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German Pages 131 Year 1983
Manfred Voigts AM ENDE SPRACHE Zur rettenden Kraft des Wortes in der atomaren E.nclze:it. ••..:~ •-=-·
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Vier Aufsätze
Königshausen + Neumann
1983
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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Voigts, Manfred: Am Ende Sprache : zur rettenden Kraft d. Wortes in d. atomaren Endeit : 4 Aufsätze / Manfred Voigts. - Würzburg: Königshausen und Neumann, 1983. ISBN 3-88479-126-5
© Verlag Dr. Johannes Königshausen + Dr. Thomas Neumann, Würzburg 1983 Satz: Fotosatz Königshausen + Neumann Druck und Bindung: difo-druck,Bamberg - Alle Rechte vorbehalten Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes oder von Teilen daraus (Fotokopie, Mikrokopie) bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags
Printed in Germany
ISBN 3-88479-126-5
INHALT Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Zitat vors Gericht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aus welchem Holze ist der Name? Eine kleine Kreuz- und Querfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sprache und Atombombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Nachtrag: Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Der Klloten ........
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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Vorbemerkung Der Untertitel dieses Aufsatzbandes kann insofern einen falschen Eindruck erwecken, als sich mit dem Problem der atomaren Endzeit nur die beiden letzten Aufsätze befassen. Dennoch geht es indirekt in den beiden Aufsätzen auch um diese Problematik, denn es geht in beiden um den Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Ende der Zeiten. Das Nachwort wird in Ergänzungen zu den ersten beiden Aufsätzen den Gesamtzusammenhang dieses Buches deutlich machen. Folgende Aufsätze wurden schon in Zeitschriften veröffentlicht: - ,Das Zitat vors Gericht!' in: Akzente, Heft 4/ August 1981, S. 357-366, die Nachbemerkung S. 383{. - ,Aus welchem Holze ist der Name?' in~Katabole, an experimental Journal of Philosophy (Hamburg), Heft 1/ 1982, S. 38-58
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Das Zitat vors Gericht!
1 Es gibt zwei Möglichkeiten, Vergangenes in die Gegenwart hereinzuholen, das Erzählen und das Zitieren. Seitdem die Menschen in aufgeklärten und gesetzlich geregelten Gesellschaften leben, möchten sie nicht mehr sich der Willkür derjenigen ausliefern, die mit fra~ürdiger Autorität Geschichten erzählen, sie wollen jeden Buchstaben vor Gericht widerlegen oder einklagen können. Das Zitat ist ,authentisch\ ist das Vergangene in unveränderter Form, ist vergangene und vollende Vergangenheit und als solche unberührbar. Und doch zeigt jede wissenschaftliche Arbeit, jedes Gerichtsverfahren, daß man mit einem Zitat fast alles machen kann, was man will. Die Wissenschaft muß den Zusammenhang von Gerichtsverfahren und Zitierung ablehnen, denn sonst müßte sie erkennen, daß sie Ankläger und Richter in einer Person ist, Jedes Wörterbuch aber weist zwei Bedeutungen des iZitierens' nach: das wörtliche Anführen einer Belegstelle und die· Vorladung vor Gericht. Beidemal geht es um Sprache, um aufgeschriebene im Zitat, um gesprochene vor Gericht; das wissenschaftliche Zitat sieht von der Person ab und geht auf neues Geschriebenes aus, vor Gericht steht hinter der Aussage immer die Person und auf andere Personen zielt das Verfahren.
2 Ist das Zitat aber nicht einfach Ausdruck dessen, daß wir innerhalb einer geistigen Tradition leben, mit der wir uns - notgedrungen - in Zitaten zustimmend oder ablehnend auseinandersetzen? Kann man nicht gerade in (geistes-)wissenschaftlichen Schriften dieser Tradition nur in Zitaten habhaft werden? Aber gerade dies steht ja zur Disposition: Ob man in einer geistigen Landschaft, einem Traditionsstrom einfach ,lebt', ihn als fraglos gegeben ansieht, ober ob er tägliche_.stündliche, ja minütliche Aufgabe ist. Es ist die Frage, ob die Tradition als Aufgabe in ein Zitat überhaupt eingehen kann oder ob das wissenschaftliche Zitat in seinen unbegriff enen Voraussetzungen es nicht gerade verhindert, daß die Tradition, die Geschichte als in der Gegenwart gegebene Aufgabe erkannt wird.
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3 Die Wissenschaft ist sich über Zweck und Bedeutung des Zitierens in keiner Weise im klaren. Noch weniger ist daher die Zitierbarkeit selbst für sie ein Problem. Daß das wissenschaftliche Zitieren keine Naturnotwendigkeit ist, zeigt ein Blick in die Bücher des 18. Jahrhunderts, in denen sehr selten und dann fast immer nur in Fußnoten zitiert wird; manchmal wurden die Schriften, auf die man sich bezog, im Vorwort oder in einer Aufstellung am Ende des Textes angeführt. Das Zitieren hatte einen anderen Charakter als heute, es war in der Regel die Berufung auf klassische oder kirchliche Autoritäten, zu denen man unmittelbar in Beziehung trat; nur selten wurden andere Meinungen zitiert, um sie zu widerlegen. Das änderte sich in dem Maße, in dem jede Wissenschaft ihre Geschichte und damit ihre Abspaltung von den drei Hauptfakultäten thematisierte~ Der Fortschritt der 'W'issenschaften führte zu den inzwischen unendlichen wissenschaftskritischen Vorbemerkungen, Exkursen und Anmerkungen, Schon im 19. Jahrhundert, denke ich, war das Verhältnis Text-Zitat umgeschlagen: Das Zitat, vorher autoritative Stütze des eigenen Denkens, vturde zum Thema selbst, wies es doch die Geschichte der vorgetragenen Ideen und Erkenntnisse nach} im Positiven wie im Negativen. Die Vorstellung vom Fortschritt der Wissenschaften veränderte die Stellung des Zitates völlig, denn nur in ihm konnte sich die Wissenschaft ihrer selbst - im vermeintlichen Fortschreiten begriffen - angesichtig werden. Das Zitat wurde zum Rückgrat der Wissenschaft. Die wissenschaftlichen Gründe des Zitierens aber können die Tiefe des Problems in keiner Weise ausloten. Es geht nämlich zuletzt nicht um das Zitieren, sondern um die Zitierbarkeit. Diese meint natürlich nicht einfach die Möglichkeit) Teile aus einem Text herausnehmen zu können, sondern einen sehr komplexen und in sich auch widersprüchlichen Zusammenhang von Schreibvorgang, Lesevorgang, Zeitund Geschichtsbewußtsein und zuletzt dem Vorgang des Zitierens selbst. Das Zitat der vorau:fklärerischen Zeit war immer Teil, der für das Ganze stand, pars pro toto, Hinweis auf den ,Geist' des Autors und dessen Autorität. Das neuere Zitat ist gerade gegen diese ganze Ganzheit gerichtet, es hält sich an den Fortschritt, der bekanntlich schrittweise oder )stückchenweise' vorankommt. Gerade nicht das Ganze eines Werkes wird mit Zitaten widerlegt, sondern der Teil, und dies macht einen wichtigen Zug der Zitierbarkeit aus: die Teilbarkeit des Textes. Wer einen Text mit dem auf Teilbarkeit gerichteten Blick liest, der schreibt aus einem mit Teilbarkeit rech• nenden Geist. · Daß das Zitieren gerade nicht das Ganze des Textes ins Auge faßt, sondern nur einen Teil, der als historisches Belegmaterial oder als kritisch zu überwindende Auffassung fungiert, zeigt einen tiefgreifenden Wandel des Weltbildes: Das relativ Richtige übernimmt die Stelle der wrahrheit, die nur ganz und heil auftreten kann, Die Wahrheit wurde entlassen in dem Bewußtsein} daß die Wahrheit nicht entfliehen 8
kann, daß sie zuletzt doch erreicht werden muß. Wahrheit und konkrete Geschichte wurden voneinander getrennt, erstere wurde über die Geschichte gesetzt; in der Geschichte wurde der relative Fortschritt etabliert. Das Zitat ist jetzt Garant der ,relativen Richtigkeit' der Geschichte. Daß am Schluß der Geschichte aber nicht die Vollendung, sondern nur ein Ende stehen könnte, lagaußerhalb des Fortschrittsdenkens, und damit auch, daß das Ende und damit der Moment der Einforderung der Wahrheit jederzeit sein kann.
4 Es ist merkwürdig, daß wohl noch nie erkannt wurde 1 daß das Zitat das wahre Fragment ist; es ist nicht Teil eines projektierten, nicht vorhandenen Ganzen, sondern tatsächlich herausgebrochen aus diesem vorhandenen Ganzen. Und wo von Teil und Ganzem die Rede ist, dort ist Hermeneutik gemeint. Das Gerede über Teil und Ganzes, darüber, daß das Ganze sich nur über die Teile, die Teile sich nur über das Ganze verstehen lassen, verdeckt die wahre Tiefe des hermeneutischen Problems, die Dilthey schon deutlicher gesehen hat als viele seiner Deuter: Hermeneutik erschließt den Riß zwischen Zeit und Geschichte. Das Ganze - es muß hier sehr vereinfacht werden - vertritt die Zeit mit dem Aspekt der Ewigkeit, der Teil die Geschichte mit dem Aspekt der Gegenwart. Indem Herme• neutik und nur dort, wo Hermeneutik diese beiden ,Ebenen', auf denen sich ,Bedeutung' konstituieren kann, scharf voneinander abhebt, eröffnet sie den Raum von bedeutungshaftem Leben, von Sinn und Unsinn, Lebendigkeit und Tötung, Schöpferi~ sehen und Verderben. Das wissenschaftliche Zitat zerstört dieses lebendige Gegeneinander, indem es das Ganze des Textes nicht ernst nimmt, allein den Gegenwartsaspekt gelten läfü und so glaubt, der ,geschichtlichen Bedeutung' angemessen Rechnung tragen zu können. Da Gegenwart und Gegenwärtigkeit sich aber selbst nicht tragen können, erschleicht sich das Zitat die Ewigkeit des Ganzen und entwertet damit endgültig auch die Gegenwart, die zur bloßen Aktualität degeneriert.
5 Das Zitat ,funktioniert' nur innerhalb eines Widerspruchs, dieser ist sein geheimes Wesen. Man kann auch sagen, daß das Zitat immer wieder einen \Viderspruch hervortreibt und stabilisiert. Einerseits ist das Zitat Teil einer unveränderbaren, vollendeten Vergangenheit 1 andererseits aber wird mit ihm gehandelt und argumentiert, als sei es Teil der Gegenwart und damit der Willkür unterworfen, al:i sei es zumindest potentielle Gegenwart, indem es an der Aktualität gemessen wird. Und dieser Vorgang, in dem das Zitat einmal als vollendet vergangen, dann aber als poten9
tiell aktuell -vielleicht abgelehnt, vielleicht akzeptiert - fungiert, eröffnet die wahre Bedeutung des wissenschaftlichen Zitates: Es zerstückelt nicht nur den Text, es zerstückelt die Zeit und die Geschichte~ das Zeit- und Geschichtsbewußtsein. Dieser unbegriff ene Widerspruch beherrscht weithin das Geschichtsbew{igtsein: Die Gegenwart legitimiert sich zwar aus der Vergangenheit heraus, sie entwertet dieM se aber durch den Bezug auf die Aktualität, den aktuellen Erkenntnisstand. Was zu einer Potenzierung führen sollte, zur historischen Objektivierung der Erkenntnis, führt in W'ahrheit zur Depotenzierung der Geschichte, zur Zirkelbewegung der Aufuebung von Bedeutung. Der Blick aufs Zitat, der auf der einen Seite ,Objektivität' sehen möchte, ist gleichwohl motiviert durch den aktuellen Fortschritt, der Wille zur Objektivität bezieht von dieser Aktualität her seine Energie, denn aus dem Textganzen wird immer im Hinblick auf ein aktuelles Problem herausgeschnitten. Aktualität auf der einen und vollendete Vergangenheit auf der anderen Seite aber können nie zusammenkommen und Tradition stiften. Die Aktualität ist ein Auswirkung des Fortschrittsdenkens, sie behauptet ihre Stellung aber auch dort, wo die naive Hoffnung auf Fortschritt überwunden wurde, weil das Fortschrittsdenken das geschichtliche Bewußtsein zerstört hat. Es wurde ersetzt durch das Zeitachsen-Bewußtsein~ dieses garantiert die Vorstellung der ,Unberiihrbarkeit' der vorgeblich ,vollendeten' Vergangenheit, indem es glaubt, die Zeit sei eine unendliche Linie, auf der sich die Gegenwart als Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheitbeständig, gleichmäßig und unaufhaltbar in einer Richtung verschiebt. Es scheint ein starker Antrieb für die fortwährende Regenerierung des Zeitachsen-Bewußtseins zu sein, daß sie über die Differenz zwischen Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit hinwegtäuscht. Wenn der Fortschritt als ebenso unaufhaltbar vorwärtsrückend vorgestellt wird wie der Zeiger einer Uhr, dann wird nicht mehr erkannt, daß die vom Menschen gemachte Geschichte anders verläuft, anderen Gesetzen folgt, als die Zeit und Zeitlichkeit in ihrem vom Menschen nur meßbaren, nicht aber beeinflußbaren geradlinigen Ablauf. Diese Verwirrung wird im Zitat bestätigt und bekräftigt: Wenn das Zitat von der Aktualität in die vergangene Vergan~ genheit zurückspringt bzw. den umgekehrten Weg antritt~ dann verbindet es ohne Wissen des Zitierenden diese beiden Ebenen, die ~vollendete' Vergangenheit gehört der Zeit und Zeitlichkeit an, die Aktualität der Geschichtlichkeit. Das Besondere des wissenschaftlichen Zitates ist es, daß es die beiden Endpunkte dieses Verwirrspieles miteinander verbindet, die angeblich ,vollendete' Vergangen• heit und die ,Aktualität'. Beides steht komplementär zueinander: Die Aktualität be• greift sich als jederzeit ,überholbar', um, kaum der Gegenwart zugehörig, in die Ver~ gangenheit zurückzufallen; hinter der Geschichtlichkeit, der Wirkung und Bedeutung in der Gegenwart steht schon der Schatten der Zeitlichkeit und Vergänglich• keit. Die vollendete Vergangenheit ist dieser schon verfallen, aber indem ein Teil eines Textes als Zitat hervorgehoben wird, ist ihm potentiell in der Aktualität auch 10
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Gegenwärtigk.eit zugesprochen, selbst dann, wenn es als vergangen kritisiert wird, denn es war ein Moment der Konturierung, der Signierung von Aktualität. So definiert sich das eine durch das andere, ohne sich dessen bewußt zu sein, ohne zu erkennen, daß hinter diesem quid~pro-quo ein Vorgang von entscheidender Bedeu tung sich verbirgt. Und dem gilt es nachzugehen, er macht das wahre Zentrum der Zitierbarkeit aus. 4
6 Es ist so wichtig, dieses innere Funktionieren des wissenschaftlichen Zitates deutlich zu machen, weil es auch andere Weisen des ,Zitierens' gibt: Das Zitieren von C'zesten,von Lebenshaltungen, Seilen, ja sogar von Geschichtspochen. ,,Die große Revolution zitierte das alte Rom" - schrieb Walter Benjamin (GW I.3, S. 1239). Ohne dieses Zitieren gäbe es keine menschliche Geschichte, es macht vielmehr deutlich - und Benjamin hat ja gerade dies hervorgehoben -, daß alles Neue nur als Vergangenes oder alles Vergangene nur als Neues wirksam werden kann. Das Zitie• ren des alten Rom war ein Akt gegenseitiger schöpferischer Befruchtung, der fran• zösichen Revolution wie des alten Rom. Das wahre, weil lebendige Zitat sieht im Vergangen nichts Unberührbares, Abgeschlossenes, es zitiert gerade deshalb, weil es die U nabgeschlossenheit des Vergangenen erkannt hat, mehr: weil es die Vergangen• heit offen halten will, über die Gegenwart in die Zukunft hinein.
7 Durch den Vorgang des Schreibens wird das Lebendigste, der menschliche Geist, der die ganze Welt vergegenwärtigen kann, in tote Buchstaben verwandelt, die greifbar, mißverständlich und zerstörbar sind. Schreiben ist eine Grablegung, der Geist geht nur getötet in die geschriebenen Buchstaben ein, und dieses muß so weit er• kannt und anerkannt werden, daß zwei Konsequenzen notwendig erscheinen, nämlich daß der ganze Text, also nicht nur der Buchstabe selbst, sondern auch der Prozeß des Schreibens selbst in seiner Zeit- und Geschichtlichkeit tot ist) und daß der lebenspendende Vorgang des schöpferischen Lesens den Text einem neuen - und nicht dem alten - Leben zuführt. Das wahre Zitat anerkennt dies: Seine Autorität bezieht es gerade aus der schöpferischen Auferstehung des Textganzen, obwoht wie wir sehen werden, sie diese nur anstreben, nie aber endgültig leisten kann. Es ist vielleicht der entscheidende Unterschied zwischen wissenschaftlicher und poetischer Literatur, daß die erstere immer auch im Hinblick auf die Zitierbarkeic geschrieben wird, die letztere sich aber allenfalls zur wahren Zitierung eignet. Die wissenschaftliche, auf Zitierung hin geschriebene Literatur läßt den Text nicht in Frieden sterben, dieser soll potentiell aktuell bleiben, aufspaltbar in tote und leben~ 11
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dige Teile. Das Zitieren sperrt sich gegen die Einsicht in den Kreislauf von Leben und Tod des Schreibens und Lesens. Es erschleicht sich den Anschein von Geschichte, indem es sich in der angeblichen Unberührbarkeit den Anschein von vollendeter Vergangenheit gibt, die es nicht hat. Die vermeintliche ,Objektivität', die vollendete Vergangenheit verdankt sich einer unbegriffenen Verdoppelung der Vergangenheit, die die Übertragung des Zeitachsen-Bewußtseins auf die komplexe Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit des Menschen nach sich zieht. Jeder Moment der Vergangenheit wird einerseits immer wieder lebendig in der Gegenwart, in den verschiedensten Ursachen-FolgeBeziehungen, er ist nicht einmal in seiner Bedeutung festgelegt und darin in Beziehung gesetzt und abhängig von der Gegenwart, andererseits aber ist die ,Faktizität' der Vergangenheit unaufhebbar, unberührbar, objektiv. Die Vorstellung, daß die Vergangenheit auf irgend eine Weise Zeitmoment auf Zeitmoment in völliger U n~ veränderbarkeit aufbewahrt, obwohl die Gegenwart alles niederreißt und neu aufbaut, diese Vorstellung ist der Nährboden des Zitates. Indem das ZeitachsenBevrußtsein es verbietet, auch in der Vergangenheit wirksam sein zu können, verurteilt es die ,Faktizität' der Vergangenheit, den Umstand, daß das Geschehene geschehen und nicht berührbar und veränderbar sei, zur Schattenexistenz zwischen Leben und Tod im Reich der Untaten, das nach allen Sagen das Reich der Hölle ist. Die ,Faktizität' ist also keine ,vollendete Vergangenheit', denn diese ist nicht starr, sondern gestorben, hinein in die unendliche Bewegung von Geschichte und Zeit. Zwischen der ,Faktizität' der Vergangenheit und der Aktualität des aus dem Textganzen herausschneidenden Blickes stehen die der Widergeburt entgegensehenden Texte und die vermeintliche Objektivität derart gegeneinander, daß das Zitat, zwischen die Fronten geraten, innerlich zerrissen wird. Der Zitierende schließt dem Textgewaltsam die Augen. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß man im Zitat etwas festhalten kann, für oder gegen das zu streiten es sich lohnte. Zitate sind einerseits das Rückgrat der wissenschaftlichen Argumentation, andererseits aber nur unwesentliche Beigabe, Illustration. Zitate geben allein den Anschein von Vergangenheit und beweisen nichts. Die einzig mögliche Konsequenz wäre: Wo zitiert wird, muß ge~ schwiegen werden, oder man schreibt sich die Zitate ganz offen selbst.
8 Denn auch das wahre Zitat, in eine Gesellschaft gestellt, die wissenschaftlich zitiert, weil es ihrem Zeit- und Geschichtsbewußtsein entspricht, ist nur ein Notbehelf, denn es lebt nicht im einzelnen, sondern nur in der Geschichte, es ist Teil der Geschichte. Zitiert wird hier nicht der Wortlaut, der als leere Hülle des toten Buchstabens sogar zuletzt zurückbleibt, sondern der Prozeß von Schreiben und Lesen, insofern er das Bild der Geschichte ist, mehr: insofern er konzentrierte Geschichte 12
ist, der Vorgang von Sterben, Vergessenund Zeitlichkeit einerseits und der von Erinnerung, Auferstehung und Geschichtlichkeit andererseits. Der letzte Rest von starrer ,Faktizität' muß dem Text genommen werden, indem er in den Wechsel von Tod und Auferstehung, Schreiben/Vergessen und Lesen/Erinnern hineingenommen wird. Das.wahre Zitat gibt nicht den Text zu lesen; sondern den Wunsch des Textes, wieder aufzuerstehen. Es anerkennt die Macht der Sprache, die überall schon gewesen ist, wo der tätige und planende Mensch hingelangt, die dem Menschen erst die Welt gibt. Die Gewaltsamkeit, mit der die existentielle Begegnung mir dem Wort nach außen gekehrt wird im Schreibvorgang, muß im Lesen zurückgenommen wer~ den, die Herabdrückung des Wortes in die Zeitlichkeit, in Mißverständnisse und Vergessen, muß durch die Erweckung des Textes als geistiger Energie und die Wiedereinführung des Textes in den schöpferischen Prozeß der Geschichte nicht zwar rückgängig gemacht, sondern wiedergutgemacht werden. Der geringste Anschein von ,Objektivität' muß diesen Vorgang entscheidend stören. Der Mensch steht in der Zeit und Geschichte nicht als Abfolge von Geschlechtern oder als Auswirkung von Vergangenem, sondern als einziges Wesen ► das in der Gegenwärtigkeit seines Geistes den Zeitstrom unterbrechen kann: So, wie nach einem Wort von Rosenstock-Huessy die Erinnerung in die Zukunft gerichtet ist ich hoffe, daß das in der Erinnerung Festgehaltene später zum Leben kommt -) so ist die Voraussicht in die Zukunft in die Vergangenheit gerichtet - ich hoffe, daß meine Vergangenheit von der Zukunft aus so gesehen wird. Geschichtlichkeit trennt den Faden des zeitlichen Ablaufes, und wenn das Lesen eines Zitates diese Trennung nicht erlaubt, dann war es keines, das den Text wieder auferstehen ließ. Das Lesen und insbesondere das Lesen eines als Autorität herangezogenen Textes ist in letzter Instanz die Bestätigung der Notwendigkeit, daß der Mensch auferstehen muß, und deshalb ist die Verbindung zum Zitieren eines Menschen vor Gericht ge• geben. Es geht also keineswegs darum, daß ein Zitat als Anklage- und Verteidigungs• schritt vor dem Gerichtsforum des Fortschritts der kritischen Vernunft dienen könnte, denn hier folgt zuletzt allein der Tatsache des Zitiertwerdens automatisch der Schuldspruch und die Wissenschaft ist Ankläger und Richter in einer Person, es geht darum, daß im wahren Zitat über die Auferstehungder schöpferischen Energie entschieden wird, und dies gerade in der Weise, daß das endgültige U rreil immer wieder offengehalten wird.
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9 Wenn nach Benjamin die große Französische Revolution das alte Rom ,zitierte', dann war dies ein Akt der gegenseitigenschöpferischenBefruchtung, des alten Rom wie der Revolution; es war aber auch ein Akt der Geschichtsschöpfung, der den Keim des Todes in sich trug. Nur auf dieseWeisestellt sich Geschichte her: als Folge von Zitaten, und Vergangenesist schon potentiell ein wahres Zitat. Wie das Ding oder der Vorgang nicht von seiner Bedeutung getrennt werden kann, so kann der geschichtliche Augenblick nicht von der Zitierbarkeit getrennt werden) sie sind eins. Die Zitierbarkeit der Geschichte erst macht ihre Menschlichkeit aus, denn sie hält die Geste fest, mit der der Mensch in der Geschichte die Notwendigkeit, aber auch die Hoffnung auf Erlösung vertritt. Vielleicht kann am Ende nur erlöst werden, was schon vordem vom Menschen erlöst wurde. Sicher aber hält das wahre Zitat Geschichte lebendig soweit es menschenmöglichist, um sie möglicherweisedem letzten Gericht zu überantworten. Das wissenschaftlicheZitieren urteilt den Text endgültig ab in der Geschichte, das wahre Zitieren möchte den Text einem vielleicht eintretenden letzten Gericht aufbewahren. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer dtation l'ordre du jour - welcher Tag eben der jüngste ist. (Walter Benjamin, GW I.2~S. 694)
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Walter Benjamin hat in seiner französischen Übersetzung den Sinn des jüngsten Tages noch verdeutlicht, indem er vom „jour du jugement dernier" sprach {GW 1.3,S. 1261): der Tag des letzten Gerichts. Es scheint das Schicksal des unter die Zeitlichkeit gestellten Menschen zu sein, daß er nur zitieren kann, wenn auch das wahre Zitat immer Teil für das Ganze sein soll; immer ist auch das wahre Zitat nur Teil und kann das Ganze nie wirklich sein. Wenn wir das Ganze zitieren könnten, nicht mehr auswählend, heraustrennend und dadurch andere Teile des Textes unerlöst lassend - vielleicht würde sich dann vor unseren Augen 'das ,Buch der Welt' öffnen, lesbar und verstehbar. Benjamin, und das sollte bewußt bleiben, sprach aber davon, daß erst der erlösten Menschheit die ganze Geschichte zitierbar sei, d. h. die Erlösung selbst kann nicht als Ergebnis einer vollständigenZitation gedacht werden, sondern aus anderen Quellen hervorgehend. Nach der Erlösung aber wird auch das Lesen des Buches der Welt, wenn es denn möglich sein sollte, nicht mit dem Lesen unter dem Druck der Zeitlichkeit verw gleichbar sein.
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Nachbemerkung Erst nach dem Lesen der Korrekturfahnen wurde ich auf Richard Fabers ,Der Collage~Essay' (Hildesheim, Gerstenberg, 1979) hingewiesen. Dort heißt es über die auf Zitierung und Fragmentierung hin verfaßten Werke: „Das Werk wird nicht mehr als ein organisches Ganzes geschaffen, sondern aus Fragmenten montiert. Und diese Fragmente sind wortwörtlich - woanders - ,herausgebrochene' Teile, nicht wie in der Frühromantik eigens erstellte ..." (S. 42). In dem Collage-Essay- eine Zitat-Montage ,über· das Zitieren und Montieren werden ganz ähnliche Themen angeschlagen wie in diesem kurzen Versuch von mir. Richard Faber ist dabei von oft diametral entgegengesetzten Voraussetzungen ausgegangen und dennoch zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Fabers Arbeit kann Entscheidendes zur weiteren Klärung dieses Problemkomplexes beitragen.
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Aus ~.relchemHolze ist der Name? Eine kleine Kreuz- und Querfahrt
Warum klagen wir wegen des Sündenfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden; sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen. (Franz Kafka: Betrachtungen 1 in: GW, hrsg. v. Max Brod, Ffm. 1976, Bd. 6, S. 36) Ein Motto schaut niemand an oder schaut's an und ignoriert's. (Hugo von Hofm:mnsthal an Richard Strauss am 30.IV.1928)
1 Es mag vielen, ja allen als ein Zufall erscheinen~ daß eine der entscheidendsten Diskussionen über das Verhältnis von Juden und Christen zur Sprache zwischen Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig ausgetragen wurde 1• Vielleicht ist ihnen selbst die Namensverwobenheit merkwürdig aufgestoßen: Der Zweig trägt die Rosenblüte, aber der Samen muß, um sich zu neuen Blüten zu entwickeln, einen Stock treiben, an dessen Ab-Zweigungen wieder Blüten wachsen. Franz Rosenzweig schrieb an die Rezensentin seines Hauptwerkes, Margarete Susman; Und doch dürfte man wahrlich nicht drucken lassen (solange ich daran schrieb, war ich auch fest entschlossen~ es bei Lebzeiten nicht herauszugeben), wenn man nicht den Mut des Vertrauens hätte, daß sich Menschen finden würden, die über die Mauer des gedruckten Worts hin zum gesprochenen vordringen würden. 2
Später, als er die Rezension von Margarete Susman in Händen hält, bedankt er sich in einem kurzen Brief; L Das erste große Dokument dieses Dialoges ist der Briefwechsel, enthalten in: Franz Rosenzweig: Briefe, Bln. 1935, S. 637f.; hierzu eine kurze Orientierung der Beitrag von Shemaryahu Talmon in: Offenbarung im Denken Franz Rosenzweigs, Essen 1979, S. 119ff. 2. zit. nach; Auf gespaltenem Pfad, zum 90. Geburtstag von Margarete Susman, hrsg. v. Manfred Schlösser, Darmst. 1964; S. 334f.
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Das Wort, das Sie als Motto über ihren Essay gesetzt haben, schrieb ich damals im November 1918 mit dem ganz klaren Bewußtsein, daß es der Kern- und Mittelsatz des Ganzen sei. 3 Das Motto~ das Margarete Susman aus dem ,Stern der Erlösung~ zogr lautete: Denn wahrhaftig, Name ist nicht, wie der Unglaube immer wieder in stolzverstockter Leere wahrhaben möchte, Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer. Den Namen gilt es zu nennen und zu bekennen: Ich glaub ihn. 4
Eugen Rosenstock-Huessy in seinem fingierten Brief Heraklits an Pannenides: Der Name ,Schwester' wäre wertlos, nennte sie niemanden ihren Bruder. Der Pan des namenlosen Chaos ,.,erbreitet panischen Schrecken. Aber Vater Zeus macht uns alle seelenruhig, weil ,vir einander nun durch gegenseitige Anerkennung beruhigen. Da Namen sich reziprok verhalten~ kann ich in jedem Augenblick von meinem Standpunkt aus Dir nur einen Namen geben. Mithin beschränkt mich die Sprache _jedesmal auf einen Hinweg mit Rückweg! Ich kann nur sprechen, weil meinem Hinweg ein Rückweg entsprechen soll. Aus jedem Namen 1 den ich erst anderen verlieh~ liehe ich mir neue Wahrheit, wenn dieser Namen auf mich fällt. Unsere Kinder heißen ja deshalb Eleutheroi, die Liberi, die Kommenden, weil sie nicht unsere Knechte bleiben, sondern wir sie heute schon zu unseren Nachfolgern ernennen. 5
2 Name und Sprache verweisen zurück auf die beiden Ur-Dokumente des europäischen Menschen und damit auf zwei verschiedene Formen des , Ursprungs' von Sprache. Der Name deutet zurück zur Bezeichnung, zum Zeichen, das mit dem Bezeichneten nicht wesensmäßig zusammenhängt. Die Bibel, das eine Ur-Dokument, gibt eine positive Interpretation der Bezeichnung dort, wo Adam die ihm von Gott zugeführten Tiere benennt: und ganz wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heißen. (1. Mos. 2,19)6 Hier stiftet der Gott den Zusammenhang von Namen und Benamtem. Fällt dieser Glaube fort, so verkommt der Name - wie bei Faust - zu ,Schall und Rauch' (Faust I, V.3457), der nicht mehr hilft; dann muß das ,Wesen' einer Person, einer Sache erkundet werden; Faust: Mephistopheles:
Wie nennst du dich? Die Frage scheint mir klein Für einen der das Wort so sehr verachtet,
3. zit. ebd. S. 336 4. Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, Haag 1976, S. 209 5. Eugen Rosenstock-Huessy: Zurück in das Wagnis der Sprache 1 Bln. 1957, S. 74f.; ein längerer Textabschnitt zusammengezogen 6. Bibelzitate hier und später - wenn nicht anders vermerkt - nach der Zürcher Bibel
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Faust:
Der, weit entfernt von allem Schein, Nur in der Wesen Tiefe trachtet. {... ) Nun gut, wer bist du denn? (V. 1325-1334)
Dies ist der krasse Gegensatz zur paradiesischen ,Namensprache'. Die andere Deutung des Sprachursprunges geht nicht von einem einzelnen Wort aus, sondern zumindest von einem Satz, mehr noch, von mehreren) in ''erse und Strophen unterteilte Sätze, vom Gesang. Diese Deutung bezieht sich auf das zweite Ur-Dokument des ew·opäischen Menschen, auf die Ilias (bzw. Odyssee) und die göttlichen Musen; Singe mir, Göttin, den Zorn des Plejaden Achilles (1. Vers) Von den Musen lernten die :Menschenden Gesang und die Sprache; in ihren Rhythmen waren die Rhythmen des Kosmos als göttliche Harmonien abbildlichnachahmend gegenwärtig. In \X1alter F. Otto hat diese Deutung einen überzeugenden Verfechter gefunden: Aber die Göttin Muse ist nur den Griechen begegnet. In ihr offenbart sich eine Bedeutung des Singens und Sagens, von der auch die sprachverwandten Völker nichts gewußt haben: daß es nicht nur eine göttliche und den Menschen von Göttern geschenkte Kunst i!>'t,sondern zur ewigen Ordnung des Seins der Welt gehört, das erst in ihm sich vollendet. Daher ihr hoher Rang im Götterreich. Sie sind nicht bloß Kinder des Zeus, wie andere Gottheiten auch, sondern mitbeteiligt an seinem Schöpfungswerk. 7
Der rühmende - auch trauernde - Gesang der 1v1usen~weitergeschenkt an die Menschen, ist keine lässige Zierde, sie vollendet erst die Welt; der Gesang ist die Offenbarung des Seins der Dinge und so mit dem Sein der Dinge eins, daß ohne den Gesang das Schöpfungswerk nicht vollendet, die Welt nicht vollkommen wäre. 8
Auch die biblische Namensprache war mitbeteiligt am Schöpfungswerk, aber es scheint sich dennoch eine andere Parallele zum Gesang der 1v1usenals Vollendungswerk anzubieten: die Vollendung seines Werkes nahm der hebräische Gott am siebenten Tag vor_,als er ruhte und kein Schöpfungswerk mehr sprach - und gerade deshalb segnete er diesen Tag (1. Mos. 2,1-3). Und dennoch gibt es einen Punkt, an dem beide Auffassungen des Sprachursprunges - als Name und als Gesang - nicht nur verglichen werden können, sondern verglichen werden müssen: im ,Sich einen Namen Machen'. Der rühmende Heldengesang ist das Herz des musischen Gesanges, im Ruhme lebt der Name über den Tod fort, wie es Goethe in ,Euphrosyne' beschrieben hac Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn! Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod. Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias
7. Walter F. Otto: Die Musen, Darmstadt 1971, S. 27 s. ebd. S. 71
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Reiche massenweis' Schatten von Namen getrennt; Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt, gestaltet, Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu.
Walter F. Otto kommentiert: ... der wahre Sinn und Grund des Ewigkeitsglaubens liegt Wort des Dichters, das die Muse gesprochen, ein göttliches durch Nachsprechen erhalten bleibt, sondern weil es göttlich ders als ewig sein - ewig, das heißt dem Zeitlichen enthoben, Dauer. 9
in dem Wissen, daß das Wort ist. Nicht weil es ist, kann es gar nicht annicht von unbegrenzter
Das Göttliche des Heldengesanges ist für den menschlichen Sänger immer nur im Gehörten Empfangenes, es ist nicht Produkt eines - seit der Renaissance geläufigen - Schaffensprozesses. Otto sieht gerade hierin eine wichtige Ähnlichkeit zu den hebräischen Propheten und christlichen Evangelisten 10, und man kann hier die Inspirations-Vorstellung hinzuziehen. Beidemal ist das gehörte Göttliche eine ,Offenbarung'.
