenverbrauch zu bremsen, oder die Frage nach einem möglichen Funktionsverlust des Öffentlichen Personennahverkehrs (IÖR und ies 2004). Diese Ansätze verbleiben in der Logik der Stadtplanung als normativ gelenkte Stadtgestaltung, verrücken aber die Prioritäten in Richtung ökologischer Ziele. Diese Position bildet im Stadtumbau-Diskurs derzeit die stärkste Schnittstelle zu nachhaltiger Stadtentwicklung11. Sie wird in vielen Planungsansätzen über Stichworte wie „Zwischenbegrünung“ oder „Renaturierung“ aufgegriffen. 11 Den Begriff der nachhaltigen Stadtentwicklung verwende ich im Übrigen pragmatisch in der Bedeutung einer integrierten Entwicklung verschiede-
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EINLEITUNG
Anders setzen die Thesen von Doehler an, die das Ende der Epoche normativen, rationalen Planungshandelns für gekommen sieht und einen Wandel des Planungsverständnisses hin zu mehr Deskription und Spiel überlegt. Damit verknüpft sie mehrere Ebenen, auf denen der Paradigmenwechsel diskutiert wird, s. o. (Doehler 2003). In diesen Diskurszusammenhang sind auch die Publikationen von Liebmann und Robischon (2003) und die bereits erwähnte Ausstellung Shrinking Cities (Oswalt 2004b, 2005) einzuordnen. Das Thema Kommunikation, Steuerung und Planungskultur war ebenfalls Gegenstand einer Fachtagung im Februar 2004 (vgl. Weiske u.a. 2005). Besonders interessant für die Frage nach Wandlungsprozessen erscheint der Beitrag von Weiske (2005a), die argumentiert, dass Schrumpfungsprozesse in den Städten neue Verhandlungssysteme auf den Plan rufen, die entscheidend die Zukunftschancen der jeweiligen Gebiete beeinflussen, dazu mehr in der Diskussion der Ergebnisse. Kil, der sich zur philosophisch-feuilletonistischen Stimme des Stadtumbaudiskurses entwickelt hat, redet auch von einem Epochenwandel, setzt jedoch auf noch einer anderen Ebene an. Er verbindet die räumlichdemographischen Entwicklungen mit der Entwicklung von Globalisierung und ‚De-ökonomisierungǥ. Kil (2004a) fragt danach, was das neue Zeitalter charakterisieren könnte, welche Zukunft Landstriche und Städte haben, die staatlich nicht mehr zu versorgen sind und auf Dauer ausdünnen oder brach fallen und verknüpft dies mit der Frage nach positiven Entwürfen für Menschen und deren Lebensräume jenseits der „herkömmlichen (Industrie-) Arbeit“. Dabei bringt er Schlagworte wie „alternative Lebensformen“ und „Entschleunigung“ ins Spiel, also Gegenentwürfe zu jener Art von gesellschaftlicher Entwicklung, die (vor allem den östlichen) Teilen Deutschlands nun den Rücken kehrt. Hannemann (2004) sieht eine Möglichkeit zu positiven Entwicklungskonzepten für schrumpfende (Klein-)Städte in der Orientierung auf ihr soziales Kapital. Damit würde nicht weiter ihr Entwicklungsabstand zu den Zentren (wirtschaftlicher) Entwicklung thematisiert, sondern ihr lokaler und regionaler Eigensinn, ihre Besonderheiten und endogenen Potenziale. Alle Ansätze sind sich jedoch einig in dem Punkt, dass gerade Ostdeutschland zu einem Testfeld, einem Laboratorium für die Erprobung neuen Gestaltens/Handelns/Lebens wird.
ner, als gleichwertig betrachteter Teilbereiche der Stadtentwicklung, siehe dazu ausführlich Großmann 2005c.
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Theorie: Die Transformation kollektiver Sinnstrukturen
Theoretische Verortung in der Kulturtheorie „Die Sozialwissenschaften stellen sich zunehmend als Kulturwissenschaften dar, die symbolische Ordnungen rekonstruieren...“ (Reckwitz 2000: 16).
Die vorliegende Arbeit verortet sich prinzipiell im kulturtheoretischen Programm, d.h. in der Theorielandschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten im Rahmen des cultural turn’s in den Sozialwissenschaften entwickelt hat. Im Mittelpunkt dieser Theorielandschaft stehen bei allen vorhandenen Unterschieden die handlungskonstitutiven Sinnsysteme, die symbolischen Ordnungen, vor deren Hintergrund die Menschen der sozialen Welt Sinn und Bedeutung verleihen. Diese Sinnsysteme sind mit dem cultural turn der Sozialwissenschaften seit Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zu einem bevorzugten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Die wesentlichen Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit kommen dabei aus drei verschiedenen theoretischen í und auch geographischen í Richtungen: Dies ist einmal die amerikanische interpretative Anthropologie mit und nach Clifford Geertz. Hier hat sich insbesondere Marshall Sahlins mit der Geschichtlichkeit und mit Veränderungen kultureller Ordnungen und Kategorien beschäftigt. Marshall Sahlins treibt Geertz’ theoretische Skizzen zur kulturellen Dynamik weiter und baut dabei auf einem ausgesprochen strukturalistischen Kulturbegriff auf, der
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AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
in einer gegebenen Gesellschaft ein allumfassendes System von Bedeutungen1 lokalisiert (Sewell 2001: 54). Für die Erklärung kulturellen Wandels greift Sahlins die Reibungsfläche von kultureller Ordnung und empirischer Realität – ähnlich wie Geertz sie skizzierte í wieder auf, führt die Wirkung dieser Reibung detaillierter aus und bringt einen weiteren Auslöser für Veränderungen der kulturellen Ordnung ins Spiel: die aus der biografischen Situation resultierenden Interessen von Akteuren í ein Moment, das sich in der Auswertung der Daten als wichtiges Erklärungsmoment erweisen wird. Ein zweiter theoretischer Anknüpfungspunkt für diese Arbeit kommt aus Deutschland. Angeregt durch den französischen Strukturalismus um Lévi-Strauss und die Phänomenologie – hier vor allem Mead und Schütz í entwickelte Ulrich Oevermann unter dem Stichwort „Objektive Hermeneutik“ ein methodologisches Programm, in dem er u.a. das Konzept der Deutungsmuster einführte und deren Transformation diskutierte. (vgl. Reckwitz 2000: 243ff.) Mit dem Konzept der Deutungsmuster ist es gegenüber den amerikanischen ethnologischen Kulturtheorien möglich, die Existenz konkurrierender Sinnsysteme innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes zu denken. Der Kultur-Begriff wird so zu einem dynamischen Begriff im Plural. Geertz und Sahlins betrachten dagegen eher eine Gesamtheit in der kulturellen Ordnung einer Gesellschaft, wenn auch Widersprüche in dieser Gesamtheit thematisiert werden. Trotz dieses Unterschiedes weist Oevermanns Konzept der Deutungsmuster wesentliche Parallelen zum Geertz’schen Kulturbegriff auf und leistet zudem einen Anschluss an das qualitative Methodenprogramm der Sozialwissenschaften. Ein weiterer Vorzug zu anderen Begriffen und Autoren – beispielsweise zur Wissenssoziologie í besteht darin, dass Oevermann sich explizit auch mit der Transformation von Sinnsystemen beschäftigt. Die Anbindung dieser konkurrierenden, in Transformation begriffenen Sinnsysteme an Akteursgruppen und Machtbeziehungen leistet der dritte theoretische Bezugspunkt der Arbeit, die Diskurstheorie mit und nach Foucault. Michel Foucault entwickelte in Frankreich den LéviStrauss’schen Strukturalismus dahingehend weiter, dass er die Beschreibung von Diskursen als Wissensformationen über sehr lange Zeiträume verfolgt und sie mit der Frage nach Machtstrukturen verknüpft. Damit 1
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An einem derartig singulären Kulturbegriff wird inzwischen vielfältige Kritik geübt, so in der Soziologie, in den Kulturwissenschaften und den Geschichtswissenschaften sowie auch bei den Anthropologen selbst. Zur expliziten Kritik an Sahlins Verwendung des Strukturbegriffs im Singular siehe den Aufsatz von Sewell 2001.
DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
begründete er eine eigene wissenschaftliche Tradition innerhalb des Poststrukturalismus. Foucaults theoretische Konzeptionen wurden auch in Deutschland aufgegriffen und weiterentwickelt und dabei in verschiedene Richtungen spezialisiert (vgl. Keller u. a. 2001b, 2004b). Eine solche Weiterentwicklung stammt von Michael Schwab-Trapp, der in seiner Arbeit den Bogen zurück zur amerikanischen interpretativen Anthropologie herstellt und – anknüpfend an Foucault í ein soziologisches Konzept von Diskurs und Diskursanalyse entwirft. Er beschäftigt sich mit diskursiven Ereignissen als Auslösern von kulturellem Wandel. Die Entscheidung, Schwab-Trapps Begriffssystem als Weiterentwicklung der Diskursanalyse nach Foucault zu benutzen, war sowohl theoretisch als auch empirisch motiviert. Die theoretischen Vorteile lagen in der von Schwab-Trapp selbst getroffenen Anbindung an den Sahlins’schen Ereignisbegriff und an der Orientierung auf kulturelle Dynamik. Empirisch liegen die Vorzüge seiner Ausführungen in einem präzise definierten und leistungsfähigen Begriffssystem. Damit lassen sich sowohl die Akteurslandschaft von Diskursen, die Akteursbeziehungen inklusive der Machtfrage beschreiben als auch die Frage klären, wie sich theoretisch betrachtet Deutungsangebote als allgemein gültig durchsetzen. Jeder dieser theoretischen Ansätze liefert Heuristiken zur Erklärung und Interpretation der empirischen Befunde. Mich interessiert im Rahmen dieser Arbeit die Gemeinsamkeiten der Ansätze, ihre Kompatibilität und wie sie sich gegenseitig ergänzen. Die Darstellung der theoretischen Konzepte beginnt mit der Diskussion der verschiedenen Begriffe, die im weitesten Sinne die kollektiven Sinnstrukturen beschreiben, die ich in meiner Arbeit untersuche. Dabei möchte ich zeigen, dass hier vor allem zwischen dem Konzept der kulturellen Muster bei Geertz und dem Begriff der Deutungsmuster bei Oevermann eine große Nähe besteht. Im nächsten Schritt stelle ich die Ansätze von Geertz, Oevermann und Sahlins zu kulturellen Wandlungsprozessen vor und diskutiere deren Bedeutung für die vorliegende Arbeit. Zuletzt erläutere ich die diskurstheoretischen Anregungen.
Kollektive Sinnstrukturen als vorbewusster Hintergrund von Handlungen Ich benutze die Begriffe Sinnsysteme, kulturelle Muster/Vorstellungen und Deutungsmuster in der gesamten Arbeit parallel. Kurz gesagt meine ich mit allen drei Begriffen kollektiv geteilte Sinnstrukturen, die den Hintergrund für soziales Handeln darstellen. Reckwitz (2000) begründet 35
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
den gemeinsamen Nenner der im Zuge des cultural turn in den Sozialwissenschaften entwickelten Kulturtheorien über diese gemeinsame Basis ihrer zentralen Begriffe: „Gleichgültig ob diese Sinnsysteme über die Begriffe Wissensvorräte, Deutungsmuster, kulturelle Modelle oder Bedeutungsrahmen eingeführt werden, wie in der Tradition interpretativer Kulturtheorien, oder über die Begriffe der symbolischen Differenzsysteme, bedeutungsgenerierenden Regeln, symbolischen Codes oder Habitusschemata, wie dies für die Tradition neostrukturalistischer Kulturtheorien der Fall ist, oder ob man allgemein von ‚Sinnmusternǥ, ‚Klassifikationssystemenǥ oder ‚Wissensordnungenǥ spricht – das Modell der Handlungserklärung der Kulturtheorien setzt voraus, dass es diese Sinnzuschreibungen und ihre Sinnmuster sind, die den Hintergrund einzelner Handlungen wie kollektiver Handlungsmuster bilden und plausibel zu machen vermögen, warum Akteure sich so und nicht anders verhalten.“ (Reckwitz 2000: 130)
Das Programm des cultural turn ist damit angetreten, kollektive Sinnsysteme nicht mehr als Epiphänomene zu betrachten, sondern als notwendige Bedingung aller sozialen Praxis. Damit werden kollektive Sinnsysteme, ob nun als kulturelle Systeme, als Deutungsmuster, Wissensbestände o.ä., von der Peripherie ins Zentrum theoretischer Überlegungen geholt und zur Erklärung von Handlungen herangezogen (ebd.: 16). „Die Handlungen von Akteuren werden durch diese kognitiv-symbolischen Strukturen insofern begründet, dass sie bestimmte Verhaltensformen ermöglichen und andere als ‚undenkbarǥ ausschließen.“ (ebd.: 130)
Damit lässt sich das kulturtheoretische Programm von anderen Theorietraditionen wie dem Behaviorismus, der formalen Soziologie, der Soziobiologie, von funktionalen Richtungen und Teilen des Neomarxismus abgrenzen. Handlungen werden weder zweckorientiert noch normorientiert erklärt, sondern bedeutungsorientiert: Wissensordnungen fungieren quasi als Sprachen, die es ermöglichen – aber auch dazu zwingen – entsprechend diesen Bedeutungen wahrzunehmen, zu handeln und zu sprechen. Da die Welt für die Subjekte nur als symbolische Welt existiert, werden den jeweiligen empirischen Kontexten zwangsweise Bedeutungen zugeschrieben. Auf diese Weise wird die Welt sinnhaft produziert, es werden kollektive Wissensordnungen etabliert, die über Systeme von Unterscheidungen und Deutungsmustern wirken. Die sinnhafte Ordnung der Dinge entsteht. Sinn ergibt sich im kulturtheoretischen Programm immer dann, wenn eine Einordnung in die Bedeutungsstrukturen vollzogen wird. Sind Phänomene nicht innerhalb der jeweiligen Bedeutungs36
DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
strukturen einzuordnen, ergeben sie keinen Sinn für das jeweilige Kollektiv. (ebd.: 33f.) Diese Grundannahmen gelten für den gesamten Theoriekanon des cultural turn von Schütz über Goffmann, Geertz bis hin zu Taylor sowie von Lévi-Strauss bis zu Oevermann, Foucault und Bourdieu. Reckwitz weist im Übrigen darauf hin, dass die Sinnstrukturen bei den kulturtheoretischen Autoren durchgängig nicht mit einer sprachlichen, expliziten Semantik gleichgesetzt werden, sondern lediglich in Form implizit bleibender Sinnmuster vorliegen, die den Hintergrund jeglichen – nicht sprachlichen und sprachlichen – Handelns bilden. (ebd.: 130) Damit werden Sinnstrukturen auf eine Ebene verlagert, die sich sowohl jenseits der subjektiv bewussten und verfügbaren Realität als auch jenseits der empirischen Realität bewegt. Wie genau die Sinnstrukturen in den zu Rate gezogenen Theorien angelegt werden, sollen die folgenden Abschnitte erläutern.
Geertz: Sinnstrukturen als kulturelle Systeme In Anlehnung an Weber begreift Geertz den Menschen als ein Wesen, das in selbstgesponnene Bedeutungszusammenhänge verstrickt ist. Dieses selbstgesponnene Gewebe „...bezeichnet ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln.“ (Geertz 1995: 46)
In einer Gesellschaft seien im Laufe der Geschichte bestimmte Symbolstrukturen entstanden, mit deren Hilfe die Menschen das vorgegebene nichtsymbolische System í die Wirklichkeit í abbilden, begreifbar machen. Diese gewonnenen Symbolstrukturen erreichen für die Menschen, die in ihnen aufwachsen und handeln, hohe Faktizität, so dass die eigenen Vorstellungen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen. Diese Vorstellungen sind eher nicht bewusst verfügbar. Geertz beschreibt Kultur als ein Modell in doppelter Hinsicht: Einerseits sind symbolische Ordnungen (analog: kulturelle Muster, Symbolsysteme) Modell von etwas, ein Mittel, die erfahrbare Welt zu erfassen und sich zu orientieren, und andererseits sind sie ein Modell für etwas, ein Bauplan, mit dessen Hilfe die Welt gestaltet wird. Damit wendet sich Geertz mit Bezug auf Ryle und den späten Wittgenstein gegen die Verortung von Bedeutungsstrukturen in der mentalen Sphäre, also im sub37
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jektiven Bewusstsein. Die kulturelle Ordnung ist immer eine kollektive Ordnung, die erst in der Interaktion der Subjekte zum Tragen kommt. Die kulturellen Modelle sind die sinnhaften Fundamente, auf denen die Akteure ihr Handeln erst hervorbringen können. (vgl. Reckwitz 2000: 467) Geertz trennt in seinem Diskursbegriff nicht nach Sprechen und Handeln, alles ist sozialer Diskurs, den festzuhalten und zu interpretieren die Aufgabe der Ethnologen sei. Die Übertragung des Modells von etwas in das Modell für etwas wird durch die symbolische Formulierung realisiert. Die sinnhaften Symbole sind die Grundbausteine der Kultur. Geertz vergleicht die Symbole mit den Genen, die Kulturmuster entsprechend mit der DNSKette2 (Geertz 1995: 51). Kulturmuster sind geordnete Mengen sinnhafter Symbole. Symbole wiederum sind die empirisch fassbare Seite der kulturellen Tätigkeit, die fassbaren Formen von Vorstellungen, etwa: „aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen.“ (ebd.: 49)
Ein Symbol kann ein Gegenstand sein, aber auch eine Handlung, ein Ereignis, bestimmte Eigenschaften und Beziehungen. Alle diese Dinge sind nach Geertz dann ein Symbol, wenn sie Ausdruck einer Vorstellung sind und umgekehrt: Die Vorstellung, die ausgedrückt wird, ist die Bedeutung des Symbols. Das Kreuz z.B. ist ein Symbol christlicher Glaubens-vorstellungen, und zwar ist es Symbol in allen seinen Varianten, „sei es, daß man darüber spricht, es sich veranschaulicht, geängstigt in die Luft zeichnet oder verträumt damit an der Halskette spielt“ (ebd.: 49). Ebenso sei die Zahl 6 ein Symbol, gesprochen, geschrieben, vorgestellt oder verschlüsselt in einer Computerlochkarte. Die Bedeutung des Symbols ist die Vorstellung, die wir mit ihm verbinden. Alle Metaphern für den Kulturbegriff wie Manuskript oder Bauplan oder gar DNS-Kette lassen einen eher statischen Kulturbegriff vermuten. In Abgrenzung zu anderen Anthropologen betont Geertz aber gerade die Instabilität und die Widersprüchlichkeiten von Symbolsystemen. Sie seien permanenten Veränderungen unterworfen. Keine Kultur erreiche jemals einen unveränderlichen, geschweige denn vollkommenen Zu2
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Allerdings schränkt er den Vergleich auch wieder ein, denn Gene und DNS-Ketten existieren im Organismus selbst, sind also intrinsische Informationsquellen, während die Symbole und Symbolsysteme eben nicht in der Psychologie eines Individuums angesiedelt sind, sondern zwischen den Individuen, im Handeln, in der Interaktion. Sie stellen also extrinsische Informationsquellen dar.
DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
stand, es würden sich immer auch widersprechende Elemente finden, dominante Kräfte und gegen sie ankämpfende Tendenzen. Die BauplanMetapher solle man sich eher wie ein immer weiter geschriebenes Dokument vorstellen, als ein Manuskript, „... das fremdartig verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.“ (ebd.: 15)
Diese Ausführungen zum Kulturbegriff nach Geertz beziehen sich wie erwähnt auf eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Würde man nach Veränderungen fragen, müsste man bildlich gesprochen nach den aktuell vollzogenen Revisionen und Korrekturen am Bauplan fragen. Nach Geertz ließe sich erwarten, dass hier ein Teilbereich, ein Element des Bauplans insgesamt verändert wird und zwar von allen Mitgliedern der Gesellschaft. Auch wenn die Dynamik kultureller Prozesse sehr anschaulich gemacht wird, ist diese Gesamtsicht für Soziologen eher fremd. Befriedigender ist, Sinnstrukturen im Plural zu denken und von konkurrierenden Lesarten verschiedener Subjekte oder Kollektive zu ein und demselben Gegenstand auszugehen. Der Begriff der Deutungsmuster, wie ihn Oevermann in Deutschland prägte, lässt dies zu.
Oevermann: Sinnstrukturen als Deutungsmuster Der Begriff „Deutungsmuster“ wird längst nicht mehr ausschließlich in Bezug auf Oevermann gebraucht. Lüders und Meuser (1997: 57ff.) konstatieren einen inflationären Gebrauch des Begriffs, arbeiten aber theoretische Grundlagen heraus, die dem Begriff in seinen Spielarten gemeinsam sind. Deutungsmuster seien kollektive Sinngehalte, die sich habituell in subjektiven Deutungen verfestigen können. Deutungsmuster seien kollektiv, “auf einer latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und mithin nur begrenzt verfügbar” (ebd.: 59). Dadurch hätten Deutungsmuster eine ‚relative Autonomieǥ und konstituierten so eine eigene Dimension sozialer Wirklichkeit, was wiederum ihre beträchtliche Stabilität erkläre. In der strukturalen Perspektive, wie sie vor allem Oevermann entwickelt hat, löse sich die Wirklichkeit der Deutungsmuster sehr stark von den empirischen Subjekten. Die Deutungsmuster werden zu einem eigenlogischen System von Strukturen, das eine Reproduktionsgewalt habe, die empirische Subjekte als handlungsohnmächtige Marionetten erscheinen ließe (vgl. ebd.: 61f.). 39
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In ihrer interaktionistischen Variante, vor allem bei Schröer, seien Deutungsmuster historisch, in Interaktionen ausgebildete Interpretationsmuster der Weltdeutung und Problemlösung (vgl. ebd.: 62.). Auch in der wissenssoziologischen Variante auf der theoretischen Grundlage von Mannheim sowie Berger/Luckmann haben Deutungsmuster eine strukturelle Dominanz gegenüber subjektiver Sinngebung. Das heißt, dass Deutungsmuster zu einer Ebene des Wissens gehören, die jenseits oder unterhalb dessen liege, was den Akteuren als Handlungspläne, Einstellungen und Meinungen intentional verfügbar sei. Dieses Wissen verändere sich aber durch Interaktionen der handelnden Subjekte. Die Grenzen zur Diskursanalyse seien fließend (vgl. ebd.: 64f.). Im Vergleich zu Geertz’ Konzept der Symbolsysteme als Modelle für und von Wirklichkeit besteht eine deutliche Parallele zum Konzept der Deutungsmuster in deren übersubjektiven Anlage. Auch Geertz betont, dass diese Modelle im „intersubjektiven Bereich allgemeiner Verständigung angesiedelt“ seien, „in den alle Menschen hineingeboren werden, in dem sie ihre getrennten Lebenswege verfolgen und der auch nach ihrem Tod ohne sie weiter besteht.“ (Geertz 1995: 51) Beide Konzepte unterstreichen den vorbewussten Charakter der Deutungsmuster bzw. Symbolsysteme und verorten sie auf einer Realitätsebene außerhalb der Subjekte. Da ich mich bei der Diskussion kultureller Dynamik neben den Konzepten von Geertz und Sahlins vor allem auf Oevermanns Konzept der Transformation von Deutungsmustern stützen werde, gehe ich hier insbesondere auf seinen Deutungsmusterbegriff ein. Oevermann geht über den klassischen Strukturalismus hinaus, indem er mit dem Begriff der Deutungsmuster die strikte Trennung zwischen der objektiven Perspektive der kulturellen Struktur und der subjektiven Perspektive der Individuen unterläuft. Subjektiv intentionale Verstehensakte werden so in die Erklärung von Handlungen integriert. Er übernimmt damit eine zentrale Denkfigur aus dem Programm interpretativer Kulturtheorien (Mead, Schütz) und entwickelt in Anlehnung an Schütz’ Begriff der „Deutungsschemata“ (vgl. Schütz 1932: 111ff.) das Konzept der Deutungsmuster. Deutungsmuster bilden nach Oevermann die Rahmenbedingungen, unter denen sich kulturspezifische Sinnmuster und darauf aufbauend Handlungs- und Interaktionsweisen herausbilden können (vgl. Reckwitz 2000: 248). Deutungsmuster sind nach Oevermann lebensweltspezifische Interpretationsmuster, die auf einem Grundstock von Überzeugungen fußen. Hervorgebracht aus immer wiederkehrenden Problemstellungen der Lebenspraxis, wie etwa der Sozialisation der Kinder, sind sie interpretatorische Routinen von Kollektiven, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben. (Oevermann 2001: 4, 40
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hier zitiert nach Wagner 2001: 73) Oevermann definiert soziale Deutungsmuster also einmal auf der Ebene ihrer historischen und sozialen Reichweite und andererseits nach ihrer Eigenlogik. Deutungsmuster bezeichnen nun nicht spezifische Deutungen, die im Zuge des Handelns von einzelnen Subjekten hervorgebracht werden, sondern bilden die historisch-spezifische Grundlage, auf der eine Vielzahl von Subjekten ihre Deutungen hervorbringen. Ähnlich wie in Geertz’ Konzeption des Modells von und für etwas und in der Metapher der Baupläne bilden Deutungsmuster den Hintergrund, auf dem sowohl Interpretationen als auch Handlungen vollzogen werden. Deutungsmuster entscheiden darüber, welche Interpretationen überhaupt möglich sind und was demgegenüber undenkbar ist. Damit bilden sie die Grundlage, auf der einzelne Akteure Deutungen vollziehen und den Kurs ihres Handelns steuern. Mit seinem Konzept geht Oevermann in der Genauigkeit weit über die Geertz’schen Skizzen hinaus. Während bei Geertz die kulturellen Muster als für alle Individuen einer Gesellschaft gültig erscheinen, ist die kollektive Ebene der sozialen Deutungsmuster bei Oevermann feingliedriger. Soziale Deutungsmuster sind hier zeitlich und räumlich begrenzt und an spezifische Kulturen und Milieus gebunden (Oevermann 2001: 7, hier zitiert nach Wagner 2001: 73) Innerhalb einer Gesellschaft können verschiedene, in sich konsistente Deutungsmuster konkurrierend nebeneinander existieren. Was der Oevermann’schen Konzeption fehlt, ist die genauere Betrachtung der Kollektive, die Deutungsmuster teilen. Auch Beziehungen zwischen solchen Kollektiven werden nicht thematisiert und die Frage nach der Deutungsmacht, nach der Legitimierung von Deutungen wird von Oevermann ebenfalls nicht behandelt.
Gemeinsamkeiten der Ansätze Es bestehen folgende Gemeinsamkeiten zwischen den Begriffen der kulturellen Muster bzw. der kulturellen Ordnung, wie sie in der angloamerikanischen Ethnologie von und nach Geertz verwendet werden und dem Begriff der Deutungsmuster, wie er in der deutschen Sozialwissenschaft, sei es in der strukturalen, der interaktionistischen oder wissenssoziologischen Variante, verwendet wird. 1. Kulturelle Muster bzw. Deutungsmuster sind kollektiv. Sie sind kein individuelles, in der Psychologie des Subjekts angesiedeltes Phänomen. Sie werden immer von Kollektiven geteilt (die in all diesen Theorien nicht näher bestimmt und abgegrenzt werden). Sie sind in 41
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der Interaktion angesiedelt und werden genau dort auch (re-) produziert. Sinnstrukturen haben eine gewisse Autonomie, das heißt: ihre Gültigkeit ist unabhängig von der Lebensspanne einzelner Subjekte, die sie vertreten, können andererseits aber auch nicht unabhängig von Subjekten oder Kollektiven gedacht werden. Der Dualismus zwischen subjektiver Innenwelt und objektiv-sozialer Außenwelt wird im Konzept der Deutungsmuster bzw. der kulturellen Muster aufgelöst. Sinnstrukturen sind historisch konstituiert. Sie weisen eine Geschichte der Entstehung und Modifikation auf. Sinnstrukturen wirken handlungsanleitend. In Abgrenzung von zweckorientierten oder normorientierten Handlungserklärungen, erklären die angesprochenen Kulturtheorien Handeln immer vor dem Hintergrund der Sinnsysteme, über die die Akteure verfügen, über die Bedeutungen, die sie Gegenständen regelmäßig zuschreiben. Weder Sinnstrukturen noch Handlungen sind damit subjektive Phänomene, denn sie stehen auf einem kollektiven Fundament. Sinn ergibt sich im kulturtheoretischen Programm immer dann, wenn eine Einordnung in die Bedeutungsstrukturen vollzogen wird. Sind Phänomene nicht innerhalb der jeweiligen Bedeutungsstrukturen einzuordnen, ergeben sie keinen Sinn für das jeweilige Kollektiv. Sinnstrukturen sind empirisch über interpretativ-hermeneutische Verfahren zugänglich. Sie können über die Arbeit an Texten verschiedener Art erschlossen werden, die in Form von Protokollen vorliegen, ob dies Beobachtungsprotokolle des Forschenden oder eher dokumentarische Protokolle wie Transkriptionen sind.
Die Erklärung gesellschaftlicher Phänomene wird damit zur „Rekonstruktion der symbolischen Organisation der Wirklichkeit, die die Akteure betreiben.“ (Reckwitz 2000: 129) Eine solche Rekonstruktion soll der empirische Teil der Arbeit im ersten Schritt leisten. Hier sollen Deutungsmuster rekonstruiert werden, die den Hintergrund der Sprechakte im Stadtumbau-Diskurs bilden. In einem zweiten Schritt sollen diese Deutungsmuster auf Tendenzen für Wandlungsprozesse untersucht werden. Die folgenden Abschnitte widmen sich daher den Theorien zu Wandlungsprozessen von Sinnsystemen.
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DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
Kultureller Wandel Geertz’ theoretische Skizze benennt als Ursache gesellschaftlichen Wandels eine Drift, eine sich vergrößernde Differenz zwischen sozialem und kulturellem System. Eine Anknüpfung an diese Heuristik und gleichzeitig eine Vertiefung bieten die Ausführungen von Sahlins und Oevermann. Sahlins’ Thema ist die Beziehung von Struktur und Geschichte, also die Veränderlichkeit der Struktur im Laufe der Zeit. Dieses Interesse lenkt seinen Blick auf Ereignisse als Auslöser der Transformation kultureller Strukturen. Oevermann dagegen nimmt die subjektiv wahrgenommene Handlungskrise zum Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Deutungsmuster. Ich stelle beide Konzepte nacheinander vor um anschließend ihre Essenz für die vorliegende Arbeit zu diskutieren.
Sahlins: Transformation kultureller Muster durch Ereignisse Marshall Sahlins ist wie Geertz Ethnologe. Er arbeitete zu den polynesischen Inseln, insbesondere Hawaii, und beschäftigte sich mit den Ereignissen um Ankunft und Tod des Kapitän Cook. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit waren die Veränderungen der hawaiianischen Gesellschaft nach der „Entdeckung“ Hawaiis durch die westlichen Eroberer. In Abgrenzung zur klassischen Ethnologie, die außereuropäische Gesellschaften als statische kulturelle Einheiten beschrieb, ist Sahlins besonders von deren Veränderungen, von ihrer Geschichte fasziniert. Die Historizität auch dieser Gesellschaften macht er zu seinem Forschungsfeld und gewinnt daraus Inspirationen für sozialwissenschaftliche Theoriediskussionen. Daher wird er vor allem von Historikern rezipiert (vgl. Sewell 2001 oder Rathmann 2003a). Wie Geertz leitet auch Sahlins seine theoretischen Ausführungen aus der Empirie her, wodurch sie an Bildhaftigkeit und Überzeugungskraft gewinnen. Neben der Herangehensweise ähnelt auch sein Kulturbegriff dem Geertz’schen. Sahlins führt ihn nicht explizit aus, sondern verwendet synonym die Begriffe „kulturelle Kategorien“ bzw. „Konzepte“, „symbolische Systeme“ und „Strukturen“. Für seine theoretischen Überlegungen erhebt er den Anspruch, das dichotome Begriffssystem der Sozialwissenschaften, insbesondere der Phänomenologie, ad absurdum zu führen. Damit meint er Begriffspaare wie Struktur und Geschichte, System und Ereignis, Kontinuität und Veränderung, Statik und Dynamik, Sein und Werden, Bedingung und Prozess, Vergangenheit und Gegen43
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wart. (Sahlins 1992: 140f.) Er betont, dass sich hinter all diesen vermeintlichen Gegensätzen miteinander verbundene Prozesse verbergen und versucht zu klären, „in welcher Beziehung die kulturellen Konzepte zur menschlichen Erfahrung stehen“ (ebd.: 141). Die Gesellschaft verändere sich permanent, die kulturellen Kategorien unterlägen permanent dem Risiko, verändert zu werden. Dieses Risiko hat nach Sahlins zwei wesentliche Ursachen: Einerseits ist die Wirklichkeit gegenüber den kulturellen Kategorien potenziell widerständig, es bildet sich ein Spannungsverhältnis zwischen empirischer Realität und kulturellen Vorstellungen – also ein ähnliches Motiv wie bei Geertz’ These von der Drift. Andererseits bilden die Interessen von Subjekten ein Potenzial für Veränderungen. Das konkrete Handeln der Subjekte, die im Spannungsfeld von Sinnstrukturen und empirischem Kontext Entscheidungen treffen, kann entsprechend der Interessen dieser Subjekte zu neuen Deutungen führen. „Die symbolische Hybris des Menschen wird zu einem großen Spiel mit den empirischen Realitäten. Das Spiel besteht darin, dass das Handeln, das einen Bezug zwischen apriorischen Begriffen und äußeren Gegenständen herstellt, einige unvorhergesehene [Hervorhebung i.O., KG] Effekte hervorrufen wird, die nicht ignoriert werden können. Da das Handeln ein denkendes Subjekt (bzw. mehrere Subjekte) erfordert, das zu dem Zeichen die Beziehung eines Vermittlers hat, wird das kulturelle Schema von zwei Seiten bedroht, nämlich von einer subjektiven und einer objektiven. Subjektiv dadurch, daß die Menschen in ihren Handlungsentwürfen von den Zeichen einen interessegeleiteten Gebrauch machen; objektiv dadurch, daß die Bedeutung in einem Kosmos gefährdet ist, der absolut fähig ist, in Widerspruch zu den symbolischen Systemen zu geraten, die ihn beschreiben sollen.“ (ebd.: 146)
Inwieweit kann der Kosmos in Widerspruch zu den symbolischen Systemen geraten? Mit Bezug auf Cassirer und de Saussure geht Sahlins von der Grundannahme aus, dass die Wahrnehmung immer kulturgeleitet ist und eine objektive, in Sahlins Wortgebrauch „unbefleckte Wahrnehmung“ (ebd.: 143) demzufolge unmöglich wäre. Die Wirklichkeit, also die konkreten empirischen Kontexte, seien gegenüber der Kultur potenziell widerständig, sie forderten die historisch gewachsenen kulturellen Kategorien und Begriffe beständig heraus. Je ungewohnter, je ereignishafter der empirische Kontext des Handelns, desto gefährdeter seien die kulturellen Kategorien. Auf Hawaii war die Ankunft von Kapitän Cook ein empirisches Ereignis, in dessen Folge sich nach Sahlins das Gesellschaftssystem der Hawaiianer in zentralen Kategorien veränderte. Die empirische Tatsache der Ankunft Kapitän Cooks lag außerhalb des Erfahrungsbereichs der 44
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hawaiianischen Gesellschaft. Es gab keine Kategorien zur Beschreibung eines solchen Ereignisses. Diese unerwartete empirische Realität, die sich den historisch gewachsenen kulturellen Kategorien und Begrifflichkeiten widersetzte, wurde jedoch trotzdem in die bestehenden Kategorien integriert. Die Landung Cooks traf zufälligerweise mit dem jährlich wiederkehrenden Ritus der Ankunft des Gottes Lono beim Neujahrsfest zusammen. Cook entsprach in seinem Erscheinungsbild den Vorstellungen von Lono, ein Umstand, der sich für ihn zunächst als sehr günstig erweist. Die Ankunft von Cook wird in das bestehende Kategoriensystem eingeordnet: Die Hawaiianer interpretieren sie als die Wiederkehr des Gottes Lono. Das kulturelle Repertoire wurde angewendet, dabei reformuliert und – im weiteren Verlauf í transformiert, was Sahlins an den Veränderungen der Kategorie „Tabu“ erläutert. Die Ankunft eines Gottes traf im streng hierarchischen Gesellschaftssystem der Hawaiianer auf verschiedene Interessen. Der Häuptling – selbst ein Gott í trat Cook als Gleichgestelltem, später als Konkurrent gegenüber. Die Bevölkerung huldigte Cook/Lono und suchte sofort sehr intensiven Kontakt zu den Engländern. In den Reiseberichten wird vor allem immer wieder die sexuelle Offenheit, ja Zudringlichkeit der hawaiianischen Frauen beschrieben. Sahlins erklärt dies über deren spezifische Interessen. Eine Familie aus dem Volk kann sich durch eine geschlechtliche Verbindung mit höher gestellten Gesellschaftsmitgliedern absichern. Das geschah über den Liebesakt und die Zeugung von Nachkommen mit der Häuptlingsfamilie. Nun suchten die hawaiianischen Frauen den Geschlechtsverkehr mit den Engländern. Da sich die Engländer vorwiegend auf dem Schiff aufhielten, mussten sie dabei ein Tabu übertreten, nämlich die strenge Bindung der Frauen an das Haus. Die hawaiianischen Männer willigten in dieses Tun aus den familiären Interessen heraus ein. Obwohl Cook seinen Männern jeden Geschlechtsverkehr aus Angst vor Krankheiten untersagt hatte, ließen sich die Engländer auf die Angebote ein und es entwickelte sich eine Art Alltagsleben mit den Frauen auf dem Schiff. Ein solches Tun stand jedoch ihrem Götterstatus entgegen: Götter teilen ihren Alltag nicht mit Frauen. Auf diese Weise geriet nach Sahlins Interpretation der Götterstatus Cooks bereits ins Wanken. Als Cook nach seiner Abreise wegen eines Mastbruchs noch einmal umkehrte, traf die Rückkehr Lonos außerhalb des Neujahrsfestes auf Unverständnis bei den Haiwaiianern. Die Freundlichkeit schlug allmählich in Feindseeligkeit um. Für den König wurde Cook nun zum Rivalen, denn schließlich berichten die Mythen Hawaiis wiederholt von Morden bzw. Opfern unter Göttern. Warum sollte nicht auch Lono zurückgekehrt sein, um den König zu stürzen? Als Cook den König als Geisel 45
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nehmen ließ, um einen Diebstahl aufzuklären, eskalierte der Konflikt, was für Cook bekanntermaßen tödlich endete. (vgl. ebd.: 105ff.) Im weiteren Verlauf der Geschichte nutzten die Häuptlinge die Handelsbeziehungen zu den Engländern zur Festigung und Untermauerung ihres eigenen Status. Sie erkannten ihr traditionelles mana (etwa: der himmlische Glanz) in den Luxusgegenständen der europäischen Händler wieder und veränderten so die Bedeutung von mana (vgl. ebd.: 148). Sie kontrollierten über lange Zeiten den Handel mit den Engländern und betonten mit den erworbenen Luxuswaren ihren Häuptlingsstatus, während dem Volk nicht einmal der Zugang zu westlichen Haushalts- und Alltagsgegenständen gewährt wurde.3 Damit wurde der Gegensatz zwischen den regierenden Häuptlingen und dem einfachen Volk in den Vordergrund gerückt, Sahlins spricht von einem entstehenden Klassengegensatz (vgl. ebd.: 139f.). In der Folge wurden die Tabu-Kategorien transformiert: Die Bindung des Tabus an die Kategorie Geschlecht wurde gelockert, eine neue Tabu-Beziehung entstand. „Das Tabu dient nunmehr ausschließlich der sakralen Grenzziehung zwischen den Klassen auf Kosten des Geschlechts.“ (ebd.: 140) Während also die Subjekte im Bemühen um Kontinuität in widerständigen empirischen Kontexten die kulturelle Ordnung anwenden, liegt hierin gleichzeitig die Potenz ihrer Veränderung. Im Verlauf des praktischen Handelns werden die historisch gewachsenen kulturellen Kategorien modifiziert. Beide Klassen oder Gruppen auf Hawaii tun zunächst nichts anderes, als ihre eigenen Interessen zu verfolgen und dabei die bestehenden kulturellen Kategorien anzuwenden. Das neue, unbekannte empirische Ereignis wird in den bestehenden kulturellen Kontext „eingelesen“, reformuliert. Bei dieser Reformulierung wird die Kultur verändert, und zwar ausgelöst durch die Interessen verschiedener Akteure der betreffenden Gesellschaft. Diese Interessen der Akteure können laut Sahlins aber keineswegs mit einer Intention zur Veränderung der Gesellschaft gleichgesetzt werden, im Gegenteil. Die Interessen werden auf der Grundlage der bestehenden Kategorien formuliert und in praktische Handlungen übersetzt. Der „Gebrauch von überkommenen Begriffen in empirischen Kontexten führt dazu, dass die kulturellen Bedeutungen praktischen Umwertungen unterworfen werden.“ (ebd.: 142) 3
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Zum Beispiel berichtet Sahlins davon, dass die Häuptlinge kostbare Stoffe in enormen Mengen kauften, dabei immer wieder noch nie gesehene Farben und Muster suchten, so dass haufenweise verrottende Berge feinster Stoffe aus China und Neuengland, die in sinnloser Überfülle gehortet worden waren, schließlich ins Meer geworfen wurden. (vgl. Sahlins 1992: 138).
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Das heißt, dass „die Gegenwart die Vergangenheit überschreitet, während sie ihr zugleich treu bleibt.“ (ebd.: 149) Das Ereignis ist demzufolge die empirische Form des kulturellen Systems. Die kulturelle Ordnung ist nur eine virtuelle Ordnung in potentia, in presentia wird sie durch konkrete Handlungs- und Sprechereignisse realisiert. Ereignisse stehen in einem systematischen kulturellen Zusammenhang (vgl. ebd.: 150). Jede Praxis ist also theoretisch und „beginnt mit den Konzepten der Akteure und ihren Vorstellungen von den Gegenständen ihrer Existenz, mit den kulturellen Segmentierungen und Werten eines vorgegebenen Systems.“ (ebd.: 151).
Diese Ausführungen ähneln denen von Geertz stark. Ihr Gewinn liegt in der Einbeziehung der Akteursperspektive. Sahlins führt damit in die anthropologischen Konzepte kulturellen Wandels die sehr soziologische Kategorie der Interessen von sozialen Gruppen ein. Hier nimmt Sahlins unausgesprochen eine latente Erweiterung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes um Elemente einer zweckrationalen Handlungserklärung vor. Die Interessen der Akteure seien aber immer an die hintergründig wirksamen Bedeutungsstrukturen gebunden, bzw. Interessen würden immer auf dem Hintergrund der kulturellen Strukturen ausgebildet. Die Akteure verfolgen gleichzeitig ihre Interessen und die Reproduktion der kulturellen Ordnung. Damit erscheinen die Handelnden als aktive Gestalter ihrer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, auch wenn die beschriebenen Phänomene erst durch einen außen stehenden Beobachter erkannt werden und den Handelnden nicht bewusst verfügbar sind. Sahlins definiert seine Begriffe nicht explizit, sondern lehnt sie wie selbstverständlich an den Sprachgebrauch der amerikanischen interpretativen Ethnologie an. Die vorbewusste Perspektive auf kollektiv geteilte kulturelle Strukturen trifft sich sowohl mit dem Geertz’schen Kulturbegriff als auch mit dem Begriff der Deutungsmuster bei Oevermann. Den entscheidenden Schwachpunkt seiner Ausführungen benennt Sahlins selbst: nämlich die Nichtbetrachtung der (Macht-) Beziehungen, in denen die Akteursgruppen zueinander stehen. „Die von uns geschilderte Phänomenologie wird insofern „naiv“ bleiben, als sie ignoriert, daß das symbolische Handeln sowohl kommunikativer als auch konzeptioneller Natur ist: ein sozialer Tatbestand, der in die Projekte und Interpretationen von anderen einfließt.“ (ebd.: 149)
Diesen Schwachpunkt teilt Sahlins mit dem Ansatz von Oevermann, der im Folgenden dargestellt wird. 47
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Oevermann: Transformation von Deutungsmustern als immer währender Veränderungsprozess Ein Jahr vor Sahlins „Inseln der Geschichte“ erschien ein Aufsatz von Ulrich Oevermann (1991), der sich dem Wandel von Sinnstrukturen auf sehr ähnliche Weise widmete. Genau wie Sahlins betont Oevermann in dieser theoretischen Abhandlung dass das handelnde Subjekt bzw. die handelnden Kollektive die entscheidende Instanz von Veränderungsprozessen sind. Ebenso verortet er die konkreten Veränderungsmomente in den Handlungen, die spontan auf eine Krisensituation reagieren. Oevermann betrachtet diesen Prozess dabei detaillierter als Sahlins, er hält quasi eine Lupe auf die Prozesse, die letztendlich die Transformation von Deutungsmustern ausmachen. Subjektiv wahrgenommene Krisen sind für Oevermann das auslösende Moment für Veränderungen. Hier werden Anklänge an Sahlins Ereignis-Orientierung deutlich. Oevermann unterscheidet zwischen dem Regelfall bzw. den Routinen in Deutungen und Handlungen und dem Grenzfall, dem Moment des Krisenhaften, des Versagens der Routinen. Sein Anliegen ist dabei, die Transformation von Deutungsmustern als Normalfall darzustellen, der sich permanent vollzieht, wenn Subjekte handeln. Wenn dem Akteur, der unter den Bedingungen des Handlungsdrucks der Lebenspraxis agiert, die bisher verwendeten Deutungsmuster nicht mehr geeignet erscheinen, die Handlungssituation zu bewältigen (Reckwitz 2000: 259), dann kommt ein Veränderungsprozess in Gang. „Im Regelfall ist die Entscheidung durch Normen, die sich eine Fallstruktur zu eigen gemacht hat oder durch fallspezifische Routinen, Gewohnheiten und Erfahrungswerte schon vorweg entlastend getroffen. Aber der krisenhafte Grenzfall, in dem angesichts neuartiger Bedingungen etablierte Entscheidungskriterien nicht mehr greifen, die Begründungsverpflichtung also im Zusammenhang eingerichteter Überzeugungen nicht mehr erledigt werden kann und entsprechend ins Offene hinein auf Verdacht und mit der Hoffnung auf spätere Begründbarkeit, deren man sich erst rekonstruierend ex post versichern kann, entschieden werden muss, gibt zu erkennen, dass er als struktureller Normfall hinter der Bildung von Normen und Routinen steht, und dass in ihm der Fortgang einer Geschichte und eines Bildungsprozesses sich faktisch vollzieht.“ (Oevermann 1991: 297)
Der im Zitat angesprochene neue Deutungsprozess angesichts einer Krise zerfällt in der Theorie in zwei Teilschritte, in die spontane Handlungsentscheidung und in deren Reflexion. Für die Erklärung dieser beiden Schritte übernimmt Oevermann von Mead die begriffliche Unter48
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scheidung zwischen dem I und dem me des Subjekts. Der erste Schritt wird von der Spontaneität des Subjekts, vom I, in der Unmittelbarkeit des praktischen Handlungsvollzuges in der krisenhaften Situation ausgelöst. Das I produziert zunächst noch vorprädikative innere Bilder, Images, die eine spontane Passung zur Handlungssituation versuchen. Die neuartige Handlungsweise wäre im Lichte der (noch) gültigen Deutungsmuster allerdings irrational. „Die noch keimhafte, erst durch nachträgliche Rekonstruktion fixierbare neue Überzeugung muss notwendig im Moment des Entscheidungszwanges als unbegründbar erscheinen.“ (ebd.: 298)
In einem zweiten Schritt rekonstruiert das me („die in Begriffen des Allgemeinen ausformulierte, rekonstruierte Seite des Selbst“, ebd.) Sinnstruktur und Motivierung der Entscheidung. Dadurch verleibt sich das me das Neue ein, es wird zur Sinnstruktur umgeformt. Das I ist also die Quelle möglicher Emergenz des Neuen, die Reflexionsarbeit des me hingegen macht das Neue, das Emergierte zum Begründeten, zum Determinierten. Mit anderen Worten: es ist die Reflexion spontaner Handlungsentscheidungen in Krisensituationen, die neue Sinnstrukturen hervorbringt. Die Krise wird stabilisiert, in dem das Neue als Regelfall absorbiert wird. (ebd.: 299). Die Rekonstruktion des Neuen macht nach Oevermann auch ein Umschreiben der bisherigen Vergangenheitsrekonstruktion notwendig. „Jede Emergenz von Neuem macht also, soll sie als Neues festgehalten werden, notwendig ein Umschreiben der Vergangenheit erforderlich, denn nur als prak-tisch aus der Vergangenheit motivierte ist sie in das ‚meǥ integrierbar.“ (ebd.: 301)
Kulturelle Dynamik ist demzufolge kein zufälliges, nicht erklärbares Produkt der Innovation des Akteurs, sondern Rekombination und Neuausdeutung bestehender Deutungsmuster angesichts von Deutungskrisen einzelner oder kollektiver Akteure in Situationen mit Handlungszwang. Oevermann erweitert die klassisch strukturalistische Theorie damit um interpretative und pragmatistische Elemente (vgl. Reckwitz 2000: 260), z.B. um das interpretative Konzept des sinndeutenden Akteurs. Dazu nimmt er die Lebenspraxis (die von Akteuren kontinuierlich hervorgebrachte Handlungssequenz) als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. In Abgrenzung zum interpretativen Programm betont Oevermann allerdings die Kontinuität der Transformationsprozesse. Die Deutungen des Akteurs erscheinen nicht als phänomenologischer Nullpunkt der 49
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Analyse, sondern immer eingebettet in die übersubjektiv konstitutiven Regeln der Deutungsmuster (vgl. ebd.: 261) und deren fortlaufende Transformation. Genau wie Sahlins wendet er sich damit gegen den Dualismus von übersubjektiven symbolischen Ordnungen und Verstehensleistungen des Subjekts (vgl. ebd.: 261f.) und betont stattdessen das Zusammenspiel von Struktur und Handlung. Dabei geht Oevermann insofern über Sahlins Erklärungen hinaus, als er die tatsächlichen Veränderungen der Sinnstruktur erst in der Reflexion und Begründung der spontanen Handlungen durch die Akteure selbst verortet. Ein weiteres Detail der Oevermann’schen Überlegungen ist, dass der Wandel nicht geradlinig oder stufenweise verläuft, sondern dass Rückschritte zum Wandlungsprozess dazu gehören. Das Neue erscheint bei Oevermann sukzessive in einzelnen Transformationsschritten, zunächst keimhaft in den ersten Transformations-„Takten“. Diese ersten Keime, so sei zu erwarten, würden durch die Reproduktionsgesetzlichkeit einer Fallstruktur wieder in die alte Bahn gelenkt. „Entgleisungen“ werden von einer Art „’reparierendenǥ Instanz“ beseitigt (Oevermann 1991: 294f.), der Wandel somit ein Stück weit entkräftet. Dieses Motiv gewissermaßen eines Rollback in den Deutungen wird in der Interpretation des empirischen Materials zu Chemnitz noch eine wichtige Rolle spielen. Oevermanns Ausführungen zum Auslöser der Krise erscheinen mir weniger plausibel. Die Ursachen für Transformationsprozesse sieht er in Inkonsistenzen zwischen Systemen von Deutungsmustern. Der Motor von Wandlungsprozessen wäre also im Bemühen der Akteure zu sehen, diese der Kultur innewohnenden Inkompatibilitäten auszugleichen. (vgl. Oevermann 1973: 12, 14, zitiert nach Reckwitz 2000: 257) Damit erklärt Oevermann die Veränderung der Kultur aus der Kultur selbst heraus. Das würde meines Erachtens im Umkehrschluss bedeuten, dass durch die fortlaufende Transformation die Systeme von Deutungsmustern immer eindeutiger und stimmiger würden, was nicht einleuchtend erscheint. Geertz und Sahlins Verortung der Ursache von Deutungs- und Handlungskrisen in einem Spannungsfeld aus kulturellen Mustern/ Deutungsmustern und empirischem Kontext/Realität, erscheint hier fruchtbarer. Bemerkenswerterweise spricht Oevermann in einem der obigen Zitate selbst auch von dem Eintreten des krisenhaften Grenzfalls durch neuartige Bedingungen. Was mit diesen neuartigen Bedingungen gemeint ist, führt Oevermann allerdings nicht aus. Auch die Ausrichtung der Neuausdeutungen durch die konkreten Interessen der Akteure, wie Sahlins sie konzipiert, erscheint mir beachtenswert – und sollte sich im Verlauf der empirischen Arbeit am Projekt als hochgradig erklärend beweisen. 50
DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
Sahlins und Oevermann widersprechen sich an einem weiteren Punkt. Während bei Sahlins die Transformation kultureller Kategorien eine Folge der Reproduktion kultureller Strukturen ist, geht Oevermann davon aus, dass die Reproduktion von Strukturen, also Deutungsmustern, deren Transformation voraussetzt. „denn die Struktur, die sich reproduziert, und die Gesetzlichkeit, die die Reproduktion bestimmt, sind ihrerseits Resultate eines Transformationsprozesses, nicht umgekehrt die Transformationsprozesse das Resultat von Prozessen der Reproduktion. Andernfalls müssten wir ja z.B. mit fertigen Identitäten geboren werden.“ (Oevermann 1991, 274)
An späterer Stelle erscheinen Reproduktion und Transformation in einer Art Wechselbeziehung begriffen. In jeder Transformation stecke ein Stück Reproduktion bezogen auf nächst höhere Gesetzlichkeiten, und in jeder Reproduktion stecke ein Stück Transformation, da die Reproduktionen als schlichte Wiederholungen „ein empirisch nicht anzutreffender Grenzfall“ seien (ebd.: 275). In der empirischen Arbeit an einem Fall ließen sich Reproduktion und Transformation einer Struktur „bezüglich eines einzigen konkreten Protokolls methodisch nicht unterscheiden“ (ebd.: 295). Meiner Ansicht nach ist dies bei der Betrachtung von Wandlungsprozessen, die immer historisch zu verorten und in Kontexte einzubetten sind, eine Frage analog der nach der Henne und dem Ei. Die Transformation von Sinnstrukturen und deren Reformulierung gehen m.E. untrennbar Hand in Hand und die Frage, was vorausgeht, ist nicht zu beantworten. Reformulierungsprozesse greifen auf übersubjektive Sinnstrukturen zurück, die im Fluss sind, und betreiben damit deren Veränderung weiter. Verbindend wirkt für beide Ansätze – und ebenso mit Geertz’ Thesen – der Fokus auf das Ereignis. Oevermann betont zwar die Allmählichkeit von Transformationsprozessen; bei aller Allmählichkeit und aller Betonung der Normalität der Transformation von Deutungsmustern hat der eigentliche Vollzug von Transformationen aber durchaus etwas Ereignishaftes, was schon durch den Begriff der subjektiv erlebten Krise als Auslöser dieser Prozesse angelegt ist. Der Krise als Grenzfall stellt er den „Regelfall“ gegenüber, in dem die Handelnden Subjekte (oder Kollektive) nicht in Handlungs- oder Deutungskrisen geraten.
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Synthese: Charakteristika kulturellen Wandels In der Synthese beider Ansätze halte ich folgende Thesen zu kulturellem Wandel für zentral und nachvollziehbar: 1. Im Regelfall werden Handlungsentscheidungen entlang von Deutungsroutinen getroffen. 2. In einem abweichenden Fall, einem unbekannten empirischen Kontext, versagen die Deutungsroutinen, eine Krise wird wahrgenommen. 3. Handlungsentscheidungen orientieren sich an vorsprachlichen inneren Bildern und weiterhin gültigen Sinnstrukturen. 4. In der Reflexion und Begründung der Handlungsweise erfolgt der wesentliche Schritt der Transformation: Die Reformulierung (Neuordnung) der Sinnstrukturen. 5. Handlungs- und Deutungsroutinen werden verworfen, abgeändert, neu etabliert. Die Krise wird stabilisiert. 6. Die konkreten Interessen der Akteure bestimmen die Richtung der Veränderungen. 7. Es gibt bei der Transformation von Deutungsmustern ein spezifisches Charakterististikum: nach den ersten Transformationstakten kommt es zu einem Rollback zu den alten Deutungen, zu einer zwischenzeitlichen Entkräftung der Wandlungsprozesse. Für die empirische Arbeit benutze ich den Begriff der Deutungsmuster synonym für Sinnstrukturen, kulturelle Muster, kulturelle Strukturen bzw. kulturelle Kategorien. Der Deutungsmusterbegriff, so wie er in die Fachdiskussion eingeführt ist (siehe oben), ist im soziologischen Diskurs am anschlussfähigsten, wahrscheinlich weil er gerade das Nebeneinander verschiedener Deutungen gebunden an soziale Gruppen betont sowie den Anschluss an den Methodenkanon der Sozialwissenschaften bietet. Wie oben bereits erwähnt, haben die bisher dargestellten Ansätze ihren Schwachpunkt darin, dass die Beziehungen zwischen den an Transformationen beteiligten Subjekten, insbesondere die Machtfrage, nicht berücksichtigt wird.
Kultureller Wandel und Akteursbeziehungen Die Frage nach kulturellem Wandel ist – anders formuliert – die Frage nach Deutungen, die sich durchsetzen. Diese Frage kann nur sinnvoll 52
DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
bearbeitet werden, wenn die Bedingungen beachtet werden, unter denen die Deutungen eingebracht und gehört werden – oder eben auch nicht. Nur so lässt sich nachvollziehen, welche der Deutungsangebote um das Ereignis „schrumpfende Stadt“ in Chemnitz Aussicht haben, zu kollektiv gültigen Deutungen zu werden. In der an Foucault anknüpfenden diskursanalytischen Literatur werden diese Bedingungen, unter denen Deutungen eingebracht und gehört werden, „Diskursordnung“ genannt. Diese Diskursordnung – bei aller Verschiedenheit der Auslegung des Begriffs – besteht in den geregelten Praktiken der Deutungsproduktion. Die Diskursordnung besteht zunächst in institutionell stabilisierten Ermächtigungs- und Ausschlusskriterien. In einem diskursiven Feld treten verschiedene Diskursteilnehmer auf, die wiederum Diskursgemeinschaften repräsentieren. Sie ringen um Anerkennung und Deutungsmacht und handeln die gegenwärtig dominanten Deutungen aus (vgl. Keller u.a. 2001a). Durch diesen Fokus auf die Produktionsbedingungen von Sinnstrukturen thematisiert Foucault Macht. Macht drückt sich – stark vereinfacht – darin aus, eine legitime Sprecherposition in der historischen Genese von Sinnstrukturen einzunehmen und andere, nicht legitimierte Sprecher auszuschließen und ihre Positionen als Abweichung zu definieren. (vgl. Foucault 1974) Machtausübung ist nach Foucault: „... für die einen eine Weise..., das Feld möglichen Handelns der anderen zu strukturieren. Charakteristisch für ein Machtverhältnis ist demnach, dass es eine Weise des Einwirkens auf Handlungen ist.“ (Foucault 1999, 195)
In seinen empirischen Arbeiten verfolgt Foucault über sehr lange Zeiträume die Regeln der Produktion von Sinnsystemen und thematisiert dabei nicht nur die sich entwickelnden legitimen Wissensformationen sondern auch, welche Sinnproduktionen nicht zugelassen werden (vgl. u.a. Foucault 1978). Foucault lenkt den Blick so auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge der Wissensproduktion. Sein zentrales Interesse gilt dabei den Regeln, den Praktiken der Deutungsproduktion und damit der Wirklichkeitskonstitution. Damit verbindet er die kulturtheoretische Perspektive auf Sinnstrukturen – hier Wissenscodes oder diskursive Formationen í mit einer stark historischen Perspektive und mit dem Interesse an Machtverhältnissen und Akteursbeziehungen. Diese Verbindungen haben zu einer großen Popularität der Foucault’schen Diskurstheorie und zu einer kaum noch zu überblickenden Rezeption und Weiterverarbeitung seiner Ausführungen geführt.4 4
Einen Überblick bieten vor allem Keller u.a. 2001.
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Ich beziehe mich in dieser Arbeit auf eine solche Weiterverarbeitung, nämlich auf Michael Schwab-Trapp (2001), der sich um eine explizit soziologische Interpretation und Begriffsdefinition bemüht. Seine Begriffssetzungen erweisen sich für die Zwecke der vorliegenden Arbeit sowohl als präzise und auf die empirische Analyse anwendbar als auch als hoch anschlussfähig. Das ist nicht zuletzt darin begründet, dass auch Schwab-Trapp sich für Ereignisse, für Wandlungsprozesse interessiert und sich in seinen Arbeiten neben Foucault auch auf Sahlins bezieht.
Foucault: Sinnstrukturen als Diskursive Formationen Zunächst wäre zu klären, ob die begrifflichen Grundlagen der Foucault’schen Diskurstheorie anknüpfungsfähig sind an die Konzepte von kulturellen Mustern bzw. Deutungsmustern. Ich hatte oben festgestellt, dass den in dieser Arbeit verwendeten Begriffen „kulturelle Muster“ und „Deutungsmuster“ gemeinsam ist, dass sie kollektiv, in gewissem Maße autonom, historisch konstituiert, handlungsanleitend und über interpretative Verfahren empirisch zugänglich sind. Sie werden intersubjektiv gedacht, in der Interaktion angesiedelt, werden dort reproduziert und dabei modifiziert. Genau wie Oevermann knüpft auch Foucault an den Strukturalismus Levi-Strauss’scher Prägung an. Foucaults Diskursformationen oder Wissenscodes, wie er die untersuchten Sinnstrukturen bezeichnet, sind übersubjektiv angelegt. Die Autonomie des Diskurses, wie sie vor allem Foucaults frühe Werke suggerieren, wurde als ‚Illusionǥ viel kritisiert. In seinem stärker handlungstheoretischen Spätwerk nimmt Foucault das interpretierende und sinnverstehende Subjekt in seinen Ansätzen wieder auf. Damit verbindet er ähnlich wie Oevermann Elemente des klassischen Strukturalismus mit der interpretativen Tradition der Kulturtheorien – wenn auch mit anderem Fokus. (vgl. Reckwitz 2000: 262ff.) Auch Foucault siedelt damit den Gegenstand der Sinnstrukturen intersubjektiv an und verortet sie in den Handlungen von Akteuren. Die stark historische Perspektive auf die Genese von Wissensformationen ist charakteristisch für das gesamte Werk und prägt vor allem auch seine empirischen Interessen.5 Mit der „Archäologie des Wissens“ entwirft Foucault 5
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Damit zählt auch Foucault zu den Autoren, deren theoretische Beiträge und Begriffssysteme von empirischen Arbeiten inspiriert sind bzw. hervorgebracht werden. Dies ist damit ein Kennzeichen für alle Autoren, deren Begriffe und theoretische Setzungen hier verwendet werden. Für Geertz stellt dies ein Gütekriterium für gute, quasi nachhaltige Theorieproduktion dar (Geertz 1995: 34ff.).
DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
eine theoretische Grundlage für eine „Geschichte des Denkens“. Eine solche Geschichte des Denkens soll sozusagen archäologisch die historisch spezifischen Wissensbestände freilegen, die definieren, was gültig und was abweichend ist (vgl. Foucault 1973). Damit richtet sich auch Foucaults Interesse auf die Genese von Sinnstrukturen, wenn auch hauptsächlich auf deren Entstehung und die Regeln ihrer Aufrechterhaltung. Die empirische Zugänglichkeit der Sinnstrukturen wird bei Foucault häufig als kaum nachvollziehbar kritisiert, die konkreten methodischen Zugänge und Verfahren werden von ihm nicht expliziert, sind grob gesagt aber der Textinterpretation zuzuordnen. Foucaults Begriffssystem teilt also in den wesentlichen Punkten die Gemeinsamkeiten, die bereits für die Begriffe der kulturellen Muster bzw. der Deutungsmuster herausgearbeitet wurden.
Schwab-Trapp: Ein soziologisches Diskurs-Konzept Schwab-Trapp macht es sich zur Aufgabe, ausgehend von Foucaults Diskurstheorie ein soziologisches Diskurs-Konzept zu entwickeln. Dabei ist er besonders darum bemüht, ein Begriffssystem zu erarbeiten, das für die empirische Analyse diskursiver Ereignisse tauglich ist, indem es tragfähige analytische Kategorien zur Verfügung stellt. Schwab-Trapp stellt dafür das Thema der Auseinandersetzung in den Vordergrund. Diskursbeiträge seien vor allem „Einsätze im ‚Kampf der Interpretationenǥ um die legitime Sichtweise sozialer und politischer Ereignis- und Handlungszusammenhänge“ (Schwab-Trapp 2001: 273). Dabei geht er von zwei Prämissen aus, die Diskurse charakterisieren: Diskurse sind immer öffentlich und Diskurse sind immer konflikthaft. Die Öffentlichkeit resultiert aus dem Bemühen der Akteure, Anerkennung zu finden, was nur über das Veröffentlichen der Deutungsangebote möglich ist. „Der Begriff des Diskurses setzt mit der Öffentlichkeit zugleich die Konflikthaftigkeit diskursiver Prozesse voraus, weil nur dort, wo konkurrierende Ansprüche auf Deutungsmacht erhoben werden, diskursive Prozesse vorangetrieben werden. Wo jedermann davon überzeugt ist, dass weiß weiß und schwarz schwarz ist und auf der Grundlage dieser Überzeugung handelt, braucht niemand mehr zu sagen, dass weiß weiß und schwarz schwarz ist. Der Diskurs bestünde in diesem Fall aus einem verbindlichen und ‚geheiligtenǥ Text, der allenfalls kommentarlos weiter geschrieben würde.“ (Ebd.: 263f.)
In Anlehnung, aber nicht in Übereinstimmung mit Foucault setzt Schwab-Trapp seine Begriffe. Er übernimmt von Foucault den Begriff der diskursiven Formationen zur Bezeichnung der Sinnstrukturen. Dis55
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kursive Formationen sind mit Schwab-Trapp „ ... die dominanten und kollektiv mehr oder weniger verbindlichen Sichtweisen sozialer oder politischer Ereignis- und Handlungszusammenhänge.“ (Ebd.: 267) Der Diskursbegriff, bei Foucault noch der übergeordnete Begriff, wird bei Schwab-Trapp etwas enger gefasst. Anstatt wie bei Foucault die Diskurse über formale Regeln zu bestimmen, schlägt er vor, Diskurse inhaltlich zu bestimmen, also einen Diskurs als an ein Thema gebunden zu definieren. Diskursive Formationen, also die dominanten Sichtweisen, werden als Resultat der Verknüpfung von Diskursen begriffen. Sie seien die institutionalisierten und legitimierungsfähigen Sichtweisen, Formen des Sprechens über spezifische Themenfelder und Gegenstandsbereiche, „in denen verschiedene thematisch gebundene Diskurse aufgegriffen, in Beziehung zueinander gesetzt und auf spezifische Weise organisiert werden.“ (ebd.: 267) Diskursformationen begreift Schwab-Trapp í genau wie Oevermann seine Deutungsmuster und Geertz die kulturellen Symbolsysteme í als historische Ordnungen. Sie haben einen prozesshaften Charakter und sind einem beständigen Wandel unterworfen. Eine weitere Parallele ist, dass Diskursformationen die Vergangenheit organisieren. „Im Kampf um die legitime Sichtweise sozialer und politischer Ereignisse werden Vergangenheitsdeutungen aktualisiert und zu legitimen Sichtweisen verdichtet – Sichtweisen, die die Vergangenheit benutzen, um die Gegenwart zu erklären und zu rechtfertigen.“ (ebd.: 267)
Abb. 2: Funktionen diskursiver Formationen Ringen um zukünftige Geltung Produktion und Transformation diskursiver Formationen (kultureller Wandel)
Legitimierung gegenwärtiger Handlungen
Diskursstränge Organisieren der Vergangenheit Quelle: eigene Darstellung
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DIE TRANSFORMATION KOLLEKTIVER SINNSTRUKTUREN
Zur Bezeichnung des Raumes, in dem diskursive Formationen erzeugt und verändert werden, benutzt Schwab-Trapp in Anlehnung an Bourdieu den Begriff der Diskursfelder. Diskursfelder sind öffentliche Arenen, in denen die diskursiven Auseinandersetzungen um verschiedene Deutungsangebote stattfinden. (vgl. ebd.: 268) Die Diskursfelder weisen Diskursordnungen auf, dies sind etwa die Spielregeln, denen die Diskursteilnehmer mit ihren Diskursbeiträgen folgen müssen. Die soziale Struktur von Diskursfeldern besteht in Machtverteilungen, Bündniskonstellationen und Konfliktlinien zwischen Akteuren. So gibt es vorstrukturierte Sprecherrollen und begrenzte Zugangschancen zu einem Diskursfeld. Auch die diskursiven Möglichkeiten für die Akteure sind reglementiert, dies nennt Schwab-Trapp die diskursive Struktur von Diskursfeldern. Die angemessene Form der Beiträge folgt Konventionen, die für wissenschaftliche, literarische oder politische Diskurse jeweils unterschiedlich sind. (vgl. ebd.: 268f.) In den Diskursfeldern tragen diskursive Eliten, also die Wortführer von Diskursgemeinschaften, ihre Deutungsangebote in Diskursbeiträgen vor. Diskursgemeinschaften sind Trägergruppen von Deutungen, die mit den Deutungen anderer Diskursgemeinschaften konkurrieren, z.B. Institutionen, organisierte Kollektive wie Parteien, Initiativen oder Vereine. Auch politisch-kulturelle Milieus können eine Diskursgemeinschaft bilden. Abb. 3: Diskursgemeinschaften, Diskursfeld und Diskursordnung
Diskursgemeinschaft
Diskursfeld
Diskursgemeinschaft
diskursive Struktur
soziale Struktur
Beitragsform
Sprecherrollen
Zugangschancen
= Diskursordnung Diskursgemeinschaft
Diskursgemeinschaft
Quelle: eigene Darstellung
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Diskursgemeinschaften werden nach innen zusammengehalten durch ein kollektiv geteiltes Repertoire an Argumenten und grenzen sich zu anderen Diskursgemeinschaften hin durch konkurrierende Lesarten ab. Diskursgemeinschaften können einen inneren kulturellen Wandel vollziehen, indem sich die bisher gebrauchten Argumente und die Beziehungen zu anderen Diskursgemeinschaften verändern (S. 270ff.). Mit diesen Analysekategorien ist es nun möglich, die Akteursbeziehungen im Fallbeispiel in die weitere Analyse der Deutungsmuster mit einzubeziehen. Dabei werde ich für die Sinnstrukturen den Begriff der Deutungsmuster beibehalten. Zu klären wäre noch, inwiefern ich es in meinem Fallbeispiel mit einem Diskurs zu tun habe. Von der Foucault’schen Definition ausgehend, habe ich es nicht mit einem Diskurs zu tun, sondern nur mit einem Ausschnitt eines Diskurses, d.h. einer größeren historischen und wesentlich langfristigeren Menge von Aussagen, die in Beziehung stehen und für die Regeln beschreibbar sind, etwa: welche Gegenstände behandelt werden, in welcher Form man sich dazu äußert, mit welchen Begriffen und in Bezug auf welche Themen. Wenn man Schwab-Trapps thematische Diskurs-Definition zugrunde legt, verschränken sich in meinem Material verschiedene Diskurse. Es gibt Ausschnitte aus ökonomischen Zusammenhängen genauso wie Ausschnitte, die eher zu einem Diskurs sozialer Gerechtigkeit gehören. Diese Diskurse verschränken sich durch das Ereignis zu einem neuen thematischen Diskurs, nämlich dem Stadtumbau-Diskurs. So betrachtet habe ich es mit einem diskursiven Ereignis zu tun, einem besonders konflikthaften Moment, in dem sich die Deutungsarbeit verdichtet, die Irritationen zur Formulierung von Deutungen zwingen, die sonst im „weiß ist weiß und schwarz ist schwarz“ ungesagt weil unhinterfragt blieben.
