Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? [1 ed.] 9783428484072, 9783428084074


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German Pages 63 Year 1995

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Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? [1 ed.]
 9783428484072, 9783428084074

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JOSEF ISENSEE

Am Ende der Demokratie- oder am Anfang?

Wirtschaftspolitische Kolloquien der Adolf-Weber-Stiftung

Am Ende der Demokratie oder am Anfang? Von

Josef Isensee

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Isensee, Josef: Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? I von Josef lsensee. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Wirtschaftspolitische Kolloquien der Adolf-Weber-Stiftung ; 20) ISBN 3-428-08407-1 NE: Wirtschaftspolitisches Kolloquium: Wirtschaftspolitische Kolloquien der ...

Alle Rechte vorbehalten

© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: SiB Satzzentrum in Berlin GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6879 ISBN 3-428-08407-1

Vorwort Demokratie ist ein "gutes Wort" in aller Munde. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat Cassandrarufe übertönt, welche dieser Staatsform - wenn es denn eine ist- das Ende ankündigen, seit mehr als zwei Jahrtausenden. Doch in Deutschland schwelt die Diskussion fort, die Grundgesetzreform hat es sichtbar werden lassen. Neigt sich der demokratische Zyklus dem Ende zu, vergeht nach dem Reich das Volk - oder hat Zukunft, wer mehr Demokratie wagt? Dies ist ein Grundthema des Staatsrechts wie der Ökonomie, die den Markt als wirtschaftliche Demokratie begreift. Die Adolf-Weber-Stiftung hat ihm eine Veranstaltung in Nürnberg gewidmet, im November 1994. Das erweiterte Hauptreferat von Professor Dr. Josef lsensee, Bonn, erscheint hier als Band 20 in der Reihe der Wirtschaftspolitischen Kolloquien. Adolf-Weber-Stiftung

Inhalt I.

Fußnoten zu einem Thema von Walter Leisner . . . . . . . . . . .

11.

Demokratie zwischen Verfallsprognose und Fortschrittsgewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Geschichtsmodell der Antike: Kreislauf der Staatsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Geschichtsmodell der Aufklärung: Demokratie als Ende der Geschichte...... . .. . . . ... 13

9

3. Demokratische Weltrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 III.

Linke Flanke der Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Erfolg postkommunistischer Parteien . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Verdrängte Vergangenheit des Sozialismus. . . . . . . . . . . 20 3. Vom antitotalitären zum antifaschistischen Selbstverständnis der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Iv.

Verfassungskonsens unter Widerrufivorbehalt. . . . . . . . . . . . . 1. Anfechtung und Neubestätigung des Grundgesetzes . . . 2. Politische Alternativen zum Grundgesetz. . . . . . . . . . . . 3. Legale Revolution durch Verfassungsablösung? . . . . . . .

V.

Rufnach dem Plebiszit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

VI

Entwicklung zur Konkordanzdemokratie. . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Entscheidungsschwäche des parlamentarischen Regierungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Surrogate für förmliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . 36 3. Kosten der informellen Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

VII.

Der Anspruch des staatlichen Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1

25 25 26 28

1. Ethisches Dilemma der Parteiendemokratie. . . . . . . . . . 41 2. Auflösung des Verwaltungsethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

8

Inhalt 3. Amtsethische Erwartungen an das Bundesverfassungsgericht . . ......... . .. . .. . ........... . .. . ..... 46

Vlll Fragilität der gesellschaftlichen Stabilitätsgarantien . . . . . . . . 49 1. Aus Emanzipation zu neuer Vormundschaft: political correctness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Marktwirtschaftliche Voraussetzung der Demokratie . . 51 IX

X

Demos in !dentitätmöten . . . . .. . ................. . .. 1. Nationale Surrogate: Verfassungspatriotismus und Europaintegration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Doppelstaatsangehörigkeit und Klassenspaltung des Staatsverbandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgen für die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 53 55 58