3 Und gerade hier bricht der unüberbrückbare Gegensatz auf: Die griechische Offenbarung ist - wie Otto sagte - eine ,Offenbarung des Seins der Dinge', im hebräisch•christlichen Zusammenhang ist die Offenbarung die Apokalypse (oder Hinweise auf sie}. Die Offenbarung der Hellenen ging zurück zum Ursprung, die der He• bräer und Christen geht vorwärts zum Ende. Die Offenbarung ist hier gerade nicht mit der Erschaffung der \Velt verbunden, sondern wurde erst notwendig mit dem ,Sündenfall'. Der Sündenfall ist erst abgeschlossen in der Zerstörung des Turmes zu Babel. Als sie Babel mit dem Turm bauten, sagten die Menschen zueinander: Wohlauf, laß.t uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! Denn wir werden sonst zerstreut alle Länder. (1. Mos. 11,4)
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Während Buher und Rosenzweig hier mit Luther übersetzen ,einen Namen machen\ liest die Zürcher Bibel: ,ein Denkmal schaffen'; beides zusammen venveist darauf, daß der denkwürdigeName den Menschenüberlebensoll, ganz ähnlichdem griechischen Heldengesang. Und doch ist hier die Kraft des Namens keine von Gott gegebene, im Gegenteil ist die Namenskraft gegen Gott gerichtet, der spricht: Siehe, sie sind ein Volk und haben eirie Sprehe. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns_; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. Wohlan, lasset uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr des anderen Sprache verstehe. ( L Mos. 11,6 + 7)
9. ebd. S. 35 10. ebd. S. 34
19
Der Sinn des griechischen Namens im Heldengesang ist dem des vorbabelschen Na• mens vollkommen entgegengesetzt: Er klang vom Jenseits ins Diesseits, während der Turmbau vom Diesseits ins Jenseits ragen sollte. Doch bleibt zu fragen, warum Gott diesen Turm zerstören mußte. Genau besehen ist diese Frage falsch gestellt, denn die Genesis geht von einer Ereignisstruktur aus, die erst einmal einen Zirkel darstellt: Die Menschen bauen einen Turm, machen sich einen Namen, damit sie nicht zerstreut werden, aber das Ergebnis ist der Eingriff Gottes, die Zerstörung des Turmes und die Zerstreuung. Es wäre müßig zu fragen, ob die Zerstreuung ohne den Turmbau auch stattgefunden hätte - entscheidend ist das Ergebnis, daß nämlich durch die Zerstörung einer ,Mitte', die vom Diesseits ins Jenseits führen sollte, die Menschen endgültig in die Geschichte, in die Geschichte von Völkern in ihrem verheerenden Gegeneinander gestoßen wurden. Der Turmbau war der letzte Versuch, der Geschichte und der Geschichtlichkeit zu entgehen im wohlbegründeten Vertrauen auf die eigene Kraft. Gerade weil die Menschen dieseKraft hatten, mußte Gott den Turm zerstören, die Kräfte des Menschen, voran die göttliche Namensprache, mindern. Wenn in der Genesis noch einmal ausdrücklich angeführt wird: Daher heisst der Name Babel, weil der Herr daselbst die Sprache aller Welt verwirrt und sie von dort über die ganze Erde zerstreut hat (1. Mos. 11.9) dann ist hier schon die Minderung der Namensprache vollzogen, denn Babel/Babylon hatte natürlich keinen hebräischen Namen - von dessen Anklang her sich das ,Verwirren' ableitet -, sondern einen babylonischen: Babylon war eine Bab-Ilani,eine ,Götterpforte': es war der Ort, wo die Götter zur Erde herabgestiegen waren. 11 Der Turm von unten war das mythische Gegenstück zum Abstieg der Götter auf die Erde und folglich ebenso mythisch wie er, und Babel als Ort der Zerstörung des Turmes mußte diesen Mythos zentral treffen, indem er darstellt, daß die Menschen nicht mehr die Kraft und Fähigkeit haben, von einer mythischen .Mitte' aus in den Himmel und in das Reich der Götter aufzusteigen. Es soll dereinst zwar dieser Aufstieg wieder möglich werden, aber erst nach dem Durchgang durch die Geschichte im Neuen Jerusalem; in dessen Mitte steht - nach den apokryphen Sibyllinischen Orakeln ein Tempel mit einem riesigen Turm, der bis zu den Wolken reicht und von allengesehen wird. 12
Es wird also die Offenbarung den hebräischen Namen Babel widerlegen und den babylonischen wiederherstellen.
11. Mircea Eliade:Ewige Bilder und Sinnbilder~ Olten u. Freiburg 1958, S. 49 . 12. zic. nach: Mircea Eliade: Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseid. 1953, S. 19
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4 Die Darstellung der Musen durch Walter F. Otto war letztlich doch einseitig, denn er beachtete nicht den doppelten Sinn des wichtigsten Dokumentes der musischen Offenbarung, der Theogonie des Hesiod: Dieses Wort aber sprachen die Göttinnen zuerst zu mir, die olympischen Musen, die Töchter des ägeishaltenden Zeus; ,,Ihr Hirten draußen, üble Burschen, nichts als Bäuche, wir wissen viel Falsches zu sagen, dem Wirklichen Ähnliches, wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres zu verkünden.
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Es ist bekannt, daß schon bei Platon sich die Kritik an der musischen Dichtung in dem Vorrang der Philosophie als Erkenntnis der Wahrheit verfestigt hatte. Dieser Streit zwischen Dichtung und Philosophie reicht über Hegel bis in die Gegenwart. Hierüber wird aber oft vergessen, daß es eine andere, etwa gleichalre Kritik zwar nicht an den 1v1usendirekt - sie wurden ja als eigenständige Gottheiten nicht anerkannt -, wohl aber an Homer gab. In dem ältesten Teil der Sibyllinischen Orakel (III. Buch) heißt es: Dann kommt ein alter Mann aus einer ganz erlogenen Vaterstadt; er schreibt nur Lügen. Es schwindet seiner Augen Licht. Doch er besitzt gar viel Verstand und wohldurchdachte dichterische Verse die in zwei Namen sich verbinden.
(...) Er selber schmückt des Kampfes Helden, den Priamiden Hektor, des Peleus Sohn Achilles, sowie die andern K.riegeshelden. Zu Hilfe läßt er diesen Götter kommen. Doch dieses waren Menschen mit leeren Köpfen; er schrieb auf alle Anen Lügen, So sollte auch zu größerm Ruhm der Tod vor Ilium dienen.14
Die Götter, also auch die 11usen, sind ,Menschen mit leeren Köpfen'; daß der Tod vor Troja dem ,größern Ruhm' diene, sei eine Lüge. Diese Argumentation hat eine innere Logik: Da die griechischen Götter selbst Menschen seien, könne dem Tod auch kein Ruhm folgen; fast kann man aus den beiden letzten Zeilen herauslesen_, 13. Hesiod: Theogonie, hrsg. v. Karl Albert, Kastellaun 19781 V. 24-28; s.a.: Walter F. Ot-
to: Die 1\.fosen,a.a.O. S. 32 14. zit. nach: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, übers. u. erläut. v. Paul Riessler, Freib./Heidelb. 1979, S. 1026f.
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daß Sterben für den Ruhm, der Heldentod also, direkt angesprochen ist. Hier ist ein Punkt getroffen] an dem es um mehr geht als um den Unterschied zwischen Wahrem und Falschem(Ähnlichem), nämlich es geht hier um Leben und Tod. Walter F. Otto hatte geschrieben: Die Musen selbst, wenn sie sich im Olymp hören lassen, singen, wie es im Homerischen ApoHonhynmus heißt (V. 150), von der ewigen Seligkeit der Götter, ~,und von all den Leiden der Menschen, die sie dulden müssen unter den unsterblichen Göttern, unwissend und r.ados, unvermögend, ein Heilmittel gegen den Tod zu finden und eine Abwehr des Alters." is
Es gibt eine „Ohnmacht
der Götter", eine ~Jeste Grenze für ihre Macht~ey.:.-~._;;J.L.~.-1~i?i~i ... r:.~~;~~~.:---.----::--:..-.~ ....:~---:.:..~_..;_.::",~=·=~~.-~.-.:~.·-·-----
15 Nehmen wir auf unserer kleinen Kreuz- und Querfahrt wieder Kurs auf, nachdem wir wieder Segel gesetzt haben. Wir waren aufgebrochen von der Einsicht, daß die hellenistische und die hebräische Vorstellung der Sprache dort vergleichbar seien, wo es um den Vorgangdes ,Sich einen Namen Machen' geht. Diese Einsicht bestimmt den Kurs. Johann Wilhelm Ritter in seinen ,Fragmenten eines jungen Physikers': Wen w i r für unsterblich erklaren, wird unsterblich; sich unsterblich gemacht zu haben, ist das Höchste, was man für sich getan haben kann. Sich Namen gemacht zu haben, heißt, sich Dasein gesichert zu haben. Man citiert hier das Leben, wie Shakespear und die Alten die Geister. Daher der unwiderleglich tief begründete Trieb in uns, uns Andenken zu stiften, denn eben in diesem Andenken werden wir uns selbst von neuem a n - g e - d a c h t . Denken wir a.n jemand, so denken wir i h n a n i h m , wir denken i h n , und er s e l b s t ist da. Die L e b e n d e n geben den Todten die Unsterblichkeit; ein übles Andenken muß ihm ein Leben voll Hölle, wie ein gutes ein Leben voll H i m m e l , geben. Die L e b e n d e n b i l d e n das Tod t enger ich t .65
Fast 140 Jahre später schrieb-von gen Rosenstock-Huessy:
ganz anderen Voraussetzungen ausgehend -Eu-
Es gibt eine ganz einfache Unterscheidung, wodurch ein Mensch die Sprache neu schafft. Der Unterschied zwischen Schwätzen, Plappern, Reden, Sagen, Sprechen ist sehr einfach. Die eine Schicht ist die Spielschicht der Sprache, wo man sagt: ,Ich habe nichts gesagt, du wirst doch das nicht mir entgegenhalten! Du wirst mich nicht zitieren! Das ist bloß so gesagt!' Aller Klatsch gehört dahin.( ...) Sprechen ist das Sprechen, das man auf sich sitzen läßt. (...) Jeder von uns ,vird in das Buch des ewigen Lebens nur für das eingetragen, was er gesagt hat, für nichts anderes! Das bezieht sich( ...) auf den Namen, den er sich gemacht hat, den er auf sich hat sitzen lassen, wenn er auch Unehre brachte und für den er geradegestanden hat. 66
Es hat also der Name'eine dreifache Gestalt: als zufälliger, äußerlicher Eigenname, als das der verantwonlichen Entscheidung entspringende ;Sich einen Namen Machen', und als gedenkendes Zitat nach dem Tode (oder, schon vorausgreifend, noch zu Lebzeiten). Erst in dieser Dreifaltigkeit kann sich die geschichtsstiftende Kraft 'des Namens entfalten, nicht in der Bezeichnungsform der vorgeblich paradiesischen N amensprache. Der zufällige Name muß im Verlaufe des Leb,ms zu einem lebendigen Namen gemacht werden, der bewiesen hat, daß er die Brüche und Sprünge der Zeit ebenso wie die Veränderungen des .Namensträgers überstehen kann. Mehr noch: daß der
. 65. Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, Heidelbg. 1810, 2. Bd. S. 87f.; Nachdruck 1969 66. Eugen Rosenstock-Huessy: Jakob Grimms Sprachlosigkeit, in: Das Geheimnis der Universität, Sttg. 1958, S. 120f.
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Träger des Namens kraft seiner ver-antwordichen Ent-scheidungen die Zeiten selbst scheiden, trennen kann in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in der gesprochenen (oder geschriebenen) Antwort auf die Frage der Anderen. (Hier verbreitert sich die Frage nach dem Namen in die nach der Sprache.) Erst so aber kann - wenn überhaupt - das Paradies, das nicht hinter uns, sondern vor uns liegt, erreicht werden - in der Hoffnung darauf, daß gewissermaßen die Energie des Namens innerhalb der Geschichte und der Zeiten über Geschichte und Zeiten hinausträgt. Insofern sind auch die Lebenden das ,Todtengericht'! Sie tragen die Namen vor das letzte Gericht 67 • Aber auch dort, in jener Neuen Welt jenseits all dessen, was wir erfahren, denken und sprechen können 1 wird es keine Namensprache geben: Im letzten Gericht, das Gott selber in seinem eigenen Namen richtet, geht alles All ein in seine Allheit, aller Name in sein namenloses Eins. 68
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stellen uns - wenn überhaupt - das letzte Gericht in Analogie zur irdischen Gerichtsverhandlung vor. Dies kann aber nur insoweit Berechtigung haben, wie die Lebenden das Totengericht bilden. Wenn es ein ,Gericht' geben sollte, dann wohl nur hier auf der Erde. Eugen Rosenstock~Huessy: Plato leitete die Sprache aus der Streitrede vor Gericht her. Seine Philosophie ist Begriffsbildung. Und Begriffsbildung ist eine nachträgliche Entleerung der Namen zum Zwecke des Rechthabens im Rechtsstreit mit Gegnern, die sich enteignen wollen. Ursprüngliche Sprache entsprichr aber nicht in der Gegnerschaft, sondern in der W'er-
bung.69 Franz Rosenzweig: Der Name ist nicht das ,Wesen', Er ist etwas anderes. (...) Auch beim Gerichtsurteil liegt es ähnlich. (... ) Das Vergehen liegt in der Vergangenheit) unter Umständen weit zurück. Das Urteil spricht eine Strafe aus, die weit in die Zukunft hineinstraft. Nicht bloß der Verbrecher kann sich schon in dem Zeitraum zwischen Verbrechen und Urteil geändert haben ... (auch) das Verbrechen selbst kann in dieser Zeit ein anderes Gesicht kriegen. (...) Das Urteil braucht sich um all diese Möglichkeiten nicht zu kümmern. Es hält sich an die Bezeichnung des Verbrechens, wie sie das geltende Recht gibt. Dieser Name des Verbrechens ist ihm maßgeblich.( ...) Die Tat ,ist' nicht ihre Bezeichnung. Aber sie wird beurteilt auf Grund ihrer Bezeichnung. Mag sie ihr Gesicht
67. s. dazu meinen Aufsatz: Das Zitat vors Gericht!, hier, S. 13L 68. Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, a.a.O. S. 265; s.a. S. 426f. 69. zit. nach: Wilfried Rohrbach: Das Sprachdenken Eugen Rosenstock-Huessys, Sttg. u.a. 1973~S. 31 Anm. 8
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ändern, soviel sie will; solange sie nicht ihren Namen geändert hat, solange bleibt sie für das Urteil, was sie war. Der Name des Verbrechens schließt den Zeitraum vom Geschehen bis zur Aburteilung und weiter bis zum Ende der Strafverbüßung zu einer Einheit zusammen. 10
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Es scheinen sich auf den ersten Blick diese beiden Aussagen zu widersprechen: Rosenstock-Huessy lehnt das Hervorgehen der Sprache aus dem Gerichtsverfahren ab als Entleerung des Namens~ Ro:s:enzweigerkennt gerade im Gerichtsurteil die zeiten--scheidende, Gegenwart herstellende Kraft des Namens an. Tatsächlich aber korrespondieren beide Aussagen: Die eine handelt von der Streitrede, die andere vom Urteil. Der wissenschaftlich-logische Begriffwill ,Recht• behalten, indem er glaubt, Tatsachen fixierend bezeichnen zu können, indem er den Ablauf der Zeit - und der Ereignisfolgen - als ~objektiv' und unbezweifelbar darstellt. Das Urteil nimmt umgekehrt die zeit-scheidende und geschichtsstiftende Kraft des Namens ernst, indem es Vorgänge und Entwicklungen inauguriert. Man kann nicht Recht „haben', Recht ist ein nicht zuletzt zeit-schaffender Akt, ein Akt, der Gegenwart herstellt und Vergangenheit und Zukunft von ihr abtrennt. Der wissenschaftliche Begriff zielt auf Fakten oder logische Verbindungen ab, das Urteil zielt auf den Menschen ab ebenso wie das gedenkende Zitat: es trägt unter dem Namen und im Namen die Person durch die Zeiten.
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17 Aus welchem Holze ist der Name? Die Namen sind also eine geheimnisvolle erste Schicht, die uns beruhigend sagen, daß Adam seine Pflicht getan hat und alle Dinge seit der Schöpfung schon benannt hat. Wir kommen in eine vollständige Welt) die dadurch, daß sie Namen trägt, uns nicht mehr erschaudern macht. Das ist ungeheuer beruhigend. 71
Diese Beruhigung aber ist die des archaischen Mythos: Das kommt von den heiligen, archaischen Schichten der Namen, die uns umgeben, weil sie uns vorspiegeln, daß alles schon benannt ist. Denn der Mensch hält es im Unbenannten nicht aus. Die Schule und das Elternhaus und die Kirche lullen das Kind in Sicherheit, daß alles schon benannt sei.
Dieser sichere Hafen muß verlassen werden, das Schiff muß diesen sicheren Hafen verlassen, um sich dem Ernst des Lebens stellen zu können: Der Menscht der volle Zukunft haben soll, muß herausgerissen werden aus der Muttersprache und ihrem- schützenden Namenszauber; denn er kommt in die Welt, um den Menschen zu sagen, daß ihre Sprache unvoHständig ist. Er hat ja etwas Neues zu sagen. 70. Franz Rosenzweig: Vom gesunden und kranken Menschenverstand, a.a.O. S. 43f. 71. Eugen Rosenstock-Huessy: Jakob Grimms Sprachlosigkeit) a.a.O. S. 115; alle folgen~ den Zitate hieraus: S. 120, 5. 127f.
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Und auf dieser Fahrt, fort vom Namenszauber, braucht er einen Mast, eine Quer~ stange und das Segel: Es ist nur im Christentum, in der Überlieferung, dies in voller Schärfe herausgearbeitetet worden, wovon Sie alle ein bißchen wissen, daß Sie einmal im Leben etwas zu sagen haben, was noch nie jemand gesagt hat, und daß Sie das nur sagen können, wenn der, der es hört, anerkennt, daß Sie ein neuer Mensch sind ... Wir brauchen nur auf den zu hören, der etwas zum ersten Male sagt. Das ist sein Name!
Durch den Namen kommen wir, Geschichte schaffend, in der Geschichte voran: Ein Name ist eben etwas 1 womit ein Mensch notwendig bezeichnet wird, um seinen Platz in der Geschichte der Menschheit zu bezeichnen. An den Namen haben wir überhaupt nur eine Geschichte. Es gäbe gar keine ohne den Namen. Alle anderen Ereignisse würden nur lokal und nur zeitlich bedingt interessant sein.
Aber wir haben eine Geschichte, wie uns ein Wind vorantreibt: Seit dem ersten Tag der Menschheit gibt es eine Universal-Sprache aller Menschen, und alle haben sich danach gesehnt, und seit Christus wissen wir das ausdrücklich; Das ist der Inhalt des Evangeliums. Dieser Name über alle Nam~n, diese Universalsprache besteht nämlich aus Namen.
Vor Gott stehen wir als Menschen, die den Gattungsnamen ,adam' verändern müssen zum Eigennamen ,Adam'. ,Vor Gott" sage ich, weil ,der Mensch\ ,die Menschheit' entweder eine Rassebezeichnung im Stammbaum der Tiere ist, oder eine messianische Hoffnung auf die Einheit der Menschheit, die solange Hoffnung bleibt, solange die Geschichte Völkergeschichte ist, also der Kampf der Völker gegeneinander. Der Name aber ist das Segel dieser Hoffnung: Denn Christus hat ja diese Forderung gestellt, daß unser Name jenseits unseres eigenen Volkes gelten müsse: im Himmel. In den Namen wird Geschichte Fleisch.
Der Name ist vom Holze jener messianischen Hoffnung, die in der Geschichte der verwirrten Sprachen und Völkerkämpfe die Universalsprache der Namen als Unterpfand einer erlösten Universalgeschichte sieht. Für diese aus der Hoffnung auf die Zukunft lebenden Geschichte gilt: In den Namen wird Geschichte Fleisch.
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Sprache und Atombombe 1 Die folgenden - bewußt thesenhaften - Überlegungen gehen aus von einem Satz Martin Buhers, den dieser anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1953 sprach: Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt, aber in der Stille sein Werk tut; die Sprache ~ die erfüllte Sprache, die Sprache des echten Ge• sprächs, in der Menschen einander verstehen und sich miteinander verständigen. 1
Dieser Satz sagt mehr, als daß dort, wo Konflikte nicht mehr in ,verständigen' Gesprächen gelöst werden, der Krieg droht, er sagt auch, daß es einen ,gerechten' Krieg nicht geben kann, denn dieser muß sich der ,erfüllten Sprache' bedienen, die in sich aber der ~'Xliderpart' des Krieges ist. Und dieser Satz sagt, daß jeder Krieg nur durch das echte Gespräch beendet werden kann: ,=:_-:;_:"_
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Wo aber die Sprache, und sei es noch so scheu, wieder von Lager zu Lager sich vernehmen läßt, i~'t der Kreig schon in Frage gestellt.2
Offensichtlich ging Buher hier noch - in der Hoffnung auf den ,Großen Frieden" - von dem unaufhörlichen Wechsel von Krieg und ,Nichtkrieg' aus. Erst vier Jahre später überschrieb er einen kurzen Artikel mit ,Haltet ein!', in dem er vom „Selbstmord der Menschheit" spricht und von der „Zerstörung aller Länder und Völker" 3 • Auf die ,erfüllte Sprache' aber ging er hier nicht mehr ein - er hätte erkennen müssen, daß in der atomaren Drohung Krieg und Sprache nicht mehr in einem geschichtlichen Wechselverhältnis stehen, sondern daß sie sich gegeneinander auszuschließen beginnen. Entweder vernichtet der .globale Atomkrieg die erfüllte Sprache 9der das echte Gespräch bannt die Gefahr des Atomkrieges. Erfüllte Sprache und globaler Atomkrieg schliei?iensich gegenseitig aus. Das echte Gespräch nun ist der Quell der menschlichen Geschichte, der globale Atomkrieg aber ihr Ende. Der gegenseitige Ausschluß beider - dies die hier zu belegende These - ist daher radikal: Über den Atomkrieg kann kein echtes Gespräch geführt werden und der Atomkrieg vernichtet die erfüllte Sprache nicht nur aktuell, sondern rückläufig in allen Zeiten.
1. Ma.rtin Buber: Nachlese, Heidelberg 1966, S. 225
2.ebd. S. 226 3. ebd. S. 232 43
2 Ist aber diese schroffe Gegenüberstellung von Sprache und Atomkrieg nicht letztlich die Gegenüberstellung von Prophetie und Apokalyptik, die Buber so stark betont hat 4 ? Die Prophetie bewahrt im Dialog des Menschen mit Gott und den 1vlitmenschen die :Möglichkeit der Umkehr, der Eröffnung einer wahrhaft menschlichen Zukunft, während die Apokalyptik das Ende der Welt vor-geschrieben sieht, das vielleicht sogar berechnet werden kann, das jedenfalls keine menschliche, sondern allein eine göttliche Zukunft kommen sieht. Es scheint, daß Buber dieser Parallelisierung nicht widersprochen hätte\ den~ noch aber scheint sie mir unstatthaft. Es ist vor Jahren von einem Atomphysiker der Versuch gemacht worden, den globalen Atomkrieg als Erfüllung der JohannesApokalypse zu deuten 6, aber nicht nur dieser, sondern jeder Versuch, den Atomkrieg als apokalyptisches Ereignis zu begreifen muß aus zwei Gründen fehl gehen. Erwin Reisner hat die Apokalypse gedeutet als „Offenbarung der Offenbarung oder Offenbarung zur zweiten Potenz" 7t und diese Dignität kann dem Atomkrieg nicht zugesprochen werden. Es ist jedenfalls nicht ernsthaft erkennbar, daß der Atomkrieg in weltgeschichtlich bedeutsamer Weise als heilsgeschichtlicher Endkampf begriffen würde. Außerdem aber fehlt dem Atomkrieg die Dimension der Apokalyp· se, denn diese w~rde immer als kosmische begriffen. Wir, die wir unsere Ordnungnen in das Weltall hineinsehen, können zwar nicht sagen, was dort übrig bleibt; wenn die Menschheit ausgelöscht ist, aber die Auslöschung wird den Kosmos nicht verändern. Es kann der globale Atomkrieg keine Apokalypse sein. Dies trifft auch Günther Anders, der m.\X'. als einziger die Bedeutung der atomaren Drohung erkannt hat, wenn er von der „nackten Apokalypse" spricht, einer Apokalypse, ,,die im bloßen Untergang besteht, die also nicht den Auftakt zu einem neuen, und zwar positiven, .· Zustande (zu dem des tReiches') darstellt". 8 Es wäre dies die Apokalypse ohne Offenbarung, aber ,Apokalypse' heißt ,Offenbarung', beides ist nicht voneinander trennbar. Der Begriff der ,nackten Apokalypse' kann allein andeuten, daß die 11enschen in der Machbarkeit des globalen Atomkrieges eine 1v1öglichkeit ergriffen haben, die vorher nur als göttliche Möglichkeit begriffen werden konnte: die Been-
4. s. Jakob Taubes: Manin Buber und die Geschichtsphiiosophie; in: Martin Buber, Hrsg. v.P.A. Schilpp und !vL Friedman, Sttg 1963, S. 400ff. 5. s. Manin Buber: Autobiographische Fragmente, in: ebd. S. 20; zu beachten ist, daß hier Prophetie und Apokalyptik noch nicht auseinander getreten sind. 6. Bernhard Philberth: Christliche Prophetie und Nuklearenergie (Taschenbuch-Ausgabe), Wuppertal 1974 7_ Erwin Reisner: Das Buch mit den sieben Siegeln, Gött 1949, S.4 8. Günther Anders: Die atomare Drohung, Mü 1981, S. 207
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dung der Geschichte. In der erfüllten Sprache und dem globalen Atomkrieg stehen prophetische und zerstörte Geschichte und Geschichtlichkeit gegenüber.
3 Die 1v1achbarkeit des globalen Atomkrieges läßt alle gewohnten Eckpunkte unseres Geschichtsdenkens hinfällig werden. Das ,Ende aller Zeiten\ bisher Anlaß bloßer Spekularionen 1 ist greifbar, machbar geworden, und dies relativiert säm~-1_iche Versuche, dem geschichtlichen Tod durch kosmische Spekulationen zu entgehen, die Frage nach Krieg oder Frieden ist jene Frage, von der abhängt~ ,,ob ,kosmische' Fragen überhaupt noch einen Sinngehah haben". 9 (s. Exkurs I, S. 69) Vorerst allerdings scheint die Flucht in die kosmische Frage auf vielen Ebenen und in vielen For~ men die anziehendste Illusion zu sein, und es wäre einer eingehenden Analyse v.rert, wie heute eine Welt ohne Menschen vorgedacht wird. Herzstück dieser - ,veirhin gnostisch beein-fluiken - Fluchten ist die ,Information': Das Universum ist nur aus sich selbst bewußten Formen und aus 'Xrechselwirkungen dieser Formen gebildet, und zwar durch gegenseitige Informationen.( ... ) Das Universum in seiner Gesamtheit und in seiner Einheit ist sich seiner selbst bewußL {... )Seine Informationen sind nicht blind oder nur blind auf ihrer Reise zwischen zwei Informationsträgern.( ... ) Gott - oder die Große Mutter - ist das universelle Partizipierbare. Er ist nicht Sprecher, er ist Universalsprache, Basis für alle Sprachen. Wahrhaft universelle, wahrhaft mütterliche Sprache, ,lebendige' Sprache (die das Leben schenkt), Sprache, die sich nicht durch Nachahmen sprechen läßt, sondern durch partizipierendes Erfinden. ( ... ) Der Tod dagegen ist ein plötzliches Fehlen von Information. 10
Hier, wo die Vernichtung der Menschheit zu einem kosmisch unerheblichen Stocken der Information verkommt, winkt die platonische und pythagoreische „Einheit von Ton und Zahl" 11, das antike ,stocheion' und ,elementum' 12 , ferner die Zahlen- und Buchstabenmvsrik bis hin zur Kabbala - was zumindest auf einen heu~ , tigen Rezipienten ,schwindelerregend' wirkt 13• All dies jedenfalls, das hat der Rezipient richtig gesehen, bedeutet: ,,Diskussionen, Worte können nur ein ,Vorspiel' sein." 14 Als Eugen Rosenstock~Huessy die Auseinandersetzungen von Gnostikern und Christen zusammenfaßte, traf er den entscheidenden Punkt:
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9. Martin Buber: Nachlese, a.a.O. S. 253 10. Raymond Ruyer: Jenseits der Erkenntnis, Die Gnostiker von Princeron, Wien/Hbg 1977, S. 35f., 153 u. 311 11. Dieter Schlesak: Optimismus - dü-:sseits der Gegenwart, in: Literaturmagazin 9, Reinbek 1978, S. 102 12. Franz Dornseiff: Das Alphabet in 1v1ystik und Magie, Bln 1925, S. 14ff. 13. Dieter Schlesak, a.a.O. S. 96 14. ebd. S. 102
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Die Gnostiker meinten, daß die Wahrheit so oder so da sei und man sie nur zu wissen brauche, während der Christ wohl wußte, daß sie entweder von ihm gelebt werden müßte, oder sonst zum Teufel gehe. 15
Aber ist denn die Sprache der Information nicht tatsächlich jene ,universelle Sprache', die die Verwirrung der Sprachen, das entscheidende Hindernis auf dem Wege zum Großen Frieden, endlich übenvunden hat? Sind nicht die Buchstaben- und Zahlenmystiker die wirklichen Friedenskämpfer 16? Ist nicht die Verwirrung der Sprachen der wirkliche ,Hinderer' des Friedens - und ,Hinderer' heißt auf Hebräisch ,Satan' 17? Die Sprache der Information aber - sie mag so universell sein wie sie will - ist nicht dialog-fähigund kann daher keinen Frieden stiften. Die ,erfüllte' Sprache ist gerade jene, die sich am weitesten in die Gefahren und Fährnisse der widersprüchlichen Geschichte hineinbegibt. Nur dort kann Frieden geschaffen und Wahrheit gelebt werden. Buber setzte sich zur Wehr gegen die Meinung, das ,echte Gespräch', das dialogischeIch-Du-Verhältnis sei etwas rein Geistiges: Im Gegenteil, dieses Verhältnis scheint mir seine eigentliche Größe und Mächtigkeit gerade da zu gewinnen, wo zwei Menschen ohne eine starke geistige Gemeinsamkeit, sogar von verschiedener Geistesart, ja von einander entgegengesetzten Gesinnungen da einander so gegenüberstehen 1 daß jeder der beiden den anderen, auch noch in der strengsten Auseinandersetzung, als diese bestimmte Person kennt und meint, erkennt und anerkennt ... Da ist keine Freundschaft, da ist nur (... ) die harte lvlenschen-Erde, das Gemeinsame im Ungemeinsamen. 18
Die erfüllte Sprache des Dialogs ist radikal geschichtliche Sprache, Sprache, die deswegen zur Quelle der Geschichrlichkeit wird, weil sie sich in die Geschichtlichkeit hineinbegibt, weil sie die Sprache der verantwortlichen Entscheidung ist. Allein der friedensstiftende Dialog, der sich in die W"ide.rsprüche hineinbegibt, hebt, indem er die Wahrheit nicht erkennt, sondern tut, die Wahrheit lebt - allein das lebendige Gespräch hebt die Grenze zwischen Sprache und Welt auf.
4 Die Machbarkeit des globalen Atomkrieges - so schrieb ich - läßt alle gewohnten Eckpunkte unseres Geschichtsdenkens hinfällig werden. Unser Geschichtsdenken ist historisierend, alles wird relativierend in eine Kette von Ursache-WirkungsZusammenhängen gestellt, Vergangenheit wird ,aufgehoben· in der Gegenwart, die
15. Eugen Rosenstock-Huessy: Des Christen Zukunft, Mil 1956, S. 179f. 16. s. Dieter Schlesak, a.a.O. S. 111 17. s. Martin Buber: Nachlese, a.a.O. S, 230 18. Martin Buber~ Antwort, in; Schilpp/Friedman, a.a.O. S. 619f.
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selbst weiß, daß sie, Vergangenheit geworden, selbst wieder ,aufgehoben' wird 19• Diese Verkettung beruht auf zwei Voraussetzungen, die durch die Machbarkeit des globalen Atomkrieges in Frage gestellt sind. Die Kette kann eines Tages abbrechen, ein im Bewußtsein zukünftiger Aufhebung gefälltes Urteil - z.B. eine EpochenEinteilung - kann das letzte Urteil sein. Dies bedeutet, daß der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht oder nicht nur als Ursache~ Folge-Verkettung gedacht werden darf. Die zweite hinfällig gewordene Voraussetzung hängt hiermit zusammen und ist vielleicht nur eine Umformulierung desselben Zusammenhanges. Eine stillschweigende Voraussetzung unseres historisierenden Bewußtseins ist, daß aus Geschichte immer nur Geschichte folgen kann, daß Geschichte eine in sich geschlossene Sphäre bildet. Im globalen Atomkrieg aber ist dies - weltgeschichtlich eine neue Situation, die die neuartige Kategorie der ,Endzeit' (G. Anders) notwendig macht - nicht mehr gegeben: Eine geschichtliche Tat sprengt und zerstört die Sphäre der Geschichte. Die atomare Drohung bedeutet so das Ende des Historismus und der historischen/historisierenden Vernunft. Es ist aber zu fragen, ob unser alltägliches Geschichtsdenken tatsächlich ein ,Geschichts'-Denken ist und ob nicht ein Denken, das die Endlichkeit von Geschichte in sich aufgenommen hat, erst ein wahres Geschichts-Denken ist. Denn das zur Zeitenfolge fortentwickelte Modell von Ursache und Folge ist allein die Übertragung der Zeitsukzession auf die Geschichte 20 • Die im Übergang zur Neuzeit total objekti* vierte und entleerte Zeit als Maßeinheit wurde durch das historische Denken der Geschichte i.ibergestiilpt, wodurch diese nicht nur den Schein der Unendlichkeit erhielt - keine Maßeinheit ist endlich, sie ist unendlich und universal -, sondern darüberhinaus nivelliert wurde zu einer homogenen) geschlossenen Sphäre und sie dadurch als Geschichte vergangenheitsförmig wurde 21• Alle Zukunft verkam zur modifizierten Verlängerung des Alten; das Verhältnis der Zeitformen erschien unveränderbar und bis in alle Ewigkeiten dem menschlichen Zugriff enthoben. Dies alles erschwert es ungeheuer, die Bedeutung der atomaren Drohung zu erfassen. Denn diese zwingt uns, mit all diesen Vorstellungen zu brechen: Die Sukzession der Zeit kann nicht länger der geheime Faden unseres Geschichtsbewußtseins sein, Geschichte muß wieder als endlich gedacht werden. Und das heißt nicht nur, daß
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19. s. hierzu Erwin Reisner: Der begegnungslose Mensch, Eine Kritik der historischen Vernunft, Bin 1964, ein zu Unrecht vergessenes Werk 20. hier kann nur auf drei Werke verwiesen werden, die - von ganz verschiedenen Ausgangspunkten her - in diesem Problemkomplex zusammentreffen: Johannes Lohmann: Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache, in: Lexis Bd. III~ 1, Lahr 1952, S. Sff.; Wolfgang Wieland: Schellings Lehre von der Zeit, Heidelberg 1956; Erwin Reisner: Derbegegnungslose Mensch, a.a.O. 21. s. z.B.: Thorleif Boman: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Gött 6. Aufl. 1977, S. 104ff.