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Methoden: Zwischen Ethnographie und Diskursanalyse
Die generelle Entscheidung für ein qualitatives Vorgehen begründet sich vor allem aus dem Gegenstand der Arbeit: der Herausarbeitung von Sinnstrukturen. Außerdem sprach für ein exploratives Vorgehen, dass das Thema noch kaum beforscht war. Dass sich sehr bald nach Beginn der Feldstudien ein expliziter und auch strukturierter lokaler Diskurs um den Themenkomplex Wohnungsleerstand/ Bevölkerungsrückgang und Handlungsoptionen entwickeln würde, war zunächst nicht abzusehen. Der lokale Diskurs in Chemnitz war zu Beginn der Erhebung gekennzeichnet von einer Tabuisierung des Thema Schrumpfung, es war nicht damit zu rechnen, dass dieser Themenkomplex lokal sehr bald eine hohe Aufmerksamkeit erhalten würde, und zwar so, dass mit Schwab-Trapp (2001) von einem diskursiven Ereignis gesprochen werden kann. Daher fiel die Entscheidung zunächst für ein ethnographisches Vorgehen, das sich im Projektverlauf zunehmend an Prinzipien der Diskursanalyse ausrichtete.
Methodologischer Exkurs: ein qualitatives Projekt mit einer Ausgangshypothese? Im Exposé zum Dissertationsvorhaben entwarf ich ein qualitatives Forschungsprojekt. Da es keine Vorarbeiten im engeren Sinne gab und der Gegenstand der schrumpfenden Stadt in Deutschland bis auf die programmatischen Aufsätze von Häußermann und Siebel ein völliges Novum darstellte, sollte das Projekt zunächst Deutungsmuster von Stadtentwicklung allgemein erheben und zwar anhand einer Fallstudie zu Chemnitz. Dies verstand ich als induktives Vorgehen. Gleichzeitig formulierte ich die gerade dargelegten Hypothesen, abgeleitet aus der The59
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orie. Das verstand ich wiederum als klassisch deduktives Vorgehen. Dieser scheinbare Konflikt löste zu Beginn des Projekts eine Beschäftigung mit methodologischer Literatur aus, um den Weg der angestrebten Schlussfolgerungen zu begreifen.
Abduktion als Schließlogik Dabei entdeckte ich zunächst einmal, dass sich die in der Literatur beschriebene Methodologie mit induktiven und deduktiven Schließverfahren noch nicht erschöpft. Eine weitere Schließlogik ist der Abduktionsschluss, bei dem eine Regel auf Probe eingeführt wird, um zu testen, ob sie den untersuchten Fall erklärt. Die auf Probe eingeführte Regel entsteht in einem kreativen Prozess, der sich in den Blaupausen des Denkens ergibt, ein spontaner Einfall, der sich meist nach intensiver Beschäftigung mit einem Phänomen, einem Fall bzw. einem Thema einstellt, und zwar in dem Moment, wo man eigentlich gerade nicht konzentriert nachdenkt. (vgl. u.a. Reichertz 2000, Kelle und Kluge 1999, 14ff., Sturm 2006). So waren meine Ausgangshypothesen allerdings auch nicht entstanden. Weder war dem eine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen vorausgegangen, noch war es tatsächlich meine kreative Leistung, sondern der Rückgriff auf ein in der Literatur bereits beschriebenes Begriffssystem. Meine Leistung lag darin, sie aus diesen Texten in ein neues Anwendungsfeld zu transferieren: in die Analyse von Deutungsmustern über Stadtentwicklung. Gegen die Lesart des Projektes als ein deduktives sprach, dass ich die Theorie nicht prüfen, sondern anwenden wollte. Ich wollte schauen, inwieweit die theoretischen Setzungen, also hier die Drift als Veränderungsmotor, die Prozesse im Feld erklären können und helfen können, sie besser zu durchdringen. Nicht die Überprüfung der Theorie stand im Vordergrund, sondern die Klärung des Falles. Sollte sich diese Regel also zur Erklärung als unbrauchbar erweisen, wäre die Untersuchung nicht mit einer Widerlegung der Theorie beendet, sondern es müsste nach anderen erklärenden Regeln gesucht werden. Sturm (2006) betont ausdrücklich, dass die Entscheidung für eine bestimmte Schließlogik nicht mit der Entscheidung für qualitative oder quantitative Verfahren gleichzusetzen sei, ebenso beschreibt Reichertz (2000) eine quantitative Induktion. Nach Nagl (1992) greifen im Forschungsprozess induktive, abduktive und deduktive Schritte ohnehin permanent ineinander und auch die Abduktion wird erst präzise durch deduktive Ausgestaltung und induktive Bewährung des Vermuteten. Die Abduktion sei dabei der erste Schritt des wissenschaftlichen Denkens (Nagl 1992, 119).
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ZWISCHEN ETHNOGRAPHIE UND DISKURSANALYSE
Sturm (2006) unterscheidet zwei Erkenntniswege für den Abduktionsschluss, nämlich eine subsumierende und eine terminogene Abduktion. Letztere beschreibt eine Schlussweise, bei der in jenem schwer fassbaren kreativen Prozess eine völlig neue Regel zur Erklärung des Falls gefunden wird. Die subsumierende Abduktion hingegen wendet eine bereits bekannte Regel bzw. Heuristik zur Zuordnung des beobachteten Phänomens an und formuliert dadurch „an ihre Daten bestimmte Erwartungen im Hinblick auf deren Existenz und mögliche Anordnung“ (Sturm 2006: 33). Reichertz (2000) bezeichnet hingegen nur die (Er-) Findung einer neuen Regel als abduktive Schlussweise. Die subsumierende Abduktion, bei der eine bekannte Regel zur Erklärung herangezogen wird, nennt er die qualitative Induktion (ebd.: 280f.). Mein Vorgehen lässt sich also entweder als subsumierende Abduktion oder als qualitative Induktion charakterisieren. Bereits vorhandene Heuristiken zu kulturellem Wandel werden zur Erklärung eines Falles angewendet, nämlich zur Erklärung des Diskurses über die Entwicklung der schrumpfenden Stadt Chemnitz.
Hypothesen als Heuristiken zur Einordnung empirischer Sachverhalte Es war also von Anfang an nicht vorgesehen, die Hypothesen zu testen. Trotzdem habe ich sie formuliert, eine Entscheidung, die Erklärungsbedarf hervorrief. Welchen Stellenwert hatten dann diese Hypothesen? Kelle und Kluge (1999) brachten für mich Licht in diese Entscheidung. indem sie darauf hinweisen, dass Hypothese nicht gleich Hypothese sei. Sie stellen dar, dass das gesamte „Qualitative Programm“ sich seit einigen Jahren in einem Selbstverständigungsprozess darüber befindet, welche Rolle Theorien, Vorwissen und Hypothesen in der qualitativen Forschung spielen. Dabei kommen sie zu der Diagnose, dass die qualitative Forschung einem induktivistischen Selbstmissverständnis erlegen sei (vgl. Kelle und Kluge 1999: 16ff.). Die Annahme, eine Forschung ließe sich vollkommen induktiv und frei von Vorannahmen bzw. theoretischen Vorüberlegungen durchführen, ein quasi „tabula rasa Konzept menschlicher Erkenntnis“ sei sowohl erkenntnistheoretisch naiv als auch forschungspraktisch undurchführbar (vgl. ebd.: 17). Aufbauend auf Blumers Ausführungen zu den „sensitizing concepts“ unterscheiden Kelle und Kluge verschiedene Formen des Vorwissens, u.a. Alltagstheorien, Annahmen aus dem empirischen Feld (Akteurswissen), theoretische Begriffe oder eben auch allgemeine theoretische Konzepte der jeweiligen Fachdisziplinen. Letztere bezeichnen sie als Heuristiken, als Konzepte, die es ermöglichen, empirische Sachverhalte einzuordnen. (vgl. ebd.: 35ff.) Ein solches durchaus hypothesengeleitetes Vorgehen 61
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unterscheiden sie unter Rückgriff auf Pierce von deduktiven Verfahren, indem sie auf die besondere Qualität dieser Hypothesen aufmerksam machen: sie sind empirisch gehaltlos. Das bedeutet, sie sind so allgemein gehalten, dass sie nicht durch eine empirische Messung mit ja oder nein zu beantworten sind. (vgl. ebd.: 19ff., 32ff.) Heuristiken, die z.B. aus soziologischen Großtheorien gewonnen werden, leiten dagegen den Forschungsprozess wie eine Brille, mit der das empirische Material betrachtet wird, als theoretische Matrix oder Raster. Das Ziel eines solchen hypothesengeleiteten Forschungsprozesses ist also nicht die Verifizierung oder Falsifizierung der Hypothese, sondern die „Entwicklung gehaltvoller, bereichsspezifischer Aussagen“ (ebd.: 35) sowie ggf. eine Präzisierung bzw. Modifizierung der Heuristik. Geertz’ Modell der Drift zwischen sozialem und kulturellem System als Veränderungsmotor entspricht genau einer solchen Heuristik. Auch meine Übertragung dieser theoretischen Überlegungen in das Feld der Stadtentwicklung sind keine geschlossenen Hypothesen, sondern noch immer Heuristiken. Eine Operationalisierung dieser Hypothesen halte ich für undurchführbar. Auch fällt im Nachhinein auf, dass ich die beiden aus dem Exposé zitierten Hypothesen im Konjunktiv formuliert habe. Beide Sätze sind nichts weiter als ein erster Versuch, die Ereignisse im Feld theoretisch in den Griff zu bekommen und aus der Theorie Erwartungen an das Feld zu formulieren. Nicht die Überprüfung der Theorie steht im Vordergrund, sondern die Klärung des Falles. Nach all diesen methodologischen Überlegungen war geklärt, warum ich so vorgehe wie ich vorgehe: hypothesengeleitet, in wesentlichen Schritten induktiv, entdeckend und mit Hilfe qualitativer Erhebungsund Auswertungsverfahren. Mit der Präzisierung der Fragestellung im Hinblick auf kulturellen Wandel, also auf mögliche Veränderungen in den Deutungsmustern von Stadtentwicklung, und mit der Festlegung auf Deutungsmuster bzw. kulturelle Muster als Gegenstand der Arbeit, ergaben sich neue theoretische und methodische Fragen. Geertz’ skizzenhafte Heuristik ließ vieles offen: Wie vollziehen sich kulturelle Wandlungsprozesse? Wie sind sie beschreibbar und wodurch werden Prozesse kulturellen Wandels beeinflusst? Wofür sollte die Datenerhebung und -auswertung also sensibel sein? Der Soziologin, der die Betrachtung einer Gesellschaft als kompaktes Ganzes eher fremd ist – wie dies die Ethnologie bis vor wenigen Jahrzehnten noch tat –, drängte sich die Frage nach der Rolle verschiedener Akteure und Akteursgruppen, von Institutionen und Interessenver-
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tretungen auf. Zudem besitzt die Soziologie gegenüber der Ethnologie1 einen elaborierten Methodenkanon mit sehr spezifischen Verfahren der Datenerhebung und -auswertung. Die methodische Intransparenz von Geertz’ Arbeiten ist einer der Hauptkritikpunkte an seinem Forschungsprogramm. (Wolff 2000b: 93ff.) Es galt also, Methoden zu finden und diese in Verbindung zur Ausgangsheuristik der Arbeit zu bringen.
Datensammlung: Ethnographie im öffentlichen Diskurs Ethnographische Prinzipien durchziehen die Beobachtungsphase bis zum Ende der Datenaufnahme, etwa ein starker Akzent auf die Erkundung eines Phänomens oder auch die Unterordnung methodischer Schritte unter die Dynamik der Feldarbeit (vgl. Flick 2002, 217f.). Im Verlaufe des Projekts – und als Reaktion auf die Prozesse im Feld í spielten aber auch diskursanalytische Prinzipien eine immer stärkere Rolle, so die Fokussierung auf öffentliche Debatten í und damit die Sammlung vor allem öffentlicher2, natürlicher Daten3 oder die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen der Diskursteilnehmer. Wesentliche Teile 1
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Bis in die 1980er Jahre beschränkte sich der Methodenkanon der Ethnologie auf Fragen der Datenerhebung und der Haltung gegenüber den zu erforschenden Gesellschaften bzw. konkreten Informanten. Im Zuge der so genannten Writing-Culture-Debatte wurden erkenntnistheoretische Fragen gestellt, so die Frage, ob überhaupt eine Erkenntnis fremder Kulturen möglich ist. Diese Frage wurde mit normativen Appellen verknüpft, etwa nach der Berechtigung westlich zentrierter Fragestellungen und Beschreibungskategorien. Die Neuentwicklungen der empirischen Arbeit konzentrierten sich jedoch auf Probleme der Autorenschaft (vgl. v.a. Berg und Fuchs 1995). Eine explizite Methodendiskussion im Sinne einer Entwicklung von regulierten Verfahren der Datenerhebung und -auswertung, wie sie in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen geführt wird, ist in der Ethnologie nach wie vor nicht zu finden. Eine Orientierung an der immer stärker interdisziplinär geführten Methodendiskussion ist daher sinnvoll. Den Begriff „öffentlich“ benutze ich in folgender Definition, die ich dem Werkstattbericht des Forschungsprojekts „Die Arena in der Arena“ entnehme: „Öffentlich ist eine Situation, wenn und insofern die Akteure mit der Aufmerksamkeit von Beobachtern rechnen müssen, die nicht zur Diskretion verpflichtet sind, bzw. von denen Diskretion nicht erwartet werden kann.“ (Boettner und Rempel 1996: 163). Hitzler und Honer (1997: 8f.) definieren natürliche Daten als Äußerungen, die nicht vom Forscher initiiert wurden, z.B. Diskussionen oder Reden. Künstliche Daten sind dagegen alle vom Forscher selbst hergestellten oder initiierten Daten, also Interviews, Beobachtungsprotokolle oder Fotographien.
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des Begriffskanons zur Beschreibung der Datensammlung entstammen eher der diskursanalytischen Forschungstradition. Die Ethnographie, die in Deutschland erst seit den 1990er Jahren verstärkt rezipiert und angewendet wird, ist keine strenge Methode mit klaren Verfahrensschritten, sondern vor allem eine Grundhaltung, mit der der Forschende seinem Untersuchungsfeld begegnet. Analog zu der langen Tradition ethnologischer Studien europäischer und amerikanischer WissenschaftlerInnen bei fremden Ethnien wird das Prinzip der Verfremdung des Blicks auch auf die Untersuchung der eigenen Kultur bzw. der Kulturen der eigenen Gesellschaft angewandt, „das weitgehend Vertraute wird dann betrachtet, als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch ‚befremdetǥ: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht“ (Amann und Hirschauer 1997: 12).
Gerade durch diese quasi naive Haltung wird es möglich, „die jeweilige Kultur und die darin eingelagerten Wissensbestände und -formen in das Zentrum der Aufmerksamkeit (zu) rücken.“ (Lüders 2000: 390). Dabei ist die Forschungsstrategie notwendig flexibel (vgl. ebd.: 393f., Flick 2002: 217f.) Bei der Arbeit im Feld wird es als wichtiger eingestuft, ins Feld zu kommen und Zugang zu finden (und diesen Zugang aufrecht zu erhalten), als von vornherein festgelegte Regeln der Methode zu beachten. Wolcott spricht daher von „the art of fieldwork“ (zitiert nach Lüders 2000: 394). Die entstehenden Datensammlungen umfassen sehr vielfältige, meist auch sehr umfangreichen Datenmengen. Ein spezifisches Arbeitsmittel der Ethnographie stellt dabei das Forschungstagebuch4 dar, in dem Protokolle der Feldarbeit ex-post hergestellt werden. Feldprotokolle sind künstliche Dokumente, die bereits eine erste Interpretation enthalten. Gespräche, die oft kurz und ungeplant geführt werden, werden hier im Nachgang protokolliert. Weiterhin werden in der Ethnographie natürliche Daten wie Statistiken und Dokumente oder Archivmaterialien gesammelt. Auch Fotos und Videos können 4
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Im Gegensatz zu Transkripten von Interviews werden die Forschungstagebücher üblicherweise nicht zur Nachvollziehbarkeit mit veröffentlicht. Eines der berühmtesten Forschungstagebücher – das von Malinowski über seine Forschung auf den Trobriand-Inseln – löste bei dessen später Veröffentlichung einen mittleren Skandal aus. Das führte dann wiederum zu einer angemessenen Reflexion der Beziehung zwischen Forscher und Feld und entmystifizierte das Abenteuer Feldforschung nachhaltig. Das Bild des objektiven und über alle Niederungen der Menschheit erhabenen Forschers und seiner Theorien gehörte mit dieser Veröffentlichung endgültig der Vergangenheit an (vgl. Malinowski 1999).
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zur Datenerhebung eingesetzt werden (vgl. Lüders 2000: 394). Im Gegensatz zu einem a-priori determinierten sample oder gar einem theoretischen sampling (vgl. Flick 2000: 97ff.) ist für ethnographische Forschung eher das Ungeplante, Spontane an der Datenaufnahme kennzeichnend. Amann und Hirschauer (1997: 20) bezeichnen Ethnographie daher auch als opportunistische Variante empirischer Sozialforschung. Die Auswertung solcher Daten steht bei der einschlägigen Literatur nicht im Vordergrund der Darstellungen und bleibt jedem Forscher selbst überlassen. Stark reflektiert wurde dagegen, besonders im amerikanischen Zusammenhang, im Zuge der writing-culture-Debatte (vgl. Berg und Fuchs 1995) die Rolle des Forschers und die Gültigkeit der Ergebnisse. Die Diskursanalyse ist genauso wie die Ethnographie eher ein Forschungsprogramm denn eine Methode. Die Gemeinsamkeiten diskursanalytischer Arbeiten sind noch weniger systematisiert als die der Ethnographie. Die methodischen/methodologischen Diskussionen beziehen sich meist auf die allgemeine Konzeption von Projekten, auf Blickwinkel und Haltung der Forschenden. Die jeweiligen Verfahren der Datenerhebung und -auswertung werden in den verschiedenen diskursanalytischen Projekten nach Fragestellung, theoretischem Hintergrund sowie methodischen Kenntnissen und Vorlieben neu festgelegt. Pragmatische Überlegungen spielen gerade bei diskurs-analytischen Projekten eine besonders große Rolle, da sie es häufig mit sehr großen Datenmengen zu tun haben. In ihrem Handbuch zur Praxis der Diskursforschung resümieren Keller u.a. in der Einleitung: „Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist jedoch eine Diskussion konkreter Vorgehensweisen des methodisch-empirischen diskursanalytischen Arbeitens ein Desiderat geblieben.“ (Keller u.a. 2004a: 7).
Flick listet in seiner Übersicht über sequenzielle Analysen als „Probleme der Anwendung“ unter „Diskursanalyse“ stichpunktartig: „kaum entwickelte eigene Methodik“ (Flick 2002: 311). Da das Handbuch zur Forschungspraxis der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse, das sich erstmals bemüht, praktische Verfahren vorzustellen, erst nach Abschluss der Datenerhebung erschien, wurden die wesentlichen Entscheidungen im vorliegenden Projekt ohne diese Anregungen getroffen. Die Beiträge des Handbuchs weisen eine sehr vielfältige Methodenwahl aus und zeigen immer wieder die Anpassung verschiedener Verfahren aus dem Methodenkanon an die jeweiligen Anforderungen der Projekte (vgl. Keller u.a. 2004b).
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Im Nachhinein zeigen sich Parallelen zwischen meinen Entscheidungen und den im Handbuch bei anderen diskursanalytischen Projekten getroffenen Entscheidungen. Mehr oder weniger scheinen diskursanalytische Studien folgende Auswahlentscheidungen bei der Zusammenstellung des Datenkorpus treffen zu müssen: 1. Entscheidungen zu den räumlichen Grenzen des zu untersuchenden Diskurses, 2. Entscheidungen zu den zeitlichen Grenzen des zu untersuchenden Diskurses, 3. Entscheidungen über die einzubeziehenden Daten- bzw. Textsorten und 4. Entscheidungen zur Gewichtung der meist sehr umfangreichen (potenziellen) Datenkorpora (vgl. vor allem Keller 2004: 214f., SchwabTrapp 2004: 174ff.). In meinem Projekt fielen die Entscheidungen wie folgt: Zunächst wurde die Untersuchung räumlich auf die Stadt Chemnitz festgelegt, es sollten nur Daten einbezogen werden, die sich mit der Entwicklung der Stadt Chemnitz beschäftigen. Dies war eine Entscheidung für eine Fallstudie ganz im Sinne des ethnographischen Vorgehens. Die Wahl des Ortes war eine pragmatische Entscheidung. Damit entschied ich mich für die Erforschung des Themas im Rahmen einer Großstadt in einer eher strukturstarken Region Ostdeutschlands. Zeitlich war zunächst an eine kleine Intervall-Studie gedacht, die zweimal drei Monate lang im Abstand von etwa einem Jahr Daten erheben sollte. Diese Entscheidung wurde aufgrund der Dynamik im Feld revidiert. Gerade nach Ablauf der ersten Erhebungsphase begann die heiße Phase der Diskussion um das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm für Chemnitz, so dass ich mich gegen die Intervallstudie und für eine längere Beobachtung des Prozesses entschied. Gleichzeitig wurde eine erste Gewichtungsentscheidung getroffen: nicht mehr alle Diskursbeiträge zur Stadtentwicklung allgemein wurden erhoben, sondern nur noch Beiträge, die sich explizit oder implizit mit dem Themenkomplex Wohnungsleerstand/ Bevölkerungsrückgang/ schrumpfende Stadt beschäftigten. Eine zweite Gewichtung der gesammelten Daten fand zu Beginn der Auswertung statt. Hier entschied ich, indem ich mich immer stärker an Schwab-Trapps diskursanalytische Prämissen anlehnte, nur die natürlichen und gleichzeitig öffentlichen Texte bzw. aus öffentlichen Beiträgen hergestellten Dokumente in die Auswertung einzubeziehen. Damit wurde einiges Material aus der ersten
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Erhebungszeit, die stärker ethnographisch orientiert war, aus dem auszuwertenden Textkorpus5 aussortiert.
Übersicht über die Daten In den auszuwertenden Textkorpus wurden folgende Diskursbeiträge aufgenommen: • Sitzungen der relevanten Stadtratsausschüsse: des Ausschusses „Bauen, Wohnen und Sanierung“ sowie des „Planungs-, Verkehrsund Umweltausschusses“; • Sitzungen der Ortschaftsräte6; • Sitzungen der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz; • Wahlkampfveranstaltungen zur Wahl des Oberbürgermeisters im Mai 2001; • öffentliche Gesprächsrunden, Podiumsdiskussionen oder Vorträge zur allgemeinen Stadtentwicklung in Chemnitz; • Podiumsdiskussionen, Bürgerversammlungen und Vorträge rund um das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm; • Dokumente des Baudezernats wie etwa die Konzepte zum Stadtumbau, Beschlussvorlagen an den Stadtrat, das räumliche Handlungskonzept Wohnen; • Publikationen des Stadtmarketings; • Die Berichterstattung in der Lokalpresse zu den Themen Wohnungsleerstand, Bevölkerungsrückgang und Stadtumbau; • Diskussionsbeiträge eines lokalen Internetportals zu Themen der Stadtentwicklung; • Programme und Pressemitteilungen der Stadtratsfraktionen;
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Dabei fiel ein Großteil der gesammelten Materialien aus dem auszuwertenden Materialkorpus. Das betraf eine Anzahl von Ausschnitten aus der Pressebeobachtung wie etwa Beiträge zu Sanierungsprojekten, zu Verkehrsthemen oder zu Großereignissen in der Stadt, des weiteren Interviews, die bereits durchgeführt wurden, etwa eines mit dem Baubürgermeister der Stadt. Außerdem hatte ich etliche Publikationen der am Stadtumbau-Diskurs teilnehmenden Akteure gesammelt, die ich ebenfalls nur gesichtet, nicht aber in die Auswertung einbezogen habe. Diese Dokumente hatten im Sinne des „going native“ allerdings durchaus eine Bedeutung, nämlich mit dem Forschungsfeld noch stärker vertraut zu werden. Die Ortschaftsräte sind aus den ehemaligen Gemeinderäten der eingemeindeten Stadtteile hervorgegangen und haben beratende Funktion für den Stadtrat und seine Ausschüsse.
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• Sonstige Veröffentlichungen zum Thema, etwa von Wohnungsunternehmen, Stadtteilbüros oder der Volkshochschule; Damit sind die meisten Daten tatsächlich natürliche Daten. Mein Forschungstagebuch ist das einzige wirklich künstlich hergestellte Dokument, das in die Auswertung einbezogen wurde. Die Datensammlung enthält ein weiteres Dokument, das nur auf mein Betreiben zustande gekommen ist: Zum Abschluss des Beobachtungszeitraums habe ich im Rahmen meiner universitären Anbindung einen Workshop zum Thema „Stadtvisionen – Visionen für Chemnitz“ organisiert, zu dem ich TeilnehmerInnen eingeladen hatte, die mir als VertreterInnen der wesentlichen Diskursgemeinschaften im Laufe der Feldarbeit aufgefallen waren. Das Transkript der Diskussion dieses Workshops ist in die Auswertung einbezogen worden. Als erster Schritt vor der Kodierung wurden die verbliebenen Texte, die noch immer einen beachtlichen Umfang hatten, noch einmal gewichtet. Es ergaben sich folgende Textgruppen: • Texte, die sich direkt zum Ereignis äußern; • Texte, die sich dabei schwerpunktmäßig auf den Brennpunkt Großwohnsiedlung beziehen; • Texte, die Programmatiken für Chemnitz aufstellen; • Texte, die sich mit Auswirkungen des Ereignisses beschäftigen, ohne sich direkt darauf zu beziehen (z.B. Schließung von Einrichtungen); • Texte, die auf überregionaler Ebene über das Ereignis sprechen und für Chemnitz von Relevanz sind, zum Beispiel Förderprogramme des Landes. Bevor die Verfahren der Datenauswertung dargestellt werden, wird im nun folgenden Abschnitt reflektiert, inwieweit der verwendete Datenkorpus zuverlässig den untersuchten Diskurs abbildet.
Fehlerbetrachtung Zur Einschätzung der Qualität der Ergebnisse sind zwei Dinge von Bedeutung: Einerseits müssen gerade bei qualitativen Untersuchungen die Verfahren transparent und nachvollziehbar dargestellt und reflektiert werden. Zum anderen ist die Verlässlichkeit der Ergebnisse von der Güte der Daten abhängig (vgl. u.a. Flick 2002: 317ff.). Zur Einschätzung der Güte der gesammelten Daten stelle ich hier meine Reflexionen in Form einer Fehlerbetrachtung zur Verfügung. Da die Auswertung sich fast ausschließlich auf natürliche Daten stützt, ist 68
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die Güte der Dokumente selbst als hoch einzuschätzen und Verzerrungen innerhalb der Dokumente selbst können nahezu ausgeschlossen werden. Die wesentlichere Frage für dieses Projekt ist jedoch, ob der öffentliche Diskurs tatsächlich von mir angemessen erfasst wurde, d.h., ob alle relevanten Äußerungen wirklich im gesammelten Material vertreten sind.
Kriterium der Öffentlichkeit Zunächst einmal ist danach zu fragen, ob mir alle öffentlichen Veranstaltungen überhaupt bekannt gewesen sind. Eine Vorauswahl, der ich strukturell unterlegen war, war die Auswahl von Veranstaltungsankündigungen, beispielsweise über die Lokalpresse oder Veranstaltungskalender verschiedener Institutionen (Uni, Stadtrat etc.). Da ich Material auch auf dort nicht angekündigten, dennoch öffentlichen Veranstaltungen gesammelt habe, hat es mit großer Wahrscheinlichkeit Veranstaltungen gegeben, die mir nicht bekannt waren. Hin und wieder hat eine Terminüberlappung mit anderen Veranstaltungen oder mit sonstigen Verpflichtungen eine Teilnahme verhindert. Wieder andere evtl. für den Verlauf der Deutungsprozesse wesentliche Diskursstränge waren nicht öffentlich zugänglich, beispielsweise die Arbeitssitzungen der Verwaltung, deren Gespräche mit der Wohnungswirtschaft, mit den Banken etc. Von diesen Diskursteilnehmern konnten nur die tatsächlich öffentlichen Diskursbeiträge in die Ergebnisse einfließen. Während viele Verwaltungsdokumente öffentlich zugänglich waren, sind von der Wohnungswirtschaft nur sehr vereinzelt öffentliche Diskursbeiträge im Material vertreten. Von den Banken ist gar kein Diskursbeitrag in meinem Material vertreten. Einfluss der eigenen politischen und akademischen Identität Merkens (2000: 288) fordert, Zugangsbegrenzungen im Forschungsfeld zu dokumentieren, um dem Leser Einblick in die Reichweite der Ergebnisse zu gewähren. Strukturelle Probleme des Zugangs lägen vor allem in der Biographie und Identität sowie im organisatorischen Umfeld des Forschers. Akteure des Untersuchungsfeldes entscheiden dabei, ob die Person und das Anliegen des Forschenden anschlussfähig sind an die eigenen Interessen, Weltbilder und Abläufe (vgl. Wolff 2000a: 339f.). So liegt auch in meiner politischen und akademischen Identität als von der Hans-Böckler-Stiftung (gewerkschaftsnah) geförderte Sozialwissenschaftlerin eines Promotionskollegs mit dem Titel „Nachhaltige Regionalentwicklung in Ostdeutschland“ eine systematische, nicht zu umgehende Fehlerquelle. Ich bin weiterhin Mitglied von Mehr Demo69
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kratie e.V., einem bundesweiten Verein, der sich für direkt-demokratische Instrumente wie Volksbegehren und Bürgerbegehren einsetzt. Zudem hatte ich im Untersuchungszeitraum eine für junge SozialwissenschaftlerInnen, die durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden, typische eher linke Attitüde mit weitaus mehr Sympathien für die Soziokultur als beispielsweise für die Unternehmerkultur. Entsprechend gestalteten sich auch meine Kontakte – es gibt Türen, die mir offen standen und andere, die eher verschlossen blieben. Hier die Beziehung zu den wesentlichen Akteuren im Einzelnen: Die Kontaktanbahnung zur Verwaltung verlief distanziert, erst gegen Ende der Erhebungsphase gab es über meine politische Arbeit in Chemnitz einen guten Kontakt zum Amtsleiter Stadtentwicklung. Eine Innensicht in die Diskussionen und Diskurszusammenhänge der Verwaltung gab es aber nicht. Von dieser Ebene des Diskurses stehen mir vor allem die öffentlich zugänglichen Dokumente zur Auswertung zur Verfügung sowie die Protokolle öffentlicher Diskussionsveranstaltungen. Der Baubürgermeister gab mir außerdem ein halbstündiges Interview, das jedoch aus den oben genannten methodischen Gründen nicht in die Auswertung einbezogen wurde. Zu seiner Position stehen mir Interviews aus den Medien und seine Veröffentlichungen zur Verfügung. Der Kontakt zu Bürgerinitiativen und Stadtteilbüros war dagegen von Sympathie und Offenheit gekennzeichnet. Hier wurden mir auch Vorschusslorbeeren über die universitäre Anbindung und bestehende Kontakte von Kollegen zuteil. So durfte ich auch an nicht öffentlichen Besprechungen z.B. zwischen Bürgerinitiativen und Verwaltung oder Sitzungen parteipolitischer Ortsgruppen in Stadtumbau-Brennpunkt-Gebieten teilnehmen. Der Verein der Grundstückseigentümer hat eine Kooperation abgelehnt, ohne dies zu begründen. Dies mag Ausdruck einer ablehnenden Haltung gegenüber den Sozialwissenschaften gewesen sein, möglicherweise hätten mir als Mitarbeiterin der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, als Architektin oder Bauingenieurin andere Zugänge offen gestanden. Auch zur gesamten Akteursgruppe aus der Freien Wirtschaft und zur Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft (CWE) bestand kein Kontakt. Die Einladung zur Offenen Werkstatt „Stadtvisionen“ lehnte der Geschäftsführer der CWE ab mit der Begründung, wir bräuchten keinen abgehobenen Diskurs um Visionen, sondern jetzt und hier drei weiche Standortfaktoren. Von der CWE stehen mir aber die vielfältigen Veröffentlichungen des im Beobachtungszeitraum mit der CWE verschmolzenen Stadtmarketing zur Verfügung.
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Im Nachhinein wird auch deutlich, welche blinden Flecken es bei der Datensammlung gegeben hat. Es gibt beispielsweise Akteure, die ich aus vorauseilendem Pessimismus einerseits und wegen des Ausschlusskriteriums Öffentlichkeit andererseits nie angesprochen habe, Banken beispielsweise, manche Wohnungsbaugesellschaften. Auf wieder andere Akteure, die auch nicht explizit öffentlich agiert haben, war ich lange Zeit nicht aufmerksam, beispielsweise die wirtschaftlichen Akteure wie die CWE, die IHK sowie das Stadtmarketing, das in meinem Untersuchungszeitraum enorme personelle und strukturelle Umbrüche erlebt hat, worunter natürlich ihre öffentliche Wirksamkeit gelitten hat. Und letztendlich erliegt auch dieses Projekt der Tragik einer jeden Feldstudie: wenn man am tiefsten drin ist, muss man aufhören.
Datenauswertung: Akteursportraits, Kodierung und Feinanalyse Von welchem der methodischen oder theoretischen Bezugspunkte des Projekts her man die Methodenliteratur auch durchsah, sie bot kein ausgearbeitetes Verfahren zur Datenauswertung an. Auch zur Deutungsmusteranalyse schreiben Lüders und Meuser: „Anders als z.B. bei der Objektiven Hermeneutik oder bei der Dokumentarischen Methode ... ist für die Deutungsmusteranalyse kein spezifisches Verfahren der Dateninterpretation entwickelt worden. ... Das Konzept des Deutungsmusters lässt sich empirisch einholen durch verschiedene Varianten einer rekonstruktiv verfahrenden Sozialforschung.“ (Lüders und Meuser 1997: 67)
Sie empfehlen für die Deutungsmusteranalyse genau das, was bereits zu Ethnographie und Diskursanalyse gesagt wurde: Man soll die Entscheidungen zu den Auswertungsverfahren vom Gegenstand der Arbeit und vom Textkorpus abhängig zu machen. Ein Auswertungsverfahren, das aufgrund der verwendeten Theorien naheliegend wäre, ist das Verfahren der Objektiven Hermeneutik nach Oevermann (vgl. Wernet 2000). Die objektive Hermeneutik ist allerdings eine derart detaillierte, zeitintensive Interpretationstechnik, dass sie auf die Gesamtheit des Materials aus forschungsökonomischen Gründen nicht anwendbar gewesen wäre. Auch fehlt in einer Dissertation, die als Einzelprojekt konzipiert ist, der Gruppenzusammenhang zur Validierung der Interpretationen. Ich entschied mich für ein zweistufiges Verfahren mittels Kodierung und Feinanalyse, denn die gesammelten Daten stellten in mehrerer Hinsicht eine Herausforderung für die Datenauswertung dar. Erstens waren 71
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die Daten sehr umfangreich. Die gängigen Verfahren zur qualitativen Datenauswertung beziehen sich meist auf Interviews als Datenbasis, nicht auf Protokolle und Dokumente aus Diskursen. Die Datenmenge bei Interviews ist im Vergleich zum Umfang meiner Daten als überschaubar zu bezeichnen. Zweitens bildet die Zuordnung von Fällen zu den herausgearbeiteten Strukturen häufig die Grundlage von Auswertungsverfahren, bei Interviewsamples ist diese Zuordnung keine Schwierigkeit, ein Interview gleich ein Fall, aber hier? Als dritte Schwierigkeit sind die verschiedenen Textsorten zu bezeichnen, die jeweils sehr unterschiedlichen Kontexten entstammen. Die Beiträge sind alle öffentlich, doch das Publikum bzw. die Adressaten sind sehr unterschiedlich. Während sich die Verwaltungskonzepte beispielsweise gleichzeitig an den Stadtrat, an die Fördermittelgeber auf Landesebene, an die Chemnitzer Bürger und an Träger öffentlicher Belange richten, sind Diskussionsbeiträge auf Podiumsdiskussionen oft an das konkrete Publikum oder gar direkt an eine Person gerichtet. Eine letzte Herausforderung stellte die Fülle von Bild-Text-Dokumenten im Material dar. Zeitungsartikel und Publikationen des Stadtmarketing waren teilweise reich bebildert und argumentierten stark auf der visuellen Ebene. Verwaltungsdokumente enthielten eine Vielzahl von Graphiken und Abbildungen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, habe ich mich für einen eher deskriptiven ersten Schritt der Datenauswertung entschieden: eine thematische Kodierung. Kelle und Kluge (1999) betonen, dass gerade bei Projekten mit einer großen Datenfülle der Schritt der Kodierung entscheidend für die Qualität der Auswertung und damit der Ergebnisse sei, die systematische Aufbereitung des Datenmaterials könne kaum überschätzt werden (vgl. Kelle und Kluge 1999: 56f.). Die Daten werden bei der thematischen Kodierung nach den darin behandelten Themen indiziert. Dabei wird einerseits eine Ordnung des Materials entwickelt, die eine erste Übersicht über die thematische Struktur der Daten gibt. Andererseits bereitet die thematische Kodierung die kontrollierte interpretative Analyse, die Feinanalyse vor. Eine Reduktion der Daten, wie dies etwa bei der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Flick 2002: 279) der Fall wäre, wird dadurch nicht erreicht. In der Feinanalyse oder synoptischen Analyse können dann alle im Material vorhandenen Textstellen zu einem Thema nebeneinander gehalten und die verschiedenen Varianten bzw. Sichtweisen herausgearbeitet werden. (vgl. Kelle und Kluge 1999: 54ff., Flick 2002: 271ff.)
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Akteursportraits als diskursanalytisches Äquivalent zu Fallbeschreibungen Die thematische Kodierung beginnt üblicherweise mit einer zusammenfassenden Beschreibung der Fälle, die neben den Hauptaussagen vor allem auch allgemeine Angaben zum jeweiligen Fall beinhaltet (vgl. ebd.: 272). Entwickelt wurde die Methode in Anlehnung an Strauss für vergleichende Studien mit vorab festgelegten Gruppen, bei denen es um den Vergleich verschiedener Perspektiven auf ein Phänomen oder einen Prozess geht. Dabei geht man von Datensammlungen aus, die im Wesentlichen auf Interviews beruhen. Die Fälle der Datensammlungen entsprechen den einzelnen Interviews bzw. Interviewpartnern (vgl. Flick 2002: 271f.). Was aber sollte in meinem Material der Fall sein? Die einzelnen Diskursteilnehmer? Oder die Kollektive? Die Dokumente? Oder die einzelnen Veranstaltungen? Eine befriedigende Antwort konnte nicht gefunden werden. Gleichzeitig war es aber für die Diskursanalyse nötig, sich einen Überblick über die Akteurslandschaft zu verschaffen. Daraus entwickelte ich für mein Projekt einen methodischen Schritt, den ich Akteursportraits nenne. Diese Akteursportraits leisten den geforderten ordnenden Zwischenschritt der Fallbeschreibungen, reduzieren aber gleichzeitig das Material, indem sie nicht auf der Ebene des einzelnen Textes angesiedelt sind, sondern auf der Ebene der Sprecher bzw. Diskursgemeinschaften. Die Akteursportraits haben für die diskursanalytische Arbeit noch eine weitere Funktion: sie unterstützen die Klärung, wo im Material eine Diskursgemeinschaft zu identifizieren ist. Ich habe aufgrund der Fragestellung entschieden, drei Dimensionen der Beschreibung in die Portraits aufzunehmen: Die Interessen, die Beziehungen zu anderen Akteuren und die Hauptargumente. Dies entspricht etwa dem Anspruch, den auch die Fallbeschreibungen erfüllen, nämlich eine Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte. Die Beschreibung der Akteure erfolgt nicht wie in Fallbeschreibungen sonst üblich über sozialstatistische Kategorien, sondern über Kategorien, die dem diskursanalytischen Ansatz der Arbeit gerecht werden. Die Beschreibung der Beziehungen zu anderen Akteuren und die Analyse der Sprecherposition bzw. deren Legitimierung unterstützt die Diskursanalyse. Die Interessen der Akteure habe ich vor dem Hintergrund des theoretischen Ansatzes von Sahlins in die Akteursportraits aufgenommen. Er sieht in den Interessen der Akteure einen wesentlichen Antrieb für kulturelle Transformationen. Die genaue Ausgestaltung der Akteursportraits ist also wesentlich der Fragestellung und den theoretischen Anknüp-
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fungspunkten der Arbeit geschuldet. Sie bilden eine wichtige Schnittstelle zwischen den Inhalten der Debatte und dem Akteursgefüge.
Thematische Kodierung Nach Flick folgt den Kurzbeschreibungen der Fälle die Fallanalyse, in der ein Kategoriensystem für den einzelnen Fall erarbeitet wird, das thematische Bereiche und Kategorien – zunächst für den einen Fall – hervorbringt. „Nach den ersten Fallanalysen werden die dabei entwickelten Kategorien und die thematischen Bereiche, auf die sie sich in den einzelnen Fällen beziehen, miteinander abgeglichen. Daraus resultiert eine thematische Struktur, die für die Analyse weiterer Fälle zugrunde gelegt wird, um deren Vergleichbarkeit zu erhöhen.“ (ebd.: 273)
Da dieses klassische fallweise Vorgehen entlang von Interviews hier nicht möglich war, wurde bei der Erarbeitung der thematischen Struktur textweise vorgegangen. Die „Starttexte“ waren dabei möglichst gegensätzliche Texte, etwa von verschiedenen Sprechern bzw. Autoren, die im Diskurs verschiedenen Diskursgemeinschaften angehörten. Von diesen wenigen Starttexten ausgehend wurden die entwickelten Kategorien verglichen und zusammengeführt. Die weiteren Texte wurden entsprechend eingearbeitet. Nach etwa einem Drittel des Materialdurchgangs wurde das Kategoriensystem noch einmal gründlich überarbeitet und – mit weiteren Modifizierungen – für die Indizierung des gesamten Materials angewendet. Das Kategoriensystem habe ich induktiv am Material entwickelt und die Textstellen über Begriffe indiziert, die das Thema eines Textabschnitts wiedergeben. Anders jedoch als bei einer Globalauswertung (vgl. ebd.: 283f.) wurde dies sehr feingliedrig gemacht. Kodezuweisungen beziehen sich teilweise auf einzelne Sätze, meist auf Abschnitte von wenigen Zeilen, Mehrfachkodierungen sind häufig. Eine Inhaltsangabe einzelner Texte wurde nicht angestrebt, da dies zur Fragestellung disfunktional gewesen wäre. Das Kodesystem ist hierarchisch aufgebaut, d.h. zu den Kategorien wurden Dimensionen (Eigenschaften der Kategorie, vgl. ebd.: 263) oder Subkategorien gebildet. Die Kodes sollen die Differenzen, die Varianz der Textinhalte betonen und abbilden. Dazu ein kleiner Ausschnitt aus dem Kodesystem.
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schrumpfende Stadt ... Strategien für Chemnitz + andere Kommunen ... für die Gesamtstadt ... Maßnahmen Erfahrungsaustausch (1) Ursachen bekämpfen (33) Krisenmanagement (12) städtebauliche Restrukturierung (241) allg. Zielsetzungen (118) konkrete Maßnahmen (123) Sanierung Rückbau/Abriss/Schließgn. Erhalten „weiß nicht“ (2) „so nicht“ (3)
Unter einen der großen Themenblöcke, „schrumpfende Stadt“, wurde u.a. die Subkategorie „Strategien“ gebildet. Diese Strategien bezogen sich auf verschiedene räumliche Kategorien, unter anderem auf die Gesamtstadt. Als Strategien für die Gesamtstadt wurden in den Diskursbeiträgen u.a. konkrete Maßnahmen vorgeschlagen bzw. eingefordert. Der Subkategorie „städtebauliche Restrukturierung“ alleine wurden 241 Textstellen zugeordnet. Unter dieser Subkategorie liegen im fertigen Kodesystem vier weitere Hierarchiestufen mit insgesamt 54 Kodes, von denen hier nur zwei Hierarchiestufen abgebildet wurden, und das auch nur bruchstückhaft. Die allgemeinen Zielsetzungen zur städtebaulichen Restrukturierung als Strategie für schrumpfende Städte unterteilen sich beispielsweise noch in die Kategorien 75
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allgemeine Zielsetzungen Attraktivitätssteigerung die Stadt der Nachfrage anpassen städtebauliche Missstände beseitigen nachhaltige Stadtentwicklung (4 Dimensionen) Innenentwicklung vor Außenentw. (7 Subkategorien) Wahrung stadträumlicher Zusammenhänge neue Akzente setzen (4 Dimensionen)
Parallel zu diesen inhaltlichen Themen wurde die Akteursebene indiziert. Hier ging es einerseits darum, die Diskursbeiträge eines Sprechers/einer Diskursgemeinschaft zu indizieren und andererseits ging es darum, Verweise auf Beziehungen der Akteure untereinander festzuhalten, etwa Kritik an anderen Akteuren, Unterstützung für andere Sprecher, Gesprächsangebote, Erwartungen an andere Akteure oder Zustimmung zu Diskursbeiträgen. Da ich die Kodierung mit Hilfe von MAXQDA vorgenommen habe, war es nicht möglich, Bilder als solche direkt in das Programm einzulesen. Die Bilder in Textdokumenten habe ich entsprechend den Überlegungen im Exkurs zu Sprache-Bild-Texten zunächst mit Worten beschrieben und diese Beschreibungen analog den anderen Textstellen kodiert, also die in den Bildern angesprochenen Themen indiziert. Genau wie viele Textstellen erhielten auch die Bildbeschreibungen häufig mehrere Kodes. Ein Beispiel: In der Lokalzeitung erscheint ein Artikel, in dem der Amtsleiter Stadtentwicklung und ein Mitarbeiter zu den Stellungnahmen interviewt werden, die zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm eingegangen sind. In diesem Artikel werden zwei Fotos verwendet, die die beiden interviewten Personen zeigen. Das Foto des Mitarbeiters habe ich an der Position im Text knapp beschrieben, hier der Auszug aus der entsprechenden Datei: „Bild: Herr Pilz hinter einem Tisch, auf dem große Papierbögen liegen. Er hält einen weiteren Plan in der Hand, vermutlich Auszüge aus dem Integrierten Stadtentwicklungsprogramm. Im Hintergrund eine Stellwand mit noch mehr Plan-Auszügen., Bildunterschrift: ‚Noch mehr Pläne: Christian Pilz, Abteilungsleiter Stadtbaumanagement im Amt für Stadtentwicklung.ǥ (Freie Presse, 25.01.02)“
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Dieser Kurzbeschreibung wurden die Kodes „Bildart: Fotographie: Personenportraits: Experten“ sowie der Kode: Strategien/Steuerungsmöglichkeiten/Planerstellung“ vergeben. Für den gesamten Artikel wurde außerdem der Kode: Strategien/Steuerungsmöglichkeiten: Kommunikation/Bürgerbeteiligung“ vergeben, so dass in der Feinanalyse hier deutlich wurde, dass in einem Artikel, der sich mit dem Verfahren rund um die Stellungnahmen der Bürger beschäftigt, als eye-catcher zwei Experten abgebildet werden, die nicht die Stellungnahmen der Bürger, sondern die Planwerke des Amtes vorzeigen. Für die Vorbereitung der Feinanalyse war dies ausreichend, denn das Ziel der Kodierung bestand im Wesentlichen darin, die verschiedenen Textstellen bzw. Dokument-Auszüge so aufzubereiten, dass im Zuge der Feinanalyse alle „Puzzleteile“ zu einem Thema auffindbar waren. In der Feinanalyse, in der dann die eigentliche Interpretationsarbeit geleistet wurde, wurde dann zusätzlich zu den Beschreibungen auf die entsprechenden Dokumente im Original zurückgegriffen.
Feinanalyse Der Gegenstand der Feinanalyse waren die im Diskurs virulenten Deutungsmuster von Stadtentwicklung. Ziel des Arbeitsschrittes war also die Identifizierung eines oder mehrerer Muster, die verschiedene Konzepte wiedergeben, wie die Entwicklung der Stadt gedacht wird. Darauf aufbauend wurden Thesen zu Tendenzen für Veränderungen mit Rückbezug auf die Theorie erarbeitet. Die Erarbeitung von konkurrierenden Deutungsmustern gleicht in der Herangehensweise der Interpretation durchaus der Erarbeitung einer Typologie. Der Begriff der Typologie wird üblicherweise mit der Erarbeitung von Typen im Sinne von Gruppen von Personen assoziiert. Die Definition von Kelle und Kluge ist demgegenüber offener: „Grundsätzlich ist also jede Typologie (Hervorhebung im Original, KG) das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird ...“ (Kelle und Kluge 1999: 78)
Auch die Gruppierung von Sinnstrukturen zu Deutungsmustern kann als Gruppierungsprozess in diesem Sinne aufgefasst werden. Entsprechendes empfehlen auch Lüders und Meuser: „Zeichnet sich ein Diskurs durch die Konkurrenz mehrerer Deutungsmuster aus, zielt die Analyse auf die Erstellung einer Typologie. Der Weg hierzu ist der kontrastive Vergleich der Texte sowohl auf der Ebene der sequentiellen
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Feinanalyse als auch hinsichtlich eines thematischen Vergleichs, der sich auf den gesamten Textkorpus bezieht.“ (Lüders und Meuser 1997: 74)
Bezogen auf deren empirische Erarbeitung ist der große Unterschied zwischen Typen und Deutungsmustern, dass sich die Typenbildung immer zunächst an charakteristischen Einzelfällen orientiert, die dann mit weiteren Fällen gruppiert werden, die ähnliche Merkmale aufweisen. Deutungsmuster dagegen werden von vornherein kollektiv verortet. Es schien mir daher ratsam, die Analyse der Deutungsmuster methodisch zunächst von der Akteursebene zu entkoppeln. Wie alleine die unten zur Erklärung der Kontrastierung von Textstellen ausgewählten Textbeispiele zeigen, fanden sich Kontraste teilweise innerhalb der Texte eines Autors bzw. Sprechers, während sich Ähnlichkeiten zwischen konkurrierenden Diskursgemeinschaften ergaben. Die Erarbeitung von Deutungsmustern ist nach der vorliegenden Erfahrung eine Gratwanderung zwischen der Orientierung an Fällen/Sprechern bzw. Diskursgemeinschaften und der Orientierung an der inneren Konsistenz eines Musters. Lüders und Meuser deuten diesen Konflikt an, indem sie schreiben: „Vor allem in Projektphasen, in denen man die Struktur eines Deutungsmusters noch nicht kennt, hat man immer wieder mit Schwierigkeiten zu kämpfen, entscheiden zu müssen, welche Aspekte wie strukturiert zu einem Deutungsmuster gehören und welche nicht, welche Momente marginal und welche konstitutiv für das Deutungsmuster sind, ob „Abweichungen“ fallspezifische Eigenheiten anzeigen oder ob sich in solchen Fällen ein Wandel des Musters abzeichnet. In der Forschungspraxis befördern derartige Entscheidungsprobleme gelegentlich die Neigung zur Bescheidenheit und zu wachsweichen ‚Lösungenǥ: Man ist zufrieden, wenn man eine Struktur einigermaßen plausibel nachzeichnen kann, verzichtet aber großzügig darauf, genau anzugeben, ob und inwiefern das rekonstruierte Muster vollständig ist, welche interne Struktur es aufweist, wie Brüche und Inkonsistenzen zu erklären sind und wie sich die verschiedenen Muster zueinander verhalten.“ (ebd.: 75)
Da ich aber gerade die Frage nach Wandlungsprozessen stelle, musste diesen Schwierigkeiten besondere Beachtung geschenkt werden. Tatsächlich erwies sich, dass die Deutungsmuster nicht oder nur teilweise parallel zur Akteursebene verliefen, wie bei der Darstellung der Ergebnisse noch auszuführen sein wird. Die sequentielle Feinanalyse, die sich im Verfahren an der Fallstruktur abarbeitet, hielt ich daher nicht für angemessen, sondern entschied mich für den thematischen Vergleich. Im Wesentlichen habe ich mich hier an die von Kelle und Kluge (1999: 82) dargestellten allgemeinen Arbeitsschritte zur Typenbildung angelehnt und sie für die Zwecke der Deutungsmusteranalyse leicht abgewandelt. 78
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Abb. 4: Stufenmodell empirisch begründeter Theoriebildung
Stufe 1 Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen
Stufe 2
Stufe 3
Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten
Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Typenbildung
Stufe 4 Charakterisierung der gebildeten Typen
Quelle: Kelle und Kluge 1999: 82
Stufe 1 begann mit der Kontrastierung von Textstellen zum gleichen Thema nach dem Prinzip des minimalen und des maximalen Kontrasts. Dabei wurden Ähnlichkeiten und Unterschiede im Material herausgearbeitet. Aus den erwähnten Gründen wurde allerdings nicht fallvergleichend kontrastiert, sondern direkt aus den bereits erarbeiteten Kategorien und Dimensionen des Kodesystems heraus. Hier war eine gewisse Vorarbeit bereits geleistet. Beispielsweise wurden bereits im Zuge der thematischen Kodierung zum Kode „Bewertung von Schrumpfungsprozessen“ zwei kontrastierende Kategorien herausgearbeitet: positive und negative Stimmen. Einen maximalen Kontrast in der Kategorie „Bewertung von Schrumpfungsprozessen“ stellen beispielsweise die folgenden beiden Zitate dar: „In der Folge ist Chemnitz in Teilen zu einem entökonomisierten Raum geworden. Die Nachfrage fehlt, die Belastungen aus Unterhalt, Zins und Tilgung verzehren den Bodenwert. Der Stadtzusammenhang schwindet, leere Gebäude und Brachflächen zerteilen die Stadt. Liebgewordene Bilder, Stadteingänge,
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urbane Gemengelagen, Straßenraum prägende Randbebauung zerfallen oder für Teile großer Neubaugebiete, vor 10 Jahren noch begehrter Wohnort, gibt es keine Nutzer.“ (Fischer 2002: 74) „Und eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür ist, dass wir mal begreifen, dass es positiv ist wenn wir weniger Menschen sind. Eine wesentliche Voraussetzung für das Umdrehen dieses Prozesses, dass man fünf Erden bräuchte wenn wir sozial gerecht mit allen Menschen auf dieser Erde umgehen, ist, weil ja jeder Mensch den gleichen Anspruch hat auf dieser Welt, wir diese Ansprüche befriedigen wollen, dass wir weniger Menschen sind. Dass das positiv ist. Dass damit natürlich liebgewordene Dinge dann nicht mehr so ohne weiteres gehen, Rentendiskussion usw. ist mir ganz klar, aber ökologisch, ökologisch betrachtet ist das natürlich vernünftig.“7
Im ersten Zitat wird der Schrumpfungsprozess als städtebauliche Katastrophe beschrieben und in seinen verheerenden Auswirkungen charakterisiert. Im zweiten Zitat wird aus einer eher allgemeinen, globalen Perspektive der Schrumpfungsprozess als positive, vernünftige Entwicklung dargestellt. Beide Zitate stammen interessanterweise vom selben Autor und werden auch etwa zum gleichen Zeitpunkt als Diskursbeiträge eingebracht.8 Einen minimalen Kontrast zum zweiten Zitat stellt folgende Textstelle dar: „Richtig ist, dass mit dem unübersehbaren Fakt der „schrumpfenden Stadt" offensiv umgegangen werden muss und dass darin auch Chancen gesehen werden können. Eine stärkere Durchgrünung der Quartiere ist durchaus positiv. Wenn aber zeitgleich Fläche, die bisher landwirtschaftlich genutzt wurde, als Bauland ausgewiesen wird und zu dessen infrastruktureller Erschließung weiteres Areal versiegelt werden muss, ist dies paradox.“9
Auch hier wird aus einer ökologischen Perspektive der Schrumpfungsprozess als Chance angesprochen und der Flächenverbrauch als Problem dargestellt, das vor dem Hintergrund des Schrumpfens lösbarer scheint.
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Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 53-60. Das obere Zitat ist einem Artikel entnommen, der zwar erst 2002 veröffentlicht wurde, ursprünglich aber das Manuskript eines Vortrags vom Frühjahr 2001 auf einer Fachtagung ist. Das mir vorliegende Manuskript ist auf den 29.05.2001 datiert. Das zweite Zitat stammt aus einer Veranstaltung vom 10. März 2001. Stellungnahme von Jens Kassner zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, Zeilen 17-22.
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Diese beiden Beiträge stammen trotz ihrer inhaltlichen Nähe von konkurrierenden Diskursteilnehmern. Aus diesen Ähnlichkeiten und Unterschieden der Textstellen wurden Vergleichsdimensionen erarbeitet wie etwa Steuerungsprinzipien von Stadtentwicklung, Bewertungen des Schrumpfungsprozesses, Handlungs-vorschläge und Begründungen, Wertvorstellungen oder Vorstellungen über die ideale Stadtgestalt als bauliches Gefüge. Die verschiedenen Ausprägungen von Merkmalen innerhalb dieser Vergleichsdimensionen wurden in der zweiten Stufe der Typenbildung untereinander in Beziehung gesetzt und so erste Entwürfe von zusammenhängenden Mustern erarbeitet. Um die Muster schärfer zu fassen und stärker gegeneinander abzugrenzen, entschied ich mich, zur Charakterisierung der Muster für die dritte und vierte Stufe eine weitere Heuristik zu benutzen, nämlich das Raummodell nach Sturm 2000, beschrieben zu Beginn des ersten Ergebnisteils. Dieses Raummodell erfüllt die Ansprüche an heuristische Rahmen zur Erarbeitung von Typologien nach Kelle und Kluge; es ist nämlich empirisch völlig gehaltlos, stattet aber „den Forscher oder die Forscherin mit der notwendigen ‚Brilleǥ aus, durch welche die soziologischen Konturen empirischer Phänomene erst sichtbar werden, bzw. mit einem Raster, in welches Daten eingeordnet erst eine soziologische Bedeutung erhalten.“ (Kelle und Kluge 1999: 98)
Das Raummodell wurde von Sturm explizit als heuristischer Rahmen für die empirische Analyse räumlicher Prozesse entwickelt. Die in der zweiten Stufe entworfenen Vergleichsdimensionen gingen in diesem Modell auf, andere Vergleichdimensionen kamen hinzu. Sie bekamen dadurch eine stringente Ordnung, die nun zur klaren Abgrenzung der Deutungsmuster diente. Dabei reduzierten sich die entworfenen Deutungsmuster in ihrer Anzahl. Als Entscheidungskriterium, ob es sich bei einem Sinnzusammenhang um ein eigenes Deutungsmuster oder um eine Vignette eines anderen Deutungsmusters handelte, diente der zweite Quadrant des Raummodells, die Vorstellungen von Regulation der Stadtentwicklung, die so den Kern eines jeden Deutungsmusters bilden. Traten bei gleichen Vorstellungen von Regulation Unterschiede in anderen Quadranten des Modells auf, wurde eine Vignette eines Deutungsmusters erarbeitet. Nach der Herausarbeitung der Deutungsmuster wurde zur weiteren Durchdringung der Prozesse im Feld die Akteursebene wieder „eingeblendet“. Durch die zwischenzeitliche Trennung der Deutungs- und der Akteursebene gewannen die Ergebnisse erst an Schärfe und Kontur.
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Im folgenden Exkurs wird eine weitere methodische Besonderheit der Arbeit dargelegt: der Umgang mit Bild-Text-Dokumenten bei der Auswertung des Materials.
Methodischer Exkurs: Einbeziehung von Sprache-Bild-Texten in die Auswertung Das methodische Repertoire der empirischen Sozialforschung legt aber (noch) nahe, sich auf die Analyse der sprachlichen Texte zu konzentrieren und vernachlässigt die (audio-) visuellen Ebenen. Prosser (1998) spricht in diesem Zusammenhang von einer marginalisierten Forschungsrichtung innerhalb einer marginalisierten Forschungsrichtung und meint damit die Bildforschung innerhalb der qualitativen Sozialforschung. Etwa seit Mitte der 1990er Jahre gibt es ein transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich verstärkt mit der visuellen Ebene sozialer Prozesse beschäftigt, doch sind die meisten Arbeiten theoretisch orientierte Grundlagentexte10. Für diese Arbeit ist einerseits wesentlich, welche Bedeutung der visuellen Ebene in Diskursen zukommt und andererseits, wie diese Bild-Text-Dokumente sinnvoll in die konkrete Auswertungsarbeit einbezogen werden kann. Um mich der Antwort auf die erste Frage zu nähern, möchte ich zunächst die wesentlichen Erkenntnisse über die Besonderheiten von Bildersprache gegenüber verbaler Sprache darstellen, immer im Hinblick auf kommunikative Prozesse. Anschließend frage ich danach, wie sich diese Einsichten für diskursanalytische Arbeiten fruchtbar machen lassen. Zum Schluss stelle ich vor, wie die Sprache-Bild-Texte11 in die empirische Arbeit einbezogen wurden. Der beobachtete Diskurs bediente sich einer Fülle von Bildern. Kaum ein Vortrag ohne Dias oder Folien, kaum ein Printmedium ohne Abbildungen oder Computer-Animationen. Wie ist bei der Datenauswertung damit umzugehen? Obwohl Belting (2001) der Meinung ist, die Rede über Bilder sei in Mode gekommen, ist der selbstverständliche 10 Vgl. vor allem die Bände 1,2,4 und 9 der Reihe Bildwissenschaft beim Deutschen Universitätsverlag, Informationen auch unter http://www. bildwissenschaft.org. Den Verfahren der Interpretation von Bildmaterial widmen sich u.a. Marotzki und Stötzer 2007, Bohnsack 2001a, 2001b, Denzin 2000, Harper 2000. 11 Die Verwendung des Begriffs Sprache-Bild-Texte erfolgt analog Stöckl 2004. In den von mir verwendeten Daten kommen ausschließlich Gebrauchsbilder (im Gegensatz zu künstlerischen Bildern) vor (vgl. Stöckl 2004: S. 34). Bilder ohne Text kommen dabei nicht vor, sondern ausschließlich Kombinationen.
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Umgang mit Bildern als empirische Daten í geschweige denn als wissenschaftliches Ausdrucksmittel í noch in weiter Ferne. Tatsächlich mehren sich die Publikationen, die sich wünschen, eine Bildwissenschaft zu begründen oder doch anzuregen. Doch scheinen sich aus den verschiedenen Disziplinen immer nur einige wenige mit der Problematik zu beschäftigen, während der wissenschaftliche Mainstream, auch in der Soziologie, seine Arbeit weiter an Texten und Zahlen orientiert. Die Soziologie wird von Sachs-Hombach und Rehkämper in ihrer Einführung zur bildwissenschaftlichen Forschung weder zu den Disziplinen gerechnet, die sich traditionell noch die sich neuerdings verstärkt mit Fragen der Bildproblematik beschäftigen. (vgl. Sachs-Hombach und Rehkämper 1999a: 11) Hochkompetent widmet sich der qualitative sozialwissenschaftliche Methodenkanon der Analyse sprachlicher Texte, jedoch die Analyse von Bildmaterial ist (noch) eher fremd, spezielle Verfahren sind dünn gesät. Dass die Forschungsstrategien in den Sozialwissenschaften über Jahrhunderte von der Sprache dominiert wurden und die Bildkompetenz von SozialwissenschaftlerInnen in einem krassen Missverhältnis zu der bildlich dominierten Welt steht, die sie untersucht, wird seit den 1990er Jahren verstärkt problematisiert (u.a.: Müller-Doohm 1997, Frey 1999, Doelker 2002, Sachs-Hombach und Rehkämper 1998b: 1999b). Doelker erklärt dieses Phänomen über den Habitus/das Selbstverständnis der WissenschaftlerInnen selbst. Er spricht vom Buchfundamentalismus in der Bildung. Wissenschaft finde im Text statt, Bilder stünden für Freizeit. Erst das Internet als wissenschaftsnahes Medium habe die visuelle Wende oder neudeutsch den iconic turn einleiten können (vgl. Doelker 2002: 16ff., Maar und Burda 2004 oder http://www.iconic-turn.de). Prosser hat eine andere Erklärung für die Bildfeindlichkeit der sozialwissenschaftlichen Forschung: Ihm fällt auf, dass häufig in einschlägigen Handbüchern konstatiert wird, welche enormen und komplexen methodologischen Fragen die Forschung mit Bildern aufwerfe. Bilder seien manipulierbar, manipulierten die Wirklichkeit in der Abbildung, seien von subjektiver Bedeutung durchzogen, die wiederum mit der Rezeption auseinanderfallen kann usw., so dass schlussendlich Bilder so komplex seien, dass die Analyse unhaltbar sei, weil sie mehr verzerre als erkläre. Der Einsatz von Video und Photographie würde also nur zur technischen Unterstützung der Datenerhebung, zur Auflockerung langweiliger Texte oder zur Illustration als angemessen empfunden. (vgl. Prosser 1998: 98f., 102).
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Besonderheiten von Bildern gegenüber Text Auch wenn man sprachlichen Texten ähnlich skeptisch gegenübertreten kann und sollte, sind Prossers Bedenken völlig berechtigt und treffen mitten in die zentralen Unterschiede von Sprache und Bild. Zum ersten sind Bilder wahrnehmungsnahe Zeichen, die sich hierdurch ganz wesentlich von sprachlichen Zeichen unterscheiden (SachsHombach 1999: 66). Sprachzeichen sind beliebig, Bildzeichen beruhen auf ihrer formalen Ähnlichkeit mit dem bezeichneten Gegenstand (Doelker 2002: 51). Zwar geht die Wortsprache in ihrem Repertoire über den sichtbaren, optischen Bereich hinaus, kann jedoch nur kategoriell bezeichnen, was Bilder in einem Kontinuum erscheinen lassen. Ein Beispiel hierfür wäre das Farbenspektrum. Sprache vergibt Kategorien an einzelne Farbtöne, während das Farbenspektrum als Kontinuum wahrgenommen und abgebildet wird (Doelker 2002: 48f.) Verbalsprache ist demzufolge stärker regelhaft als Bildsprache, Bildsprache orientiert die sich vornehmlich an den Regeln der Wahrnehmung (Doelker 2002: 50) Zweitens werden Bilder schneller wahrgenommen als Worte. Bilder sind simultan, die ikonische Fläche bietet dem Betrachter alle Inhalte gleichzeitig dar. (vgl. Müller-Doohm 1997: 88). Bilder sind konkreter, Worte abstrakter, daher sind Bilder rascher, unmittelbarer zu entschlüsseln. Stöckl (2004) zählt dies zu den kommunikativen Vorteilen von Bildern: sie sind ganzheitlich, simultan und sie sind räumlich. Bilder sind also schneller rezipierbar als Text. Auch Doelker (1999) weist darauf hin, dass der Raumbezug, der Bilder im Gegensatz zu Sprache auszeichnet, wiederum die bildliche Wahrnehmung beschleunigt, während Sprache nur segmentweise nacheinander die Informationen darbietet. Er führt außerdem an, dass Bildwahrnehmung, also optische Wahrnehmung, die evolutionär ältere Form der Wahrnehmung sei und daher bei gleichzeitiger Darbietung mit verbalen Äußerungen den stammesgeschichtlichen Vorrang beansprucht. Zeitungsartikel benutzen nicht von ungefähr Bilder als eye-catcher, als Hingucker. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Bilder in Bild-Text-Dokumenten die erste wahrgenommene Äußerung sind und nicht etwa als Ergänzung der Textteile wirken. Bilder werden nicht nur schneller wahrgenommen, sondern drittens auch schneller bewertet. Bilder werden stark emotional wahrgenommen. Oft genügen Sekundenbruchteile, um beim Rezipienten über die Stimmung zu entscheiden, die ein Bild auslöst. Frey (1999: 135) macht das besonders anhand von Porträts deutlich. Bei Bewerbungen kann das Passfoto auf der ersten Seite innerhalb von Sekunden über Erfolg oder Misserfolg der Bewerbung entscheiden. Um bei dem Beispiel des Be84
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werbungsfotos zu bleiben: löst das Foto Antipathie aus, ist dieser Eindruck kaum mit einem noch so brillanten Lebenslauf wettzumachen. Die emotionale Wirkung ist eine der Hauptquellen für die viel beschworene machtvolle Wirkung von Bildern (vgl. u.a. Frey 1999: 135ff.), die im Rahmen einer Diskursanalyse selbstredend besondere Aufmerksamkeit verdient. Viertens sind Bilder – unabhängig von der Intention des Bildautors í prinzipiell mehrdeutig (vgl. Doelker 2002: 58ff.). Sachs-Hombach und Rehkämper (1999a: 14f.) weisen darauf hin, dass Bilder durch eine hohe semantische Fülle ausgezeichnet sind, aber ebenso durch eine mangelnde semantische Bestimmtheit. Dies sei die Stärke und die Schwäche bildhafter Darstellungen. Positiver ausgedrückt: Bilder sind also bedeutungsoffener als Sprache. Nach Schelske (1999) sind innerhalb eines kulturellen Stils der Bildgestaltung individuelle Bedeutungen möglich, wo die Sprache mit ihrer festlegenden Grammatik die Bedeutungen schließen würde. Sachs-Hombach und Rehkämper sehen die Besonderheit bildhafter Zeichen gerade in ihrer Offenheit, er spricht von der Multifunktionalität von Bildern. Erst der jeweilige pragmatische Kontext ließe Bedeutungszuordnungen zu. Das führt zu einer fünften Besonderheit von Bildern gegenüber Sprache: Bilder sind in ihrer Bedeutung kontextabhängig. Die Bedeutungszuweisung des Betrachters ist abhängig von der kommunikativen Einbettung. Stöckl (2004) spricht in diesem Zusammenhang vom kommunikativen Mehrwert von Bildern. Bilder fungieren als Ko- und Kontexte von Sprache und umgekehrt. Für die Deutung von Bildern sowohl in ihrer Produktion als auch bei der Rezeption sind also nicht schlicht das Bild und seine Bildelemente zu betrachten, sondern die Rahmung, in der das Bild auftaucht. Neben der Wechselwirkung mit dem Text beeinflussen sich Bilder auch gegenseitig in ihrer Aussage, sobald sie „auf demselben Papier sind“, weil man automatisch nach der kleinsten gemeinsamen Bedeutung sucht. Der Rezipient konstruiert in solch einem Fall „eine grammatikalische Struktur, in der beide Images bestimmte Referenzfelder miteinander teilen und andere Referenzfelder nur für sich beanspruchen. Damit wird die Bedeutung des ersten Bildes automatisch durch die Bedeutung des zweiten verändert.“ (Huber 1999: 305).