Vitalität aus Dekadenz?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

I. Fußnoten zu einem Thema von Walter Leisner Die Frage, die Walter Leisner uns heute, am Fest seines Geburtstages, aufgibt, hat er sich selbst immer wieder gestellt und in seinen staatsrechtlichen und staatstheoretischen Schriften beantwortet. Ihr hat er eine ganze Sequenz von Büchern gewidmet, so über "Demokratie Selbstzerstörung einer Staatsform?" (1979), "Die demokratische Anarchie. Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?" (1982), aber auch: "Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage" (1985), "Staatsrenaissance. Die Wiederkehr der 'guten Staatsformen"' (1987). Das Thema führt in die Mitte seines Schaffens. Was immer wir selber auf diesem weiten Felde beobachten und bedenken- wir brauchten eigentlich nur nachzuschlagen in Leisners Schriften, in denen alles schon vorab gesehen und bedacht wird, auf den Begriff gebracht, subtil analysiert, in gewagte Thesen gegossen, aus großer Perspektive gedeutet. Es ist geradezu unmöglich, nicht in den Sog der Gedanken und Begriffe zu geraten. Bleibt uns überhaupt noch etwas zu tun? Immerhin zeigt sich eine Nische, die in den thematisch wichtigsten Arbeiten planvoll ausgespart wird. Sie verzichten nämlich auf die der konventionellen Wissenschaft so unentbehrlichen Fußnoten. Einige Fußnoten nachzutragen ist denn die Aufgabe, die dem Assistenten a.D. zufällt, die kleinen Anmerkungen zu dem großen Thema.

10

I. Fußnoten zu einem Thema von Walter Leisner

Es sollen aktuelle Fußnoten sein. Denn die Frage nach der vitalen Befindlichkeit der Demokratie zielt auf den Tag und die Stunde, auf Deutschland im Herbst 1994. Doch die flüchtige und unübersichtliche Gegenwart läßt sich nur fassen aus einer zeitdistanzierten Sicht, im leisnerianischen Horizont der Geschichte.

II. Demokratie zwischen Verfallsprognose und Fortschrittsgewißheit 1. Geschichtsmodell der Antike: Kreislaufder Staatsformen Distanz und Übersicht bietet der Rekurs zu den Klassikern. Ein griechischer Geschichtsschreiber, der in den imaginären Fußnoten immer wieder zitiert wird, sieht die Verfassung wie den Körper dem biologischen Gesetz von Wachstum, Blüte und Vergehen unterworfen. Auch die Demokratie ist ihrer Natur nach dazu bestimmt, zugrunde zu gehen. Sie bleibt stabil, solange das Ethos ihrer Gründer lebendig ist. "Und solange noch einige am Leben sind, welche die Mißstände der Diktatur ausgekostet haben, sind sie mit dem gegenwärtigen Zustand (sc. der Demokratie) zufrieden und kennen nichts Höheres als Rechtsgleichheit und Redefreiheit. Wenn jedoch eine neue Generation heranwächst und die Demokratie in die Hände der Enkel gelangt, dann wissen diese die Errungenschaft der Gleichheit und Freiheit nicht mehr zu schätzen, weil sie sich an sie gewöhnt haben; und sie suchen nach mehr Macht und Überlegenheit über die Menge. . .. Wenn die Machtelite nun durch unsinnigen Ehrgeiz das Volk so weit gebracht hat, daß es für illegitime Vorteile empfänglich ist und den Rachen nicht voll genug kriegen kann, dann löst sich die Demokratie schon wieder auf und geht über in Gewaltherrschaft und Faustrecht." 1 1

Polybios, Historien, VI, 8, 4, 5, 7.