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Zeit selbst ,Geschichte' hat - in den antiken Kulturen war Zeit immer qualitativ und inhaltlich gebunden 21 , noch im Mittelalter war die Macht der Zeit örtlich begrenzt 22 - dies heißt vor allem, daß es ,die' Zeit nicht mehr gibt~sondern nur noch begrenzte Zeiten. Die Kalender mit ihren Feier- und Gedenktagen setzen sich als - wie Walter Benjamin sagte - ,historische Zeitraffer' über die Uhren-Zeit hinweg und erhalten einen letzten Rest inhaltlicher Zeit, aber von diesem ZeitBewußtsein scheint es „in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben" 23 • Die Revolutionen, dies eine der zentralen Thesen RosenstockHuessys - wurden ihrer innersten Intention nach um die Errichtung einer neuen Zeitrechnung geführt 24, wodurch die Unterordnung der Zeit und ihrer berechenbav ren Sukzession unter die Geschichte erneuert werden sollte. Aber selbst diese Revolutionen gehören schon wieder der ,guten alten Vergangenheit' an, denn das letzte weltgeschichtlicheJahr Null - in Wahrheit das erste ,welt'-geschichtliche Datum, denn erst im drohenden Untergang wird die Geschichte kriegerischer Völker und Nationen eine Welt•Geschichte - ist mit keiner Revolution verbunden: Dieses ,,monströseste Datum", die atomare Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki, stellt jeden vor eine für sein Geschichtsbewußtsein entscheidende Alternative, denn entweder wird Zeit jetzt endgültig und restlos ungeschichtlich, d.h. unabhängig von Menschen, ohne Menschen und unmenschlich begriffen, oder man stellt mit Günther Anders fest: Entweder gibt es Friedenszeit, oder es gibt überhaupt keine Zeit. Friedenszeit und Zeit sind identisch geworden. 25
Im Vollsinn des Wortes ist die Zeit ,end.gültig' der Geschichte untergeordnet und die ,Welt' bewahrheitet ihren Namen, der zusammengesetzt ist aus ,verr'(Mensch) und ,öld'(Alter, Zeit) und also ,Zeit der Menschen' bedeutet26 •
5 Der Zwang, die Geschichte als endlich, begrenzt anzusehen, kann und muß uns erkennen lassen, daß nur endliche Räume und Zeiten wahrhaft menschlich sind in dem Sinne, daß für den Menschen als zeitliches Wesen erst die Begrenzung die Wahrheit offenbart. 22. s. Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild d.esmittelalterlichen Menschen, Dresden 1978, s. 111 23. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Ffm 1974, S. 70lf. 24. s. Eugen Rosenstock-Hu.essy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter der
Nationen, Sttg 1951 25. Günther Anders: Die atomare Drohung, a.a.O. S. 168 u. 204 26. Hinweis bei Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild des Mittelalterlichen Menschen, a.a.O. S. 101, nachgeprüft in etymologischen Wönerbüchern
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Mit einer grenzenlos fortgehenden geschichtlichen Zeit ist aller Willkür Thür und Thor geöffnet, Wahres von Falschem, Einsicht von beliebiger Annahme oder Einbildung gar nicht zu unterscheiden. (Schelling)27
Die Grenze ist die Wahrheit des Menschen und jede Wahrheit eine Grenze und Begrenzung. Die vorgeblich unendliche Zeit führt nicht zur Wahrheit) sondern zu permanenter Relativierung, zur permanenten Aufhebung, Auslöschung von Wahrheit. Daß Wahrheit immer end-gültig sein muß, also geltend am Ende und vom Ende, von der Grenze her, dies ist eine der wesentlichsten Einsichten apokalyptischen Denkens. Gleichzeitig aber sagt dieses Denken, daß es das Beendete sein muß> das bewahrheitet wird: Vom Ende her wird es durch die Bewahrheitung zum Ganzen, erst das Ende setzt den v.rahren Anfang und die wahre Mitte - weshalb alles Ursprungsdenken nicht ,wahr' sondern mythisch ist. ,,Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende." - schrieb Bloch am Schluß seines Hauptwerkes 28 : Was der Mensch war, wird sich erst bewahrheiten. Aber obwohl wir unter der atomaren Drohung in der Endzeit leben, in jener Zeit, der das machbare Ende vor Augen steht, sind wir noch nicht am Ende, ,haben' wir weder Ende noch Anfang, stehen wir irgendwo dazwischen in einer Mitte, die wiederum erst von Ende und Anfang bewahrheitet wird 29 • So ist menschliche Tätigkeit immer in jener innerlich gespannten, in sich abgründigen Mitte, ist ,Vermittlung'. Für Hegel, der von „Anfang, Mittel und Ende" einer Tätigkeit sprach 30 r war die Verbindung von ,1v1itte' und ,Mittel' noch problemlos, wir müssen die Bedeutung des ,qualitativen Zeitbegriffes' 3 J erst wieder lernen. Und wir müssen es lernen, weil erst in ihm begreifüar wird, was Sprache und Atombombe voneinander trennt - nämlich die ganze Geschichte der Menschheit, alle· Tränen und Opfer, alle Pläne und Werke, alles mühselige Tagwerk und alle genialen Kunstwerke. Die Atombombe ist nämlich nicht nur, wie Helmut Gollwitzer schon 1957 schrieb, ,,als Mittel eines auf Frieden zielenden Krieges untauglich" 32 , sie ist - dies eine der entscheidenden Einsichten von Günther Anders - überhaupt kein Mittel: Zum Begriff des ,Mittels' gehört es, daß es, seinen Zweck ,vermittelnd'. in diesem aufgehe; daß es in diesem ende wie der Weg im Ziel; daß es also als eigene ,Größe' verschwinde, wenn das Ziel erreicht ist. (... ) \'fenn _jemanddie Bombe in der törichten Hoffnung verwenden würde, damit ein bestimmtes endliches Ziel durchzusetzen, die Wirkung, die er erzielen wlirde, würde mit seinem Ziele keine Ähnlichkeit mehr ha-
27. Schellings Werke, hrsg. v. M. Schröter, 6. Hauptband (Schriften zur Religionsphilosophie), Mü 1965, S. 238 28. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Ffm 1973, S. 1628 29. s. Dietrich Bonhoeffer: Schöpfung und Fall. Versuchung. Mü 1968, S. 14f. 30. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe Bd. 3, Ffm 1970, s. 297 31. s. Else Freund; Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. Hbg 2. Aufl. 1959, S. 41 32. Helmut Gollwitzer: Die Christen und die Atomwaffen, Mü 1957) S. 25
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ben. Was eintreten würde wäre nicht, daß der Weg im Ziel, bzw. das Mittel im Zweck aufginge, sondern umgekehrt, daß der Zweck in der Wirkung des angeblichen ,Mittels' sein Ende fände. 33
Die Atombombe ist kein ?vtittel und vermittelt nichts, ist innerhalb der Geschichte ein Etwas, ein ;entologisches Unikum• 34, das mit geschichtlichen Kategorien nicht mehr begriffen werden kann. Die Sprache - als vollkommener Gegensatz - hat etwas mit der Atombombe gemein, nämlich daß sie kein 1v1ittelist} aber - und dies macht sie zur Quelle der Geschichtlichkeit - sie vermittelt alles, genauer: das Ganze. Gestützt auf \Vilhelm von Humboldt 35 schrieb Hans~Georg Gadamer: Ein jedes Wort bricht wie aus einer Mitte hervor und hat Bezug auf ein Ganzes, dadurch daß es allein Wort ist. Ein jedes W'ort läßt das Ganze der Sprache, der es angehön, antönen und das Ganze der \v'eltansicht, die ihm zugrunde hegt, erscheinen. Ein jedes Wort läßt daher auch, als das Geschehen eines Augenblicks, das Ungesagte mit da sein, auf das es sich antwortend und winkend bezieht. 36
Jedes Wort als ,Geschehen eines Augenblicks' bricht ,wie' aus einer 1-'litte hervor, denn diese Mitte ,gib1' es nicht, sondern wird erst durch das Ganze existent, das Gadamer korrigierend oder ergänzend - als Ganzes radikal zukünftig ist (und nicht in einer ,Weltansicht' gegeben). Der Aspekt der Zukünftigkeit des Ganzen ist um so stärker zu betonen, je fraglicher er in der atomaren Drohung geworden ist. So kann also über die Atombombe kein echtes Gespräch geführt werden, denn Sprache kann ihren vollkommenen Gegensatz, das schlechthin Unvermittelbare, nicht in sich aufnehmen. Alles Sprechen über die Atombombe nimmt ihr die eigentlich bedrohende Dimension und vermittelt das Unvermittelbare. Aber diese Unmöglichkeit hat auch eine Kehrseite: Jedes echte Gespräch ist als solches schon gegen die Atombombe gerichtet. Im echten, dialogischen Gespräch ist immer eine nicht umzubringende Hoffnung vorhanden im ,Wie' der :Mitte) im Bezug auf das zukünftige Ganze und die Erfüllung der Geschichte an ihrem Ende, Es wäre allerdings Unsinn zu behaupten, über die Atombombe könne man überhaupt nicht sprechen - die~ wird offensichtlich tagtäglich getan, und nur Gespräche haben den Bau der Atombombe ermöglicht. Entscheidend ist das, was Buber die ~erfüllte' Sprache genannt hat, denn nur ihre Erfüllung steht in jener geheimen, nicht nur ungesagten, sondern unsagbaren Verbindung mit der Erfüllung der Geschichte. Es gibt andere, weniger oder nicht erfüllte Sprachen, in denen man sehr wohl über die Atombombe sprechen kann - bis hin zu den Debatten der Staatsvertreter in Rundfunk und Fernsehen, die „mit einem l\.1enschengespräch nichts mehr gemein" 33. Günther Anders: die Antiquiertheit des Menschen, Mii 1961, S. 249 u. 251 34. ebd. S. 254 35. Wilhelm v. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, in: Werke in fünf Bänden, 3. Bd., Darmstadt 1969, S. 559f. 36. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tüb 197.5, S. 434
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haben - so die Sprache nicht emes militanten Chaoten, Bubers 37 •
sondern die Martin
6 Die bisherige Argumentation ging davon aus, daß der globale Atomkrieg nicht jenes Ende der Menschheitsgeschichte seil das ein Ganzes bewahrheiten kann. Gleichzeitig aber wurde gesagt, dai1 nur das Ende das Ganze bewahrheiten kann; dieses Ende aber ist noch nicht gewisse Gegenwart. Dieser Widerspruch, der eine Differenzierung dessen nach sich ziehen muß~ was ►Ende' heißen soll, ist gegründet in unserer Zeitlichkeit, in der Abgründigkeit, in der Schwebe unserer Mitte, die unsere Gegenwart ist. Die Zeitlichkeit unserer Existenz kann aber - so paradox sich das anhören mag - in ihrer Schwebe über dem Abgrund nur gehalten werden, wenn verantwortliche Entscheidungen getroffen werden, die nichts ,in der Schwebe' lassen wollen - wenn der entscheidende Mensch sich dabei der zeitlichen Bedingtheit bewußt bleibt. Wir können uns an. der Frage► was denn das ,Ende' sein soll, nicht vorbeimogeln - und tatsächlich scheint die atomare Drohung es uns hier leicht zu machen. Ist denn nicht schon mit der Diagnose einer ,Endzeit', wie sie Günther Anders stichhaltig vorgetragen hat, das Ende doch vorgezeichnet und entschieden? Ist nicht die These von der ,Antiquiertheit des Menschen' gegenüber der elektronischen Technik und der atomaren Drohung schon das Urteil über die Menschheit? Die Auffassung, daß der globale Atomkrieg über kurz oder lang das ,Ende' bringen werde, ist sicher ,realistisch•, aber dieser Realismus ist die bloße Fortsetzung der bisherigen Geschichte, die das neue Gesetz der Endzeit nicht begriffen hat, von dem Erich Kahler schon 1945 gesagt hat~ daß in ihm „das Materiellste ins Spirituellste umgeschlagen u ist 38• Auch Günther Anders ist letztlich dieser Gefahr des ,Realismus' nicht ganz entgangen: Seine Antwort auf die atomare Drohung ist die Aufforderung, ,,die Endzeit endlos zu machen. "J9 Damit aber hat er sich der entscheidenden Frage, vor die uns die atomare Drohung steilt, nicht gestellt, nämlich die Frage nach der Endlichkeit des :Mensch. Vor >endlosen' Aufgaben muß der Mensch versagen, vor ihnen siegt zuletzt immer die ,realistische' Lösung - hier die atomare Vernichtung der Menscheit. Die Forderung, die ,Endzeit endlos' zu machen, nimmt dem 11enschen den ,Grund• fort, von dem er allein die atomare Drohung überstehen kann, nämlich die erfüllte Gegenwart, die ,Gegenwärtigkeit'. Gegenwart als leere, als abstrakte Zeit-
37. Martin Buber: Nachlese, a.a.O. S. 227
38. Erich Kahler: Verantwortung des Geistes, Ffm 1952} S. 223 39. Günther Anders: Die awmare Drohung, a.a.O. S. 221 51
ausdehnung, die ge-füllt wird mit Aktivität, rechnet mit der ,endlosen' Zeit, die we• der Ende noch Anfang und :Mitte hat~ die er-füllte Gegenwart aber reißt die Schranken der abstrakten Zeit ein 40 , zerbricht die Kette von Ursachen und Wirkungen und greift in Zukunft und Vergangenheit vergegenwärtigend ein. Der Mensch, der sich allein dem Gegenwartspunkt verhaftet sieht, an ihm hängend in die Zukunft gezogen wird und immer mehr und mehr Vergangenheit hinter sich läßt, für den di~ Vergangenheit als Vergangenheit unberührbar ist 41 , der hat keine Verantwortung der Geschichte gegenüber und keinen ,Grund', sich dem globalen Atomblitz entge~ genzustellen - ,Grund' in dem Doppelsinne von Ursache und Möglichkeit 42 • Nur für den, der in der Gegenwärtigkeit eine erfüllte Geschichte lebt, ist jener Grund vorhanden, und nvar in der ver-antworteten Ent~scheidung, in einer - wennauch abgründigen - Mitte zu stehen~ auch wenn diese Mitte sich mitten in der Endzeit befindet.
7 So wäre das ,Ende' durch den globalen Atomkrieg nicht das Ende der Geschichte, im Verlust der Geschichte wäre es jener Endpunkt, in dem Geschichte selbst zerfiele. Die Atombombe bewahrheitet keine Geschichte, sie beendet sie daher auch nicht, sondern zerstört sie. Solange Menschen endliche Wesen sind, der Zeitlichkeit und dem \Vechsel von Leben und Tod unterworfen, solange kann Geschichte nicht irgendwo ,abbrechen', denn sie kann nur in einem das Ganze der Geschichte bewahrheitenden Ende enden - entweder Geschichte ist ,ganz' Geschichte oder sie ist nicht Geschichte. In diesem Ende erst würde die Begrenztheit des Menschen sich end-gültig bewahrheiten. Das Endlos-Machen der Endzeit würde bedeuten, daß jeder einzelne, also alle, die Gefahr der atomaren Vernichtung dadurch zu begegenen glaubt, daß er sie möglichst weit von sich fortschiebt. Erst aber, wenn ich die atomare Gefahr als ,meine' Gefahr anerkenne, als jene Gefahr~ die mich direkt und unmittelbar betrifft und bedroht, kann ich ihr begegnen. Nur durch meinen eigenen Tod bin ich mit dem Tod der Menschheit verbunden - und nur hier stellt sich die Verbundenheit aller Toten gegen die atomare Gefahr her. Für den ,qualitativen Zeitbegriff" gilt, was Arnold 1v1etzgergesagt hat:
40. s. Hans-Georg Gadamer: Über leere und erfüllte Zeit, in: Kleine Schriften III, Tüb 1972,
s. 221ff.
41. s. Das Zitat vors Gericht! hier S. 12 42. s. Envin Reisners Ausführungen zu ,Gründlichkeit' in: Der begegnungslose Mensch) a.a.O. S. 36ff.
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Die Zeit ist( ...) das dialektische Ineinander von Tod und Auferstehung.{ ... ) In seinem Tode erkennen wir das Leben als Ganzes. Wir antizipieren es als Ganzes. 43
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Erst an der Grenze des Ganzen bewahrheitet sich in der ,Auferstehung', daß die Weltgeschichte das Weltgericht ist. ,,Die Toten sind tot" - schrieb schon Ranke „aber wir wecken sie auf ... , sie fordern die Wahrheit von uns. " 44 Alle Geschichte ist eine ,Wiedererweckung der Toten', die Umwandlung der ,Todesgeschichte' in ,Lebensgeschichte', und deshalb ist - wie Jürgen Moltmann sagte - alle Geschichte eine nvorweggenommene Eschatologie" 45 , und deswegen sprach Walter Benjamin von der ,schwachen messianischen Kraft• jeder Generation 46 • Die geschichtliche Vergangenheit ,spricht' uns an, als Menschen haben wir nur dort Vergangenheit, wo etwas lesbar ist, als Text oder Textähnliches (s. Exkurs II, S. 71}. Es geht beim Verstehen der schriftlichen oder schriftähnlichen Geschichte ,,um das rechte Verstehen eines verbindlichen Anspruches": Es geht nicht um ein vergangenes Menschliches in seiner geistigen und seelischen Er~ streckung und seiner kulturellen Ausprägung, sondern um die Überlieferung verbind~ licher Wahrheit oder gar Vorschrift. 47
Die Toten sind tot, aber das vergegenwärtigende Geschichtsbewußtsein weckt sie auf und vernimmt ihren An-Spruch oder sogar ihre Vor-Schrift auf Wahrheit. Gerade weil jedes Einzelleben Stückwerk, unabgeschlossenes Fragment geblieben ist, fordert es in seinem An-Spruch von uns - und dann von den folgenden Generationen - die Bewahrheitung ihrer Wahrheit, die sie nicht selbst bewahrheiten konnten und die auch für sie selbst Anspruch war - in der Antizipierung des Ganzen. Dieses Lesen der vergangenen Todesgeschichte liest nicht den Buchstaben, nicht den ,Text', sondern das lebendige, gesprochene Wort, das nur in der Hoffnung auf die bewahrheitende Auferstehung in den Sarg der Schrift niedergelegt wurde. Geschichte, soll sie zur ,Lebensgeschichte• verwandelt werden, spricht in ihrem An-Spruch an und tritt mit uns in lebendigen, unmittelbaren Kontakt. Versagen wir vor der atomaren Drohung, dann sind nicht nur wir verloren, denn wir tragen die Last des Anspruches allei: Toten auf unseren Schultern.
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43. Arnold Metzger: Freiheit und Tod, 2. Aufl. Freiburg 1972, S. 8 u. 2 44. zit. nach: R. Wittram: Das Interesse an der Geschichte, Gött 1958, S. 32 45. Jürgen Moltman: Theologie der Hoffnung, Mü 11. Aufl. 1980, S. 247 46. Walter Benjamin: Über den Begriffder Geschichte, a.a.O. S. 694; eine Auseinandersetzung mit Benjamin kann hier nicht vorgetragen werden, weil sie eine eigene Studie erfordert 47. Kadfried Gründer: Figur und Geschichte, Freib./Mü 1958 S. 132
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8 Die Atombombe hat die Menschheit nicht endlich gemacht, sie hat ihre Endlichkeit nur handgreiflich werden lassen und alle Vorstellungen des unendlichen Fortschritts als Illusionen bloßgestellt. Wir leben in der Endzeit, aber solangewir leben und im Gespräch uns und den Anspruch der Toten bewähren, leben und sprechen wir ,wie• aus der Mitte heraus. Wir sind nicht ,in' der Mitte, wir haben aber an ihr Teil. In der Endzeit lebend müssen wir davon ausgehen, daß die sich am Ende bewahrheitende Mitte der Zeiten für uns Vergangenheit ist, daß unsere Teilnahme an der Mitte uns an die Vergangenheit bindet. Wenn wir Geschichte - in der Vergegenwärtigung - haben, die uns Grund gibt zu und zum Leben, dann ist es diese Teilhabe an der Mitte, auch wenn diese sich erst bewahrheiten muß. Und dieses Vermögen, durch das wir sowohl in der Endzeit leben als auch teilhaben an der Mitte, ist die erfüllte Sprache. Schon Humboldt hat diese geschichtsstift:ende innere Gespanntheit der Sprache erkannt: Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Actt vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein ...48
Wir sind in der Sprache sowohl ,gebunden' als auch ,befreit' 49 , gebunden an die Vergangenheit und befreit von ihr in einem einzigen und unteilbaren Akt, gebunden an eine Mitte, die keine geschichtliche Mitte sein könnte, wenn wir nicht von ihr auch befreit wären, sie zu bewahrheiten, befreit von aller Vergangenheit, die sich aber erst in der Bindung -an die Mitte als geschichtliche Freiheit bewähren kann. Alle natürlichen Sprachen sind nicht nur ihrem Vorkommen nach Phänomene in der Zeit, sondern auch ihrem Wesen und ihrer Form nach gestaltete Zeit.so Als Johannes Lohmann diesen Satz schrieb, hatte er keinerlei geschichtsphilosophische Absichten (und natürlich stand ihm das Problem der Atombombe fern), erbeschrieb aber dennoch mit geradezu erstaunlicher Genauigkeit die endzeitliche Leistung der Sprache: Das Wesen der Sprache ist es, in der Form der gestalteten Zeit mit den Sprach-Phänomenen in der Zeit untrennbar zu sein - ähnlich wie Buher, aber von völlig anderen Voraussetzungen ausgehend, sieht er im Dialog den ,vollen Sprachbegriff' 51 • Die herausragende Leistung Lohmanns besteht darin, daß er, ohne dies allerdings zu problematisieren 7 die Sprachgeschichte - dasHauptproblem der gegenwärtigen 48. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit ... , a.a.O. S. 434 49. Ernst Lewy: Das Wesen der Sprache, in: Kleine Schriften, Berlin 1961, S. 117 50. Johannes Lohmann: Philosophie und Sprachwissenschaft, Heidelberg, 2. Aufl. 1975, S. 237 51. ders.: Eine neue Aufgabe der ,Lexis', in: Lexis III/1, 1952, 3. Umschlagseite
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Philosophie - als endlich zu denken. Er tut dies, indem er in der Entwicklung der Sprache von mythos zum logos und zur lingua (s. Exkurs III, S. 74) eine 1v1itteerkennend festlegt, nämlich in der Wandlung des logos-Begriffes:Der griechische logos - als oratio - füllte die Zeit, der logos als ,Vernunft' entleerte sie - als ratio 52 • Als Zwischenstufe zwischen diesen beiden Prozessen können wir dann dazu noch eine Epoche der ,Personifikation des Logos' ansetzen{ ...) und die zunächst in der Person des stoischen Weisen sich verkörperte 5 J. Zwischen dem radikalen Subjektivismus der Neuzeit (... ) und der ursprünglich griechischen Denkform ( ... ) steht eine Existenzform, in der die Form der Sprache zu einer Weise des menschlichen Verhaltens wird, einer ,Umgangsform'~ der Weise, in der die Menschen vorzüglich miteinander, als Menschen, verkehren 54 •
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Sprache als Existenz- und Umgangsform, Sprache als Weise des menschlichen Verkehrs und Verhaltens untereinander - dies ist jene 1viitte, in der der An-Spruch der anderen - der Lebenden wie der Toten - von mir in der lebendigen Antwort nach meinem Vermögen bewahrheitet wird. Gerade aber als Verhaltensweise ist diese Einheit von Person und Sprache vergangen - oder wird erst bewahrheitet. Jede Bestimmung eines ,Wesens von Geschichte', eines geschichtlichen ,Generalbandes' hängt sogleich mit dem Ende der Geschichte zusammen und bestimmt dessen „eschatologischen Tenor" 55 - so auch die Bestimmung der Sprache als Quelle der Geschichtlichkeit. Ist Sprachlichkeit das Generalband der Geschichte und Ge~ schichtlichkeit, wie es der von W'alter Benjamin geschätzte Ernst Lewy erkannte: Die Sprache, unsere Sprache ist unsere Freiheit und unsere Natur, unser Sein und unsere Geschichte, unsere Vergangenheit und unsre Gegenwart ... 50
- dann ist nur ein erfüllendes Ende der Geschichte denkbar, dann ist der eschatologischeTenor schon antizipiert in dem, was Lewy den „Optimismus des Sprachforschers" genannt hat 57 , ein Optimismus, der die Bewahrheitung der ,Personifikation des Logos' nicht voraussetzt, sondern bedingt.
9 Es fällt schwer, bei dem Begriff der ,Personifikation des Logos' - wie Lohmann es tat - nur an den stoischen Weisen zu denken und nicht an die Gnosis und das Christentum. Nach christlicher Glaubensgewißheit war Christus als ,fleischgewordenes Wort Gottes' die ,Mitte der Zeiten• - wir rechnen dementsprechend vor oder 52. Johannes Lohmann: Philosophie und Sprachwissenschaft, a.a.O. S. 245 53.ebd. S. 256 54. ders.: Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache, a.a.O. S. 30 55. Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung, a.a.O. S. 243 56. Ernst Lewy: Das Wesen der Sprache, a.a.O. S. 120 57. ebd. S. 118
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nach Christi Geburt-, nicht, weil er die arithmetische Mitte besetzt hätte, sondern weil er Mittler zwischen Gott und Menschen war und ist 58 • Dieser Ver-MittlungsProzeß war aber in sich nicht problemlos, ja, er konnte nur Vermittlungen leisten, weil er in sich bis zum Äußersten problematisch war. Denn die Erlösungstat Christi war in sich zweigeteilt: Sie war einerseits die Menschv.rerdung Gottes und der Tod dieses 1'-fenschen, und andererseits war sie die Auferstehung. Je näher man beide Ereignisse zueinander rückt, desto fragwürdiger wird die Vermittlungsfunktion, denn nur dann kann Christus für alle Menschen gestorben sein, wenn er nicht auf die Auferstehung .hin gestorben ist und wenn diese Auferstehung tatsächlich die eines Menschen war. Die ,Mitte der Zeiten• ist demnach die Mitte der Erlösungstat selbst, sind die drei Tage zwischen Tod und Verlassen des Grabes. Dietrich Bonhoeffer: Es ist schlechterdings kein Übergang, kein Kontinuum zwischen dem toten und dem auferstandenen Christus als die Freiheit Gottes, die am Anfang aus dem Nichts sein Werk schafft 59
Der Ort der Vermittlung ist die Leere des Grabens, das iAufsprengen' des Kontinuums, das Fehlen des Übergangs 60 - und die vermittelnde Kraft ist die schöpfende und erhaltende Macht Gottes (s. Exkurs IV, S. 78). Die Erlösungstat Christi wäre demnach die Teilhabe am Schöpfungswerk Gottes, der ,creatio ex nihilo' 61, und auch die Erlösung selbst am Ende der Geschichte, die Errichtung des ,neuen' Jerusa~ lern, ist keine bloße Umgestaltung, sondern ist eine Neuschöpfung. Die geschichtsstiftende Nlitte der Zeiten erweist sich als die das blo1~eKontinu~ um von Geburt und Tod aufsprengende Neu-Schöpfung: Die Erlösungstat Christi schon zeigte, daß bloße Erhaltung des Vergangenen unmöglich ist~daß nur die Neu~ schöpfung Erhaltung ist - und gerade deshalb ist das Christentum nicht nur eine Religion, die „in der Geschichte vorkommt", sondern eine, für die „das Geschicht~ liehe selbst ein Wesenselement'• ist62 • Die Parallele zu dem Satz Lohmanns, daß Sprache nicht nur ein Phänomen in der Zeit sei, sondern auch gestaltete Zeit, ist deutlich: Für das Christentum schafft Gott durch das Wort und auch die Geschichte ist daher wesentlich sprachmäßig. Aber das ,Ein für alle Mal" der Erlö.sungstat Christi 63 ist bedroht durch das ,ein 58. s. z.B. Oscar Cullmann: Christus und die Zeit, 3. Aufl. Zü 1962 59. Dietrich Bonhoeffer: Schöpfung und Fall. Versuchung, a.a.O. S. 20f. 60. auch die hier sich anbietende Verbindung zu Benjamin kann nicht durchgeführt werden 61. s. Oswald Loretz: Schöpfung und Mythos, Sttg. 1968, S. 78ff. und: Richard Wisser: Schöpfung und Schöpfertum in der Philosophie, in: Die \X'ahrheit des Ganzen, hrsg. v. Helmut Kohlenberger, Wien/Freiburg/Basel 1976, S. 175ff. 62. Michael Schmaus: 1'.fythosund Offenbarung, in: Die Wirklichkeit des J,.1ythos, hrsg. v. Kurt Hoffmann, Mil/Zürich 1965, S. 122. 63. s. Oscar Cullmann: Christus und die Zeit, a.a.O. S. 118 und: Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung, a.a.O. S. 209
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für alle Male' der atomaren Vernichtung der Menschheit und schon der atomaren Drohung 64 • Der katholische Erzbischoff von Seattle (USA), der Atomwaffengegner R. G. Hunthausen hat dies erkannt; Wenn wir uns selbst als den Körper Christi sehen, wenn wir in uns die Gegenwart von Jesus auf der Welt sehen, wie es die Heilige Schrift lehrt - dann würden wir mit den Millionen und Abermillionen Menschen, die in einem Atomkrieg sterben, auch unseren Erlöser zerstören. Denn Christus und die menschliche Familie sind eine Einheit65.
Gerade wegen der ,Mitarbeiterschaft' (1. Kor. 3.9) der :Menschen am Schöpfungswerk hat die atomare Drohung die christliche Heilsgewißheit zunichte gemacht: Wer an Christus glaubt, ~ist' nicht ,schon gerettet' - die Atombombe hat die Heils~ tat Christi zur Disposition gestellt.
10 Eine positive, irgendwie in der Geschichte auffindbare Mitte gibt es nicht 66 , es gibt nicht das ,Wahre' als etwas, das aufgefunden, erkannt, bewahrt und tradiert werden könnte, die bewahrheitende Mitte - z.B. in dem mythischen Symbol des Weltbaumes - ist geradezu der entschiedene Gegensatz zur Geschichte, die in sich immer die Differenz der Zeit gewissermaßen als ~Unruhe' in sich trägt - bis zum Ende aller Zeiten. Die durch Kant vollzogenen Umformung des Aristotelischen Satzes vom Widerspruch - der Aussage, daß „dasselbe nicht zugleicq demselben in derselben Hinsicht zukommen und nicht zukommen kann'~ strich Kant das ,zugleich ' 67 - entfernte diese lästige ~Unruhe' und bewirkte die „Entzeiclichung der Erkenntnis-Aus• sage" 68 • Erst die Dialogik hat diesen für die neuzeitliche Philosophie entscheidenden Schritt völlig überwunden, aber schon Friedrich Schlegel hat Kants Schritt rückgängig gemacht 69 • Es ist daher kein Zufall, daß Schlegel - schon lange bevor Humboldt von einem „lebendigen Keim nie endender Bestimmbarkeit" in der Sprache schrieb 70 - die ,unbestimmte Bestimmbarkeit' als wesentliche Eigentümlichkeit der
64, S. Günther Anders: Die atomare Drohung, a.a.O. S. 56 65. SPIEGEL-Gespräch, in Nr. 16/1982i S. 173 66. s. Aus welchem Holze ist der Name? hier S. 25f. 67, Johannes Lohmann: Philosophie und Sprachwissenschaft, a.a.O. S. 176 68. ebd. 69. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, hrsg. -v. E. Behler, Bd. XIX, S. 71, Nr. 289; zit. nach: Manfred Frank: Das Problem ,Zeit' in der deutschen Romantik, Mü 1972, S. 416. Anm. 33 70. Wilhelm Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ... , a.a.O. S. 436
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Sprache erkannt hatte 71 • Alles bestimmte und bestimmende Sprechen muß sich vom Ganzen der Sprache her bestimmen, dem nicht nur Unbestimmtesten, sondern auch dem durch diesen Akt der Bestimmung Veränderten, jede }Bestimmung' ist daher zeitlich tingiert, weshalb Schlegel die Sprache als Bestimmung, als mit der Stimme Begabtes auffaßt> alsVorgang in der Zeit. Der geistige Prozeß des Sprechens ist untrennbar mit der Sinnlichkeit von Sprechorgan, Schall und Ohr verbunden: Die Sprache widersteht in der Mitte. Sie ist immer das, was sie nicht ist: Ihre Sinnlichkeit ist darin wirklich, daß sie ein Geistiges repräsentiert; ihr Geistiges ist darin wirklich, daß es sinnlich repräsentiert ist. Diese gegenseitige Bezogenheit des sinnlichen und des geistigen Elementes ist nicht in einem der Elemente verankert, so daß sie von dort her ihre Richtung nehmen könnte 72 •
Die Sprachtheorie Schlegels, wie sie hier von Heinrich Nüsse kommentiert wird, schafft keine Mitte und Sprache steht in keiner Mitte, denn die ?v1itte ist die leere, der Riß, der in der wechselseitigen Verweisung nur überbrückt, nicht aber geschlos~ sen, geheilt wird. Und Nüsse kann die entscheidende Richtung dieser Sprachtheo~ rie - unmittelbar anschließend - folgendermaßen andeuten: ,,Das Motiv der Beziehung liegt außerhalb der Elemente: in einer Intersubjektivität." Hier ist der Weg zur Dialogik schon angedeutet, den Schlegel allerdings nicht beschritten hat. (Es deutet einiges darauf hin, daß Schlegel für die Innenbeziehungen der Sprache ähnliches aufgewiesen hat wie die Dialogik für die Außenbeziehungen.) Die ,erfüllte Sprache• die allein der ,Widerpart' des Krieges ist, muß deshalb der lebendige~ mündliche Dialog sein, ,veil dieser allein die ,Unruhe' der Zeit nicht zu eliminieren trachtet, sondern sich ihr ausliefert und dadurch die Zeit zum Ort der Geschichte macht. Der Dialog allein zielt nicht auf die ,Wahrheit', auf die Bewahrheitung unmittelbar ab, sondern gibt der ,Wahrheit' Zeit sich zu entwickeln, indem er das Zusammenspiel von Wahrheit und Irrtum in sich aufnimmt. Die ,unbestimmte Bestimmbarkeit' kehrt im Bereich der ,Intersubjektivität' wieder als das unauflösliche Gegeneinander von Verstehen und :Mißverstehen. Es liegt eine tiefe Weisheit in Rosenstock-Huessys Erkenntnis: Der Mann braucht die Irnümer nicht zu fliehen wie der Jüngling. Er kann und soll sie positiv werten 73 •
Denn nicht nur sind die Wahrheit und das Verstehen von Irrtum und Mißverstehen durchsetzt, sondern auch umgekehrt: "Selbst das Mifherstandene ist das Halbver• standene" 74 (s. Exkurs V, S. 80). Ernst Lewy hat hier den eigentlichen Kern der Ge-71. s. Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1972, S. 19f.; s. auch \Xlilhelm Dilthey~ Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. v. M. Riedel, Ffm 1970, S. 289 72. Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, a.a.O. S. 29 73. Eugen Rosensrock-Huessy und Joseph \'❖"irtig: Das Alter der Kirche, II. Band, Bln 1928,
s. 672
74. Ernst Le-.vy:Das \Xlesen der Sprache, a.a.O. S. 119
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schichtlichkeit angesprochen. Wenn Ferdinand Ebner fragt, ob das ,Nichtverstan~ denwerden' weniger einer methodischen Schwierigkeit geschuldet ist als einer ,aktiven Abschließung' des ,Ichs vorn Du' 75 , dann hat er den Grund der Geschichte in der Zeit und damit die existentielle Tiefe der Geschichte deutlich gemacht - wir ,haben' keine Zeit zur beliebigen Verfügung, sondern wir ,brauchen' sie: Zeit brauchen heißt: nichts vonvegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom anderen abh:ingig sein 76 •
Erst so geschieht nicht etwas ,in' der Zeit - als dem abstrakten Rahmen-~ sondern Zeit selbst wird „ganz wirklich'\ die Zeit „selber geschieht'' 77 • Gerade wegen des unauflöslichen Jvliteinanders von Zeit und Mißverstehen gilt dieses von Franz Rosenzweig hervorgehobene ;Geschehen der Zeit', und gerade weil hinter dem Verstehen immer das Mißverstehen steht, konnte Steinthal sagen: Indem man sich durch den anderen verstanden sieht, versteht man sich selbst: das ist der Anfang der Sprache 78 •
Erst wenn im „Ernstnehmen der Zeit" das ,,Bedürfen des anderen" erkannt wird 79 , ist der Fetisch der ,ewigen' Wahrheit hinfällig, ist Wahrheit selbst kein ,Erkenntnisgegenstand' mehr, sondern ,geschieht' Wahrheit im Mit- und Gegeneinander von Verstehen und Mißverstehen im Geschehen der Zeit, wird W'ahrheit selbst zur Scheidung der Zeiten in der Absetzung des neuen Wortes vom alten, wie es Rosenzweig beschrieben hat: Wer etwas zu sagen hat, wird es neu sagen. Er wird zum Sprachschöpfer. Die Sprache hat, nachdem er gesprochen hatj ein anderes Gesicht als zuvor 80 •
Das alte Ganze wird durch das aus der Zukunft geholte und zugleich die Zukunft er~ öffnende Neue verändert, die Richtung der abstrakten, objektivierten Zeit ist im Geschehen der Zeit umgekehrt: Jede Zukunft braucht eine neue Vergangenheit. 81
Und Rosenstock•Huessy fügt als Christ, der in der profanen Geschichte die Heilsgeschichte zu erkennen vermag, hinzu: Die Endzeit braucht ein Vergangenheitsbild, in dem alle christlichen Epochen gleich nah zu Gott sind.