Umsetzung der Erkenntnisse für die Diskursanalyse Auch in der Diskursanalyse genießt die Analyse sprachlicher Texte den Vorrang gegenüber Bildern (vgl. Keller u.a. 2004b). Allein schon das Wort Diskurs wird gebraucht, als ob es rein sprachliche Auseinandersetzungen bezeichnen würde. Eine Ausgrenzung bildlicher Elemente aus der Analyse von Diskursen ist m.E. unhaltbar, da Bilder Deutungen 85
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und Argumente transportieren, die unbedingt zum Verständnis des Diskurses gehören. Hier müsste eine um nonverbale Äußerungen erweiterte Diskursanalyse ansetzen. Aus den oben dargestellten Besonderheiten von Bildern habe ich einige Kriterien abgeleitet, die bei der Auswertung von Sprache-BildTexten in der Konsequenz zu beachten sind. Dies sind: 1. Bilder müssen in diskursanalytischen Studien kontextabhängig interpretiert werden. Ihr Kontext ist í neben den Kontextualisierungen, die von den Diskursteilnehmern vorgenommen werden, der untersuchte Diskurs selbst. Genau wie auch die sprachlichen Äußerungen sind Bilder Sprechakte, bzw. meistens Teile von Sprechakten, die gezielt im Diskurs platziert werden und anderen Diskursteilnehmern widersprechen sollen oder sie unterstützen, eine alternative Lesart unterbreiten oder bereits geäußerte Lesarten demontieren sollen. 2. Bilder in Diskursbeiträgen sind also – genau wie auch Sprache – als Argumente, als Deutungsangebote zu betrachten. Genauso wie bei sprachlichen Äußerungen ist nicht nur nach den Intentionen der Produktion/des Einsatzes des Bildes bzw. des Sprache-Bild-Textes zu fragen, sondern auch nach den möglichen Rezeptionsgewohnheiten der Adressaten des Diskursbeitrags. 3. Bei der Analyse von Sprache-Bild-Texten ist die Wechselwirkung zwischen Text und Bild besonders zu beachten. Dabei ist davon auszugehen, dass Bilder zuerst wahrgenommen werden und die emotionale Haltung des Lesers bzw. des Publikums beeinflussen können. Daher ist nach der Bedeutung der sprachlichen Sequenzen im Lichte der eingesetzten Bilder zu fragen, die Bilder sind nicht als bloße Illustration und weitere Information zu betrachten. 4. Bei Sprache-Bild-Texten mit mehreren Bildern ist nach der Wechselwirkung der Bilder untereinander und mit den sprachlichen Anteilen zu fragen. Dabei sind die Lesekonventionen der Adressaten zu beachten, z.B. ist zu unterstellen, dass Bilder von oben nach unten oder von rechts nach links als Abfolge gelesen werden, die etwa ein zeitliches Nacheinander suggeriert. 5. Bilder müssen bei der Interpretation auf ihre möglichen emotionalen Wirkungen hin geprüft werden. Einerseits ist nach der möglichen Intention des Autors bzw. Sprechers zu fragen, andererseits nach möglichen unterschiedlichen Wirkungen bei verschiedenen Rezipienten. 6. Generell ist wegen der Bedeutungsoffenheit von Bildern stärker als bei verbalen Beiträgen auf mögliche unterschiedliche Bedeutungszuweisungen zu achten, die ein Publikum treffen könnte. Analogien bildlicher Diskursbeiträge können hier Aufschlüsse geben. 86
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Aus diesen Kriterien habe ich abschließend Fragen abgeleitet, die die Interpretation von Bildern bzw. Sprache-Bild-Texten unterstützen sollen. Dies sind: • In welcher Funktion erscheint das Bild? • Welche Emotionen kann es auslösen und wie wurde das vom Autor bzw. Sprecher eventuell gesteuert? • Wie wird ein Bild vom Autor des Beitrags kontextualisiert? Welche Aussage(n) könnten mit dem Bildeinsatz intendiert sein? • Welche Beziehung besteht zwischen sprachlichem Text und Bildaussage? • Wie ist der Bezug zu möglichen Rezipienten über die Darstellung organisiert? • Was ist über die Rezeption der Bilder/Texte/Diskursbeiträge bekannt? • Welche anderen Kontextualisierungen wären denkbar? • Gibt es evtl. einen Bezug zu anderen visuellen Argumenten im Diskurs?
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Das Fallbeispiel: Stadtentwicklungsdiskurs in Chemnitz
Für die Beschreibung des Kontexts des Chemnitzer Stadtumbaudiskurses wurden solche Aspekte ausgewählt, auf die lokal immer wieder rekurriert wird und die zum Verständnis und zur Einordnung der Ergebnisse von Bedeutung sind. Die Geschichte der Stadt interessiert für diese Arbeit weniger als systematische Abhandlung, sondern als lokale Narration, also als Deutungsprozess. Dazu stelle ich fünf Themen dar, die diesen Deutungsprozess zum Untersuchungszeitpunkt bestimmen: das Motiv der hässlichen Schwester, das Motiv des sächsischen Manchester, die Erzählung von den drei Zerstörungswellen am Stadtbild, das Neubauprojekt Innenstadt und die Neuausdeutung der Stadt als „InnovationsWerkStadt“ in den aktuellen Publikationen der Stadt und des Stadtmarketing. Es folgt ein statistischer Überblick über die Entwicklung von Bevölkerungsrückgang und Wohnungsleerstand. Anschließend wird der Stadtumbau-Diskurs in seinen wesentlichen Etappen bis zum Ende des Beobachtungszeitraums vorgestellt und dabei die Inhalte der zentralen Konzepte der Stadtverwaltung wiedergegeben. Abschließend stelle ich die Diskursteilnehmer und Diskursgemeinschaften vor.
Geschichte, Image und aktuelle Themen Die hässliche Schwester Über Chemnitz erzählt man sich Geschichten, die an Aschenputtel erinnern. „,In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresden geprasst,ǥ so charakterisierte der Chemnitzer Volksmund Ende 89
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des 19. Jahrhunderts die Arbeitsteilung zwischen den drei größten Städten Sachsens.“1 Das Chemnitz-Lied, das den Wettbewerb „Ein Lied für Chemnitz“ des Vereins „Für Chemnitz e.V.“ 1997 gewann (vgl. Weiske 2002: 235f.), beginnt mit den Worten: „Sie nennen dich den Aschenputt der Städte – mag immer sein, dein Werktagslied ist grau! Wo Erz gehämmert wird zu Glanz und Glätte Und Garn gesponnen, bleibt die Luft nicht blau. So mögen sie dich immer schmäh’n und lästern, du weißt, dass man nicht Prunk zur Arbeit braucht. Ich sah selbst eine deiner stolzen Schwestern mit Schloß und Strom in gleichen Dunst getaucht.2“
Auch von außen wird diese Perspektive auf die Stadt gelegt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb im September 2000: „Nach der Wende vor zehn Jahren lag Chemnitz viele Jahre im Tiefschlaf. Doch nun ist das Aschenputtel, das mit Dresden und Leipzig das sächsische Städtedreieck bildet, zum stillen Favoriten für die potenteste Wirtschaftsregion im Freistaat Sachsen avanciert.“ (Uhlmann 2000)
Weiske (2002: 242) nennt diesen immer wieder zitierten Vergleich mit Dresden und Leipzig die rhetorische Figur von den drei Schwestern, von denen Chemnitz schon immer die schmuddeligste gewesen sei, das Aschenputtel eben, für das Bescheidenheit, Fleiß und Verzicht Tugenden sind. In Verbindung zu diesem Bild des Aschenputtels steht das Bild der „künftigen Verheißung“, wie Weiske es nennt (ebd.: 250ff). Immer wieder geht es bei der künftigen Entwicklung darum, die Wunden im Stadtbild zu schließen und den (Wieder-)Aufbau zu meistern. Insbesondere das Bauprojekt „Innenstadt“ steht als Symbol für die Erwartung künftiger Schönheit und künftigen Glanzes, siehe unten.
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Vgl. Homepage des Sächsischen Industriemuseums in Chemnitz: http://www.saechsisches-industriemuseum.de/c1/c1/redaktion?latest Version= true& format=HTML&workshop=-1&URLID=2911 &context =WWW&login Name=wwwnutzer&loginPassword=walter, zuletzt aufgerufen am 15.06.2005. Von Otto Thörner, zitiert aus Altmühltal-Verlag 1999, 41.
STADTENTWICKLUNGSDISKURS IN CHEMNITZ
Sächsisches Manchester In Texten zur Geschichte der Stadt, in Reden und Publikationen und nicht zuletzt in der Presse wird das Motiv des „sächsischen Manchester“ hochgehalten, des ehemaligen Zentrums der Textilindustrie, einer Stadt der risikobereiten Unternehmer, der Arbeiter und der Auseinandersetzungen zwischen beiden, eine Stadt mit einem Erscheinungsbild, das von Fabriken und Schornsteinen dominiert wurde und teilweise noch wird3. Nach Kassner (2002: 51) war das sächsische Manchester der von der Chemnitzer Bourgeoisie sich selbst verliehene Titel für den eigenen Standort, während das Volk weniger schmeichelhaft von Ruß-Chamtz4 gesprochen habe. (vgl. Kassner 2002: 51ff.; Viertel und Weingart 2002, Fiedler 2001). Andere Beinamen wie etwa als „sächsisches Bayreuth“ für hochkulturelle Leistungen, die Gartenstadt Chemnitz, die Sportstadt Chemnitz oder der Vergleich mit Kalifornien hinsichtlich der Goldgräber-Stimmung haben keinen derartig prägenden Einzug in das lokale Gedächtnis gefunden.5 3
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Die industrielle Revolution begann in Chemnitz bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit Veränderungen in der Textilproduktion. Chemnitz entwickelte sich zum Zentrum der Kattundruckerei. Die Spezialisten hierfür wanderten aus Süddeutschland, der Schweiz, aus Österreich, Böhmen und anderen Gegenden ein. Nach der Kattundruckerei boomte die Strumpfwirkerei, in deren Zuge sich das Chemnitzer Umland zu industrialisieren begann. In kleinen Häuschen vor den landwirtschaftlich geprägten Gehöften wurden in Handarbeit Strumpfwaren hergestellt. Diese „Strumpfbuden“ – kleine Manufakturen í entstanden später überall in den Hinterhöfen der Stadt und man prägte den Satz „Die ganze Welt geht auf Chemnitzer Strümpfen.“ (Viertel und Weingart: 51, 58) Zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelte sich die Baumwollspinnerei, es entstanden die ersten Fabriken. Gleichzeitig entwickelten sich in Chemnitz der Maschinenbau, zunächst Spinnereimaschinen und Webstühle, dann Dampfmaschinen, Lokomotiven und Werkzeugmaschinen. 1883 zählte Chemnitz 103.000 Einwohner und wurde damit Großstadt. In den Gründerjahren wuchs die Einwohnerzahl rasant weiter. Die Deindustrialisierung, die Manchester bereits in den 1980er Jahren traf, hielt seit der Wende auch in Chemnitz Einzug. Noch eine Parallele, die den Vergleich ein Stück weit rechtfertigt. Dialekt für „Ruß-Chemnitz“, eine Bezeichnung, die auf die von Immissionen der Schornsteine geschwärzte und vernebelte Stadt anspielt. Die kulturelle Tradition, die Kunst, die vor allem auch vom Industriekapital gefördert wurde, wird inzwischen wieder betont. Auch hatte Chemnitz zu DDR-Zeiten eine avantgardistische, dissidentische Künstler-Szene, an die Bemühungen um die Aussenwahrnehmung als Kunststadt derzeit anknüpfen. (vgl. u.a. Pakulla 1981, Mössinger und Lange 2003: S. Xf.) Nicht nur zur Olympiabewerbung der Stadt – in Verbindung mit Leipzig – ist auch das Image als Sportstadt vor allem in der Innenwahrnehmung leben-
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Wenn es um das historische Erbe geht, dann spielt die Geschichte der Stadt vor der Industrialisierung kaum eine Rolle im Diskurs. Das mittelalterliche, neuzeitliche und barocke Chemnitz ist nur noch in Spezialdiskursen präsent, in den aktuellen Debatten um Stadtentwicklungsprojekte dominiert die Metapher von der Industriestadt und von der Tradition der Moderne. So auf der Homepage der Stadt: „Das Sächsische Manchester ist Geschichte. Chemnitz raucht und dampft nicht mehr. Kein Stampfen und Surren der Maschinen lässt die Luft erzittern. Die heutige High-Tech-Produktion hinter anonymen Fassaden ist leise und clean. Doch die "Kathedralen" der alten Industrie stehen noch zahlreich, groß, faszinierend schön. Chemnitzer Unternehmer ließen weniger ihre Villen, vielmehr ihre Fabriken von bedeutenden Architekten bauen. Und beide í Bauherr und Gestalter í brachten sich ein mit aller Energie.“6
Heute ist diese Image-Figur vor allem durch die gegenwärtige Position Manchesters im globalen Städteranking attraktiv7 (Weiske 2002: 242f.). Der Vergleich mit Manchester wertet als positives Image die Tradition der Industriestadt auf.
Die „drei großen Zerstörungswellen“ am Stadtbild Das Chemnitzer Stadtbild wird in der lokalen Narration wie eine immer wieder verwundete Person behandelt. Es ist „Opfer“, es wird zerstört und verschandelt, es verliert sein Gesicht und bekommt ein neues. Richter schreibt im offiziellen Werkbericht der Stadt, dass der „Blick auf Gebautes in Chemnitz ... auch ein Rückblick auf urbane Wunden“ sei (Stadt Chemnitz 2003a: 7). Am Chemnitzer Lapidarium auf dem Schloßberg, einer Sammlung historischer Steine und Gebäudefragmente, quasi im Garten des Stadtgeschichtlichen Museums, heißt es auf der Erklärungstafel: „Drei Wellen von Abbruch und Zerstörung haben das alte Stadtbild von Chemnitz vernichtet. Im Kaiserreich verlangten die selbstbewussten wohlhabenden Bürger der dynamischen Industriestadt nach einem modernen und großstädtischen Zentrum; die zwei- bis dreistöckigen Häuser der vorindustriel-
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dig. Beides hat aber kaum eine mit der Metapher des sächsischen Manchester vergleichbare Bedeutung. http://www.chemnitz.de/de/flash.htm, zuletzt aufgerufen am 15.05.2005 Weiske (2002) arbeitet noch weitere Images der Stadt Chemnitz heraus, etwa das Bild der sächsischen Heimat oder der sportliche Wettbewerb. Im Gegensatz zum Bild der drei Schwestern oder zum Sächsischen Manchester sind diese in den Stadtentwicklungsdiskursen aber weniger relevant.
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len Zeit mussten großen Kaufhäusern, Banken, Hotels und vier- bis fünfgeschossigen Wohn- und Geschäftshäusern weichen. Diese weitgehend neue Industriestadt fiel dann gezielt den Bombenteppichen und dem Feuersturm der britischen Nachtangriffe vom 5. März 1945 zum Opfer. Die ausgebrannten Häuserruinen wiederum mussten in den 50er und 60er Jahren den hochgesteckten Zielen der Stadtplaner und Politiker weichen; das Bild der Innenstadt sollte jedem deutlich machen, dass aus dem vom Kapitalismus geprägten Chemnitz die sozialistische Metropole Karl-Marx-Stadt geworden war. Drei Gebäude (Roter Turm, Jakobikirche und Altes Rathaus) und eine Fassade (Siegert´sches Haus), das ist alles an Bausubstanz, was diese drei Wellen vom alten, mit der Stadtmauer umgebenen Chemnitz übrig gelassen haben.“
Die erste der genannten Zerstörungen bezieht sich auf Bautätigkeiten im 19. und 20. Jahrhundert, in deren Zuge das mittelalterliche Chemnitz zugunsten bürgerlicher Architektur weitestgehend verschwand. Dieser Umbau der Innenstadt entsprechend den Repräsentationsinteressen eines finanzstarken Bürgertums wird in der lokalen Narration also als Zerstörung gelesen. Fiedler drückt dies so aus: „Dem ‚Fortschrittǥ fiel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das noch fast mittelalterlich anmutende Chemnitz zum Opfer.“ (Fiedler 1994: 3) Die zweite dieser Zerstörungswellen waren die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs, als mehrere Bombenangriffe im Februar und März 1945 95% des Stadtzentrums zerstörten. Der Wiederaufbau orientierte sich zunächst an den alten Strukturen und den noch vorhandenen Gebäudeteilen. Anfang der 1950er Jahre änderte man die Planung: Chemnitz wurde 1952 Bezirksstadt und ob seiner Tradition als Arbeiterstadt 1953 programmatisch in Karl-Marx-Stadt umbenannt. (vgl. u.a. Viertel und Weingart 2002, Stadt Chemnitz 2003a, Fiedler 1994) Im Zuge der Umbenennung in Karl-Marx-Stadt sollte die Stadt zu einer beispielhaften sozialistischen Großstadt entwickelt werden, wozu auch ein Stadtzentrum gehörte. Man errichtete moderne, große Bauten, breite Straßen und Plätze und ausgedehnte Grünzonen. Walter Ulbricht gab für Karl-Marx-Stadt die Devise aus: „Machen Sie das Zentrum hell und licht, damit die Menschen noch viele Jahre später sagen können: Sie haben gut gebaut.“ (zitiert nach Stadt Chemnitz 2003a: 15) Dieses Tun wird heute als die dritte große Zerstörungswelle gelesen. Jüngere Publikationen betonen, dass die Innenstadt Chemnitz’ zwar nahezu komplett zerstört worden war – von amerikanischer Seite wurde die Stadt nach den Bombardements im Februar und März 1945 zusammen mit Essen als zwei weitere „tote deutsche Städte“ gemeldet (zitiert nach Weber 1995: 4) – trotzdem sei erst im Zuge der Umgestaltung der Innenstadt zum sozialistischen Stadtzentrum die „noch vorhandene historische Bausubstanz endgültig vernichtet worden“ (Weber 1995: 6). 93
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Die entstandene Architektur wird heute fast ausschließlich negativ bewertet. Dazu finden manche drastische Worte wie beispielsweise Tilo Lang: „Mit politischen Zielsetzungen entsteht vornehmlich in den 1970er Jahren eine Sammlung ebenso raumgreifender wie sinnentleerter Gesten in Stein und Glas.“ (Stadt Chemnitz 2003a: 11) oder der Türmer der Stadt Chemnitz, Stefan Weber: „Doch was daraus wurde ist heute sichtbar – eine der langweiligsten Innenstädte mit einförmigem Erscheinungsbild. Es fehlen die zusammenhängenden großen Geschäftsstraßen und die belebten Plätze, welche Besucherströme anziehen und ein Großstadtleben zu jeder Tages- und Nachtzeit aufkommen lassen. Die sozialistischen ‚Prunkbautenǥ haben sich zu keiner Zeit in das Gesamtbild so recht einordnen wollen, doch es wird noch Jahrzehnte dauern, bis auch die letzten Relikte dieser Zeit durch hoffentlich Schöneres und Attraktiveres an Bauwerken ersetzt worden sind.“ (Weber 1995: 6)
Andere wägen ab. Gabriele Viertel schreibt in ihrer „Geschichte der Stadt Chemnitz“: „Neue Parks und Grünflächen lockerten die Innenstadt auf. Dieses helle und großzügige Stadtzentrum entbehrte nicht der Attraktivität, aber viele Einwohner empfanden den Abriss fast aller Bauten, die noch an das Vorkriegschemnitz erinnerten, doch als Verlust.“ (Viertel u. Weingart 2002: 95)
Nach der Wende stand die Innenstadt also erneut zur Disposition, wie im folgenden Kapitel dargelegt werden soll.
Neubauprojekt Innenstadt Das städtebauliche Thema Nummer eins in Chemnitz war im Beobachtungszeitraum nicht der Stadtumbau, sondern die Entwicklung der Innenstadt. Hierzu gab es die meisten Presseberichte, auch überregional. Die Innenstadt war der Ort, an dem sich das Interesse und die Investitionen bündelten. Innerhalb von fünf bis sechs Jahren änderte sich das Antlitz der Innenstadt gravierend. Als die ersten großen Projekte abgeschlossen waren, sendete der Deutschlandfunk am 2.2. 2002 ein Feature mit dem Titel: „Chemnitz – die Stadt ohne Mitte baut sich eine neue City.“ Gleich zu Beginn des Features erklären Passanten: „Uns gefällt’s. Hier war ja alles nichts. Wir haben ja nur noch leere Flächen gehabt. Es wird ja nun mal Zeit, dass das nun mal zugebaut wurde.“8 Weiter erklärt der Sprecher:
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Reportage auf Deutschlandfunk am 02.02.2002, Transkript Zeilen 2-4.
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„1953 wurde Chemnitz zu Karl-Marx-Stadt umbenannt, und wurde damit die Vorzeigestadt des Sozialismus. Es wurde gebaut, aber die City blieb leer. So leer, dass nach der Wende viele die Hände über den Kopf zusammenschlugen: Wie sah das aus, was war denn nun zu tun.“9
1977 allerdings endete der Bildband „Karl-Marx-Stadt. Unsere Stadt im Wandel der Jahrhunderte“ mit den Worten: „Durch das Entstehen des Komplexes der Stadthalle und des Interhotels ‚Kongreßǥ konnte 1974 die letzte große Lücke im Stadtzentrum geschlossen werden. Die Zielstellung wurde verwirklicht: Wo ehemals verwinkelte Straßen und später ein Ruinenfeld waren, entstand ein sozialistisches Stadtzentrum.“ (Städtische Museen Karl-Marx-Stadt 1977: 44)
Leer oder nicht leer scheint also eine Frage der Interpretation gewesen zu sein. Bilder des Chemnitzer Stadtzentrums nach dem Bau der Stadthalle zeigen zwar weite, aber als Grünfläche oder als Parkplätze genutzte Flächen. Die Stadthalle und das Kongress-Hotel liegen offen wie auf einem weiten Platz, der von der neu entstandenen äußeren Blockbebauung gesäumt wird. Ulbrichts Wunsch (s.o.), die Innenstadt licht und hell zu machen, ist also durchaus erfüllt worden, nicht jedoch, dass man sagt, es sei gut gebaut worden. Abb. 5: Virtuelles Stadtmodell 1990 (links) und Vision 2000 (rechts)
Quelle: Stadt Chemnitz 2000c: 1. Umschlagseite, 2
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Ebd., Zeilen 23-25.
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Nach der Wiedervereinigung wurde die Umgestaltung dieser Innenstadt zum städtebaulichen Großprojekt, die großen Leerflächen sollten beseitigt werden. Der Oberbürgermeister erklärte wiederholt, die Innenstadtentwicklung habe zu seinem Amtsantritt der Quadratur des Kreises geglichen, so in Interviews, in Publikationen und im Wahlkampf10. Zunächst wurden aus den freien Flächen über Jahre archäologische Grabungsstätten, Leitbilder für die Entwicklung der Innenstadt wurden ausgearbeitet und städtebauliche Wettbewerbe ausgeschrieben. Die Vorgaben strebten die Wiederaufnahme historischer Straßenzüge und Raumaufteilungen an. Ziel war außerdem eine Verdichtung der baulichen Strukturen, die Innenstadt sollte urban gemacht werden und urban sei, „wenn sich Hintern reiben“11, so der Chemnitzer Baubürgermeister. Es gab nur wenige Gegenstimmen, die dafür plädierten, die Freiflächen beizubehalten. Dazu gehört der prominente, in Chemnitz geborene Architekt Günter Behnisch. Er argumentiert: „Eigentlich könnten und müssten wir sehen, dass das Offene schön ist, dass Chemnitz auf dem Weg ist zu einer neuen, schönen, offenen Stadt ist – oder zunächst: sein könnte. ... Verdichten, das kann doch kein Selbstzweck sein ... In unserer Region werden sich die Städte tendenziell auflösen. Landschaft und steinerne Stadt werden sich durchdringen: Unser Land als große Stadtlandschaft, als großer Garten. So sehe ich das Ziel.“ (zitiert nach Stadt Chemnitz 2003a: 2. Umschlagseite, 11)
Die Planungen zogen sich bis Ende der 1990er Jahre in den Auseinandersetzungen zwischen Stadtrat, Verwaltung, Investoren und Öffentlichkeit hin (vgl. Denzer 2002). Erst im März 1998 erfolgte der Baubeginn auf einer der Kernflächen für die Umgestaltung des Stadtzentrums. Als dieses Projekt, die Galerie Roter Turm, eingeweiht wird, heißt es in der Chemnitzer Freien Presse, das Herz der Stadt beginne zu schlagen. Auch hier findet sich also wieder die Körper-Metapher, die im Diskurs um den Schrumpfungsprozess noch eine prominente Rolle spielen wird. Ob der seit 1998 im Galopp voraneilende Umbau der Innenstadt die viel zitierten Wunden heilt, bleibt offen. Kritiker bemängeln die Qualität der Architektur, die Unterordnung der Gestaltung unter die Investoren10 Dokumentiert u.a. in Reportage auf Deutschlandfunk vom 02.02.2002, auch in: Stadt Chemnitz 2003: 3. Umschlagseite. 11 Baubürgermeister Fischer in einem Vortrag auf den Chemnitzer Bau- und Verkehrfachtagen Nov. 2000, zitiert nach Forschungstagebuch.
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Interessen. Bürger, vor allem die älteren, trauern um verloren gegangene Sichtachsen.12 Kassner (2001) spricht von einer vierten Zerstörungswelle. Bedeutungsvoll erscheinen für meine Analyse die Lesarten der alten wie der neuen Situation in der Innenstadt. Während die Innenstadt der 1980er Jahre als unfertig, als seelenlos bis hin zu peinlich beschrieben wird, wird aber auch die neue Gestaltung als kalt und seelenlos, nicht dem „menschlichen Maßstab“ entsprechend kritisiert13. Die Akteure der Umgestaltung wiederum beschreiben die entstehende Architektur als Anknüpfen an die Tradition der Stadt – an die historischen Straßenzüge der Innenstadt, an die Tradition moderner Architektur in Chemnitz. Chemnitz sei nie romantisch gewesen. „Man muss absolut modern sein. Was Rimbaud formulierte, scheint die Stadt Chemnitz seit dem Beginn des Industriezeitalters immer befolgt zu haben. Wenn das paradox anmutende Wort von der Tradition der Moderne einen Sinn hat, dann in dieser sächsischen Großstadt. (Mössinger und Lange2003: X)
Die Umgestaltung der Innenstadt wird dabei zu einem Event für alle Beteiligten und Betroffenen. Die Umbaumaßnahmen werden nahezu „festivalisiert“14: Die Volkshochschule widmet dem Umbau der City zwei eigene Veranstaltungsreihen15. Es wurden wiederholte Baustellenführungen durch die entstehende Galeria Kaufhof angeboten, die von mehr als 150.000 Besuchern wahrgenommen wurden16. Das entspricht mehr als der Hälfte der Einwohnerzahl. Bau und Eröffnung wurden von einem pausenlosen Medieninteresse begleitet. Vom Entwurf über den ersten Spatenstich, den Aushub der Baugrube, das Richtfest bis zur Eröffnung erschienen 31 große Artikel in der Lokalzeitung, davon einige Leitartikel. Selbst die Nachricht, dass es an der Käsetheke zukünftig 500 Sorten Käse geben werde, war einen Leitartikel im Lokalteil wert. Eine solche Prominenz erlangte das Thema Stadtumbau zu keinem Zeitpunkt. Bei den „Bildern des Jahres“ für 2001 in der Lokalzeitung war die Eröffnung der Galeria Kaufhof Thema 12 Vgl. Forschungstagebuch, so geäußert vor allem auf Veranstaltungen zur Innenstadtentwicklung im Rahmen der Frauenwoche im März 2001, im Rahmen von Wahlkampfveranstaltungen im Frühjahr 2001 und im Rahmen der Veranstaltungsreihe der VHS Chemnitz „Das neue Chemnitz“ im Juni 2001. 13 Forschungstagebuch vom 10.01.2001, Sitzung der AG Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz 14 In Anlehnung an Häußermann und Siebel 1993. 15 Dies sind die Reihe „Das neue Chemnitz“ im Juni 2001 und „Chemnitz@City“ von Januar bis Juni 2002. 16 Vgl. Freie Presse vom 29.01.2001.
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Nummer eins vor dem Bürgerbegehren gegen Schulschließungen, der Sanierung der (Jugendstil-)Villa Esche, Nachrichten von Feuerwehr und Tierpark und dem Abriss von Wohnblocks in der Großwohnsiedlung Fritz Heckert.17 Am Tag der Eröffnung ausgestellte Strafzettel für Falschparker wurden vom Oberbürgermeister persönlich zurückgezogen.18 Ausgehend von den gemachten Darstellungen zur Geschichte, zur Selbst- und Fremdwahrnehmung der Stadt sowie zu aktuellen städtebaulichen Themen war zu erwarten, dass das Thema Stadtbild sich auch in der Stadtumbau-Diskussion niederschlagen und eine besondere Rolle spielen wird – und das tat es.
Chemnitz als „InnovationsWerkStadt“ heute Das Stadtmarketing hat für Chemnitz schon mehrere neue Beinamen und Slogans entworfen, von denen keiner so recht greifen will, so z.B. die “Stadt mit Köpfchen“ in Anspielung auf das Marx-Monument, das „Tor zum Erzgebirge“ für die Tourismusindustrie und die „InnovationsWerkStadt“ für das Standortmarketing.19 Im Beobachtungszeitraum wurde das Stadtmarketing der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH (CWE) zugeordnet. In diesem Zuge präsentierte sich Chemnitz vor allem als Wirtschaftsstandort (vgl. CWE 2001).20 Die Image-Broschüre betont stark die Industrietradition der Stadt, fokussiert auf Unternehmerpersönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart und auf die oben schon erwähnte Verbindung zur Hochkultur. Chemnitz wird als Technologie-Standort präsentiert, der bereits seit Beginn seiner Industrialisierung durch das kreative und daraus resultierende ökonomische Potenzial seiner Unternehmer aufblühte. Dabei wird die Stadt zum Inkubationsort stilisiert, zur „Wiege des deutschen Werkzeugmaschinenbaus“ (CWE 2001: 8), als (ehemals) traditioneller Standort der Automobilindustrie mit Horch und Audi Zwickau, DKW Zschopau und den Chemnitzer Wanderer Werken, wo nach deren Zusammenschluss zur „Auto-Union“, heute Audi, der erste front17 Vgl. Freie Presse vom 29./30. 12. 2001, S. 15 und exemplarisch zur Eröffnung Freie Presse vom 18. und 19. 10. 2001. 18 Vgl. Freie Presse vom 28./29. 10. 2001, S. 13. 19 Vgl. Homepage www.chemnitz.de, Bezug zum Erzgebirge unter dem link Stippvisite/Rund um Chemnitz, zuletzt aufgerufen am 15.06.2005 20 Nach weiteren Veränderungen und Personalwechsel ist das Stadtmarketing inzwischen mit dem City-Management verschmolzen und richtet sich wieder stärker auf Eventmanagement und Tourismuswerbung. vgl. http://www.chemnitz-tourismus.de, zuletzt aufgerufen am 15.06.2005.
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getriebene PKW der Welt produziert wurde (ebd.: 14). Diese Leistungen werden einerseits den Unternehmern und andererseits dem Erfindungsreichtum und der Arbeitsmoral der Bevölkerung zugerechnet und in die Gegenwart fortgeschrieben: „Fachleute mit Erfindergeist und dem Willen zum unternehmerischen Erfolg sorgen dafür, dass Chemnitz auch heute und morgen mit Innovationen von sich reden macht.“ (ebd.: 8) Eine besondere Rolle wird dabei der Zusammenarbeit mit der Technischen Universität und ihren angegliederten Instituten, bspw. dem Fraunhofer-Institut, zugeschrieben. Forschung und Entwicklung als Hausmarke. Im Vorwort des Oberbürgermeisters zur Image-Broschüre heißt es: „Ausschlaggebende Faktoren für diese erfolgreiche gesamtwirtschaftliche Entwicklung sind die hohe Konzentration von wissenschaftlich-technologischer Kompetenz und Innovationsfähigkeit der Unternehmen und eine enge Zusammenarbeit zwischen Produktion, Forschung und Lehre.“ (ebd.: 3)
Die einzigen nicht direkt wirtschaftsbezogenen Themen der ImageBroschüre können aber auch als weiche Standortfaktoren gelesen werden: Verweise auf die Hochkultur der Stadt, auf die Oper, die Kunstsammlungen, auf das Bauprojekt Innenstadt, den Kaßberg als attraktives gründerzeitliches Wohnquartier und die landschaftlich reizvolle Umgebung der Stadt. Chemnitz wird auf der Homepage als Stadt auf den zweiten Blick beworben: „Chemnitz hat Flair und Ausstrahlung. Vielleicht eine etwas spröde, nicht sofort in’s Auge fallende, dafür aber eine unverwechselbare Ausstrahlung, die sich mitunter erst auf den zweiten Blick offenbart. Ob Einwohner oder Tourist, Geschäftsreisender oder Besucher, unterziehen Sie sich doch dieser kleinen aber lohnenden Mühe des zweiten Blickes.“21
Diese Aufforderung zum zweiten Blick resultiert aus der Wahrnehmung des Stadtbildes auf den ersten Blick: Chemnitz gilt als hässlich, grau und trist. Aschenputtels Prinz erkannte ihre Schönheit schließlich auch nicht auf den ersten Blick.
21 Vgl. www.chemnitz.de, link „Stadt mit Ausstrahlung“, zuletzt aufgerufen am 17.07.2005.
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Bevölkerungsrückgang und Wohnungsleerstand Die folgenden Darstellungen sollen keine umfassende statistische Analyse der Themen Bevölkerungsentwicklung und Wohnungsleerstand in Chemnitz verkörpern. Sie dienen lediglich als Kontrastfolie zu den Annahmen und Wahrnehmungen, die sich im Diskurs niederschlugen, also quasi als Hintergrundinformation für die LeserInnen. Daher werden die Statistiken auch nur bis zum Abschluss des Untersuchungszeitraums dargestellt, so wie sie während des beobachteten Diskurses verfügbar waren, also bis zum Stand 31.12. 2001. Die Darstellungen beziehen sich im Wesentlichen auf die amtliche Statistik. Teilweise dokumentiere ich hier bereits Ausschnitte aus der Analyse- und Prognosearbeit der Verwaltung.
Bevölkerungsentwicklung Wie die Graphik zur Bevölkerungsentwicklung zeigt, erlebte Chemnitz vom Beginn seiner Industrialisierung bis etwa zum Zweiten Weltkrieg einen exponentiellen Bevölkerungsanstieg, der vor allem auf einen Zuzug von Arbeitskräften zurückzuführen ist. Dieser ebbte in den 1940er Jahren erstmals ab und die Einwohnerzahl sank vor allem kriegsbedingt in den 1950er und 1960er Jahren. In den 1970er und 1980er Jahren stieg die Einwohnerzahl der sozialistischen Industriestadt Karl-Marx-Stadt wieder an, begann jedoch bereits in den 1980er Jahren wieder zu sinken. Abb. 6: Bevölkerungsentwicklung der Stadt Chemnitz ab 1840
350000 300000 250000 200000 150000 100000 50000 0 18 20 18 40 18 55 18 80 19 00 19 20 19 40 19 50 19 60 19 70 19 80 19 90 20 00 20 01
Einwohnerzahl
Bevölkerungsentwicklung der Stadt Chemnitz ab 1840
Jahr
Quelle: eigene Darstellung nach „Statistisches Jahrbuch“, Stadt Chemnitz, Bürgermeisteramt 2002.
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STADTENTWICKLUNGSDISKURS IN CHEMNITZ
Dieser Bevölkerungsrückgang hat zwei Dimensionen, einerseits die natürliche Bevölkerungsentwicklung, also den Saldo aus Geburten und Sterbefällen, und andererseits den Wanderungssaldo, also die Differenz aus Zu- und Abwanderung. Die folgende Graphik zeigt deutlich, dass beide Dimensionen einen etwa gleichen Anteil am gesamten Bevölkerungsrückgang der Stadt haben. Das ist zur Einschätzung der Diskursbeiträge sehr relevant, da die Interpretation des Bevölkerungsrückgangs von vielen DiskursteilnehmerInnen auf Abwanderungen in westliche Bundesländer reduziert wurde. Abb. 7: Dimensionen des Bevölkerungsrückgangs in Chemnitz
0 -1000 -2000 -3000 -4000 -5000 -6000 -7000
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
Veränderung in absoluten Zahlen der Einwohner
Dimensionen des Bevölkerungsrückgangs in Chemnitz
natürliche Bevölkerungsentw. Wanderungssaldo Jahr
Quelle: eigene Darstellung nach „Statistisches Jahrbuch“, Stadt Chemnitz, Bürgermeisteramt 1992-2002.
Die Abwanderung hatte – gerechnet auf die Jahre 1995 bis 2001 í verschiedene Wanderungsziele. Deutlich wird, dass der Mythos von der Arbeitsmigration in westliche Bundesländer, der im Stadtumbau-Diskurs immer wieder bedient wird, nur ein Drittel des Bevölkerungsrückgangs durch Abwanderung begründet, berücksichtigt man die Verluste durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung, so erklärt die Abwanderung in westliche Bundesländer sogar nur ein Sechstel des Bevölkerungsrückgangs insgesamt. Wanderungsziel Nummer eins war das Umland. Der Suburbanisierungsprozess zusammen mit der sinkenden Geburtenrate sind also die Hauptursachen des Bevölkerungsrückgangs.
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Abb. 8: Wanderungsziele 1995-2001 Wanderungsziele (1995-2001) 4%
32%
1 2 3
57%
4
Umland Sachsen außer Umland andere Bundesländer Ausland
7%
Quelle: eigene Darstellung nach „Statistisches Jahrbuch“, Stadt Chemnitz, Bürgermeisteramt 1992-2002.
Das Absinken der Geburtenrate ist kein neues Phänomen. Abb. 9 zeigt, dass die Sterbezahlen schon seit den 1960er Jahren die Geburtenzahlen übersteigen. Abb. 9: Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Chemnitz
2000
1995
1990
1985
1980
1975
1970
1960
1950
1940
1930
1920
5000 4000 3000 2000 1000 0 -1000 -2000 -3000 1910
Geburtenzahlen Sterbefälle
Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Chemnitz
Jahr
Quelle: eigene Darstellung nach „Statistisches Jahrbuch“, Stadt Chemnitz, Bürgermeisteramt 1992-2002.
In den 1980er Jahren bewirkt die Familienpolitik der DDR vorübergehend einen Rückgang des Sterbeüberschusses, bevor in den 1990er Jahren der Geburtenknick nach der Wende den Trend wieder verstärkt. Zusammen mit der Abwanderung insbesondere der jungen Bevölkerung im 102
STADTENTWICKLUNGSDISKURS IN CHEMNITZ
fortpflanzungsfähigen Alter ist auf dieser Grundlage mit einem weiteren deutlichen Sterbeüberschuss und so mit weiterem Rückgang der Bevölkerung zu rechnen. Wie sich der Wanderungssaldo in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickelt, ist eher unvorhersehbar. Abb. 10: Lebensbaum der Stadt Chemnitz, Stand 31.12.2001
Quelle: Stadt Chemnitz 2002
Um diesen Unwägbarkeiten Rechnung zu tragen, basieren alle Planungen des Stadtentwicklungsamts auf Szenarien der Bevölkerungsentwick103
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lung. Diese wurden aufgrund der Einwohnerentwicklung und der regionalisierten Bevölkerungsprognose von 1998 bis 2015 des Statistischen Landesamtes des Freistaates Sachsen erstellt. Das Stadtentwicklungsamt erarbeitete dabei ein eigenes Stabilisierungsszenario, das von steigenden Zuzugszahlen ausgeht. Innerhalb dieses Stabilisierungsszenarios würde es trotz angenommener hoher Zuwanderung jedoch zu weiterem, wenn auch geringerem, Bevölkerungsverlust kommen. Abb. 11: Szenarien der Bevölkerungsentwicklung in Chemnitz
Quelle: Stadt Chemnitz 2002, Abschnitt 7.2.2
Wohnungsleerstand Während also die Bevölkerungszahlen rückgängig sind, wurde der Wohnungsbestand nach der Wende durch umfangreiche Neubautätigkeiten und die Sanierung von Altbauten weiter erhöht, so dass im Jahr 2001 bei einem Absinken der Bevölkerungszahl von 294.244 (1990) auf 253.495 (2001) trotzdem 13.882 Wohneinheiten mehr als 1990 zur Verfügung standen (vgl. Stadt Chemnitz: Bürgermeisteramt 1992-2002). Bei einem Gesamtwohnungsbestand von ca.173.000 Wohneinheiten in 2001 wurde der Leerstand im Integrierten Stadtentwicklungsprogramm (Stadt Chemnitz 2002), siehe unten, auf 41.000 bis 43.000 Wohnungen geschätzt. Dies entspricht einer Leerstandsquote von etwa 23-25 %. Davon seien nach den Angaben der Wohnungsunternehmen nur etwa 20.000 Wohneinheiten marktfähig. Das bedeutet, der Rest ist 104
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so stark verfallen, dass er sich in einem unbewohnbaren Zustand befindet (Stadt Chemnitz 2002). Die Abbildungen 12 und 13 zeigen zwei Graphiken aus dem Räumlichen Handlungskonzept Wohnen. Abb. 12: Wohnberechtigte Bevölkerung je Wohneinheit in Gebäuden mit Wohnraum zum 30.09.1995 in Chemnitz – mit Wohnungsleerstand
Quelle: Stadt Chemnitz 2002.
Abb. 13: Wohnberechtigte Bevölkerung je Wohneinheit in Gebäuden mit Wohnraum zum 31.12.2000 in Chemnitz – mit Wohnungsleerstand
Quelle: Stadt Chemnitz 2002.
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AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
Diese Abbildungen wurden häufig in Vorträgen von VerwaltungsmitarbeiterInnen zur Dokumentation des Leerstands verwendet. Abbildung 12 zeigt die Wohnungsbelegung Ende September 1995 im Verhältnis zum Stadtdurchschnitt (2.0 Einwohner pro Wohnung). Die blauen Flächen liegen unter und die roten über diesem Durchschnitt. Leerstehende Wohnungen wurden dabei in die Grundgesamtheit eingerechnet. Abbildung 13 zeigt die Verhältnisse mit Stand 31.12.2000, also gut fünf Jahre später. Die durchschnittliche Wohnungsbelegung ist inzwischen auf 1,5 Einwohner pro Wohnung gesunken. Zunächst zeigen die beiden Graphiken, dass sich der Leerstand – genauer die schwache Belegung í nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt. Die Stadtstruktur neigt zum Donut-Effekt, die inneren Stadtgebiete sind im Durchschnitt schwächer belegt als die äußeren. Dabei gibt es Inseln der guten Belegung, die sich über die fünf Jahre auch nicht wesentlich veränderten. Eine solche Insel ist beispielsweise der Universitätscampus mit seinen stark ausgelasteten Wohnheimen. Der wesentlichste Befund ist trotz allem eine allgemein zunehmende innerstädtische Entleerung, während die suburbanen Gebiete, die in Chemnitz zu großen Teilen eingemeindet sind, eine überdurchschnittliche Belegungsquote aufweisen. Es zeigt sich auch, dass die Belegungsquote in der Großwohnsiedlung (schwarzer Rahmen) in diesem Zeitraum deutlich zurückgegangen ist. Was diese Graphiken allerdings nicht bestätigen, ist das im Diskurs behauptete „Auffüllen“ der Gründerzeitgebiete, die sich östlich und westlich des Stadtzentrums befinden, gegenüber einem „Leerlaufen“ der Großwohnsiedlung. Zum diskursiven Einsatz der Folien ausführlich ab Seite 152. Soweit also ein Eindruck zur Entwicklung von Bevölkerungs- und Leerstandszahlen und deren Verteilung im Stadtgebiet.
Stadtumbau-Diskurs in Chemnitz Phase I: Die Verwaltung eröffnet den Diskurs Der Beginn des lokalen Diskurses um Leerstand und Rückbau wurde durch die Arbeit der Verwaltung bestimmt, die – von der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbeobachtet – Konzepte ausarbeitete und damit wesentliche Richtungsentscheidungen für den Stadtumbau in Chemnitz traf. Methodisch gesehen möchte ich darauf hinweisen, dass Diskussionen in dieser Phase kaum öffentlich waren, ich aber in meiner Materialsammlung nur auf öffentliche Dokumente und Beiträge zurückgreifen kann. Öffentlich sind vor allem die Ergebnisse: die Konzepte der 106
STADTENTWICKLUNGSDISKURS IN CHEMNITZ
Verwaltung, die hier vorgestellt werden sollen. Daher gleicht dieses Kapitel eher einer Dokumentation der „Öffentlichwerdung“ des Themas.
Berichterstattung in der Lokalpresse Diese Öffentlichwerdung beginnt abrupt im Juni 2000 mit einer sehr ausführlichen und detaillierten Berichterstattung in der Lokalpresse. Am 1. Juni 2000 bringt die Lokalredaktion der Freien Presse einen ersten Artikel, der sich zum Thema Wohnungsleerstand und Abriss äußert. Er bekommt den Status eines Leitartikels im Lokalteil und kündigt eine Hintergrundserie zum Thema in der nächsten Woche an. Dabei wird offensiv damit umgegangen, dass das Thema bisher nicht angesprochen wurde: „Jahrelang war der Abriss von Wohnblöcken im Fritz-HeckertGebiet in Chemnitz ein Tabu-Thema. Die Zeiten sind vorbei.“22 Anlass für die einsetzende Berichterstattung ist ein Rahmenkonzept zum Wohnungsbestand im Wohngebiet Fritz Heckert, das in der folgenden Woche in den Ausschüssen des Stadtrats diskutiert werden soll, das Mittelfristige Rahmenkonzept „Wohnraumentwicklung im HeckertWohngebiet“ (Stadt Chemnitz 2000a), das in Kooperation von Stadtverwaltung und Wohnungsunternehmen erarbeitet wurde. Dadurch erfahren die Leser der Freien Presse, dass es offensichtlich bereits eine längere, nicht öffentliche Diskussion des Themas innerhalb der Verwaltung und zwischen Verwaltung und Wohnungsunternehmen gegeben hat. Erste Zahlen werden genannt, etwa dass in der Gesamtstadt 33.000 von insgesamt 163.000 Wohnungen leer stehen und dass im FritzHeckert-Gebiet 3000 Wohnungen bis 2005 „vom Markt verschwinden“ sollen23. Dazu werden Fotos von leer stehenden Plattenbauten sowie von Bauarbeiten der Wohnungsgenossenschaft Einheit gezeigt. Vor dem scheinbar leeren Plattenbau steht ein Trabi. Damit reiht sich dieser Artikel bildersprachlich in den Kanon ein, den in den nächsten Monaten auch die überregionale Presse zum Thema Wohnungsleerstand in Ostdeutschland benutzen wird: die Reduzierung des Leerstandsproblems auf Plattenbauten und deren Abwertung als Symbol einer überwundenen Epoche (vgl. Großmann 2005a). Die Konzepte der Verwaltung Bund und Länder reagieren auf den Problemdruck mit Förderprogrammen für den Abriss von Wohngebäuden. Das Land Sachsen legte erstmals im Sommer 2000 ein solches Förderprogramm auf. Als Voraussetzung für die Vergabe von Fördermitteln wird die Erarbeitung eines so 22 Freie Presse, Chemnitzer Zeitung, 31.5./1.6. 2000, S. 13. 23 Ebd.
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genannten „Integrierten Stadtentwicklungskonzepts“ gefordert, das von jeder Kommune bis Ende 2001 vorlegt werden sollte24. Bis Ende 2000 solle zunächst ein Grobkonzept, das so genannte Teilkonzept „Wohnen“ erarbeitet werden. Damit wird eine Gesamtkonzeption für das gezielte Schrumpfen der Stadt eingefordert, die Investitionen in den Erhalt als auch in den Abriss lenken würden. Die Verwaltung kommt diesen Forderungen nach, indem im November 2000 aufbauend auf das Mittelfristige Rahmenkonzept „Wohnraumentwicklung im Heckert-Wohngebiet“ das oben genannte „Räumliche Handlungskonzept Wohnen“ im Stadtrat eingebracht und verabschiedet wird. Es stellt genau jenes Grobkonzept dar, in dem zum ersten Mal für die Gesamtstadt Gebiete ausgewiesen wurden, in denen nicht mehr Sanierung, sondern Abriss gefördert werden sollte. Ein halbes Jahr später wird dieses Konzept zusammen mit anderen Fachplanungen wie Schulnetzplanung, Flächennutzungsplan etc. zum "Integrierten Stadtentwicklungsprogramm“ verdichtet und auf Stadtteilebene herunter gebrochen. Diese drei Pläne, das Mittelfristige Rahmenkonzept „Wohnraumentwicklung im Heckert-Wohngebiet“, das „Räumliche Handlungskonzept Wohnen“ und das „Integrierte Stadtentwicklungsprogramm“ werden im Folgenden in wesentlichen Zügen vorgestellt.
Mittelfristiges Rahmenkonzept „Wohnraumentwicklung im Heckert-Wohngebiet“ Dieses Konzept beginnt mit einem Vorwort zu „neuen Aufgaben der Stadtentwicklungsplanung“ (Stadt Chemnitz 2000a: 1). Hier ist das erste Mal die Rede von der „Notwendigkeit der Planung von ‚Schrumpfungsprozessenǥ“ (ebd.) – dieses Wort wird in allen Konzepten in Anführungsstriche gesetzt. Erstmals findet sich hier auch die Formulierung, die ich als die zentrale Reflexionsformel der PlanungspraktikerInnen vom Paradigmenwechsel in der Stadtplanung bezeichnen möchte, und die sich immer wieder in ähnlicher Formulierung auch im nationalen Stadtumbau-Diskurs findet: Im Bericht der Leerstandskommission, dem für den Stadtumbau-Diskurs zentralen nationalen Dokument, taucht diese Formulierung wahrscheinlich zum ersten Mal an so prominenter Stelle auf. Hier heißt es: 24 Dabei handelt es sich um die Neufassung der Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Förderung wohnungspolitischer Maßnahmen im Mietwohnungsbestand (VwV-MW/Pr.-Mietwohnungsprogramm 2000) vom 30. November 1999, Änderung vom 23. Juni 2000). Hier wurde unter Punkt 4 erstmals die Förderung von Rückbaumaßnahmen geregelt. (SächsABl.SDr., Jg. 2000, Bl.-Nr. 29, 563ff.).
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„Die geltenden rechtlichen Instrumente und die Methoden der Stadtplanung sind darauf angelegt, Wachstum zu steuern. In Ostdeutschland geht es schon jetzt und künftig darum, Schrumpfung zu steuern.“ (Pfeiffer u.a. 2000, Kurzfassung: 10)
Im mittelfristigen Rahmenkonzept „Wohnraumentwicklung im HeckertWohngebiet“, das immerhin ein halbes Jahr früher erscheint, wird diese Einsicht so formuliert: „Die bisherige kommunale Entwicklungsplanung ... ist auf Nachfrage, und damit auf Wachstum am Ort als eine Voraussetzung ausgelegt...“ (Stadt Chemnitz 2000a: 1) Daraus wird abgeleitet, im nationalen Diskurs und hier erstmals im Chemnitzer Diskurs, dass ein Umdenken in der Planungspraxis ansteht, ein langfristiges Gestalten von Schrumpfungsprozessen. Nichtsdestotrotz heißt es im nächsten Absatz: „Ziel der Chemnitzer Kommunalpolitik muss es jedoch sein, durch Schaffung neuer Arbeitsplätze, weitere Verbesserung der Attraktivität unserer Stadt und die Bereitstellung preiswerten Baulandes für Eigenheimbau das Tempo des Einwohnerrückganges weiter zu reduzieren und diesen Trend in den nächsten 10 Jahren zu stoppen und umzukehren.“ (ebd.) Bereits hier, in diesen neuen Tönen mit starken Ambivalenzen, deuten sich die wesentlichen Argumentationsfiguren im Prozess an und ebenfalls die zentralen Brüche, die zu einem möglichen kulturellen Wandel führen können: das Streben nach einer Umkehr des Prozesses bei gleichzeitiger Einsicht in seine Unausweichlichkeit. Das Mittelfristige Rahmenkonzept basiert auf den beiden analytisch ermittelten Bevölkerungsszenarien, die auch für die weiteren Konzepte in Chemnitz grundlegend sind: der Ausweisung der Annahmen der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung in einem Trendszenario und einem Stabilisierungsszenario, vgl. Abb. 11. Das Trendszenario geht davon aus, dass sich der Bevölkerungstrend der Jahre 1994-99 fortsetzt; es stellt den untersten, den niedrigsten Wert der anzunehmenden Bevölkerungsentwicklung dar. Das Stabilisierungsszenario, das den oberen Grenzwert ausweist, geht von einem Anstieg der Geburtenziffern, von Zuwanderung, sinkender Umlandwanderung sowie weiter steigender Wohnfläche pro Einwohner aus. (ebd.: 5). Diese Bevölkerungsprognose für Chemnitz wird in nahezu allen mündlichen, vorbereiteten Diskursbeiträgen der Verwaltung zitiert. Auf diesen Szenarien aufbauend wird die Entwicklung der Leerstandszahlen prognostiziert (ebd.: Anlage 1, 11). Für das Baugebiet VIII, also den Stadtteil Hutholz in der Großwohnsiedlung, der im weiteren Verlauf des Diskurses eine besondere Rolle spielt, wird hier beispielsweise ein Leerstand von ca. 35 % (Stabi-
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lisierungsszenario) bzw. ca. 50 % (Trendszenario) bis 2005 vorausgesagt, sollte kein Rückbau erfolgen. Aufbauend auf diesen Prognosen werden sowohl Abrissmaßnahmen als auch Aufwertungsmaßnahmen vorgesehen. Die Abrisskonzepte – hier bereits konkret auf Wohnblöcke bezogen – wurden mit den Wohnungseigentümern abgestimmt und werden in einem Detailplan ausgewiesen. Die Presseberichterstattung, die mit der Erarbeitung dieses Konzepts einsetzt, stellt die Aufwertungsmaßnahmen in den Vordergrund ihrer Berichterstattung.
Räumliches Handlungskonzept Wohnen Dem Rahmenkonzept für die Großwohnsiedlung Fritz Heckert folgt im November 2000 das „Räumliche Handlungskonzept Wohnen“ (Stadt Chemnitz 2000b). Dieses Konzept, das die Grundlage für die weitere Stadtumbauplanung darstellt, bezieht sich auf die Gesamtstadt, nicht mehr nur auf ein Stadtgebiet. Auch hier taucht gleich am Anfang die Reflexionsformel vom Paradigmenwechsel in der Stadtplanung auf: „Die bisherige Stadtentwicklungstheorie und -politik, und dies gilt für die gesamte Bundesrepublik, war immer auf ‚Wachstumǥ, d.h. Deckung von Bedarfen/Schaffung von Angeboten, ausgerichtet. Der aktuelle Mietwohnungsmarkt der Stadt Chemnitz ist aber ... durch einen hohen Wohnungsüberhang geprägt.“ (Stadt Chemnitz 2000b: 1)
An späterer Stelle heißt es, dass mit „der Förderung des Wohnungsrückbaus ein völlig neues Steuerungsinstrument in die Stadtentwicklungsplanung eingeführt“ würde und so „die Handlungsmöglichkeiten zur Organisation des ‚Umbaus der schrumpfenden Stadt’ erweitert werden“ sollen (ebd.: 3). Dieses Konzept benennt für die Gesamtstadt Wohnstandorte, die als „dauerhaft und nachhaltig stabile, attraktive Wohngebiete“ eingeschätzt werden bzw. dahin entwickelt werden sollen, als auch die Gebiete, „in denen ein städtebaulich geordneter Umbau stattfinden soll“ (ebd.) Das heißt, hier wird erstmals die für den weiteren Verlauf wesentliche Entscheidung getroffen, welche Teile der Stadt langfristig als erhaltungswürdig eingestuft werden und welche zur Disposition stehen. Im so genannten Städtebaulichen Leitbild (Stadt Chemnitz 2000b: 8-10) werden die wesentlichen Ziele, wie sie auch das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm später prägen werden, bereits formuliert. Das übergeordnete Gestaltungsprinzip in diesem Leitbild heißt „Städtische Innenentwicklung“, hier verstanden als Prinzip der Stabilisierung der vorhandenen Strukturen und damit der Verhinderung weiterer Zersiede110
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lung des Umlands. Das Städtebauliche Leitbild betont außerdem die Grün- und Freiraumstrukturen, denen raumbildende ästhetische, kulturelle und stadtökologische Funktionen zugeschrieben werden. Die Situation wird als Chance verstanden, die bestehenden Freiflächen zu einem „multifunktionalen Freiflächensystem“ auszubauen (ebd.: 9). Abschließend werden vier Punkte genannt, die als neue Handlungsoptionen, als Chancen identifiziert werden, die aus der entstandenen Situation entspringen. Es sind: 1. Die „Entflechtung von unverträglichen Funktionsmischungen zwischen Wohnen und störendem Gewerbe“ (ebd.: 10). Hier soll die Wohnfunktion in den Gemengelagen zugunsten der freieren Entfaltung des Gewerbes aufgegeben werden. 2. Der „Rückbau der Wohnfunktion an besonders immissionsbelasteten Hauptnetzstraßen“. Hier sollen stadtstrukturelle Mängel beseitigt und gleichzeitig das Stadtbild durch gezielte Maßnahmen aufgewertet werden.25 3. Der oben bereits genannte Ausbau der Grünzüge. 4. Die „’Auflockerungǥ des kompakten Stadtgebietes vor allem in den als Erhaltungsgebiete auszuweisenden innerstädtischen Wohngebieten“. Defizite wie der geringe Grün- und Freiflächenanteil sollen hier durch Umgestaltung von Brach- und rückgebauten Flächen behoben werden, Infrastruktur, Wohnumfeld und Parkplatzangebot verbessert werden. Die Stadt wird für die detailliertere Unterfütterung dieser allgemeinen Prinzipien in sechs städtebauliche Strukturtypen unterteilt. Dies sind Ländliche Strukturen/Siedlungsgenbiete, die als stabile Gebiete beschrieben werden, Wohnsiedlungen der 20er und 30er Jahre, die als städtebaulich integrierte, gute Wohnlagen charakterisiert werden, weiter offene Blockstrukturen, also ehemals gründerzeitliche Quartiere mit offenen Ergänzungen aus der Wiederaufbauphase der 50er Jahre und einem hohen Freiraumpotenzial, außerdem die geschlossene Blockbebau25 Ein Beispiel für solche Handlungsoptionen ist die Neugestaltung von Brachflächen entlang der Leipziger Straße im Fördergebiet „soziale Stadt“. Hier wurden verfallene Gründerzeithäuser zu einer größeren Freifläche zusammengefasst und zum so genannten „Concordia-Park“ umgestaltet. Damit wurden als Schandfleck empfundene Brachen beseitigt an einer Stelle, die aufgrund der hohen Verkehrsbelastung ohnehin für den Wohnungsmarkt uninteressant geworden waren. Der Concordia-Park wurde in den Konzepten als neuer "Stadteingang“, als „grünes Stadttor“ bezeichnet (Forschungstagebuch vom 29.10.2001).
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ung der Gründerzeit, der eine hohe Urbanität und eine große Bedeutung für die Stadtidentität zugeschrieben wird während gleichzeitig die städtebauliche Qualitäten aber aufgrund hoher Dichte und Lärmbelastung als mangelhaft beschrieben werden. Ein weiterer Strukturtyp sind die Neubau-Wohngebiete der 1960er bis 1980er Jahre in industrieller Bauweise, deren Qualität abhängig vom konkreten Standort als differenziert einzuschätzen sei und schließlich die so genannten Gemengelagen, die aufgrund der Verkehrsbelastung und anderen störenden Nutzungen als schlechte Wohnlage charakterisiert werden. Für diese sechs baulichen Strukturtypen präsentierte das Räumliche Handlungskonzept Wohnen verschiedene statistische Analysen und formulierte darauf aufbauend Entwicklungsziele für einzelne Teilgebiete der Stadt. Die Statistiken werden so interpretiert, dass vor allem in den geschlossenen Gründerzeitgebieten und in den ländlichen Gebieten weiter mit Zuzug zu rechnen sei, während sich die Großwohnsiedlung in den meisten Teilen weiter entleeren werde (vgl. Stadt Chemnitz 2000b: Anlagen). Aufgrund dieser Analysen werden die Teilgebiete der Stadt in stabile Gebiete, Erhaltungsgebiete sowie Umstrukturierungs- und Umnutzungsgebiete eingeteilt. Stabile Gebiete sind die ländlichen Gebiete, die Wohnsiedlungen der 1920er und 1930er Jahre sowie große Bereiche der Gründerzeit. Erhaltungsgebiete sind Gebiete, denen Identitätsfunktion und städtebauliche Bedeutung zugeschrieben wird, die aber in baulich schlechtem Zustand sind und mit Einwohnerverlust kämpfen, etwa die aktuellen Sanierungs- und Fördergebiete in der Gründerzeit, die Innenstadt sowie die älteren Teile der Großwohnsiedlung. Umstrukturierungsgebiete haben einen hohen Leerstand, einen geringen Sanierungsstand und städtebauliche Mängel. Hier soll abgerissen und mit Einfamilienhäusern bzw. Reihenhäusern neu bebaut werden. Das Räumliche Handlungskonzept Wohnen weist dafür die äußeren, jüngsten Stadtteile der Großwohnsiedlung aus, woraus in der öffentlichen Diskussion ein Jahr später der größte Sprengstoff entsteht. Umnutzungsgebiete werden als lückenhaft, überdurchschnittlich leer stehend und immissionsbelastet charakterisiert. In diesen Gemengelagen entlang der großen Verkehrsadern soll die Wohnnutzung zugunsten von Gewerbe oder Grünzügen zurückgebaut werden. Auf dieser Grundlage wurden folgende Rückbaupotenziale ausgewiesen:
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STADTENTWICKLUNGSDISKURS IN CHEMNITZ
Abb. 14: Rückbaupotenziale für verschiedene Strukturtypen Rückbaupotenzial
2000 in % (Abschätzung)
Leerstandsprognose für 2010 (WE laut Stabilisierungsszenario)
Keine Angabe
Keine Angabe
Keine Angabe
Keine Angabe
(2) Wohnsiedlungen der 20er und 30er
15438
21,8
2523
1078
(3) offene Blockstrukturen
18666
30,7
(4) geschlossene gründerzeitl. Blockstrukturen
36723
34
(5) NeubauWohngebiete
59421
(1) ländliche Strukturen
(6) Gemengelagen
Bestand
Leerstand
an WE nach GWZ 199526
8024
21,1 28
in WE
(16,3%)
(7%)
5509
1764
(29,6%)
(9,5%)
9331
1789
(25,4%)
(4,9%)
11387
14808
(19,2%)
(24,9%)
1797
2065
(22,4%)
(25,7%)
Quelle: eigene Darstellung nach Stadt Chemnitz 2000b: 17ff.
Der Schwerpunkt des Rückbaus wird also auf die Neubau-Wohngebiete gelegt. In den ländlichen Strukturen soll dagegen je nach Nachfrage weiter Bauland ausgewiesen werden, denn hier seien Leerstand und Rückbau kein Thema. In den Wohnsiedlungen der 1920er und 1930er Jahre und in den geschlossenen Gründerzeitgebieten soll leicht zurückgebaut werden. Gleichzeitig wird hier vorgesehen, den Bestand noch weiter zu ergänzen. In den offenen Blockstrukturen soll knapp ein Drittel des vorhandenen Leerstands zurückgebaut werden. Ein weiterer Rückbauschwerpunkt wird in den Gemengelagen gesehen. Genau wie in der Neubau-Wohngebieten soll hier mehr abgerissen werden als laut Stabilisierungsszenario in 2010 leer stehen wird (Stadt Chemnitz 2000b: 17ff.), auch ein Punkt, an dem sich hitzige Debatten entzündeten.
Das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm Damit sind die wesentlichen inhaltlichen Setzungen getroffen, die nun im Integrierten Stadtentwicklungsprogramm noch einmal aufbereitet, mit weiteren Plänen zusammengefasst und auf Stadtteilebene herun26 GWZ = Gebäude und Wohnraumzählung zum 30.09.1995, WE = Wohneinheiten.
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tergebrochen werden. In der Verwaltungsvorschrift des Landes wird die Integration von weiteren Fachplanungen gefordert und dementsprechend werden in das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm für Chemnitz einbezogen: 1. Das Räumliche Handlungskonzept Wohnen, wie oben dargestellt, 2. Der Flächennutzungs- und Landschaftsplan, der teilweise modifiziert wird, 3. Das Räumliche Handlungskonzept Arbeiten, das sich vor allem auf die Entwicklung von Gewerbe- und Technologiestandorten bezieht, 4. Das Zentrenkonzept, das die weitere Entwicklung von Einzelhandel und Dienstleistungen im Stadtgebiet steuern soll und vor allem die city als Standort gegenüber den suburbanen Standorten stärken soll, 5. Verkehrsspezifische Ziele, Planungen zum Straßen und Radwegenetz, 6. Das Handlungskonzept Stadtökologie, das sich mit der Grünflächenund Freiraumplanung beschäftig und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Entwurfs zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept noch erarbeitet wird, 7. Weitere Fachkonzepte, etwa zur technischen Infrastruktur und zu Einrichtungen für den Gemeinbedarf27 Zudem werden die laufenden Haushaltspläne und die bereits festgelegten Investitionsvorhaben zugrunde gelegt,28 so dass hier tatsächlich ein Gesamtplanwerk entstanden ist, das detailliert Auskunft zu den Vorhaben und Zielstellungen gibt. Allerdings werden vom Stadtrat bereits beschlossene Konzepte, etwa die Verkehrsentwicklungskonzepte, die Investitionspläne und der Flächennutzungsplan, vermengt mit neu formulierten, noch nicht vom Stadtrat beschlossenen Zielstellungen. Dies führte für viele Leser, die alle Informationen als noch zu beschließende und damit verhandelbare Zielstellungen wahrnahmen, zu Irritationen. Die Informationsaufbereitung wurde auf Stadtteilebene vorgenommen. Daher ist das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm in ein Vorwort, in Teil A í eine Einleitung zu Bedingungen und Chancen der Entwicklung sowie Teil B í die Entwicklungsziele für die Stadtteile gegliedert. Der allgemeine Teil zeigt den Fortgang der Reflexion. Jetzt wird die Formulierung von der veränderten Planungspraxis in einer Zwischenüberschrift explizit „Paradigmenwechsel“ genannt. 27 Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, September 2001, in der Datensammlung Zeilen 253-564. 28 Ebd. Zeilen 227 ff.
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„2.1 Paradigmenwechsel in der Stadtplanung Theorie, Politik und Instrumente der Stadtplanung waren in der gesamten Bundesrepublik bisher immer auf "Wachstum", d. h. auf die Deckung von Bedarf und auf die Schaffung von Angeboten ausgerichtet. Der aktuelle Mietwohnungsmarkt der Stadt Chemnitz wird aber, wie auch in den anderen kreisfreien Städten Sachsens und der anderen östlichen Bundesländer, durch einen hohen Wohnungsüberhang geprägt. Dieser Sachverhalt stellt die kommunale Entwicklungsplanung vor völlig neue, bisher unbekannte Aufgaben. Dabei zeichnen sich immer stärker die Chancen ab, die sich aus der Anpassung der Siedlungsstruktur an weniger Einwohner ergeben und die umsetzungsorientiert zur Verbesserung der städtischen Strukturen genutzt werden sollen. Für diesen grundlegenden Wandel im stadtplanerischen Denken soll das Stadtentwicklungsprogramm eine Basis darstellen.“29
In Teil B des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms werden für jeden Stadtteil auf einigen Seiten Analysedaten vorgelegt, vor allem Zahlen zu Wohnungsbestand und -leerstand, sowie Entwicklungsziele formuliert. Weiterhin liegt für jeden Stadtteil eine Stadtteilkarte bei, in der die vorgesehenen Maßnahmen eingetragen sind. Zur Illustration: Einer der am heftigsten diskutierten Teilpläne ist der zum Ortsteil Hutholz, dem äußersten und jüngsten Baugebiet der Großwohnsiedlung Fritz-Heckert. Als Leitgedanke für die Entwicklung des Stadtteils wird formuliert: „Hutholz – Wohnen am Stadtrand“30; der Stadtteil wird kurz in seiner Entstehungsgeschichte beschrieben und charakterisiert. Unter der Überschrift „Entwicklungsziel“ wird formuliert, dass der Stadtteil aufgrund hohen Leerstands einen langfristigen strukturellen Wandel durch Um- und Rückbau erfahren solle. Im Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept wird dazu ausgeführt, dass „vorrangiges Planungsziel ... der flächenhafte Rückbau und Umbau zugunsten kleinteiliger Siedlungsformen“ (Stadt Chemnitz 2001: 95) sei. Da Flächen gut erschlossen und die Infrastruktur bereits vorhanden sei, sollten die frei werdenden Flächen „durch siedlungsstrukturell sinnvolle und wohnungspolitisch gewünschte kleinteilige Wohnformen“ (ebd.), also Reihen- und Einfamilienhäuser, nachgenutzt werden. In zwei kleinen Tabellen werden einerseits Einwohner- und Leerstandsdaten gelistet und andererseits das geschätzte Rückbaupotenzial angegeben. Aus der Schulnetzplanung wird angegeben, dass eine Grund- sowie zwei Mittelschulen geschlossen, abgerissen und die Flächen anschließend begrünt 29 Ebd., Zeilen 155-172. 30 Stadt Chemnitz 2002, Teil B, Text und Plan für Hutholz.
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bzw. durch „marktfähige Wohnformen“ nachgenutzt werden sollen. Das bedeutet, dass alle Schulen im Stadtteil geschlossen werden. Die Angaben zum Zentrenkonzept weisen ein C-Zentrum und zwei D-Zentren aus, für die Überlegungen zur Aufwertung gegeben werden, Grünzüge sollen nach Möglichkeit erweitert werden (vgl. ebd.: 95f.). Einen Kontrast zum Teilplan für das Hutholz ist beispielsweise der Stadtteil Kleinolbersdorf/Altenhain, ein eingemeindeter Stadtteil am Stadtrand, etwa acht Kilometer vom Zentrum entfernt. Als Leitgedanke wird für diesen Stadtteil formuliert: „Kleinolbersdorf/Altenhain. Naherholung und ländliches Wohnen.“31 Der Stadtteil wird als dörflich und landwirtschaftlich geprägt charakterisiert. Die Einwohnerzahlen haben sich in den 10 Jahren nach der Wende fast verdoppelt, der Leerstand wird auf 5-6% geschätzt. Als Entwicklungsziel wird der Ausbau des Stadtteils als ländlicher Wohn- und Freizeitstandort formuliert, touristische Funktionen sollen unterstützt und stadtteilbezogene Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Verkehrsanbindung zum Stadtkern soll durch den vierspurigen Ausbau der Hauptzubringerstraße verbessert werden, das Radwegenetz für die Freizeitfunktion verbessert, der Grundschulstandort gesichert und ein Sportplatz gebaut werden. Weitere Flächen für den Siedlungswohnungsbau sind vorgesehen, etwa 112 neue Wohneinheiten sollen entstehen. In dieser Art werden alle 39 definierten Stadtteile vorgestellt. In der Lokalpresse wurden diese Konzeptionen für die einzelnen Stadtteile in gekürzter Form veröffentlicht, meist mit einem Bild aus dem Stadtteil, einschließlich der wesentlichen Zahlen und Ziele.32
Phase II: Eine hitzige öffentliche Diskussion Die Tragweite der Inhalte dieses Entwurfs, die Sprengkraft dieses Pakets war wohl weder den Stadträten noch den MitarbeiterInnen der Verwaltung bewusst, denn beide wurden von den nun folgenden Ereignissen überrascht. Der Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm wurde im September 2001 zunächst von den beiden zuständigen Stadtratsausschüssen beraten.33 Die Ausschüsse genehmigten den Entwurf für das weitere Verfahren. Ein Stadtrat äußerte im April des nächsten Jahres auf einer Bewohnerversammlung, dass er ja im September den Entwurf 31 Stadt Chemnitz 2002, Teil B, Text und Plan für Kleinolbersdorf/Altenhain. 32 Vgl. exemplarisch Freie Presse vom 30.11.2001, Lokalteil. 33 Dies sind der „Ausschuss Bauen, Wohnen und Sanierung“ sowie der „Planungs-, Verkehrs- und Umweltausschuss“.