12

II. Zwischen Verfallsprognose und Fortschrittsgewißheit

- In diesem Endzustand "will das wütend gewordene Volk nicht mehr gehorchen und auch nicht mehr gleichberechtigt mit den Führern sein, sondern alles selbst besitzen. Wenn das geschehen ist, bekommt der Staat den schönsten Namen: Freiheit und Demokratie. In Wahrheit aber gehört ihm der schlechteste: Ochlokratie (Herrschaft des Straßenpöbels)" .2 Die Verfallsprognose stammt von Polybios im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Er entwirft die Lehre vom Kreislauf der Staatsformen (Anakyklosis), von der Alleinherrschaft über die Gruppenherrschaft zur Volksherrschaft und wieder zurück zur Alleinherrschaft, in ewigem Wechsel. Am Anfang einer jeden Staatsform steht die Rettung aus dem Niedergang, den die vorhergehende Staatsform erfahren hat. Die Legitimation des Anfangs verbraucht sich mit der Zeit. Die Herrschenden kehren sich ab vom Gemeinwohl, der Staat versinkt erneut in Dekadenz, und eine andere Verfassung tritt auf den Plan. Sie erfährt das gleiche Schicksal von Aufstieg, Blüte, Verfall, Wechsel. In der Niedergangsphase der Demokratie herrscht die Gewalt. Alle Macht liegt beim Mob. "Dann rottet er sich zusammen, vertreibt die Bürger und teilt das Land auf, bis er, ganz verwildert, wieder einen Alleinherrscher findet."3 Solange es einem Gemeinwesen nicht gelingt, die Vorteile aller drei Idealtypen von Verfassung gleichzeitig zu verwirklichen, die Quadratur des Zirkels, gilt das eherne Gesetz vom "Kreislauf der Verfassungen, der sich mit Naturnotwendigkeit vollzieht und durch den die Verfassun2

3

Polybias (N 1), Vl, 57, 8, 9. Polybias (N 1), Vl, 8, 9.

2. Geschichtsmodell der Aufklärung

13

gen sich wandeln und miteinander wechseln, bis der Kreis sich geschlossen hat und alles wieder am Ausgangspunkt angelangt ist. Wenn man das klar erfaßt hat, wird man sich mit einer Prognose über die Verfassung vielleicht in der Zeit verrechnen, kaum aber über den gerade erreichten Punkt in der Kurve des Wachstums, des Niedergangs und des Wechsels, sofern man ohne Haß und Mißgunst urteilt". 4

2. Geschichtsmodell der Aufklärung: Demokratie als das Ende der Geschichte Modernes Denken wehrt sich gegen die deterministische Vorstellung eines Zyklus und einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Jedenfalls die Demokratie, so will es demokratischer Glaube, ist der Rotation nicht unterworfen. Sie gilt nicht als eine von mehreren Verfassungen, sondern als die eigentliche und letzte, in der die Entwicklung der Staatsformen ihre Erfüllung findet. Die Geschichte der politischen Aufklärung findet in ihr das Ziel ihres politischen Fortschritts. Wenn die Menschheit einmal diese Entwicklungshöhe erreicht hat, gibt es kein Zurück mehr. Nach Kam entwickelt sich die Menschheit auf eine republikanische Verfassung zu, die, in heutige Begriffiichkeit übersetzt, Demokratie und Rechtsstaat vereint. Angesichts der französischen Revolution meinte er, dem Menschengeschlechte "die Erreichung dieses Zwecks und 4 Polybios (N 1), VI, 8, 10.

14

II. Zwischen Verfallsprognose und Fortschrittsgewißheit

hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat". Auch mögliche Fehlschläge und Rückfälle beirren K.ant nicht in seinem Fortschrittsglauben. Denn jene Begebenheit, die Revolution, sei "zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflusse nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern, bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden" und am Ende eine gefestigte, dauerhafte Verfassung hervorbringen sollte. 5 "Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament". Der das schreibt, ist ausgerechnet K.arl Marx. 6 Demokratie also das Neue Testament, nach dem keine Offenbarung mehr stattfindet. Aufgeklärte Demokraten glauben nicht an ein Leben nach dem Tode der Demokratie; daher leugnen sie die Möglichkeit ihres Todes. Zur Demokratie gebe es keine Alternative,? so lautet die gängige Formel, die jedes Nachden5 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: ders., Werke, Weischedel-Ausgabe, Bd. Vl, 1964, S. 261 (3