75. Friedrich Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten, Ffm 1980, S. 21f. 76. Fanz Rosenzweig: Kleinere Schriften, Bin 1937, S. 387; zit. nach: Bernhard Casper: Sprache und Theologie, Freib./Basel/Wien 1975, S. 73 Anm. 4 77. ebd. S. 384; zit. ebd. S. 76 78. zit. ebd. S. 62, Anm. 4 79. Franz Rosenzweig, wie Anm. 76 so.ebd. S. 202; zit. ebd. S. 75 81. Eugen Rosenstock-Huessy und Joseph Wittig: Das Alter der Kirche, a.a.O. S. 658
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11 Darin aber unterscheidet sich die Endzeit der atomaren Drohung von der christlich-eschatologischen: Unsere Endzeit kennt keinen offenbaren Gott, in ihr sind alle Epochen gleich fern von Gott, mit der Endzeit ist alle Menschengeschichte gottverlassen. Mit der atomaren Drohung endet die Heilsgeschichte, die Geschichte ist durch die Beendbarkeit vollständig in die Hände der Menschen gelegt. Die Heilsgeschichte in ihrer von Oscar Cullmann herausgestellten Reihung von Schöpfung, Menschheit, Israel, der Rest, der Eine, die Apostel, die Kirche, Menschheit und Neuschöpfung 82 droht vor der Neuschöpfung abzubrechen: Nicht der Eine ist in die Hände der Menschen gegeben, der für die Errettung der Menschen starb, jetzt sind die Menschen sich selbst überantwortet, und die Menschheit kann nicht für die eigene Rettung sterben. Nun ist aber sowohl die Schlegelsche ,unbestimmte Bestimmbarkeit' - in ihrer Bindung an das ,Unendliche' - als auch die Dialogik - in ihrer Bindung an das vernehmbare Wort im göttlichen ,Du' - an Gott gebunden. Was auf den ersten Blick sich als zentrale Schwächung der Dialogik darstellt, tritt in der atomaren Endz(:it als ihre entscheidende Kraft hervor. Die Dialogik selbst ist die Frucht eines Dialoges zwischen Juden und Christen über jenes Thema, das beide am schärfsten voneinander trennte und für das die Juden einen ungeheuren Blutzoll entrichtet haben: über das Thema des Endes der Geschichte und der Rettung der Menschen. Diesen Dialog gilt es fortzusetzen und zu erweitern. Die Erlösungstat Christi war eine schöpferisch-erhaltende Tat Gottes, sie war dies aber gewissermaßen verborgen, denn sie wurde vollzogen im Medium der Geschichte, in die sich Gott in Gestalt seines Sohnes herabgelassen hat. Diese Vorstellung der Herablassung Gottes auf die Erde ist für das Christentum zentral &3 als Voraussetzung der Heilsgeschichte. Diese Herablassung - oder Kondeszendenz - Gottes ist der rettende Liebes~ und Gnadenakt überhaupt und Max Scheler setzte ihn zu• recht von der griechischen Liebes~Vorstellung ab als „liebevolle Herablassung des Höheren zum Niederen, Gottes zum Menschen, des Heiligen zum Sünder usw. " 84 • Und Georg Simmel hat gesehen, daß diese Liebe eine schöpferische ist: ,,Der Gegenstand der Liebe in seiner ganzen kategorialen Bedeutung ist nicht vor ihr da, sondern erst durch sie" 81 • Das Christentum hat weithin diesen Liebes-Akt der Heilsrat Christi als sicheren Besitz angesehen und geglaubt, den verheißenen evangelischen Frieden durch einen nevangelischen Krieg" gegen die Andersgläubigen erreichen 82. Oscar Cullmann: Christus und die Zeit, a.a.O. S. 164 83. s. Karlfr.ied Gründer: Figur und Geschichte, a.a.O. S. 28ff. 84. Max Scheler: Liebe und Erkenntnis, 2. Aufl. Bern 1970, S. 18 85. Georg Simmel: Brücke und Tür, Sttg 1957, S. 19 86. in: Reinhold Schneider - Leopold Ziegler: Briefwechselr Mü 1960, S. 233; siehe in die~ sem Zusammenhang Novalis: Heinrich von Ofterdingen, 8. Kapitel, über Poesie und Krieg
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zu können - woran noch 1952, also angesichts der Atombomben, Leopold Ziegler festhielt. Nur wer in vollkommener Verblendung an eine geradezu magische Kraft des Menschen über Gott glaubt, kann - wie Ziegler - den „apokalyptischen, den eschatologischen Krieg"' fordern 87 • Die atomare Drohung ist umgekehrt der Verlust dieser Sicherheit und die Aufforderung, der liebenden Herablassung Gottes durch Gegen-Liebe zu antworten, wie es Bernhard Casper gesagt hat; Das Faktum der Offenbarung menschlichen Verantwortung,
wird nie Besitz, sondern bleibt in der Gefährdung der die antwortet, die Gegen-Liebe ist 88 •
Die atomare Drohung treibt diese Ver-Antwortung des Menschen auf den Höhepunkt, an dem die end-gültige Entscheidung notwendig wird. Denn nur die Abkehr vom ,evangelischen Krieg' und die Hinwendung zu der in der Bergpredigt verkündeten Feindesliebe kann Geschichte gerettet werden - und hier schließt sich der Kreis zu Buhers Auffassung des echten Gesprächs als das ,Gemeinsame im Unge• < memsamen. Und es öffnet sich der Kreis zur Geschichtsauffassung des Judentums: \Venn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht - so läßt der Meister der Kabbalah den Gott der Liebe sprechen. Der Liebende, der sich in der Liebe preisgibt, wird in der Treue der Geliebten aufs Neue geschaffen und nun auf immer. 89
So nähert sich Franz Rosenzweig dem Christentum an, ohne sein Judentum aufzugeben oder zu verraten. Dennoch ist er von Gershom Scholem angegriffen worden, er habe die ntiefe Tendenz, dem Organismus des Judentums den apokalyptischen Stachel zu nehmen '"90 . Aber auch das Judentum ist im Innersten betroffen durch die atomare Drohung; auch das Kommen des Messias ist bedroht. Es kann daher nicht mehr, wie Gershom Scholem dies noch tat, der jüdische Messianismus vor allem als „Katastrophentheorie" aufgefaßt werden 91 (s. Exkurs VI, S. 81). Es hat sich, wie Günther Anders richtig feststellte, die Vorstellung des ,Jüngsten Tages· nvor der
Wirklichkeit blamiert" 92 . So können und müssen sich Christentum und Judemum - vorbildhaft für alle Konflikte - dort treffen, wo die Feindes-Liebe in die Gegen-Liebe umschlägt und schöpferisch-erhaltend in der Geschichte sich ausbreitet (s. Exkurs VII, S. 83). Diese Ausbreitung kann nur im echten Gespräch stattfinden, in jenem Gespräch, das weiß, wie sehr die eigene Existenz - jetzt im krudesten Sinne - von der Antwort des anderen abhängt, die aber auch weiß, daß sich die eigene Existenz nur in der Antwort des anderen schaffend erhalten kann.
87. ebd.
88. Bernhard Casper: Offenbarung im Denken Franz Rosenzweigs, Essen 1979, S. 111 89. Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, Haag 1976, S. 191 90. Gershom Scholem: Judaica 1, Ffm 1981, S. 232 91. ebd. S. 20 92. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, 2. Band, Mü 1981, S. 408 61
So ist der Weg der christlich-indiv.iduellen Erlösung versperrt. w·enn Erlösung überhaupt erreicht werden kann, dann muß sie - ·-.vieScholem es gefordert hat ,,in der Öffentlichkeit" und „auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft" vollzogen werden93 • Nicht mehr geistig-stumm kann die Erlösung sein, kein Vorgang mehr zwischen dem Einzelnen und ,seinem' Gott, sie muß laut, vernehmbar, entschieden und gemeinschaftlich sein, also dialogisch. Der christlichen Kondeszendenz hat Gershom Scholem die ,Zusammenziehung' Gottes entgegengestellt als eine der kühnsten und tiefsten Einsichten der Kabbala: Damit überhaupt etwas, eine Welt sein kann, die nicht Gott ist, muß Gott sich ,,in sich selbst hinein" zusammenziehen, sich einer ,,Selbstverschränkung" unterziehen. So erst kann das Nichts entstehen, aus dem er die \"'v'eltgeschaffen hat. Der Zimzum, die Selbstverschränkung Gottes ist „das tiefste Symbol des Exilst das gedacht werden könnte" und dieses ist zugleich der tiefste Grund der Katastrophalität der Geschichte: Denn der Zirn zum selbst ist als solcher ein Akt der richtenden Gewalt in Gott) indem er Beschränkung und Negation seiner selbst bedingt. Denn das Wesen des Richtens besteht für den Kabbalisten _iadarin, daß Grenzen gezogen werden und alles auf richtige Weise determiniert wird ... In einem tiefen Sinn liegt also die Wurzel alles Bösen in der Welt, das in der Kategorie der richtenden Gewalt (Din) gründet, gesetzmäfüg schon im Akt des Z1mzum selbst verborgen. 94
Der junge Habermas hat geglaubt, in den Bewegungen der Herablassung Gottes und der Zusammenziehung Gottes eine Alternative sehen zu müssen 95 , aber schon der Hinweis auf den Christen Erwin Reisner zeigt, wie relativ hier der Gegensatz zwi~ sehen Christentum und Judentum ist: Gott schafft, heifü, Gott macht sich ein Gegenüber, ein Anderes, das ihn genauso be~ schränkt wie jedes Wesen überhaupt von einem ar..deren beschränkt wird. Gott beschränkt sich also in seinem Schaffen selbst. Was aber beim Schöpfer freiwilliger Akt bleibt, wird beim Geschöpf, beim Menschen, zur Gegebenheit. Der Mensch ist von Natur aus beschränkt, die Schranke ist ihm angeboren. 96
Der Mensch ist unter das ,Gesetz' der Beschränktheit und Begrenztheit gestellt; die Atombombe - einerseits unbegrenztes :Machtmittel- ist - andererseits - der verzweifelte Versuch, die Grenze selbst in die Verfügungsgewalt und in die Kontrolle zu bekommen. Die Atombombe ist die in sich widersprüchliche Auflehnung gegen die Begrenztheit - wenn es sein muß bis zur grenzenlosen Vernichtung -, und ihr ist daher nur zu begegnen mit der bejahenden Annahme der Grenze und Beschrän•
kung. 93. Gershom Scholem: Judaica 1, a..a.0. S. 7 94. ders.: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 2. Aufl. Ffm 1967, S. 286-289; s.a.: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Ffm 1970, S. 53ff., bes. 84ff. 95. Jürgen Habennas: Theorie und Praxis, 2. Aufl. Darmstadt 1967, S. 139 96. Erwin Reisner: Der Dämon und sein Bild, Ffm 1947, S. 26f.
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Vielleicht ist es erlaubt, in einer ungeheuren Abbreviatur die Gottverlassenheit der Endzeit zu deuten als den Endpunkt einer einzigen, sich aber auseinanderlegen~ den Bewegung von Zusammenziehung und Herablassung. Ist es nicht denkbar, daß sowohl die Selbstverschränkung, das Exil Gottes einerseits, als auch die Ankunft, das Herabsteigen Gottes in unsre Geschichte andererseits, an ihren Endpunkt gelangt sind, so daß sich Gort einerseits in einem vom Nichts umgebenen Punkt zusammengezogen hat, andererseits aber ganz und restlos in unsere Endzeit eingegangen ist, sich ihr überantwortet hat? Es scheint mir, daß so allein die Ver-Antwortung des Menschen in dieser Endzeit zu fassen ist. Es wäre zu viel zu sagen: Es ist die Aufgabe des Menschen, mit der Geschichte Gott zu retten; aber die Möglichkeit Gottes kann gerettet werden mit der Geschichte, die lvföglichkeit eines Gottes, der - wie auch immer - seinerseits die Geschichte rettet. Vielleicht aber ist die Rettung der Geschichte zugleich ihre Beendigung, die Beendigung all dessen, was wir noch unter Geschichte verstehen, und die Rettung ist nur in dem Schritt zu einem ,neuen Äon• möglich. - Ist dies beides aber nicht dasselbe und der neue Äon das Wort für eine Geschichte, die der Rettung nicht mehr bedarf?
12 Günther Anders hat vermutet, daß zwischen der Heideggerschen ~ontologischen Differenz' und der - wie er es auffaßt - ,apokalyptischen Situation' ein Zusammenhang besteht: Vieles spricht dafür, daß die heutige, in Heideggers Fahrwasser schwimmende Ontologie eine sich als Philosophie mißverstehende oder sich als solche verkleidende apokalyptische Prophetie ist-97
Daß in das Heideggersche Denken die Erfahrung zweier Weltkriege eingegangen ist und daß in ihm indirekt auf einen dritten Weltkrieg hin-gedacht wurde, dies macht seine Stärke und Schwäche aus: Der dritte Weltkrieg wird eben kein abermals verschärfter zweiter sein, in ihn werden die Zeichen des Welt-Unterganges nicht bloß verschiedentlich eingelassen sein. Vielleicht ist dies aber gerade die schier unüberwindliche Schwierigkeit~ die neue Qualität des globalen Atomkrieges zu erfassen: daß das welt,geschichtlich' Neue des dritten Weltkrieges sich schrittweise ankündig• te. Günther Anders zu Heidegger: Da das Nichtsein von Seiendem (das offensichtlicherweise nicht identisch ist mit dem von Nichtseiendem) nun wirklich möglich geworden ist; und daß,verglichen mit diesem eventuellen N1chtsein von morgen, das heutige Sein, nämlich das Noch- und Weitersein des Seienden wie ein Wunder wirkt, nimmt diese Heideggersche Scheidung
97. Günther Anders: Die atomare Drohung, a.a.O. S. 177
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zwischen Sein und Seiendem nun wirklich Sinn an. (, .. )Die Differenz zwischen Seiendem und Sein gewinnt evidente Rechtm:ißigkeit erst in demjenigen Augenblick, in dem das Nichtsein des Seienden als Eventualität am Horizont auftaucht; die Spaltung zwischen Sein und Seiendem ist eine ,von Gnaden des Nichtseins', 'Hi
Unter der ,Verkleidung' läßt sich der Bezug zur Endzeit auch dort fassen, wohin Anders seine Aufmerksamkeit nicht gerichtet hat: auf sein Sprach-Denken - wird doch durch den Dichter ~,das Seiende erst zu dem ernannt, was es ist" 99 • Der oft zitierte Satz „Kein Ding ist, wo das Wort fehlt. " 100 bekommt in der Beziehung zur Endzeit einen unüberhörbar drohenden Unterton. Vollends deutlich wird dieser, wenn Heidegger den Vers Stefan Georges ~Kein ding sei wo das wort gebricht' so auffaßt, daß das ,sei' ,,nicht der Konjunktiv zum ,ist', sondern eine Art von Imperativ, ein Geheiß" bedeutet 1 ndem der Dichter folgt, um es künftig zu bewahren" 101 • Vielleicht ist auch der Satz ,Die Sprache spricht' so zu iesen (der ja in Benjamins ,Jede Sprache teilt sich selbst mit'._ wi ein Pendant hat): Die Sprache spricht. Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem Geheiß der Stille gehört. Nichts liegt daran, eine neue Ansicht über die Sprache vorzutragen. Alles beruht darin, das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen. 102--
Auch hier ist der drohende Unterton lesbar - und vollauf gerechtfertigt durch das ,Geheiß der Stille\ wenn wir - Martin Buber folgend - die ,Stille' in einer Vorstufe zu Hölderlins ,Friedensfeier' auf den „Abend der Zeit" beziehen 103 • Hinter der Stille am Abend der Zeit~ der nach Hölderlins Hoffnung die Chöre der Seligen folgen sollten) hinter dieser Erlösungshoffnung steht die Stille nach dem globalen Atomblitz. In einer seiner frühesten Hölderlin-Erläuterungen ging Heidegger eben auf diese Vorstufe zur ,Friedensfeier' ein: Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander. rn4 98. ebd. S. 176f. 99. :tvlartin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 5. Aufl. Ffm 1981, S. 41/42. u. 3. Aufl.: S. 38 100. ders.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, 5. Aufl. 1975, S. 164 101. ebd. S. 168 102. Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: GW Bd. Il.lr Ffm 1977, S. 142 102a. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, a.a.O. S. 32f. 103, Martin Buber: Nachlese, a.a.O. S. 71; Hölderlin: Kleine Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2, S. 142 104. Man.in Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung; a,a.O. S. 38/36; Hölderlin a.a.O. S. 143
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Und Heidegger folgerte: Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch. (...) Beides - ein Gesprächsein und Geschichtlichsein - ist gleich alt, gehört zusammen und ist dasselbe 105
Es ist erstaunlich, daß an diesem Punkt; in dem Heidegger der Dialogik am nächsten zu kommen scheint, Martin Buber eine Kritik Heideggers formuliert hat: Die Erklärung ,Seit die Götter uns in das Gespräch bringen' (Heidegger) wird dem nicht gerecht, was gesagt ist. Wir selber sind das Gespräch: wir werden gesprochen ( ... ). Unser Gesprochenwerden ist unser Da.seinrn6•
Dieser Einwurf hat die Tendenz., jenes ;Versagen' vor dem Anspruch der Sprache und der Götter - dessen Möglichkeit Heidegger ausdrücklich benennt 107 - undenkbar werden zu lassen, wodurch gerade jene ,ontologische Differenz' bestritten wird, durch die das Heideggersche Sprach-Denken auf die Endzeit hin durchsichtig wurde. Unser Gesprochenwerden ,ist' eben nicht unser Dasein, sondern - wenn es sie geben sollte - unsere Zukunft - allerdings die einzige, die uns noch bleibt, eine Utopie, der alles Utopische fehlt, da wir keine andere Möglichkeit haben die atomare Drohung zu überstehen.
13 ,Nichts liegt daran - hatte Heidegger geschrieben~, eine neue Ansicht über die Sprache vorzutragen. Alles beruht darin, das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen.' Und vorher schon hatten wir Franz Rosenzweig zitiert, der auf seine Weise dieses ,Wohnen im Sprechen der Sprache' expliziert hatte: ,Wer etwas zu sagen hat, wird es neu sagen. Er wird zum Sprachschöpfer. Die Sprache hat, nachdem er gesprochen hat, ein anderes Gesicht als zuvor.• - Nur auf den ersten Blick scheint hier kein 'X1iderspruch vorzuliegen, jede nähere Betrachtung, die erkennt, daß alles Sprechen sich unmittelbar auch reflexiv zu sich selbst verhält 108~ wird hier einen Zwiespalt im Verhältnis zum Neuen erkennen und damit einen Zwiespalt im Verhältnis zur Zukunft. Dies ist besonders gravierend dann, wenn man mit dem Bloch nahestehenden Theologen Jürgen Moltmann in der Zukunft die }eigentliche Kategorie geschichtli• chen Denkens' sieht 1° 9 • Als Bloch 1961 fragte, ob Hoffnung enttäuscht werden kön105. ebd. s. 38 u. 39f./36 u. 37 106. Martin Buber: Nachle.se, a.a.O. S. 71; Heidegger ebd. S. 40/37 107. Martin Heidegger, ebd. S. 40/37 108. s. Karl-Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus, Bonn 3. Aufl. 1980, S. 43f., der gerade hierin die unersetzbare Kraft der Umgangssprache - also der Sprache des Dialoges ~ sieht 109. Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung, a.a.O. S. 241
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ne und er diese Frage bejahte, um der Hoffnung die Geschichtsmächtigkeit zu erhalten, da ging er davon aus) daß die entscheidende Weiche noch nicht gestellt sei, nnoch nicht zum Heil, aber auch nicht zum Unheil" 110• Das utopische Denken verteidigend schrieb Habermas von einer ,Überrundung' der Geschichte in eschat0logischen Denken als dem Kern der Utopie 111, in der Atombombe aber hat die Ge~ schichte sich selbst überrundet und damit jede utopische Hoffnung hinfällig gemacht. Zwar sind die Atomraketen noch nicht untenvegs, es bleibt noch die ,Frist', von der Günther Anders sprach, aber die Vernichtungsmaschinerie ist installiert, sie hat nicht nur den Blick in die offene Zukunft der Utopie versperrt, sondern diese Zukunft selbst vernichtet (s. Exkurs VIII, S. 85). Die ,Treue zur Hoffnung' 112 wenn Hoffnung denn noch ,Hoffnung' heißen soll - darf sich nicht mehr auf den Satz stützen: ,1Das utopische Totum ist im dynamei on impliziert" 113 • Keine unerlöste Möglichkeit, keine geschichtlich ,neue' Eigenschaft des :Menschen kann uns ret~ ten, Rettung kann allein aus dem kommen, was wir schon sind - gilt doch schon die Umkehrung - wie Anders erkannt hat: daß das bloße Sein, das Fortexistieren schon die Rettung ist in einer Zeit, in der ),zum ersten Male effektive Zukunftslosigkeit (nämlich die Katastrophe) droht« 114 • Das utopische Denken und seine Hoffnung ist ein eminent geschichtliches Denken, das angesichts der atomaren Drohung ungenügend ist, da "es nun die Geschichte selbst ist, die in der Gefahr schwebt" 115 • Wenn Hoffnung denn noch ,Hoffnung' heißen soll - und nicht .Glaube'. Der von der Sprech•Zeit her denkende Eugen Rosenstock-Huessy hat dies schon ausge~ sprochen: Nejn, das Hoffen ist unsere rückwärtige Verbindung, wie der Glaube unsere vorwär-
tige.
Der in den alten Vorstellungen Denkende übersieht die Bilderfülle des Hoffenden. Er ist ungeübt, alle seine Vorstellungen als das zu durchschauen, was sie noch sind: Vergange.nheit, Erinnerungen, vorgefaßte Begriffe, die man nur in die Zukunft hinüber projiziert 116 •
Die Hoffnung geht in die Vergangenheit, der Glaube aber in die Zukunft. Der Glau be aber an was? An das Wort des anderen, an den Ernst seiner verantwortlichen Entscheidungen. Hier im ,echten Gespräch' der Vergegenwänigung, nicht in einer utopischen Zukunft, eröffnet sich das Neue. 4
110. Ernst Bloch: Verfremdungen I, Ffm 1962, S. 219 111. Jürgen Habermas: Theorie und Praxis 1 a.a.O. S. 339 112. Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, 2. Band, Ffm 1964, 5. 161 113. ders.: Das Prinzip Hoffnung, a.a.O. S. 238 114. Günther Anders: Die atomare Drohung, a.a.O. S. 124 115. ebd. S. 173. 116. Eugen Rosenstock-Huessy: Die Sprache des Menschengeschlechts, 2. Band, Heidelberg 1964, S. 413
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Es gibt eine ganz einfache Unterscheidung, wodurch ein Mensch die Sprache neu schafft. Der Unterschied zwischen Schwärzen, Plappern, Reden, Sagen, Sprechen ist sehr einfach. Die eine Schicht ist die Spielschicht der Sprache, wo man sagt: ,Ich habe nichts gesagt, du wirst doch das nicht mir entgegenhalten!" Aller Klatsch gehört dahin.(._.) Sprechen ist das Sprechen, das man auf sich sitzen läßt. (... ) Jeder von uns wird in das Buch des ewigen Lebens nur für das eingetragen, was er gesagt hat, für nichts anderes! Das bezieht sich (... ) auf den Namen, den er sich gemacht hat, den er auf sich hat sitzen lassen, wenn er auch Unehre brachte und für die er geradegestanden hat. 117
Das Neue~ das allein uns retten kann, ist eine neue Erfindung ebensowenig wie eine neue Pädagogik, nicht einmal eine neue Ansicht über die Sprache, sondern die neue Sprache selbst, die - und hierin besteht die ,Inversion' der Zukunft - in der Bekräftigung des vergangenen Gesagten besteht. Die neue Sprache ist jene, die beim Wort genommen werden will, indem sie den Angeredeten - in einem Akt ,guten Glaubens• - als einen beim Wort zu Nehmenden akzeptiert. Der geforderte Glaube ist der an die :Macht des echten Gespräches, in dem das Gesagte nicht immer wieder ausgestrichen, widerrufen wird, sondern auch dort bekräftigt wird, wo es ausdrücklich als überwundene Position benannt ist. Denn nicht leicht ist es schon, zu einer gegenwärtigen Position zu stehen, viel schwerer aber, zu seiner Vergangenheit zu stehen und das nicht mehr Vertretene ,auf sich sitzen zu lassen'. Nur so kann aber die ,wahre Vergangenheit' (Schelling) geschaffen werden: Daß man es bewußt und aktiv in die Vergangenheit versetzt - also ,getötet' - hat, gleichzeitig aber den AnSpruch dieser Vergangenheit vernimmt in dem \Vissen, daß auch die eigene gegen~ wärtige Position zur Vergangenheit erklärt werden wird. Erst so kann die VerAncwortung für die als geschichtlich begriffene Gegenwart übernommen werden. Hier öffnet sich gleichzeitig das in sich geschlossene, abstrakte Denken dem Anderen, erkennt und anerkennt den Anderen im Anerkennen des Bedürfens der Zeit für das echte Gespräch. So ist jede Entscheidung in der erfüllten Sprache zugleich ei• ne Scheidung der Zeiten, eine Setzung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die zugleich und in derselben Bewegung durch die Gegenwärtigkeit zusammengehalten werden 118 • So ist das echte Gespräch immer eine - wennauch fragmentarische und wenig dauerhafte - Neuschöpfung der Vergangenheit, keine ,creatio ex nihilo', wohl aber eine ,prae nihilo', im Angesicht des Nichts; und diese Neuschöpfung ist eine im Liebte des Friedens, nicht - wie bisher - eine im Dunkel des Krieges und der Vernichtung. Die Friedens-Macht des Gespräches aber kann nur dann auch in jenen Bereich eindringen, in dem heute Politik gemacht wird, wenn der Zweite Weltkrieg wirklich, d.h. ausdrücklich beendet wird. Aber noch gilt jene Einsicht RosenstockHuessys von 1950: 117. Eugen Rosenstock-Huessy: Das Geheimnis der Universität, Sttg 1958, S. 120f. 118.s. wichtige Parallelen zu: WolfgangWieland: SchellingsLehre von der Zeit, a.a.0.
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Aber es hat noch kein Mensch mit Vollmacht das Ende des Zweiten Weltkrieges verkündet. Es ist geradezu eine Ausstrahlung unseres Sprachlich-krank-seins, daß die Ausdrücklichkeit jedes Friedens verkannt wird. Den Frieden gibt es nur als erklärten, als gelobten, angetrauten und nie als natürlichen Zustand. Der Friede ist das erste von der Sprache vollbrachte Wunder. 119 Es ist dies die bedrohliche Unfähigkeit der Politiker: an das Friedenswunder der Sprache zu glauben. Stattdessen zerstören sie die Sprache und machen sie un-glaubwürdig. Rudolf Augstein zitierte als ,verächtlichsten Vorwurf' Konrad Adenauer: „Der meint ja, was er sagt." - oder: nDer glaubt .ia sogar selbst, was er sagt." Und Augstein kommentiert: ,,Die Menschen in wichtigen Fragen täuschen zu können, gilt seit Macchiavelli als Kardinaltugend eines groHen Politikers. •~120 So müssen, wenn die Politiker es nicht tun, die Friedensbewegungen sich die ,Vollmacht' erstreiten, den Un-Krieg zu beenden und den Frieden zu beginnen. Es gilt die Feststellung von Günther Anders: Entweder gibt es Friedenszeit, Oder es gibt überhaupt keine Zeit. Friedenszeit und Zeit sind identisch geworden. 121 Aber auch dieser Friede wird dem ,Großen Frieden' nur oberflächlich ähnlich sehen, denn er bleibt überschattet von der atomaren Drohung:... Das Kernstück .irdi~ scher Gerechtigkeit und kühnster Utopie, der Friede, ist kein Stück vom Paradies, denn er ist nicht freiwillig erreicht, sondern erzwungen durch die Drohung der totalen Vernichtung.
14 So bleibt der radikale Gegensatz bestehen: Über den Atomkrieg kann kein echtes Gespräch geführt werden - wäre dies möglich, könnte vielleicht die atomare Drohung selbst ausgelöscht werden -, und der Atomkrieg vernichtet die Geschichte der erfüllten Sprache rückläufig in allen Zeiten - weshalb uns mehr als allen Generationen vorher die Rettung der Geschichte aufgetragen ist.
119. Eugen Rosenstock-Huessy: Der Atem des Geistes, Ffm 1950, S. 43 120. Rudolf Augstein: Der doppelte Reagan, in: DER SPIEGEL 27/1982, S. 86. 121. wie Anm. 25
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Nachtrag: Exkurse
Exkurs L· DAS WEL TBUCH Die klassische Formulierung der kosmischen Frage ist die nach dem Weltbuch, nach der Verstehbarkeit, der Lesbarkeit des Kosmos. Auch hier stellt sich die Frage, ob das Bild des Weltbuches noch einen Sinngehalt hat angesichts der atomaren Drohung - oder ob nicht andere Leitvorstellungen der neuen Situation angemessen sind. An einer entscheidenden SteHe seines Buches ,Die Lesbarkeit der \"X'elr'zitierte Hans Blumenberg Novalk Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptom - das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerei ahnden läfk Man wird vielleicht einmal in Massen schreiben, denken, und handeln~ Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden Ein Werk umernemen 1•
Ohne hier eine Novalis-Interpretation durchführen zu wollen 2, scheint mir Blumenbergs Kommentar von einem bezeichnenden Mißverständnis geprägt zu sein: Das ungerechte Paradox dieser Konzeption besteht darin, daß ein solches produktives Totalsubjekt auf kein rezeptives Publikum mehr zu rechnen hätte 3 •
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Es ist nicht nur so~ daß Blumenberg das ,Werk•, das nach Novalis ,unternommen• wird, fälschlich als Buch auffaßt, wo Novalis doch deutlich genug vom Denken und Handeln spricht, also doch ein praktisches Werk meint - wie Journale' ja auch bei Novalis einen politischen Anstrich hatten -, sondern darüberhinaus zeigt die Aussage von Novalis, daß das ,Werk' der Nationen tatsächlich gerade kein ,rezeptives', sondern ein produktives sein soll. Der Gesellschaft, den Gemeinden und Nationen soll ihr Werk gerade nicht ,vor-geschrieben' werden; wer den politischen Gehalt im ,Schreiben in Gesellschaft' nicht erkennt, kann den von Novalis vollzogenen Schritt über die „Dualität von Leser und Buch " 4 hinaus nicht vollziehen. Die Fehlinterpretation Blumenbergs ist kein Zufall, sondern Methode. Er zitiert den unseren Zusammenhang unmittelbar betreffenden Satz Maurice 11erleauPontys: Angesichts der Untergangsoptionen, zwischen denen der Mensch noch unschlüssig zu sein scheint, ließ sich sogar das Bedrohlichste mit einer Variante auf die tradierte Metaphernlinie holen: ... 5
Diese Metaphernlinie wäre die der „Schriftlichkeit": 1. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Ffm 1981~S. 301 2. s. hierzu: Richard Faber: Novalis: Die Phantasie an die Macht, Sttg 1970
3. Hans Blumenberg, a.a.O. 4. ebd. S. 309 5. ebd. S. 404
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Aber es hat noch kein Mensch mir Vollmacht das Ende des Zweiten Weltkrieges verkündet. Es ist geradezu eine Ausstrahlung unseres Sprachlich-krank-seins, daß die Ausdrücklichkeit jedes Friedens verkannt wird. Den Frieden gibt es nur als erklärten, als gelobten, angetrauten und nie als natürlichen Zustand. Der Friede ist das erste von der Sprache vollbrachte Wunder. I19
Es ist dies die bedrohliche Unfähigkeit der Politiker: an das Friedenswunder der Sprache zu glauben. Stattdessen zerstören sie die Sprache und machen sie un-glaubwürdig. Rudolf Augstein zitierte als ,verächtlichsten Vorwurf' Konrad Adenauer: nDer meint ja, was er sagt." - oder: ,,Der glaubt ja sogar selbst, was er sagt." Und Augstein kommentiert: "Die Menschen in wichtigen Fragen täuschen zu können, gilt seit Macchiavellials Kardinaltugend eines großen Politikers. " 120 So müssent wenn die Politiker es nicht tun, die Friedensbewegungen sich die ,Vollmacht' erstreiten, den Un-Krieg zu beenden und den Frieden zu beginnen. Es gilt die Feststellung von Günther Anders: Entweder gibt es Friedenszeit. Oder es gibt überhaupt keine Zeit. Friedenszeit und Zeir sind ident1sch geworden. 12I
Aber auch dieser Friede wird dem ,Großen Frieden' nur oberflächlich ähnlich sehen, denn er bleibt überschattet von der atomaren Drohung: Das Kernstück irdischer Gerechtigkeit und kühnster Utopie, der Friede, ist kein Stück vom Paradiest denn er ist nicht freiwillig erreicht, sondern erzwungen durch die Drohung der totalen Vernichtung.
14 So bleibt der radikale Gegensatz bestehen: Über den Atomkrieg kann kein echtes Gespräch geführt werden - wäre dies möglich, könnte vielleicht die atomare Drohung selbst ausgelöscht werden -, und der Atomkrieg vernichtet die Geschichte der erfüllten Sprache rückläufig in allen Zeiten - weshalb uns mehr als allen Generationen vorher die Rettung der Geschichte aufgetragen ist.