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so genau gar nicht gelesen hätte und auch überhaupt nicht geahnt habe, „welches Pulverfass da durchgewunken wurde“34. Das ursprüngliche Verfahren sah vor, dass die Chemnitzer Bürger und Träger öffentlicher Belange aufgefordert waren, binnen vier Wochen Stellungnahmen einzureichen. Die Einwände sollten von der Verwaltung abgewogen werden, das Programm gegebenenfalls modifiziert und dann dem Stadtrat zur Abstimmung vorgelegt werden. Im November, etwa sechs Wochen nach der Veröffentlichung, sollte der gesamte Stadtrat über das „Integrierte Stadtentwicklungsprogramm“ beschließen. Diese geplante schnelle Bestätigung des Programms durch die Stadträte scheiterte aber an einer losbrechenden öffentlichen Diskussion. Der überarbeitete Entwurf wurde tatsächlich erst im Mai des darauf folgenden Jahres beschlossen. Nicht einmal die Veröffentlichung der Stadtteilkonzepte in der Lokalzeitung war bei 39 Stadtteilen in vier Wochen zu bewältigen. Zusätzlich errichtete das Amt für Stadtentwicklung im Technischen Rathaus eine Ausstellung zum Konzept. Der Entwurf wurde in den Bürgerämtern ausgelegt und den InteressensvertreterInnen der Stadtteile (Ortschaftsräte, Stadtteilbüros) ausgehändigt. Auch weitere Träger öffentlicher Belange wurden mit dem Entwurf versorgt, etwa das Büro der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz. Mit der Veröffentlichung kam eine Welle des Protests ins Rollen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurde inhaltliche Kritik laut, die kam vor allem aus den Stadtteilen, in denen im größeren Umfang Abrisspotenziale ausgewiesen wurden. Insbesondere die Vokabel „flächen-hafter Rückbau“ legte für viele die Interpretation nahe, dass ganze Straßenzüge abgerissen werden sollten. Die angegebenen „Rückbaupotenziale“ ließen auf den Umfang der geplanten Abrissmaßnahmen schließen. Im Stadtteil Hutholz vermuteten die BewohnerInnen eine gezielte Vertreibung, da die Rückbaupotenziale höher ausgewiesen waren als die aktuellen Leerstände. Auch die Formulierung, dass zugunsten kleinteiliger Siedlungsformen umstrukturiert werden solle, gab Anlass zu der Interpretation, dass gerade die besonders guten Lagen des Stadtteils mit Blick zum Erzgebirge jetzt den geringer Verdienenden weggenommen und wohlhabenden Häuslebauern zugeschanzt werden sollten. Es kam zu Unterschriftenaktionen und Bürgerversammlungen, in denen die betroffenen Bürger sich über ihre Interpretationen des Konzepts und dessen Bedeutung verständigten sowie sich gegenseitig der Wertschätzung 34 Forschungstagebuch vom 01.04.02, Pausengespräch.
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des eigenen Stadtteils vergewisserten. Sie empörten sich über dessen Degradierung und zeigten unter dem Motto: „Wir bleiben hier“ offensiv Identifikation mit ihrem Stadtgebiet, dazu mehr im Abschnitt zum lebensweltlichen Deutungsmuster und im zweiten Teil der Ergebnisse. Dieser Protest hatte durchaus Wirkung, in der Überarbeitung des Konzepts wurden die meisten Änderungen im Teilkonzept Hutholz vorgenommen. Die Formulierung vom „flächenhaften Rückbau“ wurde in der Überarbeitung gestrichen. Rückbaupotenziale wurden in der Überarbeitung nicht mehr genannt, nur noch die Abrisspläne der Wohnungsgesellschaften auf insgesamt 1877 Wohneinheiten im Stadtteil beziffert, was nun weniger war als der geschätzte Leerstand. Auch die Ausführungen, nach Abriss das Gebiet „zugunsten kleinteiliger Siedlungsformen“ zu entwickeln, tauchen in der endgültigen und vom Stadtrat beschlossenen Fassung nicht mehr auf. Es kamen auch Proteste aus anderen Stadtteilen. Vieles im Programm sei bloße Lyrik, wichtige Probleme würden ausgeblendet, kritisierten Ortschaftsräte der eingemeindeten Stadtteile. In KleinolbersdorfAltenhain beispielsweise wurde kritisiert, dass nichts von dem großen Infrastrukturbedarf des Stadtteils im Konzept zu lesen sei. Wenn man seitens der Stadt weiteren Zuzug junger Familien begünstige, dann würden auch entsprechend Betreuungseinrichtungen benötigt. Es könne nicht angehen, dass der Ortsteil mit großen Worten in seiner Wohnqualität gepriesen, dann aber nichts zu seiner Ausstattung beigetragen werde.35 Kritik zum Verfahren kam von organisierten Gruppen und Institutionen wie der Lokalen Agenda 21, den Ortschaftsräten, stadtpolitisch engagierten Vereinen. Das Beteiligungsverfahren sei unzureichend, es sei eine Farce, innerhalb von vier Wochen qualifizierte Rückmeldungen zu einem so komplexen und schwer zu durchdringenden Dokument zu erwarten. Es wurde die Frage gestellt, ob eine wirkliche Partizipation von Seiten der Verwaltung überhaupt gewünscht werde? Als Reaktion auf die vorgebrachte Kritik wurde der Termin für die Beschlussfassung im Stadtrat von November auf Dezember verlegt. Mit der Verlängerung des Verfahrens wurde seitens der Zivilgesellschaft36 35 Vgl. Forschungstagebuch vom 19.11. 2001. 36 Der Begriff Zivilgesellschaft bezeichnet im Rahmen dieser Arbeit pragmatisch alle die Gruppierungen, Initiativen oder Organisationen, die zwischen der privaten und der staatlichen Sphäre angesiedelt sind und kollektive Interessen verfolgen. Die Lokale Agenda 21 für Chemnitz wird hier zur Zivilgesellschaft gerechnet, obwohl sie formal an den Stadtrat und die Verwaltung angebunden ist, da sowohl das Selbstverständnis als auch die Beziehungen zu Stadtrat und Verwaltung stark den Charakter einer zivilgesellschaftlichen Gruppierung haben.
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vermehrt die sachliche Auseinandersetzung gesucht: Um Alternativen aufzuzeigen organisierte die Lokale Agenda 21 z. B. im Dezember einen Vortrag eines Architekten. Der referierte zu verschiedenen Möglichkeiten, die Platte umzugestalten und dabei den Wohnungsbestand zu reduzieren anstatt großflächig abzureißen. Es gründete sich die ‚Initiative: Demokratie in Chemnitzǥ, bestehend aus VertreterInnen mehrerer Stadtteile, Agenda-VertreterInnen sowie weiterer zivilgesellschaftlicher Gruppen, auch mit Kontakt zur Universität.37 Die Initiative lud Anfang Februar ReferentInnen anderer sächsischer Städte ein zum Thema Bürgerbeteiligung im Stadtumbau ein und stellte so das Chemnitzer Verfahren zur Diskussion. Auf der Veranstaltung berichtete der Amtsleiter Stadtentwicklung, dass sich zwei Aktenordner gepresst voll mit Stellungnahmen angesammelt hätten und noch immer täglich Bürger ins Technische Rathaus kämen, um sich die Ausstellung anzusehen und zu diskutieren. Die Entscheidung im Stadtrat könne also nicht vor April stattfinden, denn man wolle sich mit den Stellungnahmen ausführlich beschäftigen: das gesamte Stadtentwicklungsamt ging dafür drei Wochen in Klausur.38 Fragen, wie denn die weitere Einbeziehung der Bürger in Chemnitz aussehen werde, wurden an die Stadtumbau GmbH verwiesen: Für das Stadtentwicklungsamt war nach Abschluss der Auslegung und Überarbeitung die Planungsaufgabe vorerst erledigt. Nach dem Stadtratsbeschluss sei der weitere Prozess Sache der Wohnungsunternehmen, auch die Bürgerbeteiligung. Der Beschlussfassung im Stadtrat ging eine gemeinsame Sitzung der beiden relevanten Stadtratsausschüsse voraus, die nach gut drei Stunden auf einen weiteren Sitzungstermin ausgedehnt wurde. Zu dieser Stadtratssitzung waren die Zuschauerplätze gefüllt. Die Atmosphäre war sehr angespannt, der Baubürgermeister moderierte die Sitzung straff, es kam kaum zu nennenswerten inhaltlichen Diskussionen. Zwei Wochen später beschloss der Stadtrat den überarbeiteten Entwurf. Damit endete der Beobachtungszeitraum.
Die Diskursgemeinschaften – eine Übersicht Die unten stehende Graphik gibt einen Überblick über die Diskursteilnehmer. Sie erhebt keinen Anspruch auf eine modellhafte Abbildung der Akteursbeziehungen, auch wenn inhaltliche und organisatorische Nähe 37 Ich selbst war als Mitglied von Mehr Demokratie e.V. an der Gründung dieses Netzwerks beteiligt. 38 Forschungstagebuch vom 02.02. 2002, Aussage des Amtsleiters Stadtentwicklung.
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oder Dominanzen berücksichtigt wurde. Die Symbole wurden in Anlehnung an vorhandene Logos der Organisationen, denen die Sprecher angehören, entwickelt, über Formen und Farben sollten hier keine weiteren Abstraktionen oder Interpretationen vorgenommen werden. Der Hauptakteur, der sowohl die Organisation des Diskurses betreibt als auch die meisten Beiträge liefert, ist die Stadtverwaltung, genauer das Baudezernat. Ihr Sprecher ist der Baubürgermeister, der sich auch mit Veröffentlichungen am nationalen Stadtumbau-Diskurs beteiligt. Er ist Mitglied im Rotary-Club und hat so an einer Diskursgemeinschaft der regionalen Wirtschafts- und Entscheidungseliten Anteil, auch publiziert er für die Zeitschrift des Rotary-Clubs. Der Amtsleiter Stadtentwicklung sowie einige MitarbeiterInnen des Amtes für Stadtentwicklung treten ebenso häufiger im Diskurs auf, ihre Argumente sind stark unisono und wirken wie eine Stellvertretung des Baubürgermeisters. Der Baubürgermeister demonstriert insbesondere auf Ausschusssitzungen des Stadtrates öffentlich seine Machtposition gegenüber seinen MitarbeiterInnen, indem er ihnen häufig ins Wort fällt, sie zurechtweist und kritisiert.39 Abb. 15: Übersicht über die Diskursteilnehmer
Mieter der Großwohnsiedlung Fritz-Heckert
BürgerInnen
ehem. Leiter des Stadtbauamts
CWE
CHEMNITZ
StadtteilInitiativen
AK Wohnen LA 21
Leerstandskommission
Oberbürgermeister
andere Wohnungsunternehmen
Stadtrat Verwaltung,
Denkmalpflege
Baudezernat, Baubürgermeister, Amtsleiter Stadtentwicklung
Ortschaftsräte
Quelle: eigene Darstellung 39 Vgl. Forschungstagebuch, u.a. vom 22.11.2001, 20.12.2001, 05.02.2002 und 08.05.2002.
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Initiative Südwestsachsen CWE
Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und EntwicklungsGmbH Wirtschaftsregion Chemnitz-Zwickau Stadtverwaltung, insbesondere Baudezernent FDP-Stadtratsfraktion CDU-Stadtratsfraktion SPD-Stadtratsfraktion Stadtratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen PDS-Stadtratsfraktion Grundstücks- und Gebäudewirtschafts-Gesellschaft Wohnungsbaugenossenschaft Chemnitz- Helbersdorf eG
Denkmalpflege
Ortschaftsräte StadtteilInitiativen
BürgerInnen
C H EMNITZ
Landesamt für Denkmalpflege Ortschaftsräte der eingemeindeten Stadtteile Stadtteilinitiativen/Bürgerbüros Nicht organisierte BürgerInnen Lokalzeitung Chemnitzer „Freie Presse“ Initiative Demokratie in Chemnitz Bürgerinitiative Hutholz
ehem. Leiter des Stadtbauamts
LA 21
Ehemaliger Leiter des Stadtbauamts Lokale Agenda 21 für Chemnitz Wohnungsgenossenschaft "Einheit" eG Chemnitz Haus & Grund Sachsen e.V.
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Die städtische Wohnungsbau-Gesellschaft (Grundstücks- und Gebäudewirtschafts-Gesellschaft, kurz GGG) tritt in Koalition mit dem Baudezernat auf – zumindest auf der Ebene der Argumentationen. Sie ist der größte Wohnungseigentümer in Chemnitz. Der Baubürgermeister war im Beobachtungszeitraum Mitglied im Aufsichtsrat der GGG. Der Geschäftsführer der GGG, Peter Naujokat, war seinerseits Mitglied der Leerstandskommission des Bundes und somit Teil des Steins, der die Dinge ins Rollen brachte. Beide, Baubürgermeister und Geschäftsführer der GGG, gehörten damit der nationalen Diskursgemeinschaft der PlanungspraktikerInnen an. Im öffentlichen Chemnitzer Diskurs war der Baubürgermeister allerdings wesentlich präsenter.
Die Stadtumbau-GmbH Ebenfalls stark an die Argumentation des Baudezernats angelehnt erscheint die einzige öffentliche Äußerung des Geschäftsführers der Stadtumbau GmbH. Die Stadtumbau GmbH stellt einen Zusammenschluss der lokalen Wohnungsunternehmen dar, der Geschäftsführer ist ein Mitarbeiter der GGG. Die Stadtumbau GmbH wurde vom Baubürgermeister initiiert und dient dem Management der Abrisstätigkeiten. Ihre Strukturen, Handlungsfelder und Ziele wurden im Sachstandsbericht zum Stadtumbau von 2003 erstmals detailliert dokumentiert. Ein Auszug: „3.1 Stadtumbau GmbH Der Stadtumbauprozess erfordert ein effizientes Management. Deshalb gründete sich auf Initiative des Baudezernates die Stadtumbau GmbH. Deren Gesellschafter -
Grundstücks- und Gebäudewirtschaftsgesellschaft mbH Chemnitzer Allgemeine Wohnungsbaugenossenschaft e.G. Wohnungsbaugenossenschaft Chemnitz-Helbersdorf e.G. Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft e.G. Wohnungsbaugenossenschaft Chemnitz West e.G. Stadtwerke Chemnitz AG
bilden somit eine Solidargemeinschaft aus 41 % des Wohnungsbestandes in der Stadt und sind Kooperationspartner der Stadtverwaltung und Bewohner. Zwei Genossenschaften sind nicht Mitglied der GmbH. Die Aufgaben der Stadtumbau GmbH bestehen in -
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der Entwicklung und Abstimmung von Quartierskonzepten zum Stadtumbau mit allen Beteiligten
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-
der Beschaffung und dem Einsatz von Fördermitteln zum Stadtumbau der Betreuung der Eigentümer bei der Durchführung von Bau- und Ordnungsmaßnahmen der Durchführung der Sozialplanung mit den Mietern und der Öffentlichkeitsarbeit.
Die Stadtumbau GmbH ist Beauftragte der Stadt und wird aus Städtebaufördermitteln finanziert. Ihre Dienstleistung können auch Eigentümer nutzen, die nicht selbst Gesellschafter der GmbH sind. Der Schwerpunkt ihrer Aufgaben lag bisher bei der Durchführung von Mietergesprächen in Rückbauobjekten des Heckert-Gebietes und bei der Mitwirkung an den Quartierskonzepten. Im Sinne eines Lastenausgleiches traf die GmbH für ihre Gesellschafter Regelungen zur Erstattung von Genossenschaftsanteilen und Mietwerten bei rückbaubedingtem Vermieterwechsel. Über einen Wohnungspool der Gesellschafter werden bedarfsgerechte Ersatzwohnungen angeboten.“ (Stadt Chemnitz 2003b: 5)
Die stärkste Konfliktlinie lag zwischen der Verwaltung und den BewohnerInnen der Großwohnsiedlung Fritz-Heckert bzw. deren organisierten Vertretungen. Die diskursive Elite ist hier in der Bürgerinitiative Hutholz mit ihrem Sprecher zu sehen. Ebenfalls in Opposition zum Baubürgermeister geht der Geschäftsführer der Wohnungsgenossenschaft (WG) Einheit. Der Geschäftsführer der WG Einheit kritisierte die Fokussierung der Debatte auf Abrisskonzepte. Dies würde in der Öffentlichkeit und damit unter seinen Mietern/Genossenschaftern zu Verunsicherung und gegebenenfalls zu Wegzug führen. Der Konflikt kulminierte darin, dass die WG Einheit als einziger der großen Wohnungseigentümer nicht in die Stadtumbau GmbH eintrat. Er wurde durch diese Haltung zu einer Art Local Hero der BewohnerInnen. Das Verhältnis zum Baudezernat, insbesondere zum Baubürgermeister, war gegen Ende des Beobachtungszeitraumes zerrüttet und von offener Feindseeligkeit auf Sitzungen der Ausschüsse im Stadtrat geprägt, wo er als sachkundiger Einwohner zwar kein Stimmrecht, aber Rederecht hatte. Beim Beteiligungsverfahren zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept veröffentlichte die WG Einheit (2001) ein Faltblatt, das explizit zur Stellungnahme aufruft und inhaltlich Position gegen die Abrissdimensionen bezieht. Genau diese Distanz zu den verhandelten Konzepten und Plänen des Baudezernats trug der WG Einheit viele Sympathien der BewohnerInnen und die Koalition der Bürgervertretung ein. Die WG Einheit genoss den Ruf eines rührigen, zuverlässigen Vermieters. Sie hatte bereits vor dem Beobachtungszeitraum ihren Wohnungsbestand durch Abriss und Umbau reduziert, ihre Umbauprojekte galten als vorbildhaft und bewohner123
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orientiert. Auf den Bewohnerversammlungen der Bürgerinitiative Hutholz und auf anderen öffentlichen Diskussionsveranstaltungen erfuhr der Geschäftsführer massive Unterstützung in Zwischenrufen und Aufforderungen, ihn sprechen zu lassen. Er wurde damit indirekt zum Wortführer gemacht. Der Geschäftsführer trat außerdem auf verschiedenen Fachtagungen als Redner auf, so im Januar 2001 im sächsischen Landtag und auf den zweiten Chemnitzer Bau- und Verkehrsfachtagen im Oktober 2000. Andere Wohnungseigentümer sind in meinem Datenmaterial aufgrund des Kriteriums der Öffentlichkeit nicht als Sprecher vertreten, obwohl sie am Diskurs beteiligt waren. Deren Beteiligung zeigt der Sachstandsbericht Stadtumbau, der erst nach dem Beobachtungszeitraum im ersten Halbjahr 2003 erschien. Hier wurden die Teilnehmer des von der Verwaltung initiierten Arbeitskreises Wohnen benannt, der bis dahin in den Konzepten zwar erwähnt, aber nicht beschrieben wurde. Abb. 16: Organigramm des Arbeitskreises Wohnen Steuerungsebene
Beteiligte/ Aufgaben/ Beratungsrhythmus
Stadtrat AK Wohnen = Entscheidungsebene
Beschluss des Stadtentwicklungsprogramms Beteiligte: D6, Stadtumbau-GmbH, Wohnungsunternehmen, Verein Haus und Grund, Steuerungsgruppe Aufgaben: - strategische Entscheidungen zum Gesamtprozess Beratungsrhythmus: Nach Erfordernis, i.d.R. vierteljährlich Ständig Beteiligte: Stadtumbau-GmbH, Ämter 60 und 68 Nach Bedarf Beteiligte: Vertreter der WU Aufgaben: - Zielkontrolle des Stadtumbauprozesses Gesamtstadt - Erkennen/ Abgleichen von Zielkonflikten mit Unternehmenskonzepten - Aufgabenstellungen, Steuerung der Erarbeitung und Umsetzung von Quartierskonzepten - Aufgabenstellungen, Steuerung der Erarbeitung und Umsetzung von Quartierskonzepten - Sicherung der Mieterbeteiligung und Öffentlichkeitsarbeit - Übersicht über aktuellen Stand der Rückbau-, Mod., Sozialplan- und Infrastrukturmaßnahmen (Antrags-, Bewilligungs- und Realisierungsstatistik) - Steuerung und Evaluierung des Fördermitteleinsatzes - Abgleich von Einzelvorgängen aller Aufgabenträger Beratungsrhythmus: monatlich
Steuerungsgruppe
Quelle: Stadt Chemnitz 2003b, 6.
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STADTENTWICKLUNGSDISKURS IN CHEMNITZ
Das Organigramm zeigt, dass innerhalb des Arbeitskreises eine Steuerungsgruppe aus Stadtumbau-GbmH, dem Amt für Baukoordination sowie dem Stadtentwicklungsamt und – nach Bedarf – VertreterInnen der Wohnungsunternehmen existierte, die sich monatlich beriet. Der Arbeitskreis selbst traf sich vierteljährlich und umfasste neben dieser Steuerungsgruppe das gesamte Baudezernat, die Wohnungsunternehmen, den Verein Haus und Grund sowie die gesamte Stadtumbau-GmbH. Der Arbeitskreis stellte die Entscheidungsebene. Auffällig ist, dass entgegen einer Publikation des Baubürgermeisters von 2001 (Fischer 2001b) das Sächsische Staatsministerium und die SAB, die Sächsische Aufbaubank, hier nicht mehr als Beteiligte erwähnt wurden. Gerade die Landesregierung/-verwaltung und die Banken erschienen aber im lokalen Diskurs immer wieder als „graue Eminenzen“, die ganz wesentliche Richtungsentscheidungen trafen und Rahmenbedingungen setzten. Die Verwaltungsvorschriften des Innenministeriums wurden in den Datenkorpus als Randmaterial aufgenommen. Der Stadtrat stand zwischen den beiden am heftigsten in Konflikt geratenen Diskursgemeinschaften – den BewohnerInnen der Großwohnsiedlung und der Verwaltung. Eine klare Positionierung in diesem Konflikt nahm keine der Parteien vor. Die Stadtratsmitglieder wirkten überfordert und blieben in den inhaltlichen Positionen farblos. Eine deutliche Koalition von Stadtratsfraktionen mit anderen Diskursteilnehmern war im Beobachtungszeitraum nicht zu erkennen. Eine Koalition bildeten im Verlauf des Diskurses die Diskursgemeinschaft der BewohnerInnen der Großwohnsiedlung und zivilgesellschaftliche Gruppen wie die Lokale Agenda 21 für Chemnitz. Zeitweise wurde diese Koalition, wie oben bereits beschrieben, in der „Initiative Demokratie in Chemnitz“ institutionalisiert. Neben der gemeinsamen Kritik am Verfahren gab es auch auch Übereinstimmungen in den Zielen, Werten und Vorstellungen. Zwei weitere Diskursteilnehmer sind erwähnenswert: Das ist einmal die auflagenstärkste Lokalzeitung „Freie Presse“. Es gibt weitere Lokalzeitungen, die jedoch aus forschungsökonomischen Gründen nicht in die Analyse einbezogen wurden. Und schließlich gibt es ein Publikum des Diskurses, die Chemnitzer Öffentlichkeit.
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Ergebnisse Teil I: Deutungsmuster von Stadtentwicklung
Die Ergebnisse stelle ich in zwei Etappen vor. Als erstes beschreibe ich in diesem Kapitel die Deutungsmuster, die ich aus dem Datenmaterial zum lokalen Diskurs analysiert habe und diskutiere sie. Im zweiten Teil werden die Deutungsmuster untereinander in Beziehung gesetzt und mit Hilfe der bereits erarbeiteten theoretischen Bezüge auf Tendenzen für Veränderungen hin interpretiert.
Ein dynamisches Analyse-Modell für Raum Die Deutungsmuster werden auf der theoretischen Folie des Raummodells nach Sturm (2000) dargestellt. Dieses Modell erlaubt ihre theoretisch begründete Dimensionierung auf vier Feldern und ermöglicht so einen systematischen Vergleich. Raum als sozialwissenschaftliche Kategorie erlebt derzeit einen regelrechten Boom, nachdem in der deutschen Soziologie räumliche Bezüge lange Zeit ausgeblendet wurden. Obwohl gerade die deutsche Soziologie mit Simmel, Durkheim und Weber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ansätze ein relationalen, d.h. ein an den Beziehungen der Menschen, der Dinge und der Handlungen orientiertes Raumverständnis formulierte, wurde Raum über Jahrzehnte als Territorium, zweidimensional als Fläche oder dreidimensional als zu füllender Behälter behandelt. Derartige Begriffsverwendungen qualifizierten Raum eher als Rahmenbedingung sozialwissenschaftlichen Handelns denn als eigene sozialwissenschaftliche Kategorie. Die Renaissance eines relationalen Raumverständnisses, das in der Raumsoziologie von Martina Löw (2001) seine aktuellste Ausformulie127
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
rung hat, wurde durch den französischen Soziologen Henri Lefèbvre eingeleitet. Er widmete sich in seinem 1974 erschienenen Buch „Production de l’espace“ (hier zitiert nach der englischen Ausgabe von 1991) der gesellschaftlichen Herstellung von Raum. Dabei benennt er Aspekte, die den gesellschaftlichen Raum produzieren, hervorbringen. Dies sind im Wesentlichen Praktiken der Wahrnehmung und Orientierung, die Repräsentation des Raumes durch ExpertInnen wie Planer oder Architekten sowie die komplexen Symbolisierungen des Raumes durch Kunst oder Mythologie. Wesentlich ist der relationale Zugang, in dem die Konstitution räumlicher Zusammenhänge als gemacht, als sozial produziert angesehen wird. In Deutschland begann die theoretische Beschäftigung mit relationalen Begriffsfassungen von Raum erst in den 1990er Jahren. Ein wesentlicher Meilenstein dabei war Dieter Läpples „Essay über den Raum“ (1991). Läpple entwarf einen Matrix-Raum, der vier Komponenten zur Charakterisierung gesellschaftlicher Räume benennt. Dies sind: x das materiell physische Substrat, x die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen bzw. die gesellschaftliche Praxis, x ein institutionalisiertes und normatives Regulationssystem sowie x das Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem Aufbauend auf Läpples Matrix-Raum und unter Aufarbeitung historischer Denkmodelle für Raum von der Antike an entwirft Gabriele Sturm (2000) ein dynamisches Analysemodell für Raum. Die vier Komponenten von Läpples Matrix-Raum gehen bei Sturm in vier Quadranten eines Kreismodells auf, das den Zeitverlauf als dynamisches Moment berücksichtigt. So wird etwa die gesellschaftliche Praxis in Quadrant als zeitabhängige gesellschaftliche Praxis, nämlich als historisches Konstituieren im Modell verortet. Dieses Modell, so die Intention der Autorin, soll als allgemeines Analyse-Modell, als „Weg-Vorschlag“ für Forschung über Raum dienen (Sturm 2000: 185,189). Die Weg-Metapher bezieht sich hier auf methodisches Arbeiten, Methoden betrachtet Sturm der Bedeutungswurzel nach als Wege zu Zielen von Erkenntnisinteressen (ebd.: 22). Das Analysemodell soll also auch methodisches Hilfsmittel sein.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
Abb. 17: Raummodell nach Sturm
ZEIT
IV
kultureller Ausdruck rezeptiv
III
historisches Konstituieren
Raum
materielle Gestalt
I
d y n a m i s c h
g e k a n n t
aktiv
strukturierende Regulation
II
Quelle: Sturm 2000: 199
Ich benutze das Modell in diesem Sinne als Systematisierungshilfe zur Betrachtung der Deutungsmuster. Dafür müssen die vier Quadranten des Modells auf den Gegenstand der Arbeit angepasst werden. Bei Deutungsmustern geht es beispielsweise in Quadrant I nicht um die materiale Gestalt der Stadt selbst, sondern um die jeweilige Vorstellung von der materialen Gestalt. Diese Vorstellung bewegt sich im Material auf zwei Ebenen, auf der Ebene von Idealen und auf der Ebene von Visionen, von Erwartungen darüber, was im Zuge des Schrumpfungsprozesses mit der Stadtgestalt im besten und im schlimmsten Fall passieren wird. Im zweiten Quadranten geht es entsprechend um Vorstellungen von Regulation. Kern dieses Quadranten ist die jeweilige zentrale Entwicklungslogik eines Deutungsmusters, also die Vorstellung davon, was die Entwicklung der Stadt reguliert bzw. steuert und welche Ressourcen dafür genutzt werden können.
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AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
Abb. 18: Raummodell im Zuschnitt auf Deutungsmuster von Stadtentwicklung
IV
III Zielvorstellungen und Bedeutungen
Vorstellungen von gesellsch. Praxis
jeweilige Bedeutung des Ereignisses, Vorstellungen zu Zielen von Stadtentwicklung
Ursachenannahmen, Handlungsvorschläge, verantwortliche Akteure
Vorstellungen von Stadtgestalt
Vorstellungen von Regulation
Ideale, positive und negative Visionen
I
jeweilige zentrale Logik von SE, Werte, Entwicklungsressourcen
II
Quelle: eigene Darstellung
Der dritte Quadrant, in dem es um historische Konstitution geht, widmet sich dem Handeln, der gesellschaftlichen Praxis. Hier bespreche ich zweierlei Vorstellungen über Handeln, nämlich erstens Vorstellungen über vergangene Handlungen, die zu dem Ereignis des Schrumpfens geführt haben, sprich die jeweiligen Interpretationen der Ursachen von Bevölkerungsrückgang und Wohnungsleerstand. Zweitens bespreche ich hier Vorstellungen über zukünftige Handlungen, also Vorschläge zum Umgang mit dem Ereignis und Vorstellungen darüber, welches die Akteure sind, die Träger dieser Handlungen sein sollen – und welche Akteure in dieser Vorstellung keine Rolle spielen. Der letzte Quadrant benötigt weniger Übersetzung, da er sich ohnehin bereits dem kulturellen Bereich widmet. Hier werden also alle Bedeutungszuweisungen eingeordnet, die innerhalb eines Deutungsmusters auftreten. Darunter fasse ich Bedeutungen des Ereignisses „Schrumpfung“ sowie Ziele zukünftiger Stadtentwicklung. Gerahmt werden die Deutungsmuster von den darin antizipierten Zeitrahmen, die í wie zu zeigen sein wird í sehr unterschiedlich sind. 130
DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
Fünf Deutungsmuster zur Stadtentwicklung Auf dieser Auswertungsebene werden die Daten rein nach Sinnstrukturen analysiert. Wie im Methodenteil bereits dargestellt, ist die Ebene der Deutungsmuster nicht an die Akteursebene gebunden, denn die Akteure vertreten selten nur explizit ein Deutungsmuster. Die kulturelle Ebene und die Akteursebene sind also nicht kongruent, sondern die Akteure orientieren und verhalten sich teilweise quer zu den Mustern. Es gibt Akteure, die gleichzeitig verschiedene Deutungsmuster vertreten und es gibt Deutungsmuster, die von konkurrierenden Akteuren bzw. Diskursgemeinschaften vertreten werden. Eine der wesentlichen Personen im Chemnitzer Diskurs, der Chemnitzer Baubürgermeister beispielsweise ist im von mir gesammelten Material gleichzeitig mit Argumenten aus dem marktwirtschaftlichen, dem gestalterischen und dem integrativen Deutungsmuster vertreten. Es kommt sogar vor, dass Akteure in unterschiedlichen Deutungsmustern gleichzeitig argumentieren. Die Reihenfolge der Darstellung hat keine Bedeutung.
Marktwirtschaftliches Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Standortentwicklung Kennzeichnend für dieses Deutungsmuster ist, alle Vorgänge der Chemnitzer Stadtentwicklung als Folge wirtschaftlicher Entwicklung zu lesen. Stadtentwicklung erscheint so als abgeleitete Funktion der Wirtschaftsentwicklung. Dieses Deutungsmuster trifft auf weiten Konsens und wird von sehr vielen Chemnitzer Akteuren vertreten, z.Bsp. von Bürgern in Kombination mit dem lebensweltlichen Deutungsmuster oder von der Verwaltung in Kombination mit dem gestalterischen Deutungsmuster. Einige Akteure vertreten auch das marktwirtschaftliche Deutungsmuster als alleinige Stadtentwicklungsvorstellung, so die Interessenverbände der Wirtschaft und Wirtschaftsförderung oder VertreterInnen von Wohnungsunternehmen.
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AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
Abb. 19: Das marktwirtschaftliche Deutungsmuster
IV
III Zielvorstellungen und Bedeutungen
Vorstellungen von gesellsch. Praxis
Bedeutung der Schrumpfung: Verlust, Versagen
Ursachen: schwache Wirtschaft
Entwicklungsziele Prosperierende Wirtschaft als Basis für weitere Ziele wie Wohlstand und Lebensqualität
Handlungsvorschläge: Wirtschaftsförderung
Vorstellungen zur Stadtgestalt
Vorstellungen von Regulation
kaum thematisiert Ideal: eine attraktive Stadt als weicher Standortfaktor zur Anziehung von Investoren und Humankapital
I
verantwortliche Akteure: ökon. Akteure, pol. und kult. Elite
Regulativ: Markt Werte: Wachstum Ressourcen: Unternehmerkapital, Standortfaktoren, Humankapital
II
Quelle: eigene Darstellung
Antizipierter Zeitrahmen Das marktwirtschaftliche Deutungsmuster ist ein sehr auf die Gegenwart bezogenes Deutungsmuster. Es geht zumeist um das Hier und Jetzt. Die Vergangenheit wird, wenn überhaupt, als Entwicklung von wirtschaftlichen Bedingungen thematisiert, so die frühe Industrialisierung der Stadt und Region, die Blütezeit des industriellen Chemnitz oder die Einschnitte durch die staatssozialistische Periode und den Systemumbruch. Die Zukunft wird in eher kurzfristigen, in jedem Fall für heutige BewohnerInnen erlebbaren Perspektiven angesprochen. Die Darstellung beginnt mit dem für das Verständnis eines Deutungsmusters zentralen Quadranten II, den Vorstellungen von Regulation, der jeweiligen zentralen Entwicklungslogik des Modells. Vorstellungen von Regulation Zentrales Regulativ in diesem Deutungsmuster ist der Markt. Innerhalb dieser Logik beginnt jeder Vorschlag, wie die Stadtentwicklung von Chemnitz zu steuern sei, mit einer Stärkung der lokalen Wirtschaft. Arbeitsplatzentwicklung und Wirtschaftsentwicklung werden dabei pa132
DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
rallel gesetzt. Dazu ein Zitat aus dem Workshop „Stadtvisionen“ eines SPD-Stadtratsabgeordneten: „Zentrierend, haben wir gesagt, wird sein, wie sich die Arbeitsbasis, die Möglichkeit eben zur Arbeitsbeschaffung, in der Region entwickeln wird ... und entsprechend gestaltet sich die Stadtentwicklung.“1 Die Entwicklung der Wirtschaft – und damit der Stadt í wird als ressourcenabhängig betrachtet. Hauptressource ist das Unternehmerkapital, Investitionen sind so gesehen der Motor bzw. der Treibstoff der Stadtentwicklung. Damit Investitionen zustande kommen und der Treibstoff fließt, soll die Stadt ihrerseits Ressourcen für wirtschaftliche Entwicklung zur Verfügung stellen, die so genannten Standortfaktoren, die in harte und weiche Ressourcen unterschieden werden. Als harte Standortfaktoren werden Charakteristika des Ortes aufgelistet, von denen man annimmt, dass sie direkt die Entscheidungen von Unternehmen als Investoren beeinflussen, sie sind über Kosten-Nutzen-Rechnungen betriebswirtschaftlich kalkulierbar. Weiche Standortfaktoren hingegen beeinflussen die Investitionsentscheidungen indirekt, auf nicht ökonomischen Ebenen. Einer dieser weichen Standortfaktoren ist die Ästhetik des Stadtbilds. Das Stadtbild soll Individualität im Sinne einer Pluralität der Lebens- und Konsumstile, Lebensqualität und Aufenthaltsqualität repräsentieren. In der Image-Broschüre für Chemnitz, erstellt von der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft (CWE) wird das Chemnitzer Stadtbild entsprechend beworben: „Jugendstil- und Neo-Gotik-Architektur bis hin zu Bauhaus-Anklängen dominieren auf dem Kaßberg, dem wohl größten Gründerzeitviertel Europas. In den glanzvoll restaurierten Häuserzeilen gibt es Raum zum individuellen Wohnen. Boutiquen, Galerien, Nobelrestaurants und Szenekneipen laden ein.“ (CWE 2001: 30)
Wer wird hier eingeladen? Einerseits die Investoren und deren Familien, die sich nicht nur für den Investitionsstandort Chemnitz, sondern auch für den Wohnstandort Chemnitz entscheiden müssen. Ein Wirtschaftberater äußerte in einem stadtsoziologischen Seminar an der Universität, dass die Ansiedlung von Unternehmen oft an den Frauen der Unternehmer scheitere, die schlicht nicht mit nach Chemnitz ziehen wollten.2 Andererseits wird das so genannte Humankapital angesprochen, also möglichst junge, talentierte und qualifizierte Menschen, die ebenfalls als 1 2
Tonbandprotokoll vom 24.04.2002, Workshop Stadtvisionen, Zeilen 323333. Zitiert nach Forschungstagebuch vom 15.06.2001.
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AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
Ressource wirtschaftlicher Entwicklung betrachtet werden, als die Hefe, die den Teig zum Wachsen bringt, wie dies der erste Bevollmächtigte der IG Metall Chemnitz ausdrückt, wenn er für Chemnitz diagnostiziert: „Die Hefe aus dem Teig ist raus“3. Der City-Manager ist zwar gegenteiliger Auffassung, bedient aber dasselbe Muster: „ ... die Stadt in Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und TU schafft es, das Coca-Cola-Geheimnis zu wahren. Also wir haben hier eine besondere Intelligenz in der Stadt und diese wirkt weiterhin als Kern, um Menschen hier hin zu bringen und die Stadt am Leben zu erhalten.“4
Thema der Titelseite der oben erwähnten Image-Broschüre ist ebenfalls das Humankapital. Sie wird von neun Portraits illustriert, davon zwei historische Persönlichkeiten (Agricola, Hartmann), zwei zeitgenössische Unternehmer (Hahn, Naumann), ein Professor für Mikrotechnologie (Geßner), eine Sportlerin (Witt), ein Schriftsteller (Heym), ein Baby und ein Teenager (Sieger der Bundes-Mathematik-Olympiade). Die Stadt wird also repräsentiert von historischen, zeitgenössischen und (potenziellen) zukünftigen Leistungsträgern (vgl. CWE 2001: 1) Wachstum – in der Sache ein Modus von Entwicklung – wird in diesem Deutungsmuster zum Wert, zur Norm. In allen Darstellungen der CWE wird nie eine rückgängige Entwicklung thematisiert, sondern nur Zuwachs. Sämtliche Graphiken der Präsentation „Das neue Chemnitz“ beispielsweise zeigen ansteigende Prozesse.5 Um solche Zuwachsraten zu veröffentlichen, werden die Chemnitzer Wirtschaftsdaten selektiert, beispielsweise wird nur das verarbeitende Gewerbe dargestellt.6 Um die Zuwachsraten im Umsatz des verarbeitenden Gewerbes noch imposanter zu gestalten, werden für die Graphiken nur Betriebe mit über zwanzig MitarbeiterInnen eingerechnet. So kann ein Zuwachs im Auslandsumsatz von 255% aufgeführt werden.7 Ein zum Wachstum gewissermaßen paralleler Wert ist die Erreichung von Superlativen und Spitzenpositionen. Dazu wird ein permanenter Vergleich zu anderen Städten geführt. In der gerade besprochenen Präsentation der Stadt wird Chemnitz als „viertgrößte Stadt Ostdeutschlands“, als „führender Wirtschafts-, Technologie- und Innovationsstand3 4 5 6 7
So von ihm geäußert bei mehreren Gelegenheiten im Jahr 2000 und 2001, zitiert nach Forschungstagebuch vom 10.03.2001. Tonbandprotokoll vom 24.04.2002, Workshop Stadtvisionen, Zeilen 418423. Vgl. Präsentation der CWE: Das neue Chemnitz, unveröffentlicht. Vgl. ebd., 6-10. Vgl. ebd.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
ort in Ostdeutschland“ und als „Zentrum des Maschinenbaues in Mitteldeutschland“ beschrieben. Graphiken vergleichen Daten zu Chemnitz, Leipzig und Dresden, wo u.a. dargestellt wird, dass Chemnitz die größte Exportquote und die größte Industriedichte (sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe pro 1000 EW) habe. Letztere Graphik wird untertitelt mit : „Chemnitz í führend in den Neuen Bundesländern“ (CWE 2000: 3-11). Wachstum wird also nicht – wie etwa im gestalterischen Deutungsmuster í funktional zu Stadtentwicklungsprozessen thematisiert, sondern als etwas prinzipiell Positives, als Wert an sich.
Vorstellungen zur Stadtgestalt Die physische Gestalt der Stadt wird in diesem Deutungsmuster nur selektiv behandelt. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Leerstand und Stadtschrumpfung fand auf der Ebene der Materialität nicht statt. Charakteristisch für diese Sicht ist die Antwort des Geschäftsführers der CWE auf meine Einladung zum Workshop „Stadtvisionen í Visionen für Chemnitz“. Er sagte ab mit den Worten: „Wir brauchen keine Visionen. Was wir brauchen, sind drei weiche Standortfaktoren jetzt und hier.“8 Damit war die Benennung von drei vermarktungsfähigen Charakteristika der Stadt gemeint, denn zu diesem Zeitpunkt plante die CWE eine bundesweite Werbekampagne für Investitionen in Chemnitz. Das Stadtbild wird zur Vermarktung in Inseln der Attraktivität aufgeteilt und beschrieben. Die Innenstadt oder City wird erwähnt, als sei sie eine abgeschlossene Einheit. Die bürgerlichen Gründerzeitgebiete Kaßberg und Schloßchemnitz werden als attraktive Wohngebiete beschrieben, die sich durch individuelle Wohnangebote, Flair, eine gewisse Lifestyle-Infrastruktur wie Boutiquen und Gastronomie jeder Couleur auszeichnen. Das Arbeiterviertel der Gründerzeit, der Sonnenberg, sowie alle anderen Stadtteile spielen in den Stadtbildvorstellungen dagegen keine Rolle. Wichtig sind dafür einzelne besonders repräsentative, vorzeigbare Elemente wie sanierte Baudenkmale, Orte der Hochkultur wie die Oper sowie Landschafts- und Natursymbolik.9 Das gezeichnete, beworbene Bild der Stadt wirkt wie eine idealisierte Mischung aus dem großstädtischen Zentrum der Jahrhundertwende í es handelt permanent von Flair, Ambiente, Stil, flanieren, Cafes, kleinen Läden etc. – und den modernen Orten des Konsums mit Einkaufsmög8 9
Gedächtnisprotokoll des Telefonats vom 07.03. 2002, zitiert nach Forschungstagebuch. Vgl. Präsentation der CWE: Das neue Chemnitz, unveröffentlicht, CWE 2001.
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lichkeiten größeren Stils. Es geht darum, eine Grundausstattung für bestimmte Lebensstile anzubieten, die jede Stadt vergleichbarer Größe haben soll und sich darüber hinaus durch Besonderheiten, Einzigartigkeiten, Superlative abzuheben. In der Image-Broschüre heißt es: „Vor allem bekam die Stadt eines zurück: ein pulsierendes innerstädtisches Herz. Die nach dem Chemnitzer Wahrzeichen Roter Turm benannte Einkaufsgalerie ist bereits äußerlich ein Schmuckstück. Die helle Terrakotta-Fassade verleiht ihr venezianisches Flair. In unmittelbarer Nachbarschaft wächst das erste Gläserne (sic) Kaufhaus Europas seiner Fertigstellung entgegen. Das Flaggschiff der "Galeria Kaufhof" hat Stararchitekt Helmut Jahn entworfen.“ (CWE 2001: 30)
Die Vorstellungen von Stadtgestalt werden im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster vor allem über Bildsprache geäußert. In den Publikationen des Stadtmarketing, das im Untersuchungszeitraum institutionell an die CWE angegliedert wurde, tauchen zur materiellen Gestalt folgende Kategorien von Bild-Text-Dokumenten auf:10 x Darstellungen von historischen Einzelgebäuden, am häufigsten das Opernhaus, gefolgt vom Neuen Rathaus, dem Roten Turm aus der mittelalterlichen Stadtbefestigung, dem alten Universitätsgebäude, und den sanierten Fachwerkhäusern am Schlossteich, x Darstellungen von Natur und Umland, insbesondere das Wasserschloss Klaffenbach in einem eingemeindeten Ortsteil, sowie andere Parks der Stadt, x Darstellungen von neuesten Wirtschaftsstandorten (Solaris-Turm, Technologie Centrum Chemnitz) und der Universität, x Darstellungen der neu gebauten Innenstadt, insbesondere der Galerie Roter Turm und der Galeria Kaufhof, x Darstellungen des Kaßbergs als repräsentativem Stadtteil der Gründerzeit Das Stadtbild erscheint also wie oben besprochen als Ressource wirtschaftlicher Entwicklung. Interessant ist, was ausgeblendet wird. Dazu gehören die meisten Chemnitzer Stadtteile, jedwede Symbolik des vergangenen Karl-Marx-Stadt, nicht einmal die Karl-Marx-Statue wird gezeigt. Verkehr, eine flächenmäßig starke Nutzung im Stadtraum und ansonsten für wirtschaftliche Zusammenhänge sehr relevante Kategorie,
10 Vgl. ebd.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
wird ebenfalls nicht abgebildet. Dass Brachflächen, Leerstand und Bauruinen nicht gezeigt werden, ist erwartungsgemäß.
Vorstellungen von gesellschaftlicher Praxis Die Ursachen für den Schrumpfungsprozess werden auf wirtschaftliche Prozesse reduziert betrachtet. Sie gelten als selbstverständlich und daher kaum der Ausführung wert: eine schwache Wirtschaft führe zu vermindertem Arbeitsplatzangebot, was wiederum Abwanderung provoziere. Die Lösung bestehe nicht in Korrekturen am Symptom, sondern in Wirtschaftsförderung. Eine Kritik aus der Stadtratfraktion der PDS zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept lautet: „Es gilt für mich in diesem Zusammenhang die tatsächlichen Ursachen für die entstandene Leerstandssituation zu benennen und an deren Überwindung zu arbeiten. Als Hauptursache sind dabei die fatale Wirtschaftsentwicklung und die Situation auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu betrachten. Es ist nun mal unbestritten, dass viele jüngere und flexible Familien der Arbeit "nachgezogen" sind. Es gilt in erster Linie, diese Ursachen schnellstmöglich zu beseitigen und nicht deren Folgen im Nachhinein durch eine Politik der "Abrissbirne" zu kompensieren.“ (Heydecke 2002)
Der Geburtenrückgang wird zwar hin und wieder genannt wie eine Art Wissensbestand. Dieses Wissen beeinflusst jedoch nicht den Deutungsprozess, da es im wahrsten Sinne des Wortes nicht ins Muster zu passen scheint. Ein Beispiel: der Kandidat der FDP für das Oberbürgermeisteramt nannte auf einer der ersten öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen u.a. den Geburtenrückgang als Ursache für den Bevölkerungsrückgang. Er schlug vor, im Falle eines Wahlsiegs ein Begrüßungsgeld für neu geborene Chemnitzer einzuführen und somit einen Anreiz für potenzielle Eltern zu schaffen. Die Reaktion des Publikums war verhalten. Seine weiteren Ausführungen galten der Wirtschaftsförderung, hier waren die Reaktionen wesentlich euphorischer.11 Auf späteren Veranstaltungen im Wahlkampf tauchte dieses Detail nie wieder auf. In einer der letzten großen Veranstaltungen dieses Oberbürgermeister-Wahlkampfes antwortete der Kandidat auf die Frage, was er als erstes ändern würde: „FDP-Kandidat: Das erste wird ein Programm der kommunalen Wirtschaftsförderung sein. Um die Stadt wirtschaftlich wieder ins Gleis zu bringen. Besonders (Zwischenrufe) ja, wir haben 65.000 Einwohner verloren, meine Da-
11 Vgl. Forschungstagebuch vom 15.02.2001.
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men und Herren. Und das wird //und das wird meine Aufgabe sein, das zu ändern, dazu braucht es ein wirtschaftliches Fundament, was stabil ist.12“
Wenn man der Logik folgt, dass alle Stadtentwicklung letztendlich eine Folge der Wirtschaftsentwicklung sei, passen Überlegungen zur Geburtenförderung nicht ins Konzept, auch nicht für das Publikum. Zudem waren die demographischen Zusammenhänge im Frühjahr 2001 ein noch wenig verbreitetes Expertenwissen, das in verschiedenen öffentlichen Runden auf Skepsis traf, es gäbe doch mittlerweile wieder mehr Kinder. Ein Vorschlag des CDU-Kandidaten, die abgewanderten Chemnitzer mit der Bitte um Rückkehr anzuschreiben, wurde aus dem Publikum mit Gelächter und dem Einwurf quittiert: „Was wollen die denn hier, wenn es keine Arbeit gibt?“13. Die Wahlkampfbeispiele zeigen auch, dass das marktwirtschaftliche Deutungsmuster ein von vielen geteiltes Deutungsmuster ist, auch wenn manche andere, sogar widersprüchliche Deutungen in ihre Sicht integrieren. Die Handlungsvorschläge zum Umgang mit dem Schrumpfungsprozess beschränken sich also auf Wirtschaftsförderung und damit verbunden die Annahme, dass so Arbeitsplätze entstehen, die Abwanderung aufgehalten werde bzw. Zuzug ausgelöst werden könne. In seiner Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm forderte ein Bürger: „Mit dem Stadtentwicklungsprogramm bin ich nicht einverstanden. Die Fördergelder sollten insgesamt für die Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet werden bzw. für die Ansiedlung von Firmen. Meine Kinder sind mit Enkelkind in die alten Bundesländer gezogen, weil Chemnitz sich in keiner Weise Mühe um die Jugendlichen oder jungen Leute gibt.“14
Zur Wirtschaftsförderung gehört, die Stadt als weichen Standortfaktor attraktiver zu machen sowie harte Standortfaktoren wie Verkehrsanbindungen zu verbessern. Daher machen in diesem Deutungsmuster Maßnahmen Sinn wie Stadtbildverbesserung, Imagearbeit, Infrastrukturmaß12 Tonbandprotokoll der Wahlkampfveranstaltung vom 04.06.2001, Zeilen 74-79. Das Lachen bezieht sich im Übrigen nicht auf das Argument, sondern sehr wahrscheinlich auf die aktuellen Schwierigkeiten des Kandidaten als Unternehmer. Er ist der Investor für die Galerie Roter Turm und war bei deren Errichtung auf Bürgschaften und Unterstützung der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft GGG angewiesen. 13 Zitiert nach Forschungstagebuch vom 24.04.2001. 14 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 10-14.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
nahmen oder auch (hoch-)kulturelle Projekte, jedoch immer nur funktional zur Einwerbung von Investitionen. „Das Stadtentwicklungsprogramm verfolgt das Ziel, die Stadt insgesamt attraktiver zu gestalten und dass insbesondere für die Jugend aber auch für notwendige Zuzüge, die für eine nachhaltige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Stadt unerlässlich sind.“15
Eingriffe sind aber nicht unbedingt nötig, im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster ist auch vorstellbar, dass allein die Kräfte des Marktes die Entwicklung wieder umkehren. Im Workshop „Stadtvisionen“ äußerte ein Wohnungsunternehmer, unterstützt u.a. durch den City-Manager, einen SPD und einen CDU-Stadtrat: „Die jetzigen Wachstumsregionen, z.B. die Region um München, die sind durch ganz bestimmte Technologien geprägt und es gibt dann mal die Grenze. Und hier besteht die Chance für Chemnitz, ...weil eben an den Wachstumsstandorten eine Grenze ankommt, haben wir eine berechtigte Chance wieder zu wachsen, aber dann nicht mit Zuzug aus den europäischen Randgebieten, sondern mit den jungen Leuten die jetzt von uns dort hin gehen, dass dann von dort junge Leute zu uns kommen. Das ist ein Szenario, was eigentlich kommt.“16
Verantwortliche Akteure sind in dieser Sichtweise nur die Wirtschaftstreibenden. Da wirtschaftliche Prozesse ihre Ursachen häufig außerhalb des kommunalen Kontexts haben, erscheint die Kommune als angewiesener, wenn nicht gar passiver Akteur. Wenn es um die Verbesserung von harten und weichen Standortfaktoren geht, kommen auch die EntscheidungsträgerInnen aus Politik und Verwaltung sowie Kulturschaffende in den Blick. Nicht als Akteure von Stadtentwicklung werden dagegen die BürgerInnen und weite Teile der Zivilgesellschaft angesehen.
Zielvorstellungen und Bedeutung von Schrumpfung Im Wesentlichen sind die Ziele von Stadtentwicklung in den vorangegangenen Abschnitten bereits deutlich geworden. Hier ein letztes Beispiel: die Regionalinitiative „Wirtschaftsregion Chemnitz-Zwickau“ formuliert auf ihrer Website als Entwicklungsziel: „Entwicklung der Wirtschaftsregion Chemnitz-Zwickau zum Wachstumsknoten von nati15 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 18-20. 16 Tonbandprotokoll vom 24.04.2002, Workshop Stadtvisionen, Zeilen 685693.
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onaler Bedeutung im Verdichtungsraum Chemnitz-Zwickau innerhalb der Metropolregion Sachsendreieck.“17 Die eingetretene Entwicklung entspricht schlicht dem Gegenteil dessen, was als Entwicklungsziel angesehen wird. Daher wird sie, wie im Zitat oben deutlich wird, als „fatale Wirtschaftsentwicklung“ eingeschätzt. Eine positive Entwicklung wäre gekennzeichnet von einer prosperierenden Wirtschaft, die großen Wohlstand und eine hohe Lebensqualität ermöglichen würde. Eine positive Entwicklung wäre eine von Wachstum geprägte Entwicklung. Wie für die Vorstellungen zum Stadtbild, so gilt auch für die Vorstellungen von Bedeutungen und Zielen, dass eine detaillierte Ausführung im Diskurs nicht zu finden ist. Die Argumente werden nur angedeutet, oft schlagwortartig, und ihre Logik wird ebenso als selbstverständlich vorausgesetzt wie ihre Berechtigung. Dies verweist auf die Hegemonie dieses Deutungsmusters: es muss nicht legitimiert werden, diese Deutungen muss man im Diskurs nicht rechtfertigen.
Gestalterisches Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Kreation „... die Auflösung der Familie, die sicher zu beobachten ist in letzten Jahrzehnten, ist eine Folge der Siedlungsform. Das heißt, die Zergliederung der Siedlung ganz einfach führt zur Auflösung der Familie.“18
Das gestalterische Deutungsmuster ist komplexer als das marktwirtschaftliche Deutungsmuster und hat mehrere Vignetten. Die zentrale Logik des Deutungsmusters besteht in der Annahme, dass gesellschaftliche Prozesse in der Stadt über die Gestaltung baulicher Strukturen gesteuert werden können.
17 http://www.chemnitz-zwickau.de/index.php3?t=01&s=10, zuletzt aufgerufen am 10.1. 2005. 18 Tonbandprotokoll vom 24.04.2002, Workshop Stadtvisionen, Zeilen 685689.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
Abb. 20: Das gestalterische Deutungsmuster
IV
III Zielvorstellungen und Bedeutungen Bedeutung der Schrumpfung: Erschwernis für Gestaltung Entwicklungsziele die nach normativen Gesichtspunkten / Stand des Fachwissens bestmöglich gestaltete Stadt
Vorstellungen von gesellsch. Praxis Ursachen: wirtsch. Umbruch. und demograph. Entwicklung Handlungsvorschläge: Schrumpfung von außen nach innen verantwortliche Akteure: professionelle Elite
Vorstellungen zur Stadtgestalt
Vorstellungen von Regulation
Stadt als „Zirkuszelt“
Regulativ: Gestaltung, Design
Vision: Durchlöcherung und Zerfall im Negativszenario, polyzentrische Struktur mit Kern im pragmatischen Szenario
Werte: Ästhetik, Individualität, Aufenthaltsqualität Ressourcen: Unternehmerund Humankapital, Fördermittel, Kommunik. Know-How,
Ideal:
I
II
Quelle: eigene Darstellung
Wie das Leben durch bauliche Gestaltung gelenkt wird und mittels welcher Gestaltung welche Prozesse zu beeinflussen sind, darüber gehen die Ansichten auseinander. Dieses Deutungsmuster wird vor allem von den Professionellen vertreten: von Stadtplanern, Architekten und ähnlichen Berufsgruppen, von PolitikerInnen, von VertreterInnen des Denkmalschutzes. Aber auch VertreterInnen der Zivilgesellschaft bedienen die Logik dieses Deutungsmusters. Das gestalterische Deutungsmuster ist an fast jedes andere Muster anschlussfähig und wird daher oft von Akteuren in Kombination mit anderen Deutungsmustern bewegt, am häufigsten zusammen mit dem marktwirtschaftlichen Deutungsmuster. Ging es im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster darum, über wirtschaftliche Potenz Gestaltung zu ermöglichen, so ist ein Ziel hier, durch Gestaltungsprozesse wirtschaftliche Entwicklung anzuziehen. Diese beiden Ziele werden häufig als Kreislauf zusammengedacht, siehe dazu auch ab Seite 191.
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AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
Antizipierter Zeitrahmen Das gestalterische Deutungsmuster ist ebenfalls sehr stark auf die Gegenwart orientiert. Die Vergangenheit wird vor allem in Epochen von Gestaltung (Architekturstile) und in Wellen von Zerstörung (Krieg, Abriss und Überbauung) thematisiert. Handlungen richten sich üblicherweise auf gegenwärtige Anerkennung und Erfolge, manchmal aber auch auf langfristige Zeiträume im Wunsch, die Qualität der Gestaltung möge über Generationen anerkannt werden. Das Schrumpfungsereignis bringt hier Irritationen und Veränderungen mit sich, indem gerade auf Brachflächen kurz- bis mittelfristige Gestaltung mit so genannten Zwischennutzungen angestrebt werden. Diese Zeitperspektive ist für die Akteure neu und ungewohnt. Abb. 21: Das gestalterische Deutungsmuster und seine Vignetten
gestalterisches Deutungsmuster Stadtentwicklung als Gestaltungsprozess konservierendes Deutungsmuster Stadtentwicklung als Konservierung
Deutungsmuster Superlative: Stadtentwicklung als Event und Wettbewerb
Quelle: eigene Darstellung
Vignette 1, konservierendes Deutungsmuster: Eine Vignette des gestalterischen Deutungsmusters ist die Konservierung von Gebäuden und baulichen Strukturen. Dieses häufig unter dem Schlagwort „Denkmalschutz“ verhandelte Deutungsmuster setzt Entwicklung als bereits vollzogenen Prozess fest und fordert von gegenwärtiger Stadtentwicklung die Konservierung des Vorhandenen. Regulativ von Entwicklung ist ebenfalls die Gestaltung, hier vor allem die vergangene Gestaltung. Aktuelle Gestaltungsprozesse sollen so wenig wie möglich in das Vorhandene eingreifen. Die Stadt wird als bauliches Produkt der Geschichte the-
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matisiert, soziale und gegenwärtige Prozesse werden nicht in den Blick genommen. Vignette 2, Deutungsmuster Superlative: Kernidee dieser Vignette ist, dass mediale Aufmerksamkeit und ein hohes Tempo bei einzelnen großen Entwicklungsprojekten eine positive Sogwirkung auslösen, das Image der Stadt nach innen und außen heben und weitere Projekte durch Vorbildwirkung nach sich ziehen. Dazu in einer Internetzeitung: „Die Chemnitzer Chance ist, sich als Raum für unkonventionelle, medienwirksame Ereignisse zu präsentieren und nicht als Sammelsurium leidlich schicker Baumasse.“19 Die Gestaltung der Stadt wird hier zum Event. Diese Vignette zeichnet sich besonders durch den extrem kurzfristigen Zeitrahmen aus, in dem Entwicklung gedacht wird. Die Gestaltung der Stadt erscheint innerhalb dieser Vignette als eine Kette positiver Ereignisse, die medial inszeniert werden. Beispielsweise wurde der Bau der Galeria Kaufhof minutiös von der Lokalzeitung dokumentiert, Baustellenführungen wurden an Sonntagen angeboten, zu denen über 150000 Besucher gezählt wurden. Ein weiteres solches Projekt war die Sanierung der Fabrikantenvilla „Villa Esche“ – eine detailgetreue Wiederherstellung des Jugendstilhauses samt Interieur, eingeweiht vom Bundespräsidenten.20
Vorstellungen von Regulation Zentrales Regulativ in diesem Deutungsmuster ist die Gestaltung/das Design. Eine gute Gestaltung wird eine positive Entwicklung einleiten, ein schlechtes Design macht sie unmöglich. Dies wird besonders anhand der Innenstadtentwicklung deutlich und erklärt im Weiteren auch einige Ansätze für den Stadtumbau. Hier ein erstes Beispiel, der Autor ist ein freier Redakteur einer Internetzeitung für Chemnitz: „Geschickte Stadtplaner setzen Fixpunkte und markieren so das Zentrum. Zwischen diesen Highlights entstehen dann idealerweise Laufwege í interessant für das Kleingewerbe, die Kneipiers, die Boutiquen und Galerien í eben Entertainmentstraßen.21
Die Gestaltung beeinflusst in dieser Vorstellung also die Handlungen der Akteure von Stadtentwicklung, hier von Einzelhändlern und Kun19 Internetartikel auf www.schrittmacherchemnitz.de, zuletzt aufgerufen am 18.07.2001, in der Datensammlung Zeilen 31-33. 20 Vgl. Freie Presse vom 14.12. 2001. 21 Internetartikel auf www.schrittmacherchemnitz.de, zuletzt aufgerufen am 18.07.2001, in der Datensammlung Zeilen 15-17.
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den. Die Entwicklung des Einzelhandels im Stadtzentrum ist somit über die Gestaltung steuerbar. In den Leitbildern zur Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz wird das Prinzip auf die Förderung von Nachbarschaften angewendet: „Bauweise und Gestaltung von Wohnnebenflächen fördern nachbarschaftliche Beziehungen und individuelle Rückzugsmöglichkeiten...“22 In der Vignette Konservierung ist die Konservierung als Spezialform von Gestaltung das zentrale Regulativ. In der Vignette Superlative wird Gestaltungsprozessen besonders dann eine regulierende Funktion beigemessen, wenn sie mediale und öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Die Frage nach den Ressourcen für Gestaltungsprozesse ist im Bezug auf den Wandel von Deutungsmustern eine zentrale Frage, die Bewegung in die Deutungen bringt. Als zentrale Ressourcen für Gestaltungsprozesse werden Investitionen angesehen, vor allem privatwirtschaftliche Investitionen, aber auch staatliche Fördermittel. Eine weitere wesentliche Ressource ist das Fachwissen bzw. das Können professioneller Gestalter. Es bedarf eines professionellen Know-hows, um über Design die Entwicklung zu beeinflussen. Nun bestand jedoch eine der zentralen Irritationen, die der Schrumpfungsprozess auslöste, darin, dass die Hauptressource für Gestaltung í das private Investitionspotenzial í rückläufig war. Restriktive Lenkung von Investitionen etwa über Sanierungs- und Erhaltungssatzungen, führten also nicht wie gewohnt zur guten Gestaltung, sondern zum Ausbleiben der Investitionen. Beim Umbau der Innenstadt beispielsweise fehlte Ende der 1990er Jahre die Konkurrenz von Investoren, die man durch die Instrumente des Baugesetzbuchs zur Einhaltung bestimmter Gestaltungsregeln und zum Wettbewerb in den Entwürfen hätte zwingen können. Im Gegenteil, die Verwaltung war auf die Kooperation mit den wenigen Investitionswilligen angewiesen. Dies wurde mit mehr Einsatz von professionellem Know-how ausgeglichen. Stararchitekten wurden angeworben, die durch ein besonderes Design die beste Gestaltung im Rahmen der Möglichkeiten herausholen sollten. Mit Bezug auf die Innenstadtentwicklung erklärte der Oberbürgermeister im Deutschlandfunk: „Wir waren natürlich, das möchte ich auch gar nicht verhehlen, an einem Punkt, wo wir handeln mussten. Ich will nicht sagen, der Druck hat uns zu dieser Architektur gebracht, das wäre völlig falsch. Aber, wir mussten auch schon mit den Investoren, die zur Verfügung standen, vertretbare Lösungen verhan22 Leitbilder Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21, in der Datensammlung Zeilen 141-142.
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deln, damit es zu Investitionen kommt. Also es war 1994, 1995 überhaupt nicht so, das die Investoren Schlange standen.“23
Ein anderer Ausgleich der fehlenden privaten Investitionen besteht im Rückgriff auf öffentliche Fördermittel. Sie dienen einerseits zur Finanzierung nicht privatwirtschaftlich profitabler Maßnahmen, andererseits werden sie zur „Wiederbelebung“ des Marktes und somit der privaten Investitionen eingesetzt. Die Fördermittel für Rückbau werden als Hilfe zur so genannten „Marktbereinigung“ verstanden. Der aus den Fugen geratene (Wohnungs-)Markt soll mit staatlichen Mitteln wieder funktionsfähig gemacht werden, denn man befürchtet einen Einbruch des privaten Engagements im Wohnungsbau, Chaos in der Eigentümerstruktur und damit gleichzeitig den Verlust von Gestaltungspotenzial. Dazu eine Stelle aus einem Hörfunk-Interview mit dem Baubürgermeister der Stadt Chemnitz: „Moderator: Damit dieser verheerende Prozess nicht in Gang kommt, hat der Freistaat Sachsen im Juli ein Programm aufgelegt, was den Abriss nicht vermietbarer Wohnungen stützt. Hundert Mark je Quadratmeter Wohnfläche kommen aus Dresden, 20 Mark legt Chemnitz dazu, der Rest, wie hoch immer der ist, wird Angelegenheit der Wohnungseigentümer. ... Baubürgermeister: Wenn wir diese Umverteilung des Eigentums nicht hinkriegen, dann wird uns, wo ne Gesellschaft Schwierigkeiten hat, sozusagen ein Zahn rausgebrochen, egal, ob es städtebaulich vernünftig ist, oder nicht.“24
Für die Koordination des Abrisses wird als neue Gestaltungsressource die Kommunikation eingesetzt, im Untersuchungszeitraum zunächst die Kommunikation mit den Wohnungsunternehmen im Arbeitskreis Wohnen und in der Stadtumbau GmbH, wie dies in der Darstellung des Chemnitzer Diskurses mit bereits erläutert wurde. Weitere Ausführungen dazu unten im Abschnitt zu den Vorstellungen über Akteure. Zu den Werten des Deutungsmusters: Die bauliche Struktur erfährt in diesem Deutungsmuster eine besondere Wertschätzung. Bei der Aufmerksamkeit für architektonische Details geht es hier nicht wie im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster um weiche Standortfaktoren zur Einwerbung von Investitionen, sondern um die Definition von Charakteristika des Ortes, um die Herstellung und Erhaltung von Identität und Image des Ortes, um Ästhetik als Wert an sich. 23 Reportage auf Deutschlandfunk am 02.02.2002, im Transkript Zeilen 227231. 24 Interview mit Ralf-Joachim Fischer auf MDR-Kultur, Dez. 2000, im Transkript Zeilen 37-40, 93-95.
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Gebäude und bauliche Strukturen werden regelrecht vermenschlicht. Der Baubürgermeister sagte im Interview für den Deutschlandfunk mit Bezug auf die Neubauprojekte in der Innenstadt: „Wir brauchen in dieser Stadt einzelne Individuen als Häuser.“25 Gebäude werden als „Sachzeugen“26 und als „Betroffene“27 beschrieben, sie können „bedroht“28 oder „isoliert“29 werden. In der Vignette Konservierung wird diese Bedrohung von Gebäuden und Strukturen dramatisiert. Das Landesamt für Denkmalpflege schreibt in seiner Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm: „Diese die Dresdner Straße räumlich fassende Bebauung sollte weder aufgegeben noch ihres zum Überleben notwendigen „Hinterlandes" beraubt werden.“30 Hier zeigt sich noch einmal die Bedeutung, die Fachwissen in diesem Deutungsmuster hat. Erst die Kenntnis um historische Details kann den Wert von Gebäuden und baulichen Strukturen genau definieren. Die eben angesprochene Bebauung entlang der Dresdner Straße wird wie folgt definiert: „Es handelt sich um zahlreiche Villen der frühen Gründerzeit im Stil der italienischen Renaissance, um den ersten, zur Entstehungszeit Aufsehen erregenden Bau der neusachlichen Architektur in Chemnitz, 1926 von den Brüdern Gerson aus Hamburg errichtet, sowie einige ergänzende Zeilen historischer Miethäuser.“31
Auch die Gesamtstadt wird permanent mit Metaphern des menschlichen Körpers beschrieben. So wird die Gestaltung der Innenstadt zur Wiederbelebung des „Herzens der Stadt“: „... und dann haben wir eines gemacht, wir haben unsere Stadtwerke zu einem großen Teil verkauft. Und dieses Geld in die Innenstadt investiert, weil eine Stadt die kein Herz hat, sicherlich auch keine Zukunft hat.“32 25 Ebd., Zeile 414. 26 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeile 627. 27 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil A, in der Datensammlung Zeile 1147. 28 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeile 660. 29 Ebd. 30 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 1228-1230. 31 Ebd., Zeilen 1224-1228. 32 Reportage auf Deutschlandfunk vom 02.02.2002, im Transkript Zeilen 433-435.