119. Eugen Rosenstock-Huessy: Der Atem des Geistes, Ffm 1950, S. 43 120_Rudolf Augsrein: Der doppelte Reagan, in: DER SPIEGEL 27/1982, S. 86. 121. wie Anm. 25
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Nach trag: Exkurse Exkurs 1: DAS \VEL TBUCH Die klassische Formulierung der kosmischen Frage ist die nach dem Weltbuch, nach der Verstehbarkeit, der Lesbarkeit des Kosmos. Auch hier stellt sich die Frage, ob das Bild des Weltbuches noch einen Sinngehalt hat angesichts der atomaren Drohung - oder ob nicht andere Leitvorstellungen der neuen Situation angemessen sind. An einer entscheidenden Stelle seines Buches ,Die Lesbarkeit der Welt' zitierte Hans Blumenberg N ovalis: Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptom - das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerei ahnden läßt. Man wird vielleicht einmal in Massen schreiben, denken, und handeln - Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden Ein \XTerkumernemen 1•
Ohne hier eine Novalis•Interpretation durchführen zu wollen 2, scheint mir Blu• menbergs Kommentar von einem bezeichnenden Mißverständnis geprägt zu sein: Das ungerechte Paradox dieser Konzeption besteht darin~ daß ein solches produktives Totalsubjekt a.ufkein rezeptives Publikum mehr zu rechnen hätte3•
Es ist nicht nur so, daß Blumenberg das ,Werk', das nach Novalis ,unternommen' wird, fälschlich als Buch auffaßt, wo Novalis doch deutlich genug vom Denken und Handeln spricht, also doch ein praktisches Werk meint - wie ,Journale' ja auch bei Novalis einen politischen Anstrich hatten -, sondern darüberhinaus zeigt die Aussage von Novalis, daß das ,Werk' der Nationen tatsächlich gerade kein ,rezeptives•, sondern ein produktives sein soll. Der Gesellschaft, den Gemeinden und Nationen soll ihr \X1erk gerade nicht ,vor-geschrieben' werden; wer den politischen Gehalt im ,Schreiben in Gesellschaft' nicht erkennt, kann den von Novalis vollzogenen Schritt über die „Dualität von Leser und Buch " 4 hinaus nicht vollziehen. Die Fehlinterpretation Blumenbergs ist kein Zufall, sondern Methode. Er zitiert den unseren Zusammenhang unmittelbar betreffenden Satz Maurice MerleauPontys: Angesichts der Untergangsoptionen, zwischen denen der Mensch noch unschlüssig zu sein scheint, ließ sich sogar das Bedrohlichste mit einer Variante auf die tradierte Me• taphernlinie holen: ... 5
Diese Metaphernlinie wäre die der „Schriftlichkeit.t: 1. Hans Blumenberg; Die Lesbarkeit der Welt, Ffm 1981, S. 301
2. s. hierzu: Richard Faber: Novalis: Die Phantasie an die Macht~ Srtg 1970 3. Hans Blumenberg, a.a.O. 4. ebd. S. 309 5.ebd. S. 404
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Geschichtehieße, daß die Annalen des Menschen Epoche um Epoche fortgeführt wer-
Wenn Schriftlichkeit und Geschichtlichkeit zusammenfallen - und die Schriftlich~ keit nicht nur ein Nacherzählen der Geschichte ist -~ dann ist schwer einsehbarr woher das Ende denn kommen soll. Merleau-Pontys Satz ist ja unklar, insofern er nicht sagt, ob das Ende des Satzes inneren oder äußeren Hemmungen geschuldet ist; Blumenbergs ~Schriftlichkeit' tendiert dazu, aus der Geschichte eine in sich geschlossene Sphäre zu machen, die ihr eigenes Ende nicht herbeiführen kann - das ,Fortführen' der Annalen wäre ja identisch mit der Fortführung der Geschichte. Sinnvoll läßt sich der Satz Merleau~Pontys erst verstehen, ,venn er mir der Gemeinschaftlichkeit der Bücher im N ovalis-Zitat zusammengedacht wird: Sowohl die Gemeinschaftlichkeit als auch das ,Steckenbleiben' sind nur dann begreifbar, wenn das Wort kein schriftliches, sondern ein gesprochenes ist. Erst der Dialog schafft das Gemeinschaftliche des ,Einen Werckes', nur der Dialog kann aus innerem Versagen ,stecken bleiben'. Damit aber ist die Vorstellung des ,V{:'eltbuches' ersetzt durch den ,'Weltdialog'. Die große Schwierigkeit - und vor sie sind wir in der Endzeit unausweichlich gestellt - des ,Weltbuches' stellt sich ja erst in der kosmischen Dimension: Dag Geschichte ,lesbar' ist, kann ohne Frage behauptet werden, daß der Kosmos ,lesbar' ist, muß deshalb schwieriger erklärbar sein, weil diese Schrift - anders als die Geschichte - nicht verwandeltes Gespräch sein kann, jedenfalls nicht verwandeltes Gespräch der Menschen. So steht die Alternative: Entweder ist der Kosmos (gnostisch) in irgendeiner, dann aber radikal vor~geschichtlichen Weise ,Schrift', oder er wird als verwandeltes Gespräch in die Geschichte hineingenommen; hier scheint mir angesichts der Gefährdung des Geschichtlichen eine klare Entscheidung unumgänglich. In modernere Begriffe gefaßt heißt die Alternative: Information oder Sprache. Und hier zeigt sich, wie unzureichend das Kriterium der ,Lesbarkeit' ist. Blumenbergs Schlußkapitel über den genetischen Code und seinen ,Leser' weist schon den w·egin den Abgrund: Auf den Menschen kann verzichtet werden, das ,Lesen· ist kein geschichtlicher Akt mehr. Konkret: Das Idealsubjekt der Physik kennt keine Organismen 1 keine konkreten Gestaltungen, nur flutende Massenpunkte, nur Gewölke) vibrierend vor Bereitschaft, im Raum zu diffundieren. Für die ,reine' Erkenntnis wird es gleichgültig; daß es Lebewesen im All .bt ..1 g1
Hier wiederholt Blumenberg inhaltlich, was Raymond Ruyer über die ,Gnostiker von Princeton' geschrieben hat: Das Universum ist für die Gnostiker (also die heurigen Astrophysiker, d.V.) kein Uni• versum materieller Seinsformen oder blinder Kräfte, sondern ein Universum von
6. ebd.
7.ebd. S. 407 70
Formen, bewußten Informationen, bewußten und aktiven Informatoren, von Dechiffrierern und Lesern zirkulierender Informationen ... 8 Dieses Denken stellt sich dem Atomkrieg nicht entgegen, es glaubt über die Ver~
nichtung der Menschheit hinausdenken zu können und bagatellisien daher die endgültige Katastrophe. Obwohl Florens Christian Rang vor dem 2. Weltkrieg in diese Alternative nicht gestellt war und daher auch gnostische Elemente in sein ,Weltbuch der Person' aufnahm~ hat er erkannt, was Lesen ist: Lesen nicht sachlich, sondern persönliche Frage an Person um Person. 9•
Exkurs IL· HERMENEUTIK Zwar hat die Hermeneutik eine ,transzendentale Wende' der U niversalisierung vollzogen, das Ziel aber ist letztlich dasselbe geblieben, das „Ideal vollkommenen Verstehens« 1 ~ selbst dort, wo es unerreichbar erscheint. In der Universalisierung aber hat Hermeneutik ihre Grenzen erreicht, denn durch diese Wende wird das angestrebte Ideal nur noch in der Zeitlosigkeit erreichbar, die sich in einer Rückwendung zum Ursprung vollziehen soll. Schleiermacher: Die Zusammengehörigkeit von Hermeneutik und Rhetorik (also Verstehen und Reden, d.V.) besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen2 •
Verstehen heißt ausdrücklich ,Umkehr' zum Ausgangspunkt - wobei vorausge~ setzt wird, daß dieser sich nicht verändert hat. Dies aber ist gerade der alles entschei~ dende Punkt: Wenn es nach Schleiermacher darum geht, im Verstehen ,,jenen schöpferischen Akt nachzubilden" 3, aus dem heraus der Text entstanden ist, dann ist die Zeit auslöschbar, die Wandlungen der Welt erscheinen als revidierbar, Zeit wäre abhängig vom hermeneutischen Prozeß. Der Vorgang, vermittels dessen die zeitliche Differenz ausgelöscht werden soll, ist die Aufspaltung des lesend Verstehenden - Schlegel:
8. Ramond Ruyer: Jenseits der Erkenntnis, Die Gnostiker von Princeton, Wien/Hbg 1977, 87 9. Florens Christian Rang: Vom Weltbuch der Person, in: Die Kreatur, 1.Jg. 1926/27,
s.
S.281 1. Werner Hamacher: Hermeneutische Ellipsen, in: Ulrich Nassen (Hrsg.): Texthermeneutik, Paderborn u.a. 1979, S. 142f. 2. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. M. Frank, Ffm 1977, S. 76 3. ebd. S. 325
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Niemand versteht sich selbst, in so fern er nur er selbst und nicht zugleich ein anderer ist 4 •
Das hermeneutische Geheimnis, das dieser Satz ausspricht, liegt in dem Wort ,zugleich', in ihm wird die Zeit ausgelöscht. Der geheime Sinn dieser Auslöschung ist der, daß sich Hermeneutik nicht auf die geschichtliche Kraft der Sprache einlassen kann. Norbert W. Bolz ergänzt Schleiermacher; Denn es wandelt sich, wie die Qualität der hermeneutischen Investition, die Physiognomie des 'vlerks für den Betrachter in der Zeit 5 •
Nicht das Werk selbst also ändert sich, sondern allein seine Physiognomie. Diese Aussage steht in unmittelbarem Zusammenhang mit derjenigen Schleiermachers, daß das Denken der ,Grund· des Redens sei. Dagegen ist festzuhalten, daß das) was wir ,Denken' nennen (...), erst durch eine Art von Ausscheidungs-Prozeß aus dern natürlichen Miteinander-Reden der Menschen heraus zustande gekommen ist, und nur so sich bilden konnte. 6
Das Denken ist - nach Schlegel- ein Gespräch zwischen dem Selbst•Ichund dem Anders-Ich, wobei das reale und geschichtliche Gegenüber des Mitmenschen verloren gegangen ist. Mit dem geschichtlichen Gegenüber aber ging die Geschichte selbst verlorenJ der ,schöpferische Akt' des Schreibens, das ,Werk' erscheint dem hermeneutischen Bewußtsein hinter der Physiognomie als unwandelbar. Es ist - wie Schelling sagte - die hermeneutische „Verdoppelung unserer selbst" tatsächlich „das eigentliche Geheimnis des Philosophen'', 7 und diese Verdoppelung führte folgerichtig zu jener das neuzeitliche Bewußtsein bestimmenden Schizophrenie, von der Lohmann gesprochen hat 8 und die Erwin Reisner in der Spaltung von Innenzeit und Außenzeit erkannt hat. Diese Spaltung zertrennt jede Geschichte und jedes geschichtliche Gegenüber, das ,ansprechen' könnte: Denken kommuniziert mir Denken, nicht mehr Mensch mit Mensch. Hat das Denken vor dem Sprechen den Vorrang und ist dadurch das Band der Geschichte zerschnitten, so müssen die Veränderungen der Sprache, ihre Geschichte~ auf einen Bereich des Zufalls, der Arbitrarität zurückgeführt werden. Emile Benveniste kritisierte in dem berühmten Aufsatz ,Zur Natur des sprachlichen Zeichens' Ferdinand de Saussure, weil dieser die Verschiedenheit der Sprachen aus einer arbiträren Verbindung zwischen Lautbild und Gedanken abgeleitet hat; in einer beiläufigen Formulierung, die Benveniste zitiert, habe er sich aber selbst widersprochen: Die Sprache ist außerdem einem Blatt Papier vergleichbar: der Gedanke ist die Vorderseite, der Laut ist die Rückseite; 9 4. Friedrich Schlegel: KA Bd. XVIII, S. 84 5. Norbert \Y/. Bolz: Der Geist und die Buchstaben, in: Ulrich Nassen~ a.a.O. S. 108 6. Johannes Lohmann: Philosophie und Sprachwissenschaft, 2. Aufl. Bln 1975, S. 49 7. F.W. J. Schelling: Die Weltalter, hrsg. v. Kuhlenbeck, Leipzig o.J. S. 18
8. Johannes Lohmann, a.a.O. S. 192 9. zit. nach: Emile Ben veniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft 1 Mü 1974~S.64
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Wenn Benveniste diesen Gedanken unterstützt, wird deutlicht wie Geschichte verdrängt und vernichtet wird: v Zwischen dem Ausdruck und dem Inhalt ist die Verbindung nicht arbiträr; (... ) Zusammen haben sich die beiden meinem Geist eingeprägt, zusammen evozieren sie sich in jedem Umstand. 10
Die Sprache wird auf eine nicht weiter untersuchte Identität beschränkt, obwohl schon ein unkritischer Blick auf die 11ehrdeutigkeit vieler 'X'orte - z.B. Blatt - diese Aussage widerlegt. Benveniste definiert dann sein Verständnis von Arbitrarität: Arbiträr ist die Tatsache, daß ein bestimmtes Zeichen und kein anderes auf ein bestimmtes Element der Realität und nicht auf irgend ein anderes angewandt wird, 1 1
Das Abstruse dieser Behauptung - bekommt jeder Apfel ein eigenes Zeichen? wer ,bestimmt' denn das Zeichen, wer das ,Element der Realität'? wie geht diese Bestimmung vor sich? - darf nicht vom Zweck ablenken: Der Bereich des Arbiträren wird also nach außerhalb der Konzeption des sprachlichen Zt!ichens verbanm.12 - und damit endgültig die Möglichkeit der Geschichtsmächtigkeit der Sprache vernichtet. Daß es da noch ein Problem gibt, nämlich „das metaphysische Problem des Zusammenklangs von Geist und Welt", dies sieht Benveniste wohl (obwohl er hier schon die Verdoppelung der Geschichte in Geist und (Außen~)Welt vorgenommen hat), aber dieses Problem läßt der Linguist „im Augenblick jedoch besser beiseite" .13 Die Hermeneutik und die hermeneutische Linguistik, die sich, wie oben gesagt, auf die geschichtliche Kraft der Sprache nicht einlassen können - dasselbe könnte für die hermeneutis~he Spielart der Psychoanalyse in der Richtung von Derrida und lacan aufgewiesen werden ~, all diese Strömungen sind Ausdruck jener Sprache, die sich widerstandslos der drohenden Vernichtung überliefert. Sie nehmen den Tod schon vorweg, der in der atomaren Vernichtung als Fortsetzung des ,normalen Gan• ges der Dinge' vorprogrammiert erscheint. Sie sind Ausdruck und Opfer jener endzeitlichen Strömungen, die letztlich die Menschheit schon abgeschrieben haben. Maurice Blanchot hat diese Verfassung in seinem Essay ,Die wesentliche Einsam~ keit' eindringlich beschrieben, hier einige Auszüge; Schreiben heißt, das Band lösen, welches das \14/orrund mich vereint, die Beziehung lösen, die mich zu ,dir' sprechen läßt, die mir das Wort aus dem Vernehmen erteilt, das dieses Wort von dir erhält, denn es spricht dich an, es ist das Ansprechen, das in dir beginnt, weil es in dir endet. Schreiben heißt dieses Band zerreißen. Heißt weiterhin, die Sprachedem Lauf der Welt entziehen, der Sprache alles entziehen, was aus ihr eine 1\-föglichkeit und jenes Vermögen macht, durch welches, wenn ich spreche, die \X'elt sich spricht und der Tag sich aufbaut durch Arbeit, Aktion und Zeit. 10. ebd. lL ebd. S. 65 12. ebd. 13. ebd.
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Schreiben heißt, sich der Faszination der Abwesenheit der Zeit ausliefern. Hier nähern wir uns allerdings der Einsamkeit. Die Abwesenheit der Zeit hat kein rein negatives Wesen. Sie ist die Zeit, in der nichts beginnt, in der die Initiative nicht möglich ist, in der es vor der Bejahung bereits die Wiederkehr der Bejahung gibt. Mehr als etwas rein Negatives ist sie im Gegenteil eine Zeit ohne Negation, ohne Entscheidung, wenn Hier ohnehin Nirgends ist, wenn sich jedes Ding in sein Bild zurückzieht und das ,Ich', das wir sind, sich erkennt, indem es in der Neutralität eines gesichtslosen ,Er' zugrunde geht. (...) Von dem, was ohne Gegenwart ist, von dem, was nicht einmal als Dagewesenes da ist, sagt ein unwiderruflicher Wesenszug: das hat niemals stattgefunden, niemals ein erstes Mal, und dennoch beginnt es wieder) von neuem, endlos von neuem. Es ist ohne Ende, ohne Beginn. Es ist ohne Zukunft. In jener Region, der wir uns zu nähern versuchen, hat sich das Hier in das Nichts gestürzt, aber nirgends ist dennoch hier, und die tote Zeit ist eine Zeit, wo der Tod gegenwärtig ist und geschieht, doch nicht aufuört zu geschehen, als wenn er durch sein Geschehen die Zeit unfruchtbar machte, durch die er geschehen kann. Die tote Gegenwart ist die Unmöglichkeit, eine Anwesenheit zu venvirklichen, Unmöglichkeit, die anwesend ist, die da ist wie das, was alle Gegenwart verdoppelt, der Schatten des Gegenwärtigen, den dieses trägt und in dem es sich verbirgt. Wenn ich einsam bin, bin ich nicht allein, sondern ich ke.hre in dieser Gegenwart schon zu mir zurück in Gestalt des Jemand'. Jemand' ist dort, wo ich einsam bin. Die Tatsache der Einsamkeit besteht darin, daß ich dieser toten Zeit angehöre, die nicht meine Zeit ist noch die deinige, noch die gemeinsame Zeit, sondern die Zeit von ,Jemand' . 14
Der ,Jemand' ist unschwer als der Schlegelsche ,Andere' zu erkennen, der man ,zugleich' sein muß, um zu erkennen. Es soll hier aber nicht die Verwandtschaft dieser Passagen von Blanchoc mit dem hermeneutischen SprachvVerständnisexpliziert werden, es sollte nur dargelegt werden, daß das Grundproblem der Hermeneutik keines einer literaturtheoretischen Kritik ist, sondern ebenso eines des Schreibens, des Schriftstellers selbst, eines also der Sprache und nicht des Verstehens von Spraft ehe.
Exkurs Ill· MYTHOS UND VIERFACHER SCHRIFTSINN
Es ist gegen diese These
von Blumenberg Einspruch erhoben worden= Daß der Gang der Dinge vom Mythos zum Logos vorangeschritten sei, ist deshalb eine gefährliche Verkennung, weil man sich damit zu versichern meint, irgendwo in der Feme der Vergangenheit sei der irreversible Fort..prung getan worden, der etwas weiter hinter sich gebracht zu haben und fortan nur noch Fortschrittetun zu müssen entschieden hätte. Aber lag der Sprung wirklich zwischen jenem ,Mythos', der gesagt
14. Maurice Blanchot: Die wesentliche Einsamkeit, Bln 1959, S. 26, 36f. und 39.
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harte, die Erde ruhe auf dem Ozean oder steige aus ihm empor, und jenem ,Logos', der dies in die so viel blassere Universalformel übersetzt hatte, alles komme aus dem Wasser und bestehe folglich aus diesem? Die Vergleichbarkeit der Formeln trägt die Fiktion, es ginge dort wie hier um dasselbe Interesse, nur um grundverschiedene Mittel, es zu bedienen. 1
Es ist Blumenberg sofort zuzugeben, daß es diesen ,Fortsprung' nie gegeben hat, noch unsinniger wäre die These; daß dem Mythos ein Geschichtsbild des ,Fonschritts' gefolgt sei. Bloß ist dies nicht das Problem, denn ebensowenig ist zu verkennen, daß unsere gesellschaftliche Wirklichkeit keine mythische ist. Wenn irgend· wo die ,Geschichte' von ,Schichten' und ,Schichtungen' abgeleitet werden kann, dann in der Sprachgeschichte, die ja nicht zufällig das zentrale Problem der Philosophie ist. Sprache ist zugleich das ,Medium' der Geschichte und ,hat' Geschichte ein unauflösbarer Knoten, der nur dann gelöst werden könnte; wenn wir fähig wä• ren, Zeit und Geschichte säuberlich zu trennen. In einer ersten Annäherung kann man vielleicht sagen, daß Sprache die von Lohmann bezeichneten Potenzen besitzt, die ·sowohl nebeneinander bestehen können, obwohl sie sich gegenseitig ausschließent und daß sich ,geschichtlich' das Gewicht der Potenzen in der von Lohmann dargestellten Abfolge verschoben hat. Sprache - und dies macht ja gerade die Unauflösbarkeit des Problems aus - ist das Verbindungsstück von Geschichte und Zeit, weshalb das von Blumenberg benutzte Beispiel wenig sagt: Schon die Vorstellung einer ,Ferne der Vergangenheit' ist keine mythische Vorstellung, dies wäre nur die Gegenwärtigkeit des Ur·Sprunges (weshalb - siehe Klaus-Heinrich, der sich auf Tillich bezieht ~ jeder :Mythos ein Ursprungs-Mythos ist). Der Mythos ist gegenwärtig oder er ist nicht. Und noch mehr~ Er ist mythisch gegenwärtig oder er ist nicht, und diese Gegenwärtigkeit ist nicht die der industrialisierten Gesellschaften, in denen Zeit und Geschichte so weit auseinandergetreten sind, daß ihre mythische Einheit im mythischen W'ort allein für das Individuum intellektuell-imaginativ vorgestellt werden kann. Wenn überhaupt von einer Gegenwärtigkeir des :Mythos gesprochen werden kannt dann gerade nur in seinem Fehlen, denn die mythische Potenz der Sprache ist und bleibt vorhanden - allerdings in einer für uns zwar spürbaren, nicht aber realisierbaren Weise. Die mythische Einheit von Zeit und Geschichte - Klaus Heinrich hat zurecht darauf hingewiesen 2 - drückt sich aus in einem rythmisch gegliederten Weltbild, wie es Mircea Eliade beschrieb: Der Mythos vom Wehende ist allgemein verbreitet: Man findet ihn schon bei den Völkern der paläolithischen Kulturstufe, wie zum Beispiel den Australiern, und man findet ihn wieder bei den großen historischen Zivilisationen, der babylonischen, indi-
L Hans. Blumenberg; Arbeit am Mythos, Ffm 1979, S. 34 2. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeitnein zu sagen, 2. Aufl. Basel/Ffm 1982, s. 214f.
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sehen, mexikanischen und griechisch-lateinischen. Es ist dies der Mythos der periodischen Zerstörung und Neuschöpfung der Welten, die kosmologische Formel des Mythos der ewigen Wiederkehr. ( ...) Niemals ist das \v'eltende absolut, es ist immer gefolgt von der Schöpfung einer neuen 1 verjüngten Welt. Denn für die Nichteuropäer haben Leben und Geist diese Eigentümlichkeit, daß sie niemals endgültig verschwinden können. 3
Das Judentum schon hat diesen lviythos gebrochen; indem es von einer einzigen Neu-Schöpfung, dem neuen Jerusalem~ ausging, das unzerstörbar sei. Die europäische Neuzeit nun hat auch diese ins Christentum übergegangene Gewißheit zerstört: Das Weltende einer atomaren Vernichtung ist absolut. Das mythische Denken kann dem entsetzlichen Ernst der Endzeit nicht gerecht werden, die Gegenwärtigkeit des Mythos wäre eine der ewigen Wiederkehr, keine Gegenwart also im Angesicht der atomaren Drohung. Kein Einzel-Mythos, weder der des Ödipus noch der des Prometheus, läßt sich aus der mythischen Gegenwart in die endzeitliche über~ tragen. (In welcher Weise die Sprache als lingua, als Zeichensystem, die Sprache der drohenden völligen Trennung von Zeit und Geschichte ist, kann hier nicht aufge~ führt werden.) Es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade im Judentum die Lehre vom vierfachen Schriftsinn entstanden ist und dann auch im Christentum bis zum Ende des Mittelalters große Wirkung gehabt hat. Hier soll nicht behauptet werden, die Lohmannsche Reihung mythos~ griechischer logos, neuzeitlicher logos, lingua sei aus diesem vierfachen Schriftsinn erwachsen, noch daß sich beide umstandslos aufeinander beziehen lassen. Dennoch scheinen mir beide Vierheiten zwei Aspekte jener Sprache zu sein, deren Einheit für uns unfaßbar und unkenntlich ist: jener Sprache, die sowohl Geschichte hat als auch Geschichte macht. Wir können immer nur eine Seite der Sprache wahrnehmen} wir können allenfalls von einer Seite zur anderen und wieder zurück unsere Sichtweise wechseln, die Einheit aber können wir nicht fassen, sie ist das eschatologische Element in der Sprache. Dies macht die hebräische Lehre vom vierfachen Schriftsinn völlig deutlich. Sie hat ihren Ursprung in Spekulationen um das Wort ,Paradies", in der hebräischen Schreibweise ohne Vokale ,PvR-D-S'.Diese Buchstaben wurden in Zusammenhang gebracht mit den vier Strömen, die aus dem Garten Eden flossen. 4 Und hier schon zeigt sich die innere Spannung: In der Genesis nämlich gibt es das Wort ,Paradies• in dem uns geläufigen Sinne nicht (sondern nur im profanen Sinne von Baumgarten 5 ). Alles wäre verloren, wenn wir das Paradies hinter uns stellten) an den Anfang. Das Paradies, wenn wir es denn erreichen sollten, liegt vor uns, hinter uns liegt der Garten Eden und die vier Ströme. Diese Unterscheidung erst macht die Schöpfung zur
3_ Mircea Eliade: Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961, S. 84f. 4. Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Ffm 1973, S. 81 5. s. Religion in Geschichte und Gegenwart, Art. Paradies: Neh. 2,8; Pred. 2,5; Hhld. 4,13
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Schöpfung und die Geschichte zur Geschichte in der Trennung von Anfang und Ende. Isaac Luria, einer der bedeutendsten Kabbalisten, schrieb in seinem Buch von der Seelenwanderung vom „Geheimnis p ...R=D=S": ... was wörtlich ,Paradies' heißt, den Anfangsbuchstaben nach aber bedeutet: P'schat, Remes, D'rasch, Sod (wörtliche, allegorische, moralische und mystische Schriftdeutung) ... 6
Das \"X'ortParadies wurde so zu einer Beglaubigung für das ,,Grundprinzip der vier~ fachen Schriftdeutung", die - wie auch immer im Einzelnen gefaßt - in einem engen Verhältnis zum christlichen vierfachen Schriftsinn stand. 7 Der vierfache Schriftsinn geht nicht zurück zu einer vorgeblich ,ursprünglichen' Bedeutung, sucht nicht, was ,eigentlich' gemeint war, sondern er geht in die Zukunft und umgreife - wie die vier Ströme die Welt - die Geschichte in ihrer vierbzw. vielfachen Bedeutung, in den, wie Gershom Scholem sagt 8, vier ,Schichten• der Sprache ist die 1'föglichkeit der Ge-Schichte enthalten. Luther stellte sich gegen diesen vierfachen Schriftsinn, weil er keinen Unterschied zwischen dem unmittelbaren, historischen Sinn des Wortes von und über Christus und dem auf die Kirchengeschichte allegorisch zu übertragenen Sinn akzeptieren wollte: der Sensus tropologicus und der Sensus pro nobis sei eine Einheit.9 Er stellte den Einzelnen wieder unmittelbar vor Christus und Gott: "Der offenbare Gott, der Vater Jesu Christi, konnte nur deutlich und einhellig klar reden. Da gab es keinen geheimnisvollen Untersinn mehr." 10 Gerhard Ebeling hat dies scharf herausgearbeitet: Auslegung im alexandrinischen Sinn ist ein Akt des Menschen an der Schrift_Auslegung im Sinn Luthers ist ein Akt der Schrift am Menschen. ,Erfüllt' ist die Schrift nach alexandrinischer Meinung erst durch das Werk menschlicher Auslegung, wie es auch der Unglaube leisten kann. ,Erfüllt' ist die Schrift nach Luthers Meinung allein durch die Gnade, ist also verstanden nur im Glauben als der Gabe des Heiligen Geistes. Das hermeneutische Problem, das d1e.Alexandriner bewegt, ist das Verständnis von Zeichen und Bedeutung. Es ist ein spekulatives Problem, das dadurch entsteht, daß der Mensch versucht, ,hinter' die Schrift zu kommen. Das hermeneutische Problem, das Luther bewegt, ist das Verhi:iltnis von Wort und Erfüllung. Es ist ein existentielles Problem, das dadurch entsteht, daß die Schrift vor den Menschen tritt. Es kündigen sich hier schon Konsequenzen an: Im einen Fall geht es um das Significat, im anderen Fall geht es um das Est. 11
6. zit. nach: Erich Bischoff: Die Elemente der Kabbalah, Nach druck Bln o .J.Bd. 1, S. 146 7. s. Gershom Scholem, a.a.O. S. 84ff. 8. ebd. S. 85 9. s. Religion in Geschichte und Gegenwart, Art. Schriftauslegung (H. Liebing), Sp. 1528 10. Ernst von Dobschütz: Vom vierfachen Schriftsinn, in: Harnack-Ehrung, Beiträge zur Kirchengeschichte, Leipzig 19211 S. 13 11. Gerhard Ebeling: Evangelische Evangelienauslegung, 2. Aufl. Darmstadt 1962i S. 288
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Der Unterschied ist also kein methodischer; vierfacher und einfacher Schriftsinn stehen anders zu und in der Geschichte. Gerade deshalb aber stehen sie nicht alternativ zueinander: Je schärfer man den Unterschied zwischen dem Significat und dem Est herausarbeitet, desto deutlicher ist sichtbar, daß sich beides nur in einem gegenseitigen Spannungsverhältnis erhalten kann und daß sich beide ergänzen: Der einfache Schriftsinn kann sich nicht auf die Taten Christi unmittelbar beziehen~ er ist wohl oder übel an die Schriftwerke gebunden, wie umgekehrt der vierfache Schriftsinn die Schrift als Hinweis auf das Heilsgeschehen erkennen muß als geschichtliches. Das spekulative Problem darf und kann vom existentiellen, das Signi~ ficat vorn Est nicht abgetrennt werden: Auch der Glaube Luthers kann nicht verhehlen, daß Christus in die vieldeutige Geschichte eingegangen ist und sich dadurch eben doch der Vieldeutigkeit und dem Geheimnis bzw. Mißverständnis ausgeliefert hat. Der einfache Schriftsinn sucht hinter der Schrift das lebendige Wort, das Gott an den l\.1enschen richtet, doch dieses wird nicht nur an ihn gerichtet, sondern ihn richtend sein, der Richtspruch am Jüngsten Tag; der vierfache Schriftsinnn hält im Beharren auf der Schriftlichkeit den \X1illen fest, im Toten der Schrift alles Tote zwar nicht zu erlösen, wohl aber in seiner mißverständlichen und zuletzt rätselhaften Vieldeutigkeit zu bewahren und vor das richtende \Xfort Gottes zu bringen. (Daß in der Gegenüberstellung von Significat und Est der Kern der heutigen sprachtheoretischen Überlegungen getroffen ist, wird deutlich geworden sein; der Unterschied zwischen der heutigen und der jüdisch/ christlichen Hermeneutik besteht darin, daß letztere sich~der eschatologischen Spannung bewußt blieb und daher die geschichtskonstruktiven Elemente der Sprache bewahren konnte.)
Exkurs IV.· DIE MITTE DER ZEITEN Die ,!\.,fitte'der Geschichte hat eine äußerst komplexe Struktur, denn sie ver-mittelt die Widersprüche und Spannungen der Geschichte. In der Endzeit wird deutlich, daß die Mitte nicht eine Funktion eines transhistorischen Prinzips von Vermittlung ist, sondern daß die Vermittlung nur durch die reale, konkret-historische Mitte möglich ist. Diese aber besteht nicht nur - wie anhand des Bonhoeffer-Zitates dargelegt - im ,Aufsprengen' des Kontinuums) sondern auch in der Stiftung eines Kontinuums, das aber allein, d.h. ohne das Element des Aufsprengens, einen bloßen Zirkel darstellt. Das Christusgeschehen der Mitte wird von der alttestamentlichen Vorbereitung her erleuchtet, ,~nachdem diese gerade von jener Mitte erst ihr Licht empfangen hat. Es handelt sich hier um einen Zirkel." 1 1. Oscar Cullmann: Christus und die Zeit, 3. Aufl. Zürich 1962, S. 129
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Gerhard Ebeling hat diesen Zirkel so deutlich dargestellt, daß er ausführlich zitien werden soll: ,Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren!' (Lk. 4,21) Warum bedarf die erfüllte Schrift noch einer Auslegung? Ist nicht mit der Erfüllung die Auslegung ein für alle• mal gegeben? Die Schrift bedarf darum der Auslegung; weil sie erfüllt ist nicht ,vor den Augen', sondern ,vor den Ohren•. Weil es erst gesagt werden muß, daß die Schrift erfüllt ist, darum bedarf sie einer Auslegung, die wiederum in nichts anderem besteht als Lndem Satz, daß die Schrift erfüllt ist. Der Grund zur Auslegung der Schrift liegt also nicht in ihr selber, sondern in der Knechtsgestalt dessen, der ihre Erfüllung und Auslegung ist. Es besteht eine doppelte Beziehung zwischen Christus und der Schrift. Erst Christus macht die Schrift klar, erst die Schrift macht Christus klar. Erst dadurch, daß der verhüllte Auferstandene aus der Schrift zeigt, daß der Christus sterben und auferstehen mußte, wird er selbst den Jüngern offenbar. 2
Der Zirkel ist ausdrücklich kein bloßer Zirkel des Verstehens, sondern einer, der die reale Geschichte, die historische Person Christi, gerade also die ,Knechtsgestalr' als das entscheidende Bindeglied in sich aufnimmt. Gerade um nicht ein abstraktes Verstehens-Prinzip zu bleiben, mußte der Zirkel in beide Richtungen durchschritten werden. Erst das Gesagtsein bezieht die Jünger (und mit ihnen uns selbst) mit ein, aber das Gesagte selbst ist nur das Erfülltsein: Gerade weil die Erfüllung nicht jenseits, sondern inseirs der Geschichte vollzogen wurde, deshalb ist die Erfüllung nicht ohne Auslegung, Auslegung ohne Erfüllung nicht zu haben. Und weil die Auslegung nur darin besteht, daß die Schrift erfüllt ist, ist sie keine Erfüllung gewissermaßen in zweiter Potenz, sondern bleibt der realgeschichtlichen Bewegung verhaftet. Eingreifen kann diese Ver•Mitdung allerdings nur in die Geschichte durch das durch Bonhoeffer dargestellte Zertrennen des Kontinuums. Die Schrift, sagt Christus, ist erfüllt vor euren Ohren - nicht vor den Augen. Das gesprochene, gehörte, flüchtige Wort ist Zeichen für die Erfüllung, nicht die Schrift, die gelesen werden kann (und in diesem Sinne ist das Christentum keine ,Schriftreligion'). Daß der Gottmensch seine \'i?orte, die Lehre nicht der Schrift anvertraut hat( ...\ daß (...) der Gottmensch seine Lehre nicht niederschrieb oder dafür Sorge trug, daß sie in Schriftzeichen niedergelegt würde, ist im letzten auf das Wort zurückzuführen, das Fleisch wurde)
Diese Aussage Rudolf Kassners ist nur teilweise einsichtig, denn die reine Mündlich• keit verhinderte gerade das Entstehen einer ,Lehre', die dann die Geschichte nicht mehr vermitteln könnte, sondern von ihr fortführen müßte. Zurecht hat Max Scheler die ,Lehrerl Buddha, Platon und sogar Moses abgehoben von Christus, der zur ,Nachfolge' aufrief. 4 Eine ,Lehre' hätte dem Tod nicht begegnen können, der nur 2. Gerhard Ebeling: Evangelische Evangdienauslegung, 2. Aufl. Darmstadt 1962, S. 103 3. Rudolf Kassner: Die Geburt Christi, Erlenbach~Zürich 1951, S. 41f. 4. Max Scheler: Liebe und Erkenntnis, 2. Aufl. Bern 1970, S. 18
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dort ernst genommen wird, wo er nden Tod der eigenen Meinungen" einschließt. 5 Dies allerdings ist die Kraft des Dialoges, in dem die eigene Meinung immer zur Disposition steht: Er stirbt in die Geschichte hinein, um die Rettung zu ermöglichen.
Exkurs V.· UMGANGSSPRACHE UND MISSVERSTEHEN Wilhelm Dilthey hat in seinem bekannten Wort den Rahmen des Verstehens abgesteckt: Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. 1
Jedes auslegende Verstehen aber ist selbst wiederum eine Lebensäußerung, die den hier gesetzten Rahmen nicht überschreiten kann. Es gibt keine Nleta-Sprache, die uns aus dieser Problematik herausführen könnte, alles Sprechen ist Verstehen und Mißverstehen ineins, und darum „enthält also die Umgangssprache ein nie einholbares Sinnapriori unseres Weltverstehens. " 2 Allein die Umgangssprache kann sich selbst reflexiv verhalten, kann Objektsprache und Metasprache sein, ,,ohne dabei ih~ re Identität mit sich selbst einzubüßen (wie es bei der logistischen Sprachspaltung der Fall ist). " 3 Es kommt allerdings dennoch nicht, wie Heidegger sagte, darauf an, in den Zirkel des Verstehens „nach der rechten Weise hineinzukommen", 4 sondern es kommt darauf an, in der umgangssprachlichen Verbindung von Verstehen und Mißverstehen die Verbindung von Zeit und Geschichte zu erkennen. Bedeutung ist die besondere Art von Beziehung, welche innerhalb des Lebens dessen Teile zum Ganzen haben. Die Bedeutung erkennen wir, wie die von Worten in einem Satz, durch Erinnerungen und Möglichkeiten der Zukunft. 5
Wenn wir diese Aussagen Diltheys aus seinem lebensphilosophischen Rahmen herauslösen und sie eschatologisch verstehen~ wenn das ,Ganze' nicht das gelebte Leben, sondern die erlöste Geschichte ist, dann ist hier der Grundriß eines wirklich geschichtlichen Verstehens gegeben. Weder das Trugbild des absoluten Verstehens noch das der Eindeutigkeit können einen Weg in der und durch die Geschichte auf5. Eugen Rosenstock~Huessy: Die Sprache des Menschengeschlechts, Heidelberg 1964~
2. Bd., S. 403 1. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. v. M. Riedel, Ff m 1970, S. 278 2. Karl-Otto Apel: Die Idee der Sprache, 3. Aufl. Bonn 1980, S. 26
3.ebd. S. 44 4. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 153 5. Wilhelm Dilthey, a.a.O. S. 289
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weisen, sondern allein die Umgangssprache, die nicht in die Sprache hineingeht, um dort einen ,Sinn• zu suchen, sondern die in die Breite geht von Mensch zu Mensch, um den Sinn zu schaffen. Erstaunlicherweise hat Paul Valerydies genauer erkannt als viele Sprachtheoretiker: Bei sehr vielen Themen verstehen die Menschen einander weit besser als sichselber. Die gleichen Wörter, die dem Einzelgänger dunkel sind, weil er sich in ihrem ,Sinn' verliert> werden klar vom einen zum anderen.
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Diese Klarheit aber ist keine des Verstehens, sondern eine des Vertrauens auf jenen ,Sinn• der Geschichte, auf jene ,Bedeutung', die nicht mehr in der Geschichte, son• dern erst und nur an ihrem Ende sich offenbart. In diesem Vertrauen wird gerade das Mißverstehen, das Halbverstehen zum Zeichen einer anderen, einer höheren Wahrheit, weshalb der Dialog ,vom einen zum anderen• das Mißverstehen nicht ausschließen muß, bevor er geschichtlich wirksam wird. Es gibt keine theoretische Wahrheit dieser Welt, nach der sie sich, wenn sie einmal gefunden wäre, zu richten hätte; Wahrheit geschieht allein im unauflöslichen Miteinander von Verstehen und Mißverstehen im Gespräch mit dem anderen, das durch keine ,Korrektur' aufgelöst werden kann, aber es ist eben die Wahrheit der menschlichen Geschichte, die wir nicht in jene höhere, erlöste Wahrheit überführen können. Die Zeit, die das Gespräch im Gegensatz zu jenem Denken braucht, das die Zeit auszuschließen versucht1 verwandelt sich im vertrauenden Mißverstehen in Geschichte, allerdings in eine Geschichte, die in sich zusammenfallen müßte, wenn das erlösende Ende, die Erhöhung zum Ganzen nicht erreicht ,vürde. In der Identität von Objektsprache und Metasprache ist die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit der Erlösung gegeben.
Exkurs VI· APOKALYPSE ODER ERLÖSUNG Gegen Franz Rosenzweigs Denken hatte Gershom Scholem folgenden Widerspruch eingelegt~ Die Apokalyptik, die alsein ohne Zweifel anarchisches Element für Lüftung im Haus des Judentums gesorgt hat, die Erkenntnis von der Katastrophalität aller historischen Ordnung in einer unerlösten Welt, hat hier in einem tief um Ordnung besorgten Denken eine Metamorphose durchgemacht, in der die zerstörende Macht der Erlösung nur mehr als Unruhe in das Uhrwerk des Lebens im Licht der Offenbarung eingebaut erscheint. (...) Wenn der Blitz der Erlösung das Weltall des Judentums steuert, so ist
6. Paul Valery: Windstriche, Ffm 1971, S. 173
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hier das Leben des Juden der Blitzableiter, der seine zerstörende Gewalt zu brechen bestimmt ist.1
Diese Kritik ist sicher auch der zentralen Stellung der Sprache im Denken Rosenzweigs geschuldet~ und sie wird entscheidend~ wenn sie im Zusammenhang mit der Atombombe gesehen wird. Der hier aufgewiesenen Gefahren sind allerdings christliche Theologen in ganz anderem Ausmaß erlegen. Bultmann z.B. schrieb über Christus: ,,Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet, wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet. " 2 Hier ist tatsächlich „eine gewalttätige Konzentration der Inhalte der biblischen Verkündung auf einen Punkt" 3 vorgenommen worden, auf das Jetzt' der geschichtlichen Entscheidung. Dieses Jetzt' verkennt aber die Geschichtlichkeit der Entscheidung, die Verschränkung von ,wird' und ,ist schon' ist die Schere, mit der Geschichte abgeschnitten wird, denn Erlösung und Verdammung werden hier zeitlich auseinandergerissen, erstere wird in die Zukunft, letztere in die Vergangenheit festgestellt. Von die~ sen unbeweglichen Enden her wird der Entscheidung des Glaubens die Kraft der Geschichtlichkeit genommen. Die Spannung zwischen ,schon' und ,noch nicht' 4 wird nicht ausgehalten und fruchtbar gemacht, sondern zerteilt. Die Antizipation der Erlösung in Christus ist tatsächlich nur Antizipation, nicht fester Besitz: ,,Es ist schon Ende, und doch noch nicht dasEnde." 5 In dieser Spannung verschränken sich offenbartes Ziel und geheimer Sinn unauflöslich: Das Reich Christi ist nicht das Reich Gottes, 6 es ist das Reich zunehmender Gegensätze, der immer drängenderen Entscheidungen, der Spannung zwischen jener Gegenwart, die der Vergangenheit verhaftet ist und jener, die die Zukunft öffnet. Nicht zufällig hat Franz Rosenzweig auf diese 'X1unde seinen Finger gelegt; 7 Christus war nicht die Erlösung, sondern der Erlöser, derjenige, der zur Erlösung führt, der zwischen Gott und Mensch vermittelt, er war die Mitte, in der sich alle Spannungen kreuzten - und kreuzen. Aber auch diese, die Geschichte ernst nehmende Auffassung wird durch die Atombombe zur Hinfälligkeit kritisiert - oder droht mit dieser (realen) Kritik: Die Antizipation der Erlösung in Christus ist zur Disposition gestellt, sie kann sich im globalen Atomkrieg als bloße Illusion erw-eisen. Und von hier aus nun verschieben, ja verkehren sich die Fronten zwischen Rosenzweig und Scholern. Selbst der ,apokalyptische Stachel', an dem Scholem so zäh festhält, hat seinen Schrecken angesichts
1. Gershom Scholem: Judaica 1, Ffm 1981, S. 232f.; dazu: B. Casper, in; Offenbarung im Denken Franz Rosenzweigs, Essen 1979, S. 88ff. 2. Rudolf Buhmann: Glauben und Verste.hen II, Tüb 1952, S. 179 3. Fritz Lieb: Sophia und Historie, Zürich 1962, S. 322 4. Oscar Cu!Imann: Christus und die Zeit, Zürich 1962, S. 15 s. ebd. S. 135 6. ebd. S. 140 7. s. Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, Haag 1976, S. 458
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der atomaren Vernichtung verloren, während Rosenzweigs Insistieren auf der „Erlösung im jüdischen Leben'' seine wahre Radikalität beweist - aber nur, wenn man sie nicht - wie Scholem - als „Vonvegnahme" versteht, 8 sondern als bezeugende Neuschöpfung. Die Ungeheuerlichkeit der atomaren Drohung - dies ist gegen Günther Anders gesagt9 - verkleinert uns nicht, sondern vergrößert uns. Wir werden die Tiefe diew ser Drohung nur ermessen können, wenn wir erkennen, was wir verlieren können. Je kleiner wir uns machen gegenüber der Atombombe, desto geringer erscheint die Drohung. Nicht die Anpassung an die Drohung, sondern der entschiedenste Widerstand allein läßt eine Rettung denkbar werden: Wir wachsen mit unserer Verantwortung, und die ist mit der Gefährdung des Erlösungsweges in Christus ins fast U neinlösbare gewachsen.
Exkurs VII: CHRISTENTUM UND JUDENTUM Als Dorothee Sölle versuchte, das ,Reich Christi' vom ,Reich Gottes' zu trennen, um damit - ganz im Sinne Cullmanns die innere Spannung der Geschichte gerade auch als Heilsgeschichte erneut deutlich zu machen, da ging sie von dem Begriff der ,Stellvertretung' aus: Christus solle als Stellvertreter, nicht als vollgültiger Ersatz Gottes gesehen werden. 1 Im Verlaufe ihrer Auseinandersetzung mit Gershom Scholem schrieb sie: ,,Im vorläufigen Christus ist das Reich Gottes zugleich da und noch nicht da. " 2 Diese Aussage deckt sich mit der Cullmanns; Die Frage nach der Zukunft lautet überhaupt nicht mehr: in welcher Weise hängt unser Heil ab von dem, was noch kommen wird? Sondern sie stellt sich so( ...): in welcher Beziehung steht die Zukunft zu dem, was für unser Heil schon geschehen ist? Inwiefern bringt die Zukunft Vollendungdessen, was schon entschieden ist?
Und, als hätte er sich gegen Scholem gewendet: In sachlicher Hinsicht ist die Zukunft nicht mehr sinngebendes Telos wie im Judentum.3
8. Gershom Scholem, a.a.O. S. 232 9. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Mü 1961, S. 268 1. Dorothee Sölle: Stellvertretung, Stgt 1965
2.ebd. S. 147 3. Oscar Cullmann: Christus und die Zeitt Zürich 1962, S. 131
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Die Atombombe, die die Heilstat Christi zu vernichten imstande ist, zwingt genau hier zum Umdenken: Die Frage nach der historischen Existenz des Gottessohnes, die Frage also an das in der Vergangenheit ergangene Heils~Versprechen, ist nicht mehr eine der Glaubens-Erkenntnis, sondern eine praktische Frage: Der Gottessohn ist (abermals) in unsere Hände gegeben. Das Christusgeschehen - als heilsgeschichtliche Mitte - ,war' nicht einmal und wir können es glauben oder auch nicht, sondern nur wenn wir es glauben und diesen Glauben in praktisch-geschichtliches Handeln verwandeln, wird das Christusgeschehen gewesen sein. Wir müssen das Heilsgeschehen im Kampf gegen den atomaren Welt-Krieg wahr machen - dies heißt ja: in der Endzeit leben. Die ,Vorläufigkeit' Christi ist unsere geworden, Christus ist nun auch unser Stellvertreter geworden. Damit ist das Christentum zurückgekehrt zu seinem historischen Ausgangspunkt im Judentum, denn keiner, der die Drohung der Atombombe ernst nimmt, kann noch behaupten, die Christen seien die „Erlösten innerhalb einer unerlösten Welt." 4 Und das, was Scholem am Christentum monierte, daß dieses sich die Erlösung in einem unsichtbaren, geistigen Bereich vorstelle, kann kein Punkt ernsthafter Diskussion mehr sein. So sind wir in einem viel radikaleren Sinne, als die Historiker und die historisch begrenzten Theologen denken können, ,rückwärts gewandte Philosophen' - nämlich in jenem radikalen Sinne der alten jüdischen Propheten in ihrer ,Nullpunktsituation'. Die jüdische Prophetie hat einen genaueren und tieferen Sinn für das, was Rettung und Erlösung sein kann, das Christentum aber für das, was unerlöste Vernichtung sein kann. Dorothee Söllehat hervorgehoben, daß die falsche Vorstellung vom ,endgültigen Christus' die entscheidende Ursache für den „kirchlichen Antijudaismus" war. 5 Auch dieses muß noch verschärft werden: Das Schicksal der Juden unter dem Nationalsozialismus droht zu verkommen zu einem bloßen Vorspiel, zum Vorspiel zur Vernichtung aller Völker, und dann hätte der Begriff des ,Dritten Reiches' eine Bedeutung bekommen, die kein Geschichtsbuch mehr fassen könnte - im Kampf gegen die Atombombe können, nun aber rechtmäßig, nur noch die Sieger die Geschichte schreiben.
4. Gershom Scholem: Über einige Begriffe des Judentums, Ffm 1970, S. 121 5. Dorothee Sölle, a.a.O. S. 145
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Exkurs VIII: FRIST UND PROPHETIE Günther Anders beschrieb den Unterschied zwischen der atomaren und der christlichen Endzeit: Unsere Endzeit unterscheidet sicfi grundsätzlich von der im Christentum gemeinten, die ja in dessen Augen der jüngste Tag, obwohl vom Menschen verschuldet,so doch nicht als von ihm hergestelltgegolten hat. 1 Er hätte noch schärfer formulieren können~ Die christliche Endzeit war zwar von
den Menschen verschuldet, aber nicht hergestellt, die atomare Endzeit ist zwar von ihnen hergestellt, aber nicht verschuldet - der heutige Schuldbegriff ist allein individuell, also für kollektive Geschehnisse - geschweige denn für die Sphäre des Geschichtlichen selbst - nicht brauchbar. Trotz dieser Unterschiede aber gibt es wichtige Parallelen zwar nicht in erster Linie zur christlichen (dies müßte erst genauer untersucht werden), wohl aber zur hebräischen Endzeit der Propheten. Wie uns trennte die Propheten nur noch eine }Frist'2 vom „völligen Abbruch der alten irdischen Verhälrnisse" 3; das auserwählte Volk hatte sich von Gott abge~ wendet und der Prophet rief in dieser ,Nullpunktsituation' zur Umkehr auf.4 Der Prophet ist der Tod des Mythos, denn er ist Mahnung und Beweis, daß die Menschen nicht nur der Spielball übergeschichtlicher Mächte sind, mehr: daß gerade deshalb dem Ende kein automatischer Anfang folgen muß und kann. Die geforderte Umkehr ist nicht eine des neuzeitlich-subjektiv verstandenen Individuums, sondern gerade eine des mythenbedrohten Menschen! Die Umkehr bringt auch das mythische ,Rad der Geschichte• zum Stehen und setzt es damit außer Kraft. Die hebräische Prophetie war innergeschichtlich 5, Gott konnte sein Volk fallen lassen, um ein anderes zu erwählen; unsere Frist aber hat in diesem Sinne einen außergeschichtlichen Charakter, denn unser Ende wäre endgültig. Die untergründigen propheti• sehen Strömungen des Christentums hat Paul Tillich fast als Zwischenglied zur hebräischen und atomaren Endzeit interpretiert: _ Geschichte im Prophetentum ist universale Geschichte. Hier sind die räumlichen Begrenzungen, die Grenzen zwischen den Völkern aufgehoben.( ...) Der Gott der Zeit ist der Gott der Geschichte. Das heißt vor allem, daß er der in der Geschichte auf ein Endziel hinwirkende Gott ist. Denn die Geschichte hat eine Richtung, etwas Neues soll in ihr und durch sie geschaffenwerden. In vielen sehr unterschiedlichen Begriffen
1. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, 2. Bd., Mil 1980, S. 407f. 2. s. ders.; Die atomare Drohung, Mü 1980, S. 170 3. W. Bousset u. H. Gressmann: Die Religion des Judentums, 4. Aufl. Tüb 1966, S. 217 4. Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments, 4. Aufl. Mil 1965, S. 125
5. s. Salomon Talmon: Eschatologie und Geschichte im biblischen Judentum, in: R. Schnackenburg (Hrsg.); Zukunft, Düsseldorf 1980, S. 27
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wurde dieses Ziel beschrieben: (...) In ihnen allerl ist die Zeit richtunggebend und schöpferisch; sie schafft etwas Neues, eine ,neue Kreatur•, wie Paulus es nennt. i;
Es ist deutlich, wie hier die mythische Einheit von Zeit und Geschichte zerfallen ist, wie nur durch diese Spaltung die Kategorie des ,Neuen', 7 die es im Mythos nicht geben kann, entstehen konnte. Der Satz Giambattista Vicos n verum et factum convertuntur" 8 und seine Folgen bis hin zu Hegel sind der absolute Gegensatz zum prophetischen Denken. Er ist dieser Gegensatz gerade deshalb, weil das ,factum •, von dem er sprach, noch deutlich das ,Gemachte' war, nicht das neuzeitliche ,Faktum' -wie heute ja im Wort ,Tatsache' auch die ,Tat' allgemeinüberhört wird. Das moderne Bewußtsein trennt unmittelbar und naiv zwischen ,Faktizität' und ~Bedeutung' und muß dieses tun, um die unbegrenzte Verfügbarkeit der sachlichen Welt zu gewährleisten. Zurecht wird diese Spaltung von Jürgen Moltmann als „naiv, unkritisch und unbewußt" bezeichnet 9 ; Die Überwindung dieser Spaltung ist immer das Ergebnis eines selbstkritischen Bev,rußrseinsvorganges. So stellt sich das ,Faktum' als Ausgangspunkt dar, obwohl es das Ende menschlichen Handelns ist. In diesem Sinne kann Gerhard von Rad von ,Heilsfakten' sprechen, in denen das jüdische Volk Zeichen seiner Auserwähltheit hatte. 10 Gerhard Sauter nahm dieses Stichwort umgekehrt als Endpunkt auf; Israel, so fürchtet der Prophet, hat der Treue Gottes - und das heißt: seiner Wahrheit - nicht entsprochen und sich damit die eigene Existenz zerstört; jetzt wird die tote Faktizität seiner Vergangenheit vor das Forum des kommenden Gottes zitiert.!!
(Daß dies unmittelbar an meinen Aufsatz ,Das Zitat vors Gericht!' anschließt, braucht wohl nicht expliziert zu werden.) Die tote Faktizität der Vergangenheit jetzt also im modernen Sinne - ist nicht der Anfang, sondern das Ende, das Ergebnis der Abkehr von Gott und seiner Wahrheit, die Umkehr soll die tote Faktizität übenvinden und zum Heilsfaktum zurückführen. Hier allerdings ist die gegenwärtige Situation ins Ungeheuerliche verschärft: Gingen die hebräischen Propheten davon aus, daß sich der richtende Gott auch den Ungläubigen, den von ihm Abgefallenen zeigt, so ist heute zu erkennen, daß das Strafgericht - falls von einem solchen dann überhaupt noch gesprochen werden kann -darin besteht, daß sich Gott nicht mehr zeigt~ Die Strafe ist zum Ausbleiben der Strafe geworden. So muß, da das prophetische End~Ziel in Frage steht, unsere Hoffnung sich auf das prophetische Sprechen beschränken - eine verkürzte, gewis• 6. Paul TiHich: Der Widerstreit von Raum und Zeit, in: Auf der Grenze, Stgt 1962, S. 194f. 7. Gerhard von Rad, a.a.O. S. 123 8. s. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stgt 1953, S. 113ff. 9. Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung, 11. Aufl. Mü 1980, S. 221
10. Gerhard von Rad, a.a.O. S. 125 11. Gerhard Sauter: Zukunft und Verheißung, 2. Aufl. Zürich 1974, S. 200
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sermaßen ,invertierte' Prophetie, die gerade deshalb im genannten Sinne außergeschichtlich ist. Prophetie gab es schon im antiken Griechenland, aber griechische und hebräische Prophetie unterscheiden sich gerade in der Sprechweise. Der griechi• sehe Prophet ist ein „in Trance versetzter Seher( ...) in einem Zustand wahnhafter Verzückung''; seine Aussage verbleibt im „Gestammel, das nicht einmal zu Worten findet", weshalb erst ein Interpretationsvorgang durch eine andere Person das Geoffenbarte verständlich machen muß. Dem „natürlichen Geräusch" der Pythia stehen die prophetischen "Worte im eigentlichen Sinne" bei den jüdischen Propheten ge• gen über .12 Moses Maimonides: Was unterscheidet die Prophetie Mosches von der aller Propheten? Diese hatten Träume und Gesichte, Mosche, unser Lehrer, aber kündete in wachem Zustande ... Alle Propheten kündeten mit Hilfe eines Engels) und darum sahen sie ihre Gesichte als Gleichnisse und Rätsel, Mosche aber, unser Lehrer, ohne Hilfe eines Engels, wie gesagt ist (4. M. 12.8):,Mund zu :t\.fondredete ich in ihn,/anschaubar, nicht in Rätseln'; und es ist gesagt (2.M. 33.11): ,So redete ER zu Mosche/Antlitz zu Antlitz/wie ein Mann zu seinen Genossen redet' ... 13
Erst dadurch) daß der Prophet nicht willenloses Werkzeug mythischer Mächte ist) kann er in der höchsten Gefahr das Neue eröffnen, indem er zur Umkehr aufruft! „Es findet keine Entpersönlichung statt", die „Du-Ich-Bewegung'i stellt ihn vor die Entscheidung, und sowohl Offenbarungsernpfang wie Verkündigung vollziehen sich „bei klarem Bewußtsein) in Freiheit und Eigenveranrnrortung. " 14 Für den Christen hat sich das Gespräch mit Gott gewandelt in das mit Christus; aber auch das Gespräch mit Christus kann heute keine ausreichende Sicherheit für die Umkehr ge~en, da der Glaube zu einer individuellen Angelegenheit verkommen ist. Der von Maimonides angeführte Satz muß sinngemäß umgekehrt werden: Wie das Gespräch zwischen Christus und den Menschen war) so muß das Gespräch zwi~ sehen den Menschen werden - damit das Gespräch mit Chrisus möglich wird nicht als individuelles, sondern als gesellschaftlich~geschichtliches. Martin Buher hat den hebräischen Propheten, den N abi, sehr zeitgemäß interpretiert: Der Nabi sieht in Zeichengestalt. Nicht das, was er tut, ist Zeichen,-sondern indem er es tut, ist er selber Zeichen. Und was ist in der Sprache der Bibel ein Zeichen? Um ein Zeichen bitten heißt nicht, um einen Beweis bitten; es heifü darum bitten, daß die Botschaft greifbare leibliche Gestalt annehme; es heißt also verlangen; daß der Geist sich vollkommener, authentischer ausdrücken soll als durch das Wort: daß er Leib werden soll.!5
12. Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen, Mü 1962, S. 345 13. Moses Maimonides: Ein Querschnitt durch das Werk, hrsg. v. N.N. Glatzer, 1966,
s.46f.
14. Handbuch theologischer Grundbegriffe, Art. ,Prophet' (N. Füglister)) 2. Aufl. Mü 1974, Bd. 3, S. 377 15. Martin Buber, zit. nach: Maurice Blanchot, a.a.O. S. 346
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Die christliche Sicherheit, daß dieses leibliche Zeichen ein für alle 11a1 in Christus gegeben wurde, ist uns durch die Atombombe genommen! Nun müssen wir selbst das Zeichen werden, uns selbst vollkommener und authentischer ausdrückenr nun müssen wir selbst im prophetischen Sinne ~Leibwerden\ um Leib zu bleiben. Das prophetische Wort muß in das tägliche, allgemeine Gespräch eingehen, von Antlitz zu Antlitz müssen Freiheit und Verantwortung bewahrheitet werden. Der prophetische Impetus, der Aufruf zur Umkehr muß heute erst einmal eine Umkehr zum :Menschen hin und zu seiner Zukunft sein, fort also von der drohenden Abkehr des Menschen von sich selbst im Atomkrieg. Der heute notwendige Prophetis~ mus ist gegenüber dem hebräischen sowohl radikaler als auch begrenzter: Radikaler, weil er vor der Vernichtung nicht eines Volkes warnt, sondern vor der Vernichtung der Menschheit, begrenzter, weil er sich nicht unmittelbar der Rettung durch Christus und Gott zuwenden kann, sondern weil er erst einmal den einfachen Fortbew stand der Menschheit sichern helfen soll.
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DER KNOTEN Kurzer Versuch über das Durchhauen oder Aufnesteln, über Gewalt und Gespräch mit einem Epilog über Politische Theologie und dialogische Politik ~ Aber immer ein Zirkel - zum Freidenkenge• hört Freiheit, zur Freiheit Freidenken - zum Zerhauen ist der Knoten - Langsames Nisteln hilft nichts. Novalis an Friedrich Schlegel am O1.08.1794
Die großen Worte aus den Zeiten, da Ge· schehn noch sichtbar war, sind nichts für uns. Wer spricht vom Siegen? Überstehn ist alles. R. M. Rilke: Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth
Vorbemerkung: Dieser kurze Versuch schließt unmittelbar an meinen Aufsatz ,Sprache und Atombombe' an. Dort habe ich versucht, ausgehend von der Einsicht Bubers, daß der Krieg einen ,Widerpart' hat in der ,erfüllten Sprache', in der ,Sprache des echten Gesprächs', das Gegeneinander von Atombombe/Krieg und Dialog darzustellen. Dieses Gegeneinander ist ein gegenseitiges Ausschließen: Da die Atombombe ein ,Mittel' ist, die Menschheit und damit die Geschichte zu vernichten, ist sie zu Vermittlungen unbrauchbar, sie vermittelt nichts - allein das Nichts - und kann daher von dem vermittelnden :Medium>der dialogischen Sprache, nicht erfaßt werden) ohne den Charakter der Atombombe zu verharmlosen. Daß das zerstörerische Werk des Krieges sprachlos oder lügnerisch ist, das Werk des Friedens aber sprechend und wahrhaftig - dieses Gegeneinander ist in der ,Endzeit' (Günther Anders) absolut geworden - es gibt kein Drittes, weil Atomkrieg und Sprache nicht wie These und Antithese zueinander stehen: Der Atomkrieg beendet die Geschichte und daher auch die Möglichkeit der Synthese, der Dialog, würde er geschichtsbestimmend werden, beendete diese Geschichte, in der die uns bekannte Geschichtsdialektik nicht mehr gelten könnte, Beide Möglichkeiten führen uns das zwischenzeitig durch Fortschrittsideologie und Hjstorismus verdrängte Problem der Endlichkeit dieser Geschichte vor Augen: Vermittlung .ist keine transhistorischer Akt, sondern sie bezieht sich auf eine real-historische Mitte, die aber als solche erst am Ende dieser Zeiten hervortreten wird, Sprache impliziert also immer einen eschatologisch-messianischen Aspekt. Der globale Atomkrieg aber - sosehr er uns die Problematik der geschichtlichen Endlichkeit vor Augen geführt hat - kann das ,Ende der Zeiten'
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nicht vollbringen, er löscht im Gegenteil alle Geschichte und alle Zeiten aus, vernichtet sie rückläufig bis in den Ursprung der Geschichte. Anlaß zu den folgenden Ausführungen waren übrigens kritische Fragen zu die~ sem Aufsatz von Richard Faber, die ich hiermit zu beantworten versuche.
Den (gordischen) Knoten zerhauen Die Geschichte entläßt einen an keinem Punkt. Dies gilt insbesondere nach den beiden großen Revolutionen~ der Französischen und der Russischen - in ihnen hat die Geschichte, die Geschichtlichkeit sich selbst ,überundet', indem die Kategorie des Neuen, der Revolution in die Geschichte selbst einging. Und damit eben in die Vergangenheit, in das für uns Gewesene. Für uns ist und bleibt jedes Bild einer kommenden Revolution durchtränkt von diesen beiden Revolutionen, ihrem realen Verlauf ebenso wie ihren Programmen und Idealen. Wir stehen nichtmehr an jenem Punkt, an dem Marx den 1 18. Brumaire' geschrieben hat: Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. (MEW 8, s. 117)
Marx sah sich vor der proletarischen Revolution, wir sehen uns nach ihr, d.h. nach ihrem Scheitern. Walter Benjamin hat genau an diesem Punkte Marx widersprochen, die römische Maskerade der Französichen Revolution war für ihn Ausdruck eines revolutionären Geschichtsbewußtseins, also nicht - v.rie Richard Faber richtig feststellt - ,,Beschwörung der Vergangenheit, sondern (...) deren Erfüllung, (...) die Erlösung von Forderungen, die die Vergangenheit als unvollendete an die Gegenwart stellt. " 1 Für Benjamin war Revolution wörtlich Re-volution. Dieser Rückwendung bei der Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse entgeht keiner. Alle Revolution, die politische Macht entfalten will, steht ironisch zur Ge• schichte. Dies trifft auch Novalis in seiner Bemerkung, der Weg zur Freiheit könne nur durch das ,Zerhauen' des ,Knotens' freigemacht werden: ,Langsames Nisteln hilft nichts'. Der von ihm konstatierte Zirkel, daß also keine Freiheit schrittweise aus den absolutistischen Verhältnissen hervorwachsen kann, war unter den damaligen ,Linksintellektuellen' ein gängiger Topos - und er ist es geblieben, z.B. bei Herbert Marcuse:
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1. Richard Faber: Caesarismus - Bonapartismus - Faschismusr in: L. Hieber u. R.W. Müller (Hrsg.): Gegenwart der Antike, Zur Kritik bürgerlicher Auffassungen von Natur und
Gesellschaft, Ffm/New York 1982, S. 65
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Das ist der circulus vitiosus: der Bruch mit dem sich automatisch vorwänsbewegenden konservativen Kontinuum der Bedürfnisse muß der Revolution 'Vorangeben, die in eine freie Gesellschaft einmünden soll; aber ein solcher Bruch kann selbst nur im Verlauf einer Revolution ins Auge gefaßt werden - in einer Revolution, die von dem vitalen Bedürfnis gelenkt würde ... 2
Die Grundfiguren bei Novalis und Marcuse sind identisch: die zeitliche Ver~ schränkung, der Knoten ,zu früh' und ,zu spät' oder von ,noch immer< und ,noch nicht' - und wir werden sehen, warum in Benjamins ,Kritik der Gewalt' das )dialektische Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtsetzender und rechtserhaltenden \ warum die „Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mytischen Rechtsformen" 3 diese zeitliche Verschränkung nicht kennt. Das ,Zerhauen des Knotens\ des ~circulus vitiosus', gibt vor, die Unheilsge~ schichte beenden zu können: So, wie Freiheit die Freiheit schon voraussetze, so könne Gewalt nur durch Gewalt beendet werden. Das Bild des Zerhauens des Kno~ tens ist d:15Bild der gewaltsamen Lösung unlösbarer oder nur mit großer Zeit und Geduld lösbarer Probleme und hat sein Urbild in dem Schwertstreich, mit dem Alexander d. Gr. in Gordion den unauflösbaren Knoten am heiligen Wagen zertrennte - ,,eine symbolische Handlung, die die Eroberung Asiens verheißt." 4 Die Eroberung Asiens aber war mehr, nein: etwas anderes als das erste imperiale Eroberungsund Umerwerfungsunternehrnen von Europa aus. Die Eroberung Asiens bedeutete erst einmal die Unterwerfung bzw. Verdrängung der Barbaren. Als Alexander - was er häufig tat - ein Orakel befragte und wissen wollte, wann und wie er sterben werde, erhielt er die Antwort: ,,Für den Menschen ist es das beste, wenn er die Zukunft nicht kennt. Er wolle ihm aber sa~ gen, daß er als Jüngling alle Stämme der Barbaren unterwerfen werde. " 5 Der Kampf gegen die Barbaren war gleichbedeutend mit dem Kampf für eine zivilisierte und kultivierte Geschichte der Menschen, ja der Menschheit, da das unter seiner Herrschaft geeinte Weltreich den gesamten Bereich der bewohnten Welt (oikumene) umfassen sollte. Es kann hier nicht untersucht werden, ob tatsächlich die „geschichtliche Wirkung und Bedeutung des Königs" mit dem ,,\Vunder seines literarischen Nachlebens" überhaupt nichts zu tun hat 6, es soll nur der Versuch gemacht werden zu erw klären, warum Alexanders ,Zerhauen des Knotens' für und im Sinne der Revolution
2. Herbert Man.:use: Versuch über die Befreiung, Ffm 1969, S. 36f. 3. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, mit einem Nachwort von Herben Marcuse, Ffm 2. Aufl. 1971, S. 63f. 4. Karl Ploetz: Auszug aus der Geschichte, 24. Aufl. Würzburg 1951, S. 138 5. Friedrich Pfister: Alexander der Große in den Offenbarungen der Griechen, Juden, Mohammedaner und Christen, Bln 1956, S. 15 6. so die Ausgangsthese von Friedrich Pfister, ebd. S. 8
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,zitierbar' 7 ist~warum das ,Zerhauen• keine bloße ,Maskerade' ist, sondern die ,Erlösung' einer Forderung, die die Vergangenheit nicht vollenden konnte. Der Kampf gegen die Barbaren nämlich wurde heilsgeschichtlich verstanden: Der Prophet Hesekiel schildert, wie am Ende der Tage von Mitternacht her die wilden Völker unter Führung des Gog, der im Lande Magog wohnt~ hervorbrechen werden gegen Israel; und sie werden alles vor sich niederwerfen, aber dann selbst durch die Macht Gottes vernichtet werden. Mit dieser Apokalyptik wurde nun Alexander verbunden. Man fragte, warum die wilden Völker des Nordens nicht schon vor dem Ende der Tage hervorbrächen, und erklärte dies durch eine neue Legende, auf die schon Josephus kurz hinweist. Er sagt (Bell. Jud. VII 7,4), Alexander habe den Durchgang~durch den die skythischen Völker aus dem Norden in die zivilisierte W'elt einfallen könnte, durch eiserne Tore verschlossen. 8
(In den christlichen Historienbibeln wurde diese Legende übrigens gegen die Juden gekehrt, die Alexander eingeschlossen habe 9 .) Die Eroberungszüge Alexanders bekommen so einen festen, ja unverzichtbaren Ort im göttlichen Heilsplan, indem er das vorschnelle Ausbrechen der apokalyptischen Völker verhindert. Und von hier erst wird das ,Zerhauen' verständlich, denn es war Eile geboten: Eines der Vorzeichen vor der Geburt Alexanders ,,ward ebenfalls auf die \X7eltherrschaft des künftigen Sohnes und auf seinen frühen Tod gedeutet ... 10 Vor seinem frühen Tod mußte Alexanaer den göttlichen Heilsplan retten, indem er die Barbaren aus dem von Menschen bewohnten Erdkreis vertrieb und verbannte - dies ist die revoJ.urionäre Bedeutung des ,Zerhauens des Knotens'. Und erst in dieser Bedeutung ist die zeitliche Verschränkung enthalten, die zur Gewaltlösung zwingt. Das Zerhauen durfte nicht ,zu spät' geschehen, damit die apokalytischen Völker nicht ,zu früh' losbrechen. Diese zeitliche Verschränkung aber - und dies führt direkt in das Zentrum unserer Problematik - ist nicht mehr die von Novalis und Marcuse, sondern nimmt sie auf, um sie umzukehren. Das Zerhauen kommt immer ~zufrüh', der ,richtige' Moment, der kairos der Revolution kommt immer ,zu spät' - aber bei Alexander wird das ,zu früh' aufgehoben durch die Drohung des ,zu spät' und das ,zu spät' durch die Drohung des ,zu frühen' Losbrechens der apokalyptischen Völker. Diese Aufhebung und Umkehrung der zeitlichen Verschränkung ist von kardinaler Bedeutung, denn sie stellt das wieder her, was das Zerhauen des Knotens zenrenme: die historische Kontinuität; aber: diese Kontinuität war nicht mehr die alte, denn die Drohung der Zerstörung der Geschichte, gültig bis zu Alexanders Gewaltstreich~ wurde besei-
7. s. zum Zitieren; Richard Faber: Der Collage-Essay, Hildesheim 1979, und meinen Auf-
satz: Das Zitat von Gericht! 8. Friedrich Pfister, a.a.O. S. 30 9. ebd. S. 49 10. ebd. S. 14
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tigt durch die Garantierung des heilsgeschichtlichen Ablaufes - die komingente Geschichte wurde verwandelt zur heilsplan-besrimmten. Diese Bestimmung der Geschichte aber ist politisch nicht mehr zu fassen und kann allein durch eine politische Theologie vorgenommen werden. Weil Marcuse diesen Schritt nicht gehen wollte (oder konnte), können seine Vorschläge, das revolutionären Zerhauens des Knotens nicht befriedigen. 1967 sagte er: Die Gewalt zum Beispiel des revolutionären Terrors ist sehr verschieden vom weißen Terror, weil der revolutionäre Terror eben als Terror seine eigene Transzendierung zu einer freien Gesellschaft impliziert, während das der weiße Terror nicht tut.( ...) Wie man es verhindern kann, daß der revolutionäre Terror in Grausamkeit und Brutalität ausartet, ist eine andere Frage. Jedenfalls gibt es in einer wirklichen Revolution immer Mittel und Wege, die Ausartung des Terrors zu verhindern. 11 Und kaum ein Jahr später schrieb er: Der Satz ,der Zweck heiligt die Mittel' ist in der Tat als allgemeine Feststellung unannehmbar; das gilt freilich auch für seine als allgemeiner Satz auftretende Negation. Bei radikaler politischer Praxis gehört der Zweck einer Welt an, die verschieden ist vom etablierten Universum von Sprache und Verhalten und seinen Gegensatz bildet. Die Mittel aber gehören zu diesem Universum und werden von ihm nach seinen Begriffen beurteilt, nach eben den Begriffen, die durch den Zweck aufgehoben werden. 12 Wo immer Marcuse glaubt, den Knoten zerschlagen zu können - sei es auf der Ebene der Mittel, sei es auf der Ebene der Zwecke -, dem circulus vitiosus der Gewalt, dem also, was Benjamin den ,Umlauf im Banne der mythischen Rechtsformen' genannt hat, entkommt er nicht, denn sehr wohl ist sowohl die repressive als auch die revolutionäre Gewalt „mit dem selben Namen (zu) benennen: Gewalt. " 13 - Was Marcuse ablehnt, weil er verkennt, daß bei ihrer Einsetzung auch die restaurative Gewalt revolutionär war und nun in der Erzwingung von abermals revolutionärer Gegengewalt dieser ihr Gesetz, das mythische Gesetz von Gewalt und Gegengewalt aufzwingt. Wird das Zerhauen des Knotens allein politisch begriffen - und verbleibt es allein auf der Ebene der Politik -, dann verknüpft die mythische Verkettung die Gewalt und das Recht immer aufs neue; eine end-gültige Lösung des Knotens ist nur dort denk- und realisierbar, wo die Ebene der Politik selbst durchbrochen und verlassen wird.