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Die optische Erscheinung der gebauten Stadt wird mit dem menschlichen Gesicht gleichgesetzt. Auf einer Sitzung der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz wurde die neue Architektur der Innenstadt wie folgt kritisiert: „Als Deutsche müssen wir nicht noch das Gesicht verlieren, nachdem wir schon keine Identität mehr haben.“33 In der Vignette Konservierung steigt die Wertschätzung mit dem Alter der Gebäude oder Strukturen. Die Forderung nach Konservierung konzentriert sich auf alles, was vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und endet spätestens nach den 1960er Jahren. Strukturen aus der Zwischenkriegszeit – der frühen Moderne í erfahren in Chemnitz eine besondere Wertschätzung, ebenso Industriebauten vor allem des 19. Jahrhunderts, die so genannten „Industriekathedralen“. Damit sind Fabrikgebäude gemeint, deren Fassaden besonders aufwändig gestaltet sind. In der Vignette Superlative spielen – wie der Name suggeriert í Superlative die zentrale Rolle des Wertesystems. Alles Einzigartige, Besondere ist anzustreben. Es zählt die Spitze beim Vergleich, das Herausragende, nicht der gute Durchschnitt. Die Selbstpräsentationen sind voll von diesen Spitzenpositionen, der Stadtteil Kaßberg wird in der ImageBroschüre als das „wohl größte Gründerzeitviertel Europas“ beschrieben. Auch die Gestaltungsprozesse werden in Superlativen und Alleinstellungen beschrieben, so die Gestaltung der Innenstadt, wenn es heißt: „Neben Berlin ist Chemnitz die einzige Stadt, die in Europa ein neues Stadtzentrum erhält.“34 Für eine Stadt wie Chemnitz zählt auch die Nähe zu großen Vorbildern
Vorstellungen zur Stadtgestalt Ganz anders als im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster wird die Stadtgestalt im gestalterischen Deutungsmuster ausführlich thematisiert. Es werden (vergangene) Ideale angesprochen, positiv und negativ besetzte Visionen entwickelt. Die Handlungsempfehlungen zum Schrumpfungsprozess, die innerhalb des gestalterischen Deutungsmusters geäußert werden, beziehen sich – der Logik des Deutungsmusters entsprechend – auf die Gestaltung der physischen Stadt. Immer wieder geht es darum, angesichts der eingetretenen Entwicklung die Stadtgestalt bestmöglich zu entwickeln und dafür Ressourcen zu finden. Die Diskursbeiträge dazu sind ausgesprochen zahlreich. Ich beziehe mich im Folgen33 Zitiert nach Forschungstagebuch vom 10.1.2001. 34 www.cwe-chemnitz.de/welcome.asp?id=17&lang=d, zuletzt aufgerufen am 12.04.2002.
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den nur auf jene Vorstellungen, die sich durch ihre Reibung am Schrumpfungs-Ereignis expliziert haben.
Urbanität und Europäische Stadt als Leitformeln Es fällt auf, dass die Vorstellungen über oft wiederholte Leitbegriffe wie „Europäische Stadt“, ‚Urbanitätǥ oder ‚kompakte Stadtǥ organisiert werden, ohne dass diese jedoch erläutert werden. Der Inhalt dieser Leitbegriffe wird erst in der Verwendung deutlicher. Ein Auszug aus dem Forschungstagebuch zeigt die formelhafte Verwendung der Begriffe: „26.11.2001 Ortschaftsratssitzung in Grüna: „Nach der Sitzung spricht mich ein Ortschaftsrat in der Garderobe an, vermutlich CDU. Ich stelle mich vor. Er weist mich drauf hin, dass der stellvertretende CDU-Landesvorsitzende (?) im Ortschaftsrat von Grüna sitzt und fragt mich nach meinen Ansichten zur Stadtentwicklung in Chemnitz. Ich habe eigentlich keine Lust auf das Gespräch und lobe mal oberflächlich die Innenstadtentwicklung. „Ja,ja, ich weiß schon,“ fällt er mir ins Wort, „Urbanität und Europäische Stadt. Der Fischer (Baubürgermeister, SPD, K.G.) sagt das ja auch immer. …“35
Der in diesem Zitat angesprochene Baubürgermeister selbst definierte Urbanität wiederholt in öffentlichen Veranstaltungen so: „Urbanität ist, wo sich Hintern reiben.“36 Diese Definition wurde stets im Zusammenhang mit der Innenstadtentwicklung genannt und damit die stärkere Verdichtung der baulichen Strukturen begründet. Die beiden Begriffe treten auch im Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm auf, wieder ohne oder mit nur sehr knapper Erläuterung. Zwei Beispiele: „Dem städtebaulichen Grundsatz der europäischen Stadt folgend, wird auch die Stadt Chemnitz sich darum bemühen müssen, ihre Urbanität durch verdichtete Baustrukturen im Kern und gelockerte Bauformen am Rand auszuprägen. Dieses Prinzip dient u. a. auch der Wahrung der Effizienz eines Siedlungskörpers.“37 „Der städtische Ansatz, abgeleitet aus dem Leitbild eines europäischen Stadtraumes, bedingt, dass bei einem Überangebot an Wohnungen dieser Größen35 Zitiert nach Forschungstagebuch vom 26.11.2002. 36 Baubürgermeister Fischer in einem Vortrag auf den Chemnitzer Bau- und Verkehrfachtagen Nov. 2000, zitiert nach Forschungstagebuch. 37 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil B, a), in der Datensammlung Zeilen 2278-2281.
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ordnung ein Umbau von „Außen nach Innen", ein Schrumpfen des Stadtkörpers von den Randlagen her zu erfolgen hat. Damit sind die Wohngebiete mit industriell gefertigten Gebäuden in den Randlagen der Stadt von der Rückbauproblematik in besonderer Weise betroffen.“38
Auffällig ist, dass diese Begriffe, die in der raumwissenschaftlichen Fachliteratur verschiedene Aspekte der Stadtgesellschaft beschreiben (vgl. u.a. Wentz 2000, Rietdorf 2001, Häußermann und Siebel 1987, Siebel 2004), auf bauliche Prinzipien reduziert werden. Im Folgenden versuche ich, diese unklaren Prinzipien aus den Negativ-Abgrenzungen etwas schärfer herauszuarbeiten.
Ideale Vision: Die Stadt als Zirkuszelt Es geht in den Zitaten um eine bauliche Struktur, die sich nach innen verdichtet und an den Rändern dünner wird. Diese Verdichtung ist auch mit einer Vorstellung von Bauhöhe verbunden, und zwar soll in dieser Vorstellung die Bauhöhe im Zentrum am höchsten sein, während sie zum Stadtrand hin abfällt. Darauf verweist auch die im letzten Zitat gemachte Aussage, dass die Großwohnsiedlungen in besonderer Weise vom Rückbau betroffen sein werden. Im Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm tauchte eine Skizze auf, die die Gemüter erregte. Es ging um den so genannten „kalten Furz“, eine Wohnanlage in U-Form mit sechsgeschossigen Wohnblocks bebaut, die am südlichen Rand der Großwohnsiedlung liegt. Die Skizze auf Seite 198 legt nahe, dass hier der äußere Ring abgerissen und stattdessen Einfamilien- bzw. Reihenhäuser errichtet werden sollen. Noch relativ zu Beginn der Auseinandersetzungen, im November 2001, diskutierten Mitarbeiter des Stadtentwicklungsamtes mit der Bürgerinitiative Hutholz den Entwurf zu diesem Stadtteil und es entspann sich eine Diskussion um diese Skizze, hier ein kurzer Ausschnitt: „Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: Und wir wissen auch, dass jede Stadt sich in die Mitte konfirmiert, verdichtet, und am Rand ein Übergang zum Landschaftsraum kleinteiliger wird, niedriger auch noch. Und das ist praktisch so ein banaler, so ein relativ banaler Ansatz ist das im Prinzip. Und wenn man durchgeht ... elfgeschossige Annäherung an den Wald. ... Bewohnerin 1: Na Sechsgeschosser. Kurz vor dem Wald sind es immer niedrigere.
38 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 178-184.
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Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: Ja aber Sie müssen, wenn Sie die Dichte, Bebauungsdichte der Stadt anschauen würden, dann würden Sie sehen, dass die Annäherung des Heckert-Gebietes in seiner Dichte der Überbauung an Wald oder Siedlungsstrukturen, die kurioseste Annäherung ist.“39
Nach der Vorstellung des Verwaltungsmitarbeiters sollte den Stadtrand also eine Angleichung an Landschaft und dörfliche Siedlungsstrukturen kennzeichnen. Diese Ansicht erschien ihm selbstverständlich, ja „banal“. Für diese Vorstellung einer zum Rand zu abfallenden Baustruktur wähle ich die Metapher des Zirkuszelts. Das Zentrum bildet in diesem idealen Modell eine Art Manege: eine Bühne, ein Ausstellungsort lokaler Kultur, ein Zentrum der Aufmerksamkeit für die Gesamtstadt und ebenfalls der Fokus der Aufmerksamkeit für Touristen, Investoren und andere Besucher. Eben die Stadt in der Stadt. Gerade in Chemnitz wird deutlich, was man sich unter einer City, einer Innenstadt40 vorstellt, denn hier gab es die Wahrnehmung, man habe in Chemnitz keine Innenstadt. Dadurch wurde thematisiert, was zu einer Innenstadt gehört, was fehlt. Ein Beitrag im Deutschlandfunk titelte im Februar 2002 „Chemnitz die Stadt ohne Mitte baut sich eine neue City.“ Der Oberbürgermeister sagte darin: „Chemnitz hatte, auch in den Jahrzehnten, als es Karl-Marx-Stadt hieß, eigentlich keine Innenstadt. Die Karl-Marx-Städter sind, wenn sie einkaufen wollten, und eine urbane Innenstadt erleben wollten, dann sind sie rüber nach Zwickau gefahren. Oder sie sind nach Leipzig gefahren. Es war ein riesiges Defizit, da die Stadt in den alten Strukturen nie wieder aufgebaut wurde nach der Zerstörung im März 1945. Dann kam 1958 der Beschluss des damaligen Politbüros zum Aufbau der Bezirksstädte und dann entstand diese doch etwas monotone Stadt, Innenstadt mit großen, freien Plätzen. Mit breiten Straßen und es fehlte jegliche Urbanität, es fehlte jegliche städtebauliche Dichte.“41
Lebendigkeit soll mit baulicher Dichte und baulicher Vielfalt erzeugt werden. Interessant ist auch, was in diesen Ausführungen alles nicht thematisiert wird. So wird beispielsweise das Thema öffentlicher Raum versus privatrechtlich genutzten Raum nicht thematisiert. Die Wünsche 39 Tonbandprotokoll vom 29.10.2001, Treffen von Mitarbeitern des Stadtentwicklungsamtes mit der Bürgerinitiative Hutholz, Zeilen 268-280. 40 Mit „City“ oder „Innenstadt“ bezeichne ich den offiziellen Chemnitzer Stadtteil „Innenstadt“, der so auch Gegenstand eines Rahmenplans Innenstadt (Stadt Chemnitz 2000c) ist und im Groben das innere Stadtgebiet ohne die gründerzeitlichen Erweiterungen umfasst. 41 Reportage auf Deutschlandfunk am 02.02.2002, im Transkript Zeilen 102122.
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der BewohnerInnen an die Innenstadt werden als gekannt angenommen, im Vordergrund stehen Gastronomie und Einzelhandel. Diese ideale Vision wird mit einer Interpretation der Vergangenheit begründet, die der Entwicklung der Stadt eine „natürliche“, quasi evolutionäre Logik und Zwangsläufigkeit unterstellt. Immer wieder geht es um „gewachsene“ Strukturen, um Gleichgewichte und Balancen, die durch den Schrumpfungsprozess gekippt werden. Hier ein Zitat aus einem Zeitungsartikel über Chemnitz, erschienen in der Westfälischen Allgemeinen Zeitung: „Die schrumpfende Stadt, Chemnitz oder welche, ist í hier stimmt die Floskel mal í eine neue Herausforderung für Stadtplaner. Denn deren Aufgabe war seit Jahrhunderten, Wachstum zu ordnen. Nun müssen sie Schrumpfung ordnen, weil die Stadt das von selbst nicht tut; von selbst würde sie hier ausdünnen, dort löchrig werden und überhaupt zerfallen. Das gewachsene Gleichgewicht aus Bevölkerung, Wohnbebauung, Verkehrssystemen, Schulen, Krankenhäusern würde zerstört.“ (Wolf 2002)
Oder die Stadt wird mit einem funktionierenden Mechanismus verglichen. Dazu ein Einwand des Landesamtes für Denkmalpflege zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm: „Der vorgesehene punktuelle Rückbau zwischen Chemnitzfluss und Schloßteich sollte die wichtige Raumkante zum Arndtplatz und dem anschließenden Teil der Promenadenstraße mit dem Zehngeschosser der 1950er Jahre als „Eckscharnier" unberührt lassen.“42
Eckscharniere und Raumkanten sind Begriffe, die die Stadtstruktur als mechanisches Gesamtwerk darstellen, das zu einem vergangenen Zeitpunkt funktioniert hat. Die historische Entwicklung der Stadt schien einem Bauplan zu folgen, der durch kriegerische oder falsche planerische Eingriffe zerstört wurde und nun auch durch die Schrumpfung bedroht wird. Die evolutionäre wie auch die mechanistische Perspektive sind Ansätze, die der vergangenen Stadtentwicklung eine konstante, inhärente Logik unterstellen, die durch die jüngste Vergangenheit durchbrochen wird, sowohl aufgrund von Fehlentwicklungen durch die sozialistische Stadtplanung als auch aufgrund und drohender heutiger Fehlplanungen.
42 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil B, a), in der Datensammlung Zeilen 442-447.
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Negativ-Szenario: Durchlöcherung Die KennerInnen des Stadtumbaudiskurses werden zu diesem Stichwort sofort die Rede von der perforierten Stadt assoziieren, die nach meiner Kenntnis von der Leipziger Verwaltung ausgegangen ist. Dieser Begriff der perforierten Stadt tauchte im Chemnitzer Diskurs kaum auf, wohl aber ähnliche Vorstellungen von einer zukünftig durchlöcherten, sich auflösenden Stadtstruktur. Die oben beschriebene Vermenschlichung der baulichen Struktur wird bei diesem Thema noch einmal deutlich. Der Baubürgermeister sprach auf einem Workshop im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ von „Zahnlücken“ in der geschlossenen Blockbebauung,43 eine Metapher, die in den Diskussionen so oder ähnlich immer wieder auftauchte, vor allem von MitarbeiterInnen der Verwaltung oder ProtagonistInnen des Denkmalschutzes. „Die Stadt kriegt Löcher. Und es gibt auch einen medizinischen Befund dafür. Das ist ein Gehirn was Alzheimer hat. Die Stadt verliert ihre Identität, weiß nicht mehr, wo sie hingeht. Hat Löcher wie die Alzheimer. Das ist genau das Gleiche. Damit müssen wir umgehen und wir müssen sie gesunden.“44
Das Negativ-Szenario behauptet also ein unsystematisches Zerfallen der Stadt, das wesentlich das „Funktionieren“ der Stadt in Frage stellt. Je nach dem konkreten Ort erscheinen Brachen als mehr oder weniger dramatisch. Am dramatischsten werden sie in der Innenstadt und in den Gründerzeitgebieten bewertet.
Exkurs: Das Conti-Loch, eine Brache in der City Die Gestaltung von Wolfgang Kils Buch „Luxus der Leere“ spielt mit der Leerstelle in der Schrift als fordere sie dazu auf, Leerstellen als normal zu akzeptieren und über die Lücken hinweg weiter zu lesen. Wie schwer das fällt, soll das folgende Beispiel illustrieren. In Chemnitz gibt es ein Loch, über das man seit Jahren stolpert, das immer wieder Stein des Anstoßes und Anlass für Diskussionen ist – das so genannte Conti-Loch. Es handelt sich dabei um eine InvestitionsRuine, eine große Baugrube, bei der der Investor – die Firma Conti – nach den Ausschachtungen in Konkurs ging. Auf dem Grundstück liegen seither die Schulden, meist steht etwas Wasser in der Baugrube, die 43 Forschungstagebuch, Eintrag vom 29.10.2001 44 Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 255-258.
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Flora hat sich über Jahre ausgebreitet. Das Conti-Loch liegt in der Nähe des Bahnhofs, am Rand der Innenstadt, aber nicht innerhalb des Innenstadtrings. Das Conti-Loch ist die am meisten beachtete städtische Brache in Chemnitz. Hier wird all das thematisiert, was die Wahrnehmung von Brachen bestimmt: Symbol für Stillstand, Symbol für Verfall, für mangelndes Interesse von Investoren – eine Top-Lage, um die sich keiner reißt, ein Schandfleck, den zu beseitigen die Stadt aus eigener Kraft nicht in der Lage ist. Ein Symbol ebenfalls für naiven vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer Gruppe „übler Spekulanten“45. Solche Brachen seien es, die in Chemnitz das Bild einer sterbenden Stadt ausmachten. Ein Bürger fordert in seiner Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept: „Wichtiger Zugang zum Sonnenberg vom Stadtzentrum aus ist die Bahnhofstraße/Waisenstraße. Es muss eine Aussage zur endlich ansprechenden Bebauung des „Conti- Loches“ getroffen werden. Eine stärkere Einflussnahme der Stadt auf die verwaltende Bank sei dringend erforderlich.“46
Am 15. August 2001 brachte die Lokalzeitung einen Artikel mit der Überschrift: „Eine Blume zum 6. Geburtstag“. Das Conti-Loch feiere einen unrühmlichen Geburtstag: „Einen Ehrentag der besonderen Art gibt es heute in der Chemnitzer Innenstadt zu feiern: Das Conti-Loch wird sechs Jahre alt. Und während man zum Geburtstag dem Jubilar immer ein langes Leben wünscht, so will einem bei der verwaisten Baugrube an der Bahnhofsstraße dieser Wunsch nicht über die Lippen kommen.“ (Freie Presse vom 15.08.20001: 11)
Im Weiteren diskutiert der Artikel Bebauungs- und Nutzungsvorschläge verschiedener Art und verweist am Ende des Artikels einen gänzlich anderen Vorschlag von Chemnitzer Künstlern des Tisches, nämlich das inzwischen entstandene Biotop als Ausstellungsfläche zu nutzen (ebd.). „Neues vom ‚Conti-Lochǥ" berichtete im Untersuchungszeitraum die CDU-Fraktion des Stadtrates in ihrer Publikationsreihe (Paus, CDUKonkret 03). Sie habe in Erfahrung gebracht, dass die Bank nun endlich bereit sei, das Grundstück zum Verkehrswert zu verkaufen und auf die 45 Stellungnahme des ehemaligen Leiters des Bauaufsichtsamtes zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, in der Datensammlung Zeile 396. 46 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil A, in der Datensammlung Zeilen 686-689.
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angelaufenen Schulden zu verzichten. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Arbeit lag das Loch noch unangetastet. Die Proteste und Nachfragen – die ich vor allem im Wahlkampf Frühjahr 2001 beobachtet habe í kommen bei Diskussionsveranstaltungen mit verlässlicher Regelmäßigkeit und die Antworten der PolitkerInnen und VerwaltungsmitarbeiterInnen wirken routiniert. Selbstverständlich verstünden sie die Verärgerung, persönlich wünschten auch sie sich eine baldige Lösung und dies sei tatsächlich kein Zustand. Aber leider seien ihnen die Hände gebunden, ohne die Zustimmung der Banken gehe da gar nichts und in einer Marktwirtschaft könne man denen nichts vorschreiben. Der meistgehegte Wunsch bleibt die Bebauung des Grundstücks, (noch) sind Leerstellen eine zu große Irritation. Brachen müssen entweder als Parks oder gezielte Freifläche gestaltet, „getarnt“ werden. Insbesondere in historischen, innerstädtischen Strukturen wird eine Brache als Fehler, als Verlust und als Schandfleck gedeutet, der negativ auf das Image der Stadt und den emotionalen Haushalt der BewohnerInnen wirkt. Brachflächen stören das Bild weniger, wenn sie entlang von ohnehin „unterbrechenden“ Strukturen liegen: an Eisenbahngleisen, Flussläufen oder großen (ehemaligen) Gewerbeflächen.
Pragmatisches Szenario: polyzentrische Struktur mit Stadtkern Zwischen Idealbild und Negativ-Vision kristallisiert sich ein real erwartetes Bild heraus, das Züge von beidem trägt: eine polyzentrische Struktur mit Kern. Gefragt nach der Vision für die Stadt in 2030 trägt der Amtsleiter für Stadtentwicklung aus seiner Arbeitsgruppe vor: „ ... nicht mehr das Idealbild der kompakten Stadt, sondern die Reduzierung auf einzelne Siedlungskerne, dazwischen sehr viel Grün, eine sehr stark durchgrünte Stadt eben mit einzelnen Kernen, die Stadt also in einem gewissen Auflösungsprozess, vielleicht ein bisschen gehässig wäre es zu sagen: Kurpark Chemnitz. Also das wird glaube ich eher eine andere Art von Grün sein als das was ein Kurpark vermittelt.“47
Hier wird also erwartet, dass sich in einer sich auflösenden Stadt die städtischen Strukturen auf einzelne kleinere Kerne zusammenziehen, das Zentrum aber weiter besteht. Die Verkleinerung findet also nicht tatsächlich von außen nach innen statt, sondern die Stadt zieht sich auf der vorhandenen Fläche um bestehende „Siedlungskerne“ zusammen, wahrscheinlich Stadtteilzentren oder Stadtteilreste. Zwischen den verbleiben47 Tonbandprotokoll vom 24.04.2002, Workshop Stadtvisionen, Zeilen 506511.
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den Strukturen entwickeln sich Grünzonen, die aber einen etwas verwilderten Charakter haben. Man geht nicht davon aus, dass diese Grünzonen gestaltet werden können. Die Stadtgrenze, die im Idealbild noch gestalterisch thematisiert wird, wird im pragmatischen Szenario immer weniger deutlich.
Vorstellungen von gesellschaftlicher Praxis Benennung von Ursachen Die Ursachen des Schrumpfungsprozesses werden von Diskursteilnehmern, die das gestalterische Deutungsmuster vertreten, sehr differenziert betrachtet; dabei liegt das Hauptinteresse auf dem Zustandekommen des Leerstandes, auch um Anhaltspunkte für Prognosen zu finden, wie sich die Wohnungsnachfrage weiter gestalten wird. Der Hauptvertreter des gestalterischen Deutungsmusters, die Verwaltung, hat umfangreiche Analysen zum Thema Bevölkerungsrückgang ausgearbeitet sowie differenzierte Szenarien der weiteren Bevölkerungsentwicklung. Die genaue Analyse ist damit zur ersten Handlung bei der Bewältigung der Krise geworden. Darauf aufbauend entwickelten sie ein Folien- und Vortragsrepertoir, mit dem auf verschiedenen Veranstaltungen – Ausschusssitzungen des Stadtrates, dem Grünen Stammtisch, Treffen mit der Bürgerinitiative Hutholz – fast missionarisch das Thema Geburtenrückgang und Bevölkerungsprognose „unters Volk gebracht“ wurde. Damit sollten falsche Erwartungen ausgebremst und die Entscheidungen bzw. Entwürfe der Verwaltung begründet werden. Dazu ein Beispiel vom Workshop „Chemnitz – eine wohnliche Stadt“ auf der Veranstaltung „Nachhaltig für Leben“. Der Text erläutert eine Folie, die Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung Sachsens vorstellt: „Damit wir uns mal einnorden, müssen wir mal sagen wie entwickelt sich Sachsen insgesamt, ... und ... Sie sehen woran das liegt, wir haben zu viel alte Menschen und zu wenig Kinder. Der so genannte Sterbeüberschuss der ist das Problem, nicht mehr so sehr die Abwanderung das sind liebgewordene Dinge, das man immer sagt uns geht es ja so schlecht weil der Rest von den Leuten wegzieht. Das ist gar nicht mehr so.“48
48 Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 147-152.
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Im gleichen Zeitraum benennt er bei anderer Gelegenheit den Arbeitsplatzrückgang als Ursache der Entwicklung, als er in einem RundfunkInterview die Frage erörtert, ob der Abriss früher hätte kommen sollen: „Ich glaube er war nicht möglich. Vielleicht hätte man zwei Jahre früher anfangen können. Das sind so die Zeiträume. Aber es war damals alternativlos. Man musste auch in der Platte was machen, denn es konnte ja niemand wissen, dass der Arbeitsplatzrückgang – und das ist ja der Motor von dem Ganzen, die Leute sind ja nicht alle freiwillig hier weggezogen! – dass dieser Arbeitsplatzrückgang weiterhin so dramatisch anhält.“49
Im Räumlichen Handlungskonzept Wohnen wird neben dem Bevölkerungsverlust auch noch auf die Sanierung von Wohnraum hingewiesen, wodurch wieder mehr Wohnungen auf dem Markt angeboten wurden. Der Neubau von Wohneinheiten, der ein weiterer Einflussfaktor ist, wird nicht erwähnt. Im nächsten Schritt wird analysiert, wie sich der Leerstand im Stadtgebiet verteilt, und warum das so ist. Der Baubürgermeister schreibt in einem Artikel: „1.4
Wanderungen entleeren Stadträume, oder: die Abstimmung mit dem Möbelwagen Im Jahr 1998 veränderten 47.379 Menschen ihren Wohnort in Chemnitz. Die Zahlen für 2000 sind gleich. Für die Stadtumbauplanung sind die Standortentscheidungen der Innerstädtischen Wanderung (31.000 in 1998) und Zuwanderung (5.600 in 1998) Maßstab für die Qualität der Wohnungsstandorte. Ihre Abstimmung mit dem Möbelwagen zeigt besser als alle Umfragen, wo, wie und in welcher Nachbarschaft die Menschen heute wohnen wollen. Die baulichen und städtebaulichen Strukturen stehen auf dem Prüfstand.“ (Fischer 2002: 75)
Durch die Verwendung der Metapher von der „Abstimmung mit dem Möbelwagen“ werden die innerstädtischen Wanderungen ausschließlich als freie Entscheidungen der Einwohner auf einem freien Wohnungsmarkt betrachtet. Bei Vorträgen zur Erläuterung der Analysen wurden immer wieder dieselben Folien aus dem Räumlichen Handlungskonzept Wohnen verwendet, um zu zeigen, dass die Abstimmung mit dem Möbelwagen tendenziell die Großwohnsiedlung entleert und die Gründerzeitgebiete dagegen Zuwanderung erfahren. Als erste Folie wird die aus Abb. 11 gezeigt, welche die Wohnungsbelegung 1995 relativ zum ge49 Interview mit Ralf-Joachim Fischer auf MDR-Kultur, Dez. 2000, Transkript Zeilen 56-60.
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samtstädtischen Durchschnitt darstellt (Stadt Chemnitz 2002: Anhang). Bemerkenswerterweise wird als Vergleich nicht die Abb. 12 – die Wohnungsbelegung des Jahres 2000 (ebd.) – gezeigt, sondern eine Folie zur Einwohnerentwicklung zwischen 1995 und 2000 (ebd.). Diese beiden Folien sind also im Prinzip nicht vergleichbar, zeigen aber optisch, was gezeigt werden soll. Hier ein Einblick in eine dieser Präsentationen, Sprecher ist der Baubürgermeister: „Ich möchte Ihnen das auch etwas erläutern. Sie sehen eigentlich sehr schön so die Teilstruktur. Sie sehen auch und das ist hier der Kaßberg, und sie sehen auch hier Heckert diese wurmartigen Zeilenentwicklungen. Kann man sehr deutlich sehen. Und ich frage mich bis jetzt, wie verhalten sich die Menschen in den Bedingungen der Freiheit. Vorher hatten wir einen zwanghaften Wohnungsmarkt, wir haben jetzt einen freien Wohnungsmarkt. ... Gucken wir mal ein bissel zurück und sagen wir mal 1995. 1995 kann auch jeder von ihnen noch im Kopf haben. Auf dieser Folie sehen sie folgendes: das sind die Bevölkerung und die Wohnungen. Die sind 1995 zum Glück zur gleichen Zeit gezählt worden. Wir wissen also, wie viel Menschen hatten wir 1995 und wie viel Wohnungen hatten wir 1995. ... Das eine, der Stadtdurchschnitt, das sind diese rosa Teile dort. Wo wir über den Stadtdurchschnitt Wohnungen also Menschen in den Wohnungen haben, das ist das rote. z. B. im Heckert. ... Gucken sie sich bitte nur die Farben an. Und sie sehen, das 1995 und das wissen sie auch, runter zur Limbacher Straße das war 1995 der Kaßberg. Wenn sie auch so wollen die Stadt hat Löcher. Das blaue sind die Löcher in der Stadt. Jetzt gucken wir mal wie sich das entwickelt hat. Wenn wir einfach sagen wie ist diese Belegung von 1995 bis 1999 in der Veränderung. Also wieder das gleiche Spiel. Gesamt Veränderungen in der Stadt und wie viel verändert sich in dem einen unterhalb des Stadtdurchschnittes. Und was verändert sich oberhalb des Stadtdurchschnittes. Und sie sehen das Gründerzeitgebiet wird voll, Kaßberg, wird voll, Sonnenberg zieht, der Brühl hat noch Bevölkerung, aber das Wohngebiet Heckert fängt an richtig Probleme zu bekommen.“50
Hier wird also ein Vergleich konstruiert, der hinkt. Auf der Abbildung zum Stand 2000 wären die Gründerzeitgebiete nach wie vor blau gewesen. Richtig ist, dass die Gründerzeitgebiete Kaßberg und Sonnenberg Zuzüge verzeichnen, während die Großwohnsiedlung starke Wegzüge verzeichnet. Im Ergebnis ist die Belegungsdichte dieser Stadtteile aber lediglich auf dem gleichen Niveau angekommen. Andere große innerstädtische Bewegungen, wie die anhaltende Suburbanisierung oder die „Entvölkerung“ entlang der Hauptverkehrsstraßen erhalten nicht diese 50 Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 206-236.
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analytische Aufmerksamkeit und werden von der Verwaltung auch nicht öffentlich so stark thematisiert. Die Handlungsstrategien verfolgen das Ziel, mit gestalterischen Mitteln die am Leerstand krankende Stadtstruktur wieder auszuheilen. Dazu sucht man nach Ressourcen für die Gestaltung einer solchen zerfallenden Stadt.
Neue Handlungsoptionen In der Suche nach neuen Regulierungsmöglichkeiten, Steuerungsinstrumenten und Gestaltungsansätzen entwickelte sich die inzwischen viel zitierte Rede vom Paradigmenwechsel in der Stadtplanung. Dabei müssen zunächst die ausgefallenen Handlungsroutinen durch neue ersetzt werden. „Für diesen grundlegenden Wandel im stadtplanerischen Denken soll das Stadtentwicklungsprogramm eine Basis darstellen. Darauf aufbauend soll mit den weiteren Instrumentarien der informellen und verbindlichen Planung die Entwicklung gesteuert werden. Der Leerstand von Wohnungen und das Erfordernis, im Rahmen eines Stadtumbaues auch über punktuellen und flächenhaften Rückbau von Wohnungen nachzudenken, eröffnet neue Chancen der Stadtentwicklung. Im Sinne einer Schaffung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse können bisher bestehende Missstände beseitigt werden.“ (ebd: Vorwort 3)
Die größte Neuerung in den Handlungsmöglichkeiten von Stadtgestaltung ist der Abriss von Wohnraum zur Regulierung des Wohnraumangebots. Abriss wurde bisher nur zur Verbesserung einer baulichen Struktur, beispielsweise durch Neubebauung, eingesetzt. Der neue Gestaltungsansatz, der dabei verfolgt wird, wird als „Schrumpfung von außen nach innen“ bezeichnet. Das wesentliche neue Steuerungsinstrument ist die öffentliche Förderung der Reduzierung von Wohnbestand in so genannten „Stadtumbaugebieten“. Städtebauförderung war bisher immer die Förderung von weiterer Gestaltung, Aufwertung von Bausubstanz durch Sanierung beispielsweise. Als Ressource für die Gestaltung von Schrumpfung werden í ähnlich den Sanierungskonzepten í öffentliche Fördermittel und private Mittel der Eigentümer eingesetzt. Die Fördermittelvergabe ist an ein weiteres Novum gebunden: Damit Chemnitzer Eigentümer die Fördermittel für ersatzlosen Abriss erhalten können, wird die Chemnitzer Stadtverwaltung, wie auch die anderer Städte, vom Innenministerium des Landes beauftragt, ein Integriertes Stadtentwicklungsprogramm zu erstellen. Der Gedanke der Integration bezieht sich auf die Integration administrativer Teilplanungen zu einer großen Gesamtplanung, wie oben beschrieben. Entsprechend werden 158
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vom Stadtplanungsamt vorhandene Teilpläne unter Zeitdruck zu einem Gesamtplan, dem Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, zusammengeschrieben, in dem Teilgebiete der Stadt als „Stadtumbau-Gebiete“ analog der Sanierungspraxis ausgewiesen werden51, siehe dazu ausführlich das Kapitel „Das Fallbeispiel“. Eine dritte Steuerungsmöglichkeit, die neu in den Blick gerät, ist die Kommunikation mit weiteren Akteuren. Das wird im Abschnitt zu den Vorstellungen über verantwortliche Akteure besprochen. Nun zu den Zielen dieser neuen Praxis.
Korrektur des Stadtbilds Der vorhandene Überschuss an Wohnraum soll dazu genutzt werden, das Stadtbild zu korrigieren. „Gleichzeitig bietet der Rückbau aber auch die Chance, kleinräumig oder auch durch Umbau größerer Gebiete, städtebauliche Verbesserungen zu ermöglichen.“ (Stadt Chemnitz 2000b: 3)
Eines guten Stadtbildes, siehe oben, besteht in einer stabilen so genannten kompakten Stadt, also vor allem der Innenstadt und der gründerzeitlichen Stadterweiterungen. Nach Auffassung des Amts für Stadtentwicklung stellt die Großwohnsiedlung einen städtebaulichen Fehler dar, zumindest in den Randbereichen. Die Bebauung des Stadtrandes sollte einen fließenden Übergang der Bebauung in Art und Höhe an die anschließenden dörflichen Lagen darstellen. Hierfür wäre eine äußere Bebauung mit Einfamilienhäusern angemessen. Nicht angemessen erscheinen innerhalb dieses Deutungsmusters die jetzigen Geschossbauten mit fünf oder mehr Geschossen. Der Wohnungsleerstand wird als Möglichkeit gesehen, diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Eine zweite Fehlerkorrektur, die nun möglich ist, wird in der Entflechtung von Nutzungskonflikten gesehen. Insbesondere die Gemengelagen aus Industrie und Wohnen sollen zugunsten der gewerblichen Nutzung aufgelöst werden, da es genug Wohnraum gibt. Im Räumlichen Handlungskonzept Wohnen werden entsprechend viele der historischen Chemnitzer Industriegebiete zu Stadtumbaugebieten erklärt, etwa beidseitig der Zwickauer Straße. Die Industrieansiedlungen hier stammen im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert, Wohnstandorte entstanden in unmittelbarer Nachbarschaft. Diese Gebiete sind zum Untersuchungs51 Förmlich festgelegte Sanierungsgebiete basieren auf dem Baugesetzbuch und haben damit einen anderen rechtlichen Status als die StadtumbauGebiete, die eine informelle Planung darstellen.
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zeitraum von weiten Industriebrachen, starkem Verkehrsaufkommen und großem Wohnungsleerstand gekennzeichnet. Die Korrektur des Stadtbilds entsprechend den oben benannten Zielen wird durch die Doppelstrategie von Sanierungsförderung in den als erhaltungswürdig eingestuften Stadtteilen und Förderung von Abriss in zu korrigierenden Strukturen angestrebt. Vorschläge, den Abriss schlicht dort zu planen, wo momentan Leerstand zu verzeichnen ist, werden mit folgender Begründung abgelehnt: „Der in diesem Sachverhalt formulierte Grundsatz, dass der Wohnungsrückbau dort erfolgen muss, wo dies der Wohnungsleerstand erfordert, beinhaltet in keinster Weise einen städtebaulichen und stadtstrukturellen Gedanken. In einer Kommune, in der seit Anfang der neunziger Jahre über 70.000 Einwohner das Stadtgebiet bereits verlassen haben und sich dieser Trend, zwar verlangsamend, aber dennoch fortsetzen wird, ist es stadtstrukturelle Notwendigkeit, das Zentrum sowie die Bereiche des kompakten Stadtgebietes zur Attraktivierung der Stadt in ihrer Gesamtheit zu schützen und zu fördern.“52
In der Vignette Konservierung beschränken sich die Handlungsoptionen auf die Verhinderung von Abrissen im als erhaltungswürdig eingestuften Bestand. Die Haltung ist reaktiv. Es gibt zwei Optionen: Eingriffe tolerieren oder ihnen widersprechen. So beziehen sich die Stellungnahmen des Landesamtes für Denkmalpflege zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm ausschließlich auf einzelne Abrissmaßnahmen, gegen die Widerspruch eingelegt wird, teilweise erfolgreich, teilweise nicht. Dabei scheint es Auseinandersetzungen zwischen VertreterInnen des allgemeinen gestalterischen Deutungsmusters und expliziten VertreterInnen der Vignette Konservierung gegeben zu haben. Bei der Vorstellung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms auf dem Grünen Stammtisch äußerte ein Mitarbeiter des Amts für Stadtentwicklung zum Thema punktueller Rückbau in der Gründerzeit: „... wir haben hier sehr, sehr viele Objekte in der Stadt, die unter Denkmalschutz stehen, gerade in der Gründerzeit, weil eine bessere Substanz kaum vorhanden ist, ist natürlich auch wieder ein neues Konfliktpotenzial, wo im Moment auch das Landesamt für Denkmalpflege auch nicht mitspielt, sag ich jetzt mal so. Also auch dort muss man erst mal sehen, wie wir zu einem einheitlichen Handeln kommen.“53 52 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 221-227. 53 Tonbandprotokoll vom 16.10.2001, Grüner Stammtisch, Vorstellung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, Zeilen 474-778.
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Einig ist man sich im Falle der Großwohnsiedlung, gegen diese AbrissPläne wird jedenfalls kein Widerspruch eingelegt.
Verantwortliche Akteure Entsprechend der zentralen Vorstellung, dass Stadtentwicklung auf der Anwendung von Fachwissen beruhen soll, werden die Akteure in Laien und ExpertInnen unterteilt. Die ExpertInnen verfügen über Wissen, die Laien haben Meinungen. Es ist Aufgabe der ExpertInnen, das Wissen zu vermitteln und die Laien zu informieren. Bürgerbeteiligung im Sinne von Aushandlung oder gemeinsamer Zielentwicklung macht in diesem Deutungsmuster keinen Sinn. Diese Haltung verkörperte insbesondere der Baubürgermeister, der viel Wert darauf legte, die Expertenplanungen und -entscheidungen transparent zu machen und für die Öffentlichkeit zu erläutern. Auch die Anhörung der Bürger gehört in diesem Verständnis zu den Aufgaben der ExpertInnen. Die geäußerten Meinungen scheinen aber wenig berücksichtigenswert. Dazu ein Beispiel aus dem Workshop „wohnliche Stadt“54 Zu Beginn stellte die Moderatorin die Frage, was genau im Workshop besprochen werden soll. Der Baubürgermeister machte einige Vorschläge und öffnete – oder schloss – die Themenfindung wie folgt: „Wir können auch über die Innenstadt machen, wir können wirklich über alles miteinander reden. ... Und im Augenblick bewegt die Chemnitzer ja sicherlich warum und wieso so eine Innenstadt so entsteht. Und ist das alles wohnlich und richtig und schick. Das ist so eine Diskussion, die halte ich aber für fast beliebig, denn 11 Gebäude werden in Chemnitz sich wesentlich verändern, das ist eine Frage der Gewöhnung, so nach drei Jahren ist das alles normal, ... ich bin da zu lange im Geschäft, aber ich bin gern bereit, darüber zu reden, habe auch ... Folien mit.“55
Dies war keine Einladung zum Austausch. Die Innenstadtentwicklung bliebe in jedem Fall von der Diskussion im Workshop unberührt. Dieselbe Haltung charakterisierte auch die gewählten Verfahren der Bürgerbeteiligung zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm. Als Vorbild diente das Bauleitplanverfahren, ergänzt um weitere Informationsangebote (Ausstellung, Serie in der Lokalzeitung). Information und Vermittlung der Strategien ja, Kooperation nein. 54 Dieser Workshop war einer von drei Workshops einer Tagesveranstaltung „Nachhaltig für Leben“ im Rahmen der Frauenwoche, organisiert vom Frauenzentrum Lila Villa und der Lokalen Agenda 21. 55 Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 28-37.
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Dagegen betrachtet man die Eigentümer, vor allem die Wohnungsunternehmen, als wesentliche und auch als machtvolle Akteure im Prozess der Gestaltung einer schrumpfenden Stadt. Ihre Kooperation wird als entscheidend für den Erfolg der Gestaltungspläne eingeschätzt. Da eine Lenkung von Eigentümern, die um Fläche und Genehmigungen konkurrieren, nicht mehr möglich ist, wird die Kommunikation mit den Eigentümern, die Überzeugungsarbeit als neue Ressource von Entwicklung getestet. „Was tun wir denn gegen diesen Leerstand? Das ist so eine Frage, die jetzt auf uns alle zukommt. Und dann sagt man natürlich ganz normal: die Politiker sollen das regeln. In der Republik ist es ja ganz einfach, Zentralkomitee ist abgeschafft, jetzt sind es die Politiker. Aber die können das ja gar nicht. Das ist ja privat! Unsere ganzen Planungsmethoden sind wie entstanden? Sie sind entstanden aus der Aufgabe, das Kapital zu lenken, das Wachstum zu lenken. Ja was hier leer ist, ist Privateigentum. Da kann ich als Bürgermeister gar nichts machen.“56
Aus dieser Schwierigkeit heraus sucht die Verwaltung den Dialog mit den großen Wohnungsunternehmen, um dort Einsicht und Kooperationsbereitschaft herzustellen. In einem Artikel bemerkte der Baubürgermeister: „Die Verfolgung dieser Leitlinien kann, bedingt durch die vergebenen Eigentumsrechte, nur im Konsens umgesetzt werden. ... Daher wird zurzeit in Chemnitz im Arbeitskreis Wohnen unter Beteiligung des Sächsischen Ministeriums des Innern (SMI) und der SAB überlegt, wie eine Organisation (z.B. Rückbau-GmbH oder Sanierungsträger) aufgebaut werden kann, die treuhänderisch über abzureißende oder rückzubauende Wohnungen verfügt und auf dieser Grundlage Bürgerbeteiligung und Organisation der Umzüge verantwortlich übernehmen kann.“ (Fischer 2002: 78 und 84)
Kommunikation, zumindest mit der Akteursgruppe der Eigentümer, wird also als neue Ressource für Gestaltungsprozesse erprobt. Im Zuge dieser Bemühungen entsteht ein neuer Akteur, die Stadtumbau-GmbH, ein Zusammenschluss der meisten Chemnitzer Wohnungsunternehmen. Sie soll die Vermittlung zwischen den Interessen der Wohnungsunternehmen und der Mieter vornehmen. Die Geschäftsführung übernahm ein Mitarbeiter der GGG, der städtischen Wohnungsgesellschaft. Die Stadtumbau GmbH wird vom Stadtentwicklungsamt als verantwortlich für 56 Ebd., Zeilen 262-268.
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die Beteiligung der Bürger, genauer gesagt der betroffenen Mieter angesehen. Zur Struktur und Arbeitsweise der Stadtumbau-GmbH, siehe auch die Beschreibung der DiskursteilnehmerInnen im vierten Kapitel. Da bürgerschaftliches Engagement nicht als Ressource von Gestaltungsprozessen thematisiert wird, werden die Mieter als Betroffene und nicht als Mitgestalter betrachtet. Der Stadtrat wird ebenfalls nicht als Experte behandelt, sondern als eine Art Legitimierungsinstanz für die Verwaltungskonzepte, teilweise auch als zu nehmende Hürde für die Umsetzung der Konzepte. Der Amtsleiter für Stadtentwicklung äußerte auf einer Podiumsdiskussion: „…und (wir, KG) haben uns von den Stadträten in den Ausschüssen eine Billigung dieses Entwurfes geholt um anschließend in das weitere Beteiligungsverfahren einzumünden.“57
Zielvorstellungen und Bedeutung von Schrumpfung Der Schrumpfungsprozess bedeutet im gestalterischen Deutungsmuster die Infragestellung der Gestaltbarkeit bzw. der Konservierbarkeit der Stadt. Während der Wachstumsprozess mit eingespielten Routinen und Instrumenten zu gestalten war, droht nun eine Art Chaos. Der Wachstumsprozess produzierte Ordnung, Schrumpfung verursacht eine unordentliche bzw. falsche, ja krankhafte Entwicklung: „Die Stadt kriegt Löcher. Und es gibt auch einen medizinischen Befund dafür. Das ist ein Gehirn was Alzheimer hat. Die Stadt verliert ihre Identität, weiß nicht mehr wo sie hingeht. Hat Löcher wie die Alzheimer. Das ist genau das Gleiche. Damit müssen wir umgehen und wir müssen sie gesunden.“58
All die Neuerungen in den Handlungen und all die Strategien sind also nicht die wirklich anzustrebende Gestaltung einer Stadt, sondern ein Notprogramm zur Rettung des Patienten. Eine anzustrebende Gestaltung würde sich dagegen im Rahmen einer wachsenden, vielleicht auch einfach einer stabilen Stadt vollziehen. Das Stichwort Wachstum wird nicht als Wert wie im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster besprochen, sondern als Entwicklungsmodus, als Rahmenbedingung für Gestaltung, die sich in das Gegenteil verkehrt hat, in Schrumpfung. Wachstum war der Modus, auf den Handlungsroutinen bis hin zu Gesetzestexten eingestellt waren.
57 Tonbandprotokoll vom 06.02.2002, Podiumsdiskussion „Bürgerbeteiligung und Stadtumbau“, Zeilen 27-29. 58 Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 255-258.
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Die neue Entwicklung wird zwar als Verlust von Gestaltungspotenzial, eben als Einbruch in den Ressourcen erlebt, trotzdem aber gerade von den VertreterInnen dieses Deutungsmusters thematisiert. Vor allem die professionellen Planer waren durch die Verantwortung ihres Amtes und durch ihre eigene Vorstellung von Stadtentwicklung als Gestaltung von baulicher Struktur gezwungen, den Diskurs über den Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung vom Zaun zu brechen. Hier treffen sich Verantwortung, Handlungsdruck und Gestaltungswillen, die – verbunden mit den Hilferufen der Wohnungswirtschaft í zu der öffentlichen Thematisierung des Leerstandes führten. Schrumpfung wird dabei nicht neutral bewertet, sondern als Prozess der chaotischen Selbstauflösung der Stadt, des drohenden Zusammenbruchs der städtischen Funktionen, in den lenkend eingegriffen werden müsse. In der Vignette Konservierung wird der Schrumpfungsprozess sogar als existenzielle Bedrohung aufgefasst, da das Ziel einer Konservierung vorhandener historischer Baustrukturen durch fehlende Nutzung und einbrechende Ressourcen nicht mehr erreichbar scheint. Zwischen all diesen negativen Bedeutungen werden aber auch Handlungsspielräume, Chancen entdeckt, die zur Verwirklichung gestalterischer Ziele genutzt werden können, siehe oben. Diese Ambivalenz der Bewertung des Schrumpfungsprozesses als falsche, ungesunde Entwicklung einerseits und als Eröffnung von Handlungsspielräumen zur Verwirklichung bestehender Ziele andererseits mündet in die für diesen Diskurs charakteristische Probleme-und-Chancen-Rhetorik. Diese Ambivalenz in der Sicht vor allem von administrativen EntscheidungsträgerInnen stellt meiner Einschätzung nach das entscheidende Potenzial für kulturellen Wandel dar, wie in den weiteren Kapiteln unter Einbeziehung der theoretischen Vorarbeit zu diskutieren sein wird.
Rationales Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Haushalten „Wenn einer zu viele Anzüge hat, sondert er auch die minderwertigen aus, nicht die neuen!“ (Freie Presse 06.02.2002, Lokalteil)
Im Zentrum dieses Deutungsmusters steht eine Art volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Es wird immer danach gefragt, was insgesamt wie viel kostet und Sinn ergibt sich daraus, was mit dem geringsten Aufwand und mit den geringsten Kosten zu bewerkstelligen ist. Stadtentwicklung wird als ein großer Haushalt betrachtet, den es zu führen gilt.
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Abb. 22: Das rationale Deutungsmuster
IV
III Zielvorstellungen und Bedeutungen
Vorstellungen von gesellsch. Praxis
Bedeutung der Schrumpfung: veränderte Rahmenbedingung
Ursachen: polit. + admin. Fehlentscheidungen
Entwicklungsziele: Befriedigung der Bedürfnisse der BewohnerInnen über ressourceneffizientes Haushalten
Vorstellungen zur Stadtgestalt Ideal: funktionale Stadt Vision: keine bzw. nicht analysierbar
I
Handlungsvorschl.: Erhalt (volks-)wirtschaftlicher Baustrukturen, Rückbau, Modernisierung Verant. Akteure: polit.+ admin. Elite
Vorstellungen von Regulation Regulativ: Effizienz, volkswirtsch. Gesamthaushalt Werte: Rationalität, Stabilität Ressourcen: nicht thematisiert
II
Quelle: eigene Darstellung
Das rationale Deutungsmuster wird in meinem Material von einer einzigen Person explizit vertreten, trotzdem ist es nach den theoretischen Kriterien des zugrunde gelegten Raummodells ein eigenständiges Deutungsmuster. Diese Person ist der ehemalige Leiter des Bauaufsichtsamts, der sich mehrfach im Diskurs um das Stadtentwicklungskonzept einbrachte, so mit einer Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, mit einem größeren Artikel in der Lokalzeitung und auch auf Diskussionsveranstaltungen. Er charakterisiert seine Herangehensweise selbst in einem Diskussionsbeitrag wie folgt: „Ich will auch nicht diese emotionale Seite, die hier dort angesprochen wird, verhandeln. Ich bin hier als Ingenieur, bin ich mathematisch ausgebildet und ich tue gerne rechnen und sachlich an die Dinge rangehen.“59
59 Tonbandprotokoll vom 06.02.2002, Podiumsdiskussion „Bürgerbeteiligung und Stadtumbau“, Zeilen 268-271.
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Er vertrat eine Logik, die von anderen Akteuren als die Städtebaupolitik der DDR gelesen wurde. Im Chemnitzer Kontext ist diese Logik sicher nicht unwesentlich, gehörte aber im Beobachtungszeitraum zu den marginalen bzw. marginalisierten Logiken. Obwohl theoretisch Anschlussmöglichkeiten an andere Deutungsmuster vorhanden sind, bleiben Sprecher und Lesart isoliert, siehe auch den entsprechenden Abschnitt im zweiten Teil der Ergebnisse.
Antizipierter Zeitrahmen Das rationale Deutungsmuster ist ebenfalls stark gegenwartsbezogen. Die Vergangenheit wird etwa über das Alter von Gebäuden thematisiert. Der Systemwechsel 1989 spielt als Referenzpunkt eine Rolle. Zukunftsperspektiven sind auf Zeiträume gerichtet, die für heutige BewohnerInnen erlebbar sind. Vorstellungen von Regulation Zentrales Regulativ dieses Deutungsmusters ist Effektivität, sprich: die Erreichung von Zielen mit minimalen Mitteln. Die Werte in diesem Deutungsmuster sind sehr verschieden von denen anderer Deutungsmuster. Rationalität (als Gegenteil von Emotionalität) steht über allem anderen. Weitere handlungsleitende Eckpunkte sind rechtliche Vorgaben und technische Parameter wie z.B. ein geringer Energieverbrauch. Dies führt zu einer hohen Bewertung der Großwohnsiedlungen als effizienter Wohnform. In einer Stellungnahme in der Lokalzeitung argumentierte der ehemalige Bauaufsichtsamtsleiter: „Von den 4o.ooo leer stehenden Wohnung der Stadt findet man mehr als 30.000 in Altbaugebieten, die Hälfte davon hatte schon zu DDR-Zeiten keine Mieter. Ich halte nur für 25 bis 30 Prozent dieser Altbauten eine Sanierung mit einer Restnutzungsdauer von 30 Jahren für möglich. Es ist keine Lösung, alte Mietwohnhäuser zu sanieren, während Nachbarhäuser reif für den Abbruch sind. ... Mit dem massenhaften Abriss im Heckertgebiet wird der Schaden für den Wohnungsmarkt nur größer. ... Ich könnte in vernünftigem Umfang mit Umgestaltung, sogar zweckmäßigem Abriss im Heckertgebiet leben, aber ein flächenhafter Abriss, vor allem von WBS-7o-Bauten, ist nicht vertretbar. Denn das sind die besten Wohnungen aus den Bauprogrammen der DDR. Das ist auch energiepolitisch die falsche Richtung. Eine neue Verordnung fordert Primärenergie einzusparen. Damit ist die Kraft Wärme-Kopplung auszubauen, aber mit dem Stadtumbau nimmt man 10.000 fernbeheizte Wohnungen vom Netz. Dafür werden überlebte Gründerzeit-Häuser mit unvertretbarem Aufwand hergerichtet, wo ein Fernheizanschluss oft nicht möglich ist und das Dämmvermögen des Mauerwerks unvergleichlich schlechter ist als bei WBS7o-Bauten mit Kerndämmung. Gerade bei dem Typ sind die Wärmeverluste
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kaum halb so hoch wie bei den Gründerzeithäusern.“ (Freie Presse 06.02.2002, Lokalteil) Hier wird deutlich, wie Maßnahmen immer wieder an der Messlatte von Aufwand und Effekt gemessen werden. Die Bewertung von Bausubstanz orientiert sich an messbaren, rational und in Zahlen auszudrückenden Größen wie Dämmleistung, (finanzieller) Sanierungsaufwand oder Restnutzungsdauer. Völliges Unverständnis besteht gegenüber einer großen Wertschätzung der Gründerzeit, wie dies vor allem beim gestalterischen Deutungsmuster und hier besonders in der Vignette „Konservierung“ der Fall ist. Begriffe wie „Altbausubstanz“ oder „historische Bausubstanz“, die im sonstigen Diskurs konsensuell verwendet werden, werden nicht übernommen. Der Wert der Gründerzeithäuser wird nur entlang ihrer baulichen Parameter diskutiert.
Vorstellungen zur Stadtgestalt Das materielle Substrat der Stadt wird als kollektives Gut betrachtet, mit dem wirtschaftlich „vernünftig“ und nicht emotional umzugehen sei. Anforderungen an die Stadtgestalt werden nicht explizit formuliert. Andererseits werden in geringem Maße auch ästhetische Argumente vorgebracht. So wird Altbauten durchaus eine Bedeutung für das Stadtbild eingeräumt, Neubauten der GGG auf dem Schlossberg werden als nicht harmonisch kritisiert. Dies kann als Wertvorstellung oder aber als diskursives Mittel gedeutet werden. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass diesen Äußerungen eine Einteilung der Stadt in repräsentative und funktionale Teile zugrunde liegt, so dass Altbausubstanz für repräsentative Teile erhaltenswert ist, in funktionalen Teilen dagegen keine solche Bedeutung hat. Aus dem vorhandenen Material bin ich nicht zu einer schlüssigen Interpretation gekommen. Vorstellungen von gesellschaftlicher Praxis Der ehemalige Bauaufsichtsamtsleiter benennt drei Ursachen für den jetzigen Wohnungsleerstand, und zwar den Geburtenrückgang, den Wohnungsneubau nach der Wende und die Sanierung von Altbauten. So führte er in seiner Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm Zusammenfassungen von Zeitungsausschnitten an, die auf den gesamtdeutschen Rückgang der Geburtenzahlen seit den 1980er Jahren hinweisen. In der Lokalzeitung analysierte er außerdem: „Ökonomische Hebel der Politik haben den Wohnungsleerstand gefördert und waren verantwortungslose Eingriffe in die Selbstregelung der Marktwirtschaft, so bauten Großvermieter neue Miethäuser.“ (Freie Presse 06.02.2002, Lokalteil)
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Der hohe Leerstand in der Großwohnsiedlung hat seiner Beobachtung nach auch Ursachen im Diskurs selbst, er nennt dies die „Negierung“60 der Plattenbauten. Indem die Siedlungen vor allem von den neuen EntscheidungsträgerInnen aus Westdeutschland als „Betonwüsten“ und „Arbeiterregale“ verunglimpft worden seien, sei der Wegzug quasi ideologisch angeheizt worden. Auch seien die Sanierungsmaßnahmen in den Großwohnsiedlungen überteuert und teilweise unsinnig gewesen.61 „Ich schätze, ein Drittel des Leerstandes im Heckert kommt auf die negierende Plattenbau- Propaganda, ein Drittel auf den Niedergang der Industrie und der Rest auf die Sanierung mit Lärm, Dreck und beträchtlichen Mieterhöhungen. Diese Sanierungen waren völlig überzogen, so die komplette Erneuerung der Heizungs- oder Elektroanlagen. An den kleinen Bädern oder Fluren dagegen hat man nichts geändert, obwohl man beim IW77/11 bis auf die tragende Querwand im Abstand von sechs Metern alle anderen Innenwände beseitigen kann.“ (Freie Presse 06.02.2002, Lokalteil)
Aus der Kritik ergeben sich die Handlungsempfehlungen: In den Großwohnsiedlungen ist in vernünftigem Umfang zu sanieren (keine „ChaosSanierung“), dabei sind die Eigenleistungen der BewohnerInnen zu berücksichtigen. In begrenztem Maß sei auch ein Rückbau denkbar. Vor allem aber sollten die in dieser Lesart nicht sanierbaren Altbauten abgerissen und durch Grünflächen ersetzt werden. Akteure: Verantwortlich für Stadtentwicklung sind EntscheidungsträgerInnen aus Politik und Verwaltung. Maßstab für die Politik sollten die Wünsche der BewohnerInnen sein. Was die Großwohnsiedlung betrifft, seien neue Fenster und Balkone die meistgewünschten Verbesserungen. Auf Wohnwünsche jenseits von DDR-Neubauwohnungen wird nicht eingegangen. Andere Akteursgruppen spielen in diesem Deutungsmuster keine Rolle.
Zielvorstellungen und Bedeutung von Schrumpfung Der Schrumpfungsprozess wird selbst nicht bewertet, er stellt quasi eine neutrale Veränderung der Rahmenbedingungen für das Haushalten dar. Als problematisch werden die Handlungsstrategien der EntscheidungsträgerInnen angesehen, die Abriss ausgerechnet auf die Großwohnsiedlungen fokussieren. Dies wird als abwegig, jeder vernünftigen 60 Stellungnahme des ehemaligen Leiters des Bauaufsichtsamtes zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, in der Datensammlung Zeile 1. 61 Vgl. ebd., Zeilen 149-156.
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Logik entgegenstehendes Programm kritisiert, dessen Widersinn auf der Hand liegen müsse. Weiterhin zeigt sich in den Stellungnahmen eine Thematisierung von bewusster Zerstörung von Werten aus dem sozialistischen Städtebau und der DDR-Zeit. Der Abriss des Speisesaals des Industriewerkes Orsta-Hydraulik (frühere Wandererwerke) wird als bewusste Ausradierung von DDR-Geschichte interpretiert. Abschließend ist zu sagen, dass das rationale Deutungsmuster auf dieser schmalen empirischen Basis nur als skizzenhaft ausgearbeitet gelten kann und erst ergänzende Forschung seine Konturen stärker herausarbeiten könnte.
Integratives Deutungsmuster: Stadtentwicklung als interdependenter Prozess Abb. 23: Das integrative Deutungsmuster
IV
III Zielvorstellungen und Bedeutungen Bedeutung der Schrumpfung: erwartete Entwicklung, Erleichterung ökologischer Ziele Entwicklungsziele: integrative, gerechte, ökol. verantwortliche und kulturell sensible Entwicklung
Vorstellungen zur Stadtgestalt Ideal: kompakte, dichte Stadt mit klarer Grenze zur Landschaft Vision: polyzentrische Struktur mit oder ohne Kern als erwartbares Szenario
I
Vorstellungen von gesellsch. Praxis Ursachen: Komplexes Wirkungsgefüge Handlungsvorschläge.: NeubauStopp, Bürgerbeteil. bei Rückbau Verantwortl. Akteure: polit., admin. und zivilges. Elite, BewohnerInnen
Vorstellungen von Regulation Regulativ: Interdependenz versch. Teilbereiche von Stadtentwicklung Werte: ökologische Stabilität, Gerechtigkeit, Ästhetik Ressourcen: bestehende Strukturen, Wissen, Kommunikation
II
Quelle: eigene Darstellung
Das integrative Deutungsmuster beruht auf der Grundannahme, dass alle Teilbereiche von Stadtentwicklung im Prinzip voneinander abhängen 169
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bzw. sich wechselseitig beeinflussen. Dieses Deutungsmuster trug während des Auswertungsprozesses eine ganze Weile den Arbeitstitel „nachhaltige Stadtentwicklung“. Ich habe mich aber der größeren Genauigkeit zuliebe und der stark assoziativen Wirkung des Begriffs Nachhaltigkeit, der selbst im Fachdiskurs in verschiedenen Definitionen behandelt wird, gegen dieses begriffliche Etikett entschieden. Hauptvertreter des Deutungsmusters sind zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich vor allem mit der Entwicklung der gesamten Stadt befassen, wie die Arbeitsgruppen der Lokalen Agenda 21, teilweise auch die Stadtteilinitiativen und Ortschaftsräte. Auch die Verwaltung und manche politischen EntscheidungsträgerInnen vertreten diese Logik neben anderen.
Antizipierter Zeitrahmen: Das integrative Deutungsmuster nimmt im Vergleich die längsten Zeiträume in den Blick und orientiert sich stark an der Zukunft. Erlebenszeiten zukünftiger Generationen werden explizit thematisiert, dadurch ist der Blick in die Zukunft im Prinzip unendlich. Die Vergangenheit wird im Hinblick auf heutige Generationen und vor allem auf Entscheidungen bezogen thematisiert: als Erfahrungs- und Identitätshintergrund sowie als Lehrzeit für anstehende heutige Kurskorrekturen. Vorstellungen von Regulation Zentrales Regulativ im integrativen Deutungsmuster ist die Interdependenz. Entwicklungen in einem Teilbereich von Stadtentwicklung werden in ihren Wirkungen auf andere Teilbereiche betrachtet und Maßnahmen für einen Bereich werden auf ihre Auswirkungen in anderen Bereichen überprüft. Das integrative Deutungsmuster betrachtet diese Wechselwirkungen als konstitutives Moment von Stadtentwicklung und fordert entsprechend sensible Entscheidungen. Eines der Hauptthemen des Deutungsmusters ist die Verkehrspolitik. Sie wird jedoch nicht für sich thematisiert, sondern immer in ihren Auswirkungen auf die Wohnqualität der angrenzenden Straßenzüge, die Gesundheit der BewohnerInnen, auf die Ökologie und die Ökonomie. Hier ein Beispiel aus einem Beitrag der PDS-Fraktion, der „eine etwas andere Betrachtung“ – eine verkehrspolitische Betrachtung í des Themas Wohnungsleerstand anstrebt und dabei explizit wechselseitige Wirkungen thematisiert. „Dann kam die große Ernüchterung (nach Maßnahmen für eine autogerechte Stadt, KG): Die als modern (sic) und kultivierte Flaniermeile gedachte KarlMarx-Allee und Straße der Nationen waren nach Ladenschluß verödet, keiner mochte mehr neben dem lärmenden und (damals) stinkenden Autoverkehr
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spazieren gehen. Die Anwohner mußten sich umstellen: Es war nun nicht mehr möglich, die Kinder zum Einkaufen zu schicken, auch den Schulweg konnten sie nicht mehr allein gehen. Im Wieder-Chemnitz wurden diese breiten Ödflächen mit rund 100.000 Pkw gefüllt. Jetzt wurden diese Straßen vollends zu exterritorialem Gebiet und trennten die eine Straßenseite von der anderen weitgehend ab. In diesen Bereichen gab es fortan kein urbanes Leben mehr, sie wurden zu toten Zonen. Zuerst nutzten die Mieter die neuen Wohnungsangebote und zogen aus dieser unwirtlichen Lage fort. In der Folge wurde ein Kleinhandelsladen nach dem anderen mit Brettern vernagelt, ein trauriges Ergebnis des Aufschwungs Ost. Nun finden sich auch die Mieter der dahinterliegenden Grundstücke ohne ihre gewohnte Versorgungsbasis.“ (Koch 2001)
Das integrative Deutungsmuster bezieht sich auf Werte wie Gerechtigkeit, ökologische Stabilität und Ressourcenschonung, politische Teilhabe, Ästhetik oder auch Lebensqualität. In den Leitbildern der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz/Arbeitsgruppe Stadtentwicklung heißt es: „Uns allen ist der Auftrag erteilt, sich bei der Weiterentwicklung von Chemnitz vom Prinzip der Nachhaltigkeit leiten zu lassen, damit wir den nachkommenden Generationen eine gesunde Stadt überlassen, in der es sich gut leben läßt und welche die sozialen, ökologischen und ökonomischen aber auch kulturell-ästhetischen Bedürfnisse ihrer Bewohner erfüllen kann.“62
Die ökologische Frage nimmt innerhalb dieses Wertesystems eine herausgehobene Position ein. Im Unterschied zum marktwirtschaftlichen Deutungsmuster, das einen Teilbereich der Stadtentwicklung primär setzt, wird Ökologie aber weniger absolut betrachtet und der Ökologie werden auch keine expliziten Steuerungsfunktionen zugeschrieben. Zum Ziel der Ressourcenschonung gehört der Schutz bisher unversiegelter Fläche vor Bebauung. Dies wird sowohl ökologisch – als Schutz des Ökosystems í als auch ästhetisch-emotional begründet, nämlich mit dem Erhalt der Stadtgrenze und einer landschaftlichen Umgebung der Stadt als positives Bild. Ästhetische und emotionale Wertschätzung wird außerdem auf die vorhandene, tendenziell auf die historische Bausubstanz gelenkt, der í ähnlich wie im gestalterischen Deutungsmuster í Identität stiftendes Potenzial zugeschrieben wird. Dabei unterscheidet sich diese Bestandsorientierung von der in der Vignette Konservierung aus dem gestalterischen Deutungsmuster in zweierlei Hinsicht. Einerseits gibt es keine nicht erhaltungswürdigen 62 Leitbilder Stadtentwicklung der LA 21, in der Datensammlung Zeilen 1316.
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Strukturen und keine Begrenzung der Erhaltungswürdigkeit auf bestimmte historische Zeitabschnitte. Andererseits ist das integrative Deutungsmuster Veränderungen an diesen baulichen Strukturen gegenüber aufgeschlossen. Es geht also um einen funktionalen Erhalt von Strukturen, nicht um deren prinzipielle Konservierung. Während in der Vignette Konservierung die zur erhaltungswürdigen Bausubstanz opponierende Bausubstanz in der Großwohnsiedlung und allgemein in der seit den 1970er Jahren errichtete Bausubstanz gesehen wird, ist hier der Neubau der Opponent gegenüber der zu erhaltenden Substanz, auf die Spitze getrieben im Symbol der Einfamilienhaussiedlung am Stadtrand. Auch die Großwohnsiedlungen werden daher wertgeschätzt, vor allem wegen ihrer hohen Bebauungsdichte, ihrer guten Anbindung an den ÖPNV und als bestehender Lebensraum für jetzige BewohnerInnen. „Haben wir nicht kreative Fantasie genug, um architektonisch faszinierende Projekte für den Umbau von Plattenbauten zu Terrassenhäusern, nicht genutzten Wohn- und Industriebauten durch bewusste, auf nachhaltige Konzepte hin ausgerichtete Stadtpolitik zu befördern? ... Das Heckert-Gebiet war Ausdruck meist ungebrochener Technokratie in der DDR, hat aber bemerkenswerte und ökologisch sinnvolle Baudichte. Sollte mit diesem Pfund nicht gewuchert werden oder aber wollen wir Wegzug und Abbruch dort beschleunigen, indem der Europarekord für Neubau einiger Straßenkilometer dorthin noch weiter Jahre überboten wird?“63
Damit werden als Ressourcen von Stadtentwicklung auch Dinge angesprochen wie Kreativität und Know-How. Als wesentliche Ressource wird die bestehende Stadt thematisiert mit ihrem Öko-System, ihrer baulichen Struktur und ihrer Infrastruktur. Der Blick ist gerichtet auf das, was ist, nicht auf das, was dazu kommen könnte.
Vorstellungen zur Stadtgestalt Ähnlich wie im gestalterischen Deutungsmuster teilen sich die vorgefundenen Äußerungen in Vorstellungen von einer idealen Stadt und in Visionen zur tatsächlichen Entwicklung der Stadtgestalt. Ideal der kompakten Stadt mit klarer Stadtgrenze Zentrales Merkmal der idealen Stadt ist Dichte und Kompaktheit, doch bezieht sich dieses Kriterium nicht wie im gestalterischen Deu63 Vortrag von Clauss Dietel: „Lernt Chemnitz aus seiner Geschichte?“ vom 07.06.2001, Transkript, Zeilen 73-81.
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tungsmuster auf den innerstädtischen Bereich bis ca. 1960, sondern auf den Gesamtkörper der Stadt mit allen Stadtteilen. „Kompakt“ wird hier also schlicht im Sinne des Adjektivs benutzt. Zentrales Element der Vorstellungen von der idealen Stadtgestalt im integrierten Deutungsmuster ist überraschenderweise die Stadtgrenze und nicht ein herausgehobenes besonderes Teilgebiet der Stadt. Das Idealbild beruht auf einer klaren Grenze zwischen Stadt und Umland. Dieses Ideal hat sowohl ästhetische als auch ökologische Hintergründe. Eine dichte Bebauung innerhalb der Stadt entspricht einem geringen Grad an Flächenversiegelung. Die „unverbrauchte“, also nicht überbaute Landschaft gilt als hohes, schützenswertes Gut, das sowohl ökologischen als auch ästhetischen Wert besitzt. Kritisiert wird die „Verschandelung“ dieser Stadtgrenze durch Einfamilienhaus- und Gewerbegebiete, die nach der Wende entstanden sind. „Nach Abfahrt von der A4 kommt dort erstmals das Weichbild der Stadt, die Dorflage Ebersdorf mit Stiftskirche als einer unserer schönsten Kirchen, das heitere Lichtenwalde und am Horizont die Augustusburg ins Blickfeld. Ein Stück Landschaft, das beim Begriff "Chemnitz und seine herrliche Umgebung" zuerst mit zu nennen ist. Wer nur verantwortet die absurde Idee, mit dem Geplärre eines Gewerbegebietes dies dort alles verschandeln zu wollen?“64
Die „Weichbild“-Metapher erinnert an romantische Gemälde im Stile Caspar David Friedrichs und weist auf die Sehnsucht nach einem bestimmten ästhetischen Ideal, einer harmonischen Verbindung von Landschaft und Bebauung. Die Analogie zu jenen romantischen Gemälden wird verstärkt durch die aufgezählten Elemente: das Dorf, die Kirche, die Burg am Horizont. Das Gewerbegebiet „Chemnitz-Center“ – eines der größten ostdeutschen Gewerbegebiete í zerstört diese ehemalige Idylle. Die zweite Motivation für diese Idealvorstellung einer klaren Stadtgrenze und einer kompakten Stadt darin ist der ökologische Gedanke. In der Stellungnahme des Werkbunds Chemnitz zum Flächennutzungsplan heißt es: „Neben diesen ästhetischen und gesellschaftlichen Fragen wiegt die nach den natürlichen Ressourcen schwer. Wer legt den Preis fest für den modernen, öffentlich geförderten Landraub und die kurz- und langfristigen Folgeschäden daraus? Die Bewohner aus dem "Speckgürtel" pendeln fast täglich zwischen 64 Ebd., Zeilen 99-103.