11. Das Ende der Utopie, Herbert Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins, hrsg. v. H. Kurnitzky und H. Kuhn, Bln 1967, S. 69f. 12. Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Bin 1969, S. 108f. 13. ebd. s. 114
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Die (rächende)Auflösung des Knotens Es gibt keinen, der diese Verkettung schärfer ausgesprochen hätte als Walter Benjamin: Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifesta• rion der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung. 14
Für Ben_jamin ist diese Gewalt eine, ,,die der 11ythos mit dem Recht bastardisierte." 15 Der Knoten ist für ihn das Kennzeichen allein dieser bastardisierren Gewalt, der eine andere, nämlich eine ,urbildliche Form' hat; es ist dies die
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entgegenzutreten
nicht mittelbare Funktion der Gewalt (...), die sich nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht. Sie ist nicht Mittel, sondern Manifestation. 17
Die „revolutionäre Gewalt" ist gerade weil sie "jenseits des Rechtes" steht die ,,höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen" 18• Diese Konstruktion unterscheidet sich beiderseits von der Alexanders und der Marcuses, denn sie schließt die heilsgeschichtliche Perspektive, in der Alexander die zeitliche Verschränkung historisch verkehrte und auflöste, mit dem Gewaltakt selbst unmittelbar zusammen; dennoch aber, und dies unterscheidet ihn von Marcuse, erreicht er die heilsgeschichtlicheEbene, die hier aber eben keine heilsgeschichtliche ist, sondern eine unmittelbar eschatologische. Der Knoten - wenn Benjamin ihn als solchen überhaupt anerkennen würde - wird von ihm nicht gelöst, er ist schon gelöst in der Auseinanderlegung von bastardisierter und reiner, urbildlicher Gewalt. Er kann diese Konstruktion aber nur aufrecht erhalten, wenn er einen entscheidenden Schritt tut, den Marcuse nicht mitgehen wollte 19: die ,Heiligkeit des Le~ bens' wird aufgehoben. So heilig der Mensch ist( ...), so wenig sind es seine Zustände; so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches Leben,( ...) Zuletzt gibt es zu denken, daß, was hier heilig gesprochen wird, dem alten mythischen Denken nach der gezeichnete Trä~ ger der Verschuldung ist: das bloße Leben. 20
Tatsächlich ist eschatologisch nicht das Lebendige, das bloße Leben bedeutsam, sondern das, was - lebendig oder tot - vor die Schranken des letzten Gerichtes tritt, denn dort wird gerade dieser Unterschied aufgehoben und die Geschichte wird ge~ und erlöst. 14. ·walter Benjamin, a.a.O. S. 57 15. ebd. S. 64 16. ebd. S. 55 17. ebd. 18. ebd. S. 64 19. Nachwort von Herbert Marcuse, ebd. S. 103 20. e bd. S. 62f.
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Benjamin kann die zeitliche Verschränkung des Knotens nicht kennen - oder sie ist von keinem Belang -, weil die reine Gewalt mit dem Ende aller Zeiten im Bunde ist. Sein Blick auf die Geschichte ist daher immer rückwärts gewandt, die Befreiung gilt der Vergangenheit, nicht der Zukunft, und die befreiende reine Gewalt, die gerade nicht zum Mittel bastardisiert ist, tritt auf als ,,Zorn" 21 oder - in den Thesen ,Über den Begriffder Geschichte' - als nHaß"' und ,Rache' 22 • Diese Konstruktion Benjamins aber, die er am Beispiel der griechischen Niobe• Sage erläutert, steht allerdings quer, ja gar schief zur ;üdisch-christlichen Tradition. Daß Zorn und Rache dem christlichen Liebesgebot nicht entsprechen, ist offensichtlich, weniger offensichtlich aber ist, daß sich Benjamin auch auf das jüdische Denken hier nicht berufen kann. Der Satz ,Liebet eure Feinde' (1fatt. 5.44) geht zurück auf das alte Testament: Du sollst dich nicht rächen, auch nicht deinen Volksgenossen etwas nachtragen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (3. Mose 19.18)
Das christliche Liebesgebot ist eine Enveiterung und Verschärfung des jüdischen. Allerdings kennt das Alte Testament einen zornigen und strafenden Gott, aber dieser strafte nach dem Gesetz, und seine Gewalt war immer Mittel und keine ,Manifestation', die Benjamin aus den griechischen Mythen ableitet. Im Christentum vollends wird der Zorn Gottes mit Bezug auf Röm. 12.18-21zur Bestärkung des Liebesgebotes herangezogen, und nicht selten wird er darüberhinaus mit der staatlichen Gewalt der Obrigkeit in Zusammenhang gebracht, nach Benjamin gerade die entschiedenste Form bastardisierter, mythischer Gewalt 23 • Es ist darüberhinaus nicht zu übersehen, daß Benjamins reine Gewalt der völlige Gegensatz zur institutionalisierten Gewalt ist, die - in Anlehnung an das vorangestellte Motto R.M. Rilkes - nicht mehr ~sichtbar' ist. Die Wirklichkeit der klassenkämpferischen Gewalt ist in den modernen und von der durchgreifenden Entfremdung gekennzeichneten Gesellschaften, wie Brecht sagte, ,,in die Funktionale gerutscht"24. Aus dieser Funktionale muß die reine Gewalt des Zorns und der Rache wie der Phönix aus der Asche sich erheben. So kann es nicht verwundern, daß Benjamin die ,reine göttliche Gewalt' nicht nur „im Gottesgericht der 1v1engeam Verbrecher" erkennen zu können glaubt, sondern auch „im wahren K.riege"25 • Weil Gewalt im Kriege gipfelt- und hier mui1 der Bürgerkrieg des Klassenkampfeseinbezogen werden-, ist hier der Punkt getroffen, von dem aus sich das Problem des Zerhauens des Knotens zuspitzt und - ja eben 21.ebd. S. 55 22. ebd. S. 88; Gesammelte Schriften Bd. I.2, S. 700 13. s. Paul Ricoeur; Geschichte und Wahrheit, Mü 1974, S. 237 24. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (Werkausgabe), Bd. 18, S. 161 (,Der Dreigroschenprozeß') 25. ·walter Benjamin, a.a.O. S. 64
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nicht zerhauen, sondern gelöst werden Blick - ,Metaproblem' ergeben hat: Ob testen Sinne - theorielos zu gesehen hat tung oder Legitimierung des Zerhauens
muß. - Womit sich ein - auf den ersten das Zerhauen des Knotens nicht -im weiund jede philosophisch•theologische Ableischon in das langsame Nesteln überleitet.
Das langsame (dialogische}Nesteln Was Benjamin der einen Gewalt zusprach, nämlich den ,Kurzschluß• zwischen Mittel und Zweck bzw. Ziel, wird von Paul Ricoeur umgekehrt der Gewaltlosigkeit zugesprochen 26 • Ich möchte hinzufügen: Die Gewaltlosigkeit .ist nicht in ihrem Handlungsaspekt - wie Ricoeur richtig sieht 27 -, sondern in ihrem dialogischen Aspekt der Zweck-Mittel~Dialektik enthoben. Um so seltsamer muß daher zunächst Benjamins Ansicht erscheinen, dag es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibti daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der ,Verständigung', die Sprache. 211
Martin Buber hatte ganz ähnlich geschrieben - und ich habe diesen Satz zum Ausgangspunkt des eingangs erwähnten Aufsatzes genommen-: Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt~ aber in der Stille sein Werk tut: die Sprache - die erfüllte Sprache, die Sprache des echten Gespräches, in der Menschen einander verstehen und sich miteinander verständigen.l 9
Trotz der Ähnlichkeit aber meinen Buher und Benjamin Verschiedenes, denn Benja• min zählt auch den ,Betrug' zur ,gewaltlosen Sphäre', das Gegenteil des ,echten Gesprächs' von Buher und das reine ,Mittel' zur Erreichung eines außersprachlichen Zweckes. Die scheinbare Ähnlichkeit ergibt sich aus der Verschiedenheit der antizi~ pierten Zukunft: Während Buher das Heil der Geschichte im Frieden sieht, kann nach Benjamin allein der ,wahre Krieg' die eschatologische Wende bringen - weshalb die gewaltlose Sphäre der Sprache zumindest in diesem Zusammenhang keine
Rolle spielt. Sicherlich hat Nlartin Buber, als der das )erfüllte Gespräch' als ,Widerpart• des Krieges erkannte, nicht nur an die Gewaltlosigkeit des Dialoges gedacht - denn auch Gewaltlosigkeit schlägt im entscheidenden Punkt immer in allerdings passiven Widerstand um-, sondern gerade an das Langsame, das ,Schritt für Schritt' des Dialoges. Wenn irgendetwas für das ,langsame Nisteln' des Novalis stehen kann, dann der Dialog, mehr: Es ist zu fragen, ob das langsame Nesteln als Gegensatz zum Zerhauen des Knotens nicht der Dialog ist. Je drängender daher die Notwendigkeit der Umstürzu.ng bestehender Gewalt26. Paul Ricoeur: Geschichte und Wahrheit, Mü 1974, S. 229 27. ebd. S. 230 28. \Valter Benjamin, a.a.O. S. 48
29. Martin Buher: Nachlese, Heidelberg 1966, S. 225
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verhältnisse erscheint, desto härter müssen die Vorwürfe gegen die Sprache und die Gewaltlosigkeit werden - bis hin zu Horkheimers Frage, ob es nicht die Gewalt war, die vor noch tieferem Versinken in der Barbarei schützte 30, oder bis hin zu Adornos Satz, es sei „barbarisch", ,,nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben" 31 • Warum auch hier bei Adorno ,barbarisch'? Deutet doch )barbaros' auf den }unverständlich Redenden' - und um die Problematik der Unverständlichkeit geht es ja hier gerade nicht. ,Barbarisch· heißt hier: Die Sache der Barbaren duldend, vielleicht fördernd - wodurch wir wieder im Bezugsrahmen des Zerhauens des Knotens wären, jetzt aber auf dem Hintergrund der Marxschen Alternative ,Sozialismus oder
B.µ-barei'. Der Dialog (oder die lyrische Sprache) aber stellt gerade hier die Frage, welche Vorzeichen derjenige, der das gewaltsame Zerhauen des Knotens befürwortet, denn bekommen hat, welche Sicherheit er vonveisen kann) daß er tatsächlich gegen die Barbaren und ihr zu frühes Losbrechen kämpft. Bisher nämlich habe keine Gegengewalt diese heilsgeschichtliche Dignität gehabt; wenn sie - so Sartre - nim Gegner die Unmenschlichkeit des Gegen~Menschen (zu vernichten glaubte), vernichtete sie in Wahrheit nur die Menschlichkeit des Menschen in eben diesem Gegner und realisiert in sich selbst die eigene Unmenschlichkeit." 32 Der blutrote Faden der Gewalt, der sich durch die Geschichte als die Todesgeschichte unschuldig Erschlagener zieht, ist nicht nur durch die Gegengewalt nicht zerrissen, sondern trat immer nur als Gegen-Gewalt auf. Gegenüber dieser Geschichte ist es~wie Ricoeur festgestellt hat, die Schwäche des Pazifismus - und ich möchte hinzufügen; des Dialoges -, ,,daß er nur von außer• halb kommen kann, daß er die Geschichte zu etwas anderem aufruft als dem was normalenveise Geschichte bedeutet." 33 Und genau hier, bei der Frage nicht nach dem Knoten, sondern bei der Frage nach der Geschichte, die diesen Knoten schürzte, sagt der Dialog: Eine Geschichteder bloßen Gewalt, des blofsen Unrechts, des Todes kann es nicht geben; da es aber - es kann dies durchaus zugespitzt formuliert werden - da es aber Geschichte gab und gibt, ist das blutrote Band der Gewalt nicht das einzige Band der Geschichte, mehr: Es ist dies gar kein Band, sondern eine Spur, die die Gewalt in der Geschichte hinterlassen hat. Die Geschichte aber ist zusammengehalten, ja konstituiert durch das Band des Dialoges. Der wahre Dialog, das auf Konsens, ja sogar auf den von Benjamin verworfenen Kompromiß 34 zielende Gespräch ohne Betrug und ohne angedrohte Gewaltmittel, 30. Heinrich Regius ( = Max Horkheimer): Dämmerung, Zürich 1931, Nachdruck 1972, S. 22 31. Theodor \V. Adorno: Engagement, in: Noten zur Liter4tur III, Ff m 1965, S. 125 32. Jean-Paul Sartre, zit. nach: Hannah Arendt: Macht und Gewalt, Mü 4. Aufl. 1981, S. 88f. 33. Paul Ricoeur 1 a.a.O. S. 226 34. Walter Benjamin: Zur Kritik der Ge,valt, a.a.O. S. 46f.
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das langsame Nesteln also, ist jenes Band der Geschichte, das alle Gewalt und Gegengewalt bisher überstanden hat und die Geschichte gegen den puren Zufall des jeweiligen Erfolges von Kriegen, Revolutionen, Jvlorden und Gewalttaten gerettet und errichtet hat. Der Dialog wird vom ,Ursprung· (der kein historischer ist) bis zu ihrem Ende das gerechte und heilige Band, also die Heils~Geschichte sein - oder es wird keine Heils~Geschichte sein. Er ist Heilsgeschichte gerade deshalb, weil er kein ZieL keinen Zweck mitsamt den entsprechenden Mitteln vorgibt, weil er keinen Endpunkt und keine Totalität proklamiert, sondern allein eine leere und schwache Aufforderung ist: die Gewalt zu beenden und menschlich, d.h. sprechend miteinander umzugehen. Dies heißt aber auch, daß Heilsgeschichte keine über der empirischen Geschichte schwebende Reinheit und Unantastbarkeit ist, sondern daß sie in sich paradox ist: Geschichte sowohl als auch Heil - ein Paradox, von dem man kein Element verlieren darf, ohne es ganz zu verlieren. So steht der Dialog in einem ganz anderen Verhältnis zum apokalyptischen Ende aller Dinge als das Zerhauen des Knotens durch Alexander: Für diesen gab es einen feststehenden Heils-PI.anGottes, der durch Gewalt gerettet werden konnte; für uns gibt es nur die Heils-Geschichte, in der die Ge~ walt zum Element des Unheils geworden ist. Ich hatte in dem Aufsatz ,Sprache und Atombombe', gestützt vor allem auf Franz Rosenzweig, gesagt, daß der Dialog nicht nur ,Zeit braucht', sondern sogar das ,Geschehen der Zeit' selbst ist 35, das langsame Nisteln wäre demnach der Hinweis darauf: daß Zeit nicht irgendwie ,abläuft\ sondern ,geschehen' muß, ein Geschehen ist. Im Dialog ist die Heilsgeschichte daher radikal verzeitlicht, es ,gibt' keine Wahrheit des Heils und des Friedens, das nur irgendwie ,realisiert' werden muß, sondern die Wahrheit selbst ,geschieht', unterliegt dem Wechsel von alt und neu. Der Heils-Plan war unberührt von der Zeit und kannte nur eine Wahrheit, aber heute gilt, was Ricoeur schrieb: Sobald freilich die Forderung nach einer Wahrheit als Aufgabe der Zivilisation in die Geschichte eindringt, haftet ihr sogleich das Mal der Gewaltsamkeit an; denn immer will man den Kreis zu früh schließen. Die veru:irklichteEinheit des \'fahren isr gerade
die Ur-Lüge.36 (So war ja Alexanders Zerhauen des Knotens in Wahrheit ein gewaltsames Schließen des einen Heils-Planes.) Und die Lüge ist der eigentliche und vollkommene Gegensatz zum Dialog - nicht die Gewalt -, die Lüge ist das, was Hannah Arendt das ,bloße Gerede' genannt hat als „ein 1'1ittel unter anderen für die Erreichung eines Zweckes, ob dies Mittel nun dazu dient, dem Feind Sand in die Augen zu streuen oder dazu, sich selbst an der eigenen Propaganda zu berauschen. " 37 Und sie hat an~ 35. Sprache und Atombombe, hier S. 59 36. Pau1 Ricoeur, a.a.O. S. 165 37. Hannah Arendt: Vita activa, Mü 2. Aufl. 1981, S. 170
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dernorts darauf hingewiesen, daß Gewalt, wenn sie zur politischen und geschichtlichen Macht werden will, der Sprache bedarf - und sie hat damit das am Ende des Benjamin-Abschnittes aufgeworfene vermeintliche ,Meta-Problem• beantwortet: Die beiden berühmten aristotelischen Definitionen des Menschen, daß er ein politisches und ein mit Sprache begabtes Wesen sei, ergänzen sich gegenseitig... Es handelt sich hier nicht ~infach darum, daß die Sprache hilflos ist, wenn ihr die Gewalt gegenüber tritt (...), sondern vielmehr darum, daß die Gewalt selbst stumm ist, unfähig nämlich, sich im Wort wirklich adäquat zu äußern. Weil die Gewalt ihrem Wesen nach stumm ist, kann auch die politische Theorie wenig über sie aussagen, und eine Diskussion der Gewaltmittel überläßt sie besser den technischen Experten. (...) Kriegs• und Revolutionstheorien können es daher nur mit den Rechtfertigungen von Gewalt) aber nicht mit dieser selbst zu tun haben; erst in der Rechtfertigung wird die Gewalt ein eigentlich politisches Phänomen.
- Und als habe sie Benjamin gemeint fährt sie fort: Sollte aber eine solche Theorie, statt in der Gewalt eine ultima ratio der Politik zu sehen, eine Rechtfertigung von Gewalt überhaupt oder ihre Glorifizierung anbieten, so ist sie nicht mehr eine politische, sondern eine antipolitische Theorie. 38
- was Benjamin wohl gern zugegeben hätte. Auch die Gewalt also, das Zerhauen des Knotens, ist auf die Sprache, den Dialog angewiesen, wenn sie Geschichtsmacht entwickeln will, wie auch der Dialog allein natürlich keine materielle Geschichte darstellt, sondern nur ihr heilsgeschichtliches Band, und daher - wie von Hannah Arendt angedeutet - zwar nicht auf die Gewalt, wohl aber auf die Tätigkeit, die Praxis im weitesten Sinne angewiesen ist 39 , die sich wiederum den Zweck-Mittel-Relationen unterwerfen muß. Die Tätigkeit, die Arbeit kann diesem instrumentellen Zirkel von Zweck und Mittel nicht entkommen und daher nie in den Bereich des erst Geschichte konstituierenden Sinnes gelan~ gen 40 • Paul Ricoeur: Die Welt des Dialogs durchdringt und übersteigt die Welt der Arbeit. 41 Der Dialog, die Rede ist der Ort aber nicht nur der Sinnsetzung, sondern auch der Negierung von Sinn; es ist hochbedeutsam, daß Martin Buher - wie von mir dargelegt42 - die Macht des Dialoges gerade im Streitgespräch gesehen hat, in dem die er~ ste Antwort jenes ,Nein' ist, von dem auch Ricoeur sprach, und durch das jede Sinnsetzung „buchstäblich durchgestrichen und abgesetzt wird - ganz so, wie ein Herrscher abgesetzt wird.'' 43 Es ist dieses Nein, vor dem niemand sicher ist, das sich iro38. Hannah Arendt: Über die Revolution, Mil 2. Aufl. 1974, S. 19f. 39. Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O. S. 193f. 40. s. ebd. S. 138ff.; dort auch Hinweis auf den Streit von Plato und Protagoras über den
Menschen als ~Maß aller Dinge•. 41. Paul Ricoeur, a.a.O. S. 201 42. Sprache und Atombombe, hier S. 46 43. Paul Ricoeur, a.a,O. S. 203
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nisch in jede Reflexion mischt 4 4, das jede politische Revolution begleitet in ihrem ,Zerhauen des (gordischen) Knotens', wie aber auch den zitierten Alexander selbst - es ist diese dialogische Ironie die Offenheit der Geschichte selbst. So stellt sich denn heraus, daß das Zerhauen des Knotens und das langsame Nesteln nicht nur verschieden zu der Geschichte stehen; sie stehen verschieden in der Geschichte und ~ die Konsequenz daraus: - sie stehen jeweils in einer anderen Geschichte. Der Knoten des gewaltsamen Zerhauens ist ein anderer als der des langsamen Nestelns; erkennen wir dies nicht, so sind wir der „kardinale(n) Illusion der Einheitlichkeit der Geschichte" verfallen 45 • Dies anzuerkennen bedeutet gleichzeitig, die Illusion von der ungeheuren Geschichtsmacht der Gewalt zu zerbrechen und den Dialog, den Ort der Begegnung verschiedenster Geschichts-Sinngebungen, als ,Band der Geschichte' anzuerkennen. - Womit wir den langen Weg vom Ergebnis her kurz zurückgeschritten wären. Paul Ricoeur vermutet, daß die genannte ,kardinale Illusion' in ursächlichem Zu~ samme·nhang steht mit einer ,,harnäckige(n) Illusion über die ZeitH,und dies bestätigt sich hier~ Während das Zerhauen des Knotens von der zeitlichen Verschränkung von ,zu früh' und ,zu spät' ausgeht, beruht das langsame Nesteln auf dem ,Gesche~ hen der Zeit' - beides verweist auf grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen vom Zusammenhang von Zeit und Geschichte, was hier aber nicht ausgeführt werden kann. Der Knoten der Gewalt ist der der ,unifizierten· Geschichte (Paul Ricoeur), der Geschichte der einfachen Alternative, der Dezision, der einen Wahrheit; der Knoten des Dialoges ist der der Vielfältigkeit, der Polyvalenz, der vielen Wahrheiten. So kann das langsame Nesteln die Antwort der Gewalt nicht ersetzen, es fragt aber~ ob die Frage, auf die die Gewalt eine Antwort ist, die wahre Frage ist. Al~ lerdings: Als Frage nimmt sie die Gewalt ernst, Gewalt ist unbestreitbar eine der geschichtlichen \XTahrheiren,und nähme der Dialog die Frage der Gewalt nicht ernst, könnte er die stumme Gewalt in die politische Sphäre nicht zurückführen.
Der {atomare)Knoten Und gerade hier scheinen die Anhänger der Gewalt~ in dieser ~ 1eise das erste Mal in der Geschichte - Recht zu haben, wenn sie auf die atomare Drohung verweisen: Der Kampf gegen diejenigen, die bereit sind, einen Atomkrieg zu riskieren, könne zu spät begonnen werden, denn es drohe das Ende der Geschichte selbst, das vor der messianischen Erlösung zu früh eintreten könne. Die Notwendigkeit von Weissagungen und göttlichem Heilsplan sei hinfällig, da die Geschichte selbst in Frage stehe4\ weil der jetzige ,Lauf der Dinge' zur Vernichtung der Menschheit führen müsse 44. ebd. S. 201f. 45. ebd. S. 178 46. Günther Anders: Die atomare Drohung, a.a.O. S. 173
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und daher der Griff zur Benjaminschen nNotbremse", als die er die Revolution im Gegensatz zur Marxschen ,Lokomotive' erkannt hat 47 , dringend geboten sei. Die Alternative ~Sozialismus oder Barbarei' sei hoffnungslos veraltet. Die Atombombe stelle uns vor einen radikal profanisierten Knoten, der nur zu durchhauen sei: Die Atombombe, das ,ontologische Unikum '48 , habe die Geschichte selbst in Ricoeurs Sinne ,unifiziert', vereinheitlicht zu der Alternative ,Fortführung oder Zerstörung der Geschichte'. Die Frage, ob diese Unifizierung die wahre Frage stelle, sei also unpassend. Schon in seinem Buch ,Der eindimensionale Mensch' hat Herbert Marcuse - Richard Faber erinnerte mich daran - als ersten Satz geschrieben: Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das 1vlenschenge• schlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen? 49
Und tatsächlich ist der Knoten der atomaren Drohung offensichtlich, sobald man sich seine historische Entstehung vor Augen führt: Das 3. Reich, die barbarischste Macht der Geschichte, die gegen jede politisch•militärische Vernunft Millionen von Menschen tötete, schien mittels einer Wunderwaffe den schon verlorenen aber heftig weitergeführten Krieg doch noch für sich entscheiden zu können. Die Amerikaner entwickelten und produzierten diese neue Waffe, setzten sie aber nicht mehr gegen Deutschland, sondern gegen das militärisch schon bezwungene Japan ein, eine militärisch sinnlose Tat, wäre es den Amerikanern um den Zweck, die Kapitulation Japans gegangen, und nicht um die Gewaltmittel. Dieser Einsatz wiegt um so schwe• rer, als er nicht von zum Äußersten gezwungenen Faschisten, sondern von siegreichen Demokraten durchgeführt wurde: Die Atombombe, drohendes Gewaltmittel der Barbaren, war von Anfang an das barbarische Gewaltmittel der überlegenen
1v1acht. Seitdem ist das atomare Kriegspotential in vielen Ländern zu einer unvorstellbaren Zerstörungsgewalt gesteigert worden, mit dem - von den unmittelbaren Folgen abgesehe~ - die klimatischen Bedingungen der Erde so tiefgreifend verändert werden können, daß wahrscheinlich jedes höhere Leben nach einem globalen Atomkrieg unmöglich werden würde - und diese Wahrscheinlichkeit wird von Monat zu Monat größer: Die Endzeit, das unwiderruflich letzte Kapitel der Menschheit ist angebrochen. Und hier sollte nicht Gewalt gerechtfertigt sein, um die Menschheit vor diesem Ende zu bewahren? War denn je Gegengewalt tiefer gerechtfertigt? - Aber welche Gewalt - die reine, die rächende Gewalt Benjamins oder die bastardisierte Gewalt, die neue Machtverhältnisse errichten will? 47. Walter Benjamin: Anmerkungen zu ,Über den Begriff der Geschichte, GS I.3, S. 1232 48. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1. Band), Mü 1961, S. 254 49. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Bln 1967, S. 11
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Die Benjaminsche reine Gewalt steht schief zur atomaren Drohung, denn der Kampf gegen die Atombombe würde ia gerade jenes ,bloße Leben' verteidigen, müßte sich gerade auf jene 1Heiligkeit des Lebens' berufen, was Benjamin beides der Reinheit der Gewalt wegen abgelehnt hat. Freilich bleibt der tiefe Grund des Benjaminschen Zorns und seiner Rache bestehen, wie er schon von Kant beschrieben wurde: Befremdend bleibt es immer hierbei: daß die älteren Generationen der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben ... so
nur scheinen um
Die radikale Rückwendung auf das Unrecht vergangener Zeiten und seine Rächung ist im Kampf gegen die Atombombe nicht zu bewerkstelligen, es ist und bleibt in diesem Kampf - werde er nun gewaltsam oder gewaltlos geführt - ,,das Verrech~ net-Werden der Geschichte der Geschundenen und Unterdrückten" - wie Jürgen Ebach richtig feststellt - ,,in die Gesetze der Geschichte ein ... Triumph ... über die Opfer." 51 Es bleibt aber die Frage, ob wir Geschichte nicht nur um den Preis dieser - wie Alexander Herzen es nannte - ,,chronischen Ungerechtigkeit" 52 überhaupt haben können, ob also die Atombombe nicht jener satanische Leviathan ist, von dem Jürgen Ebach schreibt; Zu fordern wäreJ vom Leviathan sich nicht fangen zu lassen, zugleich, der Illusion nicht zu folgen, ihn fangen zu können. 51
Zorn jedenfalls und Rache gegenüber dieser U ngerechrigkeit, die in ihrer U ngeheuerlichkeit weder bemäntelt noch gar geleugnet werden darf - da ist Benjamin vollauf zuzustimmen-~ helfen eben nur dann, wenn der Messias an der Seite des zornigen Rächers steht - nein: wenn der Messias selbst dieser Rächer ist, der nicht nur nach Benjamin - ,,Erlöser", sondern auch „Übenvinder des Antichrist" sein wird 54 . Die Endzeit aber, die drohende ,Apokalypse' des Atomkrieges ist - wie schon von mir dargelegt 55 - gerade das Ausbleiben der Apokalypse und der ihr folgenden Offenbarung - dies macht ja die radikale Profanisierung des Knotens aus. Die Atombombe zwingt uns gerade zur Fortführung dieser im Innersten ungerechten Geschichte, verlangt gerade, daß wir uns dem von Benjamin angestrebten ,Abw bruch' der Geschichte 56 widersetzen - dieser Abbruch ist heute wahrlich leicht zu haben. Es bleibt die Fragel ob nicht - richtig verstanden nicht ,trotz', sondern gera· de ,im Angesicht' dieser Ungerechtigkeit - die Antwort im Römerbrief 12, 19-21
50. I. Kant: Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 3. Satz; in: Werke, ed. Weischedel, 6. Bd. S. 37 51. Jürgen Ebach: Leviathan und Behemoth, Manuskript 1982, S. 35 52. zit. nach Hannah Arendt: Macht und Gewalt, a.a.O. S. 31 53. Jürgen Ebach, a.a.O. S. 92 54. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte; 6. These, GS I.2, S. 695 55. Sprache und Atombombe, hier S. 44f. 56. s. Jürgen Ebach) a.a.O. S. 3Sf.
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an Wahrheit noch gewonnen hae daß man sich nicht selbst rächen soll~sondern der Zorn allein Gottes Sache ist, und daß man das Böse mit Gutem überwinden soll auch, wenn es dadurch, solange es Geschichte gibtj nie end-gültig überwunden werden wird. Gegen wen aber auch wäre die Gewalt zu richten? Idyllisch die Zustände, in denen Novalis vorn Zerhauen sprach; Damals waren die Gewaltigen, die Unterdrücker, Räuber und Mörder noch namhaft zu machen, der Gegenterror kannte die Gesichter der Gewalt; die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft schon ließ den Feind zu einer gesichtslosen Klasse schwammig anschwellen, die Fronten klärten sich - wenn überhaupt - erst im Kampf, nicht vorher (seltsam veraltet daher von anfang an die Souveränitätstheorie Carl Schmitts, die von einer säuberlichen Trennbarkeit von Freund und Feind ausgeht); hier deutet sich schon an, was~ wie oben zitiert - Brecht meinte, als er sagte, die Realität sei in die Funktionale gerutscht. Inzwischen ist Gewalt vollkommen unpersönlich geworden, wird von Apparaten, Institutionen, Strukturen ausgeübt, nicht von Menschen; diese bauen die Apparate) Institutionen und Strukturen nur aus und bedienen sie, die Gewalt aber - gerade in ihrer entscheidenden Form als atomare - wird, wie Günther Anders schon diagnostizierte, nur noch )ausgelöst•: Nicht durch Zorn oder Verbissenheit wird unsere Wdt untergehen, sondern 1usgeknipst wird sie werden.( ... ) Unmenschliche Taten sind heute Taten ohne Mensche-n.s7
Schon 1946 schrieb Alexander Mitscherlich: Heute ist der technische Raum - und das ist der Lebensraum fast der ganzen Menschheit - überfüllt mit hochempfindlicher Sprengladung, Die Neutralisierung der Interessen gelingt nur noch durch Zerstörung, nicht durch Aneignung des fremden Wirtschaftsraumes. Die Vernichtung seiner Produktionsmittel ist von der Vernichtung der Menschen nicht mehr zu trennen.( ... ) Aber die ebenfalls maschinell ins Ungemessene gesteigerte Gefahr bringt es mit sich, daß auch die Besitzenden von der Katastrophe verschlungen werden!( .._)Im Zustand ihres explosiven Zerfalles schwebt nicht mehr eine Klasse, schweben alle Menschen, die sich ihrer (d.i. der Technik) bedienen, in höchster Lebensgefahr. Dieses bedeutet für die Theorie des Sozialismus, daß die Kritik nicht mehr in der Phase des Klassenkampfes stehen bleiben darf. 5B
- allerdings auch nicht sie restlos verlassen darf, denn trotz des klassenübergreifenden> daher klassenneutralen Zerstörungspotentials bleibt die wirtschaftliche Grundlage - wovon Mitscherlich ja nicht abrückte - die einer Klassengesellschaft. Wenn daher - wovon Richard Faber z.B. ausgeht 59 - August Thalheimers Analyse noch immer stimmt:
57. Günther Anders: Die atomare Drohung, a_a.O. S. 101, 193 u. 200 58. Alexander Mitscherlich: Entwicklungsgrundlage eines freien Sozialismus, in: A. Mitscherlich und Alfred Weber: Freier Sozialismus, Heidelb. 1946, S. 17 59. Richard Faber, a.a.O. S. 6Sff.