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Wohnung und Stadt und verstopfen städtische Zufahrtstraßen, die dadurch an Lebensqualität verlieren und kaum eine Entwicklungschance haben. Zusätzliche Infrastruktur auf der Grünen Wiese sowie deren Ver- und Entsorgung wird erforderlich. Bewohner, die in der Stadt leben, müssen wegen der Zersiedlung Kilometer um Kilometer weiter laufen oder fahren, um in’s Grüne zu kommen. Apokalypse now?”65
In diesem Zitat zeigt sich auch noch einmal ganz deutlich die Logik der Interdependenz: Die angesprochene Wohnsuburbanisierung wird als Ausgangspunkt einer Kette von Wirkungen thematisiert.
Erwartetes Szenario: polyzentrische Strukturen in urbanen Regionen Das real erwartete Szenario hat jedoch nichts mehr mit dem Ideal einer dichten, kompakten Stadt zu tun. Im Workshop Stadtvisionen referierte einer der beiden Autoren der oben zitierten Stellungnahme als Ergebnis seiner Arbeitsgruppe eine mögliche Agenda einer Sitzung des Deutschen Städtetags im Jahr 2030: „... und zwar gehen wir davon aus, dass ... der Städtetag zunächst heiß diskutieren wird über den Antrag auf Selbstauflösung, (leichtes Lachen) Weil es ‚Stadtǥ nicht mehr gibt. Sondern es gibt einerseits eine Stadtteilentwicklung und andererseits eine regionale Entwicklung, die Städte sind eigentlich heute nur noch fiktive verwaltungstechnische Gebilde. Und diese Tendenz setzt sich fort ... “66
Hier kommen also die Stadtteile und die Region in den Blick, während die Stadt als Bezugsgröße verschwindet. Die im integrativen Deutungsmuster geäußerten Visionen lassen sich am ehesten als polyzentrische Siedlungsstruktur beschreiben, die in manchen Argumentationen ein Stadtzentrum hat (u.a. Lokale Agenda 21/AG Stadtentwicklung), oder – wie im obigen Zitat – wo ein Stadtzentrum keine Rolle mehr spielt. Man geht von einer wachsenden Bedeutung der Stadtteile sowie von einer anwachsenden Konkurrenz zwischen den Stadtteilen aus, ganz ähnlich dem lebensweltlichen Deutungsmuster, siehe unten.
65 Stellungnahme des Werkbunds zur Entwicklung im stadtnahen Raum, in der Datensammlung Zeilen 49-56. 66 Tonbandprotokoll vom 24.04.2002, Workshop Stadtvisionen, Zeilen 295300.
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„Also die Tendenz von Allem ... ist ein Anwachsen der Macht der Quartiere, also der einzelnen Stadtteile und zunehmende Auseinandersetzungen zwischen den Stadtteilen um Positionsvorteile.“67
In den Leitbildern für die Entwicklung der Stadt gibt es ein Unterkapitel, das sich auf die Entwicklung der Quartiere bezieht. Hier wird die Gestaltung der Stadtteile zu selbständigen Zentren gefordert. Diese Formulierungen sind in der Auseinandersetzung mit dem Ereignis Stadtschrumpfung „nachgereift“, d.h. in den Diskussionen war zu beobachten, dass ein latent vorhandenes Thema – die Stärkung der Stadtteile – ausformuliert wurde. Die Leitbilder lauten wie folgt: x
x
x
x x x
„In den Chemnitzer Stadtgebieten werden gleichwertig ausgestattete Nebenzentren mit vielfältigen Funktionen entwickelt. Dazu zählen unbedingt Versorgungseinrichtungen des täglichen Bedarfs, Dienstleistungsangebote, Gastronomie, Freizeit- und Sporteinrichtungen, soziale und kulturelle Infrastruktureinrichtungen, Schulen, Kindergärten, Spielplätze usw. Die Stadt bemüht sich um die Erhaltung vorhandener Infrastruktur bzw. beschreitet im Rahmen des Rückbaus alternative Lösungswege. Die Bürger sind hierbei unbedingt mit einzubeziehen. Jedes Stadtgebiet hat seinen Park bzw. Grünzonen. Durch Rückbaumaßnahmen werden diese erweitert und verbunden. Verkehrsvermeidung beginnt im Stadtgebiet. Öffentliche Bereiche und Einrichtungen sollen fußläufig zu erreichen sein. ÖPNV und Radwege haben innerhalb der städtischen Mobilität Priorität.“68
Auch hier wird wieder die gleichzeitige Betrachtung verschiedener Teilbereiche von Stadtteilentwicklung deutlich, die Ästhetik spielt auf Stadtteilebene eine untergeordnete Rolle, die Perspektive ist eher funktional.
Vorstellungen von gesellschaftlicher Praxis Dieses Deutungsmuster wird durch den Schrumpfungsprozess kaum irritiert, das zeigt sich am deutlichsten im Hinblick auf Handlungen und Ursacheninterpretationen. Die Wahrnehmungslogik reibt sich wenig an einer abnehmenden Entwicklung. Das integrative Deutungsmuster schließt auf lokaler Ebene an nationale und globale Diskurse an, die sich
67 Ebd., Zeilen 290-292. 68 Leitbilder Stadtentwicklung der LA 21, in der Datensammlung Zeilen 226-239.
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seit einigen Jahrzehnten mit den „Grenzen des Wachstums“69 befassen, vor allem in ökonomischer Hinsicht. Dazu mehr unter „Bedeutungen und Ziele“. Für dieses Kapitel ist wichtig zu sagen, dass sowohl die Benennung von Ursachen des Schrumpfungsprozesses als auch die Formulierung von Handlungsstrategien scheinbar nahtlos in die bestehenden Analysen/Kritiken und Forderungen eingebunden werden. Dadurch entstehen die im gesamten Diskurs weitgreifendsten und utopischsten Forderungen, utopisch hier im doppelten Sinne von am weitesten von der gegenwärtigen Realität entfernt und von gesellschaftsveränderndem Anspruch. Zunächst zur Thematisierung von Ursachen: Wie schon angesprochen, bleibt innerhalb dieses Deutungsmusters die Dramatisierung von Bevölkerungsrückgang und Leerstand, die in anderen Mustern zu beobachten war, aus. Die demographischen Analysen und Prognosen werden zur Kenntnis genommen und verstärken bereits vorher formulierte Kritik an lokaler bis bundesweiter Politik. „Jetzt hat Sachsen die geringste Bevölkerungsdichte seit hundert Jahren. Warum werden trotzdem in Adelsberg, Ebersdorf, Grüna, Wittgensdorf, Euba und anderen Ortslagen immer neue, bisher unbebaute Ackerflächen zum Bauen mit übrigens architektonisch meist fürchterlichen Einfamilienhäusern ausgewiesen? Das Los Angeles-Syndrom auf Biegen und Brechen auch nach Chemnitz geholt?“70
Die Kritik richtet sich an die EntscheidungsträgerInnen von der Kommune bis zum Bund. Durch bestehende Gesetze und Richtlinien werde die Suburbanisierung unterstützt, provoziert und subventioniert. Gerade bei rückläufigen Einwohnerzahlen bewirke dies Leerstand in den inne-
69 „Grenzen des Wachstums“ ist der deutsche Titel einer Publikation des Club of Rome (Meadows 1972) aus dem Jahre 1972, die inzwischen als Meilenstein in der Debatte um global nachhaltige Entwicklung gilt, auch wenn „Nachhaltigkeit“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht Schlagwort dieses Diskurses war. (zur Entwicklung beider Debatten vgl. u.a. Schmidt 2005) Im Chemnitzer Kontext zeigen sich die Berührungspunkte vor allem durch den Bezug der Agenda-Arbeit auf Grundsatzdokumente des Nachhaltigkeitsdiskurses, etwa die Charta von Aalborg oder den Brundtlandbericht und durch persönliche wie professionelle Kontakte. So trat beispielsweise Ernst-Ulrich von Weizsäcker, selbst Mitglied des Club of Rome, als Gastreferent und als lebende Ikone des Nachhaltigkeitsdiskurses auf dem 5.Chemnitzer Agenda-Forum auf. 70 Vortrag von Clauss Dietel: „Lernt Chemnitz aus seiner Geschichte?“ vom 07.06.2001, Transkript, Zeilen 68-72.
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ren Stadtgebieten – damit wird hier in etwa die Stadt, wie sie bis zur Wende bestand, gemeint. „Mit der Entfernungspauschale und der zusätzlichen Förderung jeglichen Wohneigentums im Rahmen der so genannten Riester-Rente unterstützt die rot-grüne Bundesregierung aktiv die Zersiedlung suburbaner Gebiete bei gleichzeitigem Bevölkerungsschwund in den inneren Stadtgebieten. Statt diese Fehlentwicklungen zu korrigieren, soll mit einer staatlichen Förderung des "Stadtumbaus", was in der Realität häufig großflächigen Abriss bedeutet, gegengesteuert werden.71
Hier wird also eine Ursache des Leerstands genannt, die innerhalb der anderen Deutungsmuster nicht zur Sprache kommt: Die Wohnungspolitik der vergangenen Jahre, vor allem der Neubau auf vorher unversiegelter Fläche. Dass auch durch Sanierung von Altbauten Wohnungen wieder neu auf den Markt gebracht wurden und dadurch andere Wohnungen nun leer stehen, wird nicht problematisiert, da die Erhaltung und Umnutzung bereits vorhandener Bausubstanz als Ziel von Entwicklung formuliert wird. Die Bevölkerungsstatistiken werden nicht an sich angezweifelt, wohl aber deren Interpretation durch andere Akteure, beispielsweise die der Chemnitzer Stadtverwaltung. Ihr werden falsche und vorschnelle politische Konsequenzen vorgeworfen: „Das vorliegende Stadtentwicklungskonzept gibt sich zwar den Anschein der Langfristigkeit, doch noch vor wenigen Jahren wurde mit beachtlichen staatlichen und kommunalen Finanzmitteln jeglicher Wohnungsneubau subventioniert. Diese Maßnahmen waren durch scheinbar objektive Analysen begründet. Jetzt wird mit gleicher Förderung der Abriss beschleunigt, wiederum unterstützt von vermeintlich stichhaltigen Prognosen.“72
Nun zu den Handlungsstrategien: Der Hauptansatzpunkt besteht im Stopp jedweden weiteren Flächenverbrauchs. In der Stellungnahme des Agenda-Beirats der Stadt Chemnitz zum Stadtentwicklungsprogramm heißt es, dass in einer Stadt mit sinkenden Einwohnerzahlen ein weiterer Flächenverbrauch nicht zu rechtfertigen sei.73 Ein Mitglied des Werk-
71 Stellungnahme von Jens Kassner zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, in der Datensammlung Zeilen 7-12. 72 Ebd., Zeilen 71-76. 73 Stellungnahme des Agenda-Beirats zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms.
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bundes schreibt in seiner Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm: „Verbal werden im ‚Räumlichen Handlungskonzept Wohnenǥ sinnvoll erscheinende Ziele benannt wie Schonung der Ressourcen, auf Innenentwicklung orientierte Stadtplanung und Verhinderung weiteren Landschaftsverbrauchs, die konkreten Vorhaben stehen diesen Bekenntnissen aber direkt entgegen. So werden ca. 3100 mögliche neue Wohnungseinheiten in ländlichen Randgebieten ausgewiesen, während im Bestand teilweise großflächig abgerissen werden soll.“74
Stattdessen wird der kreative und ökologisch offensive Umgang mit dem Bestand gefordert. Industriebrachen sollen von Altlasten saniert werden, gegebenenfalls auch mit Fördermitteln, und als Gewerbegebiete nachgenutzt werden. So könne gleichzeitig das Stadtbild geschont, der Flächenverbrauch verringert und die Identität der Stadt gestärkt werden. Auch die Forderungen zur Verkehrspolitik werden auf die neue Entwicklung fortgeschrieben. In dem oben bereits zitierten Dokument der PDS-Fraktion, in dem die autogerechte Stadt kritisiert wird, heißt es an späterer Stelle: „Aus dieser anderen Sicht auf den Wohnungsleerstand (als Folge von Verkehrslärm an Hauptverkehrsstraßen, KG) ergeben sich auch ganz andere Schlußfolgerungen. ... Die Herstellung neuer und breiterer Schneisen in der Stadt für den Autoverkehr muß aufhören. Stattdessen müßte sich die Stadtverwaltung ernsthaft um die fußläufigen Verbindungen in der Stadt, den öffentlichen Personenverkehr und die Urbanität überhaupt bemühen.“ (Koch 2001)
Gekoppelt an die seit Jahren von der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz eingeforderte Wende in der Verkehrspolitik sei es gerade in einer schrumpfenden Stadt „... enttäuschend, dass der geplante Stadtumbau nicht als Chance für eine Wende hin zu einer stadtverträglichen und nachhaltigen Verkehrsentwicklung genutzt wird. Die Ziele des gültigen Verkehrskonzeptes mit Verkehrsvermeidung sowie Verlagerung weg vom motorisierten Individualverkehrs (MIV) hin zum Umweltverbund werden im InSEP ignoriert und durch den weiteren Aus-
74 Ebd.
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und Neubau für den MTV attraktiver Verkehrsinfrastruktur sogar konterkariert.“75
Hier wird eine klassische Position des Nachhaltigkeitsdiskurses und der Agendabewegung herangezogen, um – zumindest in der Vision – eine der kniffligsten Probleme in den Stadtumbaustrategien zu lösen, nämlich die Frage, wie man mit den leer stehenden Gründerzeitstrukturen entlang der Hauptverkehrsstraßen umgehen soll, deren Wohnqualität durch die Verkehrsbelastung extrem gemindert wird, die aber gleichzeitig als erhaltenswerte Bausubstanz angesehen wird. Diese trifft insbesondere im gestalterischen Deutungsmuster zu, dessen VertreterInnen diesem Problem eher ratlos gegenüber stehen, wie dieses Zitat zeigt: „Natürlich schlägt dort auch im Stadtplaner ein Herz: Was macht man denn da mit solchen Bereichen? Was passiert in der Zietenstraße? Zum Beispiel.“76 Aus integrativer Sicht wird Folgendes vorgeschlagen: Gelänge es, den motorisierten Individualverkehr (MIV) aus diesen Lagen zurückzudrängen und stattdessen ein komfortables und preisgünstiges ÖPNVSystem mit gut ausgebautem Radwegenetz zu etablieren, könnten einige Teile der so zum Leerstand verdammten Gründerzeitstrukturen erhalten werden. Nicht eine Reduzierung des ÖPNV, sondern gerade dessen Ausbau parallel zu einer konsequenten Bestandsorientierung sei die angemessene Antwort auf die schrumpfende Realität. Vor dem Hintergrund dieser radikal bestandsorientierten Strategien werden die diskursbestimmenden Abrisskonzepte kritisiert. In der Großwohnsiedlung, wo die Diskussionen um das Stadtentwicklungsprogramm am hitzigsten geführt wurden, wird eine Änderung der Ziele und Strategien vorgeschlagen. Nicht die Reduzierung des Wohnungsbestandes soll im Vordergrund stehen, sondern eine kreative Umgestaltung der Großwohnsiedlung. Fast spielerisch wird eine Qualitätsverbesserung angestrebt, deren Nebeneffekt auch eine Reduzierung des Wohnungsbestandes sein kann. Gestaltung wird als Werkzeug und nicht als Zweck gesehen. Die Bewertung der Großwohnsiedlung folgt nicht so sehr ästhetischen Prinzipien, andere Werte stehen offensichtlich höher. Daher wird für die Großwohnsiedlungen im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung eine soziale, ökologische und über Identifikation und Behutsamkeit
75 Stellungnahme des Agenda-Beirats zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms. 76 Tonbandprotokoll vom 16.10.2001, Grüner Stammtisch, Vorstellung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, Zeilen 331-332.
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begründete Strategie der prinzipiellen Bestandsorientierung mit qualitätsverbessernder Modifikation gefordert, siehe Zitat oben. Diese Position ist jung und wurde nach meiner Beobachtung erst im Prozess entwickelt. Im Beobachtungszeitraum wurde sie auch noch wesentlich dezenter eingefordert als beispielsweise die seit Jahren verfolgte Trendwende in der Verkehrsplanung. Die Forderung nach Bestandserhaltung unterscheidet sich von der Forderung nach Konservierung in der entsprechenden Vignette des gestalterischen Deutungsmusters, wie oben bereits ausgeführt. So taucht in beiden Mustern die Forderung nach dem Erhalt von WohnungsbauSiedlungen aus der Zwischenkriegszeit auf. In der Vignette Konservierung wird sie mit der ästhetisch-historischen Wertschätzung der Bausubstanz begründet. Im integrativen Deutungsmuster wird das genossenschaftliche Wohnen in solchen Siedlungen als soziale und auch ökonomische Alternative zum Wohneigentum oder zum Mietwohnen hervorgehoben. „Wenn man die Wohnung nicht nur als Ware betrachtet, sondern im Zusammenhang mit Einrichtungen des sozialen Umfeldes als einen Faktor selbstbestimmten Lebens, werden manche kostenintensiven und trotzdem wirkungsarmen Maßnahmen überflüssig. Eine gründliche Analyse der diesbezüglichen historischen Erfahrungen, bei denen die lokalen Chemnitzer Beispiele eine beachtliche Beispielwirkung haben, erscheint mir sinnvoller als der gegenwärtige Aktionismus, der von den Fristsetzungen übergeordneter Fördermittelausschüttungen veranlasst wird.“77
An die Forderung nach Aufwertung der Quartiere schließen sich Vorstellungen an, dass die Stadtteile in ihrer Infrastruktur gestärkt werden müssten, um vor allem dem Ideal der so genannten „Stadt der kurzen Wege“ näher zu kommen. Dieser Begriff wird im Sinne des planerischen Fachbegriffs gebraucht, nämlich als funktional durchmischte Stadtstruktur, die damit die Wege der BewohnerInnen im Alltag verkürzt.78 Das Zentrenkonzept der Stadtverwaltung, das in das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm eingeflossen ist, wird als unzureichend kritisiert. Es verkürze die Entwicklung von Stadtteilzentren auf das Thema Einzelhandel und würde alle Forderungen nach Serviceeinrichtungen und sozialer Infrastruktur mit dem Verweis auf marktwirtschaftliche Be-
77 Stellungnahme von Jens Kassner zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, in der Datensammlung Zeilen 63-69. 78 Leitbilder Stadtentwicklung der LA 21, in der Datensammlung Zeile 276.
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dingungen und die Grenzen der Handlungsfähigkeit der Verwaltung abweisen.79 Die letzte wesentliche Forderung aus diesem Deutungsmuster heraus leitet über zu den Vorstellungen darüber, welche Akteure für Stadtentwicklung als relevant angesehen werden. Dies ist die Forderung nach mehr Partizipation bei den Entscheidungen zum Stadtumbau. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass nicht nur Fachwissen eine Kompetenz für Stadtentwicklung sei, sondern auch lebensweltliches Wissen. Der Oberbürgermeister-Kandidat für die FDP fordert laut einer Pressemittteilung „... dass es mehr Bürgerinitiativen geben muss. Diese könnten nach seinen Vorstellungen, in Verbindung mit kommunalen Spezialisten z.B., Stadtteilbebauung/-nutzung, selber planen. Der Einwohner vor Ort weiß am besten was nötig ist.“80
Dieses lebensweltliche Wissen sollte also kombiniert werden mit dem Expertenwissen. Wichtig erscheint dabei, dass sich die Beteiligten als gleichberechtigte Partner in einem langfristigen, kommunikativ gestalteten Prozess zusammenfinden, dass die Beteiligung der Bürger – und auch zivilgesellschaftlicher Gruppen – sich nicht auf Anhörungen, Information und Stellungnahmen beschränkt. Bürgerbeteiligung wird zudem als langfristiger, zu institutionalisierender Bestandteil von Stadtentwicklung angesehen, dazu ein Mitglied des Agenda-Beirats auf einer Podiumsdiskussion: „Das heißt also, ... wir brauchen Kooperationsverfahren, die fair sind. Braucht man also Verfahren wo Laien mit Experten reden, ohne dass die einen die Blöden sind und die anderen die Strahlenden (Klopfen) sind. Dafür gibt es also Verfahren. ... Und dafür kann man Organisationsstrukturen finden, und Bürgerbüros oder Stadtteilzentren. Also Kommunikationspunkte, wo möglichst auch noch jemand sitzt, der also Auskunft geben kann, der Organisationsarbeit übernehmen kann. ... Diese Institutionen haben sich sehr bewährt für die Organisation von Bürgerbeteiligungen in einem laufenden Prozess.“81
Der Agenda-Beirat forderte in einer Stellungsnahme zum Abwägungsbeschluss, also zum bereits überarbeiteten Integrierten Stadtentwick79 Stellungnahme des Agenda-Beirats zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms. 80 Pressemitteilung der FDP-Stadtratsfraktion vom 15.03.2001, in der Datensammlung Zeilen 17-21. 81 Tonbandprotokoll vom 06.02.2002, Podiumsdiskussion „Bürgerbeteiligung und Stadtumbau“, Zeilen 438-450.
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lungsprogramm, dass die vagen Formulierungen zur Bürgerbeteiligung konkretisiert werden sollten. „Ergänzend in den Beschluss 160/2002 sollte als 2. Satz aufgenommen werden: Bei der Fortschreibung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms sind zusätzlich zur parlamentarischen Form basisdemokratische Formen der Beteiligung wie BürgerInnenvertretungen, Beiräte u. a. frühzeitig einzubeziehen. (Hervorhebung im Original)“82
Zielvorstellungen und Bedeutung von Schrumpfung Das integrative Deutungsmuster ist das einzige Deutungsmuster, das den Schrumpfungsprozess neutral, teilweise sogar positiv bewertet. Im Kontext des Mensch-Natur-Verhältnisses und vor dem Hintergrund ökologischer Ziele stellt die eingetretene Entwicklung eine Entspannung dar: „Jeder Baum hört mal auf zu wachsen, die können das. Und die Menschen müssen mühsam lernen, dass sie eventuell auch mal aufhören zu wachsen. Und das trainieren wir jetzt im Osten. ... Wir werden eine Gesellschaft, die nicht mehr wächst. Und das ist erst einmal in Ordnung. Man kann sich ja nicht vorstellen, dass man in einer Gesellschaftsform lebt, die immer weiter wächst. Das ist peinlich für Architekten, das ist peinlich für viele die davon leben, dass man sozusagen immer mehr macht. Aber es ist erst einmal richtig.“83
Die Entwicklung wird also als richtige, als ohnehin irgendwann zu erwartende Entwicklung eingestuft. Die Baum-Metapher weist sogar auf die Vorstellung einer natürlichen, evolutionsbedingten Entwicklung hin. Es wird ein Lernprozess erwartet, zum Beispiel für Berufsgruppen und Gesellschaftsbereiche, die ihre Existenz im Entwicklungsmodus Wachstum eingerichtet haben. Für andere Akteure ist die eingetretene Entwicklung eine Art Beweis dafür, dass die Logik bisheriger Entwicklung zum Scheitern verurteilt sei. „Der vorliegende Entwurf ist ein Dokument des Scheiterns liberalistischer Konzepte des freien Marktes bezüglich der Stadtplanung einerseits, der Unzulänglichkeit staatlicher und kommunaler Versuche zur Regulierung ebenjenes 82 Stellungnahme des Agenda-Beirats zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms. 83 Tonbandprotokoll vom 10.03.2001, Workshop Wohnliche Stadt, Zeilen 66-75.
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Marktes andererseits, solange die Prämissen privater Verwertungsinteressen höher eingestuft werden als vernünftige (wenn auch nicht immer populäre) Prämissen der Nachhaltigkeit.“84
Die richtige, neue Logik sei die der Nachhaltigkeit, die der Vernunft, nicht die des Marktes. Ziele dieser Entwicklung wurden in den vorgehenden Unterkapiteln im Prinzip alle schon genannt. Da das integrative Deutungsmuster sich als opponierendes Deutungsmuster versteht, das gegen herrschende Deutungen antritt, sind die Ziele identisch mit den Handlungsstrategien.
Lebensweltliches Deutungsmuster: Stadtentwicklung als Lebensraumgestaltung „Wir bestehen jetzt seit ca. drei Jahren, und das Motto unserer Arbeit lautet: Hutholz, hier wohnen wir, hier wollen wir uns wohlfühlen.“85
Im Zentrum dieser Logik stehen die BewohnerInnen und ihre Lebenswelt. Alle Vorstellungen von Entwicklung werden aus den Anforderungen der BewohnerInnen an ihre ganz konkrete Lebenswelt abgeleitet. Das lebensweltliche Deutungsmuster bestimmt vor allem die Position der BewohnerInnen, egal welchen Stadtteils. Es ist Teil der Argumentationslogik von Stadtteilinitiativen und Ortschaftsräten, vor allem aber der BewohnerInnen. Die Stadt wird nicht als Gesamtkörper betrachtet, im Blickfeld stehen zumeist das eigene Quartier, die Innenstadt als Referenzstadtteil sowie andere konkurrierende Stadtteile. Dabei können Akteure, die das lebensweltliche Deutungsmuster vertreten, sich durchaus im Stadtumbau-Diskurs als Diskursgegner wieder finden, nämlich wenn ihre Lebenswelten um Aufmerksamkeit, Infrastruktur und Investitionen konkurrieren, wie das pointiert zwischen Gründerzeitgebieten und Großwohnsiedlungen der Fall war.
84 Stellungnahme von Jens Kassner zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, in der Datensammlung Zeilen 1-5. 85 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002, Zeilen 20-21.
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Abb. 24: Das lebensweltliche Deutungsmuster
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III Zielvorstellungen und Bedeutungen Bedeutung der Schrumpfung Verlust, Bedrohung der Lebenswelt Entwicklungsziele Stabilität und Verbesserung der Lebenswelt
Vorstellungen zur Stadtgestalt Ideal: das funktionale Quartier, Ästhetik über Natursymbole, Ordnung und teilw. Architektur Vision: das absterbende Quartier als negatives Szenario
I
Vorstellungen von gesellsch. Praxis Ursachen: falsche Politik, Diffamierung mancher Quartiere Handlungsvorschläge: Aufwertung der Stadtteile verantwortliche Akteure: Entscheidungsträger, Bewohner
Vorstellungen von Regulation Regulativ: Bedürfnisse der BewohnerInnen Werte: Funktionalität, Umweltqualität, Ästhetik, Vertrautheit Ressourcen: städt. Haushalt, Invest. d. Eigent., Eigeninitiative
II
Quelle: eigene Darstellung
Antizipierter Zeitrahmen Die Zeitperspektiven werden stark von biographischen Zeiträumen geprägt. Referenzpunkt aller Überlegungen ist die Gegenwart. Es geht immer um von heutigen BewohnerInnen erlebte bzw. erlebbare Zeiträume. Vorstellungen von Regulation Entsprechend ist das zentrale Regulativ in diesem Deutungsmuster in den Bedürfnissen der BewohnerInnen an die Lebenswelt zu sehen. Alle Stadtentwicklung soll sich in dieser Vorstellung nach diesen Bedürfnissen richten – und zwar nach Bedürfnissen der jetzigen BewohnerInnen und nicht nach den fiktiven Bedürfnissen potenzieller ZuzüglerInnen. Damit trägt dieses Deutungsmuster sowohl bewahrenden/konservativen als auch nach Verbesserung suchenden/innovationsfreudigen Charakter. Wertvorstellungen beziehen sich immer auf die Qualität der Lebenswelt, also in erster Linie des Quartiers und in zweiter Linie der Gesamtstadt. Der zentrale Wert ist Lebensqualität. Zu den Werten gehören 184
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weiterhin Funktionalität, Ästhetik und Umweltqualität. Funktionalität meint die gute Ausstattung mit Infrastruktur jedweder Art, vom Parkplatz über ÖPNV-Anbindung, Einkaufsmöglichkeiten oder soziale Einrichtungen. Unter Ästhetik fallen Kriterien wie Ordnung und Sauberkeit, Natur- und Landschaftssymbolik, einzelne Gebäude als Schmuck des Quartiers. Der Erhalt der vorhandenen Baustruktur kann auch als Erhalt eines besonderen Charakters, des „Gesichts“ des Stadtteils angesehen werden. Ökologische Qualität bezieht sich vor allem auf die Luftqualität und auf einen geringen Lärmpegel. Wertvorstellungen sozialer Art beziehen sich auf die Nachbarschaft, auf den Erhalt des vertrauten „Milieus“ sowie auf das soziale Image des Viertels. Als Ressourcen werden die Mittel aus dem städtischen Haushalt und das Kapital der Eigentümer gesehen, aber auch die Eigeninitiative der BewohnerInnen.
Vorstellungen zur Stadtgestalt Die materielle Lebenswelt spielt eine stark funktionale Rolle und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: die Anordnung der baulichmateriellen Elemente soll funktionieren, d.h. den Anforderungen des Alltags der BewohnerInnen gerecht werden. Für AutobesitzerInnen sind Parkplätze wichtig, für StraßenbahnfahrerInnen das ÖPNV-Netz mit seinen Haltestellen. Die Wege zu Versorgungseinrichtungen wie Schule oder Einzelhandel sollen den Bedürfnissen entsprechen. Gerade die Diskussionen um den Schrumpfungsprozess und seine Bewältigung haben die Stadt bzw. das Quartier in seinen notwendigen Funktionen in das Bewusstsein der DiskursteilnehmerInnen gehoben. In diesen Komplex fallen die ganzen Diskussionen um Schulschließungen, die Schließung von Schwimmhallen und Freibädern, die Einschränkung des ÖPNV oder die Aufgabe von Einzelhandelsgeschäften. Die ästhetischen Vorstellungen von Stadtgestalt sind wenig konkret und sehr unterschiedlich. Konsens ist die Forderung nach einer gewissen Aufgeräumtheit, nach Ordnung und Sauberkeit. Leerstand wird in dieser Hinsicht als Schandfleck interpretiert, der Verfall, Vandalismus und Vermüllung anzieht. „Schandflecken“ müssen weg. Es kommt auch vor, dass einem brachliegenden Gebäude weiterer lebensweltlicher Sinn zugeschrieben wird, wenn es sich beispielsweise um ein in der biographischen Vergangenheit der Bewohner wichtiges – und beliebtes í Gebäude bzw. eine biographisch bedeutsame räumliche Situation handelt. Dies ist z.B. der Fall beim Bernsdorfer Silbersaal, einem leer stehenden Ballhaus. Welche Art der Bebauung hoch geschätzt wird, steht in direkter Verbindung zur im Quartier vorhandenen Bebauung und wird selten als besonderer Stil oder in architekturgeschichtlichen Fachtermini ausgedrückt. 185
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„Und das ist eigentlich auch ein Kriterium, wenn ich mir eine Wohnung suche, wo ziehe ich hin? Ich möchte wieder freien Blick. Ich möchte kein so direktes Visavis haben, dass sie mir regelrecht auf der Pelle sitzen, weil so dicht gebaut ist. Spielplätze sind dort, für die Kinder. Freiraum ist da. Besser kann man fast nicht wohnen. Das einzige, was bei uns wirklich fehlt sind die Balkons.“86
Verschönerungsabsichten beziehen sich auf Sanierung, also die optische Aufwertung des Vorhandenen, auf die Ausbesserung von Verfallendem und auf die Gestaltung des Wohnumfelds, etwa mit natur-räumlichen Elementen, mit Wiesen, Wegen und Bepflanzung. Parks werden hoch geschätzt. „Wir wollen nämlich, dass nach dem Stadtumbau, der sicher erforderlich ist, auch im Sinne, dass unsere Vermieter gesund bleiben oder auch wieder gesund werden, dass aber unser Stadtteil anschließend keine Brachen hat, keine geräumten Flächen, sondern ein geschlossenes Ganzes bleibt. Stadtumbau darf sich nicht in Abriss erschöpfen, sondern muss positiv besetzt werden. Mittelpunkt bleibt natürlich das Wohnen. Unsere vier Wände.“87
Vorstellungen von gesellschaftlicher Praxis Es werden drei Ursachen für Bevölkerungsrückgang und Leerstand benannt: Erstens sei dies die Folge von schlechter Politik, von Fehlentscheidungen und bewussten Vernachlässigungen. Auf Versammlungen der Stadtteilinitiative Müllerstraße 12 (Stadtteil Brühl – innenstadtnahes gründerzeitliches Wohngebiet) wurde kritisiert, dass der BrühlBoulevard (ehemalige Einkaufsmagistrale) trotz aller Versprechungen zur Sanierung systematisch gegenüber den Einzelhandelsansiedlungen in der benachbarten City vernachlässigt wird und damit „ausstirbt“. Investitionen in die Innenstadt hätten die Kräfte für den Brühl gebunden und das Quartier sich selbst überlassen. Die starken Bemühungen um die neue City werden als „Verlagerung der Innenstadt weg vom Brühl“ interpretiert.88 Die Kritik richtet sich aber nicht nur gegen die Verwaltung und den Stadtrat, sondern auch auf die Wohnungsunternehmen. Sie hätten versäumt, den Bestand aufzuwerten und damit den Wegzug provoziert. Ein Beispiel aus einer Bürgerversammlung in der Großwohnsiedlung/Stadtteil Hutholz vom 09.04.2002: 86 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 20.11.2002, Zeilen 217-221. 87 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002, Zeilen 83-88. 88 Protokoll eines Treffens der Stadtteilinitiative Brühl, zitiert nach Forschungstagebuch vom 24.10.2001.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
„Und dann kommt mit dazu, dass die GGG in diesem Gebiet Hutholz fast nichts investiert hat, oder mal übergestrichen (Beifall) ... Wenn man das weiter so macht, uns hier verhungern lässt, dann braucht man sich nicht wundern, wenn der Rückgang weiter so geht.“89
Zweitens werden die Wegzüge als Folge von systematischen diskursiven Abwertungen einzelner Stadtteile, insbesondere der Großwohnsiedlungen gelesen. Der ehemalige Leiter des Bauaufsichtsamts der Stadt, dessen Lebenswelt die Großwohnsiedlung ist, schreibt in seiner Stellungnahme zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept: „Nach der deutschen Wiedervereinigung begann eine ideologische Umerziehung der Ostdeutschen, mittels aller öffentlich verfügbaren Medien werden westdeutsche Wertmaßstäbe vermittelt. Dirigiert wird das von Aufbauhelfern, die in Chemnitz schrittweise alle Kommandoposten besetzten und ihre Kenntnisse und Urteile in der Zeit des kalten Krieges auf der westlichen Seite erworben hatten. Nach deren Ansicht ist der industrielle Wohnungsbau zu verurteilen, weil er in Westdeutschland angeblich nicht funktioniert hatte und an den westdeutschen Hochschulen darüber nichts Positives gelehrt worden ist. Diese seit 1990 schon verbreitete Negierung belastet nachhaltig die Mieter der Neubaugebiete und veranlasst immer mehr zum Wegzug.“90
Drittens wird der Bevölkerungsverlust auch von VertreterInnen des lebensweltlichen Deutungsmusters mit der aus dem marktwirtschaftlichen Deutungsmuster bekannten Assoziationskette: schlechte Wirtschaftsentwicklung – sinkendes Arbeitsplatzangebot – Abwanderung interpretiert, gerade wenn Akteure beide Logiken gleichzeitig bewegen. Die Handlungsvorschläge beziehen sich auf Maßnahmen zur Erhaltung der jeweiligen Lebenswelt. An erster Stelle steht hierbei die Erhaltung der Infrastruktur, besonders umstritten sind die Schulschließungen. In der Großwohnsiedlung „Fritz Heckert“ stand im Beobachtungszeitraum die Schließung aller noch vorhandenen Gymnasien an. Dies wird als Todesstoß für den Stadtteil empfunden, der verhindert werden muss. „Wenn die Stadtteile aber leben sollen, dann benötigen sie eine gesunde Infrastruktur, und das ist mehr als nur eine Wohnung. Dazu gehören sowohl Kindergärten, um bei den Kleinsten anzufangen, dazu gehört eine funktionierende 89 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002, Zeilen 555-558. 90 Stellungnahme des ehemaligen Leiters des Bauaufsichtsamtes zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, in der Datensammlung Zeilen 44-52.
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Schule, und die Keller-Schule wird zugemacht, das wissen alle. Dazu gehört aber auch eine Altenversorgung, dazu gehören Handel, Dienstleistungen, eine Gesundheitsbetreuung, Verkehr, Kultur, und nicht zuletzt auch die Gastronomie. Also insgesamt, wenn ich einen Stadtteil erhalten will ... dann gehört dazu ein funktionierendes Umfeld.“91
In den Stadtteilen, die von einer Reduzierung des Fahrdienstes des ÖPNV betroffen waren, entstanden Initiativen zum Erhalt von BusAnbindungen. Die Forderungen nach verbesserter Infrastruktur wurden mit dem wiederholt auftauchenden Wunsch nach Stadtteilzentren verknüpft. Hier ein Beispiel aus einem im Diskurs wenig diskutierten, aber stark von Leerstand betroffenen Stadtteil: „Es fehlt hier eine so genannte Stadtteilmitte entlang der Zwickauer Straße zwischen Karl-Drais-Straße und Popowstraße: wieder aufgreifen des einst vorgesehenen Baues des Arkadenhofes westlich der Edisonstraße sowie Wiederbelebung auch brachliegender Wohnbausubstanz in diesem Bereich.“92
Ein zweiter Handlungskomplex bezieht sich auf Ordnung und Sauberkeit. Geforderte Maßnahmen sind die Sanierung von Gebäuden, Gehwegen und öffentlichen Anlagen, Aufräumarbeiten und strukturelle Verbesserungen des Stadtteils. Ob die angestrebte Ordnung durch Sanierung oder Abriss geschaffen wird, kann dabei als zweitrangig eingestuft werden. Der Seniorenbeirat hatte beispielsweise angemerkt: „Die Straßenzeile die Sebastian-Bach-Straße 8-14 (Lessingplatz bis Zietenstraße) sollte entweder abgerissen oder endlich saniert werden. Diese Gebäude verschandeln das Straßenbild. Bei einem Abriss könnte man z.B. den schon sehr schön neu gestalteten Lessingplatz auf die Sebastian-Bach-Straße ausdehnen.“93
Zu den Vorstellungen über verantwortliche Akteure: Im lebensweltlichen Deutungsmuster wird die Verantwortung klar bei den EntscheidungsträgerInnen aus Politik und Verwaltung gesehen. An sie richten sich auch die Handlungsaufforderungen, zusammengefasst im rhetorischen Akteur „die Stadt“.
91 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002, Zeilen 67-74. 92 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 1499-1503. 93 Ebd., Zeilen 1276-1279.
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„Und das Erste was ich bemängeln möchte ist dieser flächenhafte Rückbau, wo man auf jeden Fall an die Stadt herangehen muss, wo sich die hier anwesenden Stadträte mal verdient machen könnten.“94
Wie auch im integrativen Deutungsmuster werden die BewohnerInnen als Experten ihrer Lebenswelt angesehen, die nicht nur das Recht auf Partizipation haben, sondern auch ein Potential darstellen, das von den verantwortlichen Akteuren genutzt werden sollte. Dazu ein SPDOrtschaftsrat auf einer Diskussionsveranstaltung, die sich explizit dem Thema der Bürgerbeteiligung beim Stadtumbau widmete: „Wir haben eins gelernt: Der Bürger identifiziert sich mit seinem Stadtteil. Er lebt dort, er will dort leben, er will dort was bewegen. Er denkt nicht bloß ... an sein eigenes Haus, seine eigene Wohnung. Er denkt schon ´n Stückchen weiter. Das sollte man ganz einfach mal wissen und dem Bürger auch vertrauen. Aber das Wissen was er hat, seine Kompetenz muss einfließen. Muss auch abgefordert werden und es muss sich auch wieder finden.“95
Zielvorstellungen und Bedeutung von Schrumpfung VertreterInnen des lebensweltlichen Deutungsmusters reagieren nahezu überrascht und deprimiert auf die Ereignisse, die ein Ende der Aufbaubemühungen der 90er Jahre darstellen. Die Schrumpfung der Stadt wird als Bedrohung der eigenen Lebenswelt bewertet. Auch wenn einzelne Effekte als positiv wahrgenommen werden, wie der sehr entspannte Wohnungsmarkt oder einzelne, aufwertende Maßnahmen des Stadtumbaus, so ist die generelle Bewertung negativ. Die Lebensfähigkeit des Quartiers steht auf dem Spiel. Jede angedachte oder vollzogene Schließung von Infrastruktur wird als „Aufgabe“ des Quartiers interpretiert. Ging es vor dem Ereignis darum, welcher Stadtteil private oder öffentliche Investitionen in welcher Größenordnung erfuhr, geht es nun zwar immer noch um Investitionen, aber neuerdings auch um die Aufrechterhaltung von Bestehendem. Welcher Stadtteil darf seine Schulen behalten, seine Wohngebäude, seine Schwimmhalle? Wo gibt der Einzelhandel zuerst auf? Die Stadtteile treten in eine zunehmende Konkurrenz um Einwohner, um Infrastruktur und um Investitionen. „Seit dem 02. Januar 2002 ist die Begegnungsstätte Semmelweisstraße 2 geschlossen. Unsere älteren Bürger sind ganz traurig, denn sie fanden hier ein 94 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 20.11.2002, Zeilen 149-151. 95 Tonbandprotokoll vom 06.02.2002, Podiumsdiskussion „Bürgerbeteiligung und Stadtumbau“, Zeilen 173-178.
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zweites Zuhause. ... Nun ist alles vorbei. .... Sicherlich muß die Stadt sparen und schließt insgesamt vier dieser Begegnungsstätten. Warum gerade diese?“96
Die Prozesse werden als Negativspirale betrachtet. Ging es vor der Schrumpfung, gerade in der Aufbruchszeit der 90er Jahre darum, welcher Stadtteil wie schnell „voran“ kommt, geht es nun darum, in welchem Stadtteil die Negativspirale sich anfängt zu drehen und wie sie gebremst werden kann. Diese Konkurrenz ist am deutlichsten zwischen Gründerzeitgebieten und Großwohnsiedlung. Außerdem sehen sich alle Stadtteile mit der Innenstadt in Konkurrenz um Ressourcen und Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist die oben dargestellte Konkurrenz zwischen Brühlboulevard und neuer City, ein weiteres ist das einleitende Statement der Bürgerinitiative Hutholz auf einer Bürgerversammlung. „Deshalb einige Gedanken zum Stadtentwicklungsprogramm. ... Wir fordern von der Stadt ein klares Bekenntnis zum neuen Chemnitz. Das heißt, zu all ihren Stadtteilen. Wir sagen Ja zu einer attraktiven und funktionierenden City, aber auch ein Ja zu ihren über Jahrzehnte gewachsenen Vorstädten im Grünen. Ein überproportionaler Rückbau in den Neubaugebieten und ein Schrumpfen von außen nach innen zerstören die Wohnqualität unserer Stadt.“97
Mit den Vorstädten im Grünen ist hier die Großwohnsiedlung gemeint. Auf der gleichen Veranstaltung wurde von einer Einwohnerin auch die Konkurrenz zu den gründerzeitlichen Wohngebieten angesprochen und die als strategisch empfundene Vernachlässigung des eigenen Stadtteils: „Wenn man aber hier was tut, und es lohnt sich, hier zu investieren, da haben Sie hier sehr dankbare Mieter, das möchten wir noch mal zum Ausdruck bringen. Wir wollen Ihnen den Brühl nicht belegen, wir wollen auch nicht auf den Sonnenberg oder den Kaßberg, wir wollen hier, die Leute, die noch hier sind, die wollen hier bleiben und die wollen hier auch nicht zehn Jahre warten, bis Sie sich entscheiden, dass Sie hier mal was machen.“98
Ziele für Stadtentwicklung habe ich im Einzelnen schon benannt, zentral sind Infrastrukturentwicklung, Aufwertung, Ordnung und Sauberkeit. Zusammenfassend lassen sich diese Ziele als Wunsch nach Stabilität, nach einer Konstanz der eigenen Lebenswelt beschreiben.
96 Pressemitteilung der CDU-Stadtratsfraktion, Januar 2002, Zeilen 3-13. 97 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002, Zeilen 50-57. 98 Ebd., Zeilen 557-563.
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DEUTUNGSMUSTER VON STADTENTWICKLUNG
Fragen aus der Deutungsmusteranalyse Nach der Analyse der Deutungsmuster fällt mit Rückblick auf die Beschreibung des lokalen Diskurses auf, dass diese Deutungsmuster im Diskurs sehr ungleich vertreten sind und ihre VertreterInnen unterschiedlich institutionell legitimierte Sprecherpositionen innehaben. Dazu kommt, dass Diskursteilnehmer häufig nicht explizit ein Deutungsmuster vertreten, sondern mehrere Logiken parallel denken. Die Übersicht in Abb. 25 weist den Deutungsmustern über Symbole ihre wesentlichen VertreterInnen zu. Abb. 25: Übersicht über Deutungsmuster und Akteure
Bürger-
CWE
Marktwirtschaftliches Deutungsmuster
Gestalterisches Deutungsmuster
CHEMNITZ
CWE Bürger-
Ortschaftsräte
Denkmalpflege
Vignette Superlative
Vignette Konservierung LA 21
CHEMNITZ
LA 21
Integratives Deutungsmuster
Bürger-
StadtteilInitiativen
CHEMNITZ
LA 21
StadtteilInitiativen
Lebensweltliches Deutungsmuster Ehem. Leiter des Bauaufsichtsamtes
Ortschaftsräte
Rationales Deutungsmuster
Quelle: eigene Darstellung
Was bei näherer Betrachtung auffällt sind zwei Dinge, und zwar: 1. dass sich die Akteure im Bereich gestalterisches und marktwirtschaftliches Deutungsmuster häufen, dass diese Akteure meist mit stark institutionell legitimierten Sprecherpositionen ausgestattet sind, 191
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
wie etwa die Kommunalverwaltung í im engeren Sinne das Baudezernat í oder die Stadtratsfraktionen, während 2. die Akteure für rationales, lebensweltliches und integratives Deutungsmuster eher geringer in der Zahl und zivilgesellschaftlich oder gar nicht organisiert sind und weniger legitimierte Sprecherpositionen innehaben. Weiterhin fällt auf, dass í obwohl einige Diskursteilnehmer bei mehreren Deutungsmustern auftreten í eine gewisse Trennlinie in den Akteuren auszumachen ist, die zwischen lebensweltlichem/integrativem und marktwirtschaftlichem/gestalterischem Deutungsmuster verläuft. Dabei gibt es nur einen „Ausreißer“, das ist die Verwaltung. Das rationale Deutungsmuster wird lediglich von einer einzelnen, institutionell nicht eingebundenen Person vertreten. Daraus ergibt sich weiterer Klärungsbedarf: Weshalb kommt es zu dieser latenten Zweiteilung der Akteurspositionen und in welcher Beziehung stehen die Deutungsmuster, die jeweils auf den beiden Seiten stehen? Was macht die Nähen aus, was die Opposition? Wie ist das auf der Bedeutungsebene zu begründen? Welche inhaltlichen Anknüpfungspunkte gibt es, welche Widerstände? Wie lassen sich die zentralen Konflikte im Diskurs, die an Akteure und Akteurskoalitionen gebunden sind, erklären? Welche Konflikte oder Koalitionen wären denkbar, kommen aber real nicht im Diskurs vor? Und warum bedient die Verwaltung bzw. das Baudezernat in ihren Argumenten drei verschiedene Deutungsmuster incl. der Vignetten? Warum bleibt das integrative Deutungsmuster im Prozess eher marginalisiert, obwohl es als einziges Deutungsmuster die eingetretene Entwicklung nicht nur negativ bewertet und mit vergleichsweiser Leichtigkeit positive Handlungskonzepte hervorbringt? Welche Irritationen der Sinnebene sind überhaupt zu beobachten, welche Tendenzen deuten sich an? Im Weiteren wird also herauszuarbeiten sein, wie gemeinsame Positionen oder Widersprüche auf der Ebene der Sinnstrukturen, also der herausgearbeiteten Deutungsmuster, zu verorten und zu erklären sind, wie Konsens und Widerspruch zustande kommt. Damit wird die Sinnebene entsprechend den theoretischen Annahmen als Hintergrund von Handlungen thematisiert.
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Ergebnisse Teil II: Deutungsmuster und Akteursbeziehungen
Im Folgenden werden die Strukturen vorgestellt, die Sinn- und Akteursebene vereinen. Dabei wird deutlich, dass jene Deutungsmuster, die von Diskursteilnehmern und Diskursgemeinschaften parallel nebeneinander vertreten werden, von ihnen auch in einer besonderen inhaltlichen Beziehung stehen bzw. von den Diskursteilnehmern in eine solche Beziehung gebracht werden. Dort hingegen, wo Konflikte auf der Akteursebene bestehen, werden von den Diskursteilnehmern die Gegensätze zwischen den Deutungsmustern deutlich gemacht. So werden auch die inhaltlichen Konflikte – wie etwa die Debatte um das wo und wie von Abrissen í in den folgenden Kapiteln aus der spezifischen Beziehung zwischen Deutungsebene und Akteursebene erklärt.
Symbiose: Die lokale Ausprägung des Wachstumsparadigmas Ein Kreislauf aus Wirtschaftswachstum und Stadtgestaltung Marktwirtschaftliches und gestalterisches Deutungsmuster werden von vielen Akteuren gleichzeitig vertreten. Dabei werden die beiden Vorstellungen soweit harmonisiert, dass ich von einer symbiotischen Beziehung zwischen diesen beiden Deutungsmustern sprechen möchte. Charakteristisch ist dies etwa für die Position der Verwaltung, des Oberbürgermeisters und einiger Stadträte bzw. Stadtratsfraktionen – also der wesentlichen EntscheidungsträgerInnen. Die Symbiose zwischen beiden Mustern besteht kurz gesagt in der Vorstellung eines sich selbst antreibenden Kreislaufs aus Wirtschaftswachstum und Stadtgestaltung: Wirtschaftswachstum führe zu steigendem Wohlstand und Arbeitsplatzangebot einer Kommune, dies ermögliche – und erfordere – die Kreation eines attraktiven und funktionierenden Stadtbilds und Stadtkörpers. Dadurch steige das Image, was wieder 193
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
in der Anziehung von Investitionen und Arbeitskräften resultiere. Diese Symbiose zwischen beiden Deutungsmustern kann man als Modell etwa so abbilden: Abb. 26: Modell des Kreislaufs aus Wirtschaftskraft und Stadtgestaltung
Anziehen von Investitionen
Steigerung des Außenimage
Attraktivierung der physischen Stadt
Wirtschaftliches Wachstum Mehr lokale finanzielle Ressourcen
Bevölkerungswachstum
Gestaltungspotential
Gestaltungsbedarf
Quelle: eigene Darstellung
Kern der Symbiose sind die sich ergänzenden Vorstellungen von Regulation. Im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster bildet der Markt das zentrale Regulativ städtischer Entwicklung und ein attraktiv gestaltetes Stadtbild ist eine Ressource für das zentrale Ziel des Wirtschaftswachstums. Im gestalterischen Deutungsmuster verhält es sich umgekehrt: zentrales Regulativ ist die Gestaltung des Stadtbildes, während eine starke Wirtschaft als Hauptressource für Gestaltung angesehen wird. Was des einen Deutungsmusters Regulativ, ist also des anderen Ressource. Die so begründete symbiotische Beziehung zwischen den beiden Deutungsmustern spiegelt sich in vielen Teilen der gesammelten Daten wieder. Hier ein Beispiel aus einem Artikel des Baubürgermeisters: „So könnte in Chemnitz der erfolgreich begonnene Wandel von der grauen Plattenstadt, ohne gebaute Mitte, mit entleerten und zerfallenden Gründerzeitvierteln hin zu einer grünen und erfahrbaren Stadt, mit neuem Stadtzentrum, bewohnten innerstädtischen Quartieren fortgeführt werden. Vieles ist schon erreicht. Der kommunalen Politik ist klar: Nur dieser Wandel kann das Bild der Stadt als Standortfaktor positiv entwickeln.“ (Fischer 2002: 71)
194
DEUTUNGSMUSTER UND AKTEURSBEZIEHUNGEN
Die Vorstellungen zur materialen Stadtgestalt überschneiden sich in beiden Deutungsmustern insofern, als dass sie stark auf deren Außenwirkung, auf Repräsentation, auf das ästhetische Image der Stadt orientiert sind. Die Wertvorstellungen ergänzen sich also ebenfalls. Ästhetik ist einer der zentralen Werte im gestalterischen Deutungsmuster. Ein ästhetisches Stadtbild wird als weicher Standortfaktor, also als Entwicklungsressource im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster gesehen – ob dies nun über die Altbausubstanz, über moderne Architektur, die Gestaltung von Raumdimensionen wie Dichte oder Sichtachsen oder über Grünflächen und landschaftliche Reize der Umgebung definiert wird. Wachstum ist im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster der zentrale Wert, die Norm, im gestalterischen Deutungsmuster wird dies als bevorzugter Entwicklungsmodus gesehen. Zwischen marktwirtschaftlichem und gestalterischem Deutungsmuster kommt es nicht zu Auseinandersetzungen, die Werte des jeweils anderen werden (öffentlich) nicht in Frage gestellt, da sie entweder geteilt werden oder als zentraler Baustein des eigenen Deutungsmusters fungieren, wenn auch mit etwas anderem Stellenwert. So kommen auch beide Positionen zu einer ähnlichen Bewertung des Schrumpfungsprozesses. Ihm wird eine negative Bedeutung beigemessen. In der Symbiose beider Muster drückt sich das etwa so aus: „Der Wohnungsmarkt ist bei bezahlbaren Mieten zum Mietermarkt geworden, für Wohnungswirtschaft und Investoren ungewohnt. In der Folge ist Chemnitz in Teilen zu einem entökonomisierten Raum geworden. Die Nachfrage fehlt, die Belastungen aus Unterhalt, Zins und Tilgung verzehren den Bodenwert. Der Stadtzusammenhang schwindet, leere Gebäude und Brachflächen zerteilen die Stadt. Liebgewordene Bilder, Stadteingänge, urbane Gemengelagen, Straßenraum prägende Randbebauung zerfallen oder für Teile großer Neubaugebiete, vor 20 Jahren noch begehrter Wohnort, gibt es keine Nutzer.“ (Fischer 2002: 73)
Für Akteure, deren Vorstellungen sich auf dieser Symbiose bewegen, bricht mit dem Schrumpfungsprozess der Kreislauf zusammen: Die Ressourcen schwinden, die Gestaltungsmöglichkeiten schränken sich immer weiter ein. Aus der Annahme des Kreislaufs resultiert die Erwartung einer Abwärtsspirale.
Irritationen des Kreislaufs Das Ereignis des Schrumpfens greift in diese Symbiose ein und bewirkt Irritationen. Latente Unvereinbarkeiten beider Deutungsmuster werden in den Blick genommen. Dies drückt sich aus in zwei bedeutsamen Unterschieden zwischen den beiden Deutungsmustern im Umgang 195
AM ENDE DES WACHSTUMSPARADIGMAS?
mit der Schrumpfungsthematik. Einerseits unterscheiden sie sich in der Diskussion und Analyse der Ursachen des Schrumpfungsprozesses und andererseits in den Konsequenzen, die aus der Situation gezogen werden, also in Quadrant drei des Raummodells, der historischen Konstitution. Die Ursachenbetrachtungen unterscheiden sich erheblich. Im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster wird eine eindimensionale Ursachenbetrachtung vollzogen, nämlich über die im Diskurs geläufige Assoziationskette schwache Wirtschaft – sinkendes Arbeitsplatzangebot – Abwanderung und weiter über Leerstände zu schlechtem Image und weiter sinkenden Investitionen. Diese Ursachenanalyse bewegt also sich innerhalb des Kreislaufmodells, der Kreislauf läuft als Negativspirale. Im gestalterischen Deutungsmuster hingegen werden Analysen vorgenommen, die bereits zu Beginn des Stadtumbaudiskurses ein wesentlich komplexeres Ursachengefüge hervorbringen. Vor allem die Ursache „Bevölkerungsrückgang durch sinkende Geburtenrate“ ist ein Faktor, der – obwohl, wie rückwirkend sichtbar gemacht wird – schon länger wirksam ist, erst jetzt als bedeutendes Moment für die vergangene, jetzige und vor allem auch zukünftige Entwicklung wahrgenommen wird. Dadurch wird das Kreislaufmodell in der Konsequenz in Frage gestellt, da der Link zwischen Wirtschaftswachstum und Bevölkerungswachstum nicht mehr gelten kann und so die Formel des Wachstums als Selbstläufer einer attraktiven und wirtschaftlich starken Stadt auch nicht mehr als gültig betrachtet werden kann. Als Konsequenz aus dem Schrumpfungsprozess sieht das marktwirtschaftliche Deutungsmuster Wirtschaftsförderung vor, eine Maßnahme, von der erwartet wird, dass sie den Kreislauf an der aktuell schwachen Stelle wieder anschiebt. Zu dieser Handlungsoption Wirtschaftförderung gehört als ein Baustein die weitere Attraktivitätssteigerung der Stadt. Anders im gestalterischen Deutungsmuster: Die HauptvertreterInnen des Deutungsmusters í vor allem die administrativen Eliten auf kommunaler, nationaler und auf Landesebene í akzeptieren Schrumpfung als aktuellen Entwicklungsmodus. Das zentrale Interesse dieser Akteure ist es, Gestaltungsprozesse aufrechtzuerhalten, daher entwickeln sie Handlungsstrategien, die dem Entwicklungsmodus der Schrumpfung gerecht werden. Zentraler Auslöser dieser Akzeptanz sind die Bevölkerungsprognosen. So endet ein Faltblatt mit dem Titel: „Stadtumbau – Chance oder Verlust?“, das in der heißen Phase des Diskurses von der Stadt Chemnitz herausgegeben wurde, mit den Worten:
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DEUTUNGSMUSTER UND AKTEURSBEZIEHUNGEN
„Die veränderte Bevölkerungssituation und die absehbare Bevölkerungsentwicklung erfordern einen anderen Umgang mit den städtischen Lebensräumen. Dem muss auch die Gestaltung für die Zukunft Rechnung tragen.“1
Aus der Akzeptanz der Situation heraus und im Interesse der Aufrechterhaltung von Handlungsmöglichkeiten werden nun die oben beschriebenen neuen Handlungsmöglichkeiten wie ersatzloser Abriss von Wohnraum und Industriebrachen mit Hilfe öffentlicher Fördermittel, wie die integrierte Gesamtplanung und die Erprobung neuer, kommunikativer Steuerungsmittel entwickelt. Hier entwickelt sich eine neue Praxis, während die Handlungsstrategien, die aus dem marktwirtschaftlichen Deutungsmuster resultieren, an dem alten Rezept der Wirtschaftsförderung festhalten. Eine Akzeptanz von Schrumpfung ist innerhalb des marktwirtschaftlichen Deutungsmusters nicht denkbar, solange Wachstum die zentrale Norm darstellt.2 Es treten aber nicht nur Handlungsoptionen auf, die sich aus dem Kreislaufmodell verabschieden, sondern auch solche, die bemüht sind, den Kreislauf mittels Stadtgestaltung wieder in Schwung zu bringen. Man möchte den Schrumpfungsprozess bremsen bzw. neue Wachstumsimpulse setzen, etwa durch den Zuzug von so genanntem Humankapital. Dazu ein Zitat aus dem Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept: „Das Stadtentwicklungsprogramm verfolgt das Ziel, die Stadt insgesamt attraktiver zu gestalten und dass insbesondere für die Jugend aber auch für notwendige Zuzüge, die für eine nachhaltige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Stadt unerlässlich sind.“3
Der Anpassungsprozess an Wohnungsleerstand und Bevölkerungsrückgang zielt gleichzeitig auf die Attraktivitätssteigerung der Stadt, auf Imageverbesserung, auf Zuzug und letztendlich wieder Wirtschaftsförderung. Stadtumbau erscheint so als zweigleisige Handlungsoption: einerseits Anpassung an einen veränderten Entwicklungsmodus, nämlich Schrumpfen, andererseits der Versuch, den Entwicklungsmodus wieder 1 2
3
Faltblatt zum Stadtumbau der Stadt Chemnitz mit Interview des Oberbürgermeisters, Seite 5. Von dem Diskurs um eine Abkehr von quantitativem Wachstum hin zu qualitativem Wachstum, der besonders von Wirtschaftswissenschaftlern geführt wird, hat sich nichts in den von mir gesammelten Daten niedergeschlagen. Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 18-24.
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in Wachstum zu wandeln. Aus dieser Zweigleisigkeit resultieren entsprechend zweigleisige Programmatiken, die sich in schwer erschließbaren, formelhaften und zugleich höchst ambivalenten Formulierungen widerspiegeln: „Wir haben da ein Minus und auf der anderen Seite ein Plus. Wir müssen das Schrumpfen managen und gleichzeitig planen wir Wachstum.“4
Immer wieder wird die Hoffnung auf Zuzug, die Notwendigkeit von Zuzug für die lokale Wirtschaft thematisiert. Hier ein Zitat des Oberbürgermeisters auf einer Wahlkampfveranstaltung: „Aber, wir müssen, und das ist das Ziel, das erreichen wir mit guten Arbeitsplätzen, das erreichen wir mit mehr Aufenthaltsqualität in der Stadt, mit Infrastrukturentwicklung, mit vernünftigen Lebenshaltungskosten, wir müssen in zwei bis drei Jahren – und das kann man als Ziel so festhalten – an dem Punkt sein, wo insgesamt mehr Menschen nach Chemnitz ziehen, als von Chemnitz weggehen, und das ist nicht unrealistisch. (Klatschen)“5
Hier ist also so etwas wie das Festhalten an der Symbiose zu erkennen, während gleichzeitig in den Handlungen nach Alternativen gesucht wird.
Konkurrenz: Gründerzeit und Platte Die Notwendigkeit von Abrissen wurde im Beobachtungszeitraum von keinem Diskursteilnehmer bestritten. Konflikte ranken sich eher um die Frage wo, was und wie viel abgerissen werden sollte. Hinter diesen Konfliktlinien standen unterschiedliche Interessen sowie unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Wohnungen in welchen Teilen der Stadt verzichtbar wären. Im lokalen Diskurs brach dabei ein Konflikt auf, der sich als Konkurrenz von Gründerzeit und Großwohnsiedlungen darstellte. Bundesweit und so auch in Chemnitz konzentrieren sich die Abrisskonzepte auf die Großwohnsiedlungen. Hierfür gibt es mehrere Erklärungen. Vor allem wird auf die praktischen Vorteile verwiesen. Die Zahl der Verhandlungspartner ist gering, die Reichweite ihres Eigentums dafür groß. Ein weiterer Grund ist der ökonomische Druck, der ge4 5
Baubürgermeister Fischer in einem Vortrag auf den Chemnitzer Bau- und Verkehrfachtagen Nov. 2000, zitiert nach Forschungstagebuch. Tonbandprotokoll der Wahlkampfveranstaltung vom 04.06.2001, Zeilen103-108.
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rade auf den großen Wohnungsunternehmen lastet, die ihren Bestand vor allem in den Großwohnsiedlungen haben (vgl. u.a. Weiske 2005b: 211f.). Ich möchte die Konkurrenz von Gründerzeit und Großwohnsiedlung auf der kulturellen Ebene erklären, und zwar als Konflikt zwischen dem gestalterischen und dem lebensweltlichen Deutungsmuster. Dazu steige ich mit einem Beispiel ein, das ich unter dem Stichwort Stadtgestalt als Zirkuszelt bereits kurz angesprochen habe und hier noch einmal ausführlicher betrachten will, da ich es als Schlüsselszene für diesen Konflikt ansehe. Es handelt sich um die Auseinandersetzung zwischen einer Bewohnerin des Stadtteils Hutholz und den VertreterInnen des Amts für Stadtentwicklung. Das Gespräch fand auf Einladung der Bürgerinitiative Hutholz statt. Wie oben bereits erwähnt, entzündete sich ein Disput entlang der Interpretation einer Skizze im Integrierten Stadtentwicklungsprogramm im Abschnitt zum Stadtteil Hutholz. Sie betraf den so genannten „kalten Furz“, einen Bauabschnitt am äußeren Rand des Gebiets Hutholz Süd, in dem die Hälfte der vorhandenen Wohnungen als Rückbaupotenzial ausgewiesen wurde. Bewohnerin: „Zum Beispiel ist da eine Skizze, so eine Handskizze drin, da denke ich mir: na wieso denn nun gerade die Blase. Der kalte Furz heißt es im Volksmund. Dieser schön gelegene kalte Furz, der früher mal zu Neukirchen gehörte und jetzt schon lange in Chemnitz ist, hat auch seine Richtigkeit, wird auch nicht an Neukirchen zurückgegeben, soweit ich das kenne.“6
Abb. 26 zeigt die umstrittene Skizze, auf der die jetzige Gebäudestruktur nur noch im inneren Ring vorhanden ist, während im äußeren Ring eine neue kleinteilige Bebauung angedeutet wird. Die Schrift ist schon im Original klein und nicht lesbar, vermutlich entstammt sie weiteren nicht veröffentlichten Planungen. Die VerwaltungsmitabeiterInnen lehnten in der Diskussion zunächst ab, über konkrete Straßenzüge und Blöcke zu sprechen. Als die Bewohnerin noch einmal nachhakte, wurde indirekt auf die Nachfrage nach Einfamilienhäusern verwiesen und auf die Notwendigkeit, Flächen dafür anzubieten, um die Umlandwanderung zu bremsen. Diese Bemerkung blieb unverstanden, die Bewohnerin ging weiterhin von ihrer lebensweltlichen Perspektive aus, ein Auszug:
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Tonbandprotokoll vom 29.10.2001, Treffen von Mitarbeitern des Stadtentwicklungsamtes mit der Bürgerinitiative Hutholz, Zeilen 223-226.
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Abb. 26: Skizze zu Umbauvorstellungen im Bereich Hutholz Süd
Quelle: Stadt Chemnitz 2000: 95 zu B-436/2001 Hutholz „Bewohnerin: Aber trotzdem, hinter der Skizze haben Sie sich doch irgendetwas gedacht. Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: Und andererseits sind wir der Meinung, dass man eben die Bereiche am Rande der Stadt durchaus auch nutzen sollte, um andere Wohnformen, die ja auch nachgefragt sind, wir haben ja die großen Abwanderungstendenzen des Umlandes ja aufgezeigt... Bewohnerin: Aber wir sind ja im Umland, ... . Wir leben schon im Umland, praktisch... Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: ...Wir liegen ja schon halb an Neukirchen, wenn man es so sieht. Bewohnerin: Wenn Sie mir zwei Etagen runterbauen würden, würde ich dort bleiben. Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: ...der gesamtstädtische Ansatz. Also ich meine, wenn man an die Zahlen denkt, also 40.000 Wohnungen müssten bis zum Zeitpunkt der nächsten 15 Jahre verschwinden, muss man sich ja überlegen, gesamtstädtisch. Wir müssen gesamtstädtisch, wir müssen gesamtstädtisch denken. Das ist ja die Diskrepanz, die wir insgesamt haben. Muss man sich überlegen, ja wo kann ich verändern und in welche Richtung. Und da können Sie jetzt geistig mal die Gesamtstadt durchgehen in ihren Rändern, wie die sich im Einzelnen darstellt, wenn Sie so, wenn Sie die Gesamtstadt so im Kopf haben sollten, das hat nicht jeder unbedingt, aber dann kommt man eben zu dem Punkt: Heckert-Gebiet weit ins Umland ausgedehnt, ganze starke Annäherung an ländliche Siedlungsformen – Neukirchen... Bewohnerin: Sehen Sie es doch mal so: ich suche Luft... Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: Ja aber deswegen sage ich ja, gesamtstädtischer Ansatz. Und wir wissen auch, dass jede Stadt sich in die Mitte konfirmiert, verdichtet und am Rand ein Übergang zum Landschaftsraum kleinteiliger wird, niedriger auch noch und das ist praktisch so ein banaler, so ein relativ banaler Ansatz, ist das im Prinzip. Und wenn man durchgeht, das Bauge-
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biet Markersdorf, also das Baugebiet 7, elfgeschossige Annäherung an den Wald. Hier Hutholz, ich weiß nicht wieviel... Bewohnerin: Na 6-Geschosser. Kurz vor dem Wald sind es immer niedrigere. Mitarbeiter Stadtentwicklungsamt: Ja, aber Sie müssen, wenn Sie die Dichte Bebauungsdichte der Stadt anschauen würden, dann würden Sie sehen, dass die Annäherung des Heckert-Gebietes in seiner Dichte der Überbauung an Wald oder Siedlungsstrukturen, die kurioseste Annäherung ist. Bewohnerin: Da streite ich mich mit Ihnen aber. Weil im Hutholz, im Baugebiet 8-2, ich gehe mit Ihnen richtig ab, das Stückchen.....das ist echt nicht so. Da muss man doch blind sein, um das nicht zu sehen. Das haben Wohnungswirtschaftler die richtig Erfahrung haben aus West und Ost mir x-fach bestätigt, dass das diese, es ist doch nicht alles nur Scheiße gewesen. ... Die haben das terassenförmig an das Ländliche angepasst so dort. So kreisförmig. Dadurch ergibt sich dieser Ausblick.“7
So redeten beide völlig aneinander vorbei. Der Verwaltungsmitarbeiter interpretierte die beiden Perspektiven als eine kleinräumige und eine gesamtstädtische Perspektive. Hier standen sich aber nicht nur verschiedene Gebietsbezüge sondern auch verschiedene Wert- und Entwicklungsvorstellungen gegenüber. Auf der Ebene der Stadtgestalt ging der Verwaltungsmitarbeiter von einem Stadtmodell aus, dass vom Zentrum zur Peripherie hin in Höhe und Dichte abfällt. Der Stadtrand sei durch einen fließenden Übergang von Geschosswohnungsbau zu niedriggeschossiger Bebauung zu gestalten. Die Bewohnerin hatte andere Werte, ihr ging es um den Bestand ihrer Wohnung, um die ästhetischen und ökologischen Vorzüge dieser Wohnlage und – an anderer Stelle der Diskussion – um die Bezahlbarkeit eines solchen Wohnstandorts auch für niedrigere Einkommensgruppen. Die Planung von Einfamilienhäusern oder Reihenhäusern wird aus der lebensweltlichen Perspektive nicht als gestalterische Maßnahme interpretiert, sondern als Vertreibung sozial schwächerer Gruppen aus einer guten Wohnlage. Auf einer Bürgerversammlung im Hutholz rechnete eine andere Bewohnerin die Leerstandszahlen mit dem ausgewiesenen Rückbaupotenzial gegen und kam zu dem Schluss, dass mehr abgerissen werden soll, als leer stehe. „So, das heißt: in 909 Wohnungen wohnen jetzt hier noch Leute, die hier weg sollen! Warum sollen denn die hier weg? Na? Die sollen deswegen weg, weil das hier ne Stadtrandlage ist und weil es hier zu schön ist für den OttoNormalverbraucher! Starker Beifall. So, und dafür will die Stadt – und damit das nicht jeder gleich versteht, steht da drin: zugunsten kleinteiliger Siedlungs7
Ebd., Zeilen 239-287.
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formen. Das ist dann das Amtsdeutsch. So, das heißt aber, wenn man das nachrechnet: 10 unglückliche Familien für einen glücklichen Hausbesitzer! Das darf doch wohl nicht sein! ...“8
Dieser Vorwurf erscheint fast paradox, da hinter den sehr freien Planungen der Verwaltung eher die Vorstellung eines geringen Werts der vorhandenen Substanz steht. In den Prognosen ging man – wie oben dargestellt í von weiter steigenden Leerstandszahlen aufgrund der „Abstimmung mit dem Möbelwagen“ aus, bei dem die bessere Lage und die bessere Ausstattung der Gründerzeitgebiete gewählt werde. Die Plattenbauten wurden für kaum noch vermarktungsfähig gehalten. „Der Leerstand in der Platte hat seine Ursache darin, dass sich Mieter in einem marktwirtschaftlich organisierten System nicht zwangsweise in bestimmten Wohngebieten festhalten lassen, wenn es ein Angebot an beliebteren Wohnformen gibt. Damit bestehen in absehbaren Zeiträumen keine Möglichkeiten, die fernwärmeerschlossenen Gebäude in einigen Bereichen der Großwohnsiedlungen zu vermarkten.“9
Aus der Innensicht wurden gänzlich andere Bewertungen vorgenommen, die eben den Anforderungen an die Stadtgestalt aus lebensweltlicher Perspektive entsprechen. Dies sind vor allem die funktionalen Ansprüche an die Infrastruktur, ästhetische Ansprüche, die sich stark an Natursymbolen und an Ordnung und Sauberkeit festmachen, und an sozialen und ökologischen Kriterien des Wohnumfelds, sprich an Lebensqualität. Für andere Diskursteilnehmer erstaunlich war, dass die BewohnerInnen, zumindest jene, die auf den Versammlungen auftraten, ihre Anforderungen an Lebensqualität in der Großwohnsiedlung weitgehend als erfüllt ansahen. Die Wohnlage Gründerzeit wurde offen abgelehnt: „Wir wollen Ihnen den Brühl nicht belegen, wir wollen auch nicht auf den Sonnenberg oder den Kaßberg, wir wollen hier, die Leute, die noch hier sind, die wollen hier bleiben und die wollen hier auch nicht 10 Jahre warten, bis Sie sich entscheiden, dass Sie hier mal was machen, sondern die Leute, die Sie jetzt aus den Wohnungen rausbekommen wollen, die werden Ihnen alle sagen, wir wollen hier bleiben und wir wollen hier ne modernisierte Wohnung.“10
8
Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 20.11.2002, Zeilen 85-89. 9 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 559-563. 10 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002, Zeilen 560-565.
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Im weiteren Verlauf der Diskussion fielen Argumente gegen die Gründerzeitgebiete wie die Enge der Bebauung, die starke Einsehbarkeit der Balkone, die schlechte Ausstattung mit Einkaufsmöglichkeiten, mangelnde Parkplätze etc. Diese Argumente beziehen sich auf zentrale Vorstellungen des lebensweltlichen Deutungsmusters, so auch im folgenden Zitat: „Warum wollen wir eigentlich hier draußen bleiben? Draußen bleiben deswegen: Viele Leute ziehen aufs Land raus. Mir macht es Spaß mit meinem Enkel in den Wald (zu gehen, KG) ... Auf der anderen Seite, wo ist diese Anbindung, diese verkehrstechnische Anbindung so gut ausgereift? Wir haben Straßenbahn, wir haben Bus und wo ist die Versorgung mittlerweile so gut, im Vergleich zu anderen Stadtteilgebieten? Fahren Sie rein in den Kaßberg, suchen Sie dort ein Kaufland oder suchen Sie dort einen anderen großen Verkäufer, wie das hier draußen ist. Also von der Versorgung her wie wir hier draußen (unverst.) ist eigentlich alles bestens.“11
In diesem Zitat wird deutlich, dass aus der Perspektive des lebensweltlichen Deutungsmusters die Großwohnsiedlung als funktionierend erlebt wird. Daraus wird das Plädoyer für den Erhalt der Großwohnsiedlung abgeleitet. Die Argumente für den weitestgehenden Erhalt der Gründerzeitgebiete kommen aus dem gestalterischen Deutungsmuster, insbesondere aus der Vignette Konservierung. Sie orientieren sich an völlig anderen Wertvorstellungen und an anderen Vorstellungen von einer angemessenen Stadtgestalt. Der flächige Abriss wäre „für den überwiegenden Teil der Gründerzeitviertel städtebaulich indiskutabel“12, so die Verwaltung. Die städtebaulichen Ziele sehen anders aus. So schreibt der Baubürgermeister in einem Artikel: „So könnte in Chemnitz der erfolgreich begonnene Wandel von der grauen Plattenstadt, ohne gebaute Mitte, mit entleerten und zerfallenden Gründerzeitvierteln hin zu einer grünen und erfahrbaren Stadt, mit neuem Stadtzentrum, bewohnten innerstädtischen Quartieren fortgeführt werden.“ (Fischer 2002: 71)
Charakteristisch ist für den lokalen Diskurs, dass das Thema Konkurrenz von Gründerzeitvierteln und Großwohnsiedlungen von den Befürwor11 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 20.11.2002, Zeilen 192-201. 12 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 567-568.
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tern der Gründerzeit nicht offen thematisiert wird. Die Abwertung der Großwohnsiedlungen wird deutlicher ausgesprochen, wenn ein Diskursbeitrag nicht auf der lokalen Ebene gemacht wird. Das obige Zitat – das sich an eine überregionale Leserschaft wendet í taucht in abgewandelter Form im Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm wieder auf, diesmal ohne die Formulierung von der „grauen Plattenstadt“. Hier heißt es: „Mit dem vorliegenden Stadtentwicklungsprogramm soll der erfolgreiche Wandel von der Stadt ohne gebaute Mitte, mit entleerten und zerfallenden Gründerzeitvierteln und Gewerbebrachen hin zu einer grünen und erfahrbaren Stadt, mit neuem Stadtzentrum, bewohnten innerstädtischen Quartieren, einer innovativen Wirtschaft und einer Universität fortgesetzt werden.“13
Noch deutlicher wird die Abwertung bei Diskursbeiträgen im westdeutschen Kontext. Im April 2002 erschien ein Artikel über den Stadtumbau in Chemnitz in der Westdeutschen Allgemeinen (WAZ) aus Essen. Dieser Artikel wollte die Erfahrungen in Chemnitz und ihre Übertragbarkeit auf das Ruhrgebiet thematisieren. Hier heißt es: „Zwischen Chemnitz und dem Süden landete in den 80er Jahren ein Stück Pjöngjang. Die DDR baute das ‚Wohngebiet Fritz Heckertǥ, damals vergleichsweise modern, mit vergleichsweise gut ausgestatteten Wohnungen. Plattenbauten für 80 000 Menschen, seelenlose Moderne. 46 000 Menschen leben hier noch, nach Augenschein darunter viele Mühselige und Beladene, die Gewürgten, die Untüchtigen und die nicht mehr werktätigen Massen. In Hochhäusern, deren Schatten alles verdunkeln. Im Sommer sieht das bestimmt freundlicher aus; hofft man.“14
Dann setzte sich der Autor kurz mit der Innensicht der BewohnerInnen auseinander15 und schlussfolgerte: „Doch zwischen Heimatgefühlen eines Menschen und allgemeinen Ansichten von Schönheit besteht keinerlei Zusammenhang."16 Hier wird die Abwertung der baulichen Strukturen der ostdeutschen Großwohnsiedlungen deutlich. Der Artikel argumentiert außerdem stark über Bildsprache. Das Foto im Zentrum des Artikels, also der „Eye13 Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, September 2001, in der Datensammlung Zeilen 15-18. 14 Artikel „Einstürzende Neubauten“ in der WAZ vom 13.04.2002. 15 Der Autor des Artikels war zu Recherchen in Chemnitz und führte u.a. ein Gespräch mit der Bürgerinitiative Hutholz. 16 Ebd.
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Catcher“, zeigt im Vordergrund ein rostiges Straßenschild, das eine Achse auf einen unsanierten Block im Hintergrund legt wie ein Wegweiser oder Richtungspfeil. Das Schild verdeckt einen sanierten Block, der weiter vorne steht. Außerdem sind zwei weitere kleine Fotos abgebildet, die zueinander in Bezug stehen. Einmal ein Klingelbrett eines Blocks, verschmiert und mit nur noch wenigen Namensschildern belegt. Das zweite Foto zeigt ein Klingelschild auf dem Kaßberg. Es ist schräg fotografiert, so dass sich in dem blank polierten Metall ein sanierter Altbau spiegelt. Die Belegung ist aufgrund der Perspektive nicht zu erkennen. Das Arrangement der Fotos zeigt deutlich, dass der Fotograph sich bemüht hat, einen Gegensatz aufzumachen zwischen (fast) leeren, heruntergekommenen Blocks der Großwohnsiedlung und wieder hoffnungsvoll erstrahlenden Gründerzeithäusern. Die fotographische Inszenierung betont Verfall und Entleerung in der Großwohnsiedlung und ästhetisiert die historischen Bauten. Andere Stadtgebiete werden im gesamten Artikel nicht thematisiert. Wie ich an anderer Stelle mit Bezug auf die überregionale Presse herausgearbeitet habe (Großmann 2005), erfolgt diese Abwertung der Großwohnsiedlungen über drei Argumentationsstränge: Zum einen werden die Großwohnsiedlungen als städtebauliche Vorzeigeobjekte des DDR-Regimes thematisiert und damit historisch disqualifiziert. Zweitens werden Parallelen zu den Erfahrungen mit Großwohnsiedlungen in Westdeutschland gezogen – hier kurz über das Stichwort der „seelenlosen Moderne“. Die Abwertung der westdeutschen Großwohnsiedlungen als soziale Brennpunkte, als „Ghetto“, wird übertragen. Und drittens werden die Großwohnsiedlungen über die Beschreibung ihrer BewohnerInnen abgewertet, die als Dinosaurier der Geschichte dargestellt werden, als die ehemaligen Lieblingskinder des DDR-Regimes, die in der neuen Gesellschaft nicht angekommen sind, arbeitslos und sinnentleert. Im Zitat oben ist die Abwertung über die Beschreibung der Personen sehr plastisch. Die Abwertung der Großwohnsiedlung aus gestalterischer Sicht folgt also den innerhalb dieses Deutungsmusters vorhandenen Werten und Vorstellungen von der materiellen Stadtgestalt, in der die Großwohnsiedlungen als zu korrigierender städtebaulicher Fehler gelesen werden, die Gründerzeitbebauung hingegen als historisch wertvolle, erhaltenswerte Strukturen. Außerdem wird aus der Perspektive des marktwirtschaftlichen Deutungsmusters eine große Differenz des Wertes beider Strukturen am Markt behauptet. Zu den 2. Chemnitzer Bau- und Verkehrsfachtagen resümiert der Vertreter des Sächsischen Innenministeriums Schulz, dass Abriss in der Gründerzeit eine Störung in der Stadt205
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struktur bewirken würde. Die Platte sollte man dagegen abreißen, denn sie sei nicht wettbewerbsfähig sowie touristisch und für das Stadtbild nicht interessant.17 Die oben bereits zitierte Bewohnerin analysierte dagegen, dass die Wohnungen gar nicht am Markt angeboten würden. Der Leerstand sei also nicht auf geringe Nachfrage zurückzuführen. „Wenn ich in die GGG reingehe und sag ich will eine Wohnung, wie sieht es mit Hutholz aus und in den Computer gucke, was steht denn da? – Nicht eine Wohnung wird angeboten! Und wenn ich nachfrage: Warum? – na nur die sanierten Wohnungen stehen in unserem Computer. Und dann wird uns vorgeworfen, dass die Mieter hier weggehen. Das kann nicht wahr sein!“18
Auf der Grundlage der großen Wertschätzung für ihren Stadtteil argumentierten die BewohnerInnen selbst auch marktwirtschaftlich, indem sie eine Konkurrenz zwischen der vorhandenen Bebauung und Einfamilienhausnachfragern um den wertvollen Standort am Stadtrand unterstellten. Die Bewohnerin schloss ihr Statement mit den Worten: „Wir bleiben hier im Hutholz im grünen Stadtteil. Und wir machen keinen Platz für Eigenheime, wir denken gar nicht dran."19 Wie repräsentativ diese Aussagen für die gesamte Bewohnerschaft der Großwohnsiedlung Fritz Heckert sind, lässt sich aus den gesammelten Daten nicht ableiten. Von den BewohnerInnen äußerten sich nur solche, die sich mit der Großwohnsiedlung als Lebensraum und mit dem eigenen Wohnumfeld soweit identifizieren, dass ein Wegzug nicht in Betracht käme.
Zusammenfassung Es lässt sich Folgendes resümieren: Die Konzentration der Abrissbemühungen ist nur teilweise über pragmatische Argumente wie die Konzentration des Bestands in den Händen weniger Eigentümer oder die drohende Insolvenz dieser großen Eigentümer erklärbar. Auch in den Gründerzeitvierteln stehen Eigentümer vor dem finanziellen Ruin und die städtische Wohnungsgesellschaft besitzt hier größere Bestände. Ebenso wenig ist über pragmatische und ökonomische Argumente die Nicht-Thematisierung anderer Bausubstanzen, etwa aus der Zwischenkriegszeit oder aus den 1950er Jahren, zu erklären. Eine ebenso große 17 Forschungstagebuch, Eintrag vom 18.10.2000. 18 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 20.11.2002, Zeilen 100-105. 19 Ebd., Zeilen 118-120.
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Rolle wie diese Argumente spielt die Bewertung der Bausubstanz aus dem jeweils zugrunde liegenden Deutungsmuster der handelnden Akteure heraus. Im lebensweltlichen Deutungsmuster finden sich Erhaltsforderungen für den eigenen Wohnstandort, sei dies nun eine Großwohnsiedlung oder ein gründerzeitliches Quartier. Die lebensweltlichen Argumente pro Erhalt der Gründerzeitviertel berufen sich auf einen gesellschaftlichen Konsens, auf den historischen und ästhetischen sowie (potenziellen) marktwirtschaftlichen Wert der Bausubstanz und auf die allgemeine Bedeutung des Wohngebiets für die Gesamtstadt. Damit wird an die Positionen und Argumente von EntscheidungsträgerInnen angeknüpft, die andere, vor allem aus gestalterischer oder marktwirtschaftlicher Perspektive vertreten. Lebensweltliche Argumente pro Großwohnsiedlungen können kaum an Argumente anderer Diskursgemeinschaften anknüpfen, insbesondere nicht an die der Diskursgemeinschaften der EntscheidungsträgerInnen, etwa der Verwaltung oder der KommunalpolitikerInnen. Sie müssen sich zunächst als Diskursgemeinschaft formieren, ihre Argumente sammeln und abstimmen und Sprecherpositionen im öffentlichen Diskurs finden oder durch die Gesprächsangebote beziehungsweise –aufforderungen selbst initiieren. Die Argumentationen werden über die Funktionalität des Wohngebiets und die Vorteile des Standorts „Stadtrand“ geführt, weniger über Verwurzelung und Gewohnheit – wie dies von anderen Diskursteilnehmern antizipiert und uminterpretiert wird. Die Argumente werden í so sie überhaupt auf Verständnis treffen – kaum anerkannt und teilweise für ungültig erklärt, was sich sowohl in der Abwägung der Stellungnahmen im Abwägungsbeschluss zum förmlichen Beteiligungsverfahren als auch in den vor allem überregionalen Medienberichten ausdrückt. Die Frage danach, welche Bausubstanz abzureißen sei, wurde zum Auslöser einer offenen Konkurrenz zwischen zwei Bausubstanzen bzw. zwischen den Befürwortern ihres Erhalts oder ihres Abrisses. Dabei ist deutlich eine legitime bzw. Mehrheitsposition von einer marginalisierten bzw. Minderheitsposition zu unterscheiden. Die BewohnerInnen versuchten sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden diskursiven Mitteln Gehör zu verschaffen. Diese sind alle wenig legitimierte Sprecherpositionen, die Entscheidungen nur indirekt beeinflussen können. Die Entscheidungen wurden vielmehr im Stadtrat und in seinen Ausschüssen getroffen, hier haben BewohnerInnen kein Rederecht, auch wenn die aufgeheizte Stimmung zu Zwischenrufen aus dem Publikum führte. Die Stadträte könnten in ihren Entscheidungen beeinflusst werden, durch Information und Forderungen mit dem – wiederum indirekten – Druckmittel der Stimmabgabe zur nächsten Stadtratswahl. Die Ver207
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waltung, die inhaltlich über ihre Beschlussvorlagen und die Ausgestaltung der Ausschusssitzungen steuert, räumte durch ein formales Verfahren der Bürgerbeteiligung Sprecherpositionen für alle ein, die sich äußern wollten. Die Entscheidung über die Einwendungen wurde jedoch wieder von der Verwaltung inhaltlich vorbereitet und vom Stadtrat getroffen, ein erneutes Einspruchsrecht – also eine tatsächliche Auseinandersetzung – gab es nicht. Die Eigentümer, die letztlich über die konkreten Maßnahmen entscheiden, sind am direktesten zu beeinflussen, nämlich über Umzugsdrohungen oder die Verweigerung der Kooperationsbereitschaft bei Abrissmaßnahmen. Auf selbst initiierten Podien fand zunächst eine Selbstvergewisserung über die eigenen Ziele und Möglichkeiten statt, gemeinsam zu vertretende Argumente wurden gesammelt, es formierte sich eine Diskursgemeinschaft und wählte ihre diskursive Elite, die Sprecher. Die Abgrenzung zu anderen Diskursgemeinschaften wurde vollzogen, insbesondere zur Verwaltung. Zu diesem Abgrenzungsprozess siehe auch Großmann und Nolting 2004. Im Weiteren wurden Möglichkeiten der Einflussnahme erkundet, Protestformen erprobt, etwa Unterschriftensammlungen, Stellungnahmen, Präsenz bei Entscheidungsprozessen. Öffentliche Podien wurden arrangiert, die Sprecherpositionen eröffnen und dazu VertreterInnen anderer Diskursgemeinschaften geladen, vor allem VertreterInnen der Verwaltung, der Wohnungswirtschaft und Stadträte. Auf der Suche nach Verbündeten werden diskursive Koalitionen mit VertreterInnen des integrativen Deutungsmusters eingegangen. Hier erfuhr die lebensweltliche Perspektive Unterstützung. In Stellungnahmen wurden von VertreterInnen des integrativen Deutungsmusters weitere Argumente zur Erhaltung der Großwohnsiedlungen angeführt – ihre bauliche Dichte als ökologisches Gut zur Vermeidung von Flächenversiegelung, ihre gute ÖPNV-Anbindung etc. Diese Sprecher forderten eine kreative, sozial und ökologisch orientierte Umgestaltung ein, die als ökonomische Effekte sowohl eine Reduzierung des Wohnbestands als auch eine Aufwertung des Wohngebiets und der Bausubstanz selbst haben könnte. Außerdem forderten sie eine Teilhabe an Entscheidungs- und vor allem auch Planungsprozessen. VertreterInnen des integrativen Deutungsmusters wie die Lokale Agenda oder die Initiative Demokratie in Chemnitz initiierten öffentliche Podien und luden weitere Sprecher ein, die inhaltlich und in Bezug auf Planungsverfahren die eigenen Argumente unterstützten und dabei stärker legitimierte und anerkannte Sprecherpositionen innehatten. Diese Sprecher kamen teils aus ähnlichen Berufsfeldern wie die Diskursgegner
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vor Ort, nämlich Architekten, Planer und VerwaltungsmitarbeiterInnen aus anderen Städten. Gerade aufgrund dieser Sprecherschaften wirkte die integrative Perspektive vermittelnd zwischen gestalterischer und lebensweltlicher Perspektive. Professionelle, Universitätsangehörige, selbständige Planer und Designer, die aus integrativer Perspektive argumentieren, sind in Berufsverbänden und Netzwerken organisiert und haben damit Kontakt zu weiteren nationalen Diskursgemeinschaften, die zum Mainstream des Stadtumbaudiskurses alternative Sichtweisen auf das Thema entwickeln, etwa im Werkbund oder in der Fachdiskussion der Stadt- und Regionalsoziologie. Unterstützung erfuhren die Forderungen nach weitestgehendem Erhalt der Großwohnsiedlung auch von einem „Ausreißer“ der wohnungswirtschaftlichen Diskursgemeinschaft, nämlich der Wohnungsgenossenschaft (WG) Einheit, deren Bestand ausschließlich in der Großwohnsiedlung zu finden ist. Der Geschäftsführer ging aus ökonomischen Motiven in offene Opposition zur Verwaltung und ihren Konzepten und vertrat diese Position auch überregional bei Vorträgen. Diese Koalition war rein interessengeleitet und hatte wenig mit gemeinsamen Vorstellungen von Stadtentwicklung zu tun. Der Geschäftsführer wandte sich gegen die Fokussierung des Diskurses auf Abrissmaßnahmen in der Großwohnsiedlung, verweigerte die Kooperation mit der Verwaltung, indem die Genossenschaft nicht der Stadtumbau GmbH beitrat. Damit demonstrierte die WG Einheit auch gegenüber den Mietern eine Distanz zu den verhandelten Konzepten und Plänen und rief selbst zu weiteren Stellungnahmen auf. Obwohl – oder gerade weil í die WG Einheit schon damals durch Abriss, Wohnungsvergrößerung und Umnutzung wesentlich zur Verringerung des Wohnraumangebotes in der Großwohnsiedlung beigetragen hatte, wurde sie zum Inbegriff des guten Vermieters, der für Stabilität und Erhalt steht. Der Geschäftsführer – ein ausgesprochener Vertreter des marktwirtschaftlichen Deutungsmusters – wird zum Local Hero der BewohnerInnen. Keine beobachtbare Beziehung wurde dagegen zu einem weiteren Fürsprecher der Großwohnsiedlung aufgebaut, dem Vertreter des rationalen Deutungsmusters. Die starke Argumentation pro Erhalt der Großwohnsiedlungen aus der Perspektive des rationalen Deutungsmusters hatte insgesamt kaum einen beobachtbaren Einfluss auf den weiteren Verlauf des Diskurses. Die Sprecherposition des Hauptvertreters war im Beobachtungszeitraum von Isolation gekennzeichnet.
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Isolation: Rationales Deutungsmuster Das rationale Deutungsmuster scheint diskursiv nicht anschlussfähig zu sein und stand im Beobachtungszeitraum isoliert, man setzte sich mit dieser Logik kaum auseinander und griff sie nicht auf. Diese Isolation hat Gründe sowohl auf der Deutungsebene als auch auf der Ebene von Akteursbeziehungen. Auf der Deutungsebene sind zunächst die völlig konträren Wertvorstellungen vor allem zum gestalterischen und zum marktwirtschaftlichen Deutungsmuster zu nennen. Zwar finden sich beispielsweise Parallelen zum integrativen Deutungsmuster, aber hier stehen sich Kontrahenten gegenüber. Auf der einen Seite ein ehemaliger EntscheidungsträgerInnen der DDR-Administration und auf der anderen Seite Akteure, zu deren Selbstverständnis die Opposition gegen den DDR-Staat gehört. Zum gestalterischen Deutungsmuster gibt es kaum Berührungspunkte, aber sehr viele Gegensätze. Die Konflikte zwischen diesen beiden Deutungsmustern liegen in Quadrant I und II, in den unterschiedlichen Wert- und Entwicklungsvorstellungen begründet. Gestaltung hat im rationalen Deutungsmuster keinerlei Steuerungsfunktion. Während Ästhetik bzw. gutes Design ein Grundwert des einen Deutungsmusters ist, spielt dies im anderen gar keine Rolle. Diese unterschiedlichen Lesarten reichen bis in die Verästelungen des Diskurses, etwa bis zur Diskussion um Balkonumbauten in der Großwohnsiedlung. Im gestalterischen Deutungsmuster wird mit solchen Sanierungsmaßnahmen in den Großwohnsiedlungen auch ein Aufbrechen der einheitlichen Fassadengestaltung, also eine Verbesserung des Designs beabsichtigt. Im rationalen Deutungsmuster haben Balkonsanierungen entweder das Ziel, die Wohnbedürfnisse der BewohnerInnen – mit effektivem Aufwand – zu befriedigen oder technische Mängel zu beheben. Die Durchführung von Balkonanbauten oder -sanierungen wird entlang von Kostenfaktor und technischer Qualität diskutiert, nicht entlang von gestalterischen Überlegungen. Hier geht es rein um die effiziente Erneuerung der Balkone, die Aufrechterhaltung ihrer baulichen Funktion, nicht um Ästhetik, nicht um die Fassadengestaltung und auch nicht um das Erscheinungsbild des Quartiers. Die Unempfindlichkeit gegenüber hegemonialen Auffassungen von Ästhetik und von kulturellem Wert historischer Bausubstanz verhindert die Auseinandersetzung, weil sich hier konträre Wertvorstellungen gegenüber stehen. Diese Werte werden von den übrigen Deutungsmustern bzw. ihren VertreterInnen geteilt, zumindest verstanden und toleriert.
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Ein weiteres Beispiel für völlig gegensätzliche Wertauffassungen ist die Diskussion um die Erhaltung historischer Fabrikgebäude durch Umnutzung in Loft-Wohnungen. Was aus den anderen Perspektiven als Erhaltung von Identität und baulichen Zeitzeugen der Stadt, als Attraktivitätssteigerung, als Gewinn an Vielfalt der Wohnformen und als Ausdruck für Individualität gelesen wird, ist aus rationaler Perspektive „Unfug“, also im wörtlichen Sinne sinnloses Handeln. Der ehemalige Leiter des Stadtbauamts argumentiert in seiner Stellungnahme, dass so nur unnötigerweise weitere neue Wohnungen geschaffen würden. Obwohl die Kritik von Wohnungsneubau allgemein die Zustimmung von VertreterInnen des integrativen Deutungsmusters erfahren dürfte, ist die diskursive Anknüpfung durch die völlig konträre Wertzuschreibungen auf baulich-kultureller Ebene verbaut, wenn die Gründerzeitgebäude als überlebt, ihre Fassaden als fragwürdig abqualifiziert werden. Das lebensweltliche Deutungsmuster mit seiner stark funktionalen Prägung steht dem rationalen noch am nächsten, allerdings nur mit Blick auf die Großwohnsiedlungen. Insbesondere das Plädoyer gegen einen Abriss in den Großwohnsiedlungen müsste verbindend wirken. Dieser starken Interessensgleichheit stehen eigentlich keine wesentlichen Konflikte in Werthaltungen, Zielsetzungen oder Handlungsvorschlägen gegenüber. Die stärkste Differenz könnte noch in den Vorstellungen von Akteursrollen zu finden sein, wo einmal die ExpertInnen und einmal die BewohnerInnen stärker in die Gestaltung des Prozesses involviert werden sollten. Für mich war aber kein Kontakt zwischen dem Vertreter des rationalen Deutungsmusters und der Diskursgemeinschaft der BewohnerInnen bzw. Bewohnerinitiativen beobachtbar. Das mag daran liegen, dass die Isolation durch andere Diskursgemeinschaften hier distanzierend wirkte. Die Verwaltung reagierte im Prozedere der Abwägung aller Stellungnahmen auch auf die des ehemaligen Bauaufsichtsamtleiters. Dabei wird ihm eine planwirtschaftlich restriktive Vorstellung von Wohnungspolitik unterstellt und aus marktwirtschaftlicher Perspektive entkräftet. Der Tonfall lässt eine latente Herablassung spüren: „Der Leerstand in der Platte hat seine Ursache darin, dass sich Mieter in einem marktwirtschaftlich organisierten System nicht zwangsweise in bestimmten Wohngebieten festhalten lassen, wenn es ein Angebot an beliebteren Wohnformen gibt. Damit bestehen in absehbaren Zeiträumen keine Möglichkeiten,
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die fernwärmeerschlossenen Gebäude in einigen Bereichen der Großwohnsiedlungen zu vermarkten.“20
Auch im eigenen Berufsfeld – unter den PlanerInnen und VerwaltungsmitarbeiterInnen – fand der ehemalige Bauaufsichtsamtsleiter kein Gehör. Sprecherpositionen wurden ihm teilweise verweigert. Mehrmals habe er Vorträge und Statements angeboten, beispielsweise auf den Chemnitzer Bau- und Verkehrsfachtagen, doch sei dies immer abgelehnt worden. Die einzige Einladung zu einer öffentlichen Äußerung kommt von der Lokalzeitung.21 Hier wird diese Perspektive mit der des Geschäftsführers der Stadtumbau GmbH kontrastiert und auf Pro und Kontra Abriss von Plattenbauten gemünzt. Über die Motivation der Lokalzeitung für diese Veröffentlichung kann man spekulieren, am plausibelsten erscheint mir, dass sich kein anderer professioneller Experte vor Ort so plakativ und deutlich für den Erhalt der Großwohnsiedlung und für den Abriss von Gründerzeitstrukturen einsetzte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die rationale Perspektive weder auf der inhaltlichen noch auf der Beziehungsebene im Beobachtungszeitraum integrationsfähig war. Daher blieben diese Logik und auch ihr Vertreter isoliert.
Neue Diskursgemeinschaft: Wohnungswirtschaft und Planungspraktiker Im Folgenden will ich die Rolle der Wohnungswirtschaft im Diskurs beleuchten, die ja erheblich zu dessen Zustandekommen beigetragen hat. Dieses Kapitel steht, das sollte hier noch einmal betont werden, empirisch auf schmaler Basis, denn ein Großteil des Diskurses, an dem sich die Wohnungswirtschaft beteiligte, fand nicht öffentlich statt. Öffentlich sind vor allem überregionale Beiträge, auf der lokalen Ebene waren nur einzelne Eigentümer auf den von mir beobachteten Podien vertreten. Die meisten öffentlichen Beiträge zum Chemnitzer Diskurs stammen von der Wohnungsgenossenschaft Einheit, die sich sowohl auf Fachveranstaltungen als auch in Ausschüssen des Stadtrats, auf Diskussionsveranstaltungen und mit eigenen Publikationen beteiligte. Der Arbeitskreis Wohnen tagte nicht öffentlich und auch die Vorbereitung und Gründung 20 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 559-563. 21 Zumindest handelt es sich hierbei um die einzige von mir im Beobachtungszeitraum festgehaltene Aufforderung zu einem Diskursbeitrag.
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der Stadtumbau GmbH wurden eher von der Öffentlichkeit abgeschirmt.22 Der Geschäftsführer der kommunalen Wohnungsgesellschaft GGG, der Mitglied der Leerstandskommission war, äußerte sich – im Beobachtungszeitraum auf nur zwei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen. Bei den wenigen öffentlichen Beiträgen fällt zweierlei auf: Das erste Charakteristikum ist eine starke Übereinstimmung der Argumente mit denen der Verwaltung. Das betrifft Stichworte wie die Abstimmung mit dem Möbelwagen oder der Verweis auf gesamtstädtische Interessen, die Aufmerksamkeit auf infrastrukturelle Probleme und auf Szenarien der Bevölkerungsentwicklung. Der Geschäftsführer der GGG widmete diesen Fragen die ersten beiden Drittel seines Eingangsstatements auf der Bewohnerversammlung im Brennpunkt Hutholz, bevor er zu Fragen der Wirtschaftlichkeit in seinem Unternehmen und den mit Spannung erwarteten Abrissplänen kam.23 Dies entspricht exakt dem argumentativen Muster, mit dem der Baubürgermeister und auch die MitarbeiterInnen des Stadtentwicklungsamtes ihre Beiträge aufbauten. Auch der einzige Beitrag des Geschäftsführers der Stadtumbau GmbH in der Lokalpresse bediente diese Argumente in ähnlicher Reihenfolge. Dies spricht entweder für starken Konsens oder für starke Hierarchien, in jedem Fall ist es ein Zeichen für eine soweit gediehene gemeinsame Kommunikation, dass sich das Muster der Argumentation verfestigt hat. In der Kommunikation von Wohnungsunternehmen und Baudezernat, die zu Beginn des Beobachtungszeitraums seit mindestens einem Jahr läuft, könnte sich eine Art neuer Diskursgemeinschaft gebildet haben, was sich nun in ähnlichen Beiträgen äußert. Für diese Interpretation spricht, dass auch die Verwaltung die wirtschaftliche Sicht der großen Eigentümer in ihre Beiträge integrierte. Für die Hierarchie-These spricht die Abhängigkeit der Wohnungswirtschaft von der Verwaltung. So sind Handlungsoptionen der großen (und auch der kleinen) Eigentümer an Kredite gebunden. Die Banken wiederum koppelten ihre Kreditzusagen an die Existenz von langfristigen Entwicklungskonzepten für die Stadt. Kredite werden nur vergeben, wenn die zu finanzierenden 22 Zur Podiumsdiskussion zum Thema Bürgerbeteiligung am Stadtumbau erhielt ich als Mitveranstalterin beispielsweise die Auskunft, dass die Stadtumbau GmbH noch nicht zu öffentlichen Äußerungen bereit sei, während die Verwaltung das Thema Bürgerbeteiligung bereits öffentlich an die Stadtumbau GmbH delegierte. Auf einer Veranstaltung der IHK wurde ein Kollege gebeten, das Tonband während des Beitrags des designierten Geschäftsführers der Stadtumbau GmbH auszuschalten und seine Aussagen nicht zu verwenden. 23 Tonbandprotokoll der Bürgerversammlung Hutholz vom 09.04.2002.
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Maßnahmen mit diesen Konzepten übereinstimmen, also beispielsweise Modernisierungsmaßnahmen in als stabil eingeschätzten Gebieten vorgenommen werden sollen. Umgekehrt betonten auch Sprecher der Verwaltung immer wieder ihre Abhängigkeit von den Entscheidungen der Eigentümer, denen man in einer freien Marktwirtschaft keine Weisung geben könne, welche Bestände sie abreißen sollten. Dass der Arbeitskreis Wohnen im Sachstandsbericht zum Stadtumbau mit Details wie Teilnehmer, Aufgabengebiet und Tagungsmodalitäten vorgestellt wurde, weist auf eine Institutionalisierung dieser Kommunikationsstruktur hin, vgl. das Kapitel zum Stadtumbaudiskurs. Das zweite Charakteristikum der Beiträge der Wohnungswirtschaft ist, dass sie trotz vielfältiger Kommunikation und Handlungen im Diskurs keinen eigenen Beitrag zur Deutungsarbeit am Ereignis erkennen lassen. In der eigenen Themensetzung herrschten die konkret privatwirtschaftlichen Forderungen vor, allgemeine Äußerungen zur Stadtentwicklung waren selten und erschienen wenn dann unisono mit dem Baudezernat. Nach meiner Interpretation übernahm die Wohnungswirtschaft die Argumentationen, die Analysen und die Deutungen in großen Teilen von den PlanungspraktikerInnen, in Chemnitz vor allem vom Baudezernat. Da die Wohnungsunternehmen einen großen Teil ihres Eigentums in den Großwohnsiedlungen haben, hätte man erwarten können, dass sie eine Koalition mit VertreterInnen des lebensweltlichen Deutungsmusters oder anderen Akteuren, die ein Interesse am Erhalt der Plattenbauten haben, gesucht hätten. In Chemnitz kam eine solche Koalition nicht zustande. Eine Ausnahme bildet die WG Einheit, wie oben beschrieben. Der designierte Geschäftsführer der Stadtumbau GmbH argumentierte sogar, die Großwohnsiedlung habe eine schlechte Infrastruktur24 – völlig im Gegensatz zur lebensweltlichen Perspektive, die gerade die gute Infrastruktur der Gebiete hervorhebt. Zur Überprüfung dieser überraschenden Ergebnisse habe ich die zahlreichen Stellungnahmen des Gesamtverbands der Wohnungswirtschaft (GdW) konsultiert. Sie unterstützen den Eindruck, dass die Wohnungswirtschaft den Diskurs aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen zwar beschleunigt hat, jedoch ohne wesentlich in die Deutungsarbeit einzugreifen. Die (überregionalen) Argumente der Wohnungswirtschaft beziehen sich rein auf ihre wirtschaftliche Situation und fordern Hilfen in Form von Fördermitteln oder der Streichung finanzieller Belastungen wie etwa der Altschulden, der Belastungen aus Negativrestitution oder 24 Freie Presse vom 06.02.2002, Pro und Kontra Abriss der Platte.
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dem Erlass der Grunderwerbssteuer bei der Fusion von Wohnungsunternehmen bzw. Genossenschaften. Selbst in die Debatte, was abgerissen werden soll, schalten sich die Stellungnahmen des GdW nicht mit Nachdruck ein. Die Ausführungen widersprechen sich teilweise. Einerseits geht man widerspruchslos davon aus, dass sich die Abrisse auf die Großwohnsiedlungen in Plattenbauweise konzentrieren werden: „Obwohl an den meisten Altbauten bereits seit 60 Jahren nichts mehr getan worden ist, wird es nach Einschätzung des GdW Abrisse im Althausbestand nur ausnahmsweise geben. Die Altbauten í welcher Qualität auch immer – befinden sich in aller Regel in den Kernstädten, die im Interesse der innerstädtischen Entwicklung revitalisiert werden müssen. Auch steht ein Teil der Altbauten unter Denkmalschutz. GdW-Präsident Jürgen Steinert: ‚Der zur Marktbereinigung unvermeidliche Abriss wird sich daher vor allem auf die bisher noch nicht modernisierten Plattenbauten konzentrieren müssen. Punktuell wird man nicht umhinkommen, auch modernisierte Platten abzureißen, weil sie auf Grund des Überangebots am Teilmarkt und der sich weiter verändernden Wohnbedürfnisse nicht mehr nachgefragt werden. Es gibt auf Dauer mehr Wohnungen als Menschen.ǥ “ (GDW 2000a)
An anderen Stellen wird argumentiert, dass sich die Abrisse nicht auf die Platte konzentrieren dürften z.B.: „Im Rahmen einer ‚sozial akzeptablen Stadtentwicklungǥ (Hervorhebung im Original, KG) dürfe sich der Abriss nicht nur auf die Platte und die Aufwertung nicht auf eine spezielle Gebietskulisse in den Innenstädten konzentrieren. Vielfach sei eine Sanierung der extrem verfallenen Altbauten wirtschaftlich nicht machbar, während modernisierte Plattenbauten ein akzeptables Mietniveau aufwiesen und nach wie vor von den Bürgern angenommen würden.“ (GDW 200b)
Die Position der Wohnungswirtschaft zum Thema Stadtentwicklung lehnt sich also – nicht immer in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen – an die gestalterische Perspektive an. Ich interpretiere dies sowohl als Ausdruck von Abhängigkeiten (Formulierung von Integrierten Stadtentwicklungsprogrammen als Voraussetzung für Fördergelder) als auch als Ausdruck einer kommunikativen Situation, in der sowohl die PlanungspraktikerInnen als auch die Wohnungswirtschaft Positionen der Kommunikationspartner zu den ihren machen. Die rhetorisch/fachlich stärkeren Partner in Sachen Deutungsarbeit sind klar die PlanungspraktikerInnen, die offenbar auch im Dialog in der Lage sind, die Ziele für Stadtentwicklung zu bestimmen.
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Die Wohnungsunternehmen vertreten eine Perspektive die am ehesten als eine privatwirtschaftliche Perspektive zu bezeichnen ist, die sich aber nicht als Deutungsmuster für Stadtentwicklung formiert. Mit einer anderen Datenbasis – beispielsweise qualitativen Interviews í wäre evtl. ein anderes, ein genaueres Ergebnis möglich gewesen. Nach den Kriterien von Schwab-Trapp deutet sich also eine Diskursgemeinschaft zwischen PlanungspraktikerInnen und Wohnungswirtschaft an, da ein gemeinsames Repertoire an Argumenten benutzt wird. Ob diese Diskursgemeinschaft zukünftig Bestand hat, ist an dieser Stelle nicht abzuschätzen.
Unvereinbare Vorstellungen: Marktabhängigkeit oder Interdependenz? Zwei völlig konträre Logiken, die zudem von einander ausschließenden Akteursgruppen vertreten werden, stehen sich mit marktwirtschaftlichem und integrativem Deutungsmuster gegenüber. Dabei wird diese Unvereinbarkeit in meinem Material nur aus der Perspektive des integrativen Deutungsmusters geäußert. Ich verweise hier noch einmal darauf, dass ich im Material eher wenige Sprechakte von expliziten Wirtschaftsakteuren habe, siehe Fehlerbetrachtung im Methodenkapitel. Hier stehen sich ein hegemoniales Deutungsmuster und eine Minderheitenposition gegenüber. Das marktwirtschaftliche Deutungsmuster wird von vielen Diskursteilnehmern, und insbesondere von direkten EntscheidungsträgerInnen, explizit vertreten oder zumindest breit akzeptiert. Durch die Symbiose mit dem gestalterischen Deutungsmuster stehen weitere Diskursteilnehmer bzw. -gemeinschaften hinter den marktwirtschaftlichen Vorstellungen. Das marktwirtschaftliche Deutungsmuster steht also nicht unter Legitimierungsdruck, im Gegenteil, das Zitat im obigen Kapitel zur Ablehnung der Stellungnahme des ehemaligen Bauaufsichtsamtsleiters zeigt, dass der Rückgriff auf die marktwirtschaftliche Logik zur Legitimierung weiterer Entscheidungen benutzt werden kann. Aus der Perspektive des integrativen Deutungsmusters wird nun – insbesondere von den zivilgesellschaftlichen Akteuren – die Gültigkeit der Grundannahmen des marktwirtschaftlichen Deutungsmusters in Frage gestellt. Die Grundannahme, dass der Markt alle Entwicklung positiv steuere, sei falsch und führe zu falschen Prioritätensetzungen in der Politik. Das Integrierte Stadtentwicklungsprogramm wird in diese Denktradition eingeordnet und damit grundsätzlich kritisiert:
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„Der vorliegende Entwurf ist ein Dokument des Scheiterns liberalistischer Konzepte des freien Marktes bezüglich der Stadtplanung einerseits, der Unzulänglichkeit staatlicher und kommunaler Versuche zur Regulierung ebenjenes Marktes andererseits, solange die Prämissen privater Verwertungsinteressen höher eingestuft werden als vernünftige (wenn auch nicht immer populäre) Prämissen der Nachhaltigkeit. ... Die Lobby der Bausparkassen wie auch das Klischee vom Konjunkturmotor Bauwirtschaft sind aber stark genug, um Mandatsträger aller Färbung zu veranlassen, sich über solche rationalen Argumente wirkungsvoll hinwegzusetzen.“25
Die Logiken, Handlungsempfehlungen, Entwicklungsziele und Wertvorstellungen beider Deutungsmuster sind verschieden bis konträr. Wird aus marktwirtschaftlicher Perspektive alle Entwicklung als vom Markt ausgehend betrachtet und somit alle Stadtentwicklung als abhängige Variable der Marktentwicklung verstanden, wird genau diese Annahme aus integrativer Perspektive bestritten. Die marktwirtschaftlichen Argumente werden angezweifelt und demontiert, hier am Beispiel der Wohnungsmarktbeobachtung, auf der die Konzepte der Verwaltung aufbauen und mit der Richtungsentscheidungen begründet werden: „Als ‚Abstimmung mit dem Umzugswagenǥ wird die Abwanderung ins Umland bezeichnet und ‚der eingetretene Suburbanisierungsprozessǥ wie ein unausweichliches Naturereignis registriert. Verschwiegen wird dabei, dass es sich um politisch gewollte und gelenkte Vorgänge handelt und die so genannte ‚Abstimmungǥ von massivem Wahlbetrug in Form von Bausparprämien begleitet war und ist, aufgestockt noch durch die Riester-Prämie. Woher das Leitbild stammt, wird offen ausgedrückt: ‚Wenn auch mittlerweile ein Anteil von etwa 14 % des genutzten Gesamtbestandes der Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern erreicht ist, ist trotzdem künftig mit einer weiteren großen Nachfrage in diesem Wohnungsmarktsegment zu rechnen. In westdeutschen Städten vergleichbarer Größenordnung beträgt dieser Anteil bis zu 20 %.ǥ Obwohl der letztgenannte Fakt auch von vielen ernstzunehmenden westlichen Fachleuten eher kritisiert wird, scheint er als Zielvorgabe für den Osten immer noch tauglich zu sein.“26
Das integrative Deutungsmuster wird als expliziter Gegenentwurf zur marktwirtschaftlichen und Wachstumslogik angelegt, versteht sich also als stadtentwicklungspolitisches Gegenmodell zu hegemonialen Deu25 Stellungnahme von Jens Kassner zum Entwurf des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, Zeilen 1-45. 26 Ebd., Zeilen 22-33.
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tungsmuster und reflektiert damit ausdrücklich verschiedene Entwicklungslogiken. Dabei beziehen sich seine VertreterInnen auf den nationalen wie internationalen Nachhaltigkeitsdiskurs. Eine solche Kritik wird von oppositionellen Diskursgemeinschaften vertreten, deren Sprecher schwach legitimierte Positionen innehaben und nicht mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind, etwa die lokale Agenda 21 oder Mitglieder des Werkbundes. Selbst der Agenda-Beirat, ein gewähltes Gremium, das beratenden Auftrag vom Stadtrat hat, sah sich in der Rolle einer zivilgesellschaftlichen Opposition gegenüber Verwaltung und Stadtrat. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive wird auf diese Argumente nicht eingegangen. Eine Auseinandersetzung zwischen beiden Deutungsmustern bzw. ihren VertreterInnen fand nicht statt. Im Abwägungsbeschluss der Verwaltung, der in weiten Teilen aus der Symbiose aus gestalterischem und marktwirtschaftlichem Deutungsmuster heraus argumentierte, wurden die grundsätzlichen Kritiken mehrfach als nicht abwägungsrelevant eingeordnet und fallen damit unter „Anregungen, die keiner Abwägung bedürfen“.27
Zivilgesellschaftliche Koalition: für Partizipation und starke Stadtteile Das lebensweltliche und das integrative Deutungsmuster versammeln, wie unter 5.3. dargestellt, eine Seite der Akteurslandschaft. Diese Akteure vertreten meist nur ein bestimmtes Deutungsmuster explizit und zeigen gegenüber dem anderen Deutungsmuster Sympathien. Es kommt nicht wie bei gestalterischem und marktwirtschaftlichem Deutungsmuster zu einer Symbiose beider Perspektiven. Die Akteure beider Deutungsmuster bilden eine Art Koalition in der Opposition gegen die Handlungsvorschläge und Argumente vor allem der Verwaltung. Es kommt – zumindest im Beobachtungszeitraum í zu einer Diskurskoalition. Diese Koalition baute auf gemeinsame Deutungen auf und profitierte weiter davon, dass das lebensweltliche und das integrative Deutungsmuster sich kaum widersprechen. Die integrative Betrachtung ist der lebensweltlichen nicht fremd, auch wenn bei letzterer die Interessen der BewohnerInnen im Vordergrund stehen. Das zentrale Entwicklungsziel des lebensweltlichen Deutungsmusters – Stabilisierung und Verbesse27 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil A, in der Datensammlung Zeilen 11-50.
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rung der Lebenswelt kann mit dem Ziel des integrativen Deutungsmusters, einer integrativen, sozial gerechten, ökologisch verantwortlichen und kulturell sensiblen Entwicklung mühelos vereinbart werden. Auch die Werte sind nahezu identisch: ökologische Stabilität, Gerechtigkeit, bauliche und landschaftliche Ästhetik im integrativen Deutungsmuster, Funktionalität, Ästhetik, Umweltqualität und Vertrautheit im lebensweltlichen Deutungsmuster. Denkbare Konflikte zwischen beiden Perspektiven tauchten im Beobachtungszeitraum nicht auf. Wie sehr Forderungen aus der lebensweltlichen Perspektive denen der integrativen Position ähneln zeigt folgendes Zitat aus der Stellungnahme eines Bürgerbüros, das ich der lebensweltlichen Perspektive zuordne: „Es ist wichtig, die positiven Seiten des Stadtteiles aufzuwerten. Das betrifft besonders die Infrastruktur des Gebietes und den Erhalt der sozialen und Bildungseinrichtungen. Diese sind ausschlaggebend für den Verbleib junger Familien im Stadtteil. Eine Grundversorgung im Stadtteil ist gegeben, die unbedingt erhalten und erweitert (z. B. im Dienstleistungsbereich) werden sollte. Gleichzeitig gilt es durch Vorhaben im Bereich lokaler Ökologie Arbeitsplätze zu schaffen und erste Schritte zur Schaffung eines urbanen Mikrozentrums und funktionierenden Gemeinwesens zu geben.“28
Über diese gemeinsame Anschauung und auf der Suche nach Verbündeten kamen hier neue Akteurskonstellationen zustande, die gemeinsame Forderungen vertraten.
Forderung nach kooperativen Verfahren der Bürgerbeteiligung Die gemeinsamen Kritikpunkte beziehen sich vor allem auf das gewählte Verfahren der Bürgerbeteiligung, also der Auslegung des Entwurfs zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm mit Möglichkeit zur Stellungnahme. Zunächst einmal wurde spontan von der Lokalen Agenda 21, den Bürgerinitiativen und den Ortschaftsräten die Auslegungsfrist und die demgegenüber mangelhafte Bereitstellung von Informationsmaterial kritisiert. Es wurde Zeit für den Informations- und vor allem für einen Meinungsbildungsprozess eingefordert. Der zweite Kritikpunkt betraf die Asymmetrie der Diskussion: Die eigentliche Konzeption sei bereits abgeschlossen, bevor die Beteiligungsphase beginne. Eine gemeinsame Entwicklung von Leitbildern für die Stadt und von Ideen und Prioritätensetzungen für den Stadtumbau sei so nicht mehr möglich. Die Auslegung habe keine aktive Mitgestaltung durch Bürger und Zivilge28 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil B, a); Zeilen 3298-3304.
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sellschaft mehr zur Folge und bringe die zu Beteiligenden in eine passive Rolle, wie ein Vertreter der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz auf einer Podiumsdiskussion kritisierte: „Bürgerbeteiligung, das hat für mich den Anschein gehabt, dass es überhaupt nicht gewollt war. Es war nur eine Offenlegung. Vier Wochen Offenlegung, wie für einen Bauleitplan jetzt praktisch. Dass das nur offen gelegt wird, es wird nur angeguckt von dem Bürger und dann wird es verabschiedet vom Stadtrat. Also hätten sich vielleicht Bürger an die Stadträte wenden müssen, die es dann beschließen, um jetzt eine Bürgerbeteiligung an dem Stadtentwicklungskonzept überhaupt zu betreiben.“29
Das von der Verwaltung gewählte Verfahren wird in diesem Zitat nicht als Bürgerbeteiligung anerkannt. Was eingefordert wird, ist eine Bürgerbeteiligung, die auf Kooperation beruht und das Wissen und die Vorstellungen der Bürger gleichberechtigt mit einbezieht. In diesem Punkt trafen sich die Interessen und Vorstellungen von VertreterInnen des lebensweltlichen und des integrativen Deutungsmusters und es entstanden kurzfristig neue Koalitionen, die sich als Opposition zur Verwaltung verstanden. Insbesondere „entdeckten“ die Lokale Agenda 21 für Chemnitz und die Stadtteilinitiativen ihre gemeinsamen Interessen, allen voran die Stärkung der Bürgerbeteiligung im Stadtumbauprozess. Es gründete sich eine Initiative „Demokratie in Chemnitz“, die sich die Vernetzung der Stadtteilvertretungen und die stärkere Vertretung von deren Interessen zur Aufgabe machte. Hier waren die Bürgerinitiative Hutholz, das Bürgerbüro des Programmgebiets „Soziale Stadt“, VertreterInnen der Soziokultur, der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz und der Technischen Universität Chemnitz aktiv. Die Initiative selbst hatte keinen Bestand, wohl aber die entstandenen Kontakte. Die Initiative organisierte als Höhepunkt ihrer Arbeit im Februar 2002 eine Podiumsdiskussion zum Thema „Bürgerbeteiligung am Stadtumbau“, die Beteiligungsprozesse in drei sächsischen Städten verglich und die Chemnitzer Praxis zur Diskussion stellte. Der Stadtrat wurde in diese Koalition/Interessensgemeinschaft nicht mit einbezogen, sondern als legitimierter InteressenvertreterInnen beauftragt, auch diese Position zur Kenntnis zu nehmen und zu vertreten. Die StadtratsvertreterInnen wurden als Adressat der Forderungen angesehen, die den demokratischen Auftrag hätten, sich für diese Forderungen einzusetzen, nicht als 29 Tonbandprotokoll vom 06.02.2002, Podiumsdiskussion „Bürgerbeteiligung und Stadtumbau“, Zeilen 198-203.
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Gleichgesinnte oder Koalitionspartner. Die Vorstellungen, welche Akteure die Stadtentwicklung beeinflussen bzw. verantwortlich gestalten (sollten), gleichen sich im lebensweltlichen bzw. im integrativen Deutungsmuster, unterscheiden sich aber erheblich von den Vorstellungen in anderen Deutungsmustern: die Bürger und breite Teile der Zivilgesellschaft werden hier mit eingeschlossen, und zwar als aktive Gestalter, nicht als passive Betroffene von Entwicklung. Diese Sicht ist den anderen Deutungsmustern fremd.
Forderung nach der Einrichtung von Stadtteilzentren Beide Deutungsmuster kamen noch zu einer weiteren gemeinsamen Forderung: sie forderten eine Aufwertung der Stadtteile und die gezielte Einrichtung von Stadtteilzentren. Im lebensweltlichen Deutungsmuster hat dies den Hintergrund, den zentralen Wert des Deutungsmusters, nämlich Lebensqualität zu verwirklichen. Im integrativen Deutungsmuster ist diese Forderung eine praktische Lösung von Dilemmata, die aus der Siedlungsform Stadt an sich und besonders aus dem Schrumpfungsprozess resultieren. Wie oben ausgeführt, steht das Leitbild der Stadt der kurzen Wege hinter dieser Forderung. Fußläufige Verbindungen zwischen Wohnort, Arbeitsweg und alltagsrelevanter Infrastruktur sollen den motorisierten Verkehr reduzieren, die Wohngebiete in ihrer sozialen, nachbarschaftsbezogenen Infrastruktur stärken und auch die Lebensqualität begünstigen, indem beispielsweise lange Wegezeiten entfallen. Die lokale Agenda 21 erarbeitete im Beobachtungszeitraum ihre Leitbilder zur Stadtentwicklung, die der Verwaltung vorgestellt wurden. Es kam jedoch nicht zu einer weiterführenden Erörterung der Leitbilder, geschweige denn zu einer Diskussion möglicher Verbindungen bzw. Konflikte zwischen den Leitbildern der Lokalen Agenda und dem Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm der Verwaltung. Die Sprecherposition der Lokalen Agenda 21 in Chemnitz war sozusagen semi-legitimiert: da sie institutionell auf einem Stadtratsbeschluss beruht, muss sie gehört werden. Eine Kooperations- oder Entscheidungskompetenz wird ihr jedoch nicht zugesprochen. Im Protokoll der Klausurtagung der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz vom November 2002 wird als Bilanz der langjährigen Arbeit vor allem ein permanenter Kampf um Anerkennung resümiert.30
30 Protokoll der Klausurtagung der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz vom 15./16.11.2002, S. 3.
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Die Akteure, die diese Positionen vertraten, blieben jedoch im Diskurs in der Opposition und verfügten kaum über einflussreiche Sprecherpositionen. Zivilgesellschaftliche Gruppen waren auf oppositionelle Sprechakte verwiesen: Stellungnahmen, die ohne Austausch der Argumente angenommen oder abgelehnt wurden, und selbst organisierte Podien für die Interessensvertretung, zu der EntscheidungsträgerInnen eingeladen wurden. Eine Vertreterin des Agenda-Beirats stellte die paradoxe Rolle der Agenda so dar: „Die lokale Agenda hat sich zusammen gefunden, durch einen Stadtratsbeschluss übrigens. Die Engagierten dort in dieser Bürgerbewegung sind Bürgerinnen und Bürger, die also aktiv diesen Prozess der Stadtentwicklung in ökologischer, in sozialer und in ökonomischer Hinsicht begleiten, mittragen und Initiativen entwickeln wollen. Das haben wir ja auch schon gehört aus dem Bericht von Dresden und von Zwickau, dass also die Agenda in dieser Organisationsform in den Stadtumbau schon einbezogen ist. Und das ist natürlich, das was ich mir als Agenda Mitglied auch in Chemnitz wünschen würde. Und wünschen ist eigentlich schon etwas zart ausgedrückt ... wir müssen es laut zur Kenntnis geben, und das ist jetzt eine Möglichkeit, ein Ort, zur Kenntnis zu geben, das die Agenda beteiligt sein will.“31
Annäherungen und Dissens: integrative und gestalterische Perspektive Annäherungen: Gestaltung als ökologische Aufwertung Bei der Vorstellung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms auf dem Grünen Stammtisch am 16. 10. 2001 baute ein Mitarbeiter des Amts für Stadtentwicklung folgende zarte Brücke: „Und dass man natürlich aus so einem, aus so einer Chance, dass wir also genügend Raum haben, genügend Fläche haben, genügend auch Wohnbestand haben, überhaupt Bebauungsbestand haben, muss die Stadt auch einfach eine Chance machen, dass man bezüglich auch gerade äh der Dinge, äh, für die Sie stehen, also Nachhaltigkeit der Stadtentwicklung, versuchen, dort die Wohnqualität letztendlich in der gesamten Stadt zu verbessern, auch aufzugreifen und umzusetzen.“32
31 Tonbandprotokoll vom 06.02.2002, Podiumsdiskussion „Bürgerbeteiligung und Stadtumbau“, Zeilen 457-466. 32 Tonbandprotokoll vom 16.10.2001, Grüner Stammtisch, Vorstellung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms, Zeilen 86-91.
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Dieses vorsichtige und rhetorisch ungelenke Statement eines ansonsten versierten Redners ist charakteristisch für eine paradoxe Situation. Bei den VertreterInnen des gestalterischen Deutungsmusters sind auf der Sinnebene Einflüsse des integrativen Deutungsmusters zu verzeichnen. Auf der Akteursebene steht man dessen Vertretern jedoch als Kontrahenten gegenüber. Eine der Überraschungen bei der Auswertung der Daten bestand beispielsweise darin, dass der Baubürgermeister – der als Sprecher der Diskursgemeinschaft Verwaltung und koalierender Diskursgemeinschaften die Deutungsarbeit des Ereignisses wesentlich bestimmt – in meinem Material drei Deutungsmuster vertritt. In den meisten Diskursbeiträgen vertritt er die Symbiose aus gestalterischem und marktwirtschaftlichem Deutungsmuster. In einigen wenigen seiner Diskursbeiträge vertritt er allerdings das integrative Deutungsmuster. Besonders auffällig war dies bei der Veranstaltung „Nachhaltig für Leben“ auf dem Workshop „Wohnliche Stadt Chemnitz“. Hier verabschiedete er öffentlich den zentralen Wert bzw. Entwicklungsmodus „Wachstum“ ins Reich der Vergangenheit und begründete, warum Wachstum kein zukunftsfähiger Entwicklungsmodus sein kann. Der Gestus seiner Rede war der eines Lehrers, der seinen Schülern überraschende Einsichten vermitteln will. Die integrative Logik durchzog seinen gesamten Beitrag auf dieser Veranstaltung und wirkte außerordentlich gefestigt, vgl. das Zitat auf Seite 179f. Dies überrascht, da er in anderen Diskursbeiträgen in der Regel auf einer anderen Klaviatur spielt. Die nahe liegende Interpretation, dass es sich um eine politische Anpassungsleistung an das Publikum handelt, trifft sicherlich in gewissem Maße zu. Als alleinige Erklärung erscheint sie mir aber zu kurz gegriffen. Sie erklärt nämlich nicht, weshalb das Spiel auf der integrativen Klaviatur genauso mühelos gelingt. Meine Interpretation ist, dass der Gleichzeitigkeit der Argumente auch eine Gleichzeitigkeit der Plausibilität der Argumente zugrunde liegt, selbst wenn diese teilweise konträr liegen. Ich gehe davon aus, dass das in überregionalen planungsprofessionellen Diskurszusammenhängen bereits stark verankerte Gedankengebäude der nachhaltigen Stadtentwicklung hier innerhalb der Diskursgemeinschaft des Chemnitzer Baudezernats intern in Konkurrenz zu anderen Deutungen getreten war, vor allem in Konkurrenz zum Kreislaufmodell von Gestaltung, Image und Wirtschaftswachstum. Integrative Argumente wie Prinzipien nachhaltiger Stadtentwicklung sind nicht nur in den Statements des Baubürgermeisters zu finden, sondern auch in den frühen Konzepten der Verwaltung, etwa im Räumlichen Handlungskonzept Wohnen. Exemplarisch zeige ich die Vermen-
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gung beider Deutungsmuster anhand der dort aufgezählten drei Funktionen von Grün- und Freiflächen. Erstens sei das ihre x
„raumbildende, ästhetische Funktion Stadtgliederung bzw. Prägung von Stadteingängen Stadterleben und daraus folgende Identifikationsangebote Gleichwertigkeiten der Qualitäten von Architektur und Freiraum herstellen“ (ebd.: 9) -
Diese Funktion der Grünflächen ist ein Argument des gestalterischen Deutungsmusters. Die zweite Funktion ist ein Argument, das mit beiden Deutungsmustern übereinstimmt: x
„kulturelle Funktion Bestandteil der Wohnqualität einer Stadt Leben im Innenraum und Außenraum – Wohnumfeld – Platz für Aktivitäten wie Erholen, Ruhe, Treffen, kommunizieren, Erreichen, Erleben Naturerleben in der Stadt ermöglichen“ (ebd.) -
Aus gestalterischer Sicht werden hier die positiven Auswirkungen einer guten Freiraumgestaltung auf das Leben dargestellt. Aus integrativer Sicht kann man diese Effekte als win-win-Strategie auf ökologischer und sozialer Ebene deuten. Die dritte Funktion schließlich ist ein rein integratives Argument: x
„Stadtökologische Funktion Freiraum als Lebensraum für Mensch sowie Flora und Fauna klimatisch ausgleichende Wirkung im Stadtgefüge Wasser- und Luftzirkulation- und Austausch“ (ebd.) -
Das Räumliche Handlungskonzept Wohnen formuliert ein „städtebauliches Leitbild“, in dem es u.a. heißt: „Die Bereinigung der Konfliktsituation auf dem Wohnungsmarkt eröffnet gleichzeitig die Chance, mit Hilfe der notwendigen Rückbaumaßnahmen eine langfristig stabile und nachhaltige Stadtstruktur zu entwickeln.“ (Stadt Chemnitz 2000b: 8)
Solange Konzepte und Ziele sich auf einer sehr allgemeinen Ebene bewegen, herrscht Einigkeit. So werden die Leitbilder zur Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21/Arbeitsgruppe Stadtentwicklung im Allgemeinen anerkannt: 224
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„4. Sachverhalt Ordn.-Nr. T05 (Agenda 21, AG Stadtentwicklung/ Wohnumfeld) Von der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung/Wohnumfeld wurden Leitbilder für die Bereiche Stadt/ Stadtgebiet/Wohnumfeld/Gebäude/Wohnung/erarbeitet, die Vorstellungen und Gestaltungsideale für Chemnitz beschreiben. Sie bilden die Grundlage der Stellungnahme. Berücksichtigung: Die Anregungen stehen überwiegend in Übereinstimmung mit den städtebaulichen Leitzielen des Stadtumbaus, insbesondere der Leitbilder für die Bereiche Stadt/Stadtgebiet.“33
Eine weitere Gemeinsamkeit auf der allgemeinen konzeptionellen Ebene war die Priorität der Städtischen Innenentwicklung. Im Räumlichen Handlungskonzept Wohnen hieß es dazu unter dem Punkt „Städtebauliches Leitbild“: „Unter dem Vorzeichen einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung bei gleichzeitiger – infolge Eingemeindungsprozessen – flächenmäßiger Ausdehnung des Stadtgebietes, kommt einer ressourcenschonenden, auf Innenentwicklung orientierten Stadtplanung eine existentielle Bedeutung zu.“ (Stadt Chemnitz 2000b: 8)
Woher rühren also die Konflikte auf der Akteursebene?
Dissens: unterschiedliche Prioritäten Erst bei der Ableitung konkreter Forderungen wurden die Unterschiede in den Positionen deutlich. Wie bereits dargelegt, fordert die integrative Perspektive eine radikale Bestandserhaltung und einen Stopp jeglichen Neubaus bzw. Flächenverbrauchs. Die gestalterische Perspektive versteht unter Innenentwicklung den Schutz der Innenstadt incl. der gründerzeitlichen Bebauung. „Außen“ meint hier nicht die Stadtgrenze sondern Strukturen außerhalb der Gründerzeit. Hinter den gemeinsam vertretenen Strategien stehen verschiedene Ziele. Die Bestandserhaltung hat aus integrativer Perspektive vor allem einen ökologischen Sinn. Dazu kommt die Forderung des sensiblen Umgangs mit der bestehenden Bausubstanz als Kulturgut. Rückbau dient hier dem Rückgewinn von unversiegelter Fläche, der Verbesserung des Klimas und damit der Steigerung der Lebensqualität und soll lediglich die nicht mehr benötigte Wohnbausubstanz beseitigen.
33 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil B, a); in der Datensammlung Zeilen 58-68.
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In der gestalterischen Perspektive dient Rückbau der Stadtbildverbesserung. Hier lenken Vorstellungen von Ästhetik und einer anzustrebenden Stadtgestalt die Handlungsvorschläge. Neubau und – in reduziertem Maße – auch weiterer Flächenverbrauch werden toleriert, wenn dadurch wirtschaftliche Entwicklung begünstigt wird. Die Vorstellungen von der anzustrebenden Stadtgestalt sind entsprechend verschiedenen: Das ideale Modell im gestalterischen Deutungsmuster ist die Stadt als Zirkuszelt mit einem lebendigen, dichten, hohen Kern und nach außen gleichmäßig abfallender Dichte, Höhe und Lebendigkeit. Die Idealvorstellung im integrativen Deutungsmuster ist die kompakte Stadt, definiert durch eine klare Grenze zum Umland. Wo sich beide Deutungsmuster wieder treffen, sind die pragmatischen bzw. erwarteten Szenarios. Beide gehen von der Entwicklung einer polyzentrischen Struktur aus. Die Stadt – mit oder ohne definiertes Zentrum í wird sich in beiden Vorstellungen auf Stadtteilkerne zurückziehen, die von breiten, kaum gestalteten Grünzonen durchzogen wird. Die Gemeinsamkeiten liegen also auf einer sehr allgemeinen, „rhetorischen“ Ebene der Deutungen und auf einer pragmatischen Ebene von konkreten Handlungsansätzen, also Rückbau, Brachflächengestaltung und Verstärkung des Grünflächenanteils. Der Dissens hat seine Ursachen auf der feingliedrigen Deutungsebene.
Rollback zum Kreislaufmodell Ein dreiviertel Jahr nach den allgemeinen Bekenntnissen zur nachhaltigen Stadtentwicklung verzichtet die Verwaltung im Integrierten Stadtentwicklungskonzept explizit darauf, ein Leitbild zu formulieren. Nachhaltigkeit als Ziel von Stadtentwicklung wird relativiert: „Stadtumbau ist keine eindimensionale Aufgabe. Auch bei sinkender Wohnungsnachfrage ist für Teilmärkte oder einzelne Aufgaben "Wachsen" zu planen: z. B. für die neue Innenstadt, für geeignete Gewerbeflächen, für die Nachfrage nach Wohneigentum mit Garten oder für die Weiterentwicklung der Infrastruktur. Die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Entwicklungen – einerseits Abnahme und andererseits Wachstum erschwert die kommunalpolitische Diskussion und die Formulierung einfacher Lösungen auf dem Weg zur ‚nachhaltigen Stadt Chemnitzǥ.“34
34 Ebd., Vorwort S. 1.
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Andere Überlegungen, zeigen den Hintergrund dieser Relativierungen: „Aufgrund der demographischen Entwicklung, í Abnahme der Bevölkerung durch geringe Geburtenrate und altersbedingtem Ausscheiden vieler Menschen aus dem Arbeitsprozess í wird Chemnitz auf Zuwanderung angewiesen sein. Diese wiederum setzt neben Arbeitsplätzen und Wohnungen Aufenthaltsqualität voraus.“35
Die Planung macht sich also nicht nur zur Aufgabe, das Schrumpfen zu managen, wie dies die Formulierung vom Paradigmenwechsel anzeigt, sondern sie erkundet ihre Beiträge zu einer Wachstumspolitik, zur Planung für Zuzug. Gerade diese Verschiebung ist zur Beantwortung der Forschungsfrage nach dem Wandel von Deutungsmustern sehr aufschlussreich. Im Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm werden immer dann Abweichungen von den formulierten gestalterischen Prinzipien zugelassen, wenn für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt relevante Akteure betroffen sind. Beispielsweise werden die verkehrspolitischen Forderungen aus der Stellungnahme der Lokalen Agenda 21 für Chemnitz von der Verwaltung abgelehnt mit der Begründung: „Aber auch die Bereitstellung von ausreichendem Parkraum für die Kunden ist für die Lebensfähigkeit der Innenstadt unabdingbar, Restriktionen für diese Zielgruppe verbieten sich. Für die Beschäftigten in der Innenstadt ist der Umstieg auf den ÖPNV vorgesehen.“36
Ebenso werden Restriktionen für die Nachfrage nach Gewerbeflächen am Stadtrand37 oder für Interessenten von Einfamilienhäusern am Stadtrand abgelehnt mit der Begründung, dass diese Akteure wirtschaftlich relevant seien. Die Nachfrager solcher Wohnformen, junge Familien, seien die wirtschaftliche Hefe der Stadt, ihr kreatives Potenzial. Deshalb sei ihren Wohnwünschen zu entsprechen, sonst tun das andere Städte. Auch für potenzielle Zuzügler müssten solche Angebote bereitgehalten werden. Hier wird also wirtschaftlichen Erwägungen der Vorrang vor 35 Ebd. 36 Abwägungsbeschluss zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, Teil c), in der Datensammlung Zeilen 410-413. 37 Dies gilt nicht für die Bewilligung von Einzelhandelsflächen am Stadtrand. Sie wird im Beobachtungszeitraum auch von der Verwaltung durchaus kritisch gesehen, da sie als große Konkurrenz zum innerstädtischen Einzelhandel, sprich zur neuen City verstanden werden.
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dem gestalterischen Prinzip von „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ gegeben. Das Motiv für diese Prioritätensetzung ist die Hoffnung auf die Mobilisierung der Wirtschaft als Ressource für Gestaltung und damit die Rückkehr zu einem positiven Entwicklungsmodus, dem des Wachstums. Das „Management von Schrumpfung“ wird als Bewältigung einer eventuell doch noch vorübergehenden Krisenerscheinung interpretiert. Oevermann formulierte einen solchen Rollback zu alten Deutungsgewohnheiten als Charakteristikum von Wandlungsprozessen, so dass als These formuliert werden kann, dass Wandlungsprozesse – wenn überhaupt – sich innerhalb der Diskursgemeinschaft der Planungspraktiker vollziehen. Die Deutungsroutine – das Kreislaufmodell aus Wirtschaftswachstum und Stadtgestaltung wird durch das Ereignis irritiert. Mit dem Geburtenrückgang werden Phänomene sichtbar, die nicht in die Logik des Kreislaufs integrierbar sind, auch nicht in eine Negativspirale desselben Kreislaufs. Gleichzeitig eröffnet der Schrumpfungsprozess Handlungsfelder, die Annäherungen an das integrative – und auch an das lebensweltliche – Deutungsmuster befördern. Diese Annäherungen werden von einem Rollback zur Kreislauflogik wieder relativiert. Wie konsensstiftend das Handlungsfeld der Brachflächengestaltung trotz alledem ist, soll der letzte Abschnitt dieses Kapitels zeigen.