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Formen der offenen Diktatur der Bourgeoisie sind ... dem Wesen nach keine einmaligen Erscheinungen: sie sind an ein bestimmtes Gesamtverhältnis der Klassen gebunden, und sie kehren periodisch wieder, sobald dies Verhältnis wiederkehrt. 60
- wenn also im bedrohlichen Machtzerfall~ wie am Ende des 2- Weltkrieges in Rollenverteilung von Deutschen und Amerikanern vorexerziert, die Atom-Mächte ge· gen jede politische Vernunft ihre äußersten Gewaltmittel einsetzen, dann ist - wie Herbert Marcuse andeutete - die Menschheit erpreßbar geworden. Angesichts der Drohung eines kalkulierten Selbstmordes der Herrschenden 61 ist der Klassenkampf in seinen entscheidenden Formen der bewaffneten Auseinandersetzung obsolet geworden. Hier widerspreche ich Richard Fabers Auffassung, es sei nauch heute noch unsere prakdsche Aufgabe, den ,wirklichen Ausnahmezustand' herbeizuführen. " 62 Walter Benjamin scheint von dieser Problematik schon etwas geahnt zu haben: Geschichte weiß nichts von der schlechten Unendlichkeit im Bilde der beiden ewig ringenden Kämpfer. Nur in Terminen rechnet der wahre Politib;r. Und ist die Abschaffung der Bourgeoisie nicht bis zu einem fast berechenbaren Augenblick der wirtschaftlichen und technischen Entwit:klung vollzogen (Inflation und Gaskrieg signalisieren ihn)) so ist alles verloren. Bevor der Funke an das Dynamit kommt, muß die· brennende Zündschnur durchschnitten werden. Eingriff, Gefahr und Tempo des Politikers sind technisch - nicht ritterlich. 63
Nimmt man diese Sätze ernst, so muß man erkennen, daß der Jast berechenbare Augenblick' schon ungenutzt verstrichen ist: Die ,wahre Politik' der ,Technik' (s.o. Hannah Arendt!) der ,reinen Gewalt' ist nicht mehr möglich, das Rechnen und Berechnen von ,zu früh' und ,zu spät' von ,Terminen' ist hinfällig: Der Moment, in dem der Knoten hätte zerhauen werden können - der in den Jahren 1945 bis 1949 lag -, ist für diese Geschichtsepoche unwiderbringlich vergangen. Die Endzeit ist die unsere - was allerdings nicht heißt, daß der Griff zur }Notbremse' nun unnörig sei; nur darf dieser Griff nun nicht mehr gewaltsam~revolutionär sein, es ist notwen• dig - wie jetzt Claus Offe schreibt-, ,,die Situation der von der Bremswirkung Geschädigten so zu verändern, daß ihnen der Griff zur Notbremse als speziell auch in ihrem Vorteil liegend} zumindest als tolerabel erscheint. " 64 So haben die Ende 1908 von Rilke niedergeschriebenen Zeilen heute eine seltsame Aktualität gewonnen:
60. August Thalheimer: Über den Faschismus, in: W. Abendroth (Hrsg.): Faschismus und Kapitalismus, Ffm 1968, S. 31 6L s. hierzu: Günther Anders: Die atomare Drohung, a.a.O. S. SSff. 62. Richard Faber: Von der ,Erledigung jeder politischen Theologie' zur Konstitution Politischer Polytheologie. Eine Kritik Hans Blumenbergs, in: Der Fürst dieser Weh, Carl Schmitt und die Folgen, hrsg. v. J. Taubes, Mü 1983 (S. 11 des Manuskriptes) 63. Walter Benjamin: Einbahnstrasse (Abschnitt JFeuermelder'), GS IV.1, S. 122 64. Claus Offe: Griff nach der Notbremse, in: DIE ZEIT vom 20.8.1982, S. 14
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Die großen Worte aus den Zeiten da Geschehen noch sichtbar war, sind nichts für uns. Wer spricht vom Siegen? Überstehn ist aHes.65
Das (heils)geschichtliche Gespräch Siegen war möglich durch Gewalt, Überstehen aber ist nur möglich durch das Gespräch. Und ist nicht gerade die Langsamkeit, das ~Schritt für Schritt" des Dialoges jener gewaltlose Griff zur Notbremse? Kann nicht gerade die Offenheit der Geschichte im Dialog - und nicht die gewaltsame Unifizierung - das Überstehen zwar nicht garantieren, aber doch immerhin ermöglichen? Zweifellos ist der Dialog keine Patentlösung - und dies wird nunmehr das Thema sein -, aber er hält doch die Möglichkeit der Lösung offen. Und ausgemacht ist ja gerade nicht, daß es eine Lösung, einen '~leg zur Vermeidung der atomaren Katastrophe gibt - und man ihn nur gewaltsam oder kritisch analysierend finden muß. Es kann sein - und vielen er~ scheint es sogar als wahrscheinlich-, daß die Zündschnur vom (atomaren) Dyna• mit nicht mehr zu trennen und damit ,alles verloren' ist. Insofern ,ist Gott tot', denn es gibt keinen offenbaren oder offenbarten Gott mehr, der diese Welt erhält - und allein dieser Tod Gottes kann, denke ich, das Ende der Politischen Theologie sein. Natürlich aber darf man sich den ,Tod Gottes' nicht analog zum Tode eines Menschen vorstellen. In ,Sprache und Atombombe' habe ich folgende Spekulation angestellt: Ist es nicht denkbar, daß sowohl die Selbstverschränkung, das Exil Gottes, einerseits als auch die Ankunft, das Herabsteigen Gottes in unsere Geschichte, andererseits an ihren Endpunkt gelangt sind, so daß sich Gott einerseits in einem vom Nichts umgebenen Punkt zusammengezogen hat, andererseits sich ihr überantwortet hat? Es scheint mir, daß so allein die Ver-Anwortung des Menschen in dieser Endzeit zu fassen ist. 66
Die Menscheit ist eine, die ihre Geschicke selbst bestimmt, in dem Moment gewor~ den, in dem ihre Vernichtung droht, wo also die Heils-Geschichte end-gültig droht in eine Unheils-Geschichte umzuschlagen. Dies verschärft zwar die äußere Lage und die innere Bedeutung des heilsgeschichtlichen Dialoges, macht ihn aber umso notwendiger, denn der erhaltende Gott, der restlos in unsere Geschichte als Endzeit eingegangen ist, muß - nach einem Wort Franz Rosenzweigs 6i - im Dialog ,bezeugt' werden und als schöpferischer Gott „aufs Neue geschaffen" werden. Der Dialog wird - wie oben gesagt - das heilsgeschichtliche Band der Geschichte sein, oder es wird keine Heilsgeschichte sein. 65. Rainer Maria Rilke: Requiem für \Volf Graf von Kalckreuth, letzte drei Verse; SW Bd. 1, 664 66. Sprache und Atombombe, hier S. 63 67. Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, den Haag 1976, S. 191
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Nun wäre es allerdings verantwortungslos, die Ohnmacht des Gespräches zur rettenden Macht umzulügen; Das Gespräch istniemandem aufzuzwingen, und derjenige, der in das von Buber geforderte jechte Gespräch' eintritt, hat sich schon von der Androhung und Anwendung von Gewaltm.itteln getrennt. Dieses Verhältnis von Gewalt und Dialog aber gibt die soziale und politische Realität nur ausschnittweise wieder, denn Gewalt und Dialog treffen nie, aufeinander, weil sie sich gegenseitig ausschließen - was nur die Wiederholung der Grundthese meines Aufsatzes über ,Sprache und Atombombe' ist: Über die Atombombe kann man nicht sprechen. Tatsächlich steht zwischen Gewalt und Gespräch die Macht - Paul Tillich hat schon 1931 darauf hingewiesen, Hannah Arendt ist ihm darin ohne ihn zu erwähnen gefolgt 68 • Gewalt ist die Androhung oder Anwendung von Gewaltmitteln, im Grunde also eine technische Sache; Macht aber ist - in welcher Form auch immeri das soll hier nicht diskutiert werden - auf Legitimität angewiesen, und die ist anders als durch das Gespräch nicht zu erreichen. Wie verlogen auch immer, die Machthaber; die Herrschenden sind auf ein Minimum an Gespräch mit den Beherrschten, dem Volk angewiesen. Die Weigerung, ein Gespräch aufzunehmen, ist eine gegenseitigeDrohung, das Nein von unten nach oben ist zwar keine Waffe) wirkt aber zuletzt wie sie, denn es werden Sinnsetzungen - wie Ricoeur sagte „durchgestrichen und abgesetzt". Es ist gefährlich, die Wirkung des Nein und der Aufdeckung von Lügen zu unterschätzen, sie greifen schneller und tiefer in bestehende Machtverhältnisse ein, als häufig angenommen. Es braucht hier an die vielen Formen gewaltlosen Widerstandes, zivilen Ungehorsames u.ä. nicht erinnert zu werden: Sie alle stützen sich zuletzt auf die Macht des Gespräches. Wenn Paul Ricoeur fordert, daß ))die Gewaltlosigkeit zum prohetischenKern von eigentlich politi• sehen Aktionen werden" muH 69 , dann hat er hier die eigentümliche Spannung des Dialoges zur radikalen Zukünftigkeit des Heils angesprochen. Hier ist viel getan in den letzten Jahren, was zu unterstützen ist, hier kann aber sicher noch mehr- und vielleicht Neues - getan werden. Ist diese Gegen-Macht des Nein gegenüber der auf Legitimität bedachten Macht nur gewissermaßen eine aus Schwäche, geborgt von der Macht und von dieser auf dem Wege der Gewalt wieder einforderbar, so kann und muß das Gespräch auf einer anderen Ebene an der Erhaltung und Konstitution neuer Macht - nicht nur teilhaben~ sondern sie bewerkstelligen. Diese andere Macht aber ist keine negative, sondern eine positive, geschichts-konstituierende, gewissermaßen jenes Macht-Material, aus dem die politische Macht sich überhaupt erst zusammensetzt. Und gerade an
68. Paul Tillich: Das Problem der Macht, in: Für und wider den Sozialismus, hrsg. v. WolfDieter Marsch, Stgt 1969, S. 70ff.; Hannah Arendt: Macht und Gewalt, a.a.O. 69. Paul Ricoeur, a.a.O. 5. 231
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diesem Punkt kommt das zum Tragen, was ich in ,Sprache und Atombombe' mit den Begriffen Grenze, Ende und Mitte umschrieben habe. In einigen kurzen aber erstaunlichen Bemerkungen ist Carl Schmitt 1954 auf das Problem der Atombombe eingegangen: Indem sie diese Vernichrungsmittel erfinden, arbeiten die Erfinder gleichzeitig unbewußt an der Entstehung eines neuen Leviathan. (...) Der menschliche Arm, der die Atombombe hält, das menschliche Gehirn, das die Muskeln dieses menschlichen Armes innerviert, ist im entscheidenden Augenblick weniger ein Glied des individueUen Einzelmenschen, als eine Prorhese 1 ein Teil der technischen und sozialen Apparatur, die die Atombombe produziert und zur Anwendung bringt. (... ) Es ist ja nicht mehr der Mensch als Mensch 1 sondern eine entfesselte Kettenreaktion, die das alles leistet. Indem sie die Grenzen der menschlichen Physis übersteigt, transzendiert sie auch allen zwischenmenschlichen Maßen jeder denkbaren Macht von Menschen über Menschen. Sie überrolh auch die Beziehung von Schutz und Gehorsam. Noch weit mehr als die Technik ist die Macht den Menschen aus der Hand geglitren ...70
Und, um den Zusammenhang zur Endzeit vollends deutlich zu machen: Der Ausspruch Gott ist tot und der andere Ausspruch Die Macht ist an sich böse stammen beide aus derselben Zeit -und derselben Situation. Im Grunde besagen sie dassel-
be.71 Wenn, was Carl Schmitt nahelegt und was ich annehme, der Tod Gottes und die Konstruktion und der Einsatz der Atombombe in gegenseitiger Bedingung miteinander zusammenhängen, dann ist die Atombombe das Ende der Politischen Theologie; der Satz ,Die Macht an sich ist böse' heißt dann nämlich: Die Macht in ihrem weltgeschichtlichbisher unbekannten - elementaren Zerfall, oder der elementare Zerfall der Macht ist an sich böse. Die Ausübung von Macht in einer Zeit und an einem Ort, an dem die Realität ,in die Funktionale 1 gerutscht ist~ muß - weil elementar ,unmenschlich' - an sich böse sein. (Es ist wohl kein Zufall, daß Johannes Chrysostomus72 als einzige natürliche Herrschaftsordnung die zwischen Eltern und Kin~ dern anerkennt, alle anderen Machtverhältnisse - Mann/Frau, Herr/Sklave, Staat/ Untertan - als Folgen des Sündenfalles sieht, und daß Carl Schmitt im obigen Gesamtzusammenhang von der „Macht des Erzeugers über seine Brut" meint „absehen" zu können 73 .) In diesem widersprüchlichen Prozeß von Legitimierung und Legitimitätszerfall der Macht - ein Prozeß, der heute fast täglich in den politischen Ereignissen greifbar ist - hat das (heils-)geschichtliche Gespräch die doppelte Aufgabe, einerseits am 70. Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen
1954~ s. 25f. 7L ebd. S. 23 72. in der 4. Homilie zur Genesis; s.: Wolfgang Lienemann: Gewalt und Gewaltverzicht, Mü 1982, S. 87, Anm. 193 73. Carl Schmitt, a.a.0. S. 9
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Nein gegenüber der zerfallenden Macht festzuhalten, andererseits aber eine neue Macht zu errichten, eine Gegen~Macht (nicht' Gegen-Gewalt!) des Dialoges zu errichten, die sich allerdings der Macht-Problematik bewußt sein muß - und hier sehe ich den entscheidenden Mangel der gegenwärtigen Versuche, kleine Gegen-Gesellschaften auszubilden. Es geht gerade nicht darum, alle Macht als ,böse' rundweg abzulehnen, sondern einen allerdings neuen Zugang zu dem umstrittenen Satz von Paulus zu finden: nJedermann ordne sich der obrigkeitlichen Gewalt unter; denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist." (Röm 13, !74 ) \Vir müssen, um diese Aussage heute verstehen zu können, nicht nur ,Gewalt' durch ,Macht' ersetzen, sondern in jenem radikal zukünftigen, prophetischen Sinne, von dem Paul Ricoeur gesprochen hat, den Folgesatz ablehnen: ,,Die bestehenden (Gewalten) sind von Gott angeordnet.'' - denn ihre (zerfallende) 1-1acht leitet sich ab von dem Satz ,Gott ist tot', Im Prinzip und in der Tendenz ist der Gegen~Macht-Anspruch des Dialoges der denkbar größte: Er will die Ver-Antwortung für die ganze Erde übernehmen, und mit diesem Anspruch muß Ernst gemacht werden. Die dialogische Macht aber darf nicht von der Vorstellung eines Heinehomogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs" 75 der Geschichte ausgehen, der der menschlichen Planung widerstandslos untertan wäre; Wolfgang Lienemann: Die Aufklärung verstrickt sich in ihrer Dialektik, wenn sie nicht zugleich Bestimmung der ihr eigenen Grenzen ist (wie bei Kant), sondern auf dem Satz der Sophisten beruht, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei; die Planung, die den Raum der Freiheit sichern soll, erweist ihre Ambivalenz darin, daß siei solange sie nicht umfassend ist, stets neue Unsicherheiten hervorbringt, und wäre sie umfassend, vermutlich mit dem Ende der Freiheit ident1sch wäre. Beide aber sind in der Neuzeit auf sich allein gestellt, sobald die Religion nicht mehr den Gott als denjenigen verkündet, der Vernunft wie Planung umgreift und begrenzt und erst damit in ihrer Endlichkeit und Begrenztheit freisetzt.76
Daß der Mensch das ,Maß aller Dinge' sei, ist - worauf Hannah Arendt hingewiesen hat 77 - ein bezeichnendes Mißverständnisj denn korrekt übersetzt müßte es heißen: Maß aller Gebrauchsdinge,worin jenes •~?issen mitschwingt, daß es auch tunbrauchbare' Dinge gibt, vielleicht ja sogar Dinge, die - um ein neues Wort zu gebrauchen - >wider-brauchbar• sind„analog zu jener „außer-, ja) widermenschlichen Natur" ,die Jürgen Ebach 78 in Leviathan und Behemoth erkannt hat. Noch entscheidender aber ist - wennauch hiermit verbunden - der Hinweis auf die Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen als geschichtliches Wesen. Hier eröffnet sich jene dialogische Problematik, die im Zentrum von ,Sprache und Atom• 74. nach der deutschen Ausgabe der Jerusalemer Bibel, Freiburg 7. Aufl. 1968 75. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, 13. These, a.a.O. S. 701 76. Wolfgang Lienemann, a.a.O. S. 266f. 77. s. Anm. 40 78. Jürgen Ebach, a.a.O. S. 32
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bombe' steht und die ich in der Vorbemerkung skizziert habe; Die ,Ver-Mittlung' im Dialog) das ,Geschehen' von Zeit ist für uns in der Endzeit bezogen auf eine reale, in der Vergangenheit liegenden Niitte, nämlich auf das Christusgeschehen, das aber gleichzeitig radikal zukünftig - und also erst prophetisch vorausgesagt - ist, v.reil die atomare Drohung die Heilstat Christi vernichten kann. Wenn überhaupt es sinnvoll ist, von einem ,Knoten' zu sprechen, dann ist d1eser nicht in der Geschichte erkennbar, sondern allein als Geschichte; Die gesamte Geschichte der Menschheit unterliegt jener zeitlichen Verschränkung von ,zu früh' und ,zu spät' - weshalb ein gewaltsames Zerhauen des Knotens immer entweder die Menschlichkeit der Geschichte oder die Geschichtlichkeit des Menschen aufs Spiel setzt. Dialogisch die {Heils-)Geschichte fortz~setzen heißt aber alles andere als das Paradies auf Erden errichten, sondern umgekehrt die alten \Vidersprüche und Konflikte weiterführen. Der Dialog ist keine Form der Wahrheitsfindung, er eröffnet keine Wahrheit, er ist selbst der Gang der Wahrheit. Es ist dies kaum besser deutlich zu machen als durch die Ergänzung eines Zitates von Schelling, auf das ich mich in iSprache und Atombombe' stützte, mit einem Zitat von Paul Ricoeur: Schelling: Mit einer grenzenlos fortschreitenden geschichdichen zeit ist aller 'X1illkür Thür und Thor geöffnet) Wahres vom Falschem, Einsicht von beliebiger Annahme oder Einbildung gar nicht zu unterscheiden. 79
Paul Ricoeur: Die Setzung einer Grenze zerschlägt den Anspruch der Geschichtsphilosophien, den zusammenhängenden Sinn von allem Geschehen und von allem künftigen Geschehen nennen zu können.
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Beide Aussagen folgen demselben apokalyptischen Tenor, den Ricoeur im Anschluß benennt; Ich stehe immer diesseits des jüngsten Tages; indem ich die Grenze des jüngsten Tages setze, steige ich selbst vom Stuhl des letzten Richters herab.
Und doch ist der Mensch, will er Geschichtsmächtigkeit entfalten) unter das ,Gesetz' gestellt, ver•antwortliche Entscheidungen zu treffen und durchzuführen, also 11acht zu entfalten, die schon einen politischen Charakter trägt. Da die Verantwortlichkeit aller (Geschichts-)Macht das ,Rede-und-Antwort-Stehen' gegenüber den Nlitmenschen ist, ist Macht immer dialogisch - wie es Hannah Arendt ausdrückte: Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht mißbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, und wo Taten nicht mißbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu
79. Schellings Werke, hrsg, v. M.. Schröter, 6. Hauptband (Schriften zur Religionsphiloso-
phie), Mü 1965, S. 238 80. Paul Ricoeur, a.a.O. S. 35
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zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen. 81
Nicht eingegangen in diese Formulierung ist aber der apokalyptische Tenor, dessen Rückseite eben die Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen ist, als dessen Grund Baader den (Sünden-)Fall in die Zeit erkannt hat 82 • Die Begrenztheit der \X1ahrheit des Dialoges hat nun gerade Martin Buber mit aller Härter und Konsequenz ausgesprochen; Der Ursprung allen Konfliktes zwischen mir und meinem Mitmenschen ist, daß ich nicht sage, was ich meine, und daß ich nicht tue, was ich sage. 8 J
Dies ist nun tatsächlich der ,Ursprung' allen Konfliktes, der die Erlösungsbedürftigkeit, also die Sündhaftigkeit des Menschen auch im Dialog noch festhält: Der Konflikt zwischen Sprechen und Handeln ist identisch mit dem zwischen den Menschen. Dieser Konflikt wäre der Unruhe in einer Uhr insofern zu vergleichen, als ihr Wesen die Zeitlichkeit ist: Was ich ,meine' wird erst durch die Antwort oder Frage des anderen präzisiert, geklärt und in diesem Punkte ,hergestellt'; diese ,Her~ stellung' aber ist das erste Element der gemeinsamen Macht. Da dieser Prozeß der herstellenden Infragestellung des Gemeinten nie beendbar ist, bleibt jene ursprüngliche Differenz, jener Konflikt, von dem Buber sprach. Diese Differenz aber betrifft nicht nur, wie Ricoeur sagt, den „Aberwitz der Macht, das Böse von Haben und Vermögen", sondern „daß die Sünde sich in der Macht zeigt und die Macht die wahre Natur der Sünde enthüllt" 8 \ gilt auch für die dialogische Gegen-Macht - nur daß sich in der Macht die Sünde als das Böse manifestiert und in der Gegen-Macht als die Geschichtlichkeit. Der abschließende Satz Paul Ricoeurs könnte in diesem Sinne ein Wahlspruch der die atomare Drohung bekämpfenden Gegen-Macht werden: Eine Zivilisation bleibt nur dann in Bewegung, wenn sie alle W'agnisse der Rede auf sich nimmt und das Recht zu irren als eine unabdingbare politische Funktion institu-
iert. B'
81. Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O. S. 193f. 82. Franz Baader: Elementarbegriffe über die Zeit, in: Gesellschaftslehre, ausgew. v. H. Grassl, Mil 1975, S. 159 83. Martin Buber: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, in: Schriften III, Mil/Heidelberg 1963, S. 729 84. Paul Ricoeur, a.a.O. S. 259 85. ebd. 5. 214
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.1.
Epilog: Politische Theologieoder dialogischePolitz'.k? Wenn die Dialogik sich nicht vor ihrer geschichtlichen Verantwonung blamieren will, muß sie sich dem Problem der Geschichtlichkeit des 11enschen als dem Problem der Geschichtsmächtigkeit stellen. Gerade die atomare Drohung führt uns vor Augen) daß es nicht selbstverständlich - oder gar ,natürlich' - ist, daß der Mensch ein geschichtliches Wesen ist; diese Problematik ist um so drängender) als die Geschichtlichkeit unmittelbar mit der Begrenztheit des Menschen zusammenhängt. Um so deutlicher muß deshalb aber hervortreten, daß es einer bestimmten Mächtigkeit innerhalb dieser Grenzen geschuldet ist, daß der Mensch sich in der Sphäre der Geschichtlichkeit halten kann. Da diese Mächtigkeit mit den historisch konkreten Formen politischer Macht in Zusammenhang steht, muß sich die Dialogik dem Problem der Politischen Theologie stellen. Es scheint mir sogar möglich (und nötig), die beiden grundsätzlich verschiedenen Konzeptionen Politischer Theologie auf dem Hintergrund dieses Zusammenhanges von geschichtlicher Mächtigkeit und politischer Macht zu erörtern. Die Gegen-Theorie zur katholisch-reaktionären Politischen Theologie kam seit rnitte der 60er Jahre auf gewissermaßen als Unterbau einer ,Theologie der Revolution'. Zurecht wurde letztere kritisiert als „politische Theologie mit umgekehrtem Vorzeichen" (Ernst Feil) 86 , weil nsie Gott in einer bestimmten Situation manifest macht, indem sie ihn unmittelbar und unvermittelt mit dem radikalen Umsturz zur Überwindung einer politischen Lebensform in Zusammenhang bringt." Ernst Feil wendet dagegen zurecht ein, ,,daß Gott auch in der Geschichte immer der Deus absconditus ist." 87 Im gleichen Sinne verweist Reiner Strunk in Bezug auf Benjamins Konzeption revolutionärer Gewalt auf Gershom Scholerns Wort von der nVonveg~ nahme der Apokalypse im Geschichtlichen" 88 hin. In dieser Konzeption wird grundsätzlich die Mächtigkeit ohne Rücksicht auf die Begrenztheit des Jv1enschen mir der politischen Macht kurzgeschlossen - der vollkommene Gegensatz (und daher komplementär) zur reaktionären Politischen Theologie, die die Begrenztheit des Menschen mit der politischen Macht kurzschliefü. · Wenn aber jene Politische Theologiet die ,,mit theologischen Denkkategorien politische Entscheidungen oder staatliche Formen zu unterstützen und ihren Herr86. Ernst Feil: Von der ,politischen Theologie' zur ,Theologie der Revolution'?, in: Dis-
kussion zur ,Theologie der Revolution', hrsg. v. Ernst Feil und Rudolf \Veth, Mil/Mainz 1969, S. 129f. 87. ebd. S. 131
88. Reiner Strunk: Aspekte des Gewaltproblems im Kontext einer Theologie der Revolution, in: ebd. S. 280; Gershom Schalem: Walter Benjamin, in: Über Walter Benjamin, Ffm 196S, S. 160
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schaftsanspruch zu rechtfertigen" suchts9, halt- und grundlos geworden ist in der Feststellung ,Gott ist tot', ist dann nicht eine andere, kritische, ,von unten' kommende Politische Theologie möglich, ja geradezu gefordert, die Gott ,bezeugt' und ,aufs Neue schafft' im Gespräch der 1v1enschen untereinander und letztlich mit Gott? Dorothee Sölle: Politische Theologie geht von einem Verständnis der Wahrheit aus, das Theorie und Praxis des Glaubens miteinander vermittelt, sie sieht es daher als theologische Aufgabe an, sich auf die Strukturen der gegenwärtigen Welt zu beziehen und ihre Aussagen auf gesellschaftliche Relevanz hin zu überprüfen. Sie kann sich nicht darauf einlassen, eine Theorie des Glaubens als vorrangig von einer nur als Folgeerscheinung zu wertenden Praxis der Liebe abzutrennen, eben weil sie Wahrheit nicht als Erkenntnis, sondern als Lebensvollzug denkt. 90
Wäre es nicht denkbar, daß die ,\X:'ahrheitals Lebensvollzug' das {heils-)geschichtliche Gespräch ist? Zurecht hat sich Dorothee Sölle gegen die Feststellung Hans Maiers gewehrt; die kritische Politische Theologie unterscheide sich von der affirmativen "allein darin, daß die Identifikation statt in Vergangenheit oder Gegenwart jetzt in die Zukunh verlegt wird". ,,Als ob - so ihre Annvort - das beliebig austauschbare Zeitformen wären und nicht der qualitative Unterschied eben hierin, in der Beziehung entweder auf das Gegebene, Bestehende, Verfügbare oder auf die Zukunft bestünde. " 91 Tatsächlich trifft Hans :Maiers Vorwurf allein die Theologie der Revolution, die eine nVorwegnahme der eschatologischen iustitia Dei" 92 praktizieren möchte, darin aber den Zukunftsaspekt verfehlt, den die kritische Politische Theologie als „eschatologische Orientierung des Glaubens" 93 in ihr Zentrum stellt. Diese Politische Theologie denkt ebenso heilsgeschichtlich wie die alte, auch sie schließt die Begrenztheit des Menschen mit der politischen Macht kurz, nur tut sie das in völlig entgegengesetzter Absicht: Die Macht soll nicht die Begrenztheit kompensieren, sondern die Begrenztheit die Macht einschränken. Zurecht sieht Dorothee Sölle daher die entscheidende Frage in der Interpretation des mit der Begrenztheit des Menschen unabtrennbar verbundenen Sündenbegriffes 94 • Und doch ergeben sich in der angedeuteten Verbindung von kritischer Politischer Theologie und Dialogik grundsätzliche Schwierigkeiten. Es läßt sich nämlich diese Politische Theologie von der Theologie der Revolution - wie Dorothee Sölle es unausgesprochen tat - nicht problemlos abtrennen. Die Theologie der Revolution nämlich gab der Politischen Theologie die inhaltlichen Zielsetzungen einer iu-
89. H. Hirt, zit. nach: Ernst Feil, a.a.O. S. 125
90. Dorothee Sölle: Politische Theologie, Bin 1971, S. 105 91.
ebd. S. 74
92. Reiner Strunk, a.a.0. S. 284 93. Ernst Feil, a.a;o. S. 126; Hervorhebung von mir 94. Dorothee Sölle, a.a.O. S. lOSff.
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stitia Dei vor, die diese aus sich selbst nicht entwickeln kann. Dorothee Sölle gibt dies einerseits zu, indem sie sagt: Es gibt keine spezifisch christliche Lösung der Weltprobleme, für die eine politische Theologie die Theorie zu entwickeln hätte. Politische Theologie ist vielmehr theologische Herrneneurik ...
Andererseits aber stellt sie fest: Das Evangelium versteht sich von der Sache aller her, genauer gesagt - weil die Realität der Unterdrückung im Blick bleibt -, seine Sache ist die Befreiung aller. (... ) Nur die Befreiung aller kann auch für den einzelnen endgültige Befreiung sein, nur das Glück aller verdient die uneingeschränkte, die jeweilig erreichten Realisierungen transzendierende Bejahung, die das Wort ,Glauben' rneint. 95
Hier hat sich inhaltlich die Theologie der Revolution wieder eingeschlichen~ der Offenheit der theologischen Hermeneutik stehen die Lösungen von Befreiung und Glück entgegen, die die Erlösung schon in der Geschichte fordern. Die geschichtliche Macht des Evangeliums wird nun doch damit begründet, daß die Mächtigkeit mit der politischen (Gegen-)Macht kurzgeschlossen wird-der Zukunftsaspekt tritt nur noch als quantitative, nicht mehr als qualitative Frage auf. Dies wirkt sich insbesondere aus bei der Frage nach der gesellschaftspolitischen Verfassung der Menschen 1 also dem Staat. Wenn Dorothee Sölle hier einen „Sog der Sünde" konstatiert, der nur „in einem Neuwerden des ganzen Menschen in einer neuen Welt" überwunden werden kann 96 , dann ist der Horizont der Theologie der Revolution unmittelbar greifbar. Hier also} im Zentrum der Problematik, ist die kritische Politische Theologie eine Theologie der Revolution. Die kritische Politische Theologie entstand in den späten 60er Jahren im Zusammenhang mit der internationalen Studentenbewegung, eine Bewegung, die sich überall klassenkämpferisch-revolutionäre Ziele gesetzt hatte. Ohne diese Anstrengungen und Ziele diffamieren zu wollen, nannte Günther Anders sie kürzlich „Substitutsbewegungen' ', und er fügte hinzu: . Und vielleicht ist sogar der Verdacht berechtigt, daß den herrschenden Mächten diese
Ersatzrebellionengarnicht so unwillkommen gewesen sind, wie sie es vorgegeben haben. Denn während sich diese Rebellionen abspielten, konnten die Weltmächte ihre wahnsinnige atomare Rüstung ungestört weitertreiben.
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Die Atombombe kann trotz der offensichtlichen ökonomischen Interessenverflechtungen nicht mit den herkömmlichen, am Klassenkampf orientierten Strategien und Theorien bekämpft werden, weil die Atombombe nicht in das Macht- und Gewaltverhältnis der Klassen eingebaut werden kann: Die Friedensbewegung ist kein Kampf zur Rettung einer Klassel so:i.1dernzur Rettung der Menschheit. Die Friedensbewegung stellt sich gegen die direkt oder indirekt am Klassenkampf orientierte 95. ebd. S. 75 und 85f. 96. ebd. S. 118 und 112 97. Günther Anders: Hiroshima ist überall, Mü 1982, S. Xf.
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Politik selbst, also auch gegen die Politische Theologie beider Seiten - ohne allerdings auf die an den bestehenden Machtverhältnissen orientierte Politik verzichten zu können; sie ist „politisch und apolitisch zugleich" - eine Kennzeichnung, die Dietrich Bonhoeffer auf den christlichen Glauben bezogen hat 98 . Allerdings ist sie ,apolitisch' im Sinne von 1antipolitisch\ wodurch sich das Spannungsverhältnis noch verschärft: Die Friedensbewegung kann und darf sich nicht verlassen auf die Sicherheit eines Glaubens, auf die Sicherheit eines erhaltenden Gottes - dieser ist ja durch die Atombombe gerade in Frage gestellt-, ihr Glaube (und gerade nicht ihre ;Hoffnung' 99 ) muß radikal diesseitig bleiben, ausgerichtet auf die bloße Fortsetzung der Geschichte. Wodurch sie - anders als der traditionelle christliche Glaube - wieder vor die Problematik der menschlichen Mächtigkeit und Begrenztheit gestellt ist. Es gilt also eine Gegen-Politik zu entwickeln, eine Anti-Politik gegen die bestehende Politik. Denn dies ist ja die große und eigentlich entsetzliche Aufgabe der Friedensbewegung: Daß sie nicht verkünden kann - wie der Marxismus -, daß endlich eine neue Geschichte beginnt, eine Geschichte der Freiheit, des Reichtums und der Gerechtigkeit, sondern daß die Friedensbewegung allein sagen kann: Es wird so weitergehen wie bisher, nur die Aktualität der Drohung atomarer Vernichtung wird beseitigt. Zwar ist dafür eine tiefgreifende Umorientierung der Gesellschaft nötig, eine gesellschaftliche ,Umkehr', aber diese wird keineswegs in ein irdisches Paradies führen. Die Geschichte wird erlösungsbedürftig bleiben, die Erlösung wird das radikal Andere, in der Geschichte nicht Vorbereitete und Vorbereitbare sein 100• Die Gegen-Politik, die sowohl die Begrenztheit des Menschen als auch die Mächtigkeit realisieren will, die weder von der Glaubenssicherheit des erhaltenden Gottes ausgehen will noch der Bodenlosigkeit des ,Gott ist tot' verfallen will, eine Gegen~ Politik also, die Gott bezeugend neu schaffen will, muß sich von aller Politischen Theologie scharf absetzen - sie muß dialogisch sein, denn nur der Dialog kann die angedeuteten Spannungen aushalten und austragen. - Daß diese dialogische Politik nicht an den platonischen Dialogen orientiert sein kann, zeigt schon deren „Einweihungscharakteru101; es ist sogar zu fragen, ob das oben zitierte Verdikt Adornos über die Lyrik nach Auschwitz nicht in einem verdeckten Zusammenhang steht mit dem Ausschluß der Dichter aus dem platonischen Staat. Die Frage des Sokrates an die Dichter, ,,was sie denn eigentlich meinen" - dies Hans-Georg Gadamers \Vortew 2 -, diese Frage ist keine dialogische, wie Franz Rosenzweig ausführt: 98. Dietrich Bonhoeffer; Was ist Kirche?, in: Gesammelte Schriften III, Mü 1960, S. 289; zit. nach: Ernst Feil, a.a.O. S. 131 99. s. Sprache und Atombombe, hier S. 66 100. s. Gershom Scholem: Über einige Begriffe des Judentums, Ffm 1970, S. 135 101. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen,Basel/Ffm 1982, S. 172 102. Hans-Georg Gadamer: Plato und die Dichter, in: Platos dialektische Ethik, Hbg 1968, S. 196
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Eigentlich' - so nämlich fragt und antwortet kein anderer Mensch als der Philo-
soph. (... ) Nicht ,eigentlich', sondern ,wirklich' ist das Wort des Lebens. Aber der Philosoph spricht: eigentlich.( ... ) \'