Konsens: Brachflächen zu Grünflächen „Und sei es, um in Ermangelung städtebaulicher Strategien auf dem Brachland Blumen zu pflanzen.“ (Jensen 2002)
Die Aufwertung von Brachflächen durch Gestaltung zu Grün- und Freiflächen verbindet nicht nur die gestalterische und die integrative Perspektive, sie macht in allen Deutungsmustern Sinn und kann damit als kleinster gemeinsamer Nenner für Stadtumbau-Strategien gelten. Im gestalterischen Deutungsmuster ist es eine Möglichkeit zur Gestaltung der Stadt, im lebensweltlichen Deutungsmuster stellt es eine Aufwertung der Quartiere und somit eine Steigerung der Lebensqualität dar, im rationalen Deutungsmuster ist es eine Maßnahme, die für den Gesamthaushalt der Stadt tragbar und sinnvoll ist, im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster erhöht es die Attraktivität des Stadtbilds als weicher Standortfaktor í solange kein weiterer Nutzungsbedarf besteht í und im integrativen Deutungsmuster stellt es eine ökologische Stabilisierung und eine ästhetische Verbesserung, im Falle von Nachbarschafts-
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gärten eine sogar sozial, ökologisch und ökonomisch sinnvolle Maßnahme dar. Die oben aus dem Räumlichen Handlungskonzept Wohnen zitierte Funktion von Frei- und Grünflächen, „kulturelle Funktion Bestandteil der Wohnqualität einer Stadt Leben im Innenraum und Außenraum – Wohnumfeld – Platz für Aktivitäten wie Erholen, Ruhe, Treffen, kommunizieren, Erreichen, Erleben Naturerleben in der Stadt ermöglichen“ (ebd.)
könnte so oder in ähnlicher Form von allen Diskursteilnehmern formuliert werden. Im lebensweltlichen Deutungsmuster wäre eine Änderung der Formulierung nicht einmal nötig. Im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster könnte man diese Funktion als weichen Standortfaktor formulieren und im rationalen Deutungsmuster als vernünftige und kostengünstige Maßnahme. Diese von allen Diskursteilnehmern daher – mehr oder minder prioritär – angestrebte Strategie wird durch einen weiteren kleinen gemeinsamen Nenner auf der Sinnebene aller Deutungsmuster begünstigt: Lebensqualität als anzustrebendes Element von Stadtentwicklung kommt in jedem Deutungsmuster vor, wenn auch in verschiedenen Quadranten und in verschiedenen Rollen. Lebensqualität ist im lebensweltlichen Deutungsmuster der zentrale Wert. Im rationalen Deutungsmuster ist Lebensqualität über das Entwicklungsziel der (effizienten) Bedürfnisbefriedigung der BewohnerInnen integrierbar. Im marktwirtschaftlichen Deutungsmuster kann Lebensqualität wie gesagt als weicher Standortfaktor gelesen werden, im integrativen Deutungsmuster ist Lebensqualität vereinbar mit dem Ziel einer balancierten Entwicklung und im gestalterischen Deutungsmuster ein Ziel, das durch Gestaltung gesteuert werden kann. Auch wenn Lebensqualität in den verschiedenen Deutungsmustern sehr unterschiedlich definiert werden würde, bliebe als Konsens die Vorstellung, dass Brachen die Lebensqualität in einer Stadt mindern und gestaltete Frei- und Grünflächen Lebensqualität fördern. Vor allem der Gesundheitsaspekt ist dabei Konsens unter allen Diskursteilnehmern. Im Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm heißt es: „Der Leerstand von Wohnungen und das Erfordernis, im Rahmen eines Stadtumbaues auch über punktuellen und flächenhaften Rückbau von Wohnungen nachzudenken, eröffnet neue Chancen der Stadtentwicklung. Im Sinne einer
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Schaffung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse können bisher bestehende Missstände beseitigt werden.“38
Der sinkende Verwertungsdruck auf die innerstädtischen Flächen begünstigt bzw. ermöglicht diese Strategie, auch wenn sie unter den Stichworten „Renaturierung“ oder „Zwischenbegrünung“ mit verschiedenen (Zeit-) Perspektiven ausgestattet wird. Weiterhin wird es möglich, durch den sinkenden Verwertungsdruck auf Flächen benachbarte, aber konkurrierende Flächennutzungen zu entflechten und damit v. a. gesundheitlich schlechte Wohnlagen aufzugeben. Auch dieses Ziel ist in jedem Deutungsmuster sinnvoll bzw. tolerierbar. Da dies als langfristige Entflechtung gedacht wird, ist auch aus lebensweltlicher Perspektive kein Konflikt zu erwarten, denn die Beräumung der Wohnfunktion kann auf das Eintreten des Leerstandes warten. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive werden somit Gewerbenutzungen begünstigt, hier kann also ein direkter Sinn gelesen werden. Aus integrativer und rationaler Perspektive ist kein Gegenargument zu erwarten und aus gestalterischer Perspektive werden Gemengelagen ohnehin nicht als gute Gestaltung betrachtet. So können die Verfasser des Flyers „Stadtumbau – Chance oder Verlust?“ mit breiter Zustimmung rechnen, wenn sie formulieren: „Oberbürgermeister: Dann gibt es Gebiete in denen der Leerstand besonders deutlich wird – an Hauptverkehrsstraßen. Auch hier kann geholfen werden. Eine Grünzone mit Lärmschutzeinrichtungen ist in jedem Fall besser als verfallene Fassaden mit toten Fenstern. ... [neue Frage, KG] Chemnitz ist eine grüne Stadt, sollte man nicht auch daran weiter arbeiten? Oberbürgermeister: In der Vergangenheit sind die Flusstäler oft zugebaut worden, so auch das Tal der Chemnitz. Entlang der Chemnitz kann durch den Abriss einzelner Häuser viel an neuer Qualität am Fluss gewonnen werden. Diese Beispiele ließen sich fortsetzen.“39
38 Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm, September 2001, in der Datensammlung Zeilen 176-180. 39 Faltblatt zum Stadtumbau der Stadt Chemnitz mit Interview des Oberbürgermeisters, Seite 5.
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Ergebnisdiskussion und Ausblick
„Die Untersuchung von Kultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen von Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen; ...“ (Geertz 1995: 29f.)
Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse Fünf Deutungsmuster von Stadtentwicklung Auf der Grundlage des Raummodells von Sturm (2000) wurden fünf verschiedene Deutungsmuster herausgearbeitet und dem Modell entsprechend auf vier verschiedenen Ebenen beschrieben. Sie unterscheiden sich zentral in der Vorstellung davon, was Stadtentwicklungsprozesse reguliert. Kurz zusammengefasst sind das: 1. das marktwirtschaftliche Deutungsmuster, in dem angenommen wird, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt die Entwicklung aller anderen Bereiche determiniert. 2. das gestalterische Deutungsmuster, das davon ausgeht, dass die Entwicklung durch Gestaltungsprozesse reguliert wird, 3. das rationale Deutungsmuster, in dem die Entwicklung der Stadt sich als ökonomische Gesamtrechnung am Effektivitätsprinzip orientiert, 4. das lebensweltliche Deutungsmuster, in dem die Stadt als Lebensraum gelesen wird und ihre Entwicklung sich zentral an Vorstellungen von Lebensqualität orientiert,
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5. das integrative Deutungsmuster, in dem Stadtentwicklung als interdependenter Prozess betrachtet wird, der sich in wechselseitiger Abhängigkeit wirtschaftlicher, baulich-kultureller, ökologischer und sozialer Prozesse vollzieht.
Verallgemeinerbarkeit der Deutungsmuster Die Deutungsmuster sagen – unter Berücksichtigung der Fehlerbetrachtung im Methodenkapitel í natürlich nur etwas über den untersuchten Fall aus, nämlich den Chemnitzer Stadtumbaudiskurs. Eine prinzipielle Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere lokale Stadtumbau-Diskurse bzw. auf den nationalen Stadtumbau-Diskurs ist aus methodischen Gründen nicht zulässig. Trotzdem ist Chemnitz selbstverständlich keine kulturelle Enklave, keine Insel der Deutungsarbeiten, sondern steht in ganz klaren kulturellen Kontexten, nämlich regionalen, dem nationalen und auch dem internationalen Kontext. Als empirischer Fall ist der Chemnitzer Diskurs eine mögliche Realisierung der kulturellen Deutungsmöglichkeiten zum untersuchten Zeitpunkt. Es ist zu vermuten, dass sich bei weiteren Untersuchungen in anderen Kontexten Parallelen zu den hier dargestellten Ergebnissen finden würden, möglicherweise auch Modifizierungen. Je enger der Kontext, desto weniger wäre m.E. zu erwarten, dass sich komplett neue Deutungsmuster zeigen. Eher würde ich erwarten, dass sich die Deutungsmuster weiter ausdifferenzieren lassen, dass evtl. mehrere Vignetten auftauchen. Auch könnten manche Deutungsmuster geschärft werden. Wie groß die Gemeinsamkeiten zu anderen Kontexten sind, zeigt ein überraschender Fund. Zwischen Einreichen der Dissertation und ihrer Publikation las ich den Artikel von Strom und Mollenkopf (2004), in dem sie jeweils den Diskurs um die Neubebauung des Ground Zero in New York und um die Neugestaltung von Berlin Mitte daraufhin untersuchten, welche „Leitmotive“ hier verhandelt werden. Sie beschreiben drei solcher Leitmotive. Dies sind: 1. Das Leitmotiv Wirtschaftswachstum. Es sieht Konjunktur und Wachstum als wichtigste Aufgaben. „Private Investitionen schaffen Arbeitsplätze und stärken die Steuerbasis, was wiederum der Regierung ermöglicht, der Gemeinde zu dienen.“ (Strom und Mollenkopf 2004: 286) 2. Das gestalterisch/technische Leitmotiv „Diese Ansicht besteht darauf, dass es Stadtentwicklung um die Schaffung (oder Erhaltung) architektonischer, historischer oder repräsentativer Bedeutungen und 232
ERGEBNISDISKUSSION UND AUSBLICK
Werte im städtischen Raum geht.“ (ebd.) Die Expertise von Planern, Architekten, Ingenieuren und Historikern wird in diesem Leitmotiv als Grundlage für die richtige, historisch sensitive, sozial angemessene, symbolisch wertvolle etc. Bebauung angesehen. 3. Das Heimat- oder Nachbarschafts-Leitmotiv. Stadtentwicklung solle sich hiernach darauf konzentrieren, „die Lebensbedingungen für die Stadtbewohner zu verbessern und ihnen helfen, ein ortsgebundenes Gemeinschaftsverständnis aufzubauen.“ (ebd.) Bürgerbeteiligung sei ein zentraler Baustein dieser Anschauung. Für New York kommen sie zu dem Schluss, dass das Leitmotiv Wirtschaftswachstum den Diskurs bestimmt. Es wird herausgefordert vom Heimat- oder Nachbarschaftsleitmotiv, das von oppositionellen Gruppen vertreten wird. In Berlin dagegen dominiert das gestalterisch-technische Leitmotiv den Diskurs. Hinter den Kulissen eines expertenhörigen Diskurses fielen jedoch die Entwicklungsentscheidungen anhand wirtschaftlicher Interessen von Investoren. Die Ähnlichkeiten sind verblüffend, selbst die Bezeichnung der Leitmotive ist nahezu identisch mit drei der von mir identifizierten Deutungsmuster. Auch wenn im Artikel nichts über die empirische Grundlage der Leitmotive bekannt wird, zeigt sich, dass die Vorstellung, Entwicklung über Gestaltung zu steuern, offenbar im deutschen Stadtentwicklungsdiskurs tatsächlich eine hegemoniale Deutung ist.1 Dass weder die integrative Logik noch die rationale von Strom und Mollenkopf besprochen wird, könnte bedeuten, dass sie bei der Diskussion um diese beiden Stadtentwicklungsprojekte tatsächlich keine Rolle spielten. Möglich ist auch, dass die Aufmerksamkeit hier auf den Unterschieden der Diskurse lag, das integrative Deutungsmuster hingegen bei beiden Fällen nur von einer wenig deutungsmächtigen Opposition vertreten wird. 1
Man könnte selbstverständlich auch argumentieren, dass meine Analyse und die von Strom/Mollenkopf aufgrund gleicher Vorerwartungen, ähnlichen Vorwissens und gleicher konzeptioneller Kategorien zu derart ähnlichen Ergebnissen kommen. Möglicherweise hatten wir tatsächlich eine ähnliche Perspektive auf unsere jeweiligen Daten, was aber nicht die Ergebnisse an sich in Frage stellt. Denn trotz aller theoretischen Vorsensibilisierung ist das Set der möglichen Kategorien mit Sicherheit viel reichhaltiger als die anhand des empirischen Materials verwirklichten. Zudem leistete das Raummodell einen entscheidenden Beitrag zur Ordnung der aufgefundenen Strukturen. Als Zwischenstadien waren Deutungsmuster wie ein repräsentatives oder ein ökologisches Deutungsmuster angedacht, wurden bei der Systematisierung allerdings wieder verworfen. Zum Problem von „Emergence versus Forcing“ qualitativer Ergebnisse siehe auch: Kelle 2005.
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Unter Stichworten wie „smart growth oder „sustainable development“ ist die integrative Perspektive aber mit Sicherheit auch in Stadtentwicklungsdiskursen in den USA wirksam, siehe unten. Das rationale Deutungsmuster ist ein Puzzle für sich. Vergleichende Untersuchungen könnten ihm schärfere Konturen geben – oder zeigen, dass es kein relevantes Deutungsmuster ist. Dieses Puzzle, das die vorliegende Empirie noch ziemlich unfertig hinterlassen hat, finde ich sehr reizvoll, gerade weil es im öffentlichen Diskurs so marginal war. Meine These wäre, dass das rationale Deutungsmuster ein älteres Deutungsmuster ist, das sich am ehesten im Vergleich mit historischen Stadtentwicklungsdiskursen schärfen lässt. Verbindungen zur planungstheoretischen Debatten (ein Überblick bei Altrock u.a. 2004) oder zu dem, was Ipsen (1997) als Raumbild (im Sinne eines Entwicklungskonzeptes, das sich in räumliche Strukturen einschreibt) der fordistischen Moderne bezeichnet, deuten sich an. Vergleichsuntersuchungen zu den Chemnitzer Ergebnissen dürften insbesondere bei den Beziehungen zwischen den Deutungsmustern Unterschiede zeigen. Besonders reizvoll wäre hier der Kontrast zu Stadtentwicklungsdiskursen in wachsenden Städten. Ich vermute auch, dass die erarbeiteten Deutungsmuster einige ostdeutsche Besonderheiten aufweisen. Welche das sind bzw. ob überhaupt relevante Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Deutungen zur Stadtentwicklung bestehen, wäre ebenfalls durch weitere Forschung zu überprüfen.
Kultur- und diskurstheoretische Interpretation Die Erarbeitung der Deutungsmuster erfolgte zunächst rein nach Sinnzusammenhängen unabhängig von der Akteursebene. Nachdem in der Analyse die Akteursebene wieder eingeblendet wurde, zeigte sich, dass sich die Deutungsebene und die Akteursebene nicht kongruent zueinander verhalten, sprich: die Deutungsmuster werden nicht jeweils von konkreten Akteuren vertreten, sondern einzelne Akteure bedienen in ihren Diskursbeiträgen teilweise bis zu drei Deutungsmuster gleichzeitig. Besonders häufig traten Beiträge auf, die eine Kombination von marktwirtschaftlichem und gestalterischem Deutungsmuster repräsentierten. Die Vorstellungen des marktwirtschaftlichem und des gestalterischen Deutungsmusters werden in diesen Beiträgen soweit harmonisiert, dass sich die Vorstellung eines Kreislaufs aus Wirtschaftswachstum und Stadtgestaltung ergibt. Dieses Kreislaufmodell interpretiere ich als die lokale Ausprägung des Wachstumsparadigmas in der Stadtentwicklung. Induziert nun der Schrumpfungsprozess Wandlungsprozesse? Nach den 234
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im Theorieteil hergeleiteten Charakteristika kulturellen Wandels entwickle ich die folgende Interpretation: Deutlich zu beobachten war, dass der Wohnungsleerstand und der Bevölkerungsrückgang einen widerständigen empirischen Kontext bildeten, von dem sowohl Handlungsroutinen als auch Deutungsroutinen irritiert bzw. konterkariert wurden. Die Phänomene Wohnungsleerstand und Bevölkerungsrückgang trafen nicht auf einen Erfahrungshintergrund bzw. auf gültige Sinnstrukturen, mit deren Hilfe sie interpretiert und Handlungsoptionen entwickelt werden konnten. Das führte zur Wahrnehmung einer Krise, die sich vor allem darin äußerte, dass nicht öffentlich über die Phänomene der Krise gesprochen wurden. Diese Tabuisierung des öffentlichen Redens über Schrumpfung und Wohnungsleerstand, wie sie Bohne (2003) und Hannemann (2004) für Deutschland in den 1990er Jahren nachzeichnen, prägt auch die „Vorwehen“ des Schrumpfungsdiskurses in Chemnitz. Als das Tabu in Chemnitz bricht, wird deutlich, dass zwei Akteursgruppen bereits seit längerem intensiv damit beschäftigt sind, Auswege aus der Krise zu finden, nämlich einerseits die PlanungspraktikerInnen, vor allem das Baudezernat, und andererseits die Wohnungswirtschaft, genauer die großen Wohnungsunternehmen. Diese beiden Akteure sind in der Bewältigung der als Krise wahrgenommenen Situation aufeinander angewiesen. Das Hauptinteresse der Verwaltung ist, den nach Jahren der Tabuisierung angestauten Problemdruck zu bewältigen. Angesichts der Beobachtung, dass die bis dahin üblichen Steuerungsinstrumente versagen, hat sie außerdem ein Interesse daran, die eigene Gestaltungsmacht aufrechtzuerhalten. Das Hauptinteresse der Wohnungswirtschaft besteht darin, die Krise wirtschaftlich zu überleben. Dafür ist es einerseits nötig, die leer stehenden, nicht vermietbaren Wohnungen als unprofitablen Ballast abzuwerfen und andererseits das Wohnraumangebot der Stadt insgesamt zu reduzieren um den Wohnungsmarkt wieder zum Vermietermarkt werden zu lassen. (die Entwicklung des Wohnungsmarkts zum Mietermarkt exemplarisch zu Leipzig in Steinführer 2004: 165-180) Die neue Praxis des ersatzlosen Abrisses von Wohnraum entwickeln also zwei Akteursgruppen, die sowohl deutungs- als auch gestaltungsmächtig sind, und zwar motiviert durch ihre genuinen Interessen. Das bestätigt für diesen Fall Sahlins Annahme, die vitalen Interessen von Gruppen seien der Moment, der den Wandel kultureller Strukturen vorantreibt. PlanungspraktikerInnen und Wohnungswirtschaft formieren eine neue Diskursgemeinschaft, die sich durch einen Korpus gemeinsamer Argumentationen auszeichnet. Die Sprecher der Diskursgemeinschaft tragen diese unisono in der Öffentlichkeit vor. Beide Akteurs235
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gruppen sind in überregionale Diskurse eingebunden, die zeitgleich mit diesem Thema befasst sind. Die Handlungsoption Abriss bzw. Rückbau wird von überregionalen politischen und administrativen Eliten mit Fördermitteln und Programmen untersetzt. Dazu werden die lokalen Verwaltungen aufgefordert, Integrierte Stadtentwicklungsprogramme zu erarbeiten, die den Status informeller Steuerungsinstrumente haben (vgl. BMVBW 2003a, 2003b, 2004; Weidner 2005). Als Startschuss für einen öffentlichen Diskurs dient die Veröffentlichung des Berichts der Leerstandskomission, die Abriss als spontane Praxis (im kulturtheoretischen Sinn) empfiehlt. So kommt es, dass zu dem Zeitpunkt, als das Tabu bricht, bereits Handlungsstrategien und Begründungen von den PlanungspraktikerInnen ausgearbeitet sind, in Chemnitz vom Baudezernat in Form schriftlicher Konzepte. Es wird deutlich, dass hier intensive analytische Vorarbeit zu den Ursachen der Entwicklung und zu Prognosen für die weitere Entwicklung geleistet wurde. Aufgrund dieser Analysen akzeptieren die Konzepte Schrumpfung als Entwicklungsmodus und etablieren im Wesentlichen zwei neue Praktiken: den ersatzlosen Abriss von Wohnraum und die Steuerung der Entwicklung über eine intensive Kommunikation mit der Wohnungswirtschaft. Das bekannte Steuerungsinstrument staatlicher Förderprogramme wird angepasst, das Förderprogramm „Stadtumbau Ost“ wird ins Leben gerufen. Für den Deutungsprozess ist nun wesentlich, wie diese Praxis reflektiert wird und wie sie in die Gestaltung der Stadt integriert wird. Dabei meine ich, den von Oevermann beschriebenen Schritt des Rückgriffs auf vorprädikative Images rekonstruieren zu können: Zur genaueren Planung der Stadtumbaumaßnahmen orientiert sich die Verwaltung an den vagen Leitbildern von Urbanität und Dichte, der Europäischen bzw. der kompakten Stadt. Wie zum gestalterischen Deutungsmuster ausgeführt, werden diese Leitbilder sehr formelhaft verwendet und im Wesentlichen auf die vor dem Zweiten Weltkrieg in Chemnitz existierende räumliche Struktur bezogen. Die Ausführungen zu diesem Thema sind an keiner Stelle konkret und decken sich auch nicht mit in der Fachliteratur verhandelten Konzepten, (vgl. Rietdorf 2001, Siebel 2004). Besonders deutlich ist die nachträgliche Legitimierung von Entscheidungen hier, da diese Leitbilder verkürzt und sehr selektiv verwendet werden, was Oswalt (2004a, 13) auch für den gesamten nationalen StadtumbauDiskurs feststellt. Während der Prozessbeobachtung und bei der Auswertung der Daten trat eher eine Art blasses Abbild aus den Äußerungen hervor, das sich nur schwer anhand von konkreten Begriffen in den sprachlichen Daten
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belegen lässt. Es tritt eher in den Bildern, in Reaktionen auf andere Vorschläge, im Tonfall von Vorträgen und in Emotionen hervor. Die ideale Gesamtstadt erscheint analog der von mir gewählten Zirkuszelt-Metapher als eine im Zentrum dichte, hohe und lebendige Stadt, die zum Stadtrand hin in der Höhe, der Dichte und der Lebendigkeit abfällt bis die Stadt schließlich in Landschaft und dörfliche Strukturen übergeht. Diese vagen Idealvorstellungen, die den Handlungsentscheidungen zugrunde liegen, interpretiere ich als Entwicklung von vorprädikativen Images, wie sie nach Oevermann in Krisensituationen unter Entscheidungszwang als spontane Handlungsgrundlage genutzt werden. Da mir die verwaltungsinterne Diskussion nicht zugänglich war, kann ich diese These nicht weiter prüfen. In der Reflexion, so interpretiere ich weiter, wurden dann in der aktuellen Fachdiskussion virulente Leitbilder der Stadtentwicklung wie das der Europäischen Stadt zur Begründung und Legitimierung der Handlungsabsichten genutzt. Dies alles aus dem Interesse heraus, die Stadt weiter zu gestalten, nun unter den veränderten Vorzeichen. Die Abrisspläne konzentrieren sich daher auf Bausubstanzen und räumliche Strukturen, die diesem vagen Idealbild definitiv nicht entsprechen, allen voran die Plattenbauten in der Großwohnsiedlung. Gleichzeitig wird „die Europäische Stadt“ damit zur idealisierenden Beschreibungsfigur von Vergangenheit. In einer Stadt wie Chemnitz, die bis dahin eher mit Etiketten wie Industriestadt oder sozialistische Stadt bedacht wurde, wird die Konstruiertheit dieser Begrifflichkeiten besonders deutlich. Die Vergangenheit wird diskursiv neu organisiert, um die gegenwärtigen Entscheidungen zu begründen und zu legitimieren. Dabei wird die Charakterisierung von Chemnitz als Industriestadt weiter geführt, die Beschreibung als sozialistische Stadt jedoch fallen gelassen bzw. zu überwinden gesucht. Anhand der Diskussion um die Innenstadtgestaltung, die in dieser Arbeit nicht ausgeführt wurde, wird die Tradition der Industriestadt verknüpft mit den baulichen Leistungen der frühen Moderne der 1920er und 1930er Jahre, so dass aus Chemnitz eine Stadt in der Tradition der Moderne konstruiert wird (vgl. Mössinger und Lange 2003: VIIIff.). Ein wesentliches Element der Neuausdeutung der Vergangenheit ist die Abwertung der baulichen und räumlichen Strukturen aus der sozialistischen Ära, die an überregionale hegemoniale Deutungen anknüpfen können, wie sie die überregionale Presseberichterstattung transportiert (vgl. Großmann 2005b, Wiest 2006). Die Diskursgemeinschaft, die in Chemnitz den Deutungs- wie den Handlungsprozess vorantreibt und auch dominiert, sind die PlanungspraktikerInnen, ihr Sprecher ist der Baudezernent. Andere Diskursteilnehmer bzw. Diskursgemeinschaften melden sich erst zu Wort, nachdem 237
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der Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm veröffentlicht wurde. Jetzt allerdings wird die Deutungsmacht der Verwaltung aus drei Perspektiven (lebensweltliches, rationales und integratives Deutungsmuster) angegriffen. Es wird der Versuch unternommen, die Konzepte der Verwaltung zu delegitimieren. Die Handlungsvorschläge und Begründungen der Verwaltung werden aus der jeweiligen Sicht reinterpretiert und alternative Deutungen und Handlungsvorschläge vorgebracht. Die entstandene Opposition verfügt dabei aber über wenig legitimierte Sprecherpositionen, so dass die Forderung nach einer Veränderung der Entscheidungsprozesse zum gemeinsamen Nenner einer zivilgesellschaftlichen Koalition von Vertretern der integrativen und der lebensweltlichen Perspektive wird. Diese Koalition fordert, dass BürgerInnen und Zivilgesellschaft bereits bei der Erarbeitung der Konzepte beteiligt werden, dass eine stadtweite inhaltliche Auseinandersetzung stattfinden möge darüber, wie der Schrumpfungsprozess gesteuert werden soll und welche Prioritäten beim Erhalt räumlicher Strukturen gesetzt werden sollen. Diese Kritik richtete sich also auf den Prozess. Inhaltlich löst die Außer-Wert-Setzung der Großwohnsiedlung und die daraus abgeleitete Handlungsoption „flächenhafter Rückbau“ heftige Konflikte mit den BewohnerInnen dieser Stadtteile aus, die sich als Diskursgemeinschaft mit diskursiven Eliten formieren und Koalitionen zu anderen Diskursgemeinschaften aufbauen. Sie erarbeiten sich einen gemeinsamen Korpus an Argumenten, formulieren ihre Deutungen und hinterfragen die Deutungen und Handlungskonzepte der Verwaltung. Dabei erreichen sie leichte Modifizierungen im überarbeiteten Integrierten Stadtentwicklungsprogramm. Die Vokabel flächenhafter Rückbau wird gestrichen, das ausgewiesene Rückbaupotenzial wird in Richtung der tatsächlichen Leerstände korrigiert, die Möglichkeit zu Aufwertungsmaßnahmen explizit gemacht. Die zivilgesellschaftliche Koalition erreicht mit ihren Protesten gegen das Verfahren und mit der Forderung nach kooperativen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen die Aussicht auf zukünftige Mitsprache bei der Erarbeitung von Quartierskonzepten. Auf die hegemonialen Deutungen des Ereignisses, die sich mehr oder weniger innerhalb der Symbiose aus gestalterischem und marktwirtschaftlichem Deutungsmuster bewegen, haben diese Aushandlungen jedoch kaum nennenswerte Auswirkungen – zumindest im Beobachtungszeitraum. Eine tatsächliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Das hat mehrere Ursachen. Die Verwaltung sieht sich als Diskursgemeinschaft, die aufgrund ihrer Analysen í und wahrscheinlich auch aufgrund der Anbindung an den nationalen Stadtumbau-Diskurs í über ein 238
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Vorauswissen verfügt. Mit dem begründbaren Selbstbild, Vorreiter der Entwicklung zu sein, werden andere Diskursbeiträge als überkommene, nicht zeitgemäße Forderungen wahrgenommen und behandelt. Diese Haltung wird auch in der Beziehung zum Stadtrat beziehungsweise zu dessen Ausschüssen deutlich. Der Stadtrat greift nicht in die Deutungsarbeit ein, sondern ist selbst mit der Orientierung in diesem Themenfeld und in den aufbrechenden Konflikten beschäftigt. Das Räumliche Handlungskonzept Wohnen wird vom Stadtrat ohne weiteres beschlossen und der Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm von den Ausschüssen ohne Änderungen „durchgewunken“. Erst im anschließenden Beteiligungsprozess bricht die öffentliche Debatte los und die Stadträte sehen sich starker Kritik ausgesetzt. Die Änderungen im Integrierten Stadtentwicklungsprogramm kommen durch die bürgerschaftlichen bzw. zivilgesellschaftlichen Proteste hin zustande und entsprechen den oben genannten Modifizierungen, nicht aber einer Änderung der zugrunde liegenden Deutungen. Eine weitere Anfechtung der hegemonialen Deutungen unternimmt der Vertreter des rationalen Deutungsmusters, bleibt aber im Diskurs isoliert. Die Wertmaßstäbe der Verwaltung werden hier noch pointierter in Frage gestellt. Diese völlig marginalisierte Perspektive hat im Ringen um Deutungsmacht allerdings keine Aussicht auf Erfolg, was nur zum Teil auf der Ebene der Sinnstrukturen zu erklären ist. Diese böten durchaus Anknüpfungspunkte, insbesondere für die Wohnungseigentümer oder auch für die integrative Perspektive. Die Erklärung liegt im Fall Chemnitz wohl eher auf der Akteursebene: Der einzige (öffentliche) Vertreter wird als ewig Gestriger geschnitten, seine Positionen werden als planwirtschaftlich und als überkommene Städtebauvorstellungen aus der DDR-Zeit interpretiert und sind damit nicht legitimierungsfähig. Ein dritter Komplex des inhaltlichen Widerspruchs zu den Verwaltungskonzepten kommt aus einer formierten Diskursgemeinschaft der Zivilgesellschaft, nämlich der Agenda-Bewegung und dem soziokulturell- ökologisch orientierten Milieu. Dieser Diskursgemeinschaft, die das integrative Deutungsmuster vertritt, fällt die Adaption der bisherigen Ziele an die eingetretene Situation am leichtesten, in gewissem Sinne ist Schrumpfung ein Entwicklungsmodus, der erwartet und befürwortet wird í Stichwort „Grenzen des Wachstums“. Die Vorstellungsmuster dieser Diskursgemeinschaft werden kaum irritiert, teilweise tritt für die Argumentation sogar eine Entspannung ein í Stichwort Flächenversiegelung. Irritierend wirkten lediglich das unerwartete Einsetzen der Entwicklung und die Notwendigkeit, sich in der Auseinandersetzung mit anderen Diskursgemeinschaften neu zu orientieren. 239
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Das integrative Deutungsmuster erhebt sich in gewisser Weise über die anderen, indem es die Deutungen und Handlungen insbesondere aus dem marktwirtschaftlichen Deutungsmuster als Ursache der Krise benennt. Damit ist es das einzige Deutungsmuster, das einem anderen Deutungsmuster (und seinen VertreterInnen) Verantwortlichkeit beziehungsweise Schuld zuweist und es als zu überwindende Vorstellung benennt. Aus integrativer Perspektive wird damit ein kulturellen Wandel regelrecht einfordert. Die Sprecher dieses Deutungsmusters finden sich auf wenig bis semilegitimierten Sprecherpositionen (sachkundige Einwohner, Beirat), nicht jedoch auf direkten Entscheidungspositionen, sie führen eine Art Paralleldiskurs, die hegemonialen Deutungen werden kaum berührt. Das heißt jedoch nicht, dass keine Anzeichen für kulturellen Wandel zu identifizieren sind. Diese finden sich aber nicht wie erwartet in den öffentlichen Auseinandersetzungen sondern vielmehr innerhalb der Diskursgemeinschaft der PlanungspraktikerInnen. Bereits vor der heißen Diskussionsphase formulieren sie Leitbilder für Stadtentwicklung, die Vorstellungen des gestalterischen und des integrativen Deutungsmusters mischen. Auch während der Debatten kommen vom Sprecher der Diskursgemeinschaft hin und wieder Statements, die mühelos und stimmig aus integrativer Perspektive argumentieren. Meistens jedoch argumentieren sie vor dem Hintergrund des Kreislaufs aus Wirtschaftswachstum und Stadtgestaltung. Der Kreislauf erfährt im Beobachtungszeitraum Irritationen, auf die gerade die Diskursgemeinschaft der Planungspraktiker aufmerksam machen. Sie macht deutlich, dass die Bevölkerungszahlen einer Stadt nicht nur von ihrer wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Die Geburtenentwicklung hat einen ebenso großen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung und stellt in letzter Konsequenz die Kreislauflogik in Frage. Daher plädieren sie auch für Strategien, die Schrumpfung als Entwicklungsmodus mittelfristig akzeptieren und sich aus der Kreislauflogik verabschieden. Möglichkeiten der kommunikativen Steuerung werden eingesetzt, die sich zwar vorerst auf die Wohnungswirtschaft beschränken, aber auf Stadtteilebene auch auf weitere Akteursgruppen ausgeweitet werden sollen. So etwas würde in der marktwirtschaftlichen Perspektive keinen Sinn ergeben, trifft sich aber mit den Deutungsstrukturen aus dem integrativen und in geringerem Maße auch aus dem lebensweltlichen Deutungsmuster. Spontan ergeben sich Handlungsfelder, die diese neuen Annäherungen verstärken, allen voran die Aufwertung von Brachflächen zu gestalteten Grünflächen, auch wenn verschiedene Akteure damit unterschiedliche Zielsetzungen verbinden. Im Verlauf des Diskurses werden diese 240
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Einflüsse jedoch zurückgenommen zugunsten einer Orientierung auf die Wiederbelebung des Kreislaufs aus Wirtschaftswachstum, Gestaltungsbedarf, Stadtbildaufwertung, Imageverbesserung und weiterem Wirtschaftswachstum. Prämissen nachhaltiger bzw. integrativer Stadtentwicklung werden dabei wieder in den Hintergrund gedrängt. Es zeigt sich, dass die Annäherungen zwischen integrativem und gestalterischem Deutungsmuster nur auf einer ganz allgemeinen, konzeptionellen Ebene liegen. In den konkreten Richtungsentscheidungen wird den gestalterischen/marktwirtschaftlichen Argumenten eine Priorität eingeräumt, zum Beispiel werden wirtschaftliche Ziele über das formulierte gestalterische Ziel der Innenentwicklung gestellt. Begründet werden diese Prioritätensetzungen über die Denkfigur des Humankapitals, also hochqualifizierte EinwohnerInnen bzw. potenzielle ZuzüglerInnen, die als Nachfrager von suburbanen Wohnformen eingeschätzt werden. Ganz pointiert drückt die bereits zitierte Formulierung aus dem Integrierten Stadtentwicklungsprogramm diese Zweigleisigkeit und Unentschiedenheit aus, das Lavieren zwischen Wachstumslogik und integrativen Prämissen: „Stadtumbau ist keine eindimensionale Aufgabe. Auch bei sinkender Wohnungsnachfrage ist für Teilmärkte oder einzelne Aufgaben "Wachsen" zu planen: z. B. für die neue Innenstadt, für geeignete Gewerbeflächen, für die Nachfrage nach Wohneigentum mit Garten oder für die Weiterentwicklung der Infrastruktur. Die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Entwicklungen – einerseits Abnahme und andererseits Wachstum erschwert die kommunalpolitische Diskussion und die Formulierung einfacher Lösungen auf dem Weg zur "nachhaltigen Stadt Chemnitz“.2
All diese Deutungen, Strategien, Reflexionen und Begründungen der im Integrierten Stadtentwicklungskonzept formulierten Handlungsziele können nach Oevermann als erste Takte der Entstehung des Neuen interpretiert werden, die zunächst noch als Entgleisungen von einer reparierenden Instanz wieder in die alte Bahn zurückgeholt werden, wie Oevermann es nennt. Als besonders charakteristisch für diese reparierenden Deutungen halte ich die Formulierungen um Plus und Minus, von der Notwendigkeit, Schrumpfen zu managen und Wachstum zu organisieren. Hier wird suggeriert, dass die eingetretene Entwicklung wieder überwunden werden könnte und unter der Voraussetzung der richtigen Weichenstellungen für Wachstum auch umkehrbar sei. Ein ähnliches 2
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Motiv der vorübergehenden Entwicklung ist die Denkfigur der „Zwischennutzung“ auf Brachflächen nach Abriss. Die Planungspraktiker werden so zum Schlüsselakteur für eine mögliche Wende vom Wachstumsparadigma hin zu einem – möglicherweise – integrativen Paradigma. Die „Klaviatur“ der integrativen Argumente ist dieser Diskursgemeinschaft bereits vertraut. Ob die Irritationen der Kreislauflogik und die Annäherungen an die integrative Logik zu einem kulturellen Wandel innerhalb der Diskursgemeinschaft der Planungspraktiker führt, hängt eventuell stärker von den Orientierungen verwandter Diskursgemeinschaften ab wie den nationalen PlanungspraktikerInnen und PlanungstheoretikerInnen. Auch institutionell übergeordnete Diskursgemeinschaften wie regionale oder nationale Eliten, die Legislative auf Bundes- oder EU-Ebene kann eine Wende zu einem integrativen Paradigma befördern. Von den Orientierungen der Planungspraktiker wird letztendlich abhängen, ob es zu einer Auflösung der symbiotischen Vorstellungen eines Kreislaufs aus Wirtschaftswachstum, Gestaltungsbedarf, Stadtbildaufwertung, Imageverbesserung und immer weiterem Wirtschaftswachstum kommt. Die Orientierung auf neue, kommunikative Ressourcen zur Gestaltung der Stadt halte ich für einen großen Einflussfaktor für solche Wandlungsprozesse. Wie wahrscheinlich diese Umorientierungen sind, diskutiere ich im Weiteren anhand aktueller stadtsoziologischer Debatten zu Schrumpfungsprozessen. Der erste Komplex fragt nach der Entwicklung der Akteursbeziehungen, da diese – wie deutlich geworden sein dürfte – den Deutungsprozess im weiteren Verlauf entscheidend beeinflussen werden. Als zweites wird in der Zusammenschau von Literatur und empirischen Ergebnissen noch einmal die Frage nach dem Paradigmenwechsel aufgegriffen.
Neue Akteurskonstellationen in Sicht? Die Diskussion um die Öffnung von Entscheidungsprozessen über kooperative Beteiligungsverfahren, wie sie im Beobachtungszeitraum in Chemnitz anzutreffen war, ist offensichtlich ein für viele Stadtumbauprozesse charakteristisches Thema. Kabisch u.a. schlussfolgern beispielsweise aus ihrer Untersuchung zu Weißwasser, dass die mangelnde Einbeziehung der Bevölkerung eine „unnötige Hypothek für den Stadtumbau“ sei. Ein solches Vorgehen provoziere vor allem Misstrauen und Unsicherheit und mobilisiere Protestpotenzial, das dringend benötigte Gestaltungspotenziale binde. (Kabisch u.a. 2004: 163). Cremer (2005) 242
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beschreibt für Marzahn-Nord Beteiligungsprozesse, die ihren Ursprung ebenfalls in einem Konflikt zwischen BewohnerInnen und EntscheidungsträgerInnen genommen haben. In der Reflexion dieser teils konflikthaften, teils auch kooperativen Kommunikationsformen und Akteurskonstellationen wird diskutiert, welchen Stellenwert Kommunikation und Akteursbeziehungen für die weitere Entwicklung der schrumpfenden Städte, Stadtteile oder Regionen haben werden. Aus den dabei entwickelten Ansätzen ergeben sich verschiedene Schlussfolgerungen für mögliche zu erwartende Szenarien der weiteren Entwicklung des Deutungsprozesses. Kämen im Laufe der Stadtumbauprozesse tatsächlich verstärkt kooperative Entscheidungsprozesse zum Zuge, hätte das Auswirkungen auf den Deutungsprozess, denn im Zusammentreffen von BewohnerInnen, Zivilgesellschaft und EntscheidungsträgerInnen sind die gestalterische, lebensweltliche und integrative Perspektive miteinander stärker in Einklang zu bringen, will man nicht voraussetzen, dass manche Akteure in der Lage sind, anderen Teilnehmern die eigenen Deutungen komplett „überzustülpen“. Bleiben diese Kooperationsprozesse aus, würden auch die Anstöße zur Veränderung des Deutungsprozesses ausbleiben. Ob Schrumpfung solche umfassenden Kooperationsprozesse provoziert, ist allerdings umstritten. Zwei Beiträge aus der jüngsten Literatur möchte ich herausheben, die sich dem Thema der kommunikativen Steuerung von Schrumpfungsprozessen auf einer tieferen analytischen Ebene widmen und dabei zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen: Bürkner hält neue Akteurskonstellationen zwar einerseits für normativ wünschenswert und andererseits auch für eine „Voraussetzung für die Überwindung schrumpfungsbedingter Risiken und Handlungsrestriktionen“ (Bürkner 2005: 28), bleibt aber insgesamt skeptisch, ob diese zustande kommen werden. Er beschreibt Akteurskonstellationen, die an den Wachstumsvorstellungen festhalten und eine Rückkehr zu den ‚Normalverhältnissenǥ kernstädtischen Wachstums ermöglichen könnten. Er diskutiert die Fruchtbarkeit des Konzepts der growth coalitions aus dem US-amerikanischen Kontext sowie das der Urbanen Regime für den (ost-)deutschen Kontext und beschreibt im Ergebnis sektorale Koalitionen, die an Wachstum interessierte Akteursverbünde darstellen. Die sektorale Koalition Stadtumbau bestehe aus lokaler Verwaltung, LokalpolitikerInnen und Wohnungsunternehmen. Dies seien die Akteure, die sowohl über Macht verfügen als auch ein hohes Interesse an Wachstum hätten. Ob es Öffnungsprozesse über diese sektoralen Koalitionen hinweg geben könnte, sei offen, aber eher weniger wahrscheinlich. Deutlicher zu beobachten sei der Rückgriff auf „Aktivposten der Wirtschaftsentwicklung“ wie etwa die Universitäten (ebd.: 27f.). 243
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Weiske (2005a) argumentiert dagegen, dass die Ausbildung von lokalen Verhandlungssystemen notwendig kommen müsse, da sie ausschlaggebend für die weitere Entwicklung von schrumpfenden Gebieten, etwa von Stadtteilen seien. Regulierung über klassische top-downStrategien würden die Dynamiken des Schrumpfens nicht mehr ausreichend erfassen und Regulierung müsse gezwungenermaßen stärker über Verhandlungen ablaufen. Gezwungenermaßen, weil die beteiligten Akteure verstärkt ihre Abhängigkeit voneinander wahrnehmen. Die hier vorliegende Fallstudie bestätigt zunächst die Bildung einer sektoralen Koalition Stadtumbau ähnlich der Beschreibung Bürkners. Ähnlich, nicht gleich, da die Rolle der LokalpolitikerInnen etwas zu modifizieren wäre. Ihr Beitrag zur Koalition besteht eher darin, sich den Deutungen der Verwaltung und der Wohnungsunternehmen anzunähern beziehungsweise nicht zu widersetzen. Möglicherweise gehören andere lokale Eliten wie die Wirtschaftsförderung mit der CWE und Teile der Hochkulturszene zu dieser Koalition, oder zumindest zu den SympathisantInnen dieser Koalition. Die Ausbildung von lokalen Verhandlungssystemen, die über diese Koalition hinausgeht, ist im Beobachtungszeitraum nicht zu bemerken. Ansätze könnten später die Ausarbeitungen der Quartierskonzepte in der Großwohnsiedlung bieten. Weiskes These, dass in schrumpfenden Städten ein besonderes Interesse der Akteure an dem Organisationstyp der Verhandlungssysteme entstünde, liest sich vor dem Hintergrund dieser Arbeit eher als Prognose denn als Zustandsbeschreibung. Diese Prognose lässt sich mit meinem Material dahingehend unterstützen, dass die Suche nach neuen Gestaltungsressourcen auch seitens der VertreterInnen des gestalterischen Deutungsmusters, insbesondere der Verwaltung diesen Weg eröffnen könnte. Genauso wäre jedoch ein Szenario denkbar, in dem Entscheidungen weiter innerhalb der sektoralen Koalition Stadtumbau getroffen werden und es lediglich Inseln kleinräumiger Verhandlungssysteme geben würde, wie sie auch vor dem Ereignis bereits vorkamen bzw. in wachsenden Kontexten etwa in überregional geförderten Stadtteilprojekten vorkommen. Sollte allerdings die Prognose zutreffen und sich in schrumpfenden Städten zunehmend eine auf Konsens, d.h. auf gemeinsame Entscheidungen gerichtete Kultur lokaler Verhandlungssysteme ausbilden, hätte dies für den Deutungsprozess ganz entscheidende Wirkungen. Insbesondere die Prämissen und Werte des gestalterischen Deutungsmusters bzw. des Kreislaufmodells, die ohne diese Verhandlungssysteme die Handlungsgrundlage der EntscheidungsträgerInnen bildet, würden zur Disposition gestellt. Auf dem Weg zu konsensualen Entscheidungen würden Öffnungen hin zum lebensweltlichen Deutungsmuster und, je nach Teil244
ERGEBNISDISKUSSION UND AUSBLICK
nahme an den Verhandlungssystemen í „Personnage“, wie Weiske formuliert í auch weitere Öffnungen zum integrativen Deutungsmuster immer wahrscheinlicher. Die Verbindung zwischen lebensweltlichem und gestalterischem Deutungsmuster hat in der Stadtpolitik im Übrigen bereits Vorbilder, die auch diese Art von Verhandlungssystemen beinhalten: nämlich die behutsame Stadterneuerung, die allerdings bisher meist eine Praxis vor allem für innerstädtische, vorwiegend gründerzeitliche Gebiete gewesen ist. (vgl. Bernt 2003).
Ende der Großwohnsiedlungen in Sicht? Auf dem Workshop „Stadtvisionen – Visionen für Chemnitz.“ Im April 2002 hing an einer Tafel als Vision für das Jahr 2030 „Das Heckert ist weg.“ Die versammelte Runde schwieg sich mehrheitlich darüber aus, wie realitätsnah sie diese Vision einschätzt. Trotzdem ist bemerkenswert, dass es diese Formulierung überhaupt gab. Niemand hätte geschrieben: Der Sonnenberg ist weg (gründerzeitliches Arbeiterviertel mit hohen Leerständen) oder: An der Zwickauer Straße wohnt keiner mehr. Das erste wäre tabu und die Zwickauer Straße ist kein Thema im öffentlichen Diskurs. Derart radikale Prognosen sind für die Großwohnsiedlung also nicht tabu. Würde sich nun ein verstärkter, kooperativer Kommunikationsprozess entwickeln, stünde besonders die kulturelle Bewertung der Großwohnsiedlungen und ihre Konkurrenz zu den gründerzeitlichen Gebieten auf der Agenda, da sie nach den oben dargestellten Ergebnissen ein Hauptthema des Deutungsprozesses gewesen ist und insbesondere bei der Entscheidung, wo, wie viel und was abgerissen werden soll, handlungsleitend war. Die bisher zu beobachtende hegemoniale „kulturelle Entwertung der Plattenbaugebiete“ (Kabisch u.a. 2004: 31) wird in solchen Verhandlungssystemen, wie Weiske sie prognostiziert, mit zur Disposition stehen. Die starke Abwertung der Plattenbaugebiete im Zuge der Debatte um Wohnungsleerstand und Abriss kann ebenfalls als Rollback in der Transformation von Deutungsmustern interpretiert werden, wie Oevermann ihn für die ersten Takte der Transformation erwartet. Kabisch u.a. stellen fest, dass diese Abwertung sich gegenüber der zweiten Hälfte der 1990er Jahr wieder verstärkt hat und dass heute „nahezu alle (bereits überwunden geglaubten) Vorurteile, die in den frühen 90er Jahren gegen die Platte angeführt wurden, ... heute wieder die öffentliche Wahrnehmung (bestimmen, KG).“ (Kabisch u.a. 2004: 31)
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Drei Tendenzen lassen mich glauben, dass die Großwohnsiedlungen noch jede Menge Zukunft haben. Zum einen weisen die pragmatischen Visionen zur Stadtgestalt, die von einer künftig polyzentrischen Struktur mit oder ohne Kern ausgehen, auf eine Aufgabe des Leitbilds von der kompakten historischen Stadt innerhalb der gründerzeitlichen Grenzen hin. Zum anderen lassen die infrastrukturellen Nöte der Stadtumbauprozesse eine Hinwendung zur stärker funktionalen Bewertung von Bausubstanzen und räumlichen Strukturen erwarten. Zum dritten meine ich, dass die hitzigen Debatten letztendlich auch zur Stabilisierung der Gebiete beitragen: es hat sich eine Lobby für die Gebiete gebildet, sie stehen in der öffentlichen Aufmerksamkeit, teilweise werden Quartierskonzepte erstellt. Die Vermieter sind – verglichen mit kleinen Eigentümern in anderen Teilen der Stadt í einflussreich und haben ihre Geschäftsstrategien der veränderten Situation angepasst. Wenn die oben angesprochenen Verhandlungssysteme sich irgendwo formieren, dann ganz sicher in den Großwohnsiedlungen. Die neueste Erhebung im Zuge der Langzeitstudie zur Großwohnsiedlung Leipzig Grünau zeigt zudem – zumindest für Grünau –, dass der Mythos von der Abstimmung mit dem Möbelwagen, von der unaufhaltsamen Entleerung der Plattenbaugebiete nicht haltbar ist. Die Identifikation der BewohnerInnen mit diesem Wohngebiet steigt wieder, die Haushaltseinkommen liegen in Grünau insgesamt über dem Leipziger Durchschnitt. Damit ist auch der Mythos vom städtischen Armenviertel entkräftet. (Kabisch u.a. 2005: 4, 7). Liebmann (2004: 162ff.) formuliert drei Strategien für die ostdeutschen Großwohnsiedlungen, die gleichzeitig auch als Entwicklungsszenarien gelesen werden können: A) Stabilisierung durch Aufwertung, zumindest auf eine bestimmte Zeitspanne hin gesehen, B) Stabilisierung durch Schrumpfung und C) Rückzug. Wo welche Strategie zur Anwendung kommt, hänge von der Größe einer Siedlung, der Lage im Stadtgebiet, dem Sanierungsstand, der Bevölkerungsstruktur, dem Image etc. ab. Neben all den nötigen physischen Eingriffen, neben intensiven Kommunikationsprozessen über die Zukunft von Quartieren und neben Veränderungen der Belegungspolitik sei aber auch positive Imagearbeit ein notwendiger Bestandteil der Stabilisierung von Großwohnsiedlungen (vgl. Liebmann 2004). Zu diesem Schluss kommt auch Hastings (2004), die sich mit den Ursachen der Stigmatisierung von Siedlungen in Großbritannien beschäftigt. Die physische Aufwertung der Siedlungen führe nicht automatisch zu einer besseren Reputation, solange die stigmatisierenden Images nicht diskursiv herausgefordert würden. Wie erfolgreich Imagearbeit sein kann, wird m.E. jedoch stark von der weiteren Entwicklung hegemonialer Diskurse abhängen. Lokale 246
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Werbekampagnen nützen wenig, wenn Großwohnsiedlungen in den überregionalen Medien und in den Diskursen der Entscheidungsträger weiter als hässliche unwirtliche Ghettos, als Dinosaurier des DDRWohnungsbaus und als Ort der sozial Schwachen stigmatisiert werden. Die Schlüsselposition liegt aus meiner Sicht bei den PlanungspraktikerInnen. Unterstützt werden könnte eine In-Wert-Setzung der Großwohnsiedlungen durch die spielerischen Versuche von Künstlern und Architekten in den verschiedenen nationalen und internationalen Projekten, die gerade mit lebensweltlichen und zivilgesellschaftlichen Akteurskonstellationen arbeiten (u.a. Steiner 2003, Oswaldt 2005). Dass das Fritz-Heckert-Gebiet in Chemnitz im Jahr 2030 „weg“ ist, ist also hochgradig unwahrscheinlich.
Was ist international in Sicht? Um der Frage nach einem möglichen Epochenwandel, also tatsächlich weitgreifenden Wandlungsprozessen auf der kulturellen Ebene, näher zu kommen, eignen sich m.E. besonders internationale Vergleiche. Die Beschäftigung mit dem internationalen Vergleich von Schrumpfungsprozessen ist zwar im Kommen (vgl. u.a. Berliner Debatte Initial 1/2007, www.shrinkingcities.com, Kunzmann 2003), allerdings werden meist die Schrumpfungsphänomene und mögliche Handlungsansätze diskutiert, nicht so sehr die Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse. Wer hoffte, hier Fundiertes zu lesen, den kann ich nur mit einem Beispiel vertrösten. Einen Blick auf Deutungsprozesse in einer seit Jahrzehnten schrumpfenden Stadt warf ich bei einem Forschungsaufenthalt in Pittsburgh/USA im Herbst 2003,3 (vgl. Großmann 2007). Hier zeigten sich erwartungsgemäß Unterschiede, aber auch überraschende Gemeinsamkeiten. Der größte Unterschied bestand darin, dass trotz einer Halbierung der Einwohnerzahl innerhalb von 60 Jahren (1940: 676.806; 2000: 334.563 Einwohner4) und trotz massiver Leerstände keinerlei Abkehr von Wachstumsvorstellungen auf Seiten der diskursiven Eliten zu beo3
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Im Zuge dieses Forschungsaufenthalts wurden Experteninterviews mit Akteuren der Stadtentwicklung durchgeführt sowie Dokumente zum Thema gesammelt und ausgewertet. Ein systematischer Vergleich mit den Chemnitzer Ergebnissen ist allein auf dieser Datengrundlage nicht möglich. Vergleichende Forschung müsste sich auf vergleichbare Daten stützen. Vgl. http://trfn.clpgh.org/eldi/citypop.html, zuletzt aufgerufen am 27.02.2004.
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bachten war. Die – wenn auch ungeliebte í Akzeptanz der schrumpfenden Entwicklung, wie sie in Deutschland die Debatte prägt, war nicht zu beobachten. Im Mittelpunkt des Interesses lag nach meiner Beobachtung die Rückkehr zu Wachstumsprozessen über die Umstrukturierung bzw. eine Neuerfindung der lokalen Ökonomie. Das Thema Wohnungsleerstand wurde wesentlich weniger prominent behandelt als in Deutschland. Wohnungsleerstand wurde nicht so sehr als ein Zuviel an Wohnraum behandelt, sondern als Phänomen sozialer Ungleichheit. Da Leerstände vor allem in sozialen Problemvierteln mit hohem Anteil schwarzer Bevölkerung beziehungsweise Bevölkerung mit niedrigen Einkommen auftraten, wurden sie als Phänomen städtischer Teilräume in Verbindung mit sozialer Ungleichheit diskutiert. Das Stadtplanungsamt beschäftigte sich seit drei Jahren mit Absiedlungsplänen für bestimmte Teilgebiete der Stadt, allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit, da solche Pläne politisch sensibel seien und sich kein Kommunalpolitiker eine Rückzugsstrategie auf die Fahnen schreiben wolle. Eine Art von Stadtumbau auf Stadtteilebene findet längst statt, nämlich eine Reduzierung der baulichen Strukturen bei gleichzeitigen Aufwertungsbemühungen, getragen hier von den jeweiligen Stadtteilentwicklungsinitiativen, den Community Development Corporations (CDC’s). Der Schwerpunkt der Stadtteilarbeit lag allerdings auf den Aufwertungsbemühungen. Die Perspektive der Akteure ist als lebensweltlich-integrativ zu beschreiben, wie selbstverständlich werden soziale, ökonomische und ökologische Ziele miteinander verbunden (vgl. Großmann 2005c). Eine weitere bemerkenswerte Parallele ist die, dass die einzigen Akteure, die den Rückgang der Bevölkerungszahlen, das Ausdünnen der städtischen Strukturen und den nachlassenden wirtschaftlichen Verwertungsdruck auf die Fläche auch positiv bewerten, eben genau jenen zivilgesellschaftlichen Akteuren entsprechen, die im Chemnitzer Prozess das integrative Deutungsmuster vertreten: Die Lokale Agenda 21 für Chemnitz hier und „Sustainable Pittsburgh“ dort, die Stadtteilinitiativen hier und die Community Development Corporations dort sowie vor allem ökologisch motivierte Akteure hier und dort. Das Muster von Stadtentwicklung, was diese Akteure in Pittsburgh vertreten, entspricht dem Prinzip des integrativen Deutungsmusters, wie ich es für den Chemnitzer Kontext beschrieben habe. Last but not least: auch der Entwicklungsbegriff ist in der Diskussion. So antwortete der Geschäftsführer von Sustainable Pittsburgh auf meine Frage nach seinen Empfehlungen für die Stadtentwicklungspolitik in Pittsburgh: „So this region, in this definition, doesn’t need growth, it needs development. It needs sustainable development.“ (Großmann 2007: 20) 248
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Da die Datengrundlage der Pittsburgh-Studie hier keinen systematischen Vergleich der Deutungsprozesse erlaubt und auch die gewählten Interviewpartner mit Sicherheit nicht die Gesamtheit der in den Stadtentwicklungsdiskurs involvierten Diskursgemeinschaften abbildet, lassen sich keine eindeutigen Schlüsse ziehen. Die bemerkenswerten Analogien lassen aber weitere international vergleichende Forschungsarbeit zu den Deutungsprozessen und Akteurskonstellationen verschiedener schrumpfender Städte sehr viel versprechend erscheinen. Zentral von Interesse hierbei wären m.E. die Ansätze aus dem integrativen Deutungsmuster sowie die Rolle der PlanungspraktikerInnen und der Zivilgesellschaft bei der Umorientierung. Forschungsfragen müssten berücksichtigen, welche Akteure mit welchem Legitimationspotenzial am Diskurs beteiligt sind und welche Auseinandersetzungen zu beobachten sind. Als ausschlaggebend dürften sich auch die kommunikativen Prozesse erweisen, die sich in Deutschland bereits zu einem Spezialdiskurs in der Erforschung von Schrumpfungsprozessen mausern.
Paradigmenwechsel in Sicht? Die empirisch erarbeiteten Thesen zu kulturellem Wandel stehen in starker Analogie zu einigen Beiträgen aus dem nationalen Diskurs der Stadtforschung, insbesondere den in zum Stand der Forschung dargestellten Beiträgen zu verschiedenen Ausgestaltungen eines Paradigmenwechsels, die ich abschließend noch einmal diskutieren möchte. Wie auf Seite 26 ausgeführt, ist ein Paradigma ein grundlegendes vortheoretisches Modell der Wirklichkeit, das Grundlage von Handlungen, Wahrnehmungen und Zukunftserwartungen ist. Paradigmen sind zeitgebunden und können im Zusammenhang mit einer Umbildung des allgemeinen Wirklichkeitsverständnisses abgelöst und durch neue beispielhafte Grundkonzeptionen ersetzt werden. So gesehen ist das, was von PlanungspraktikerInnen und –theoretikerInnen national als Paradigmenwechsel postuliert wird, nämlich die Orientierung auf ein Management von Schrumpfung statt einer Steuerung von Wachstum (exemplarisch Weidner 2005: LXXXVII), im eigentlichen Sinne kein Paradigmenwechsel. Hier wird zunächst eine neue Praxis gefunden, aber (noch) nicht eine neue Grundkonzeption des allgemeinen Wirklichkeitsverständnisses entwickelt. Die neue Praxis entspricht zumindest den Kriterien einer sozialen Innovation (Gillwald 2000). Die Kriterien sind, dass diese Praxis
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x eine relative Neuerung im Sinne eines ‚anders als bisherǥ darstellt. x sowohl Ergebnis als auch Auslöser einer Krise ist. x einen Richtungswandel darstellt, der neue Wege eröffnet um gesellschaftliche Ziele besser zu erreichen. x die typische Akteurskonstellation aus Anbietern bzw. Innovationspionieren als Betreiber der Veränderung, zweitens aus Adressaten, die die Veränderung anwenden (sollen) und drittens aus weiteren Beteiligten und Betroffenen aufweist. x drei Phasen aufweist, nämlich Invention, also die Idee oder Erfindung, die Innovation als Phase der Umsetzung in eine Praxis und der Diffusion als Verbreitung der Innovation. All diese Kriterien halte ich im Falle der vorliegenden neuen Praxis für gegeben (ausführlich dazu Großmann 2005a). Diese Praxis, deren Hauptmerkmal die ersatzlose Reduzierung des Wohnungsbestandes ist, formuliert ihre Ziele jedoch innerhalb der bestehenden Kategorien. Es geht darum, den Kreislauf aus wirtschaftlichen Investitionen (in den Wohnungsmarkt), Gestaltungsbedarf und Verbesserung des Images der Stadt, in dem Stadtentwicklungspolitik hegemonial gedacht wird, wieder anzuschieben, Investitionen anzuziehen und die Fähigkeit zur Gestaltung zurück zu gewinnen. Ein eigentlicher kultureller Wandel, ein Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung im Sinne der oben getroffenen Definition liegt damit noch nicht vor. Doch besteht ein Zusammenhang zwischen sozialen Innovationen und gesellschaftlichem Wandel. Soziale Innovationen stellen nach Gillwald Teilmengen gesellschaftlichen Wandels dar. Zu fragen wäre, eine Teilmenge welchen gesellschaftlichen Wandels die soziale Innovation Stadtumbau darstellt. Ob die erarbeiteten Thesen und Ansätze zu tatsächlichen Wandlungsprozessen heranreifen, wird sich vor allem an der weiteren Deutungsarbeit des Schlüsselakteurs Verwaltung zeigen. In den Beiträgen, die einen möglichen Paradigmenwechsel auf der Ebene von Bedeutungen besprechen, werden verschiedene mögliche Wandlungsprozesse angesprochen. Sie orientieren sich an übergeordneten Diskursen um gesellschaftliche Entwicklung und positionieren sich allesamt unter dem Stichwort „Abkehr von der Wachstumswelt“. Immer wieder wird auf die Globalexpertise „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (Meadows 1972) verwiesen als das Initial zur Umkehr des Entwicklungsdenkens weg von einer Fixierung auf quantitatives Wachstum (Weiske und Schmitt 2000: 161) bzw. auf ein Denken in Zuwachs und Beschleunigung (Kil 2004a: 130).
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Besonders deutlich ist das bei den Beiträgen von Kil. Er diskutiert explizit und offensiv die Potenziale von bereits vorhandenen gesellschaftlichen Gegenentwürfen oder Alternativprojekten zum gesellschaftlichen Mainstream wie etwa die Slow-City-Bewegung oder Vorschläge zur Existenzsicherung jenseits der Arbeitsgesellschaft wie Grundsicherung, staatliche Förderung ökologischer Lebensweisen oder alternativer Wirtschaftsformen wie Subsistenzwirtschaft, Tauschringe oder RegioGeld (Kil 2004a: 132ff., 152). Bezieht man diese Ansätze auf die erarbeiteten Deutungsmuster, wird deutlich, dass sie allesamt in der integrativen Perspektive stehen, teilweise in der lebensweltlichen Perspektive. Es sind Ansätze, die das Ziel verfolgen, gerade jene Denkmodelle zu verlassen, für die Wachstum, das Denken in Zuwachs konstitutiv ist. Stattdessen werden gerade Chancen der Verbindung von gestalterischer und integrativer Perspektive diskutiert, wie etwa die Überlegungen zu einer alternativen Urbanität, die ökologische und gestalterisch-funktionale Aufwertung miteinander verbindet (vgl. Schröer u.a. 2003). Auch die Überlegungen zu einem Wechsel des Planungsverständnisses weg von der klassischen normativen Planung hin zu einer Planung, die auf Moderation, Deskription und Spiel setzt (Döhler 2003), bzw. hin zu einer „schwachen Planung“, die auf kulturelle Experimente, Kommunikation und soziale Netzwerke setzt (Oswalt 2004a: 16), stehen der lebensweltlichen und der integrativen Perspektive nahe. In diesen Überlegungen spiegelt sich die beschriebene Auseinandersetzung zwischen der zivilgesellschaftlichen Koalition und den EntscheidungsträgerInnen um mehr kooperative Entscheidungsprozesse wider. Festzuhalten bleibt auch, dass in den angesprochenen Beiträgen der Stadtforschung die von den Autoren eingenommene Perspektive eher unemotional hinsichtlich bestimmter Bausubstanzen ist, dagegen aber sehr parteiisch für Menschen, für die Modernisierungsverlierer und deren prekäre Lebenswelten. Es bleibt also festzuhalten, dass Diskurse mit gesellschaftsveränderndem Impetus existieren, an die Entwicklungsvorstellungen für Schrumpfende Städte – zumindest im Gedankenspiel – ohne weiteres anknüpfen können. Wenn also soziale Innovationen Teilmengen gesellschaftlichen Wandels bilden, so lassen sich diese Beiträge als Hypothesen zur Richtung des gesellschaftlichen Wandels lesen. Daher komme ich letztendlich zu folgender These:
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Im Beobachtungszeitraum dokumentiert sich ein diskursives Ereignis, das sich als ein Mosaikstein in einem übergeordneten kulturellen Wandlungsprozess erweisen kann. Städtische Schrumpfungsprozesse könnten sich als Katalysator eines Paradigmenwechsels erweisen, der langfristig ein Entwicklungsmodell ablöst, dessen zentrale Annahme darin besteht, dass alle Entwicklung eine Folge wirtschaftlicher Prozesse ist und dessen zentraler Wert Wachstum ist. Ein neues, allgemein anerkanntes Paradigma würde eine integrative Logik verfolgen, die Entwicklung als interdependenten Prozess verschiedener Teilbereiche der (städtischen) Gesellschaft begreift. Der Schlüsselakteur für diesen Prozess ist im Bereich Stadtentwicklung die Diskursgemeinschaft der Planungspraktiker. Eine systematische Aufarbeitung der Verknüpfung dieser Diskurse, beispielsweise um nachhaltige Stadtentwicklung, um Planungstheorie und -selbstverständnis, um die Zukunft der Arbeits- (oder Tätigkeits-)Gesellschaft, um soziales Kapital und endogene Potenziale und deren Bezug zu Schrumpfungsprozessen, mit dem Stadtumbau-Diskurs wäre also eine mögliche weiterführende Forschungsrichtung. Besonders interessant wären hier aber nicht nur eine theoretische bzw. normative Diskussion, sondern die Überprüfung der Anschlussfähigkeit an konkrete Praxen und an die Deutungsarbeit der EntscheidungsträgerInnen aus Planungspraxis und Politik. Denn, wie Kil (2004a: 152) feststellt, ist nicht das Ziel das Problem, sondern der Weg zu einer Gesellschaft, die sich dauerhaft und mit positiven Konzepten im Schrumpfungsprozess einrichtet.
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Weiske, Christine; Schmitt, Jürgen (2000): Metamorphosen der Stadt: Cities on the move. Thesen zur Diskussion um das städtische Wachstum. in: Raumplanung Nr. 91. Dortmund. S. 161-163. Wentz, Martin (Hrsg.) (2000): Die kompakte Stadt. Reihe: Die Zukunft des Städtischen; Bd. 11, Frankfurt am Main ; New York: CampusVerlag. Wernet, Andreas (2000): Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik. Opladen : Leske und Budrich. Wiest, Karin (2006): Soziale Grenzen in Städten – Repräsentationen von Wohngebieten in den neuen Ländern. In: Europa Regional, 14, 1, S. 33-40. Wiest, Karin; Hill, André (2004): Segregation und Gentrification in der schrumpfenden Stadt? [http://www.thilolang.de/projekte/sdz/ index_de. html], zuletzt aufgerufen am 17.07.2005. Winkel, Rainer (2003): Schrumpfung und ihre siedlungsstrukturellen Wirkungen. in: Müller, Heidi; Schmitt, Gisela; Selle, Klaus (Hrsg.): Stadtentwicklung rückwärts! Brachen als Chance? Aufgaben, Strategien, Projekte. Eine Textsammlung für Praxis und Studium. Dortmund: Dortmunder Vertrieb für Bau- und Planungsliteratur, S. 4047. Wirth, Louis (1974): Urbanität als Lebensform. in: Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Stadt und Sozialstruktur. München: Nymphenburger Verlag, S. 42-66. Wolf, Hubert (2002): „Einstürzende Neubauten“ in: WAZ vom 13.04.2002, Beilage. Wolff, Stephan (2000a): Wege ins Feld und ihre Varianten. in: Flick/v. Kardorff/Steinke (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, S. 334-359. Wolff, Stephan (2000b): Clifford Geertz. in: Flick/v. Kardorff/Steinke (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg. S. 84-96.
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Urban Studies Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Performative Grundlegungen eines bürgerlichen Habitus im 18. Jahrhundert
Karin Bock, Stefan Meier, Gunter Süß (Hg.) HipHop meets Academia Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens
Dezember 2007, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-803-2
Oktober 2007, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-761-5
Martina Heßler Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos
Alexander Jungmann Jüdisches Leben in Berlin Der aktuelle Wandel in einer metropoletanen Diasporagemeinschaft
November 2007, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-725-7
Lars Frers Einhüllende Materialitäten Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals November 2007, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-806-3
Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen November 2007, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-419-5
Laura Bieger Ästhetik der Immersion Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City Oktober 2007, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-736-3
Oktober 2007, ca. 550 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-811-7
Marcus S. Kleiner, Winfried Fluck, Rainer Winter, Jörg-Uwe Nieland Diskursguerilla Kultur- und medienwissenschaftliche Analysen des Widerstands Oktober 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-684-7
Laura J. Gerlach Der Schirnerfolg Die »Schirn Kunsthalle« als Modell innovativen Kunstmarketings. Konzepte – Strategien – Wirkungen Oktober 2007, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-769-1
Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung Oktober 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Urban Studies Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik September 2007, 328 Seiten, kart., 19,90 €, ISBN: 978-3-89942-676-2
Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Sound and the City Populäre Musik im urbanen Kontext September 2007, ca. 140 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-796-7
Katrin Großmann Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz September 2007, 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-718-9
Stephan Lanz Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt
Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie Juni 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-497-3
Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz Juni 2007, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-759-2
Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin Mai 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-679-3
Doris Agotai Architekturen in Zelluloid Der filmische Blick auf den Raum April 2007, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-623-6
Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung
September 2007, 432 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-789-9
April 2007, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-622-9
Jürgen Hasse Übersehene Räume Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses
Sonia Schoon Shanghai XXL Alltag und Identitätsfindung im Spannungsfeld extremer Urbanisierung
August 2007, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-775-2
April 2007, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-645-8
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Urban Studies Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City März 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-612-0
Björn Bollhöfer Geographien des Fernsehens Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken Februar 2007, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-621-2
Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity Februar 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-614-4
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